255 101 92MB
German Pages 1093 [1091] Year 1978
Preisendanz Strafgesetzbuch 30. Auflage
Strafgesetzbuch Lehrkommentar mit Erläuterungen und Beispielen, ausgewählten Nebengesetzen sowie einem Anhang über Jugendstrafrecht 30., völlig überarbeitete und ergänzte Auflage von
Holger Preisendanz Oberstaatsanwalt in Heidelberg
1978
Ü
J. Schweitzer Verlag • Berlin
CIP- Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Preisendanz, Holger Strafgesetzbuch : Lehrkommentar mit Erl. u. Beispielen, ausgew. Nebengesetzen sowie e. Anh. über Jugendstrafrecht. - 30., völlig überarb. u. erg. Aufl. - Berlin : Schweitzer, 1978. ISBN 3-8059-0438-X
© 1978 by. J.Schweitzer Verlag Berlin Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz, Druck und buchbinderische Verarbeitung: Sellier GmbH Freising. Printed in Germany.
Vorwort zur 30. Auflage Im Vordergrund der 1975 erschienenen Vorauflage, die sich einer lebhaften Nachfrage erfreute und recht bald nachgedruckt werden mußte, standen die Auswirkungen des 2. StrRG und des EGStGB. Beide Reformwerke haben erwartungsgemäß zu einer Fülle neuer Entscheidungen und wissenschaftlicher Veröffentlichungen geführt, deren Verarbeitung bereits für sich allein Anlaß zu einer Neuauflage gegeben hätte. In der Zwischenzeit ist die Strafrechtsreform nicht zum Stillstand gekommen. Mit dem 13., 14. und 15. Strafrechtsänderungsgesetz (Reform der Komplexe Unfallflucht, Terrorismusbekämpfung und Schwangerschaftsabbruch) sowie dem 1. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität sind weitere Reformgesetze von weittragender Bedeutung in Kraft getreten, deren Einarbeitung den eigentlichen Schwerpunkt dieser Auflage darstellt. Die durch das 1. WiKG betroffenen Vorschriften (neue Tatbestände zur strafrechtlichen Erfassung des Subventions- und des Kreditbetrugs, Reform der Komplexe Konkursstrafrecht und Wucher) wurden von den Staatsanwälten Freund und Bieneck bearbeitet, die als Sachbearbeiter der bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart eingerichteten Schwerpunktabteilung zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität über eine mehrjährige Erfahrung auf diesem Gebiet verfügen. Der Verfasser, der seit mehr als zwei Jahrzehnten in der Ausbildung des juristischen Nachwuchses tätig ist und den ehemaligen „Petters" bereits seit der 1965 erschienenen 25. Auflage betreut, hat die Strafrechtsreformgesetze zum Anlaß genommen, alle von der Reform betroffenen Teile gründlich zu überarbeiten. In Fortführung der seit der 25. Auflage verfolgten Tendenz, das früher nur äußerst knapp gehaltene Erläuterungswerk in einen Kommentar umzugestalten, der allen Anforderungen in Studium und Praxis gerecht wird, wurden die Problemkreise, die erfahrungsgemäß für Studium und Praxis von besonderer Bedeutung sind, weiter ausgebaut und unter verstärkter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Schrifttum wissenschaftlich vertieft. Das Manuskript wurde im Februar 1977 abgeschlossen. Spätere Veröffentlichungen konnten teilweise bis November 1977 eingearbeitet werden. Leider nicht mehr berücksichtigt werden konnte das Gesetz vom 22. 12. 1977 (BGBl. I 3104), wonach die Vorschriften über die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt nicht schon am 1. 1. 1978, sondern erst am 1. 1. 1985 in Kraft treten. Dem Leser wird empfohlen, dies in § 65 Anm. I (S. 288) sowie auf den Seiten 282, 285, 289, 292, 293 und 294 handschriftlich zu vermerken. Durch den Ausbau der Kommentierung erweiterte sich der Umfang des Werkes trotz erneuter Kürzung des Anhangs recht erheblich, was sich zwangsläufig auch auf der Kostenseite auswirken mußte. Die umfangreichen Änderungen gegenüber der Vorauflage ließen es geboten erscheinen, das Werk völlig neu zu setzen und bei dieser Gelegenheit auch in seiner äußeren V
Erscheinungsform zu modernisieren. Drucktechnische Hervorhebungen der wichtigsten Stichworte sollen das Werk noch übersichtlicher gestalten als bisher; der Sperrdruck wurde durch Kursivschrift ersetzt. Abschließend möchte ich nicht versäumen, an dieser Stelle all denen zu danken, die mich durch ihre Anregungen bei der Vorbereitung des Manuskripts sowie durch ihre Hilfe bei der technischen Gestaltung der Neuauflage tatkräftig unterstützt haben. Mein Dank gilt insbesondere Herrn Rechtsreferendar Hermann Weber, der sich auch um die Korrekturen und das Sachregister verdient gemacht hat. Heidelberg, im Dezember 1977
Holger Preisendanz
Aus dem Vorwort zur 25. Auflage Der bisherige Herausgeber, Herr Landgerichtsrat Dr. Petters, verstarb am 18. 1. 1963, kurz nach Vollendung seines 75. Lebensjahres. Seinem Wunsch, sein Werk fortzuführen, bin ich gerne gefolgt. Dabei habe ich mich von dem Bestreben leiten lassen, Charakter und System des so beliebten Buchs zu erhalten. Heidelberg, im Oktober 1964
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Holger Preisendanz
Erscheinungsform zu modernisieren. Drucktechnische Hervorhebungen der wichtigsten Stichworte sollen das Werk noch übersichtlicher gestalten als bisher; der Sperrdruck wurde durch Kursivschrift ersetzt. Abschließend möchte ich nicht versäumen, an dieser Stelle all denen zu danken, die mich durch ihre Anregungen bei der Vorbereitung des Manuskripts sowie durch ihre Hilfe bei der technischen Gestaltung der Neuauflage tatkräftig unterstützt haben. Mein Dank gilt insbesondere Herrn Rechtsreferendar Hermann Weber, der sich auch um die Korrekturen und das Sachregister verdient gemacht hat. Heidelberg, im Dezember 1977
Holger Preisendanz
Aus dem Vorwort zur 25. Auflage Der bisherige Herausgeber, Herr Landgerichtsrat Dr. Petters, verstarb am 18. 1. 1963, kurz nach Vollendung seines 75. Lebensjahres. Seinem Wunsch, sein Werk fortzuführen, bin ich gerne gefolgt. Dabei habe ich mich von dem Bestreben leiten lassen, Charakter und System des so beliebten Buchs zu erhalten. Heidelberg, im Oktober 1964
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Holger Preisendanz
Inhalt
Abkürzungsveizeichnis
XI
Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil A. Einleitung I. Das Verbrechen und seine Folgen (allg. Grundsätze) 1. Die Schutzfunktion des Strafrechts 2. Der Verbrechensbegriff 3. Die Aufgabe der gesetzlichen Tatbestände 4. Die Aufgabe des Strafrechts 5. Das Rechtsfolgesystem II. Die gesetzlichen Grundlagen 1. Das Strafgesetzbuch 2. Die Novellen 3. Die strafrechtlichen Nebengesetze 4. Die Gliederung des Strafgesetzbuchs
B. Die strafbare Handlung I. Die Einteilung der strafbaren Handlungen 1. Die Zweiteilung nach der Strafdrohung 2. Begehungs- und Unterlassungsdelikte 3. Verletzungs- und Gefährdungsdelikte 4. Erfolgs- und Tätigkeitsdelikte 5. Die erfolgsqualifizierten Delikte 6. Die eigenhändigen Delikte 7. Die Sonderdelikte 8. Offizial-und Antragsdelikte 9. Die Privatklagedelikte II. Der Verbrechensaufbau 1. Die Verbrechenselemente 2. Die persönlichen Strafausschließungsgründe 3. Die objektiven Strafbarkeitsbedingungen 4. Die Verfahrenshindernisse
1 1 1 1 1 2 2 2 2 2 6 6
7 7 7 7 7 8 8 9 9 10 10 10 10 11 11 11
III. Der Handlungsbegriff 1. Die Handlung als Willensbetätigung 2. Verhaltensweisen, die nicht zu den Handlungen gehören
11 11 12
IV. Der Kausalzusammenhang 1. Die Bedeutung des Kausalzusammenhangs 2. Die Bestimmung der Kausalität
13 13 13 VII
3. Besonderheiten bei den unechten Unterlassungsdelikten und bei den Fahrlässigkeitsdelikten 4. Atypische Geschehnisabläufe V. Die Tatbestandsmäßigkeit 1. Begriff 2. Der objektive Tatbestand 3. Der subjektive Tatbestand VI. Die Rechtswidrigkeit 1. Die Indizwirkung des Tatbestands 2. Die offenen Tatbestände 3. Das System der Rechtfertigungsgründe 4. Ubersicht über die wichtigsten Rechtfertigungsgründe 5. Gemeinsame Regeln für alle Rechtfertigungsgründe v n . Die Schuld 1. Das Wesen der Schuld 2. Die einzelnen Schuldelemente 3. Gemeinsame Regeln für alle Schuldausschließungsgründe
C. Die Fahrlässigkeitsdelikte 1. 2. 3. 4.
Begriff und Abgrenzung Der Tatbestand der Fahrlässigkeitstat Die Rechtswidrigkeit Die Schuld
D. Die persönlichen Strafausschließungsgründe 1. 2. 3. 4. 5.
Begriff und Abgrenzung Ubersicht Die fakultativen Strafausschließungsgründe Gemeinsame Regeln Behandlung im Prozeß
E. Die objektiven Strafbarkeitsbedingungen 1. 2. 3. 4.
Begriff und Wesen Ubersicht Gemeinsame Regeln Behandlung im Prozeß
F. Die Prozeßvoraussetzungen und Prozeßhindernisse 1. 2. 3. 4. 5. VIII
Begriff und Wesen Die Prozeßvoraussetzungen Die Prozeßhindernisse Gemeinsame Regeln Behandlung im Prozeß
14 14 15 15 15 16 19 19 19 20 21 21 23 23 23 24
26 26 27 29 30
31 31 31 31 32 32
34 34 34 34 34
36 36 36 36 37 37
Strafgesetzbuch (StGB) Allgemeiner Teil 1. Abschnitt. Das Strafgesetz (§§ 1 - 1 2 ) 1. Titel. Geltungsbereich (§§ 1 - 1 0 ) 2. Titel. Sprachgebrauch (§§ 11,12) 2. Abschnitt. Die Tat (§§ 13-37) 1. Titel. Grundlagen der Strafbarkeit (§§ 13-21) 2. Titel. Versuch (§§ 22-24) 3. Titel. Täterschaft und Teilnahme ( § § 2 5 - 3 1 ) 4. Titel. Notwehr und Notstand (§§ 3 2 - 3 5 ) 5. Titel. Straflosigkeit parlamentarischer Äußerungen und Berichte (§§36,37) 3. Abschnitt. Rechtsfolgen der Tat (§§ 3 8 - 7 6 a ) 1. Titel. Strafen ( § § 3 8 - 4 5 b) 2. Titel. Strafbemessung ( § § 4 6 - 5 1 ) 3. Titel. Strafbemessung bei mehreren Gesetzesverletzungen (§§ 52-55) . . . 4. Titel. Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 56-58) 5. Titel. Verwarnung mit Strafvorbehalt; Absehen von Strafe ( § § 5 9 - 6 0 ) . . . 6. Titel. Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61-72) 7. Titel. Verfall und Einziehung (§§ 7 3 - 7 6 a ) 4. Abschnitt. Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen (§§ 7 7 - 7 7 e ) 5. Abschnitt. Verjährung ( § § 7 8 - 7 9 b ) 1. Titel. Verfolgungsverjährung (§§ 78-78c) 2. Titel. Vollstreckungsverjährung (§§ 7 9 - 7 9 b )
39 39 55 69 69 111 132 169 193 195 195 217 237 248 269 277 337 359 370 370 379
Besonderer Teil 1. Abschnitt. Friedensverrat, Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats (§§ 80-92 b) 2. Abschnitt. Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 93-101 a) 3. Abschnitt. Straftaten gegen ausländische Staaten (§§ 102-104 a) 4. Abschnitt. Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen und Abstimmungen (§§ 105-108 d) 5. Abschnitt. Schutz der Landesverteidigung (§§ 109-109 k) 6. Abschnitt. Widerstand gegen die Staatsgewalt (§§ 110-122) 7. Abschnitt. Straftaten gegen die öffentliche Ordnung (§§ 123-145 d) 8. Abschnitt. Geld- und Wertzeichenfälschung (§§ 146-152) 9. Abschnitt. Falsche uneidliche Aussage und Meineid (§§ 153-163) 10. Abschnitt. Falsche Verdächtigung (§§ 164-165) 11. Abschnitt. Straftaten, welche sich auf Religion und Weltanschauung beziehen (§§ 166-168) 12. Abschnitt. Straftaten gegen den Personenstand, die E h e und die Familie (§§ 169-173) 13. Abschnitt. Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174—184c) 14. Abschnitt. Beleidigung (§§ 185-200) 15. Abschnitt. Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs (§§201-205)
383 414 429 431 439 446 464 532 545 559 563 569 579 635 654
IX
16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27.
Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt.
Straftaten gegen das Leben (§§ 211-222) Körperverletzung (§§ 223-233) Straftaten gegen die persönliche Freiheit (§§ 234-241 a) Diebstahl und Unterschlagung (§§ 242-248c) Raub und Erpressung (§§ 249-256) Begünstigung und Hehlerei (§§ 257-262) Betrug und Untreue (§§ 263-266)* Urkundenfälschung (§§ 267-282) Konkursstraftaten (§§ 283-283d)** Strafbarer Eigennutz (§§ 284-302a)* Sachbeschädigung (§§ 303-305) Gemeingefährliche Straftaten (§§ 306-330c)
28. Abschnitt. Straftaten im Amte (§§ 331-358)
673 713 734 757 794 806 828 862 884 911 931 935 993
Anhang 1: Jugendstrafrecht
1041
Anhang 2: Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (Auszug)
1047
Anhang 3: Subventionsgesetz
1054
Anhang 4: Auszug aus dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB)
1057
Sachregister
1067
* §§ 264, 265 b und 302 a bearbeitet von StA Freund, Stgt. ** bearbeitet von StA Bieneck, Stgt.
X
Abkiirzungsverzeichnis a.A. aaO. a.E. AE aF AktG
anderer Ansicht am angeführten Ort am Ende Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs alte Fassung Aktiengesetz v. 6. 9. 1965 (BGBl. I 1089), letztes ÄndG v. 14.12.1976 (BGBl. 13341, 3371) a.l.i.c. actio libera in causa Änderungsgesetz ÄndG AO 1977 Abgabenordnung v. 16. 3.1976 (BGBl. 1613) ArbGG Arbeitsgerichtsgesetz v. 3. 9. 1953 (BGBl. I 1267), letztes ÄndG v. 3. 12. 1976 (BGBl. 13281, 3297) AtomG Ges. über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz) v. 23.12.1959 (BGBl. I 814), letztes ÄndG v. 3. 12. 1976 (BGBl. 13281) AV Allgemeine Verfügung AVG Angestelltenversicherungsgesetz idF vom 28. 5. 1924 (RGBl. 1563), letztes ÄndG v. 23.12.1976 (BGBl. 13845) BA Blutalkohol, Wissenschaftliche Zeitschrift für medizinische und juristische Praxis BAnz. Bundesanzeiger BÄO Bundesärzteordnung idF v. 14. 10.1977 (BGBl. 11885) Baumann Baumann, Strafrecht, Allg. Teil 7. Aufl. 1975 BayObLG Bayerisches Oberstes Landesgericht BB Der Betriebsberater, Zehntagedienst für Wirtschafts-, Steuer-, Arbeits- und Sozialrecht Ber. Bericht des BT-Sonderausschusses für die Strafrechtsreform BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof; Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, amtliche Sammlung BJagdG Bundesjagdgesetz idF vom 29. 9. 1976 (BGBl. 12849) BleiAT Blei, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 16. Aufl. 1975 Bockelmann AT Bockelmann, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1975 Böhle-Stamschräder Böhle-Stamschräder, Kommentar zur Konkursordnung, 12. Aufl. 1976 BörsG Börsengesetz idF vom 27 . 5. 1908 (RGBl. 215), letztes ÄndG v.28.4.1975 (BGBl. 11013) BT Bundestag BTÄO Bundestierärzteordnung idF v. 22. 8. 1977 (BGBl. 11601) BTMG BetäubungsmittelG idF v. 10. 1. 1972 (BGBl. I 1), ÄndG v. 2.3. 1974 (BGBl. 1469,549) BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, amtl. Sammlung BVerfGG Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. 3. 1951 XI
Abkürzungsverzeichnis
BZRG
Cramer DAR DB Ddf Dreher DRiG DRiZ DRZ DVO DVollzO E 1962 Eb. SchmidtFestschr. EdelMetG
EGOWiG
EGStGB EheG Engisch-Festschr. FAG FamRZ FE Ffm Frank FV G GA Gallas-Festschr. GenG GeschlKrG GewO GG GjS
GmbH
XII
(BGBl. I 243) idF vom 3. 2. 1971 (BGBl. I 105, letztes Ä n d G v. 24. 8. 1976 (BGBl. 12485) Gesetz über das Zentralregister und das Erziehungsregister (Bundeszentralregistergesetz) v. 18. 3. 1971 idF v. 22. 7. 1976 (BGBl. 12005) Cramer, Straßenverkehrsrecht, StVO-StGB, 2. Aufl. 1977 (zitiert nach Randziffern) Deutsches Autorecht (zitiert nach Jahr und Seite) Der Betrieb (zitiert nach Jahr und Seite) Düsseldorf Dreher, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen und Verordnungen, 37. Aufl. 1977 Deutsches Richtergesetz idF v. 19.4. 1972 (BGBl. 1713) Deutsche Richterzeitung (zitiert nach Jahr und Seite) Deutsche Rechts-Zeitschrift (zitiert nach Jahr und Seite) Durchführungsverordnung Dienst- und Vollzugsordnung vom 1. 12. 1961 idFv. 1.1. 1970 Entwurf eines Strafgesetzbuchs, 1962 Festschrift für Eberhard Schmidt zum 70. Geburtstag, Göttingen 1961 Gesetz über den Verkehr mit Edelmetallen, Edelsteinen und Perlen idF vom 29. 6. 1926 (RGBl. I 321), zuletzt geändert durch Art. 177 EGStGB Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten vom 24. 5. 1968 (BGBl. I 503), zuletzt geändert durch Art. 287 Nr. 34 EGStGB EinführungsG zum StGB v. 2. 3. 1974 (BGBl. 1469), letztes ÄndG v. 16.3. 1976 (BGBl. 1581) Ehegesetz Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, Ffm 1969 Gesetz über Fernmeldeanlagen idF v. 17. 3. 1977 (BGBl. I 459) Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht Fahrerlaubnisentziehung Frankfurt/M. Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Aufl. 1931 Fahrverbot Gesetz Goltdammers Archiv für Strafrecht (ab 1953 zitiert nach Jahr und Seite) Festschr. für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag, Berlin 1973 Gesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 23. 7. 1953 (BGBl. 1700), zuletzt geändert durch Art. 66 EGStGB Gewerbeordnung, letztes Ä n d G v. 13. 6. 1976 (BGBl. I 2737) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften idF vom 29. 4. 1961 (BGBl. I 497), zuletzt geändert durch Art. 75 EGStGB Gesellschaft mit beschränkter Haftung
Abkürzungsverzeichnis GrSen GVG h. A. Hbg Heinitz-Festschr. HGB h.L. Honig-Festschr. idF IdK i.d.R. i.e.S. JA Jagusch Jescheck AT JGG JMB1NRW JR JurA JuS Justiz JW JWG JZ KastrG KG KGW Krhe Kleinknecht KO KRG Lackner LG LK LM LuftVG Maurach AT
Großer Senat Gerichtsverfassungsgesetz idF v. 9. 5. 1975 (BGBl. I 1077), letztes ÄndG v. 3. 12. 1976 (BGBl. I 3281) herrschende Ansicht Hamburg Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag, Berlin 1972 Handelsgesetzbuch v. 10. 5. 1897 (RGBl. 219), letztes ÄndG v. 14.12.1976 (BGBl. 13341, 3370) herrschende Lehre Festschr. für Richard Honig zum 80. Geburtstag, Göttingen 1970 in der Fassung Idealkonkurrenz in der Regel im engeren $>inn Juristische Arbeitsblätter für Ausbildung und Examen Jagusch, Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl. 1976 (zitiert nach Randziffern) Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 2. Aufl. 1972 Jugendgerichtsgesetz vom 4. 8. 1953 (BGBl. I 751) idF der Bekanntmachung v. 11.12. 1974 (BGBl. 13427) Justizministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Juristische Rundschau (zitiert nach Jahr und Seite) Juristische Analysen Juristische Schulung Die Justiz, Amtsblatt des Justizministeriums Bad.-Württbg. Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite) Gesetz für Jugendwohlfahrt vom 11. 8. 1961 idF der Bekanntmachung v. 25.4. 1977 (BGBl. 1633) Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite) Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden vom 15. 8. 1969 (BGBl. I 1143), ÄndG v. 23. 11. 1973 (BGBl. 11725) Kammergericht Gesetz über das Kreditwesen idF v. 3. 5. 1976 (BGBl. I 1121), letztes ÄndG v. 14. 12. 1976 (BGBl. 13341, 3374) Karlsruhe Kleinknecht, Strafprozeßordnung, 33. Aufl. 1977 Konkursordnung, letztes ÄndG v. 23. 12. 1976 (BGBl. 13845) Kontrollratsgesetz Lackner, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 11. Aufl. 1977 Landgericht Leipziger Kommentar, Strafgesetzbuch, herausgegeben von P. Baldus (t) und G. Willms, 9. Aufl. 1970/74 (zitiert nach Randziffern) Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des BGH LuftverkehrsG idF vom 8. 11. 1968 (BGBl. I 1113), letztes ÄndG v. 20. 12.1976 (BGBl. 13573, 3582) Maurach, Deutsches Strafrecht, Allg. Teil, 4. Aufl. 1971 XIII
Abkürzungsverzeichnis Maurach BT Maurach-Zipf A T I Maurach- Festschr. Mayer-Festschr. MDR Mezger-Blei BT MOG
MRK MSchrKrim Mühlhaus NdsRpfl. n.F. NichtEhelKG
NJW OGH BZ OHG OLG OWi OWiG PartG Peters-Festschr. PostG PostO RBeratG
RegE RG RGBl. RiStBV RiVASt RK. ROW Roxin RPfleger
XIV
Maurach, Deutsches Strafrecht, Bes. Teil, 5. Aufl. 1969 mit Nachtrag I (1970) und Nachtrag II (1971) Maurach-Zipf, Strafrecht, Allg. Teil, Teilband 1,1977 Festschrift für Reinhart Maurach, Karlsruhe 1972 Festschrift für Hellmuth Mayer, Berlin 1968 Monatsschrift für Deutsches Recht Mezger-Blei, Strafrecht, Besonderer Teil, 9. Aufl. 1966 G zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisation v. 31. 8. 1972 (BGBl. I 1617), letztes Ä n d G v. 29. 7. 1976 (BGBl. I 2034, 2040) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. 11.1950 Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (zitiert nach Jahr und Seite) Straßenverkehrsordnung mit systematischer Einführung und Erläuterungen, 7. Aufl. 1977 Niedersächsische Rechtspflege (zitiert nach Jahr und Seite) neue Fassung Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19. 8. 1969 (BGBl. I 1243), Ä n d G v. 17. 7. 1970 (BGBl. I 1099) Neue Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite) Oberster Gerichtshof für die britische Zone offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Ordnungswidrigkeit Gesetz über Ordnungswidrigkeiten idF v. 2. 1. 1975 (BGBl. I 80, 520), letztes Ä n d G v. 20. 8. 1975 (BGBl. 12189) Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz) v. 24. 7 . 1 9 6 7 (BGBl. 1773), letztes ÄndG v. 24. 7. 1974 (BGBl. 11537) Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag, Tübingen 1974 Gesetz über das Postwesen vom 28. 7. 1969 (BGBl. I 1006), zuletzt geändert durch Art. 261 EGStGB Postordnung vom 16. 5. 1963 (BGBl. I 341), letzte Ä n d V O vom 3. 10. 1977 (BGBl. 11892) Ges. zur Verhütung von Mißbräuchen auf dem Gebiete der Rechtsberatung vom 13. 12. 1935 (RGBl. 1 1478), letztes Ä n d G v. 24. 6. 1975 (BGBl. 11509) Entwurf der Bundesregierung Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, amtliche Sammlung (zitiert nach Band und Seite) Reichsgesetzblatt Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren vom 1.1.1977 Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in Strafsachen Realkonkurrenz Recht in Ost und West (zitiert nach Jahr und Seite) Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 3. Aufl. 1975 Der deutsche Rechtspfleger (zitiert nach Jahr und Seite)
Abkürzungsverzeichnis RPflG RVO Schönlce-Schröder SGB SK
SoldG SprengstG StA Stgt Stock-Festschr. StPO str. st. Rspr. StrRÄndG StrEG
StrRG StrVollstrO StVG StVO StVollzG
StVZO SubvG Tb. UnedelMetG
UVollzO UWG VereinsG
RechtspflegerG v. 5. 11. 1969 (BGBl. I 2065), letztes ÄndG v. 1 8 . 8 . 1 9 7 6 (BGBl. 12186) Reichsversicherungsordnung, letztes ÄndG v. 7. 8. 1974 (BGBl. I, 1881,1886) Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, 18. Aufl. 1975 (zitiert nach Randziffern) Sozialgesetzbuch idFv. 23. 12.1975 (BGBl. I 3845, 3869) Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, verfaßt von Rudolphi, Horn, Samson und Schreiber, Bd. I, Allg. Teil, 1975; Bd. II, Bes. Teil, 1976 Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten idF vom 19. 8. 1975 (BGBl. 12273), letztes ÄndG v. 24. 8. 1976 (BGBl. 12485) Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe (Sprengstoffgesetz) v. 13.9.1976 (BGBl. 12737) Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft Stuttgart Festschrift für Ulrich Stock, Würzburg 1966 Strafprozeßordnung idF v. 7. 1. 1975 (BGBl. 1129), letztes ÄndG v. 18. 8.1976 (BGBl. 12181) streitig ständige Rechtsprechung Strafrechtsänderungsgesetz Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen v. 8. 3. 1971 (BGBl. I 157), letztes ÄndG v. 9. 12. 1974 (BGBl. I 3393,3413) Gesetz zur Reform des Strafrechts Strafvollstreckungsordnung vom 15. 2. 1956 (BAnz. Nr. 42) idF vom 20. 11.1974 Straßenverkehrsgesetz v. 19. 12. 1952 (BGBl. 1837), letztes ÄndG v. 3 . 1 2 . 1 9 7 6 (BGBl. I 3281, 3311) Straßenverkehrsordnung Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung v. 16. 3. 1976 (BGBl. I 581), ÄndG v. 18. 8. 1976 (BGBl. I 2181, 2184) Straßenverkehrszulassungsordnung Gesetz gegen mißbräuchliche Inanspruchnahme von Subventionen (SubventionsG) idF des Art. 2 des 1. WiKG (Anhang 3) Tatbestand Gesetz über den Verkehr mit unedlen Metallen vom 23. 7. 1926 (RGBl. I 415), zuletzt geändert durch VO v. 21. 5. 1976 (BGBl. I 1249) Untersuchungshaftvollzugsordnung v. 12. 2. 1953 idF vom 15. 12.1976 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 7. 6. 1909 (RGBl. 499), letztes ÄndG v. 10. 3.1975 (BGBl. 1685) Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts (Vereinsgesetz) v. 5. 8. 1964 (BGBl. I 593), zuletzt geändert durch Art. 80 EGStGB
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Abkürzungsverzeichnis VM VO VOR VRS WG WaffG WehrpflG Welzel Welzel-Festschr. Wessels AT Wessels BT 1 l.WiKG WiStG 1954 WM WStG ZMR ZPO ZRP ZStW ZugabeVO zw. z.Z.
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Verkehrsrechtliche Mitteilungen (zitiert nach Jahr und Nummer der Entscheidung) Verordnung Zeitschrift für Verkehrs- und Ordnungswidrigkeitenrecht (zitiert nach Jahr und Seite) Verkehrsrechtssammlung (zitiert nach Band und Seite) Gesetz über den Versicherungsvertrag Waffengesetz idFv. 8. 3. 1976 (BGBl. 1432) Wehrpflichtgesetz idF v. 8. 12. 1972 (BGBl. 12277), letztes ÄndG v. 13.7. 1977 (BGBl. 11229) Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969 Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag, Berlin 1974 Wessels, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 1976 Wessels, Strafrecht, Besonderer Teil 1,1976 Erstes Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität v. 29.7.1976 (BGBl. 12034) Gesetz zur weiteren Vereinfachung des Wirtschaftsstrafrechts (Wirtschaftsstrafgesetz 1954) v. 9. 7. 1954 (BGBl. I 175) idF der Bekanntmachung v. 3. 6. 1975 (BGBl. 11313) Wohnungswirtschaft und Mietrecht (zitiert nach Jahr und Seite) Wehrstrafgesetz v. 30. 3. 1957 (BGBl. I 298) idF der Bekanntmachung v. 24. 5.1974 (BGBl. 11213) Zeitschrift für Miet- und Raumrecht (zitiert nach Jahr und Seite) Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik (zitiert nach Jahr und Seite) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zitiert nach Band und Seite) Verordnung zum Schutze der Wirtschaft vom 9. 3. 1932 (RGBl. I 121), zuletzt geändert durch Art. 141 EGStGB zweifelhaft zur Zeit
Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil A. Einleitung I. Das Verbrechen und seine Folgen (allgemeine Grundsätze) 1. Das Strafrecht dient, wie auch die übrigen Rechtsgebiete, der Aufgabe, ein geregeltes Zusammenleben der menschlichen Gesellschaft zu ermöglichen. Die besondere Schutzfunktion des Strafrechts erstreckt sich auf die Abwehr von Angriffen auf bestimmte Interessen der Allgemeinheit oder des einzelnen, die von der Gesellschaftsordnung als besonders schutzwürdig angesehen werden. Diese strafrechtlich geschützten Interessen werden als Rechtsgüter bezeichnet. 2. Als Verbrechen gilt jede Rechtsgutverletzung, die von einem gesetzlichen Tatbestand erfaßt wird, durch keinen Rechtfertigungsgrund gerechtfertigt ist und dem Täter als schuldhaftes Verhalten zugerechnet werden kann (Verbrechen = tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung). 3. Aufgabe der gesetzlichen Tatbestände ist es, das als strafbedürftig angesehene Unrecht festzulegen (zu „typisieren") und mit einer Strafdrohung auszustatten. Man spricht hier von der sogenannten Fundamentalfunktion des gesetzlichen Tatbestands. Nicht alle Rechtsgutverletzungen, die als Unrecht erscheinen, werden von einem gesetzlichen Tatbestand erfaßt. So gibt es insbesondere auf dem Gebiet des Zivilrechts und hier vor allem im Rahmen schuldrechtlicher Beziehungen unzählige Handlungen, die zwar rechtswidrig sind und unter dem Gesichtspunkt einer unerlaubten Handlung (§§ 823 ff. BGB), einer positiven Vertragsverletzung, einer Nichterfüllung oder einer ungerechtfertigten Bereicherung (§§ 812 ff. BGB) zu Schadensersatzansprüchen führen können, aber strafrechtlich nur dann von Bedeutung sind, wenn sie unter den Tatbestand des Betrugs (§ 263), der Untreue (§ 266), der Pfandkehr (§ 289) oder einen anderen Straftatbestand eingeordnet („subsumiert") werden können. Handlungen, die nicht tatbestandsmäßig sind, sind für die strafrechtliche Wertung unerheblich (vgl. § 11 Anm. V). Sie unterliegen nicht der staatlichen Strafgewalt. Der Tatbestand erfüllt somit die entscheidende Garantiefunktion, die zu den Grundlagen jedes rechtsstaatlichen Denkens gehört und die auch das Grundgesetz verlangt, wenn es in Art. 103 Abs. 2 die Forderung aufstellt, daß eine Tat nur dann bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. 4. Aufgabe des Strafrechts ist es, den durch die Straftat gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen und die Begehung künftiger Straftaten zu verhindern. 1
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil Z u r Erfüllung dieser A u f g a b e hat die Rechtsordnung dem Strafrecht spezifische Machtmittel zugewiesen: die Strafe und die sog. Maßregeln der Besserung und Sicherung (sog. zweispuriges System). Für die Strafe ist das Verbrechen Rechtsgrund, f ü r die Maßregeln dagegen nur gesetzlicher Anlaß der Anwendung. Die Maßregeln treten teils neben die Strafe, teils an ihre Stelle (vgl. z. B. §§ 63, 64, 69). Ihre A n o r d n u n g darf nicht zur Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe führen ( B G H 2 4 , 1 3 2 ) . 5. Ü b e r das Rechtsfolgesystem im einzelnen siehe ausführlich V o r b e m . I vor § 3 8 (Strafen) und V o r b e m . 1 vor § 61 (Maßregeln der Besserung und Sicherung).
II. Die gesetzlichen Grundlagen 1. Grundlage des materiellen Strafrechts ist das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. 5. 1871 in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. 1. 1975 (BGBl. I 2). 2. Zu den wichtigsten Novellen gehören: a) das JugendgerichtsG v. 16. 2. 1923; b) die VO über Vermögensstrafen und Bußen v. 6. 2. 1924; c) das sog. GewohnheitsverbrecherG vom 24. 11. 1933, durch das vor allem die bereits oben erwähnten Maßregeln der Besserung und Sicherung eingeführt wurden, unter ihnen die gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher gerichtete Sicherungsverwahrung. Mit § 330 a (Vollrausch) wurde damals noch eine weitere wichtige Bestimmung geschaffen, die aus der heutigen Strafrechtspraxis nicht mehr hinweggedacht werden kann; d) das StrafrechtsänderungsG vom 4. 9. 1941, durch das u.a. die Tötungsdelikte neu gefaßt wurden; e) die StrafrechtsangleichuiigsVO vom 29. 5. 1943, durch die die Teilnahmebestimmungen geändert wurden (Einführung der sog. limitierten Akzessorietät von Täterschaft und Teilnahme, vgl. Vorbem. 4 vor § 25); f) das 1. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 19. 12. 1952, durch das u. a. die heute so wichtigen §§ 315 ff. (Transport- und Straßenverkehrsgefährdung), § 3 1 6 a (Autostraßenraub) und die Maßregel der Fahrerlaubnisentziehung (§ 42 m aF, jetzt § 69) eingeführt wurden; g) das 3. StrRÄndG vom 4. 8. 1953, durch das bis zu den 1969 verabschiedeten Strafrechtsreformgesetzen die umfassendsten Änderungen seit Bestehen des StGB vorgenommen wurden. Zu den wichtigsten Änderungen gehörte die Neuregelung der Strafaussetzung zur Bewährung. Dieses Rechtsinstitut, das bis dahin lediglich eine auf dem Gnadenrecht beruhende Verwaltungseinrichtung war, wurde zu einem Bestandteil des richterlichen Urteilsspruchs umgestaltet. Außerdem wurden durch § 56 aF (jetzt § 18) die sog. erfolgsqualifizierten Delikte dem Schuldprinzip angeglichen. Weiter wurden u. a. die 2
Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil Z u r Erfüllung dieser A u f g a b e hat die Rechtsordnung dem Strafrecht spezifische Machtmittel zugewiesen: die Strafe und die sog. Maßregeln der Besserung und Sicherung (sog. zweispuriges System). Für die Strafe ist das Verbrechen Rechtsgrund, f ü r die Maßregeln dagegen nur gesetzlicher Anlaß der Anwendung. Die Maßregeln treten teils neben die Strafe, teils an ihre Stelle (vgl. z. B. §§ 63, 64, 69). Ihre A n o r d n u n g darf nicht zur Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe führen ( B G H 2 4 , 1 3 2 ) . 5. Ü b e r das Rechtsfolgesystem im einzelnen siehe ausführlich V o r b e m . I vor § 3 8 (Strafen) und V o r b e m . 1 vor § 61 (Maßregeln der Besserung und Sicherung).
II. Die gesetzlichen Grundlagen 1. Grundlage des materiellen Strafrechts ist das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. 5. 1871 in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. 1. 1975 (BGBl. I 2). 2. Zu den wichtigsten Novellen gehören: a) das JugendgerichtsG v. 16. 2. 1923; b) die VO über Vermögensstrafen und Bußen v. 6. 2. 1924; c) das sog. GewohnheitsverbrecherG vom 24. 11. 1933, durch das vor allem die bereits oben erwähnten Maßregeln der Besserung und Sicherung eingeführt wurden, unter ihnen die gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher gerichtete Sicherungsverwahrung. Mit § 330 a (Vollrausch) wurde damals noch eine weitere wichtige Bestimmung geschaffen, die aus der heutigen Strafrechtspraxis nicht mehr hinweggedacht werden kann; d) das StrafrechtsänderungsG vom 4. 9. 1941, durch das u.a. die Tötungsdelikte neu gefaßt wurden; e) die StrafrechtsangleichuiigsVO vom 29. 5. 1943, durch die die Teilnahmebestimmungen geändert wurden (Einführung der sog. limitierten Akzessorietät von Täterschaft und Teilnahme, vgl. Vorbem. 4 vor § 25); f) das 1. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 19. 12. 1952, durch das u. a. die heute so wichtigen §§ 315 ff. (Transport- und Straßenverkehrsgefährdung), § 3 1 6 a (Autostraßenraub) und die Maßregel der Fahrerlaubnisentziehung (§ 42 m aF, jetzt § 69) eingeführt wurden; g) das 3. StrRÄndG vom 4. 8. 1953, durch das bis zu den 1969 verabschiedeten Strafrechtsreformgesetzen die umfassendsten Änderungen seit Bestehen des StGB vorgenommen wurden. Zu den wichtigsten Änderungen gehörte die Neuregelung der Strafaussetzung zur Bewährung. Dieses Rechtsinstitut, das bis dahin lediglich eine auf dem Gnadenrecht beruhende Verwaltungseinrichtung war, wurde zu einem Bestandteil des richterlichen Urteilsspruchs umgestaltet. Außerdem wurden durch § 56 aF (jetzt § 18) die sog. erfolgsqualifizierten Delikte dem Schuldprinzip angeglichen. Weiter wurden u. a. die 2
Ginleitung Tötungsdelikte, die Bestimmungen über die Abtreibung und das Jugendgerichtsgesetz geändert; h) das 4. StrRÄndG vom 11. 6. 1957, durch das die Bestimmungen zum Schutz der Landesverteidigung (§§ 109 ff.) eingefügt wurden; i) das 2. Gesetz zur Sicherungdes Straßenverkehrs vom 26. 11. 1964, durch das vor allem die Bestimmungen über Transport- und Straßenverkehrsgefährdung (§§315 ff.) neu gefaßt wurden. Weitere wesentliche Neuerungen: Anhebung der gesetzlich zulässigen Höchststrafe für Übertretungen von bisher DM 150,- auf DM 500,-, Einführung eines kurzfristigen Fahrverbots (§ 37 aF, jetzt § 44) sowie Änderung der Bestimmungen über die Fahrerlaubnisentziehung, die jetzt auch im Strafbefehlsweg angeordnet werden kann (§ 407 Abs. 2StPO); k) das EGOWiG v. 24. 5. 1968, durch das neben wichtigen Änderungen der StPO (z. B. Neufassung der §§ 467, 467 a, 470,473 und Einfügung der §§ 127 a, 132, 268 c) und des StVG u. a. auch die Vorschriften über die Einziehung sowie § 50 Abs. 2, 3 aF (jetzt § 28) neu gefaßt wurden; 1) das 8. StrRÄndG v. 25. 6. 1968, durch das u. a. die Vorschriften über Hochverrat, Staatsgefährdung und Landesverrat (sog. politisches Strafrecht, §§ 80 ff.) einer grundsätzlichen Neuregelung unterzogen wurden; m) das 1. StrRG vom 25. 6. 1969, durch das wesentliche Vorschriften sowohl aus dem Allg. Teil als auch aus dem Bes. Teil des StGB grundlegend geändert wurden. Aus der Vielzahl der Änderungen sind folgende hervorzuheben: Abschaffung der hergebrachten Unterscheidung von Zuchthaus-, Gefängnis- und Haftstrafe zugunsten einer einheitlichen Freiheitsstrafe; Einschränkung der sozial unerwünschten kurzfristigen Freiheitsstrafe unter gleichzeitiger Erweiterung des Anwendungsbereichs der Geldstrafe (vgl. § 14 aF, jetzt § 47); Neuregelung der Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 23 ff. aF, jetzt §§ 56 ff.); Neuregelung der Sicherungsverwahrung unter gleichzeitiger Abschaffung des früheren § 20 a (Strafschärfung bei gefährlichen Gewohnheitsverbrechern); Einführung einer allgemeinen Strafschärfung für unbelehrbare Rückfalltäter (§ 17 aF, jetzt § 48) unter gleichzeitiger Aufhebung der früheren Sonderregelung für Diebstahl, Raub, Hehlerei und Betrug i. R. (§§ 244 f., 250 I 5, 261, 264 aF); Abschaffung der Arbeitshäuser für Landstreicher, Bettler, Dimen, Arbeitsscheue usw. (§ 42d i. V. mit § 361); Neufassung der Vorschriften über die Störung des Gottesdienstes usw. (§§ 166 ff.); Aufhebung der Strafdrohung für Ehebruch (§ 172 aF), einfache gleichgeschlechtliche Unzucht (§ 175 aF) und Sodomie (§ 175b aF); Neufassung der Vorschriften über den schweren Diebstahl (§§ 243 ff.); Aufhebung der Strafdrohung für den Besitz von Diebeswerkzeug (§ 245 a aF) und Neueinführung einer Strafdrohung für die Herstellung unechter bzw. die Fälschung echter technischer Aufzeichungen (§ 268); n) das 2. StrRG vom 4. 7. 1969, durch das mit Wirkung vom 1. 1. 1975 der gesamte Allg. Teil des Strafgesetzbuchs neu gefaßt wurde. Das Bestreben, eine neue, den Erkenntnissen der modernen Kriminologie angepaßte kriminalpolitische Konzeption zu finden, zeigt sich vor allem in der Einführung der einheitlichen Freiheitsstrafe, in der Einschränkung der kurzfristigen Freiheitsstrafe und in der erweiterten Möglichkeit, Strafaussetzung zur Bewährung zu gewähren. Diese Punkte der Reform sind durch das gleichzeitig verabschiedete 1. StrRG zeitlich bereits vorgezogen worden. Von besonderer Bedeutung sind ferner die Umgestaltung der Geldstrafe durch Einführung des Tagessatzsystems nach r
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Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil skandinavischem Vorbild (vgl. §§ 40 ff.), die Einführung einer Verwarnung mit Strafvorbehalt (vgl. §§ 59 ff.) und die Umgestaltung der freiheitsentziehenden Maßregeln, wobei die Möglichkeit der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt die wichtigste Neuerung darstellen dürfte (vgl. § 65). Die ehemalige Polizeiaufsicht (§§ 38 f. aF) wurde durch die neue Maßregel der Führungsaufsicht (§ 68) ersetzt; o) das 3. StrRG vom 20. 5. 1970, durch das vor allem die sogenannten Demonstrationsdelikte einer grundlegenden Neuordnung unterzogen wurden (vgl. Vorbem. vor § 111); p) das 11. und 12. StrRÄndG v. 16. 12. 1971 (BGBl. 11977) mit neuen Strafvorschriften betr. Straftaten gegen den zivilen Luftverkehr (Luftpiraterie), erpresserischen Menschenraub und Geiselnahme (vgl. §§ 239 a, 239 b, 316 c); q) das 4. StrRG vom 23. 11. 1973 (BGBl. I 1725), durch das verschiedene Tatbestände des 12. Abschnitts (Straftaten gegen Ehe und Familie) und des 13. Abschnitts (Sexualstrafrecht) teils grundlegend umgestaltet, teils aufgehoben wurden. In konsequenter Fortentwicklung der mit dem 1. StrRG (s. o. lit. m) eingeleiteten Reformen wurde das Sexualstrafrecht „liberalisiert", d. h. beschränkt auf den Schutz Jugendlicher sowie auf den allgemeinen Schutz vor gravierenden Beeinträchtigungen der persönlichen Freiheit und der sexuellen Selbstbestimmung. Von den Reformen in erster Linie betroffen wurden die Vorschriften über Kuppelei und Zuhälterei, Verbreitung pornographischer Schriften usw., sexuellen Mißbrauch von Abhängigkeitsverhältnissen sowie über die Homosexualität. Außerdem wurde in § 131 eine neue Strafvorschrift gegen die Verherrlichung von Gewalt sowie gegen die Aufstachelung zum Rassenhaß geschaffen; r) das zusammen mit dem 2. StrRG am 1. 1. 1975 in Kraft getretene EGStGB vom 2. 3. 1974 brachte in erster Linie die notwendige Anpassung der Vorschriften des Besonderen Teils, des Nebenstrafrechts sowie des Verfahrensrechts an die neuen Bestimmungen des Allgemeinen Teils. So wurde zunächst der Sprachgebrauch „bereinigt", indem z. B. die frühere Bezeichnung „Maßregeln der Sicherung und Besserung" durch die Bezeichnung „Maßregeln der Besserung und Sicherung" und die Bezeichnung „Heil- und Pflegeanstalt" durch „psychiatrisches Krankenhaus" ersetzt wurden. Auch die Neueinführung der Begriffe „Straftat" ( = tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung ohne Rücksicht auf ihre Qualifizierung als Verbrechen oder Vergehen) und „rechtswidrige Tat" ( = tatbestandsmäßige, rechtswidrige, jedoch nicht notwendig auch schuldhafte Handlung, vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 5 nebst Anmerkungen) erforderte erhebliche Änderungen im Detail. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist schließlich die sich aus § 15 ergebende Möglichkeit, den Hinweis auf das Erfordernis des Vorsatzes überall dort zu streichen, wo nur die vorsätzliche Tatbegehung mit Strafe bedroht ist. Das Wort „wissentlich", das früher in den einzelnen Vorschriften recht unterschiedlich ausgelegt wurde, erscheint jetzt nur noch dort, wo der bedingte Vorsatz ausgeschlossen werden soll (vgl. z. B. §§ 145, 258). Eine nicht nur technische, sondern zugleich auch kriminalpolitische Aufgabe stellte die Anpassung der Strafdrohungen dar. So mußten insbesondere alle ehemaligen Übertretungstatbestände (§§ 360-370 aF) entweder zu Vergehen aufgewertet, in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt oder ersatzlos gestrichen werden. Zum Vergehen aufgewertet wurde insbesondere der ehemalige Tb. der Nahrungs- und Genußmittelentwendung (§ 370 Abs. 1 Nr. 5 aF). Über neue OWi-Tatbestände an Stelle ehemaliger Übertretungstatbestände siehe insbesondere §§111 ff. OWiG. Ersatzlos weggefallen sind dagegen die Nr. 3-5, 7 und 8 des ehemaligen § 361 (Landstreicherei, Bettelei, Verwahr-
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Einleitung losung, Arbeitsverweigerung und Obdachlosigkeit). Als kriminalpolitisch unerwünscht beseitigt wurden außerdem alle Strafdrohungen, die - allein oder in Verbindung mit Geldstrafe - eine Freiheitsstrafe unter 6 Monaten angedroht haben. So wurde z. B. in § 123 die Strafobergrenze von drei Monaten auf ein Jahr Freiheitsstrafe angehoben; der ehemalige § 106 b (Verletzung der parlamentarischen Hausordnung) wurde andererseits in einen OWi-Tatbestand umgewandelt (§ 112 OWiG). Beseitigt wurden schließlich auch Strafdrohungen, die nur Geldstrafe angedroht haben. Auch hier wurden die betroffenen Tatbestände entweder durch zusätzliche Androhung einer Freiheitsstrafe aufgewertet (vgl. z. B. § 276 aF, jetzt § 148 Abs. 2) oder - besonders im Nebenstrafrecht - in OWiTatbestände umgewandelt. Die kumulative Androhung von Geldstrafe neben Freiheitsstrafe, wie sie früher z. B. in § 266 enthalten war, ist ebenfalls beseitigt worden, da durch die allgemeine Regelung des § 41 entbehrlich. Andererseits wird jetzt auch bei solchen Tatbeständen, bei denen früher eine Geldstrafe nur über § 14 Abs. 2 (aF) ausgesprochen werden konnte (vgl. z. B. §§ 242, 259) Geldstrafe wahlweise neben Freiheitsstrafe angedroht. Bei allen Strafdrohungen wird die schwerere Strafart oder Strafdrohung immer zuerst genannt, ohne daß hieraus jedoch eine generelle Priorität der schwereren Strafdrohung abgeleitet werden darf. Im Zusammenhang mit der Anpassung der Strafdrohungen wurden auch die Strafrahmen überprüft und teilweise geändert, wenngleich hierbei noch nicht alle anstehenden Probleme, insbesondere das der lebenslangen Freiheitsstrafe, befriedigend und abschließend gelöst werden konnten. Von nur technischer Bedeutung war dagegen die Vereinheitlichung des Sprachgebauchs bei den Subsidiaritätsklauseln, den „besonders schweren Fällen" und den „minder schweren Fällen". Der Begriff der „mildernden Umstände" findet sich z. B. nirgends mehr. Die Änderungen des Verfahrensrechts ergaben sich - abgesehen von der sprachlichen Anpassung - teils aus dem Wegfall der Übertretungen (vgl. z. B. das frühere Strafverfügungsverfahren, §§413 ff. StPO), teils aus dem neuen Rechtsinstitut der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59), vor allem aber aus der grundlegenden Umgestaltung des Maßregelrechts, das jetzt bei den freiheitsentziehenden Maßregeln nicht mehr vom Kumulationsprinzip, sondern vom sog. Vikariationsprinzip beherrscht wird (vgl. § 67 ff.). Von besonderer praktischer Bedeutung sind außerdem die neuen Vorschriften über die verfahrensmäßige Sicherung von Gegenständen, die der Einziehung oder dem Verfall unterliegen (§ 111 b ff. StPO), die vorläufige Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 126 a StPO), das vorläufige Berufsverbot (§ 132 a StPO), die Neufassung der §§ 153, 153 a StPO (Einstellung des Verfahrens bei Bagatelldelikten), die neuen Vorschriften über die Vollstreckung von Geldstrafen (§§ 459 ff. StPO), die Einrichtung besonderer Vollstrekkungskammern (§ 78 a GVG) sowie die Neuordnung des Sicherungsverfahrens, das jetzt auch zwecks Unterbringung in einer Entziehungsanstalt oder (ab 1.1. 1978) in einer sozialtherapeutischen Anstalt zulässig ist, und zwar auch dann, wenn der Täter verhandlungsunfähig ist (§§ 413 ff. StPO). Abgesehen von dieser notwendigen Anpassung des materiellen Rechts und des Verfahrensrechts brachte das EGStGB noch eine große Anzahl weiterer sachlicher Reformen sowohl des Allgemeinen Teils als auch des Besonderen Teils. Im Allgemeinen Teil wurde z. B. für die Berechnung der Höhe des bei Verhängung einer Geldstrafe zu bestimmenden Tagessatzes das sog. Nettoprinzip eingeführt (§ 40 Abs. 2 S. 3). Für das Recht der Antragsdelikte ist von besonderer Bedeutung, daß die Zurücknahme eines Strafantrags jetzt generell zulässig ist (§ 77 d Abs. 1 S. 1). Auch bei der Führungsaufsicht brachte die „Reform der Reform" (vgl. Göhler NJW 1974, 825, 831) nicht unerhebliche Änderungen. 5
Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil Im Besonderen Teil wurden u. a. neu geregelt die Vorschriften über Gefangenenbefreiung und Gefangenenmeuterei (§§ 120, 121), Mißbrauch von Berufsbezeichnungen und akademischen Graden (§ 132 a), Verwahrungsbruch, Verletzung amtlicher Bekanntmachungen, Verstrickungsbruch und Siegelbruch (§§ 133, 134 und 136), Vortäuschen einer Straftat und falsche Verdächtigung (§§ 145 d, 164), Geld- und Wertzeichenfälschung (§§ 146 ff.), die sog. Indiskretionsdelikte (§§ 201-205), die Eigentums- und Vermögensdelikte unter Angehörigen und Hausgenossen sowie die Bagatellkriminalität im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte (§§ 243 Abs. 2, 247, 248 a, 257 Abs. 4 S. 2, 259 Abs. 2, 263 Abs. 4, 265 a Abs. 3, 266 Abs. 3), schwerer Raub und Raub mit Todesfolge (§§ 250, 251), Begünstigung, Strafvereitelung und Hehlerei (§§ 257-260), die aus dem AtomG übernommenen Tatbestände der Herbeiführung einer Explosion durch Kernenergie (§ 310 b) und des Mißbrauchs ionisierender Strahlen (§ 311 a), Baugefährdung (§ 330) und Vollrausch (§ 330 a), vor allem aber die Amtsdelikte (§§ 331-358). Von größerer praktischer Bedeutung sind auch der neue § 145 (Mißbrauch von Notrufen und Beeinträchtigung von Unfallverhütungs- und Nothilfemitteln) sowie die in § 223 a Abs. 2 neu aufgenommene Strafdrohung für die versuchte gefährliche Körperverletzung; s) das 14. StrRÄndG v. 22. 4. 1976 (BGBl. I 1056), durch das der Strafrechtsschutz im Vorfeld von Gewalttaten ausgebaut wurde (Einfügung der §§ 88 a und 130 a, Umgestaltung der §§ 111 Abs. 2,126, 140,145 d und 241); t) das 5. StrRG v. 18. 6. 1974 (BGBl. I 1297) und das 15. StrRÄndG v. 18. 5. 1976 (BGBl. I 1213)mit der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs sowie u) das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (1. WiKG) v. 29. 7. 1976 (BGBl. 12034). 3. Weitere Grundlagen des materiellen Strafrechts sind die strafrechtlichen Nebengesetze, z. B. das Straßenverkehrsgesetz (StVG), das Lebensmittelgesetz (LMG) und das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG). 4. Das Strafgesetzbuch ist in zwei Hauptteile gegliedert: a) Der 1. Teil wird üblicherweise als Allgemeiner Teil bezeichnet. Er reicht bis § 79 b und bezieht sich auf alle Straftatbestände, also nicht nur auf die des StGB selbst, sondern auch auf die der strafrechtlichen Nebengesetze. Der 1. Abschnitt (§§ 1-12) befaßt sich mit Geltungsbereich und Sprachgebrauch des StGB, der 2. Abschnitt (§§ 13-37) mit der Tat (§§ 13-21 Grundlagen der Strafbarkeit, §§ 22-24 Versuch, §§ 25-31 Täterschaft und Teilnahme, §§ 32-35 Notwehr und Notstand). Der 3. Abschnitt (§§ 38-76 a) behandelt die Rechtsfolgen der Tat, der 4. Abschnitt enthält die Vorschriften über Strafantrag, Ermächtigung und Strafverlangen (§§ 77-77 e), im 5. Abschnitt schließlich folgen die Vorschriften über die Verjährung (§§ 79-79b). b) Der 2. Teil des Strafgesetzbuches wird als Besonderer Teil bezeichnet. Er enthält die einzelnen Tatbestände mit ihren Strafdrohungen.
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Die strafbare Handlung
B. Die strafbare Handlung I. Die Einteilung der strafbaren Handlungen 1. Die Zweiteilung nach der Strafdrohung Wie bereits in der Einleitung (Abschn. A I 3, S. 1) dargelegt, ist jeder gesetzliche Tatbestand mit einer Strafdrohung ausgestattet. Art und Höhe der Strafdrohung werden durch den Unrechtsgehalt der einzelnen Tatbestände bestimmt. Das Gesetz unterscheidet hierbei seit Inkrafttreten des 2. StrRG in § 12 zwei große Gruppen, nämlich Verbrechen und Vergehen (sog. Zweiteilung der rechtswidrigen Taten). Einzelheiten und Auswirkungen siehe § 12 Anm. 1 und 2. 2. Begehungs- und Unterlassungsdelikte Neben dieser Einteilung nach der Strafdrohung können die strafbaren Handlungen nach ihrer Begehungsform in Begehungs- und Unterlassungsdelikte eingeteilt werden. Innerhalb der Unterlassungsdelikte sind die echten und die unechten Unterlassungsdelikte zu unterscheiden (Einzelheiten siehe § 13 nebst Anm.). 3. Verletzungs- und Gefährdungsdelikte a) Von einem Verletzungsdelikt spricht man, wenn zur Tatbestandsverwirklichung der Eintritt eines bestimmten Schadens erforderlich ist, z. B. die Tötung oder Verletzung eines Menschen in den §§ 211 ff., 223 ff. oder die Beschädigung einer Sache in § 303. b) Bei den Gefährdungsdelikten ist der Tatbestand schon bei Eintritt einer Gefahr für das geschützte Rechtsgut erfüllt. Innerhalb der Gefährdungsdelikte sind die konkreten von den abstrakten Gefährdungsdelikten zu unterscheiden. aa) Bei den konkreten Gefährdungsdelikten ist erforderlich, daß durch das Verhalten des Täters eine ganz bestimmte, konkret nachweisbare Gefahr für das geschützte Rechtsgut eingetreten ist. Hierher gehören z. B. die Aussetzung (§ 221), die Giftbeibringung (§ 229), die Herbeiführung einer Brandgefahr (§ 310 a), die Überschwemmung (§§ 312-314) sowie die Transport- und Straßenverkehrsgefährdung (§§ 315, 315 a, 315 b, 315 c). bb) Bei den abstrakten Gefährdungsdelikten Gefahr im Einzelfall nicht erforderlich. Das wegen seiner generellen Gefährlichkeit als u. a. üble Nachrede (§ 186), Beteiligung an
ist der Nachweis einer konkreten Verhalten des Täters wird bereits solcher bestraft. Hierunter fallen einer Schlägerei (§ 227), schwere 7
Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil
Brandstiftung (§ 307), Trunkenheit im Verkehr (§ 316), Luftpiraterie (§ 316 c), Brunnenvergiftung (§§ 324, 326) und Vollrausch (§ 330 a). Aus dem Schrifttum siehe insbesondere Schröder JZ 1967, 522 sowie ZStW 81,7; Gallas, Abstrakte und konkrete Gefährdung, Heinitz-Festschr. S. 171.
4. Erfolgs- und Tätigkeitsdelikte Bei den Erfolgsdelikten gehört zur Tatbestandsverwirklichung ein durch die Handlung erzielter Erfolg, während bei den Tätigkeitsdelikten (auch schlichte Tätigkeitsdelikte genannt) bereits die Handlung als solche den Tatbestand verwirklicht. Eine Mischform beider Typen stellen die sog. kupierten Erfolgsdelikte dar (Tatbestände mit „überschießender Innentendenz", vgl. MaurachZipf AT I 304). Hierbei handelt es sich um Delikte, bei denen ein bestimmtes, jenseits des tatbestandsmäßigen Erfolgs liegendes Ziel des Täters von diesem nur erstrebt, aber nicht erreicht werden muß. Die meisten Tatbestände enthalten Erfolgsdelikte. „Erfolg" ist hierbei nicht nur die sinnlich wahrnehmbare Außenweltveränderung (z. B. der Tod oder die Verletzung eines Menschen), sondern auch die Veränderung eines sozialen Herrschafts- oder Zuordnungsverhältnisses, z. B. der Gewahrsamswechsel beim Diebstahl (vgl. Küper NJW 1976, 543 f.). Zu den Erfolgsdelikten gehören u . a . die Tötungsdelikte (§§ 211, 212, 216, 217, 222), die Abtreibung (§ 218), die Körperverletzung (§ 223), Diebstahl und Unterschlagung (§§ 242, 246), Betrug und Untreue (§§ 263, 266) sowie Raub und räuberische Erpressung (§§ 249, 255). Diebstahl, Erpressung und Betrug stellen gleichzeitig Beispiele für sog. kupierte Erfolgsdelikte dar. Zu den schlichten Tätigkeitsdelikten gehören demgegenüber Hausfriedensbruch (§ 123), Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113), Meineid (§ 154) und Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173).
5. Die erfolgsqualifizierten Delikte Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß durch die Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestands, des sogenannten Grundtatbestands, ein weiterer, qualifizierender Erfolg eintritt. Dieser besteht entweder in einer schweren Körperverletzung i. S. von § 224 oder im Tod des Opfers. Auf der subjektiven Tatseite ist zu beachten, daß die schwerere Strafe der erfolgsqualifizierten Delikte den Täter nur dann trifft, wenn er den qualifizierenden Erfolg mindestens fahrlässig herbeigeführt hat (vgl. § 18). Beispiel: A sticht den B mit einem Messer nieder. Er will ihn hierdurch nur verletzen, nicht töten. Wenn B nun dennoch an den Folgen der ihm zugefügten Verletzungen stirbt, so wird dieser Sonderfall einer vorsätzlichen Körperverletzung durch den Tatbestand des
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Die strafbare Handlung § 226 (Körperverletzung mit Todesfolge) erfaßt. Die gleichfalls verwirklichten Tatbestände der §§ 223 und 222 werden konsumiert (vgl. BGH 8, 54). Weitere Einzelheiten und Beispiele siehe Anm. zu § 18.
6. Die eigenhändigen Delikte Grundsätzlich kann jeder Tatbestand von jedermann verwirklicht werden. Hierbei ist nicht erforderlich, daß der jeweilige Täter den Tatbestand eigenhändig verwirklicht. Er kann ihn unter den Voraussetzungen der sog. mittelbaren Täterschaft (siehe hierzu § 25 Anm. III) auch durch einen anderen verwirklichen lassen. Die Besonderheit der eigenhändigen Delikte besteht darin, daß als Täter nur ganz bestimmte Personen in Betracht kommen und diese alle Tatbestandsmerkmale selbst eigenhändig verwirklichen müssen. Zu den eigenhändigen Delikten gehören insbesondere die Aussagedelikte (§§ 153 ff.). So kann Täter eines Meineids (§ 154) nur die Aussageperson sein. Weitere Beispiele finden sich unter den Sittlichkeitsdelikten, hier allerdings nur, soweit es sich um sog. Fleischesverbrechen handelt, z. B. Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173) und homosexuelle Handlungen mit Jugendlichen (§ 175), nicht dagegen Vergewaltigung (§ 177), da die zur Tatbestandsverwirklichung erforderliche Gewaltanwendung nicht notwendig von dem vorgenommenen werden muß, der den Beischlaf vollzieht. Bei allen eigenhändigen Delikten ist mittelbare Täterschaft ausgeschlossen. Einen gewissen Ersatz für die fehlende Möglichkeit einer Annahme von mittelbarer Täterschaft schafft bei den Aussagedelikten die Sonderregelung des § 160, die immer dann eingreift, wenn normalerweise die Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft gegeben wären. Bei der Falschbeurkundung im Amt (§ 348 Abs. 1) ersetzt § 271 die fehlende Möglichkeit einer mittelbaren Täterschaft. Zum Ganzen siehe auch § 25 Anm. III 4.
7. Die Sonderdelikte Auch bei den Sonderdelikten ist - ähnlich wie bei den eigenhändigen Delikten - der Täterkreis beschränkt. Im Unterschied zu den eigenhändigen Delikten ist aber nicht erforderlich, daß derjenige, der als Täter in Betracht kommt, den Tatbestand eigenhändig verwirklicht. Er kann den Tatbestand auch in mittelbarer Täterschaft verwirklichen. So kann ein Amtsträger sich zur Begehung eines nach § 133 Abs. 3 strafbaren Verwahrungsbruchs im Amt auch eines gutgläubigen oder unter seinem Druck stehenden Nichtbeamten bedienen. Zu den Sonderdelikten gehören insbesondere die Amtsdelikte, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Amtseigenschaft strafbegründend ist (sog. echte Amtsdelikte) oder ob sie sich strafschärfend auswirkt (sog. unechte Amtsdelikte). Einzelheiten siehe § 11 Anm. II 2 a-c. Weiter gehören hierher die 9
Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil
unechten Unterlassungsdelikte, bei denen nur der als Täter in Betracht kommt, dereine sog. Garantenstellung innehat (§ 13 Anm. II 3). Anstiftung und Beihilfe sind auch für solche Personen strafbar, die nicht zu dem beschränkten Personenkreis der Sonderdelikte gehören. Teilnehmer an einem Amtsdelikt kann daher auch ein Nichtbeamter sein, wobei dann allerdings bei den echten Amtsdelikten § 28 Abs. 1 und bei den unechten Amtsdelikten § 28 Abs. 2 zu beachten ist. 8. Offizial- und Antragsdelikte Grundsätzlich werden strafbare Handlungen von Amts wegen, d. h. ohne Rücksicht auf den Willen des Verletzten, verfolgt (sogenannte Offizialdelikte). Nur in einer geringen Anzahl von Fällen ist die Strafverfolgung von der Stellung eines Strafantrags abhängig (Antragsdelikte, siehe die Erläuterungen zu §77). 9. Die Privatklagedelikte Gemäß § 152 Abs. 1 StPO ist zur Erhebung der öffentlichen Klage grundsätzlich nur die Staatsanwaltschaft berufen (Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft). Die Besonderheit des Privatklage Verfahrens besteht in der Durchbrechung dieses Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft. Gemäß § 374 Abs. 1 StPO hat nämlich der Verletzte bei bestimmten Delikten die Möglichkeit, ohne vorherige Anrufung der Staatsanwaltschaft bei dem Zuständigen Amtsgericht die Klage selbst zu erheben. Der Kreis der Privatklagedelikte ergibt sich aus § 374 Abs. 1 StPO. Es handelt sich hierbei ausnahmslos um Delikte, die nur in die Privatsphäre des Verletzten eingreifen, nicht auch in die Belange der Allgemeinheit. Hierher gehören insbesondere der Hausfriedensbruch (§ 123), alle Fälle der Beleidigung (§ 185 ff.), soweit nicht eine der in § 194 Abs. 4 bezeichneten politischen Körperschaften beleidigt ist, die Körperverletzung in den Fällen der §§ 223, 223 a und 230 und die Sachbeschädigung (§ 303). Es ist zu beachten, daß der Kreis der Privatklagedelikte mit dem Kreis der Antragsdelikte nicht identisch ist. Beide Kreise überschneiden sich. Es gibt Privatklagedelikte, die keine Antragsdelikte sind (vgl. §§ 223 a, 241); es gibt vor allem aber viele Antragsdelikte, die nicht zugleich Privatklagedelikte sind (vgl. §§ 201, 203, 204 i. V. mit § 205, §§ 235-237 i. V. mit § 238, §§ 248 a, 288 und 289).
II. Der Verbrechensauibau 1. Wie bereits in der Einleitung (Abschn. I 2) dargelegt, besteht jedes Verbrechen aus einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Hand10
Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil
unechten Unterlassungsdelikte, bei denen nur der als Täter in Betracht kommt, dereine sog. Garantenstellung innehat (§ 13 Anm. II 3). Anstiftung und Beihilfe sind auch für solche Personen strafbar, die nicht zu dem beschränkten Personenkreis der Sonderdelikte gehören. Teilnehmer an einem Amtsdelikt kann daher auch ein Nichtbeamter sein, wobei dann allerdings bei den echten Amtsdelikten § 28 Abs. 1 und bei den unechten Amtsdelikten § 28 Abs. 2 zu beachten ist. 8. Offizial- und Antragsdelikte Grundsätzlich werden strafbare Handlungen von Amts wegen, d. h. ohne Rücksicht auf den Willen des Verletzten, verfolgt (sogenannte Offizialdelikte). Nur in einer geringen Anzahl von Fällen ist die Strafverfolgung von der Stellung eines Strafantrags abhängig (Antragsdelikte, siehe die Erläuterungen zu §77). 9. Die Privatklagedelikte Gemäß § 152 Abs. 1 StPO ist zur Erhebung der öffentlichen Klage grundsätzlich nur die Staatsanwaltschaft berufen (Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft). Die Besonderheit des Privatklage Verfahrens besteht in der Durchbrechung dieses Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft. Gemäß § 374 Abs. 1 StPO hat nämlich der Verletzte bei bestimmten Delikten die Möglichkeit, ohne vorherige Anrufung der Staatsanwaltschaft bei dem Zuständigen Amtsgericht die Klage selbst zu erheben. Der Kreis der Privatklagedelikte ergibt sich aus § 374 Abs. 1 StPO. Es handelt sich hierbei ausnahmslos um Delikte, die nur in die Privatsphäre des Verletzten eingreifen, nicht auch in die Belange der Allgemeinheit. Hierher gehören insbesondere der Hausfriedensbruch (§ 123), alle Fälle der Beleidigung (§ 185 ff.), soweit nicht eine der in § 194 Abs. 4 bezeichneten politischen Körperschaften beleidigt ist, die Körperverletzung in den Fällen der §§ 223, 223 a und 230 und die Sachbeschädigung (§ 303). Es ist zu beachten, daß der Kreis der Privatklagedelikte mit dem Kreis der Antragsdelikte nicht identisch ist. Beide Kreise überschneiden sich. Es gibt Privatklagedelikte, die keine Antragsdelikte sind (vgl. §§ 223 a, 241); es gibt vor allem aber viele Antragsdelikte, die nicht zugleich Privatklagedelikte sind (vgl. §§ 201, 203, 204 i. V. mit § 205, §§ 235-237 i. V. mit § 238, §§ 248 a, 288 und 289).
II. Der Verbrechensauibau 1. Wie bereits in der Einleitung (Abschn. I 2) dargelegt, besteht jedes Verbrechen aus einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Hand10
Die strafbare Handlung
lung. Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld sind in dieser Reihenfolge zu prüfen. 2. Sind alle Verbrechenselemente gegeben, so ist gegebenenfalls weiter zu prüfen, ob sich der Täter auf einen persönlichen Strafausschließungsgrund (z. B. die Angehörigeneigenschaft bei der Strafvereitelung, vgl. § 258 Abs. 6) oder einen persönlichen Strafaufhebungsgrund (z. B. Rücktritt vom Versuch, § 24) berufen kann. Ist dies der Fall, so entfällt zwar nicht der kriminelle Charakter, wohl aber die Strafbarkeit der Tat (Einzelheiten s. u. Abschn. D). 3. Bei einigen Tatbeständen ist weiter das Vorhandensein einer sogenannten objektiven Strafbarkeitsbedingung erforderlich. So entfällt die Strafbarkeit wegen übler Nachrede (§ 186), wenn sich für die ehrverletzende Behauptung der Wahrheitsbeweis erbringen läßt (Einzelheiten s.u. Abschn. E, S. 34 ff.). 4. Liegt eine strafbare Handlung vor, so ist weiter zu prüfen, ob diese auch verfolgbar ist oder ob der Strafverfolgung Verfahrenshindernisse entgegenstehen. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn bei Antragsdelikten der erforderliche Strafantrag fehlt (vgl. § 77) oder wenn die Tat bereits verjährt ist (vgl. § 78). Einzelheiten s. u. Abschn. F, S. 36 ff. III. Der Handlungsbegriff 1. Primäre Voraussetzung für jede Tatbestandsverwirklichung ist das Vorliegen einer Willensbetätigung. Nur das von einem menschlichen Willen getragene Verhalten kann Grundlage für die strafrechtliche Wertung sein. Dies gilt nicht nur für die vorsätzliche, sondern auch für die fahrlässige Tat. Auch diese resultiert aus einer Willensbetätigung. Im Unterschied zur vorsätzlichen Tat will aber der nur fahrlässig handelnde Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg nicht herbeiführen. Der Unrechtsgehalt der fahrlässigen Tat erschöpft sich darin, daß der Täter die objektiv erforderliche Sorgfalt außer acht läßt und dadurch den Tatbestand verwirklicht. Er tut etwas, was er hätte unterlassen sollen, oder er bleibt untätig, obwohl er hätte tätig werden sollen. Beachte: Der Streit zwischen der sog. kausalen und der sog. finalen Handlungslehre ist heute praktisch gegenstandslos, nachdem sich die Fronten durch die wissenschaftliche Diskussion der letzten Jahre weitgehend angeglichen haben. Die seitens der finalen Handlungslehre so heftig bekämpfte Ansicht, die tatbestandsmäßige Handlung erschöpfe sich in der Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolgs, wird heute in dieser Form nicht mehr vertreten. Auch die Vertreter des überkommenen Handlungsbegriffs stellen heute nicht mehr in Abrede, daß jede Handlung insofern final ist, als ihr ein zweck- und zielgerichteter Willensakt zugrundeliegen muß. Klarheit besteht inzwischen auch darüber, daß der tatbestandsmäßige Erfolg nicht Bestandteil der Handlung, sondern deren Folge ist. Die früher geübte Kritik der „Finalisten" ist insoweit gegenstandslos geworden. Andererseits haben auch die Vertreter der finalen Handlungslehre die Schwächen ihres Systems,
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Die strafbare Handlung
lung. Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld sind in dieser Reihenfolge zu prüfen. 2. Sind alle Verbrechenselemente gegeben, so ist gegebenenfalls weiter zu prüfen, ob sich der Täter auf einen persönlichen Strafausschließungsgrund (z. B. die Angehörigeneigenschaft bei der Strafvereitelung, vgl. § 258 Abs. 6) oder einen persönlichen Strafaufhebungsgrund (z. B. Rücktritt vom Versuch, § 24) berufen kann. Ist dies der Fall, so entfällt zwar nicht der kriminelle Charakter, wohl aber die Strafbarkeit der Tat (Einzelheiten s. u. Abschn. D). 3. Bei einigen Tatbeständen ist weiter das Vorhandensein einer sogenannten objektiven Strafbarkeitsbedingung erforderlich. So entfällt die Strafbarkeit wegen übler Nachrede (§ 186), wenn sich für die ehrverletzende Behauptung der Wahrheitsbeweis erbringen läßt (Einzelheiten s.u. Abschn. E, S. 34 ff.). 4. Liegt eine strafbare Handlung vor, so ist weiter zu prüfen, ob diese auch verfolgbar ist oder ob der Strafverfolgung Verfahrenshindernisse entgegenstehen. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn bei Antragsdelikten der erforderliche Strafantrag fehlt (vgl. § 77) oder wenn die Tat bereits verjährt ist (vgl. § 78). Einzelheiten s. u. Abschn. F, S. 36 ff. III. Der Handlungsbegriff 1. Primäre Voraussetzung für jede Tatbestandsverwirklichung ist das Vorliegen einer Willensbetätigung. Nur das von einem menschlichen Willen getragene Verhalten kann Grundlage für die strafrechtliche Wertung sein. Dies gilt nicht nur für die vorsätzliche, sondern auch für die fahrlässige Tat. Auch diese resultiert aus einer Willensbetätigung. Im Unterschied zur vorsätzlichen Tat will aber der nur fahrlässig handelnde Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg nicht herbeiführen. Der Unrechtsgehalt der fahrlässigen Tat erschöpft sich darin, daß der Täter die objektiv erforderliche Sorgfalt außer acht läßt und dadurch den Tatbestand verwirklicht. Er tut etwas, was er hätte unterlassen sollen, oder er bleibt untätig, obwohl er hätte tätig werden sollen. Beachte: Der Streit zwischen der sog. kausalen und der sog. finalen Handlungslehre ist heute praktisch gegenstandslos, nachdem sich die Fronten durch die wissenschaftliche Diskussion der letzten Jahre weitgehend angeglichen haben. Die seitens der finalen Handlungslehre so heftig bekämpfte Ansicht, die tatbestandsmäßige Handlung erschöpfe sich in der Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolgs, wird heute in dieser Form nicht mehr vertreten. Auch die Vertreter des überkommenen Handlungsbegriffs stellen heute nicht mehr in Abrede, daß jede Handlung insofern final ist, als ihr ein zweck- und zielgerichteter Willensakt zugrundeliegen muß. Klarheit besteht inzwischen auch darüber, daß der tatbestandsmäßige Erfolg nicht Bestandteil der Handlung, sondern deren Folge ist. Die früher geübte Kritik der „Finalisten" ist insoweit gegenstandslos geworden. Andererseits haben auch die Vertreter der finalen Handlungslehre die Schwächen ihres Systems,
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Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil die hauptsächlich im Aufbau der Fahrlässigkeitstat lagen, erkannt und beseitigt. Es kann heute auch aus der Sicht der „Finalisten" als allgemein anerkannt angesehen werden, daß der Handltmgsbegriff der fahrlässigen Tat derselbe ist wie bei der Vorsatztat (vgl. Welzel 61 ff., 129 ff.; Maurach-Zipf A T I 212 ff.). Ein praktischer Unterschied zwischen der kausalen und der finalen Handlungslehre besteht heute kaum noch (vgl. Ordeig, Finalität und Vorsatz, NJW 1966, 533). Geblieben ist lediglich die noch später zu erörternde Frage, ob sich Vorsatz und Fahrlässigkeit bereits auf der Ebene des subjektiven Tatbestands oder erst im Bereich der Schuld unterscheiden. Aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zwischen der kausalen und der finalen Handlungslehre hat sich inzwischen die sog. soziale Handlungslehre entwickelt, die heute bereits als h. L. bezeichnet werden kann. Nach dieser Lehre ist Handlung i. S. des Strafrechts jedes vom menschlichen Willen beherrschte oder beherrschbare sozialerhebliche Verhalten. „Sozialerheblich" ist dabei jedes Verhalten, das die Beziehungen des Einzelnen zu seiner Umwelt berührt und nach seinen erstrebten oder unerwünschten Folgen im sozialen Bereich Gegenstand einer wertbezogenen Beurteilung ist (vgl. Wessels A T 16 f.). Die soziale Handlungslehre berücksichtigt damit nicht nur kausale und finale, sondern zugleich auch normative Aspekte. Sie wird im Schrifttum u. a. vertreten von Jescheck A T 168 sowie Eb. Schmidt-Festschr., 1961, S. 139, 151; Arthur Kaufmann, H. Mayer-Festschr., 1966, S. 166 sowie JuS 1967, 145; Maihofer, Eb. Schmidt-Festschr., 1961, S. 178; Maurach-Zipf A T I 215 ff.; Eb. Schmidt, Engisch-Festschr., 1969, S. 340; Wessels A T 15; E. A. Wolff, Der Handlungsbegriff in der Lehre vom Verbrechen, 1964. - Zum Ganzen siehe auch Roxin, Zur Kritik der finalen Handlungslehre, ZStW 74, 515.
2. Nicht zu den strafrechtlich relevanten Handlungen gehören, da nicht aus einer freien Willensbetätigung resultierend: a) Reflexbewegungen, z. B. wenn jemand in einem Krampfanfall eine fremde Sache beschädigt oder einen Verkehrsunfall verschuldet. Auch instinktive Abwehrbewegungen gehören hierher, sofern sie ohne Mitwirkung des Bewußtseins ausgelöst worden sind. Nicht hierher gehören dagegen die sog. Kurzschlußhandlungen, d. h. Verhaltensweisen, die zwar willensgesteuert sind, bei denen sich die Willensbildung jedoch so schnell vollzogen hat, daß für den Handelnden keine Möglichkeit mehr bestand, abhaltende Gegenvorstellungen zu mobilisieren (vgl. Maurach-Zipf AT I 202). Hier liegt zwar eine strafrechtlich relevante Handlung vor, unbillige Ergebnisse lassen sich jedoch durch Verneinung der Schuld vermeiden. Zur Abgrenzung von Reflexbewegungen sowie diesen gleichzustellenden instinktiven Bewegungen einerseits und Kurzschlußhandlungen sowie willensgesteuerten Schreckreaktionen andererseits siehe Hamm JZ 1974, 715 betr. Fehlreaktion einer Pkw-Fahrerin bei Abwehr einer Fliege (Bejahung von Handlung und Schuld; zw., vgl. Blei JA 1975, StR 13). Zum Ganzen siehe auch Lenckner in Schönke-Schröder 43 ff. vor § 13; b) Bewegungen im Zustand der Bewußtlosigkeit, im Schlaf, im Delirium, in der Narkose oder im Zustand der Hypnose. 12
Die strafbare Handlung
c) Ob ein Rauschzustand bereits die Handlungsfähigkeit oder nur die Schuldfähigkeit ausschließt, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Ist bereits die Handlungsfähigkeit ausgeschlossen, so kommt mangels einer strafrechtlich erheblichen Handlung auch eine Bestrafung gemäß § 330 a nicht in Betracht: § 330 a will nur den Verlust der Willensbeherrschung, nicht aber den Verlust der körperlichen Beherrschung als typisch gemeingefährlich erfassen. Wenn z. B. ein sinnlos Betrunkener aus dem Bett fällt und dabei die Bodenvase seines Gastgebers zertrümmert, so ist dieser Vorgang nicht anders zu beurteilen als wenn ein normal Schlafender im Traum um sich schlägt und dabei Schaden anrichtet. In beiden Fällen fehlt es an einer Handlung. d) Verhaltensweisen, die durch unwiderstehliche, unmittelbar körperlich wirkende Gewalt in der Weise erzwungen werden, daß der durch die Einwirkung Betroffene nur noch als willenloses Werkzeug des anderen erscheint (sog. vis absoluta). Beispiel: A führt gewaltsam die Hand des sich nach Kräften wehrenden Unterschrift unter einen Wechsel (vis absoluta). Wenn dagegen A den vorgehaltener Pistole zur Unterschrift zwingt (vis compulsiva), so kann bei Vorliegen einer Handlung im Rechtssinn nicht geleugnet werden; B könnte sich auf schuldausschließenden Notstand (§ 35) berufen.
B zur B mit B das jedoch
IV. Der Kausalzusammenhang 1. Die Bedeutung des Kausalzusammenhangs Bei allen Erfolgsdelikten, d. h. bei allen Tatbeständen, die zu ihrer Verwirklichung außer einer Willensbetätigung den Eintritt eines bestimmten Erfolgs voraussetzen (s. o. Abschn. B I 4), ist der Kausalzusammenhang notwendiges Bindeglied zwischen Willensbetätigung und Erfolg. Er wird somit zu einem Merkmal des objektiven Tatbestands. Fehlt die Kausalität zwischen Handlung und Erfolg, so besteht lediglich die Möglichkeit einer Bestrafung nach Versuchsgrundsätzen. Beispiel: A gibt B mit Tötungsvorsatz Gift. Bevor das Gift wirkt, stirbt B, der von dem Anschlag auf sein Leben gar nichts merkt, an einem Herzschlag.
2. Die Bestimmung der Kausalität Ein Kausalzusammenhang ist immer dann gegeben, wenn eine Willensbetätigung nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß auch der Erfolg entfiele. Hieraus folgt, daß alle Bedingungen, ohne die der Erfolg nicht denkbar wäre, als gleichwertige Ursachen für den Erfolg anzusehen sind (Bedingung«- oder Äquivalenztheorie). Im einzelnen: 13
Die strafbare Handlung
c) Ob ein Rauschzustand bereits die Handlungsfähigkeit oder nur die Schuldfähigkeit ausschließt, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Ist bereits die Handlungsfähigkeit ausgeschlossen, so kommt mangels einer strafrechtlich erheblichen Handlung auch eine Bestrafung gemäß § 330 a nicht in Betracht: § 330 a will nur den Verlust der Willensbeherrschung, nicht aber den Verlust der körperlichen Beherrschung als typisch gemeingefährlich erfassen. Wenn z. B. ein sinnlos Betrunkener aus dem Bett fällt und dabei die Bodenvase seines Gastgebers zertrümmert, so ist dieser Vorgang nicht anders zu beurteilen als wenn ein normal Schlafender im Traum um sich schlägt und dabei Schaden anrichtet. In beiden Fällen fehlt es an einer Handlung. d) Verhaltensweisen, die durch unwiderstehliche, unmittelbar körperlich wirkende Gewalt in der Weise erzwungen werden, daß der durch die Einwirkung Betroffene nur noch als willenloses Werkzeug des anderen erscheint (sog. vis absoluta). Beispiel: A führt gewaltsam die Hand des sich nach Kräften wehrenden Unterschrift unter einen Wechsel (vis absoluta). Wenn dagegen A den vorgehaltener Pistole zur Unterschrift zwingt (vis compulsiva), so kann bei Vorliegen einer Handlung im Rechtssinn nicht geleugnet werden; B könnte sich auf schuldausschließenden Notstand (§ 35) berufen.
B zur B mit B das jedoch
IV. Der Kausalzusammenhang 1. Die Bedeutung des Kausalzusammenhangs Bei allen Erfolgsdelikten, d. h. bei allen Tatbeständen, die zu ihrer Verwirklichung außer einer Willensbetätigung den Eintritt eines bestimmten Erfolgs voraussetzen (s. o. Abschn. B I 4), ist der Kausalzusammenhang notwendiges Bindeglied zwischen Willensbetätigung und Erfolg. Er wird somit zu einem Merkmal des objektiven Tatbestands. Fehlt die Kausalität zwischen Handlung und Erfolg, so besteht lediglich die Möglichkeit einer Bestrafung nach Versuchsgrundsätzen. Beispiel: A gibt B mit Tötungsvorsatz Gift. Bevor das Gift wirkt, stirbt B, der von dem Anschlag auf sein Leben gar nichts merkt, an einem Herzschlag.
2. Die Bestimmung der Kausalität Ein Kausalzusammenhang ist immer dann gegeben, wenn eine Willensbetätigung nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß auch der Erfolg entfiele. Hieraus folgt, daß alle Bedingungen, ohne die der Erfolg nicht denkbar wäre, als gleichwertige Ursachen für den Erfolg anzusehen sind (Bedingung«- oder Äquivalenztheorie). Im einzelnen: 13
Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil a) D i e Kausalität einer Bedingung wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß auch eine a n d e r e Bedingung f ü r den E r f o l g ursächlich war, u. U . sogar als H a u p t u r s a c h e angesehen werden m u ß . Beispiel: Wenn A mit seinem Pkw nachts in eine unbeleuchtete Baustelle fährt und hierbei sein Beifahrer X verletzt wird, so sind sowohl A als auch der für die Baustelle verantwortliche Bauführer B für die Verletzung des X kausal geworden: A, weil er nicht mit der erforderlichen Sorgfalt auf die vor ihm liegende Fahrbahn geachtet hat, u. U. auch zu schnell gefahren ist, und B, weil er die Baustelle nicht ordnungsgemäß abgesichert hat. Hierbei ist es ohne Bedeutung, welche Bedingung als die überwiegende anzusehen ist. b) J e d e Beschleunigung des Erfolgs ist f ü r diesen kausal (vgl. B G H N J W 1966, 1824; Maurach-Zipf A T 1 2 6 9 ) . Beispiel: Wenn ein Arzt A einem unheilbar erkrankten Patienten P zur Abkürzung seiner Leiden eine tödliche Dosis Morphium injiziert, so wird die Kausalität seines Verhaltens und damit der Tatbestand des § 212 nicht dadurch ausgeschlossen, daß nach dem Ergebnis der medizinischen Untersuchungen P auch ohne die Morphiuminjektion mit Sicherheit bereits wenige Stunden später an den Folgen seiner Krankheit gestorben wäre. Die geringe Lebenserwartung des P kann sich in diesem Fall nur auf das Strafmaß auswirken (§ 213). c) Die Kausalität einer Bedingung wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß d e r Erfolg erst durch das Hinzutreten weiterer Bedingungen eintritt. H i e r b e i k o m m t es nicht darauf ab, o b diese weiteren Bedingungen von D r i t t e n fahrlässig o d e r gar vorsätzlich gesetzt w e r d e n (vgl. R G 64, 316; 64, 370). Entscheidend ist allein, d a ß die ursprüngliche Bedingung nicht hinweggedacht w e r d e n kann, o h n e d a ß d e r Erfolg entfiele. Beispiel: Ein Förster F stellt in einer Gaststube sein geladenes Gewehr ab, ohne dafür zu sorgen, daß kein Unbefugter an das Gewehr herankommen kann. Wenn nun im Laufe eines plötzlich aufkommenden Streits A das Gewehr ergreift und damit seinen Widersacher X niederschießt, so wird durch dieses vorsätzliche Eingreifen des X die von F eingeleitete Kausalkette nicht abgerissen: Hätte F sein geladenes Gewehr nicht dem Zugriff des A preisgegeben, so hätte dieser damit nicht den X niederschießen können. F ist also für den Tod des X kausal geworden. Sofern der konkrete Geschehnisablauf für ihn vorhersehbar war, steht einer Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung nichts mehr entgegen (vgl. Baumann AT 230 unter Ablehnung des sog. Frank'schen Regreßverbots). 3. Besonderheiten sind bei den u n e c h t e n Unterlassungsdelikten und den F a h r lässigkeitsdelikten zu b e a c h t e n (s. u. C 2 sowie § 13 A n m . III 2 b).
4. Atypische Geschehnisabläufe Bei k o n s e q u e n t e r A n w e n d u n g d e r Bedingungstheorie m u ß auch bei atypischen Geschehnisabläufen, d. h. bei Geschehnisabläufen, die nicht der allgemeinen L e b e n s e r f a h r u n g entsprechen, Kausalität zwischen H a n d l u n g und Erfolg b e j a h t w e r d e n . Die Feststellung d e r Kausalität k a n n f ü r sich allein j e d o c h noch 14
Die strafbare Handlung
keine strafrechtliche Haftung begründen, und zwar selbst dann nicht, wenn der eingetretene Erfolg vom Täter an sich gewollt war. Von einer vorsätzlichen Tat kann nämlich nur dann gesprochen werden, wenn der tatsächliche Geschehnisablauf vom Willen des Täters zweckbewußt gestaltet war, d. h. wenn er der Tatherrschaft seines Willens unterlag (vgl. Welzel 73). Der Täter muß also den wesentlichen Geschehnisablauf nicht nur gekannt, sondern auch beherrscht haben. Tritt der Erfolg lediglich auf Grund ungeahnter Umstände als zufällige Folge der Handlung ein, so kann von einer vorsätzlichen Tat nicht gesprochen werden (vgl. Welzel 73). In diesen Fällen kommt nur Versuch in Betracht, weil der Täter den Erfolg so, wie er ihn bewirken wollte, nicht bewirkt hat. Beispiele:
a) A und B geben unabhängig voneinander ihrem gemeinsamen Feind X mit Tötungsvorsatz Gift. X stirbt an der Summe der Dosen. Eine Dosis allein hätte nicht ausgereicht, um X zu töten (sog. kumulative Kausalität, vgl. Stree in Schönke-Schröder 85 vor § 13). Nach der Bedingungstheorie war sowohl das Verhalten des A als auch das des B für den Tod des X kausal. X ist nur dadurch ums Leben gekommen, daß beide ihm Gift beibrachten. Es widerspricht jedoch jeder Lebenserfahrung, daß zwei Personen völlig unabhängig voneinander einem Dritten mit Tötungsvorsatz Gift geben. Es handelt sich somit um einen atypischen Geschehnisablauf. A kann nicht für die Tat des B, dieser nicht für die Tat des A verantwortlich gemacht werden. Jeder haftet nur für seinen eigenen Tatbeitrag, d. h. jeder ist so zu stellen, wie wenn der andere gar nicht tätig geworden wäre. Denkt man aber den jeweiligen Tatbeitrag des anderen hinweg, so kann jeder nur wegen versuchten Mords (§§ 211, 23) bestraft werden (vgl. Maurach-Zipf AT I 270; Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-Festschr. S. 211; Stree aaO.). b) Im Laufe eines Familienstreits schlägt die Tochter (T) mit einer Bratpfanne auf den als Familientyrann gefürchteten X ein. Als X am Boden liegt und die T sich entfernt, um die Polizei zu rufen, schlägt ihre Mutter (M) auf X ein. X stirbt an den Folgen der ihm von T und M zugefügten Verletzungen, ohne daß sich feststellen läßt, ob die Schläge der M seinen Tod beschleunigt haben. In diesem Fall können weder die T noch die M wegen völlendeter Tötung bestraft werden. Für beide kommt nur Bestrafung wegen versuchten Totschlags in Betracht (vgl. BGH NJW 1966, 1823 m. abl. Anm. Hertel NJW 1966, 2418 und Kion JuS 1967,499; übereinstimmend Jescheck AT 212). c) Weitere Einzelheiten und Beispiele siehe § 16 Anm. 5.
V. Die Tatbestandsmäßigkeit 1. Eine Handlung ist dann tatbestandsmäßig, wenn sie alle objektiven und subjektiven Merkmale eines gesetzlichen Tatbestands erfüllt. Handlungen, die nicht tatbestandsmäßig sind, unterliegen nicht der strafrechtlichen Wertung (s.o. Abschn. 13, S. 11). 2. Der objektive Tatbestand hat die Aufgabe, das äußere Geschehen, das den vom Gesetzgeber als strafbedürftig angesehenen Unrechtsgehalt begründet, so zu beschreiben, daß die Verbotsmaterie mögüchst eindeutig festgelegt ist. 15
Die strafbare Handlung
keine strafrechtliche Haftung begründen, und zwar selbst dann nicht, wenn der eingetretene Erfolg vom Täter an sich gewollt war. Von einer vorsätzlichen Tat kann nämlich nur dann gesprochen werden, wenn der tatsächliche Geschehnisablauf vom Willen des Täters zweckbewußt gestaltet war, d. h. wenn er der Tatherrschaft seines Willens unterlag (vgl. Welzel 73). Der Täter muß also den wesentlichen Geschehnisablauf nicht nur gekannt, sondern auch beherrscht haben. Tritt der Erfolg lediglich auf Grund ungeahnter Umstände als zufällige Folge der Handlung ein, so kann von einer vorsätzlichen Tat nicht gesprochen werden (vgl. Welzel 73). In diesen Fällen kommt nur Versuch in Betracht, weil der Täter den Erfolg so, wie er ihn bewirken wollte, nicht bewirkt hat. Beispiele:
a) A und B geben unabhängig voneinander ihrem gemeinsamen Feind X mit Tötungsvorsatz Gift. X stirbt an der Summe der Dosen. Eine Dosis allein hätte nicht ausgereicht, um X zu töten (sog. kumulative Kausalität, vgl. Stree in Schönke-Schröder 85 vor § 13). Nach der Bedingungstheorie war sowohl das Verhalten des A als auch das des B für den Tod des X kausal. X ist nur dadurch ums Leben gekommen, daß beide ihm Gift beibrachten. Es widerspricht jedoch jeder Lebenserfahrung, daß zwei Personen völlig unabhängig voneinander einem Dritten mit Tötungsvorsatz Gift geben. Es handelt sich somit um einen atypischen Geschehnisablauf. A kann nicht für die Tat des B, dieser nicht für die Tat des A verantwortlich gemacht werden. Jeder haftet nur für seinen eigenen Tatbeitrag, d. h. jeder ist so zu stellen, wie wenn der andere gar nicht tätig geworden wäre. Denkt man aber den jeweiligen Tatbeitrag des anderen hinweg, so kann jeder nur wegen versuchten Mords (§§ 211, 23) bestraft werden (vgl. Maurach-Zipf AT I 270; Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-Festschr. S. 211; Stree aaO.). b) Im Laufe eines Familienstreits schlägt die Tochter (T) mit einer Bratpfanne auf den als Familientyrann gefürchteten X ein. Als X am Boden liegt und die T sich entfernt, um die Polizei zu rufen, schlägt ihre Mutter (M) auf X ein. X stirbt an den Folgen der ihm von T und M zugefügten Verletzungen, ohne daß sich feststellen läßt, ob die Schläge der M seinen Tod beschleunigt haben. In diesem Fall können weder die T noch die M wegen völlendeter Tötung bestraft werden. Für beide kommt nur Bestrafung wegen versuchten Totschlags in Betracht (vgl. BGH NJW 1966, 1823 m. abl. Anm. Hertel NJW 1966, 2418 und Kion JuS 1967,499; übereinstimmend Jescheck AT 212). c) Weitere Einzelheiten und Beispiele siehe § 16 Anm. 5.
V. Die Tatbestandsmäßigkeit 1. Eine Handlung ist dann tatbestandsmäßig, wenn sie alle objektiven und subjektiven Merkmale eines gesetzlichen Tatbestands erfüllt. Handlungen, die nicht tatbestandsmäßig sind, unterliegen nicht der strafrechtlichen Wertung (s.o. Abschn. 13, S. 11). 2. Der objektive Tatbestand hat die Aufgabe, das äußere Geschehen, das den vom Gesetzgeber als strafbedürftig angesehenen Unrechtsgehalt begründet, so zu beschreiben, daß die Verbotsmaterie mögüchst eindeutig festgelegt ist. 15
Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil
Zu den objektiven Tatbestandsmerkmalen gehören u. a.: a) bei den Tätigkeitsdelikten: die Handlung; b) bei den Erfolgsdelikten: die Handlung, der Erfolg sowie der Handlung und Erfolg verbindende Kausalzusammenhang (s.o. Abschn. B IV 1, S. 13); c) bei den unechten Unterlassungsdelikten: die Umstände, durch welche die Garantenstellung begründet wird, die Erfolgsabwendungsmöglichkeit und schließlich der tatbestandsmäßige Erfolg als Folge der pflichtwidrigen Untätigkeit (vgl. § 13 Anm. III); d) bei den Fahrlässigkeitsdelikten: eine unter Außerachtlassung der objektiv im Verkehr erforderlichen Sorgfalt vorgenommene Handlung oder Unterlassung sowie - bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten - der tatbestandsmäßige Erfolg (Einzelheiten s. u. Abschn. C 2). 3. Der subjektive Tatbestand hat die Aufgabe, den subjektiven Unrechtsgehalt der Tat, den sog. Handlungsunwert, festzulegen. a) Zum subjektiven Tatbestand gehört vor allem der Vorsatz als subjektives Grundelement aller Vorsatzdelikte. Wurde oben (Abschn. B III 1, S. 11) die Handlung als Willensbetätigung, d. h. als ein vom menschlichen Willen getragenes Verhalten definiert, so besteht die charakteristische Besonderheit der vorsätzlichen Tat darin, daß der Handlungswille sich auf die Verwirklichung des objektiven Tatbestands erstreckt. Hierbei ist nicht erforderlich, daß die Tatbestandsverwirklichung den Endzweck der Handlung darstellt. Vorsätzlich handelt auch, wer den tatbestandsmäßigen Erfolg nur als notwendiges Mittel zur Erreichung eines anderen, außertatbestandsmäßigen Ziels anstrebt oder in Kauf nimmt. Einzelheiten siehe unten b). Beachte: Die hier vorgenommene Einordnung des Vorsatzes in den subj. Tatbestand ist, wie bereits oben unter B III 1 erwähnt, äußerst umstritten. Die früher herrschende, vom kausalen Handlungsbegriff ausgehende Lehre behandelte den Vorsatz entgegen der hier vertretenen Ansicht nicht als Bestandteil des Tatbestands, sondern als Schuldelement (so heute noch Baumann AT 394 ff.). Hiergegen, spricht jedoch, daß einzelne Tatbestände über den Vorsatz hinausgehend zur Bestimmung des subjektiven Unrechtsgehalts der Tat bestimmte Motive, Absichten oder Tendenzen des Täters erfordern. Diese werden heute allgemein nicht als Schuldelemente, sondern als Bestandteile des subjektiven Tatbestands anerkannt (vgl. Stree in Schönke-Schröder Rn. 63 vor § 13 m. Nachw.). So werden z. B. die Zueignungsabsicht beim Diebstahl oder die Bereicherungsabsicht beim Betrug unbestritten als subj. Unrechtselemente und damit als subj. Tatbestandsmerkmale anerkannt. Eine rein obj. Unrechtsbestimmung ist schlechterdings unmöglich (vgl. Welzel 59 f.). So wird unstreitig das typische Unrecht eines Diebstahls erst dadurch begründet, daß der Täter die Wegnahme der Sache in Zueignungsabsicht vollzieht. Entsprechendes muß aber auch für den Vorsatz gelten. Dort, wo das Gesetz nur die vorsätzliche Tatbegehung unter Strafe stellt, ist der subjektive Unrechtsgehalt der Tat ( = Handlungsunwert) erst dann gegeben, wenn der Täter vorsätzlich handelt. Daher gehört zum subj. Tb. des Diebstahls nicht nur die Zueignungsabsicht, sondern auch der Vorsatz, d. h. das Bewußtsein, sich
16
Die strafbare Handlung eine fremde bewegliche Sache durch Bruch fremden Gewahrsams unter gleichzeitigem Verstoß gegen die Eigentumsordnung zuzueignen. Vorsatz und Zueignungsabsicht sind beim Diebstahl so eng miteinander verbunden, daß es geradezu unverständlich wäre, wollte man das eine Element dem Tatbestand, das andere der Schuld zuordnen. So wie hier in allen Punkten die Vertreter der finalen Handlungslehre, deren Verdienst es ist, den systematischen Standort des Vorsatzes im Unrechtstatbestand herausgearbeitet zu haben. Aber auch auf der Grundlage des überkommenen Handlungsbegriffs in seiner heute vertretenen Form als sozialer Handlungsbegriff (s. o. III 1) ist es ohne weiteres möglich, den Vorsatz dem subjektiven Tb. zuzuordnen (vgl. Eb. Schmidt JZ 1956, 190; Heinitz JR 1957, 79). Im neueren Schrifttum findet sich diese Kombination z. B. bei Jescheck AT 181; Lackner III 2 vor § 13; Maurach-Zipf AT I 223 ff.; Wessels AT 30 f. Zum Ganzen siehe auch Rudolphi, Maurach-Festschr. S. 51 ff. b) Innerhalb des Vorsatzes sind zwei Erscheinungsformen zu unterscheiden: der unbedingte Vorsatz (dolus directus) und der bedingte Vorsatz (dolus eventualis). Im einzelnen: aa) Der Täter handelt mit direktem (unbedingtem) Vorsatz, wenn er den tatbestandsmäßigen Erfolg anstrebt oder wenn er sich zur Tat entschließt, obwohl er die Verwirklichung des Tatbestands, insbesondere den tatbestandsmäßigen Erfolg, als notwendige Tatfolge voraussieht. Aus dieser Definition folgt, daß eine positive innere Einstellung des Täters zur Tat nicht erforderlich ist. Die Tatbestandsverwirklichung kann dem Täter wünschenswert erscheinen, muß es aber nicht. Der Täter kann auch dann vorsätzlich handeln, wenn er den Erfolgseintritt „an sich" bedauert (Zum Ganzen siehe auch BGH 18, 246, 248 und B G H 21,263). Beispiel: Bei einem Schiffsunglück stößt A, um sich selbst zu retten, seinen Freund B von der rettenden Planke, da diese nur einen tragen kann. Er weiß genau, daß B mit Sicherheit ertrinken wird. Damit sind alle Voraussetzungen des unbedingten Vorsatzes gegeben. A kann sich nachher nicht darauf berufen, daß er den Tod seines Freundes sehr bedauert habe. Beachte: Unabhängig von der Frage des Vorsatzes ist die weitere Frage, ob sich A auf schuldausschließenden Notstand berufen kann, vgl. § 35. Der direkte (unbedingte) Vorsatz wird ferner nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Tatbestandsverwirklichung nicht das Haupt- oder Endziel des Täters war. Beispiel: Wenn ein Taxifahrer (T) in Kenntnis aller Tatumstände einen flüchtigen Dieb samt Beute vom Tatort wegfährt, kann er sich gegen den Vorwurf der Begünstigung (§ 257) nicht damit verteidigen, er habe sich durch die Fahrt lediglich den üblichen Fahrlohn verdienen wollen. Der Vorsatz der Begünstigung verlangt lediglich die Kenntnis der Vortat (insoweit genügt sogar bedinger Vorsatz) sowie das Bewußtsein, daß das eigene Verhalten geeignet ist, die Lage des Vortäters zu verbessern (vgl. BGH 4,107). bb) Beim bedingten Vorsatz (dolus eventualis) stellt sich der Täter die Tatbestandsverwirklichung, insbesondere den tatbestandsmäßigen Erfolg, nicht als sicher, sondern nur als möglich vor; dennoch nimmt er ihn billigend in Kauf. Auch beim bedingten Vorsatz ist eine positive innere Einstellung des Täters 17
Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil
zum Erfolg nicht erforderlich. Der Täter kann auch einen solchen Erfolg „billigen", der ihm an sich unerwünscht ist (BGH 7, 363; 19, 101; NJW 1968, 666). Die Formulierung „billigend in Kauf nehmen" besagt lediglich, daß sich der Täter zur Erreichung seiner eigentlichen, außerhalb der Tatbestandszone liegenden Ziele mit dem Risiko des ihm an sich unerwünschten tatbestandsmäßigen Erfolgs für den Fall seines Eintritts abfindet, ohne daß er ihn andererseits als notwendig voraussieht oder gar anstrebt (BGH 21, 283, 285; Köln NJW 1973,861). An dieser Stelle zeigt sich deutlich der Unterschied des bedingten Vorsatzes gegenüber der bewußten Fahrlässigkeit: Hier wie dort sieht der Täter den Erfolg als möglich voraus. Während aber der mit bedingtem Vorsatz handelnde Täter das Risiko des Erfolgs auf jeden Fall auf sich nimmt und damit den Erfolg „billigt", vertraut der nur fahrlässig handelnde Täter darauf, daß der Erfolg nicht eintritt (vgl. Wessels AT 45 m. weit. Nachw.). Beispiele:
a) Wenn A, um eine Wette zu gewinnen, den Versuch unternimmt, mit einer Pistole auf größere Entfernung die Feder vom Hut des X herunterzuschießen, dabei aber versehentlich X tödlich verletzt, so ist wie folgt zu unterscheiden: War A sich als guter Schütze seiner Sache völlig sicher, d.h. rechnete er gar nicht mit der Möglichkeit einer Verletzung des X, so ist er nur wegen fahrlässiger Tötung zu bestrafen. Entschloß er sich dagegen zur Abgabe des Schusses, obwohl er sich nicht sicher fühlte, d. h. rechnete er mit dem tödlichen Ausgang der Wette, so ist er wegen vorsätzlicher Tötung zu bestrafen, da er, um die Wette zu gewinnen, auf jeden Fall schießen wollte (vgl. Welzel 69). ß) Ebenso ist zu differenzieren, wenn ein angetrunkener Kraftfahrer, um eine polizeiliche Verkehrskontrolle zu vermeiden, mit hoher Geschwindigkeit auf den ihm mit erhobener Kelle entgegentretenden Polizeibeamten zurast. Rechnete er damit, daß der Polizeibeamte rechtzeitig zur Seite springen werde, so ist er nur wegen fahrlässiger Tötung zu bestrafen, wenn er den Beamten wider Erwarten doch erfaßt und tödlich verletzt. Rechnete er dagegen damit, daß der Beamte stehen bleiben werde, so nahm er den Tod des Beamten in Kauf; er „billigte" ihn auch, da er ja unter allen Umständen eine Kontrolle vermeiden wollte. Hieraus folgt: Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Tötung (§§ 212, 211, vgl. BGH 15,291). Zum Ganzen siehe auch BGH NJW 1968, 666.
c) Zum subjektiven Tatbestand gehören ferner die in einzelnen Tatbeständen besonders hervorgehobenen Motive, Absichten und Tendenzen, z. B. aa) die Zueignungsabsicht beim Diebstahl (§ 242) und beim Raub (§ 249); bb) die Bereicherungsabsicht bei der Hehlerei (§ 259), beim Betrug (§ 263) und bei der Erpressung (§ 253); cc) das Streben nach Vorteil, und zwar sowohl dort, wo es strafbegründend ist, als auch bei den Tatbeständen, wo es straferhöhend (qualifizierend) ist, z. B. bei der schweren mittelbaren Falschbeurkundung (§ 272); dd) die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe in § 211 Abs. 2 (nicht dagegen die Mordmerkmale heimtückisch, grausam, mit gemeingefährlichen Mitteln); 18
Die strafbare Handlung ee) die Tendenz, sich oder einen anderen sexuell zu erregen (vgl. § § 1 7 4 Abs. 2 , 1 7 6 Abs. 5).
VI. Die Rechtswidrigkeit 1. Die Indiz Wirkung des Tatbestands Hat der Täter alle objektiven und subjektiven Merkmale eines gesetzlichen Tatbestands erfüllt, so hat er normwidrig gehandelt, d. h. gegen eine Verbotsoder Gebotsnorm verstoßen. Jeder derartige Normverstoß ist nur ein „Indiz" dafür, daß das Verhalten des Täters rechtswidrig war (vgl. Welzel 80). Man spricht daher von der Indizwirkung des Tatbestands, d. h. die Rechtswidrigkeit wird durch die Tatbestandsmäßigkeit indiziert. So läßt z. B. jede vorsätzliche oder fahrlässige Tötung eines Menschen, sofern keine besondere Ausnahmesituation vorliegt, die Vermutung aufkommen, daß Unrecht geschehen ist. Die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit begründet allerdings nur ein vorläufiges Urteil über die Rechtswidrigkeit. Das abschließende Urteil kann erst getroffen werden, wenn feststeht, daß die Handlung nicht durch besondere Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt ist. Nur dann steht die Handlung mit der Rechtsordnung als solcher in Widerspruch. Die Tatbestandsmäßigkeit kann also lediglich eine formelle Rechtswidrigkeit begründen; materiell rechtswidrig ist die Tat erst, wenn Rechtfertigungsgründe fehlen (sog. materielle Rechtswidrigkeit, vgl. Maurach-Zipf A T I 359). Nicht jeder Normverstoß ist rechtswidrig.
2. Die offenen Tatbestände a) Die Besonderheit der offenen Tatbestände, die zuweilen ihrem Wesen entsprechend auch als ergänzungsbedürftige Tatbestände bezeichnet werden, besteht darin, daß sie die Verbotsmaterie nicht erschöpfend beschreiben. Der als strafwürdig angesehene Unrechtsgehalt der Tat kann vielmehr erst durch Rückgriff auf die dem jeweiligen Tatbestand zugrunde liegende Norm ermittelt werden. Die Indizwirkung des Tatbestands greift also erst dann ein, wenn der Tatbestand durch Rückgriff auf die ihm zugrunde liegende Norm ergänzt worden ist (vgl. Maurach-Zipf A T 1355; Welzel 82; krit. Jescheck A T 186 m. weit. Nachw.). b) Zu den offenen Tatbeständen gehören insbesondere die Nötigung (§ 240) und die Erpressung (§ 253). Die Ergänzungsbedürftigkeit dieser Tatbestände ergibt sich aus folgender Erwägung: Es gibt kaum einen Lebensvorgang, der sich nicht als Handlung, Duldung oder Unterlassung darstellt und der sich nicht unter dem Druck der sozialen Umwelt vollzieht. Tatbestandsmäßig, d. h. 19
Die strafbare Handlung ee) die Tendenz, sich oder einen anderen sexuell zu erregen (vgl. § § 1 7 4 Abs. 2 , 1 7 6 Abs. 5).
VI. Die Rechtswidrigkeit 1. Die Indiz Wirkung des Tatbestands Hat der Täter alle objektiven und subjektiven Merkmale eines gesetzlichen Tatbestands erfüllt, so hat er normwidrig gehandelt, d. h. gegen eine Verbotsoder Gebotsnorm verstoßen. Jeder derartige Normverstoß ist nur ein „Indiz" dafür, daß das Verhalten des Täters rechtswidrig war (vgl. Welzel 80). Man spricht daher von der Indizwirkung des Tatbestands, d. h. die Rechtswidrigkeit wird durch die Tatbestandsmäßigkeit indiziert. So läßt z. B. jede vorsätzliche oder fahrlässige Tötung eines Menschen, sofern keine besondere Ausnahmesituation vorliegt, die Vermutung aufkommen, daß Unrecht geschehen ist. Die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit begründet allerdings nur ein vorläufiges Urteil über die Rechtswidrigkeit. Das abschließende Urteil kann erst getroffen werden, wenn feststeht, daß die Handlung nicht durch besondere Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt ist. Nur dann steht die Handlung mit der Rechtsordnung als solcher in Widerspruch. Die Tatbestandsmäßigkeit kann also lediglich eine formelle Rechtswidrigkeit begründen; materiell rechtswidrig ist die Tat erst, wenn Rechtfertigungsgründe fehlen (sog. materielle Rechtswidrigkeit, vgl. Maurach-Zipf A T I 359). Nicht jeder Normverstoß ist rechtswidrig.
2. Die offenen Tatbestände a) Die Besonderheit der offenen Tatbestände, die zuweilen ihrem Wesen entsprechend auch als ergänzungsbedürftige Tatbestände bezeichnet werden, besteht darin, daß sie die Verbotsmaterie nicht erschöpfend beschreiben. Der als strafwürdig angesehene Unrechtsgehalt der Tat kann vielmehr erst durch Rückgriff auf die dem jeweiligen Tatbestand zugrunde liegende Norm ermittelt werden. Die Indizwirkung des Tatbestands greift also erst dann ein, wenn der Tatbestand durch Rückgriff auf die ihm zugrunde liegende Norm ergänzt worden ist (vgl. Maurach-Zipf A T 1355; Welzel 82; krit. Jescheck A T 186 m. weit. Nachw.). b) Zu den offenen Tatbeständen gehören insbesondere die Nötigung (§ 240) und die Erpressung (§ 253). Die Ergänzungsbedürftigkeit dieser Tatbestände ergibt sich aus folgender Erwägung: Es gibt kaum einen Lebensvorgang, der sich nicht als Handlung, Duldung oder Unterlassung darstellt und der sich nicht unter dem Druck der sozialen Umwelt vollzieht. Tatbestandsmäßig, d. h. 19
Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil
rechtserheblich in dem Sinn, daß das Verhalten geeignet ist, strafwürdiges Unrecht zu begründen, ist eine Handlung unter den Voraussetzungen der §§ 240, 253 daher erst dann, wenn zusätzlich Tatumstände vorliegen, die die Gewaltanwendung oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich erscheinen lassen (vgl. §§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2). Diese Tatumstände gehören daher zum objektiven Tatbestand und müssen wie alle objektiven Tatbestandsmerkmale vom Vorsatz des Täters umfaßt werden. Beispiel: Wenn ein Arbeitgeber einen Arbeiter ermahnt und ihn darauf aufmerksam macht, daß er mit seiner Entlassung rechnen müsse, falls er seine Arbeit nicht ordnungsgemäß verrichte, so arbeitet der auf diese Weise Angesprochene zwar unter dem Druck dieser Drohung, die sich für ihn als ein empfindliches Übel darstellen mag; trotzdem ist der Tatbestand der Nötigung nicht erfüllt, da keine Tatumstände vorliegen, die die Tat als rechtswidrig erscheinen lassen. Das Verhalten des Arbeitgebers ist hier sozial adäquat.
c) Zu den offenen oder ergänzungsbedürftigen Tatbeständen gehören ferner die unechten Unterlassungsdelikte, bei denen noch nicht jede Nichtabwendung des Erfolgs die Tatbestandsmäßigkeit begründet. Tatbestandsmäßig ist ein Unterlassen erst dann, wenn der Täter eine Garantenstellung hatte, die ihn zur Erfolgsabwendung verpflichtete. Einzelheiten § 13 Anm. III. Ähnliches gilt für die Fahrlässigkeitsdelikte. Hier ist die Erfolgsverursachung erst dann tatbestandsmäßig, wenn der Täter die objektiv im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht gelassen hat (s. u. Abschn. C 2 und Welzel 46,131). 3. Das System der Rechtfertigungsgriinde Eine tatbestandsmäßige Handlung ist dann nicht rechtswidrig, wenn der Täter sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann. Der Täter verstößt dann zwar gegen eine bestimmte Norm, sein Verhalten steht aber nicht in Widerspruch zur Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit. Die Handlung ist daher nur formell, nicht materiell rechtswidrig (vgl. Maurach-Zipf AT I 359). Alle Rechtfertigungsgründe haben gemeinsam, daß sie eine Ausnahmesituation berücksichtigen, bei der die Normwidrigkeit unter Würdigung aller Umstände von der Rechtsordnung nicht mißbilligt wird. Es ist allerdings nicht möglich, alle Rechtfertigungsgriinde auf einen einheitlichen Nenner zu bringen (siehe hierzu ausführlich Maurach-Zipf AT I 362 ff.). Das Prinzip der Güterabwägung, das bei einigen Rechtfertigungsgründen, z. B. bei den bürgerlich-rechtlichen Notstandsrechten, beim rechtfertigenden Notstand in § 34 und bei den Indikationen des § 218 a, zum Ausschluß der Rechtswidrigkeit führt, ist zwar das wichtigste, aber nicht das einzige Prinzip. So ist z. B. bei der Notwehr eine Güterabwägung grundsätzlich nicht erforderlich (vgl. § 32 Anm. II 6 c); entscheidend ist vielmehr der Gedanke, daß das Recht dem Unrecht nicht weichen muß. Auch bei der Einwilligung beruht der Ausschluß der Rechtswidrigkeit nicht auf der Güterabwägung, sondern auf dem Rechtsschutzverzicht (vgl. Maurach-Zipf AT 1235). 20
Die strafbare Handlung
4. Übersicht über die wichtigsten Rechtfertigungsgründe a) Im Strafgesetzbuch selbst finden sich nur wenige Rechtfertigungsgründe. Es sind dies insbesondere die Notwehr (§ 32), der rechtfertigende Notstand (§ 34), die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193) als besonderer Rechtfertigungsgrund bei den Tatbeständen der Beleidigung, die Indikationen des § 218 a, die Einwilligung des Verletzten bei der Körperverletzung (§ 226 a) und die Genehmigung der zuständigen Behörde bei der Vorteilsannahme (§ 331 Abs. 3). b) Eine Reihe weiterer Rechtfertigungsgründe findet sich in der Strafprozeßordnung. Hierher gehören vor allem die Vorschriften über die körperliche Untersuchung (§§ 81 a ff.), die Beschlagnahme (§§ 94 ff.), die Durchsuchung (§§ 102 ff.), die Verhaftung (§§ 112 ff.) und die vorläufige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder einer sozialtherapeutischen Anstalt (§ 126 a) sowie das Recht zur vorläufigen Festnahme (§ 127). c) Auch das BGB weist eine Reihe wichtiger Rechtfertigungsgründe auf. So ist insbesondere hinzuweisen auf § 227 (Notwehr), die Selbsthilferechte gemäß § 229 (allgemeine Selbsthilfe), § 561 (Selbsthilferecht des Vermieters), §§ 859, 860 (Selbsthilferecht des Besitzers und des Besitzdieners), auf die Notstandsrechte (§§ 228, 904) sowie auf das Züchtigungsrecht der Eltern (§§ 1626,1631) und des Vormunds (§ 1800). d) Für den Bereich der ZPO ist auf die besonderen Rechte des Gerichtsvollziehers hinzuweisen. So ist der Gerichtsvollzieher unter bestimmten Voraussetzungen berechtigt, die Wohnung des Schuldners zu durchsuchen (§ 758 ZPO) und den Schuldner u. U. sogar zu verhaften (§ 909 ZPO). Siehe ferner § 933 i. V. mit § 918 ZPO. Von besonderer praktischer Bedeutung ist auch das polizeiliche Dienstrecht, aus dem sich u. a. das Recht zum Schußwaffengebrauch ergibt (vgl. BGH 26, 99). e) Weitere Rechtfertigungsgründe wurden gewohnheitsrechtlich entwickelt. Hierher gehören insbesondere die mutmaßliche Einwilligung (5 vor § 32) und das Züchtigungsrecht der Lehrer (III 4 zu § 223). Wichtiger Hinweis: Die im Strafgesetzbuch enthaltenen Rechtfertigungsgründe werden bei der Kommentierung der jeweiligen Gesetzesstelle erörtert (insbesondere im Rahmen der §§ 32, 34, 193 und 226 a); die übrigen Rechtfertigungsgründe werden in der Vorbemerkung zu § 32 besprochen.
5. Gemeinsame Regeln für alle Rechtfertigungsgründe a) Eine gerechtfertigte Handlung kann, sofern ihr Widerstand entgegengesetzt wird, notfalls mit angemessenen Gewaltmitteln durchgesetzt werden. Notwehr 21
Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil gegen eine durch einen Rechtfertigungsgrund gerechtfertigte Handlung ist nicht zulässig. b) Rechtsmißbrauch rechtfertigt nicht. Wer z. B. absichtlich eine Lage herbeiführt, die an sich die Berufung auf einen Rechtfertigungsgrund gestatten würde, kann sich nicht auf diesen Rechtfertigungsgrund berufen (vgl. MaurachZipf A T I 367). Dies gilt insbesondere für die absichtliche Provokation einer Notwehrlage (vgl. Anm. II 6 b zu § 32). c) Jeder Rechtfertigungsgrund enthält nicht nur objektive, sondern auch subjektive Elemente. Gerechtfertigt ist nur, wer recht handeln will. So ist bei Notwehr ein Verteidigungswille erforderlich, beim rechtfertigenden Notstand eine bewußte Güterabwägung, bei § 193 die Absicht, berechtigte Interessen wahrzunehmen, beim Züchtigungsrecht das pädagogische Motiv und bei der Einwilligung die Kenntnis von ihrem Vorliegen. d) Der Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds ist zwar kein vorsatzausschließender Tb.-Irrtum i. S. von § 16, steht jedoch in seinen Rechtsfolgen einem solchen Irrtum gleich (sehr bestr., Einzelheiten siehe § 16 Anm. 3). Der Täter kann daher nicht wegen vorsätzlicher, sondern allenfalls wegen fahrlässiger Tatbegehung bestraft werden, sofern sein Irrtum auf Fahrlässigkeit beruhte und die fahrlässige Tatbegehung unter Strafe gestellt ist (vgl. B G H 3, 105; 3, 194). Die Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Tatbegehung bleibt dagegen bestehen, wenn der Täter sich in Kenntnis aller unrechtsbegründenden Tatumstände nur über die Rechtslage irrt, z. B. wenn er über Umfang und Grenzen eines Rechtfertigungsgrunds irrt oder wenn er glaubt, er könne einen Rechtfertigungsgrund für sich in Anspruch nehmen, den die Rechtsordnung nicht anerkennt (vgl. BGH 3, 7; 3, 105). In diesen zuletzt genannten Fällen liegt kein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum, sondern lediglich ein Verbotsirrtum vor. Einzelheiten und Beispiele siehe § 17 Anm. 3 d. e) Fehlen die subjektiven Rechtfertigungselemente (s. o. Abschn. c), d. h. kennt der Täter nicht die objektiv gegebene Sachlage, durch die er an sich gerechtfertigt wäre, so liegt mangels Erfolgsunwert kein vollendetes, sondern nur ein versuchtes Delikt vor. Die Tat zeichnet sich nicht durch ihren Erfolgsunwert, sondern nur durch ihren Handlungsunwert aus (vgl. Bockelmann A T 194; Jescheck A T 246; Lackner § 22 Anm. 2 d; Maurach-Zipf A T I 371 f. unter Aufgabe der noch in der Voraufl. vertretenen Gegenansicht; Rudolphi SK § 22 Rn. 29 sowie in Maurach-Festschr. S. 51, 58; Wessels A T 54; a. A. Blei A T 123; Dreher § 32 Rn. 14; Welzel 83 f. und Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 263, die vollendetes Delikt annehmen). Beispiel: A schießt auf B, ohne zu erkennen, daß B seinerseits gerade im Begriff ist, ihn zu töten. Hätte A die Sachlage erkannt, so wäre er durch Notwehr gerechtfertigt. So aber kommt mangels Verteidigungswillen eine Rechtfertigung nicht in Betracht. Andererseits 22
Die strafbare Handlung wäre es unbillig, wollte man wegen vollendeter Tatbegehung bestrafen. Es darf nämlich nicht übersehen werden, daß die Tat objektiv nicht mit der Rechtsordnung in Widerspruch steht. Es liegt also nur Versuch vor.
f) Kennt der Täter alle rechtfertigenden Tatumstände, so kann ihn die irrige Annahme, er habe sich gleichwohl strafbar gemacht, nicht belasten. Es liegt in diesem Fall weder ein versuchtes noch ein vollendetes Delikt, sondern ein strafloses Wahndelikt vor. Beispiel: Ein aus dem Ausland kommender Arzt hält in Unkenntnis der tatsächlichen Rechtslage auch den medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch für strafbar.
g) Teilnahme an einer gerechtfertigten Handlung ist nicht strafbar, vgl. §§ 26, 27. Über Fälle mittelbarer Täterschaft durch Mißbrauch eines tatbestandsmäßig, aber nicht rechtswidrig handelnden Tatmittlers siehe § 25 Anm. III 3 b.
VII. Die Schuld 1. Das Wesen der Schuld Eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung kann dem Täter nur dann als strafbare Handlung zugerechnet werden, wenn er schuldhaft, d. h. vorwerfbar gehandelt hat. Nach dem heute herrschenden normativen Schuldbegriff sind hierzu zwei Voraussetzungen erforderlich: a) Der Täter muß in der Lage gewesen sein, das Unrecht der Tat zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln; b) Die rechtliche Wertung muß zu dem Ergebnis führen, daß dem Täter bei Würdigung aller Umstände rechtmäßiges Verhalten hätte zugemutet werden können. 2. Die einzelnen Schuldelemente a) Die Schuldfähigkeit. Sie entfällt, wenn der Täter zur Tatzeit wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung, wegen Schwachsinns oder wegen einer schweren anderen seelischen „Abartigkeit" nicht in der Lage war, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln (vgl. § 20). Bei Kindern beachte § 19, bei Jugendlichen § 3 JGG. Die verminderte Schuldfähigkeit ist demgegenüber nur ein gesetzlich geregelter Strafmilderungsgrund (vgl. § 21). b) Die Zumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens. Sie entfällt, wenn der Täter sich auf einen gesetzlichen Schuldausschließungsgrund (§ 33 Notwehrexzeß, 23
Die strafbare Handlung wäre es unbillig, wollte man wegen vollendeter Tatbegehung bestrafen. Es darf nämlich nicht übersehen werden, daß die Tat objektiv nicht mit der Rechtsordnung in Widerspruch steht. Es liegt also nur Versuch vor.
f) Kennt der Täter alle rechtfertigenden Tatumstände, so kann ihn die irrige Annahme, er habe sich gleichwohl strafbar gemacht, nicht belasten. Es liegt in diesem Fall weder ein versuchtes noch ein vollendetes Delikt, sondern ein strafloses Wahndelikt vor. Beispiel: Ein aus dem Ausland kommender Arzt hält in Unkenntnis der tatsächlichen Rechtslage auch den medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch für strafbar.
g) Teilnahme an einer gerechtfertigten Handlung ist nicht strafbar, vgl. §§ 26, 27. Über Fälle mittelbarer Täterschaft durch Mißbrauch eines tatbestandsmäßig, aber nicht rechtswidrig handelnden Tatmittlers siehe § 25 Anm. III 3 b.
VII. Die Schuld 1. Das Wesen der Schuld Eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung kann dem Täter nur dann als strafbare Handlung zugerechnet werden, wenn er schuldhaft, d. h. vorwerfbar gehandelt hat. Nach dem heute herrschenden normativen Schuldbegriff sind hierzu zwei Voraussetzungen erforderlich: a) Der Täter muß in der Lage gewesen sein, das Unrecht der Tat zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln; b) Die rechtliche Wertung muß zu dem Ergebnis führen, daß dem Täter bei Würdigung aller Umstände rechtmäßiges Verhalten hätte zugemutet werden können. 2. Die einzelnen Schuldelemente a) Die Schuldfähigkeit. Sie entfällt, wenn der Täter zur Tatzeit wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung, wegen Schwachsinns oder wegen einer schweren anderen seelischen „Abartigkeit" nicht in der Lage war, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln (vgl. § 20). Bei Kindern beachte § 19, bei Jugendlichen § 3 JGG. Die verminderte Schuldfähigkeit ist demgegenüber nur ein gesetzlich geregelter Strafmilderungsgrund (vgl. § 21). b) Die Zumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens. Sie entfällt, wenn der Täter sich auf einen gesetzlichen Schuldausschließungsgrund (§ 33 Notwehrexzeß, 23
Vorbemerkungen zum Allgemeinen Teil § 35 Notstand) o d e r auf einen übergesetzlichen Schuldausschließungsgrund (Wahl des kleineren Übels, entschuldigende Pflichtenkollision, vgl. Vorbem. III vor § 32) berufen kann. c) Das Unrechtsbewußtsein. Die A n e r k e n n u n g des Unrechtsbewußtseins als Schuldelement bei allen Vorsatztaten geht in der höchstrichterlichen Rspr. auf die Grundsatzentscheidung des B G H vom 18. 3. 1952 zurück (vgl. B G H GrSen 2, 194). Sie hat inzwischen auch im Gesetz selbst Eingang gefunden (vgl. § 17). Die Begriffe Vorsatz und Unrechtsbewußtsein sind dabei streng zu unterscheiden. Dies gilt auch dann, wenn man den Vorsatz entgegen der hier vertretenen Ansicht (s.o. B V 3 a, S. 16 f.) nicht als subjektives Tatbestandsmerkmal, sondern als Schuldmerkmal auffaßt. Ü b e r die Abgrenzung zum Tatbestandsirrtum des § 16 siehe ausführlich § 16 A n m . 3. Fehlt das Unrechtsbewußtsein, so liegt ein Verbotsirrtum vor. Ü b e r seine Erscheinungsformen und deren rechtliche Behandlung siehe ausführlich § 17 A n m . 3 , 6 und 7. d) Z u r Schuld der Fahrlässigkeitsdelikte
s. u. Abschn. C 4, S. 30.
3. Gemeinsame Regeln für alle Schuldausschließungsgründe a) Gegen Handlungen, bei denen der rechtswidrig handelnde T ä t e r sich nur auf einen Schuldausschließungsgrund berufen kann, ist Notwehr zulässig. b) Die Schuldausschließungsgründe i. e. S. (§§ 33, 35, Wahl des kleineren Übels) enthalten - ähnlich wie die Rechtfertigungsgründe - nicht nur o b j e k tive, sondern auch subjektive Elemente. Entschuldigt ist nur, wer seine Zwangslage kennt und die rechtswidrige Handlung vornimmt, um der drohenden G e f a h r zu entgehen bzw. größeres Unheil zu verhindern. Fehlen diese subjektiven Elemente, so bleibt die Schuld in vollem Umfang bestehen. D e r Täter ist wegen vollendeter Tatbegehung zu bestrafen, nicht etwa nur wegen Versuchs. Diese Abweichung gegenüber der Rechtslage beim Fehlen von subjektiven Rechtfertigungselementen (s.o. B V I 5 e, S. 22) ergibt sich daraus, daß dort, wo der T ä t e r sich nur auf eine schuldausschließende Zwangslage berufen kann, objektiv der volle Unrechtsgehalt der Tat gegeben ist. Beispiel: Wenn A bei einem Schiffsunglück den mit ihm verfeindeten B von der rettenden Planke stößt, dabei aber nicht erkennt, daß dies die einzige Möglichkeit ist, sich selbst zu retten, da die Planke nur einen trägt und andere Planken nicht zu erreichen sind, so ist A, wenn B - wie gewollt - ums Leben kommt, wegen vollendeter vorsätzlicher Tötung gemäß § 212 bzw. § 211 zu bestrafen. c) D e r Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Schuldausschließungsgrunds berührt weder den Vorsatz noch das Unrechtsbe\yußtsein. E r ist jedoch in seinen Rechtsfolgen dem Verbotsirrtum gleichzustellen, d. h. wie ein Verbotsirrtum zu behandeln. Siehe hierzu ausführlich § 16 A n m . 4. 24
Die strafbare Handlung d) Der Irrtum über die Schuldvoraussetzungen, insbesondere über die eigene Schuldfähigkeit, ist immer unbeachtlich. e) Wer sich schuldhaft in den Zustand der Schuldunfähigkeit (z. B. in einen Rauschzustand) oder in eine Notstandslage versetzt hat, ist grundsätzlich nicht entschuldigt. Für die Beurteilung der Schuldfrage ist in diesen Fällen der Zeitpunkt maßgebend, zu dem sich der Täter noch innerlich frei, d. h. unbeeinflußt von schuldausschließenden Umständen, in den Zustand der Schuldunfähigkeit bzw. in die Zwangslage versetzt hat (sog. actio libera in causa). Einzelheiten siehe § 20 Anm. 6, § 35 Anm. 4. f) Teilnahme an einer schuldlosen, aber rechtswidrigen Tat ist grundsätzlich strafbar. Der Teilnehmer an einer rechtswidrigen Tat kann sich nur dann auf Schuldausschließungsgründe berufen, wenn diese in seiner eigenen Person oder in der Person eines seiner Angehörigen begründet liegen. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem in § 29 festgelegten Grundsatz der limitierten Akzessorietät, wonach jeder an einer rechtswidrigen Tat Beteiligte ohne Rücksicht auf die Schuld der anderen Beteiligten strafbar ist. Zur Möglichkeit der Annahme von mittelbarer Täterschaft durch Mißbrauch eines schuldlos handelnden Tatmittlers siehe § 25 Anm. III 3 c.
25
Allgemeiner Teil Erster Abschnitt: Das Strafgesetz Erster Titel: Geltungsbereich §1
Keine Strafe ohne Gesetz
Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. I. Die früher in § 2 Abs. 1 enthaltene, durch das 2. StrRG plakativ an den Anfang des Strafgesetzbuches gestellte Vorschrift verwirklicht den in Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich garantierten Grundsatz null um crimen, nulla poena sine lege. Sie bietet dem Bürger eine dreifache rechtsstaatliche Sicherheit: 1. Eine Verurteilung ist nur zulässig, wenn die Strafbarkeit „gesetzlich bestimmt", d. h. durch geschriebenes Recht festgelegt ist. Eine Verurteilung aufgrund gewohnheitsrechtlich entwickelter Rechtsnormen ist unzulässig (was jedoch nicht ausschließt, daß bei der Auslegung des geschriebenen Rechts im Einzelfall auf Gewohnheitsrecht zurückgegriffen werden kann). 2. Die Strafbarkeit muß bereits im Zeitpunkt der Tatbegehung gesetzlich bestimmt gewesen sein. Dieses sog. Rückwirkungsverbot bezieht sich allerdings nur auf das „Gesetz" und die „Strafbarkeit", nicht auch auf Auslegungsregeln (vgl. Bockelmann AT 22; Jescheck AT 110; Tröndle LK § 2 Rn. 53). Es bestanden daher keine durchgreifenden Bedenken, den vom BGH durch Beschluß vom 9. 12. 1966 (BGH 21, 157) neu festgelegten Beweisgrenzwert von l,3°/ 0 o auch auf solche Trunkenheitsfahrten anzuwenden, die vor dem 9. 12. 1966 begangen wurden (vgl. Krhe NJW 1967,2167; KG NJW 1967, 1766; Dreher § 316 Rn. 6; Händel NJW 1967, 537; Riese NJW 1969, 549). Entsprechendes gilt für die sog. Schlußtrunkentscheidung BGH 25, 246, durch die die Auslegung des § 316 dem § 24 a StVG (abgedruckt nach § 316) angeglichen wurde. Zum Ganzen siehe auch Schreiber, Rückwirkungsverbot bei einer Änderung der Rechtsprechung im Strafrecht, JZ 1973, 713 sowie Maurach-Zipf AT 1165 m. weit. Nachw. 3. Die dritte durch § 1 garantierte rechtsstaatliche Sicherheit ist das Analogieverbot. Es ist unzulässig, eine Strafvorschrift auch auf solche Verhaltensweisen auszudehnen, die dem unter Strafe gestellten Verhalten nicht genau entsprechen, sondern nur vergleichbar sind. So kann Gegenstand einer Hehlerei nur eine Sache sein, die unmittelbar durch eine rechtswidrige Tat erlangt wurde. Alle Versuche, den Tb. des § 259 auch auf nichtdeliktisch erlangte Surrogate einer durch eine rechtswidrige Handlung erlangten Sache auszudehnen, stellen demgegenüber eine unzulässige Analogie dar (vgl. § 259 Anm. III 4). Von der unzulässigen Analogie streng (wenngleich nicht immer leicht) zu unterscheiden ist eine der ratio legis entsprechende Auslegung. So stellt es z. B. keine unzulässige Analogie, sondern eine am Sinn des Gesetzes ausgerichtete Auslegung dar, die privilegie39
§ 1
Erster Abschnitt: Das Strafgesetz
rende Vorschrift des § 217 nur auf solche Fälle der Kindestötung anzuwenden, bei denen die tatausführende Mutter ihr nichteheliches Kind auch selbst für nichtehelich hält (vgl. § 217 Arnn. 5 b); umgekehrt findet § 217 auch dann Anwendung, wenn das Kind zwar ehelich ist, die Mutter es aber für nichtehelich hält (vgl. § 217 Anm. 5 a, jetzt in § 16 Abs. 2 ausdrücklich festgelegt. Von dem Analogieverbot ausgenommen sind die Fälle, bei denen eine Vorschrift zugunsten des Täters analog angewendet wird (Analogie „in bonam partem").
II. Die sog. Wahlfeststellung 1. Problemstellung: Eine Verurteilung des Angeklagten setzt grundsätzlich voraus, daß die Tatsachen, aus denen sich die gesetzlichen Merkmale einer strafbaren Handlung ergeben, nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung eindeutig festgestellt worden sind (vgl. § 267 Abs. 1 StPO). Läßt sich eine eindeutige Tatfeststellung auch nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten (siehe hierzu § 244 Abs. 2 StPO) nicht treffen, steht aber andererseits fest, daß der Angeklagte sich auf jeden Fall strafbar gemacht hat, welche der möglichen Sachverhaltsalternativen man auch unterstellen mag, so ergibt sich das Problem der Zulässigkeit einer Verurteilung auf der Grundlage einer wahldeutigen Tatfeststellung (sog. Wahlfeststellung). 2. Der durch das KontrollratsG Nr. 11 aufgehobene frühere § 2 b (eingeführt durch Ges. v. 28. 6. 1935, RGBl. I 839) bot die Möglichkeit, auch dort zu einer Verurteilung zu gelangen, wo sich der Geschehnisablauf zwar nicht eindeutig ermitteln läßt, andererseits aber feststeht, daß der Angeklagte sich auf jeden Fall strafbar gemacht hat. Waren diese Voraussetzungen gegeben, so hat die Bestrafung aus dem jeweils mildesten der in Frage kommenden Gesetze zu erfolgen. Ob diese rechtsethisch und psychologisch vergleichbar sind, war unerheblich. 3. Nach Aufhebung des § 2 b hat die Rechtsprechung eine Wahlfeststellung nur noch dort zugelassen, wo die in Frage kommenden Tatbestände rechtsethisch und psychologisch vergleichbar sind, d. h. wenn es sich um Tatbestände handelt, die miteinander verwandt sind, dasselbe oder ein ähnliches Rechtsgut schützen und keine unterschiedliche Bewertung in der sittlichen Mißbilligung fordern (st. Rspr., zuletzt BGH 22, 12 ff., 154 ff.; 23, 360; 25, 182 mit krit. Anm. Hruschka NJW 1973, 1804; Tröndle JR 1974, 133). Diese Einschränkung gegenüber dem früheren § 2 b entspricht der Rechtslage aus der Zeit vor dessen Inkrafttreten. Sie ist geboten, um den Angeklagten vor einem Schuldspruch zu bewahren, der seiner Tat und seiner Persönlichkeit nicht gerecht wird. Schrifttum: Blei, Wahlfeststellung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit, NJW 1954, 500; Dreher, Im Irrgarten der Wahlfeststellung, MDR 1970, 369; Fuchs, Die rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit bei der Wahlfeststellung, DRiZ 1967, 16; ders., Zur Wahlfeststellung, DRiZ 1968, 16; Günther, Wahlfeststellung zwischen Betrug und Unterschlagung, JZ 1976, 665; Heinitz, Die Grenzen der zulässigen Wahlfeststellung, JZ 1952, 100; ders., Verhältnis der Wahlfeststellung zum Satz „in dubio pro reo", JR 1957, 201; Hruschka, Zum Problem der Wahlfeststellung, MDR 1967, 265; ders., Verurteilungen aufgrund mehrdeutiger Beweisergebnisse, JZ 1970, 637; Jakobs, Probleme der Wahlfeststellung, GA 1971, 257; Küper, Wahlfeststellung und Anwendung des § 158
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Erster Titel: Geltungsbereich
§ 1
StGB bei einander widersprechenden Zeugenaussagen, NJW 1976, 1828; Lohr, „In dubio pro reo" und Wahlfeststellung - BGHSt 23, 203, JuS 1976, 715; Montenbruck, Wahlfeststellung und Werttypus in Strafrecht und Strafprozeßrecht, 1976; Sax, Wahlfeststellung bei Wahldeutigkeit mehrerer Taten, JZ 1965, 745; Tröndle, Zur Begründung der Wahlfeststellung, JR 1974,133; Willms, Zum Begriff der Wahlfeststellung, JZ 1962,629; Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage, Strafrech tl. Abhandlungen, Bd. 10,1972. 4. Folgt man den von der Rspr. entwickelten Grundsätzen, so ist eine Wahlfeststellung zulässig a) bei der sog. Tatsachen- oder Sachverhaltsalternativität, d. h. wenn eine von mehreren Handlungen einen bestimmten Tb. verwirklicht haben muß, ohne daß sich klären läßt, welche Handlung dies gewesen ist, z. B. wenn zwei sich widersprechende Aussagen eines Zeugen vorhegen (vgl. BGH 2, 351; BayObLG NJW 1976, 861 m. Bespr. Küper NJW 1976, 1828) oder wenn sich nicht klären läßt, welcher von mehreren Schüssen desselben Täters tödlich war (BGH NJW 1957,1643); b) innerhalb der einzelnen Begehungsformen desselben Tatbestands, z. B. innerhalb der einzelnen Mordmerkmale (BGH 22, 12) oder wenn sich nicht mehr klären läßt, ob ein Amtsträger einen Vorteil gefordert oder sich hat versprechen lassen; c) zwischen gleichwertigen Formen der Tatbeteiligung, z. B. zwischen den einzelnen Erscheinungsformen der Täterschaft (vgl. BGH 1, 67; 11,18) sowie zwischen Täterschaft und Anstiftung (BGH 1, 127; Ddf NJW 1976, 579), nicht jedoch zwischen Täterschaft und Beihilfe (siehe hierzu unten 6 a); d) zwischen Diebstahl und Hehlerei (RG 68, 257; BGH 1, 302), zwischen Diebstahl und Begünstigung (BGH 23, 360 m. Anm. Hruschka NJW 1971, 1392 und Schröder JZ 1971, 141) sowie zwischen Diebstahl und Unterschlagung (vgl. BGH 25, 182 m. Anm. Hruschka NJW 1973, 1804), falls man die Unterschlagung nicht als den Grundtatbestand aller Zueignungsdelikte ansieht (s. u. Anm. 6 a); e) zwischen Raub und räuberischer Erpressung (BGH 5, 280) oder räuberischem Diebstahl; f) zwischen Betrug und Untreue (BGH GA 1970, 24; Hbg JR 1956, 28) sowie zwischen Betrug und Unterschlagung (Hamm NJW 1974, 1957; Saarbrücken NJW 1976, 65), grundsätzlich nicht jedoch zwischen Betrug und Diebstahl (Krhe Justiz 1973, 57), sofern nicht ausnahmsweise als Alternativdelikte Betrug und Trickdiebstahl oder vergleichbare Tatgestaltungen in Frage stehen, die in ihrer Ausführung große Ähnlichkeiten aufweisen (Krhe NJW 1976, 902). g) zwischen falscher Verdächtigung und falscher uneidlicher Aussage vor Gericht (Braunschweig NJW 1959, 1144); h) zwischen Meineid und falscher Versicherung an Eides statt (Hamm GA 1974, 84 m. krit. Anm. Blei JA 1974, StR 85). 5. Eine Wahlfeststellung ist dagegen unzulässig a) zwischen Raub und Hehlerei (BGH 21, 152) sowie zwischen Raub und Unterschlagung (BGH 25, 182 m. Anm. Hruschka NJW 1973, 1804). Im ersten Fall kommt aller41
§1
Erster Abschnitt: Das Strafgesetz
dings auf der Grundlage wahldeutiger Tatfeststellung Verurteilung wegen Diebstahls oder Hehlerei, im zweiten Fall Verurteilung wegen Diebstahls oder Unterschlagung in Betracht, da jeder Raub notwendig auch die Elemente des Diebstahls enthält und zwischen Diebstahl einerseits und Hehlerei bzw. Unterschlagung andererseits Wahlfeststellung zulässig ist (vgl. BGH 2 5 , 1 8 2 m. Anm. Hruschka NJW 1973,1804 sowie oben 4 d); b) zwischen Betrug und Abtreibung (BGH bei Daliinger M D R 1958, 739), grundsätzlich auch zwischen Betrug und Diebstahl (Krhe Justiz 1973, 57; siehe jedoch andererseits Krhe NJW 1976,902 sowie oben Anm. 4 f); c) zwischen Diebstahl und Erpressung (BGH DRiZ 1972, 30), wobei dann allerdings § 246 als „Auffangtatbestand" in Betracht kommt (Blei J A 1972, StR 49); d) zwischen Inzest (§ 173) und falscher Verdächtigung (§ 164); e) zwischen Vollrausch (§ 330 a) und der Rauschtat, wo sich die Ablehnung der Wahlfeststellung allerdings nicht praktisch auswirkt, da in den Fällen, bei denen unklar bleibt, ob der Angeklagte bei Tatbegehung infolge vorangegangenen Alkoholgenusses nur vermindert schuldfähig war oder ob seine Schuldfähigkeit ganz ausgeschlossen war, unmittelbar auf § 330 a zurückgegriffen werden kann (vgl. BGH [GrSen] 9, 390 sowie Anm. 1 zu § 330 a). 6. Weder zulässig noch erforderlich ist die Wahlfeststellung in den Fällen, in denen die alternativ in Frage stehenden Tatbestände in einem Stufenverhältnis stehen oder in denen ein Tatbestand als sog. Auffangtatbestand fungiert. In diesen Fällen erfolgt die Verurteilung unter Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo unmittelbar auf der Grundlage des jeweils mildesten Gesetzes bzw. des Auffangtatbestands, ohne daß es eines Rückgriffs auf die Rechtsfigur der Wahlfeststellung bedarf. a) Ein Stufenverhältnis dieser Art ist z. B. anzunehmen für Vollendung und Versuch, zwischen Täterschaft und Beihilfe (vgl. B G H 23, 203 m. Anm. Fuchs NJW 1970, 1053 und Schröder J Z 1970, 422; BayObLG NJW 1967, 361), zwischen Vergewaltigung und Verführung (BGH 22, 154 m. krit. Anm. Deubner NJW 1969, 145; siehe auch § 182 Anm. 5) sowie zwischen Raub und Diebstahl, aber auch zwischen Diebstahl und Unterschlagung. b) Ein typischer Autfangtatbestand in dem oben beschriebenen Sinn ist der Tb. des Vollrauschs (s. o. Anm. 5 e sowie § 330 a Anm. 1). Bestritten ist, ob auch die Fahrlässigkeitstatbestände gegenüber den Vorsatztaten als Auffangtatbestände angesehen werden können (so B G H 17, 210) oder ob es sich hier um eine Art „Stufenverhältnis" handelt (so z. B. Dreher M D R 1970, 369). Eine Wahlfeststellung ist auf jeden Fall unzulässig, da vorsätzliche und fahrlässige Tatbegehung rechtsethisch und psychologisch weder gleichwertig noch vergleichbar sind (vgl. B G H 17, 210 unter ausdrücklicher Aufgabe von BGH 4, 340). Trotzdem muß die Möglichkeit bestehen, wenigstens wegen fahrlässiger Tatbegehung zu bestrafen, wenn sich Vorsatz nicht nachweisen läßt, der Täter aber zumindest fahrlässig gehandelt hat. Es liegt hier ein Stufenverhältnis im weiteren Sinn vor. 7. Bei zulässiger Wahlfeststellung ist der Bestrafung das mildeste Gesetz zugrundezulegen. Welches Gesetz diese Voraussetzungen erfüllt, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls (konkrete Betrachtungsweise). 8. Die Formulierung des Urteilstenors ist in das Ermessen des Gerichts gestellt (vgl. BGH 1, 302, 304). Es empfiehlt sich jedoch, grundsätzlich alle Tatbestände, zwischen
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Erster Titel: Geltungsbereich
§2
denen die Wahlfeststellung getroffen wird, in den Urteilstenor aufzunehmen. Dies gilt insbesondere dort, wo keiner der Tatbestände als der mildere angesehen werden kann. Bei Zugrundelegung dieser Ansicht wäre beispielsweise ein Angeklagter, bei dem sich nicht klären läßt, ob er die bei ihm sichergestellte Sache durch Diebstahl oder Hehlerei in seinen Besitz gebracht hat, wegen „Diebstahls oder Hehlerei" zu verurteilen (ähnlich BGH 25, 186: Verurteilung wegen „Diebstahls in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung oder Unterschlagung und gefährlicher Körperverletzung"). Andererseits ist es unschädlich, wenn nur das mildere Gesetz in den Urteilstenor aufgenommen wird (vgl. BGH 1,302,304).
§ 2
Zeitliche Geltung
(1) D i e Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. (2) Wird die Strafdrohung während der Begehung der Tat geändert, so ist das Gesetz anzuwenden, das bei Beendigung der Tat gilt. (3) Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden. (4) Ein Gesetz, das nur für eine bestimmte Zeit gelten soll, ist auf Taten, die während seiner Geltung begangen sind, auch dann anzuwenden, wenn es außer Kraft getreten ist. Dies gilt nicht, soweit ein Gesetz etwas anderes bestimmt. (5) Für Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung gelten die Absätze 1 bis 4 entsprechend. (6) Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt. 1. Nach dem Grundsatz des Abs. 1 bestimmen sich sowohl die Strafe (vgl. §§ 38-44) als auch die Nebenfolgen (vgl. §§ 45-45 b) nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. a) Tatzeit ist der Zeitpunkt, zu welchem der Täter (oder Teilnehmer) die für die Tatbestandsverwirklichung entscheidende Handlung vorgenommen hat oder - im Falle pflichtwidriger Unterlassung - hätte vornehmen müssen, und zwar ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt des Erfolgseintritts (vgl. § 8). Bei mehreren Tatbeteiligten kommt es auf die Willensbetätigung des jeweiligen Beteiligten, nicht auf den Zeitpunkt der Haupttat an (vgl. Maurach-Zipf AT 1165). Uber die Rechtslage bei Dauerdeliktens. u. 2. b) Gesetz i. S. des Abs. 1 sind nur die materiellen Rechtsnormen, nicht auch das Verfahrensrecht. Zu den materiellen Rechtsnormen in diesem Sinn gehören allerdings nicht nur die Straftatbestände des Besonderen Teils, sondern auch die Vorschriften des Allgemeinen Teils über Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe, Versuch und Teilnahme, nicht dagegen das Antragsrecht, das dem Verfahrensrecht zuzuordnen ist (vgl. RG 75, 311; BGH 6, 155; h. L.), und die Verjährungsvorschriften, für die nach h. A. das Rückwirkungsverbot im Falle einer nachträglichen Verlängerung der Verjährungsfristen 43
§2
Erster Abschnitt: Das Strafgesetz
ebenfalls nicht gilt (vgl. BVerfG NJW 1969, 1059; Tröndle LK 50 f. m. weit. Nachw.). Auch Beweis- und Auslegungsregeln sind keine „Gesetze" i. S. der Vorschrift (siehe hierzu § 1 Anm. I 2). 2. Bei einer Änderung der Strafdrohung während der Tatbegehung ist gemäß Abs. 2 das Gesetz (s. o. 1 b) anzuwenden, das bei Beendigung der Tat gilt. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob die Gesetzesänderung zu einer Verschärfung oder Milderung der Strafdrohung führt (vgl. Bockelmann AT 18; Maurach-Zipf AT I 166). Diese Situation kann sich sowohl bei Dauerdelikten als auch bei fortgesetzten Taten ergeben. Wird die Strafdrohung während der Begehung eines Dauerdelikts oder einer fortgesetzten Tat aufgehoben, so bleibt die Tat insgesamt straflos; wird ein bestimmtes Verhalten erst unter Strafe gestellt, nachdem der Täter bereits damit begonnen hat, so sind nur die Teilakte strafrechtlich relevant, die der Täter unter dem zeithchen Geltungsbereich des Gesetzes vorgenommen hat. 3. Bei einer Gesetzesänderung zwischen der Tat und ihrer Aburteilung ist nach Abs. 3 immer das jeweils mildeste Gesetz anzuwenden, und zwar in jeder Lage des Verfahrens, d. h. auch in der Revisionsinstanz (BGH 20, 77) und wenn infolge einer Rechtsmittelbeschränkung der Schuldspruch bereits rechtskräftig geworden ist (BGH 20, 116 f.; siehe auch BGH 24, 106). In der Revisionsinstanz macht es allerdings nur die Erhebung der Sachrüge dem Revisionsgericht möglich, eine Gesetzesänderung zu berücksichtigen (BGH 26, 94). Welches Gesetz das mildeste ist, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls (konkrete Betrachtungsweise). Entscheidend sind dabei zunächst die angedrohten Hauptstrafen, dann erst etwaige Nebenstrafen und Nebenfolgen. Sieht das auf Grund der milderen Hauptstrafe mildere Gesetz eine Nebenstrafe oder Nebenfolge vor (z. B. die Einziehung einer Schrift), so kann-diese auch dann ausgesprochen werden, wenn sie nach früherem Recht nicht zulässig war (vgl. BGH NJW 1965, 1723 m. Anm. Schröder JR 1966, 68). Bei Umwandlung eines Übertretungstatbestands in einen Vergehenstatbestand (vgl. z. B. § 370 Abs. 1 Nr. 5 aF.) beachte Art. 300 EGStGB (Anhang 4). Bei dem Vergleich sind alle zwischen Tat und Aburteilung geltenden Gesetze heranzuziehen, also auch sog. Zwischengesetze (vgl. Jescheck AT 111; Maurach-Zipf AT I 168). Bei sog. Blankettgesetzen sind auch die blankettausfüllenden Normen in den Vergleich einzubeziehen (BGH 20, 177). Unberührt bleibt jedoch eine Strafbarkeit nach §§ 145 d, 164 oder 258, wenn die diesen Delikten zugrundeliegende Tat infolge einer Gesetzesänderung nicht mehr mit Strafe bedroht ist (a. A. BayObLG JR 1975, 69 m. abl. Anm. K Meyer und WennerMDR 1975,161).
4. Abs. 4 befaßt sich mit den sog. Zeitgesetzen, d. h. mit solchen Gesetzen, deren Geltungsdauer entweder kraft ausdrücklicher Regelung kalendermäßig befristet ist oder die ihrem Inhalt nach nur als vorübergehende Regelungen eines außergewöhnlichen Zustands gedacht waren (vgl. BGH NJW 1952, 72; BGH 6, 30, 37). Zeitgesetze in diesem Sinn kommen entgegen dem Grundsatz des Abs. 3 auch dann zur Anwendung, wenn sie z. Z. der gerichtlichen Entscheidung bereits außer Kraft getreten sind. Zu den Zeitgesetzen gehören insbesondere die in Kriegs- und sonstigen Notzeiten erlassenen Bewirtschaftungsverordnungen, z. B. Verordnungen auf Grund des EnergiesichG v. 9. 11. 1973 (BGBl. I 1585) oder Geschwindigkeitsbeschränkungen, die nur aus einem konkreten Anlaß angeordnet werden (z. B. wegen einer Baustelle), nicht dagegen die in der StVO festgelegten allgemeinen Geschwindigkeitsbeschränkungen (vgl. BGH 6,
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Erster Titel: Geltungsbereich
Vor § 3
30 ff.). Der Gesetzesvorbehalt des Abs. 4 S. 2 gilt auch für Landesrecht (vgl. RegE S. 206 BT-Drucks. 7/550). 5. Die in den Abs. 1-4 entwickelten Grundsätze gelten nach Abs. 5 auch für Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung (vgl. §§ 73-76 a). 6. Bei Maßregeln der Besserung und Sicherung (vgl. §§ 61-72) kommt es nach Abs. 6 ausschließlich auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an, „soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist". Auf Grund dieses Gesetzesvorbehalts sehen Art. 301 und Art. 303 EGStGB vor, daß die durch das 2. StrRG neu eingeführten Maßregeln der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65) und der Führungsaufsicht (§ 68) nicht auf solche Taten anwendbar sind, die vor dem Inkrafttreten dieser Maßregeln begangen wurden.
Vorbemerkungen zu den §§ 3 ff. 1. Die §§ 3-7 behandeln das sog. internationale Strairecht. Diese Bezeichnung ist insofern irreführend, als im Strafrecht - anders als im Zivilrecht bei Anwendung des internationalen Privatrechts - ein deutsches Gericht immer nur deutsches Strafrecht anwenden kann. Genau genommen geht es also nicht um „internationales Strafrecht" mit kollidierenden Rechtsnormen, sondern um den Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts. Die §§ 3-7 legen fest, welche Taten und welche Täter dem deutschen Strafgesetz unterliegen (sog. Strafanwendungsrecht, vgl. Bockelmann AT 23; Maurach-Zipf AT 1145). 2. Abweichend von dem früheren Recht, das in § 3 das sog. Personalitätsprinzip in den Vordergrund gestellt hatte, steht nunmehr seit Inkrafttreten des 2. StrRG das an den inländischen Tatort anknüpfende Territorialitätsprinzip im Vordergrund (vgl. §§ 3, 4). Dieses Prinzip wird ergänzt durch das an die deutsche Staatsangehörigkeit anknüpfende Personalitätsprinzip (vgl. § 5 Nr. 3 a, 5 b, 8, 9, 11, § 7 Abs. 2 Nr. 1), das dem Schutz international anerkannter Rechtsgüter dienende Universalitäts- oder Weltrechtsprinzip (vgl. § 6) sowie das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege, das die Fälle erfaßt, in denen an sich die Gerichtsbarkeit eines anderen Staates zuständig wäre, dieser aber von seinen Rechten keinen Gebrauch machen kann oder will (vgl. § 7 Abs. 2 Nr. 2). 3. Aus dem neueren Schrifttum siehe insbesondere Allwang, Das Territorialitätsprinzip im Verkehrsstrafrecht, JR 1966, 406; Bruhn, Die Regelung des räumlichen Geltungsbereichs im Strafrecht der Bundesrepublik und der DDR unter besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zueinander, MDR 1970, 638; Doehring. Die Teilung Deutschlands als Problem der Strafrechtsanwendung, Der Staat 1965, 259; Gallas, Der dogmatische Teil des Alternativ-Entwurfs, ZStW 80, 1, 12; Grünwald, Ist der Schußwaffengebrauch an der Zonengrenze strafbar?, JZ 1966,633; Jescheck, Zur Reform der Vorschriften des StGB über das internationale Strafrecht, Internationales Recht und Diplomatie, 1956, Heft Nr. 1/2; Kaiser, Die Verfolgung durchreisender Ausländer in Verkehrsstrafsachen, NJW 1964, 1553; Krey, Zum innerdeutschen Strafanwendungsrecht de lege lata und de .lege ferenda, 1969; Oehler, Internationales Strafrecht, 1973; Roggemann, Strafrechtsanwendung und Rechtshilfe zwischen beiden deutschen Staaten, 1975; Schorn, Zweifelsfragen zum räumlichen Geltungsbereich des Strafrechts, JR 1964, 205; Schröder, 45
§3
Erster Abschnitt: Das Strafgesetz
Zur Strafbarkeit von Verkehrsdelikten deutscher Staatsangehöriger im Ausland, NJW 1968, 283; Schroeder, Der „räumliche Geltungsbereich" der Strafgesetze, GA 1968,353; ders., Schranken für den räumlichen Geltungsbereich des Strafrechts, NJW 1969, 81; Schultz, Zum räumlichen Geltungsbereich des Strafrechts im geteilten Deutschland, JR 1968, 41, 127; Tröndle, Straßenverkehrsgefährdung auf Transitstraßen nach Berlin straflos?, JR 1977,1. 4. Prozessual ist bei allen Auslandstaten § 153 c StPO zu beachten (Opportunitätsprinzip). Ein Verbrauch der Strafklage tritt durch eine Auslandsverurteilung nicht ein (BGH NJW 1969, 1542).
§ 3
Geltung für Inlandstaten
Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Inland begangen werden. 1. Das Territorialitätsprinzip steht seit Inkrafttreten des 2. StrRG im Vordergrund des Strafanwendungsrechts (vgl. 2 vor § 3). Unerheblich ist, ob die Tat von einem Deutschen, einem Ausländer oder einem Staatenlosen begangen wird. 2. Eine Sonderstellung nehmen solche Personengruppen ein, die an sich dem Strafanwendungsrecht des deutschen Strafrechts unterliegen müßten, aber aufgrund staatsrechtlicher oder völkerrechtlicher Sonderregelungen der deutschen Gerichtsbarkeit entzogen sind oder ihr nur beschränkt unterliegen. Hierher gehören die Fälle der Indemnität des Bundespräsidenten und der Mitglieder des Bundestags, der Bundesversammlung oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes im Rahmen des § 36 sowie der Art. 46 Abs. 2, 60 Abs. 4 GG, die Fälle der Exterritorialität von Mitgliedern der bei der Bundesrepublik Deutschland akkreditierten diplomatischen Vertretungen und der ihnen gleichgestellten Personen (vgl. §§ 18 f. GVG) sowie die Mitglieder der in der Bundesrepublik stationierten Streitkräfte nach dem NATO-Truppenstatut v. 19. 6. 1951 (BGBl. 1961 II 1190) i. V. mit dem Zusatzabkommen v. 3. 8. 1959 (BGBl. 1961 II 1183), in Kraft getreten am 1.7. 1963 (BGBl. 1963 II 745). Trotz im wesentlichen gleicher Rechtsfolgen besteht zwischen den genannten Gruppen insofern ein Unterschied, als die Indemnität und die Exterritorialität zu den persönlichen Strafausschließungsgründen gehören (h. L., vgl. Maurach-Zipf AT I 157 f. m. Nachw.), während die Mitglieder der in der Bundesrepublik stationierten verbündeten Streitkräfte nur eine bedingte verfahrensrechtliche Immunität genießen. Die letztgenannte Gruppe unterliegt nämlich nur dann der deutschen Gerichtsbarkeit, wenn es sich um einen Fall handelt, der ausschließlich der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegt (da nach dem Recht des Entsendestaats nicht strafbar), oder wenn es sich um einen Fall der konkurrierenden Gerichtsbarkeit handelt, in dem die deutschen Strafverfolgungsbehörden den allgemeinen Verzicht der Bundesrepublik auf die Ausübung der deutschen Gerichtsbarkeit widerrufen haben. Ein solcher Widerruf kommt allerdings nur in Betracht, wenn nach den besonderen Umständen des Einzelfalls wesentliche Belange der deutschen Rechtspflege dies erfordern, z. B. bei Staatsschutzdelikten, Mord, Totschlag oder Vergewaltigung, soweit die Opfer nicht Angehörige der Truppe oder des zivilen Gefolges sind (vgl. Art. 19 Abs. 3 des Zusatzabkommens und Abs. 2 des Unterzeichnungsprotokolls zu Art. 19). Siehe hierzu im einzelnen Schwenk, Die strafprozessualen Bestimmungen des NATOTruppenstatuts, des Zusatzabkommens und des Unterzeichnungsprotokolls zum Zusatz46
Erster Titel: Geltungsbereich
§3
abkommen, NJW 1963, 1425; ders., konkurrierende Gerichtsbarkeit in Strafsachen usw., NJW 1965, 2242; ferner Tröndle LK 44 ff. vor § 3 (aF) sowie Stgt NJW 1967,509. 3. Der Begriff Inland wurde vom Gesetzgeber nicht definiert; seine Auslegung sollte vielmehr der künftigen Rspr. vorbehalten bleiben (vgl. BT-Drucks.. V/4095). a) Nach der früheren, an staatsrechtlichen Kriterien ausgerichteten höchstrichterlichen Rspr. galt als Inland das gesamte ehemalige Staatsgebiet des Deutschen Reichs in den Grenzen vom 31. 12. 1937, und zwar einschließlich der DDR und der verlorenen Ostgebiete (vgl. BGH 5, 364; 7, 55; 8, 170; 15,72; 20, 5). Wollte man dieser Rspr. weiter folgen, so waren im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR nicht die Grundsätze des internationalen, sondern die des interlokalen Strafrechts anzuwenden (vgl. BGH 7, 55), d. h. nach den gewohnheitsrechtlich entwickelten Prinzipien des interlokalen Strafrechts wäre grundsätzlich das Recht des Tatorts anzuwenden, sofern dieses nicht den rechtsstaatlichen Grundsätzen am Ort der Aburteilung („ordre public") widerspricht. Seit Inkrafttreten des sog. Grundvertrags kann hieran jedoch nicht mehr festgehalten werden. Das neue StGB der DDR hat sich rechtspolitisch und gesellschaftlich so weit vom Recht der Bundesrepubük entfernt, daß die - direkte oder analoge - Anwendung der Grundsätze des interlokalen Strafrechts selbst unter dem Vorbehalt des ordre public nicht mehr in Betracht kommen kann (vgl. Doehring aaO. 276; Tröndle LK 77 vor § 3 aF). Den tatsächlichen Verhältnissen weitaus gerechter wird die - zumindest analoge Anwendung des internationalen Strafrechts (KG JR 1977, 334; Blei AT 40; Bockelmann AT 26; Doehring aaO. 264, 272 ff.; Dreher Rn. 11; Gallas aaO. 15; Grünwald aaO. 635, 638; Jescheck AT 147; Krey aaO.; Maurach-Zipf AT I 161). Die dogmatische Begründung dieser Ansicht ergibt sich zwanglos, wenn man zur Bestimmung des Begriffs Inland nicht auf staats- oder völkerrechtliche Grundsätze, sondern auf den sog. funktionalen Begriff des Inlands zurückgreift. Dieser stellt ausschließlich auf die tatsächlichen Hoheitsverhältnisse ab. Zum Inland gehört demzufolge nur das Gebiet, innerhalb dessen der jeweilige Staat seine Ordnungsfunktionen geltend machen kann und will. Unter diesem Aspekt kann als Inland nur das Staatsgebiet der Bundesrepublik und Westberlins angesehen werden (vgl. Blei AT 40; Eser in Schönke-Schröder 29 f., 50 f. vor § 3; Krey aaO. 70 ff.; Maurach-Zipf AT I 148; Tröndle JR 1977, 1, 3, jeweils m. weit. Nachw.), nicht dagegen die DDR, auch wenn diese nach dem Grundsatzurteil des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des sog. Grundvertrags staats- und völkerrechtlich nach wie vor als Inland anzusehen ist (vgl. NJW 1973, 1539). Der hier vertretene funktionale Inlandsbegriff deckt sich damit im wesentlichen mit dem räumlichen Geltungsbereich des StGB (siehe hierzu § 5 Nr. 3 a, 5 b, 7, 8, 9, 10, §§ 48 Abs. 1 Nr. 1, 65 Abs. 5, 84 Abs. 1, 85 Abs. 1, 86 Abs. 1 Nr. 3, 86 a Abs. 1, 87 Abs. 1, 91 und 234 a, wobei jedoch zu beachten ist, daß nicht alle Bestimmungen des StGB auch in Berlin anwendbar sind (vgl. z. B. §§ 109 ff.). Zum Ganzen siehe auch Roggemann, Grenzübertritt und Strafanwendungsbereich zwischen beiden deutschen Staaten (Anmerkungen zum Fall Weinhold), ZRP 1976, 243. b) Zum Inland gehören außer dem Landgebiet die Eigengewässer, das Küstenmeer innerhalb der Dreimeilenzone sowie der dazugehörige Luftraum. Einzelheiten siehe Tröndle LK 35 ff. vor § 3 (aF). Siehe auch den folgenden § 4. 4. Zur Frage der Tatbegehung, insbesondere zur Behandlung der sog. Distanz- und Transitdelikte, siehe § 9 nebst Anmerkungen.
47
§§4, 5 §4
Erster Abschnitt: Das Strafgesetz
Geltung für Taten auf deutschen Schiffen und Luftfahrzeugen
Das deutsche Strafrecht gilt, unabhängig vom Recht des Tatorts, für Taten, die auf einem Schiff oder Luftfahrzeug begangen werden, das berechtigt ist, die Bundesflagge oder das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik Deutschland zu führen. 1. Die durch das 2. StrRG an dieser Stelle eingefügte, durch das EGStGB nochmals umgestaltete Vorschrift tritt an die Stelle des früheren § 5. Der Unterschied zur früheren Fassung besteht darin, daß die frühere Formulierung „auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug" ersetzt wurde durch den Hinweis auf die Berechtigung, die Bundesflagge oder das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik Deutschland zu führen. Diese Änderung steht im Zusammenhang mit der Streichung von § 18 Abs. 1 des FlaggenrechtsG v. 8. 2. 1971 durch Art. 2 Nr. 10 des SeerechtsändG v. 21. 6. 1972, BGBl. I 966 (vgl. RegE S. 207 BT-Drucks. 7/550). 2. Die Berechtigung, die Bundesflagge zu führen, ergibt sich für Schiffe aus dem FlaggenrechtsG v. 8. 2. 1971 (BGBl. III 9514 - 1). Sie steht sowohl den Schiffen deutscher Eigentümer als auch den in der Bundesrepublik gebauten Schiffen und den von einem deutschen Ausrüster gecharterten Schiffen zu (vgl. §§ 1,2, 10, l l a a O . ) . 3. Die Berechtigung, das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik zu führen, ist bei Luftfahrzeugen an das deutsche Eigentum an dem Luftfahrzeug geknüpft (vgl. §§ 2 Abs. 5, 3 LuftVG). Über „Luftfahrzeuge" siehe § 1 Abs. 2 LuftVG sowie § 3 1 6 c Anm. III 1. 4. Für Taten auf ausländischen Fahrzeugen im Inland gilt § 3. Prozessual ist in diesem Fall § 153 c Abs. 1 Nr. 2 StPO zu beachten.
§ 5
Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter
Das deutsche Strafrecht gilt, unabhängig vom Recht des Tatorts, für folgende Taten, die im Ausland begangen werden: 1. Vorbereitung eines Angriffskrieges (§ 80); 2. Hochverrat (§§ 8 1 bis 83); 3. Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates a) in den Fällen der §§ 89, 9 0 a Abs. 1 und des § 9 0 b, wenn der Täter Deutscher ist und seine Lebensgrundlage im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes hat, und b) in den FäUen der §§ 9 0 und 9 0 a Abs. 2; 4. Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 9 4 bis 1 0 0 a); 5. Straftaten gegen die Landesverteidigung 48
Erster Titel: Geltungsbereich
6. 7.
8.
9. 10.
11. 12. 13.
§ 5
a) in den Fällen der §§ 109 und 109 e bis 109 g und b) in den Fällen der §§ 109 a, 109 d und 109 h, wenn der Täter Deutscher ist und seine Lebensgrundlage im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes hat; Verschleppung und politische Verdächtigung (§§ 234 a, 241 a), wenn die Tat sich gegen einen Deutschen richtet, der im Inland seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat; Verletzung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen eines im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes liegenden Betriebs, eines Unternehmens, das dort seinen Sitz hat, oder eines Unternehmens mit Sitz im Ausland, das von einem Unternehmen mit Sitz im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes abhängig ist und mit diesem einen Konzern bildet; Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in den Fällen des § 174 Abs. 1 , 3 und der §§ 175 und 176 Abs. 1 bis 4, 6, wenn der Täter und der, gegen den die Tat begangen wird, zur Zeit der Tat Deutsche sind und ihre Lebensgrundlage im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes haben; Abbruch der Schwangerschaft (§ 218), wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist und seine Lebensgrundlage im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes hat; falsche uneidliche Aussage, Meineid und falsche Versicherung an Eides Statt (§§ 153 bis 156) in einem Verfahren, das im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes bei einem Gericht oder einer anderen deutschen Stelle anhängig ist, die zur Abnahme von Eiden oder eidesstattlichen Versicherungen zuständig ist; Taten, die ein deutscher Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter während eines dienstlichen Aufenthalts oder in Beziehung auf den Dienst begeht; Taten, die ein Ausländer als Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter begeht; Taten, die jemand gegen einen Amtsträger, einen für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten oder einen Soldaten der Bundeswehr während der Ausübung ihres Dienstes oder in Beziehung auf ihren Dienst begeht.
1. Abweichend von § 4 aF und § 5 E 1962 hat das 2. S t r R G die dem sog. Schutzprinzip unterliegenden Straftatbestände von den Tatbeständen, für die das sog. Universalitätsoder Weltrechtsprinzip gilt, streng getrennt. Während § 5 sich - ebenso wie § 7 Abs. 1 mit dem Schutzprinzip befaßt, wurden die dem Universalitäts- oder Weltrechtsprinzip unterliegenden Tatbestände in § 6 zusammengefaßt. Der Katalog des § 5 wurde durch das E G S t G B nochmals neu gefaßt. In Nr. 3 a, 5 b, 8, 9 und 11 überschneidet sich das Schutzprinzip mit dem Personalitätsprinzip (s. u. 3). 2. Der Begriff Ausland umfaßt alle Gebiete außerhalb des Inlands (siehe hierzu § 3 Anm. 3 a), also auch das offene Meer und Gebiete, die keiner Staatshoheit unterstehen
49
§6
Erster Abschnitt: Das Strafgesetz
(vgl. Lackner 4 vor § 3; Maurach-Zipf AT I 147). Zur Frage, ob die Tat im Ausland begangen worden ist, siehe § 9 nebst Anmerkungen. 3. In den Fällen der Nr. 3 a, 5 b, 8, 9 und 11 ist das deutsche Strafrecht nur anwendbar, wenn der Täter Deutscher ist, d. h. die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt (siehe hierzu § 7 Anm. 1 b), wobei abgesehen von dem Fall der Nr. 11 noch zusätzlich erforderlich ist, daß der Täter seine Lebensgrundlage im räumlichen Geltungsbereich der jeweiligen Vorschrift hat. Der räumliche Geltungsbereich erstreckt sich grundsätzlich auf das gesamte Bundesgebiet sowie auf West-Berlin; da die §§ 109 ff. jedoch in Berlin keine Anwendung finden, genügt es im Falle der Nr. 5 b nicht, wenn der Täter seine Lebensgrundlage in Berlin hat. Abgesehen von dieser Einschränkung kann gesagt werden, daß die Nummern 3 a, 5 b, 8, 9 und 11 Restbestände des früher im Vordergrund des Strafanwendungsrechts stehenden Personalitätsprinzips darstellen und damit den § 7 Abs. 1 ergänzen (vgl. Bokkelmann AT 25). In allen übrigen Fällen des § 5 ist es unerheblich, welche Staatsangehörigkeit der Täter besitzt und wo er seine Lebensgrundlage hat. 4. Beachte § 51 Abs. 3 (Anrechnung einer Auslandsstrafe), § 153 c StPO (Opportunitätsprinzip) sowie Art. 324 Abs. 1 EGStGB, wonach § 5 Nr. 5 in Berlin nicht anwendbar ist. Siehe auch BGH NJW 1969, 1542: Durch eine Auslandsverurteilung tritt kein Verbrauch der Strafklage ein.
§ 6
Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter
D a s deutsche Strafrecht gilt weiter, unabhängig vom Recht des Tatorts, für folgende Taten, die im Ausland begangen werden: 1. Völkermord (§ 2 2 0 a); 2. Kernenergie-, Sprengstoff- und Strahlungsverbrechen in den Fällen der §§ 3 1 0 b, 3 1 1 Abs. 1 bis 3, des § 3 1 1 a Abs. 2 und des § 3 1 1 b; 3. Angriff auf den Luftverkehr (§ 3 1 6 c); 4. Förderung der Prostitution in den Fällen des § 1 8 0 a Abs. 3 bis 5 und Menschenhandel (§ 181); 5. unbefugter Vertrieb von Betäubungsmitteln; 6. Verbreitung pornographischer Schriften in den Fällen des § 1 8 4 Abs. 3; 7. Geld- und Wertpapierfälschung sowie deren Vorbereitung (§§ 146, 149, 151,152); 8. Subventionsbetrug (§ 264); 9. Taten, die auf Grund eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommens auch dann zu verfolgen sind, wenn sie im Ausland begangen werden. 1. Der Katalog des § 6, der zuletzt durch das 1. WiKG ergänzt wurde, umfaßt die Tatbestände, die dem sog. Universalitäts- oder Weltrechtsprinzip unterliegen. Hierbei handelt es sich durchweg um Straftaten, die von allen Kulturstaaten als schwerwiegende 50
Erster Titel: Geltungsbereich
§7
Eingriffe in die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens empfunden werden. Teilweise beruht ihre Verfolgbarkeit auch auf völkerrechtlichen Vereinbarungen. Die Nr. 9 ermöglicht die Verfolgbarkeit von Auslandstaten, deren Verfolgung die Bundesrepublik durch zwischenstaatliche Abkommen verbindlich übernommen hat oder übernehmen wird, ohne daß das Strafgesetzbuch geändert werden muß (vgl. Begr. zu § 5 Nr. 7 E 1962). 2. Die Staatsangehörigkeit des Täters ist ebenso unerheblich wie das Recht des Tatorts. Entscheidend ist allein, daß die deutsche Staatsgewalt in der Lage ist, den Täter ihrer Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. 3. Über Ausland siehe § 5 Anm. 2, über die Frage, wo die Tat begangen wurde, siehe § 9 nebst Anmerkungen. 4. Besondere praktische Bedeutung hat das Weltrechtsprinzip auf dem Gebiet der Luftpiraterie (Nr. 3) und der Rauschgiftkriminalität (Nr. 5) erlangt (siehe hierzu BGH 27, 30 m. Anm. Wengler JZ 1977, 257: § 6 Nr. 5 verstößt nicht gegen einen allgemein anerkannten Grundsatz des Völkerrechts i.S. des Art. 25 GG, sondern findet seine Rechtfertigung in dem Übereinkommen von 1961 über Suchtstoffe, dem der Bundestag durch Gesetz v. 4. 9. 1973 [BGBl. II 1353 ff.] zugestimmt hat und das für die Bundesrepublik am 2.1. 1974 in Kraft getreten ist). 5. Beachte § 51 Abs. 3 (Anrechnung einer Auslandsstrafe) sowie § 153 c StPO (Opportunitätsprinzip).
§ 7
Geltung für Auslandstaten in anderen Fällen
(1) Das deutsche Strairecht gilt für Taten, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. (2) Für andere Taten, die im Ausland begangen werden, gilt das deutsche Strafrecht, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt und wenn der Täter 1. zur Zeit der Tat Deutscher war oder es nach der Tat geworden ist oder 2. zur Zeit der Tat Ausländer war, im Inland betroffen und, obwohl das Auslieferungsgesetz seine Auslieferung nach Art der Tat zuließe, nicht ausgeliefert wird, weil ein Auslieferungsersuchen nicht gestellt oder abgelehnt wird oder die Auslieferung nicht ausführbar ist. 1. Die Vorschrift des Abs. 1, die Ausfluß des sog. Schutzprinzips ist, tritt an die Stelle des ehemaligen § 4 Abs. 2 Nr. 2, mit dem sie im wesentlichen übereinstimmt (wegen Abweichungen s. u. Iit. c). a) Uber Tatbegehung im Ausland siehe § 5 Anm. 2. 51
§7
Erster Abschnitt: Das Strafgesetz
b) Wer Deutscher ist, bestimmt sich nach den einschlägigen staatsrechtlichen Bestimmungen, insbesondere nach Art. 116 GG und dem Reichs- und StaatsangehörigkeitsG v. 22. 7. 1913 (RGBl. S. 583), zuletzt geändert durch Gesetz v. 19. 12. 1963 (BGBl. I 982). Bei Zugrundelegung dieser Grundsätze müssen auch die in der DDR wohnhaften Deutschen ungeachtet des Umstands, daß die Volkskammer der DDR durch Gesetz vom 20. 2. 1967 (siehe hierzu Waehler JZ 1968, 776) das Reichs- und StaatsangehörigkeitsG v. 22. 7. 1913 außer Kraft gesetzt und durch ein eigenes StaatsbürgerschaftsG ersetzt hat, als deutsche Staatsangehörige betrachtet werden (vgl. BVerfG NJW 1973, 1539, 1544; KG NJW 1976, 198; Eser in Schönke-Schröder 34 vor § 3). Trotzdem sind sie im Rahmen des Strafanwendungsrechts nicht als Deutsche zu behandeln, sondern den Ausländern gleichzustellen. Die zu der Frage, ob die DDR Inland oder Ausland ist, entwickelten Grundsätze (siehe hierzu § 3 Anm. 3 a) gelten insoweit entsprechend (vgl. Lackner 4 c vor § 3; Maurach-Zipf AT I 151; Tröndle LK 42 vor § 3 aF). Zum Ganzen siehe auch Krey aaO. 107. c) Soweit sich eine Auslandstat nicht gegen einen deutschen Staatsbürger, sondern gegen das „deutsche Volk" richtet (so noch § 4 Abs. 2 Nr. 2 aF), ist das deutsche Strafrecht nur dann anwendbar, wenn die Tat unter den Katalog des § 5 fällt. d) Die im Ausland gegen einen Deutschen begangene Tat unterliegt nur dann dem Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts, wenn sie auch am Tatort mit Strafe bedroht ist, wobei die Art der Strafdrohung unerheblich ist (vgl. LK 6 zu § 4 aF mit weit. Nachw.). Dem gleich steht der Fall, daß der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt, also im „Niemandsland" liegt (z. B. bei einer Polarexpedition oder bei Schiffbruch auf hoher See). e) Unerheblich ist, ob die Tat von einem Deutschen, einem Staatenlosen oder einem Ausländer begangen wird.
2. Abs. 2 bringt den Grundsatz der sog. stellvertretenden Strafrechtspflege, wobei Nr. 1 gleichzeitig die Elemente des früher im Vordergrund des Strafanwendungsrechts stehenden Personalitätsprinzips enthält. Sowohl Nr. 1 als auch Nr. 2 setzen - ebenso wie Abs. 1 - voraus, daß die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder keiner Strafgewalt unterliegt (siehe hierzu oben 1 d). a) Nr. 1 will verhindern, daß jemand, der im Ausland eine Straftat begangen hat, die sowohl nach deutschem Recht als auch nach Tatortsrecht mit Strafe bedroht ist, nur deshalb nicht bestraft werden kann, weil es ihm gelungen ist, sich nach der Tat in die Bundesrepublik abzusetzen, und eine Auslieferung nicht in Betracht kommt (vgl. Art. 16 Abs. 2 GG). Andererseits wird die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Täter im Ausland bereits bestraft worden ist. Die Auslandsstrafe ist in diesem Falle jedoch auf die von dem deutschen Gericht auszusprechende Strafe anzurechnen (vgl. § 51 Abs. 3); außerdem unterliegt die Strafverfolgung dem Opportunitätsprinzip (vgl. § 153 c Abs. 1 Nr. 3 StPO). Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Vorschrift bestehen nicht (vgl. BGH 20, 23). b) Die Voraussetzungen der Nr. 2 liegen z. B. vor, wenn ein Staatenloser, der in der Schweiz einen Einbruch begangen hat, sich nach der Tat den deutschen Strafverfolgungsbehörden stellt und die Schweiz auf Auslieferung verzichtet. 52
Erster Titel: Geltungsbereich
§8
§§8,9
Zeit der Tat
Eine Tat ist zu der Zeit begangen, zu welcher der Täter oder der Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen. Wann der Erfolg eintritt, ist nicht maßgebend. 1. Die durch das 2. StrRG in sachlicher Übereinstimmung mit § 7 E 1962 neu eingefügte Vorschrift stellt im Anschluß an die h. M. in Rspr. und Schrifttum (vgl. BGH 11, 119 m. Anm. Schröder JZ 1959, 30; Tröndle LK 57 zu § 2 aF mit weit. Nachw.) klar, daß es für die Bestimmung der Tatzeit nicht auf den Eintritt des Erfolgs, sondern allein darauf ankommt, wann der Täter gehandelt hat bzw. - im Falle pflichtwidrigen Unterlassens hätte handeln müssen. 2. Die Vorschrift ist u. a. von Bedeutung a) für den zeitlichen Anwendungsbereich eines Gesetzes (§ 2), b) für die Feststellung der Rückfallsvoraussetzungen (§ 48), c) für den Widerruf des Straferlasses (§ 56 g Abs. 2), d) für die Möglichkeit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt (vgl. § 59 Abs. 2), e) für die Voraussetzungen der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65) oder in Sicherungsverwahrung (§ 66). 3. Besonderheiten sind zu beachten a) bei der Antragsfrist, die gemäß § 77 b Abs. 2 nicht schon mit der Tatbegehung, sondern erst an dem Tag beginnt, an dem der Berechtigte von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt; b) bei der Verjährung, für die § 78 a festlegt, daß bei Erfolgsdelikten die Verjährungsfrist erst mit Eintritt des Erfolgs beginnt.
§9
Ort der Tat
(1) Eine Tat ist an jedem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters eintreten sollte. (2) Die Teilnahme ist sowohl an dem Ort begangen, an dem die Tat begangen ist, als auch an jedem Ort, an dem der Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem nach seiner Vorstellung die Tat begangen werden sollte. Hat der Teilnehmer an einer Auslandstat im Inland gehandelt, so gilt für die Teilnahme das deutsche Strafrecht, auch wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist. 53
§9
Erster Abschnitt: Das Strafgesetz
1. Die durch das 2. StrRG neu gefaßte Vorschrift stimmt in ihrem Abs. 1 mit dem früheren § 3 Abs. 3 überein, während Abs. 2 in Anlehnung an § 8 Abs. 2 E 1962 den Ergebnissen der früheren Rspr. zu § 3 Abs. 3 Gesetzeskraft verschafft. 2. Abs. 1, der das sog. Ubiquitätsprinzip enthält, trennt klar zwischen Handlung (bzw. Unterlassung) und Erfolg. a) Die praktische Bedeutung der Vorschrift hegt vor allem auf dem Gebiet des sog. internationalen Strafrechts (siehe hierzu Anm. 1 vor § 3). Anliegen der Vorschrift ist es, im Interesse eines umfassenden Rechtsgüterschutzes den Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts möglichst weit auszudehnen. Dies gilt insbesondere für die sog. Distanzdelikte, d. h. wenn Handlung und Erfolg räumlich auseinanderfallen. Wenn z. B. der in Basel wohnende A dem in Freiburg wohnenden B einen erpresserischen Brief schickt, ist die Tat ebenso als Inlandstat zu beurteilen, wie wenn umgekehrt B dem A einen entsprechenden Brief zukommen läßt. Bei grenzüberschreitenden Delikten ist eine Inlandstat auch dann gegeben, wenn der Täter zur Begehung einer Auslandstat bereits im Inland unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt (BGH NJW 1975, 1610 mit krit. Anm. Schroeder NJW 1976, 490). b) Gesetzlich nicht geregelt und umstritten ist die Frage, ob eine Inlandstat auch bei sog. Transitdelikten vorliegt. Da in diesen Fällen weder der Tatort noch der Ort des Erfolgseintritts im Inland liegen, ist eine Inlandstat grundsätzlich abzulehnen (vgl. Blei AT 41; Maurach-Zipf AT I 150; Samson SK 9; a. A. Jescheck 139; Tröndle LK 59 vor § 3). Anders zu beurteilen sind nur die Fälle, in denen die Durchfuhr als solche unter Strafe gestellt ist oder wenn durch den Transitverkehr eine tatbestandsrelevante Gefahr eintritt. Diese Voraussetzungen liegen z. B. bei der Durchfuhr pornographischer Schriften vor (bei § 184 ist die Durchfuhr der Einfuhr gleichzustellen, vgl. Schleswig NJW 1971, 2319), desgleichen bei der Durchfuhr radioaktiver Stoffe (vgl. § 311 a), nicht dagegen, wenn der in Basel lebende A dem in Kopenhagen wohnenden X einen beleidigenden Brief schickt, der auf dem Bahn- oder Luftweg durch das Gebiet der Bundesrepublik befördert wird. c) Bei Dauerdelikten und fortgesetzten Taten genügt es, wenn ein Teilakt im Inland begangen wird. d) Erfolg ist der tatbestandsmäßige Erfolg (BGH 20, 51; Endemann NJW 1966, 2382). Bei erfolgsqualifizierten Delikten (siehe § 18) genügt es, wenn die besondere Folge der Tat im Inland eingetreten ist (vgl. Tröndle LK 51 vor § 3 aF mit weit. Nachw.). Beispiel: Der von seinem Landsmann A mit Körperverletzungsvorsatz niedergeschlagene schweizer Staatsbürger X kann sich nach der Tat gerade noch auf deutsches Staatsgebiet schleppen, wo er wenig später tot zusammenbricht. Bei Gefährdungsdelikten genügt als „Erfolg" der Eintritt der Gefahr (BayObLG NJW 1957, 1327 f.; Köln NJW 1968, 954; h. L.). Der Versuch ist überall begangen, wo der Täter gehandelt hat oder wo der Erfolg nach der Vorstellung des Täters hätte eintreten sollen. 3. Abs. 2 stellt in sachlicher Übereinstimmung mit der früheren Rspr. zu § 3 Abs. 3 (aF) klar, daß im Falle der Teilnahme eine dem deutschen Strafrecht unterliegende Inlandstat unabhängig davon vorliegt, ob die Haupttat oder die Teilnahmehandlung im Inland begangen wurde. Bei inländischen Teilnahmehandlungen genügt es, daß die Haupttat nach deutschem Recht mit Strafe bedroht ist (Satz 2); nicht erforderlich ist, daß sie auch nach Tatortrecht mit Strafe bedroht ist.
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Zweiter Titel: Sprachgebrauch
§ 10
Vor § 11
Sondervorschriften für Jugendliche und Heranwachsende
Für Taten von Jugendlichen und Heranwachsenden gilt dieses Gesetz nur, soweit im Jugendgerichtsgesetz nichts anderes bestimmt ist. In Ubereinstimmung mit der Rechtslage vor Inkrafttreten des 2. StrRG bleibt das materielle Jugendstraf recht dem JugendgerichtsG vorbehalten. Siehe hierzu im einzelnen Anh. 1.
Zweiter Titel: Sprachgebrauch Vorbemerkungen 1. Gemäß Art. 97 Abs. 1 GG ist der Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Hinsichtlich der Auslegung des Gesetzes ist der Richter grundsätzlich frei. Insbesondere ist er nicht verpflichtet, sich bei der Entscheidung einer dogmatischen Streitfrage der höchstrichterlichen Rspr. oder der h. L. im Schrifttum anzuschließen, wenn er diese aufgrund seiner eigenen Überzeugung für verfehlt hält. Eine Bindung an die höchstrichterliche Rspr. besteht nur insoweit, als nach Aufhebung eines Urteils in der Revisionsinstanz das Gericht, an das die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung verwiesen worden ist, die rechtliche Beurteilung der Sache durch das Revisionsgericht auch seiner eigenen Entscheidung zugrunde zu legen hat (vgl. § 358 Abs. 1 StPO). Im übrigen jedoch ist der Richter nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, sich in jedem Einzelfall bei der Anwendung eines Gesetzes Gedanken über dessen Sinn und Zweck zu machen, um eine verfassungskonforme Entscheidung zu ermöglichen. Hält er das Gesetz selbst für verfassungswidrig, so hat er das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG einzuholen (vgl. Art. 100 Abs. 1 GG). 2. Auslegungsmethoden. Ausgangsbasis jeder Gesetzesinterpretation ist der Wortlaut des Gesetzes. Führt die sog. grammatische (worterklärende) Auslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis, so hat der Richter den Sinn und Zweck der jeweiligen Vorschrift zu erforschen (sog. teleologische Auslegung). Hierbei stehen ihm insbesondere die Gesetzesmaterialien zur Verfügung, die den historischen Zusammenhang und die Motive erkennen lassen, aus denen das Gesetz entstanden ist (sog. historische Auslegung). So ergibt sich z. B. aus der Gesetzesgeschichte des § 248 b, daß „Ingebrauchnahme" eines Kraftfahrzeugs nur die bestimmungsgemäße Benutzung zum Zwecke der Fortbewegung ist, nicht auch das unbefugte Nächtigen in dem Fahrzeug (vgl. BGH 11, 47); bei § 265 a kann der Gesetzesgeschichte entnommen werden, daß diese Vorschrift nur auf Leistungsautomaten, nicht auch auf Warenautomaten anwendbar ist (vgl. BGH MDR 1952, 563 m. abl. Anm. Dreher). Die historische Auslegung versagt jedoch, wenn sich der Wille des Gesetzgebers nicht klar feststellen läßt, wenn eine bestimmte Frage bewußt offen gelassen wurde, um ihre Entscheidung der künftigen Rechtsprechung und Lehre vorzubehalten, oder wenn sich seit der Schaffung des Gesetzes neue Situationen und Erkenntnisse ent-
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Vor § 11
Erster Abschnitt: Das Strafgesetz
wickelt haben. Entscheidend ist deshalb nicht die Beurteilung des Gesetzes in der Vergangenheit, sondern seine Bedeutung in der Rechtswirklichkeit der Gegenwart (vgl. BGH 10, 159 f.; 12, 172; 15, 121; h. L.). Auch die sog. systematische Methode stellt nur ein schwaches Hilfsmittel bei der Auslegung dar. So kann z. B. aus dem äußeren und inneren Zusammenhang der §§ 263 und 265 gefolgert werden, daß „betrügerische Absicht" in § 265 die Absicht ist, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen (vgl. BGH 1, 209). Die Systematik des Gesetzes ist jedoch nicht so in sich abgeschlossen, daß sie in allen Fällen sichere Schlüsse zuließe. Dies zeigt sich z. B. bei der umstrittenen Frage, ob das Tb.-Merkmal „Wegnehmen" in § 249 in gleicher Weise auszulegen ist wie in § 242 oder ob die Abgrenzung des Raubs gegenüber der räuberischen Erpressung eine abweichende Auslegung erfordert (vgl. BGH 7, 252 sowie § 249 Anm. 5). Entscheidende Auslegungsregel bleibt damit die an einer verfassungskonformen Auslegung ausgerichtete teleologische Interpretation. 3. Mit Rücksicht darauf, daß die unter Ziff. 2 aufgezeigten Auslegungsmethoden nicht immer zu sicheren und einheitlichen Ergebnissen führen, andererseits aber das Streben nach Rechtssicherheit eine möglichst einheitliche Behandlung vergleichbarer Fälle erfordert, schreibt der Gesetzgeber in einigen Fällen dem Richter in der Form sog. Legaldefinitionen vor, wie er bestimmte strafrechtliche Grundbegriffe auszulegen hat (sog. authentische Auslegung, vgl. Maurach-Zipf AT I 122). Schon vor Inkrafttreten des 2. StrRG und des EGStGB hat der Gesetzgeber im Bereich des Strafrechts verschiedene Grundbegriffe authentisch festgelegt. Zu den bekanntesten Legaldefinitionen des früheren Rechts gehörten der Angehörigenbegriff (§ 52 Abs. 2 aF), der Begriff des Unternehmens (§ 46 a aF), der Begriff der Notwehr (§ 53 Abs. 2 aF), der Begriff der Verfassungsgrundsätze (§ 92 Abs. 1), der Begriff des Staatsgeheimnisses (§ 93 Abs. 1) sowie der Begriff der sexuellen Handlung (§ 184 c). Das 2. StrRG und das EGStGB haben in Anlehnung an den E 1962 die Zahl der Legaldefinitionen erheblich vermehrt, ohne jedoch alle Legaldefinitionen des noch erheblich weitergehenden E 1962 zu übernehmen. Die wesentlichsten Legaldefinitionen für den Bereich des Allgemeinen Teils wurden in dem nun folgenden 2. Titel unter der Überschrift „Sprachgebrauch" in den § § 1 1 und 12 zusammengestellt. Weitere authentische Begriffsbestimmungen finden sich z. B. in den §§ 22 (Versuch), 28 Abs. 2 (Beteiligung), 32 Abs. 2 (Notwehr) und 61 (Maßregeln der Besserung und Sicherung). Legaldefinitionen im Besonderen Teil finden sich z. B. in § 92 Abs. 1 (Verfassungsgrundsätze) und Abs. 2 (Bestrebungen gegen den Bestand und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland sowie gegen Verfassungsgrundsätze) sowie in § 93 (Staatsgeheimnis) und in § 142 Abs. 4 (Unfallbeteiligter). Auslegungshilfen finden sich z. B. in den §§ 16 und 17 (Tatbestands- und Verbotsirrtum) sowie in den §§ 26 und 27, die jetzt eindeutig klarstellen, daß strafbare Teilnahme nur bei vorsätzlichen Haupttaten möglich ist. Bei allen authentischen Gesetzesinterpretationen und Auslegungshilfen ist allerdings zu beachten, daß das Problem in vielen Fällen nur verschoben wird, da häufig die zur Interpretation verwendeten Merkmale ihrerseits der Auslegung bedürfen (vgl. Maurach-Zipf A T I 124). 4. Der Katalog des § 11 wurde im Laufe der parlamentarischen Beratungen wiederholt geändert. Er ist in seiner jetzigen Fassung wesentlich kleiner als der Katalog des E 1962, der in § 10 neun Personenbegriffe und in § 11 sieben Sachbegriffe enthält. Das 2. StrRG beschränkte sich darauf, in § 11 insgesamt fünf Personen- und Sachbegriffe zusammenzustellen, die dann durch das EGStGB auf den derzeitigen Katalog von insgesamt neun Personen- und Sachbegriffen erweitert wurden. Die wiederholten Änderungen waren
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Zweiter Titel: Sprachgebrauch
§11
überwiegend bedingt durch die jeweiligen Vorstellungen über den Fortschritt bei der Reform des Besonderen Teils. Während der E 1962 noch von einer umfassenden Reform des gesamten Besonderen Teils ausging, das 2. StrRG andererseits nur für einzelne Vorschriften des Besonderen Teils eine Reform vorsah, wurden durch das EGStGB immerhin größere Abschnitte des Besonderen Teils umgestaltet, was zur Folge hatte, daß in Anlehnung an § 10 Nr. 4 - 7 E 1962 - über den Katalog des 2. StrRG hinausgehend - auch die Begriffe Amtsträger, Richter und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter einer Legaldefinition zugeführt werden konnten. Auf die Aufnahme weiterer Begriffe wurde - abweichend vom E 1962 - ersatzlos verzichtet, da sie teils unproblematisch, teils bereits in anderen Gesetzen ausreichend definiert sind. Dies gilt insbesondere für die Begriffe Kind, Jugendlicher, Soldat und Ausländer.
§11
Personen- und Sachbegriffe
(1) Im Sinne dieses Gesetzes ist 1. Angehöriger: wer zu den folgenden Personen gehört: a) Verwandte und Verschwägerte gerader Linie, der Ehegatte, der Verlobte, Geschwister, Ehegatten der Geschwister, Geschwister der Ehegatten, und zwar auch dann, wenn die Beziehung durch eine nichteheliche Geburt vermittelt wird, wenn die Ehe, welche die Beziehung begründet hat, nicht mehr besteht oder wenn die Verwandtschaft oder Schwägerschaft erloschen ist, b) Pflegeeltern und Pflegekinder; 2. Amtsträger: wer nach deutschem Recht a) Beamter oder Richter ist, b) in einem sonstigen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis steht oder c) sonst dazu bestellt ist, bei einer Behörde oder bei einer sonstigen Stelle oder in deren Auftrag Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen; 3. Richter: wer nach deutschem Recht Berufsrichter oder ehrenamtlicher Richter ist; 4. Für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter: wer, ohne Amtsträger zu sein, a) bei einer Behörde oder bei einer sonstigen Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, oder b) bei einem Verband oder sonstigen Zusammenschluß, Betrieb oder Unternehmen, die für eine Behörde oder für eine sonstige Stelle Aufgaben der öffentlichen Verwaltung ausführen, beschäftigt oder für sie tätig und auf die gewissenhafte Erfüllung seiner Obliegenheiten auf Grund eines Gesetzes förmlich verpflichtet ist; 57
§ 11
Erster Abschnitt: Das Strafgesetz
5. rechtswidrige Tat: nur eine solche, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht; 6. Unternehmen einer Tat: deren Versuch und deren Vollendung; 7. Behörde: auch ein Gericht; 8. Maßnahme: jede Maßregel der Besserung und Sicherung, der Verfall, die Einziehung und die Unbrauchbarmachung; 9. Entgelt: jede in einem Vermögensvorteil bestehende Gegenleistung. (2) Vorsätzlich im Sinne dieses Gesetzes ist eine Tat auch dann, wenn sie einen gesetzlichen Tatbestand verwirklicht, der hinsichtlich der Handlung Vorsatz voraussetzt, hinsichtlich einer dadurch verursachten besonderen Folge jedoch Fahrlässigkeit ausreichen läßt. (3) D e n Schriften stehen Ton- und Bildträger, Abbildungen und andere Darstellungen in denjenigen Vorschriften gleich, die auf diesen Absatz verweisen. I. Der in Abs. 1 Nr. 1 in Anlehnung an § 10 Nr. 3 E 1962 definierte Begriff des Angehörigen deckt sich inhaltlich im wesentlichen mit der früheren Rspr. zu § 52 Abs. 2 aF. Die Neufassung stellt klar, daß es zur Begründung verwandtschaftlicher oder schwägerschaftlicher Beziehungen ausschließlich auf die blutsmäßige Abstammung ankommt und bestehende Beziehungen nicht dadurch berührt werden, daß die Ehe, durch die die Beziehungen begründet wurden, nicht mehr besteht. Verwandtschaft und Schwägerschaft können schließlich auch durch Adoption begründet werden (§§ 1741 ff., 1754 BGB). Der Angehörigenbegriff, wie ihn das Gesetz in Abs. 1 Nr. 1 definiert, ist u. a. von Bedeutung für den entschuldigenden Notstand (§ 35), die Nichtanzeige geplanter Verbrechen (§ 139), den Haus- und Familiendiebstahl (§ 247) und die Strafvereitelung (§ 258 Abs. 6). Die Legaldefinition und ihre Auslegung ist dagegen nicht anwendbar auf solche Vorschriften, in denen einzelne Angehörigengruppen besonders aufgeführt werden, z. B. in §§ 77 Abs. 2 (Übergang des Antragsrechts auf Angehörige), 173 (Beischlaf zwischen Verwandten), 174 (sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen), 221 Abs. 2 (Aussetzung eines leiblichen Kindes) und 223 Abs. 2 (Aszendentenkörperverletzung). Da die Angehörigeneigenschaft sich bei den einzelnen Vorschriften unterschiedlich auswirkt, ist eine einheitliche Behandlung der Irrtumsprobleme an dieser Stelle nicht sachdienlich. Die Irrtumsprobleme werden deshalb im Zusammenhang mit der jeweiligen Vorschrift behandelt (vgl. z. B. § 247 Anm. 5, § 258 Anm. VIII 3). 1. Zu den Verwandten gerader, d. h. auf- und absteigender Linie, gehören Eltern, Kinder, Großeltern und Enkelkinder, und zwar auch dann, wenn die Verwandtschaft auf einer nichtehelichen Abstammung oder einer Adoption beruht. Bei ehelichen Kindern begründet auch die sog. Scheinvaterschaft verwandtschaftliche Beziehungen, solange die Ehelichkeit des in der Ehe geborenen Kindes nicht erfolgreich angefochten worden ist (vgl. Eser in Schönke-Schröder Rn. 6). Nicht hierher gehören dagegen Verwandte in der Seitenlinie (Onkel, Tante, Nichte, Neffe, Base und Vetter). 58
Zweiter Titel: Sprachgebrauch
§11
2. Zu den Verschwägerten gerader (auf- und absteigender) Linie gehören insbesondere Schwiegereltern und Schwiegerkinder, aber auch Stiefeltern und Stiefkinder. Unerheblich ist, ob die Ehe, auf der die Schwägerschaft beruht, zur Tatzeit noch besteht. Die schwägerschaftlichen Beziehungen wirken auch dann fort, wenn die sie begründende Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt worden ist. Dies gilt in den Fällen der Auflösung einer Ehe nicht nur bei der Auflösung durch den Tod eines Ehegatten, sondern auch bei der Auflösung durch Scheidung usw. (vgl. Jescheck AT 364). 3. Die Ehegatteneigenschaft wird durch den Abschluß einer formell gültigen Ehe begründet (vgl. RG 60, 248). Unerheblich ist, ob die Ehe anfechtbar oder gar nichtig ist (vgl. RG 56, 427). Die Angehörigeneigenschaft wird auch nicht dadurch berührt, daß die Ehe später für nichtig erklärt, aufgehoben oder geschieden wird (vgl. Eser in Schönke-SchröderRn. 10). 4. Verlobte sind Personen, die sich ein ernstgemeintes, nicht sittenwidriges Eheversprechen gegeben haben (BGH 3, 215). Sittenwidrig und deshalb rechtlich unbeachtlich ist das Eheversprechen insbesondere, wenn einer der Partner noch in einer gültigen Ehe lebt oder anderweitig verlobt ist (vgl. RG 61, 270; 71, 152, 154; Jescheck 364). Unbeachtlich, da nicht ernstgemeint, ist auch das Eheversprechen eines Heiratsschwindlers (BGH 3, 215). Liegt ein beiderseits ernsthaftes, nicht sittenwidriges Verlöbnis vor, so kommt es auf die zivilrechtliche Wirksamkeit im übrigen nicht an. Beachtlich ist deshalb auch ein unter Minderjährigen ohne Einwilligung des gesetzlichen Vertreters geschlossenes Verlöbnis (vgl. RG 38, 242 f.). Das Verlöbnis endet nicht nur durch einverständliche Auflösung, sondern auch durch einseitiges Aufgeben des Heiratswillens, selbst wenn der andere Partner hiervon keine Kenntnis hat (vgl. RG 75, 290; BGH 3, 216; h. L.; a. A. Eser in Schönke-Schröder Rn. 11). 5. Geschwister sind Personen, die mindestens einen Elternteil gemeinsam haben, also auch Halbgeschwister. Zu den Angehörigen gehören weiter die Ehegatten der Geschwister sowie die Geschwister der Ehegatten (Schwäger und Schwägerinnen). So ist A nicht nur ein Angehöriger des Bruders seiner Frau, sondern auch ein Angehöriger der Frau seines Bruders. Der Bruder der Frau und die Frau des Bruders sind dagegen in ihrem Verhältnis untereinander keine Angehörigen (sog. Schwippschwägerschaft). 6. Ob ein Adoptionsverhältnis (jetzt auch in Nr. 1 a enthalten) vorliegt, richtet sich nach §§ 1741 ff. BGB. Mit der Adoption erlangt das Adoptivkind die Stellung eines ehelichen Kindes (§ 1754 BGB). Gleichzeitig erlischt das Verwandtschaftverhältnis zu den bisherigen Angehörigen (§ 1755 BGB). 7. Das Verhältnis der Pflegeeltern zu den Pflegekindern (Nr. 1 b) wird charakterisiert durch die tatsächlichen Beziehungen, die so eng sein müssen, daß sie den Bindungen von Eltern an ihre natürlichen oder angenommenen Kinder gleichwertig erscheinen (vgl. RG 58, 61; h. L.). Das einmal begründete Verhältnis wird nicht allein dadurch aufgelöst, daß das Pflegekind volljährig und selbständig wird, sondern bleibt erhalten, solange die persönlichen Beziehungen fortbestehen. II. Der in Abs. 1 Nr. 2 definierte Begriff des Amtsträgers gilt für den gesamten Bereich des Strafrechts, also nicht nur für die Tatbestände des 28. Abschnitts, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob es sich um sog. echte (eigentliche) oder unechte (uneigentliche) 59
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Erster Abschnitt: Das Strafgesetz
Amtsdelikte handelt. Sachlich stimmt der Begriff des Amtsträgers im wesentlichen mit der Rspr. zum früheren Begriff des Beamten im strafrechtlichen Sinn überein. (Aus der früheren Rspr. zu § 359 aF siehe insbesondere BGH 12, 89 und 25, 204.) Die Einengung des Begriffs, wie sie der E 1962 vorgeschlagen hatte, wurde im EGStGB, auf das die derzeitige Fassung des § 11 zurückgeht, nicht übernommen (zur Begründung siehe S. 208 BT-Drucks. 7/550). 1. Innerhalb der Amtsträger werden folgende Gruppen unterschieden: a) Der in Nr. 2 lit. a) erwähnte Beamte im beamtenrechtlichen Sinn. Beamter in diesem Sinn ist jeder, der nach den Bestimmungen des deutschen Beamtenrechts unter Aushändigung einer Ernennungsurkunde formell in ein öffentliches Amt beim Bund, bei den Ländern, Gebietskörperschaften, Gemeinden, bei Bundesbahn oder Bundespost oder einer sonstigen Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts berufen worden ist, und zwar ohne Rücksicht auf die Art der übertragenen Tätigkeit, sofern diese nicht völlig außerhalb des Aufgabenbereichs der Behörde liegt (vgl. RG 67, 299; 68, 70; h. L.). Die besondere Erwähnung des Richters neben der des Beamten beruht auf dem neuen Sprachgebrauch, wonach Richter nicht mehr zu den Beamten gehören, sondern eine verfassungsrechtlich begründete Sonderstellung einnehmen (vgl. Dt. RichterG v. 8. 9. 1961, BGBl. I 1665). b) In einem sonstigen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis (Nr. 2 b) stehen z. B. Minister (vgl. § 1 BMinG idF der Bekanntmachung v. 27. 7. 1971, BGBl. I 1166), Parlamentarische Staatssekretäre (vgl. § 1 Ges. v. 24. 7. 1974, BGBl. I 1538) und der Wehrbeauftragte des Bundestags (vgl. § 15 Abs. 1 Ges. v. 26. 6. 1957, BGBl. I 652), ferner Notare und Notarassessoren (vgl. § 1 , 7 Abs. 3 S. 1,2 BNotO v. 24. 2. 1961, BGBl. I 98), die mit Ausnahme der württembergischen Bezirksnotare und der badischen Amtsnotare keine Beamten im beamtenrechtlichen Sinn sind. Entgegen der früheren Rspr. zu § 359 aF (vgl. BGH 12, 108) wird man auch Wahlleiter hierher zu rechnen haben (vgl. Dreher 18; Lackner 3 b), desgleichen Funktionsträger der Hochschulselbstverwaltung. Nicht hierher gehören dagegen Soldaten, für die in § 48 WStG eine Sonderregelung getroffen wurde. c) Nr. 2 c erfaßt Personen, die - ohne zu dem in lit. a) und lit. b) angeführten Personenkreis zu gehören - dazu bestellt sind, bei einer Behörde oder bei einer sonstigen Stelle oder in deren Auftrag Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen. aa) Zu den Behörden oder „sonstigen Stellen" gehören alle Dienststellen des Bundes, der Länder und der Gemeinden sowie bei der Bundespost, Bundesbahn und sonstigen Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts, und zwar ohne Rücksicht auf die organisatorische Form. Entscheidend ist allein, daß die Stelle zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben berufen ist. Dies kann z. B. auch bei Vereinigungen, Ausschüssen und Beiräten, die bei Ausführung von Gesetzen mitwirken, der Fall sein (vgl. RegES. 209 BT-Drucks. 7/550 mit Beispielen). bb) Bei einer Behörde oder sonstigen Stelle bestellt ist jeder, der in einem Dienst- oder Auftragsverhältnis für die Behörde oder sonstige Stelle tätig ist. Hierher gehören insbesondere Justiz- und Verwaltungsangestellte (auch Aushilfskräfte) sowie die Angehörigen des freiwilligen Polizeidienstes. Die Art des Anstellungsverhältnisses ist unerheblich. Dieses kann auch privatrechtlicher Natur und nur für vorübergehende Dauer bestimmt sein. Insbesondere ist - anders als in den Fällen des Abs. 1 Nr. 4 - ein besonderer
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(förmlicher) Bestellungs- oder Verpflichtungsakt nicht erforderlich (vgl. RegE S. 209 BT-Drucks. 7/550). cc) Der Begriff Aufgaben der öffentlichen Verwaltung ist weiter als der im E 1962 vorgeschlagene Begriff der „hoheitsrechtlichen Aufgaben der vollziehenden Gewalt". Er umfaßt nicht nur Aufgaben der staatlichen Anordnungs- und Zwangsgewalt, sondern auch die staatlichen Aufgaben im Bereich der sog. Daseinsvorsorge (z. B. im Bereich der Wasser- und Energieversorgung) sowie die erwerbswirtschaftlich-fiskalische Betätigung des Staates und anderer Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts (vgl. RegE S. 208 BT-Drucks. 7/550). Zur öffentlichen Verwaltung in diesem weit zu verstehenden Sinn gehört auch die Rechtspflege, nicht dagegen die Gesetzgebung. Parlamentsabgeordnete scheiden deshalb in Übereinstimmung mit dem früheren Recht (vgl. BGH 5, 105 f.) aus dem Kreis der Amtsträger aus. Dasselbe gilt für die Träger von kirchlichen Ämtern und Ämtern sonstiger Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts, soweit ihnen nicht im Einzelfall Aufgaben der öffentlichen Verwaltung besonders übertragen worden sind. Zu beachten ist allerdings die in einigen Vorschriften enthaltene Gleichstellungsklausel (vgl. z. B. §§ 194 Abs. 3 S. 3, 232 Abs. 2 S. 2, 355 Abs. 2 Nr. 3). Für Soldaten gilt die Sonderregelung des § 48 WStG und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Soldat Geschäfte der Wehrverwaltung führt oder Befehlsbefugnisse ausübt (vgl. RegE S. 209 BT-Drucks. 7/550). dd) Nicht erforderlich ist, daß der Amtsträger Aufgaben von besonderer Bedeutung wahrnimmt. In sachlicher Übereinstimmung mit der früheren Rspr. zu § 359 a. F. werden deshalb auch solche Gruppen erfaßt, die der E 1962 durch die Beschränkung auf Personen, die hoheitliche Aufgaben wahrnehmen, aus dem Begriff des Amtsträgers ausscheiden wollte, z. B. Hundefänger (RG 30, 29), Hijfsbriefträger (RG 51, 65), Gepäckträger auf Bahnsteigen (RG 52, 348) oder Schaffner einer städtischen Straßenbahn (RG 75, 356; BayObLG NJW 1950, 116). Nicht hierher gehört dagegen die Tätigkeit eines Wagenwäschers oder einer Raumpflegerin. 2. Ein Amtsdelikt liegt nur dann vor, wenn der Täter im Zeitpunkt der Tat das Amt bekleidet hat. Scheidet er nach der Tat aus dem öffentlichen Dienst aus, so bleibt die Strafbarkeit hiervon unberührt. Umgekehrt wird die Strafbarkeit grundsätzlich nicht dadurch begründet, daß der Täter nach seinem Ausscheiden eine Tat begeht, die mit seinem früheren Amt in Zusammenhang steht. Unabhängig vom Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst ist die Strafbarkeit jedoch in den Fällen des Geheimnisverrats (vgl. §§ 203 Abs. 2,353 b, 355). a) Bei den sog. echten (eigentlichen) Amtsdelikten wirkt sich die Amtseigenschaft strafbegründend aus. Der Tb. kann also nur von einem Amtsträger verwirklicht werden. Für Teilnehmer, die selbst nicht Amtsträger sind, ist § 28 Abs. 1 zu beachten. Zu den echten Amtsdelikten gehören z. B. die Tatbestände der Vorteilsannahme und Bestechlichkeit (§§ 331, 332), die Rechtsbeugung (§ 336), Aussageerpressung, Verfolgung Unschuldiger und Vollstreckung gegen Unschuldige (§§ 343 bis 345), die Falschbeurkundung im Amt (§ 348), die Verletzung eines Dienstgeheimnisses (§ 353 b), außerdem die Verletzung und Verwertung von Privatgeheimnissen (§§ 203 Abs. 2 Nr. 1, 204), soweit die Tat von Amtsträgem begangen wird. b) Bei den sog. unechten (uneigentlichen) Amtsdelikten, die sich lediglich als qualifizierte Begehungsform eines anderen Tatbestands darstellen, ist die Eigenschaft als Amtsträger nicht strafbegründend, sondern strafschärfend, so daß Teilnehmer, die selbst keine
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Amtsträger sind, gemäß § 28 Abs. 2 nicht aus dem Amtsdelikt, sondern aus dem Grundtatbestand zu bestrafen sind. Hierher gehören z. B. die §§ 120 Abs. 2 (Gefangenenbefreiung im Amt), 133 Abs. 3 (Verwahrungsbruch im Amt), 201 Abs. 3 (Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes durch Amtsträger), 258 a (Strafvereitelung im Amt) sowie 340 (Körperverletzung im Amt). c) Sowohl die echten als auch die unechten Amtsdelikte sind sog. Sonderdelikte, da sie nur von einer bestimmten Tätergruppe, nämlich von Amtsträgern, verwirklicht werden können. Außenstehende kommen nie als Täter (Mittäter, mittelbare Täter), sondern nur als Teilnehmer (Anstifter, Gehilfen) in Betracht, wobei bei den echten Amtsdelikten (lit. a) § 28 Abs. 1, bei den unechten Amtsdelikten (lit. b) § 28 Abs. 2 zu beachten ist. Wird ein unechtes Amtsdelikt von einem Amtsträger und einem Außenstehenden in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken (d. h. in Mittäterschaft) begangen, so ist der Amtsträger aus dem Amtsdelikt, der Außenstehende aus dem Grundtatbestand zu bestrafen (§ 28 Abs. 2). 3. Ein Irrtum über die Amtseigenschaft läßt nach § 16 den Vorsatz entfallen. Bei den unechten Amtsdelikten (s. o. 2 b) kommt in diesen Fällen Bestrafung aus dem Grundtatbestand in Betracht. Irrige Annahme von objektiv nicht gegebenen Tatumständen, bei deren Vorliegen der Täter als Amtsträger anzusehen wäre, begründet Versuch (sog. Versuch des untauglichen Subjekts, vgl. § 23 Anm. 3 d). Dagegen liegt ein (strafloses) Wahndelikt vor, wenn der Täter in Kenntnis aller tatbestandserheblichen Umstände lediglich eine falsche Wertung vornimmt. III. Der in Abs. 1 Nr. 3 definierte Begriff des Richters bezieht sich auf alle Träger der rechtsprechenden Gewalt i. S. der Art. 92,97 GG, nämlich 1. auf Berufsrichter, d. h. auf alle Personen, die nach Bundes- oder Landesrecht durch eine Ernennungsurkunde in ein Richteramt berufen (und damit gleichzeitig auch Amtsträger i. S. der Nr. 2 a) sind, außerdem 2. auf alle ehrenamtlichen Richter (sog. Laienrichter), und zwar ohne Rücksicht auf die Art der Gerichtsbarkeit. Hierher gehören gemäß §§ 44, 45, 45 a DRiG alle ehrenamtlich tätigen Richter im Bereich der Strafgerichtsbarkeit (die Schöffen bei den Schöffengerichten, der Strafkammer und dem Schwurgericht), im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit (die Handelsrichter bei den Kammern für Handelssachen) sowie die ehrenamtlichen Beisitzer im Bereich der Verwaltungs-, Finanz-, Arbeits-, Sozial- und Militärgerichtsbarkeit, femer die Mitglieder der Ehrengerichtshöfe für Rechtsanwälte und die Beisitzer bei den Disziplinargerichten. Nicht hierher gehören jedoch (insoweit abweichend von § 10 Nr. 5 und 6 E 1962) die nach dem RechtspflegerG mit richterlichen Aufgaben betrauten Rechtspfleger und die Schiedsrichter nach der ZPO. Wegen der Behandlung etwaiger Teilnahme- und Irrtumsprobleme s. o. II 2, 3. IV. Der in Abs. 1 Nr. 4 festgelegte Begriff des für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten ist gegenüber dem früheren Recht neu. Er begegnet im Besonderen Teil in den §§ 97 b Abs. 2 S. 2, 120 Abs. 2,133 Abs. 3, 194 Abs. 3,201 Abs. 3, 203 Abs. 2, 232 Abs. 2,331-334, 353 b und 355 Abs. 2Nr. 1. Im einzelnen: 1. Der in Nr. 4 a erfaßte Personenkreis ist im wesentlichen identisch mit dem Personenkreis der ehemaligen BestechVO aus dem Jahre 1943, die durch Art. 287 Nr. 3 EGStGB
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aufgehoben wurde. Da die für den öffentlichen Dienst Verpflichteten den in Nr. 2 erfaßten Amtsträgern gegenübergestellt werden, scheiden alle Amtsträger, d. h. alle Beamten und alle mit der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben betrauten Personen, aus dem Personenkreis der Nr. 4 aus. In Betracht kommen nur Personen, die bei einer mit der Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung betrauten Behörde usw. (s. o. II 1 c, aa) oder für sie tätig sind, ohne jedoch selbst öffentliche Aufgaben wahrzunehmen, z. B. Schreibkräfte, Bürokräfte, Boten, Raumpflegerinnen, Kraftfahrer oder Wagenwäscher, aber auch Dolmetscher und Sachverständige. 2. Nach Nr. 4 b sind den Behörden und sonstigen Stellen gleichgestellt Verbände und sonstige Zusammenschlüsse, Betriebe oder Unternehmen, die für eine Behörde oder Stelle Aufgaben der öffentlichen Verwaltung ausführen. a) Verband ist der Zusammenschluß von natürlichen oder juristischen Personen oder Vereinigungen zur Förderung gemeinsamer Interessen, insbesondere wirtschaftlicher, sozialer, kultureller oder politischer Art (vgl. RegE S. 211 BT-Drucks. 7/550 im Anschluß an Creifelds, Rechtswörterbuch, 2. Aufl. S. 1129). Der Begriff sonstiger Zusammenschluß ist im weitesten Sinn zu verstehen. Er umfaßt z. B. Beiräte und Ausschüsse (RegE aaO.). b) Über Betrieb und Unternehmen siehe § 14 Anm. III 2 a. c) Uber Aufgaben der öffentlichen Verwaltung s. o. II 1 c, cc. Erfaßt werden nur die Fälle, in denen der Verband usw. gleichsam als verlängerter Arm der öffentlichen Verwaltung tätig wird (vgl. RegE S. 211 BT-Drucks. 7/550). Nicht hierher gehören jedoch die Fälle, in denen ein Verband usw. mit Tätigkeiten beauftragt wird, die nur der Vorbereitung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung dienen, z. B. der Beschaffung von Sachmitteln (RegE aaO.). 3. Beschäftigt „bei" einer Behörde usw. (s. o. 1, 2) ist, wer in einem Dauerverhältnis zu ihr steht; „für" sie tätig ist, wer aufgrund eines Sonderauftrags vorübergehend herangezogen wird, z. B. als Gutachter oder Mitglied eines beratenden Ausschusses (vgl. RegE S. 210 BT-Drucks. 7/550 m. Nachw.). 4. Sowohl bei Nr. 4 a als auch bei Nr. 4 b werden nur solche Personen erfaßt, die aufgrund des durch Art. 42 EGStGB neu geschaffenen Gesetzes über die förmliche Verpflichtung nichtbeamteter Personen (sog. VerpflichtungsG v. 2.3.1974, BGBl. 1469,549) förmlich verpflichtet worden sind. Diese förmliche Verpflichtung kommt nicht nur bei Personen in Betracht, die besondere (herausgehobene) Funktionen ausüben. Sie ist vielmehr bei allen Personen angebracht, bei denen die Möglichkeit eines Geheimnisverrats oder einer Bestechlichkeit nicht auszuschließen ist (vgl. RegE S. 211 BT-Drucks. 7/550). Hierher gehören z. B. Schreibkräfte und Boten, aber auch Raumpflegerinnen, die Zugang zu vertraulich zu behandelnden Akten haben, oder Kraftfahrer, die wichtige Gespräche mitanhören. Die öffentlich bestellten, freiberuflich tätigen Sachverständigen nach § 36 GewO sind nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 VerpflichtungsG zwar generell förmlich zu verpflichten und können nach ihrer Verpflichtung stets taugliche Täter eines Vergehens gemäß § 203 Abs. 2 Nr. 5 (Verletzung von Privatgeheimnissen) sein; unter § 11 Nr. 4 a oder 4 b fallen sie jedoch nur, wenn sie nicht nur gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 3 VerpflichtungsG, sondern zusätzlich gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 VerpflichtungsG für den öffentlichen Dienst förmlich verpflichtet sind und ihre Tätigkeit den Aufgaben der öffentlichen Verwaltung einer 63
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Erster Abschnitt: Das Strafgesetz
Behörde usw. dient, z. B. wenn ein Kfz-Sachverständiger von der Staatsanwaltschaft oder einem Gericht herangezogen wird, nicht dagegen, wenn er für einen Privatmann ein Schadensgutachten zwecks Vorlage bei einer Versicherungsgesellschaft erstattet. Die Zuständigkeit für die Verpflichtung ergibt sich aus den einschlägigen landesrechtlichen Bestimmungen (vgl. z. B. für Bad.-Wttbg VO v. 18. 3. 1975 [Ges.Bl. S. 284] und die AV des JM v. 22. 9. 1975 [Justiz 1975, 422]). V. Abs. 1 Nr. 5 enthält - abweichend von § 11 Abs. 1 Nr. 2 E 1962 - keine Legaldefinition i. e. S., sondern stellt lediglich klar, daß rechtswidrige Handlungen, die keinen Straftatbestand verwirklichen, durch den Begriff der rechtswidrigen Tat nicht erfaßt werden (vgl. RegE S. 191, 211 BT-Drucks. 7/550; Göhler NJW 1974, 825). Der Begriff, derz. B. in den §§ 12, 26, 27, 35, 63-65, 69, 70, 73, 74, 74 d, 111, 140, 145 d, 164,257,258,259, 330 a und 357 verwendet wird, setzt somit voraus, daß eine Handlung vorliegt, die alle objektiven und subjektiven Merkmale eines Straftatbestands verwirklicht, ohne daß der Täter sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann. Von der Begriffsumschreibung nicht erfaßt wird dagegen die Entscheidung der Frage, welche Elemente zum Tatbestand gehören, insbesondere ob der Vorsatz zum Tatbestand oder zur Schuld gehört. (Wegen der Gründe, die dazu geführt haben, von einer weitergehenden Definition der „rechtswidrigen Tat" Abstand zu nehmen, siehe Prot. V S. 237 f., 2442; Stratenwerth ZStW 76, 669 m. weit. Nachw.) Über die Aufgabe der gesetzlichen Tatbestände siehe A I 3, B V vor § 1, über den Begriff der Handlung B III vor § 1. VI. Der in Abs. 1 Nr. 6 definierte Begriff des Unternehmens stimmt mit dem früheren § 46 a idF des 8. StrÄndG überein, der seinerseits auf § 87 idF des StrÄndG v. 30. 8. 1951 zurückging. Aus dem Schrifttum siehe Burkhardt, Das Unternehmensdelikt und seine Grenzen, JZ 1971, 352; Schröder, Die Unternehmensdelikte, Kern-Festschr. S. 457). 1. Anliegen der Vorschrift ist es, in bestimmten Fällen den Versuch der Vollendung gleichzustellen und dadurch die Möglichkeit einer Strafmilderung nach § 23 Abs. 2 auszuschließen. Auch Rücktritt und tätige Reue führen nur dort zur Straflosigkeit, wo das Gesetz dies im Einzelfall ausdrücklich vorsieht, z. B. bei § 83 a für die §§ 81, 82. Die allgemeine Regelung des § 24 findet jedoch keine Anwendung. 2. Als echte Unternehmensdelikte werden die Tatbestände bezeichnet, in denen das Gesetz den Begriff „Unternehmen" unmittelbar verwendet. Hierher gehören z. B. die §§ 81,184 Abs. 1 Nr. 4, 310 b, 311 a, 316 c Abs. 1 Nr. 2 und 357. 3. Als sog. unechte Unternehmensdelikte werden demgegenüber solche Tatbestände bezeichnet, in denen eine Tätigkeit mit einer bestimmten Zweckrichtung unter Strafe gestellt wird, ohne daß es für die Tatbestandsverwirklichung darauf ankommt, daß der Täter den erstrebten Zweck erreicht. Hierher gehören z. B. die §§ 113, 121 Abs. 1 Nr. 1, 164, 257,292 f. und 316 c Abs. 1 Nr. 1. 4. Der sog. untaugliche Versuch (siehe hierzu § 23 Anm. 3) steht den sonstigen Erscheinungsformen des Versuchs grundsätzlich gleich. Dies gilt sowohl für die echten als auch für die unechten Unternehmensdelikte. Eine nach § 257 strafbare Begünstigung liegt deshalb auch dann vor, wenn die dem Vortäter zur Sicherung der Tatvorteile geleistete Hilfe objektiv gar nicht geeignet ist, den angestrebten Erfolg zu erreichen, z. B. weil das 64
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Haus, in dem die Beute versteckt wird, bereits von starken Polizeieinheiten umstellt ist (vgl. § 257 Anm. 6). Entsprechendes gilt für § 292: Vollendete Jagdwilderei in der Form des dem Wilde Nachstellens liegt unabhängig davon vor, ob der Täter nach seinem Eindringen in fremdes Jagdgebiet bei der Verfolgung eines Stücks Wild vom Jagdberechtigten festgenommen wird, ob er scheitert, weil seine Waffe versagt, oder ob er in Unkenntnis der tatsächlichen Umstände ein Tier verfolgt, das gerade aus einem Privatgehege entflohen ist und deshalb aus Rechtsgründen kein „Wild" ist (vgl. § 292 Anm. 7 a mitNachw.). VII. Abs. 1 Nr. 7 will nicht den Begriff Behörde definieren, sondern nur klarstellen, daß der Begriff dort, wo er im Strafgesetzbuch verwendet wird (vgl. z. B. §§ 11 Abs. 1 Nr. 2, 138, 145 d, 156, 164, 194, 277-279), auch die Gerichte und ihre Spruchkörper mit umfaßt (vgl. Ber. S. 7 BT-Drucks. V/409'5). Unabhängig von dieser den Sprachgebrauch regelnden Klarstellung gilt als Behörde ein ständiges, vom Wechsel der Personen unabhängiges Organ der Staatsgewalt, das dazu berufen ist, unter öffentlicher Autorität für staatliche Zwecke tätig zu sein (st. Rspr. sowie h. L., vgl. RG 8, 5; 18, 246; 33, 383; 54, 150; BGH NJW 1957, 1673; MDR 1964, 68 f.; Ffm NJW 1964, 1682; Frank § 114 Anm. II; Herdegen LK § 164 Rn. 20; Lackner 8; Eser in Schönke-Schröder 71). In Betracht kommen Dienststellen des Bundes, der Länder, Gemeinden und Gebietskörperschaften, außerdem Dienststellen der Bundespost, Bundesbahn sowie sonstiger Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts. In der Rspr. wurde die Behördeneigenschaft z. B. bejaht für Gemeindedienststellen (RG 40, 161; Ffm NJW 1964, 1682), Industrie- und Handelskammern (RG 52, 198), Handwerkskammern (LG Tübingen MDR 1960, 780), Rechtsanwaltskammern und Ehrengerichte der Rechtsanwälte (RG 47, 394; JW 1936, 1604 Nr. 10), Fakultäten einer Universität (RG 17, 208; 75; 112), Strafvollzugsanstalten (BGH GA 1968, 84) sowie für Kreis- und Stadtsparkassen (RG 6, 247; 39, 391). Nicht hierher gehören dagegen kirchliche Institutionen (RG 47, 49), außerdem solche öffentlich-rechtliche Körperschaften, die nicht für Zwecke des Staates, sondern für ihre eigenen Zwecke (Betreuung ihrer Mitglieder) tätig sind, z. B. Ortskrankenkassen, Berufsgenossenschaften und Knappschaften (vgl. BGH NJW 1957, 1673;Dreher35; HerdegenLK§ 164Rn. 21;str.). VIII. Der in Abs. 1 Nr. 8 festgelegte Begriff der Maßnahme wird z. B. in den §§ 52 Abs. 4, 55 Abs. 2, 78 Abs. 1, 258, 258 a, 344, 345 Abs. 3 verwendet. Über die Maßregeln der Besserung und Sicherung siehe §§ 61-72, über Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung §§ 73-76 a. IX. Abs. 1 Nr. 9 stellt klar, daß als Entgelt nur solche Vorteile anzusehen sind, denen ein Vermögenswert zukommt. Der Begriff wird z. B. in den §§ 180 Abs. 2, 184 Abs. 1 Nr. 7, 203 Abs. 5 und 265 a verwendet. Vermögensvorteil ist jede Leistung, die wirtschaftlichen Wert hat. Hierher gehören nicht nur Geld- und Sachzuwendungen, sondern z. B. auch Urlaubsreisen. Nicht ausreichend sind immaterielle Vorteile. X. § 11 Abs. 2 will nicht den Begriff Vorsatz definieren, sondern bringt lediglich eine Regelung des Sprachgebrauchs, die sich hauptsächlich auf dem Gebiet der Teilnahme auswirkt (strafbare Anstiftung oder Beihilfe nur bei Mitwirkung an einer vorsätzlichen Tat möglich, vgl. §§ 26, 27). Auch für die Voraussetzungen des Rückfalls (§ 48), der Unterbringung nach § 66 (Sicherungsverwahrung) und der Einziehung (§ 74) ist der Begriff der vorsätzlichen Straftat von wesentlicher Bedeutung. 3
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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1. Zu den Tatbeständen, die hinsichtlich der Handlung Vorsatz voraussetzen, hinsichtlich einer dadurch verursachten „besonderen Folge" jedoch Fahrlässigkeit ausreichen lassen, gehören vor allem die sog. erfolgsqualifizierten Delikte, z. B. die §§ 221 Abs. 3, 224, 226, 229 Abs. 2, 239 Abs. 2 und 3, 239 a Abs. 2, 251, 316 c Abs. 2 (Einzelheiten siehe § 18 nebst Anm.). 2. Zu den Vorsatztaten i. S. der Vorschrift gehören ferner die aus einer Vorsatz-Fahrlässigkeitskombination bestehenden Mischtatbestände, bei denen sich aus einer vorsätzlich vorgenommenen rechtswidrigen „Kernhandlung" eine besondere Folge ergibt, hinsichtlich deren Fahrlässigkeit genügt. Die „besondere Folge" besteht bei diesen Mischtatbeständen in der Regel im Eintritt einer bestimmten, konkreten Gefahr. Der Unterschied gegenüber den erfolgsqualifizierten Tatbeständen liegt darin, daß bei den Mischtatbeständen die „Kernhandlung" für sich allein noch nicht tatbestandsmäßig ist der Tb. vielmehr erst durch den Eintritt der „besonderen Folge" verwirklicht wird, während die erfolgsqualifizierten Delikte auf einer Grundhandlung aufbauen, die bereits ohne Eintritt der „besonderen Folge" tatbestandsmäßig ist. Im Ergebnis sind die Mischtatbestände jedoch ungeachtet des aufgezeigten strukturellen Unterschieds hinsichtlich der Teilnahme genauso zu behandeln wie die erfolgsqualifizierten Delikte (vgl. Janiszewski MDR 1967, 229; Lackner 11 sowie § 315 c Anm. 6 b; Rüth LK § 315 c Rn. 66). Zu den Mischtatbeständen in diesem Sinn gehören insbesondere die §§ 97, 310 b Abs. 2, 311 Abs. 4, 315 Abs. 4, 315 a Abs. 3 Nr. 1, 315 b Abs. 4 und 315 c Abs. 3 Nr. 1. Wegen der Auswirkungen auf die Teilnahme siehe auch § 315 c Anm. VII. XI. Die Gleichstellungsklausel des § 11 Abs. 3 ermöglicht es, die Fassung aller Vorschriften, die sowohl für Schriften als auch für Ton- und Bildträger, Abbildungen und andere Darstellungen Bedeutung haben, sprachlich zu vereinfachen, indem der Begriff Schrift jeweils als „pars pro toto" verwendet und dadurch eine Aufzählung der sonstigen Darstellungen vermieden wird. Die Gleichstellungsklausel erstreckt sich nur auf solche Vorschriften, die auf sie verweisen (vgl. z. B. §§ 74 d, 86 Abs. 2, 86 a Abs. 1, 90 Abs. 1, 90 a Abs. 1,111, 131,184 Abs. 1 und 200 Abs. 1). 1. Schriften sind verkörperte Gedankenerklärungen, die in der Form von Buchstaben, Bildern oder anderen stofflichen Zeichen durch Augen oder Tastsinn wahrnehmbar sind (vgl. RG 47, 224; BGH 13, 276; h. L.). Allgemeine Verständlichkeit ist nicht erforderlich; es genügt, daß die Schrift von Eingeweihten wahrgenommen und verstanden werden kann (wichtig z. B. für Geheim-, Kurz-, Bilder- oder Blindenschrift). 2. Tonträger sind Gegenstände, die es ermöglichen, technisch gespeicherte Tonfolgen so wiederzugeben, daß sie akustisch wahrnehmbar sind. Hierher gehören insbesondere phonographische Walzen, Tonbänder und Schallplatten (vgl. RG 47, 223, 406; Ddf NJW 1967,1142). 3. Bildträger sind Gegenstände, die in der Lage sind, technisch gespeicherte Bilder und Bilderfolgen so wiederzugeben, daß sie visuell wahrnehmbar sind. Hierher gehören z. B. Magnetbänder für sog. Video-Recorder, nicht dagegen Bildbände, Filme und Fotos, die unter den Begriff Abbildung fallen. 4. Abbildung ist die durch Augen oder Tastsinn wahrnehmbare Wiedergabe der Umwelt, z. B. in der Form von Gemälden, Skizzen, Fotos, Filmen und Dias.
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5. Andere Darstellungen sind solche, die nicht schon unter Nr. 1 - 4 fallen, z. B . abstrakte Bilder, Plastiken und Handstickereien (vgl. Schäfer L K 14 zu § 41 aF).
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V e r b r e c h e n und V e r g e h e n
( 1 ) V e r b r e c h e n sind rechtswidrige T a t e n , die im M i n d e s t m a ß mit Freiheitsstrafe v o n e i n e m J a h r o d e r d a r ü b e r b e d r o h t sind. ( 2 ) V e r g e h e n sind rechtswidrige T a t e n , die im M i n d e s t m a ß mit einer geringer e n Freiheitsstrafe o d e r die mit Geldstrafe b e d r o h t sind. ( 3 ) Schärfungen o d e r Milderungen, die nach d e n V o r s c h r i f t e n des A l l g e m e i n e n Teils o d e r für b e s o n d e r s s c h w e r e o d e r m i n d e r schwere F ä l l e v o r g e s e h e n sind, bleiben für die Einteilung a u ß e r B e t r a c h t . 1. Durch den Wegfall der Übertretungen, die durch das 2. S t r R G und das E G S t G B teils ersatzlos gestrichen, teils zu Ordnungswidrigkeiten umgewandelt, teils zu Vergehen aufgewertet wurden, ist aus der früheren Dreiteilung der Straftaten (sog. Trichotomie) eine Zweiteilung der rechtswidrigen Taten geworden. Diese richtet sich nach dem Grad ihrer Schwere und ist u. a. von Bedeutung: a) für die Strafbarkeit des Versuchs (nur strafbar bei Verbrechen und solchen Vergehen, bei denen das Gesetz dies ausdrücklich bestimmt, vgl. § 2 3 Abs. 1), b) für die Strafbarkeit der versuchten Anstiftung und den in § 30 Abs. 2 unter Strafe gestellten Formen der versuchten Beteiligung (nur strafbar bei Verbrechen), c) für den Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts (vgl. § 45 Abs. 1), d) für den Tatbestand der Bedrohung (vgl. § 241), e) für die Einstellung des Verfahrens bei geringer Schuld und mangelndem öffentlichen Interesse an der Verfolgung (nur möglich bei Vergehen, §§ 1 5 3 , 1 5 3 a S t P O ) . Nicht mehr von Bedeutung ist die Unterscheidung für die Verfolgungsverjährung, da diese sich seit Inkrafttreten des 2. S t r R G nach anderen Kriterien richtet (vgl. § 78). 2. Ob eine rechtswidrige Tat (siehe hierzu § 11 Abs. 1 Nr. 5) sich als Verbrechen oder Vergehen darstellt, richtet sich seit der Einführung der einheitlichen Freiheitsstrafe durch das 1. S t r R G nicht mehr nach der Art, sondern nach dem Mindestmaß der angedrohten Freiheitsstrafe (vgl. Abs. 1 und 2). Entscheidend ist dabei nicht die im Einzelfall verwirkte, sondern die allgemein angedrohte Strafe (sog. abstrakte Betrachtungsweise). a) Abs. 3 stellt klar, daß Schärfungen und Milderungen nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils, z. B. die Strafschärfung für den Rückfall (§ 4 8 ) oder die Möglichkeit der Strafmilderung beim Verbotsirrtum (§ 17), bei verminderter Schuldfähigkeit (§ 21), bei Versuch (§ 23 Abs. 2), Beihilfe (§ 27 Abs. 2) und versuchter Anstiftung (§ 3 0 Abs. 1) sowie in den Fällen der §§ 28 Abs. 1 (Fehlen besonderer persönlicher Merkmale, die nur beim Täter, nicht auch beim Teilnehmer vorliegen) und § 35 Abs. 2 (irrige Annahme 3»
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Erster Abschnitt: Das Strafgesetz
einer schuldausschließenden Notstandssituation), für die Einteilung der Straftaten ohne Bedeutung sind. Dasselbe gilt für die im Besonderen Teil im Rahmen der einzelnen Tatbestände näher bezeichneten besonders schweren oder minder schweren Fälle, durch die der Regelstrafrahmen erweitert oder eingeschränkt wird. So bleibt ein Totschlag auch dann ein Verbrechen, wenn das Gericht einen minder schweren Fall i. S. des § 213 annimmt. Umgekehrt wird der sexuelle Mißbrauch eines Kindes nicht dadurch zum Verbrechen, daß ein besonders schwerer Fall i. S. von § 176 Abs. 3 vorliegt. b) Die Einordnung einer Tat als Verbrechen oder Vergehen wird nur durch die sog. benannten Strafänderungsgründe (Strafschärfungs- oder Strafmilderungsgründe) beeinflußt. „Benannt" ist ein Strafänderungsgrund, wenn der jeweilige Grundtatbestand durch Hinzufügen weiterer Tatbestandsmerkmale abgewandelt wird und durch diese Abwandlung ein neuer - straferschwerender oder strafmildernder - Tatbestand entsteht. So wird z. B. der sexuelle Mißbrauch von Kindern (§ 176 Abs. 1) dadurch zum Verbrechen, daß der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Kindes verursacht (§176 Abs. 4). Umgekehrt wird der Totschlag zum Vergehen, wenn der Täter durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden ist (§ 216).
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Zweiter Abschnitt: Die Tat Erster Titel: Grundlagen der Strafbarkeit § 13
Begehen durch Unterlassen
(1) Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. (2) Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. I. Erklärtes Anliegen der Vorschrift ist es, die früher nur gewohnheitsrechtlich entwickelte Strafbarkeit der sog. unechten Unterlassungsdelikte auf eine festere Rechtsgrundlage zu stellen und dadurch die sich aus Art. 103 Abs. 2 G G ergebenden verfassungsrechtlichen Bedenken auszuräumen (vgl. Begr. zu § 13 E 1962; Ber. S. 8 BT-Drucks. V/4095). Sachlich ergeben sich gegenüber der früheren Rechtslage nach bisher h. A. keine wesentlichen Unterschiede. § 13 stellt klar, daß die Nichtabwendung eines bestimmten, von der Rechtsordnung mißbilligten Erfolgs nur dann strafrechtlich relevant, d. h. tatbestandsmäßig ist, wenn der Unterlassende rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt. Dies bedeutet, daß der Unterlassende Garant für die Abwendung des drohenden Erfolgs sein muß. Auf eine gesetzliche Festlegung der Kriterien, aus denen sich im einzelnen die zur Tatbestandsverwirklichung erforderliche Garantenstellung ergibt, wurde allerdings in Anlehnung a n § 1 3 E 1962 (jedoch abweichend von der in § 12 A E vorgeschlagenen Regelung) bewußt verzichtet, um die z. Z. noch anhaltende Diskussion in der Rechtslehre nicht vorzeitig abzuschneiden (vgl. Ber. aaO.). Damit bleiben die Entstehungsgründe der Garantenpflicht wie früher der gewohnheitsrechtlichen Festlegung vorbehalten. Diese auf halbem Weg stehen gebliebene Regelung mag zwar als unbefriedigend empfunden werden, dürfte aber den vom BVerfG in vergleichbaren Fällen gestellten Anforderungen an die Bestimmtheit eines Gesetzes gerade noch entsprechen (vgl. Roxin, JuS 1973, 198 f.). Wegen der Garantenstellung im einzelnen s. u. III 3, 4. Gewisse Schwierigkeiten bereitet die sog. Gleichwertigkeits- oder Entsprechungsklausel, die nach bisher h. A. keine sachliche Änderung gegenüber der früheren Behandlung der unechten Unterlassungsdelikte darstellt (Einzelheiten s. u. III 6). Die in Abs. 2 eingeräumte Möglichkeit der Strafmilderung berücksichtigt, daß der Schuldgehalt der pflichtwidrigen Unterlassung in der Regel geringer ist als bei einer Tatbestandsverwirklichung durch positives (aktives) Tun. Schrifttum: Androulakis, Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963; - Blei, Garantenpflichtbegründung bei unechten Unterlassungsdelikten, MayerFestschr. S. 119; - v. Bubnoff, Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffs usw., 1966; - Busse, Täterschaft und Teilnahme bei Unterlassungsdelikten, Diss. Göttingen 1974; - Engisch, Tun und Unterlassen, Gallas-Festschr. S. 163; - Grünwald, Zur gesetzlichen Regelung der unechten Unterlassungsdelikte, ZStW 70, 412; - Haffke,
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
Unterlassung der Unterlassung?, ZStW 87, 44; - Herzberg, Die Kausalität beim unechten Unterlassungsdelikt, M D R 1971, 881; - ders., Der Versuch beim unechten Unterlassungsdelikt, M D R 1973, 89; - ders., Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantieprinzip, 1972; - Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959; - Meister, Echtes und unechtes Unterlassungsdelikt, M D R 1953, 649; - Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte im Hinblick auf den Grundsatz „nullum crimen sine lege", 1972; - Otto, Vorausgegangenes Tun als Grundlage strafrechtlicher Haftung, NJW 1974, 528; - Roxin, A n der Grenze von Begehung und Unterlassung, Engisch-Festschr. S. 380; - ders., Unterlassung, Vorsatz usw. im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1973, 197; - Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1966; - Samson, Begehung und Unterlassung, WelzelFestschr. S. 579; - Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz, 1974; ders., Unterlassungsbegriff und Fahrlässigkeit, J Z 1977, 150; - Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971; - Spendel, Zur Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, J Z 1973, 137; - Stree, Garantenstellung kraft Übernahme, Mayer-Festschr. S. 155; - Vogler, Zur Bedeutung des § 28 StGB für die Teilnahme am unechten Unterlassungsdelikt, Lange-Festschr. S. 265; - Welp, Vorausgegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968; E. A. Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965. II. Einteilung und Abgrenzung 1. Wie bereits in Abschn. B 2 vor § 1 angedeutet, können die strafbaren Handlungen in Begehungs- und Unterlassungsdelikte eingeteilt werden. Innerhalb der Unterlassungsdelikte wiederum sind die echten und die unechten Unterlassungsdelikte zu unterscheiden. Im einzelnen: a) Bei den Begehungsdelikten verstößt der Täter gegen eine Verbotsnorm, und zwar in der Regel durch sog. positives (aktives) Tun. Diese Fälle überwiegen, da die weitaus meisten Tatbestände Verbotsnormen typisieren und der Täter üblicherweise den Normverstoß durch positives Tun begeht. Beispiel: A begeht dadurch einen Totschlag, daß er X mit Tötungsvorsatz niederschlägt. b) Bei den sog. echten Unterlassungsdelikten verstößt der Täter gegen eine Gebotsnorm. E r bleibt untätig, obwohl das Gesetz von ihm ein Tätigwerden verlangt. Unerheblich ist, ob aufgrund der gebotswidrigen Untätigkeit ein von der Rechtsordnung mißbilligter Erfolg eintritt. Der Unrechtsgehalt des echten Unterlassungsdelikts erschöpft sich vielmehr im bloßen Unterlassen der gebotenen Tätigkeit (vgl. B G H 14, 280 f.; Jescheck A T 458; Wessels A T 129). Die echten Unterlassungsdelikte sind damit das Gegenstück zu den reinen Tätigkeitsdelikten (s. o. B I 4 vor § 1). Die in der Praxis wichtigsten echten Unterlassungsdelikte finden sich in § 138 (Nichtanzeige geplanter Verbrechen) und § 330 c (unterlassene Hilfeleistung). Siehe außerdem § 84 G m b H G (Unterlassung der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Konkurs- oder Vergleichsverfahrens) und § 111 OWiG (Verweigerung der Namensangabe usw., abgedruckt in Anh. 2). c) Die unechten Unterlassungsdelikte sind demgegenüber lediglich eine besondere Erscheinungsform der Erfolgsdelikte, d. h. solcher Begehungsdelikte, die zu ihrer Verwirklichung als Folge der tatbestandsmäßigen Handlung den Eintritt eines bestimmten, von der Rechtsordnung mißbilligten Erfolgs voraussetzen. Ihre Besonderheit besteht darin, daß der tatbestandsmäßige Erfolg nicht durch positives (aktives) Tun, sondern
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durch pflichtwidriges Unterlassen bewirkt wird. Beispiel: Eine Mutter tötet ihr Kleinkind dadurch, daß sie ihm pflichtwidrig keine Nahrung zukommen läßt. Sie verstößt damit gegen die in § 212 mit einer Strafdrohung verbundene Verbotsnorm „Du sollst nicht töten". Grundsätzlich können alle Erfolgsdelikte durch pflichtwidriges Unterlassen verwirklicht werden. Bei Tätigkeitsdelikten, bei denen sich der Unrechtsgehalt der Tat bereits durch die Vornahme einer bestimmten, von der Rechtsordnung mißbilligten Handlung erschöpft, ist eine Begehung durch pflichtwidriges Unterlassen dagegen nur ausnahmsweise möglich (vgl. Maurach A T 597). So kann z. B. Wilderei in der Form des demWilde-Nachstellens nicht durch Unterlassen begangen werden. Dasselbe gilt für die Bigamie (§ 171). Auch Meineid kann nicht durch Unterlassen begangen werden. Wer z. B. eine unvollständige (und deshalb falsche) Aussage auf seinen Eid nimmt, begeht einen Meineid durch positives Tun (möglich ist jedoch Beihilfe zum Meineid durch pflichtwidriges Unterlassen, vgl. § 154 Anm. 4). Andererseits ist entgegen einer im Schrifttum vertretenen Mindermeinung (vgl. z. B. Bockelmann A T 128) strafbares pflichtwidriges Unterlassen auch bei solchen Delikten denkbar, die nicht den Eintritt eines bestimmten Erfolgs voraussetzen. So liegt z. B. strafbarer Inzest (§ 173) auch dann vor, wenn ein Mädchen ohne Entfaltung eigener Aktivität lediglich duldet, daß Vater oder Brüder mit ihm den Beischlaf vollziehen (vgl. Maurach A T 597). 2. O b sich ein Verhalten als positives (aktives) Tun oder Unterlassen darstellt, richtet sich nach h. A. nicht nach den sichtbar gewordenen Körperbewegungen, sondern nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ( B G H 6, 59; Blei A T 274; Maurach A T 582; Stree in Schönke-Schröder 158 vor § 13; Wessels A T 131; a. A. Bockelmann A T 142; Jescheck A T 456 f. mit Nachw.). Es empfiehlt sich daher, in jedem Einzelfall die Frage aufzuwerfen: „Was ist dem Beschuldigten vorzuwerfen? Was hat er im Rahmen seines sozialen Pflichtenkreises falsch gemacht?" So macht es z. B. keinen Unterschied, ob ein Arzt in der sicheren und sachlich begründeten Überzeugung, das Leben eines Patienten P nicht mehr retten zu können, die Herz-Lungen-Maschine abschaltet oder sie erst gar nicht einschaltet. In beiden Fällen stellt sich das Verhalten des Arztes seinem sozialen Sinn nach als (nicht pflichtwidriges) Unterlassen dar; es wäre verfehlt, dem Arzt vorzuwerfen, er habe im ersten Fall durch Abschalten der Maschine den P durch positives Tun getötet. Ebenso macht es keinen Unterschied, ob A dem Schiffbrüchigen X einen Rettungsring zuwirft, aber wieder zurückzieht, bevor X den Ring erreichen kann, oder ob A überhaupt nichts unternimmt, um X zu retten. In beiden Fällen stellt sich das Verhalten des A als Nichtabwenden eines drohenden Erfolgs, somit als Unterlassen dar. Anders zu beurteilen sind die beiden zuletzt erörterten Beispiele nur, wenn der Täter durch seine eigene Rettungshandlung dem gefährdeten Objekt bereits eine realisierbare, effektive Rettungsmöglichkeit eröffnet hatte, d. h. wenn der Patient P bei fortdauernder Funktion der HerzLungen-Maschine hätte gerettet werden können bzw. wenn im letzten Beispiel X den rettenden Ring bereits erreicht gehabt hätte. Bei einer derartigen Fallgestaltung stellt sich die Vereitelung des erreichbaren Rettungserfolgs als positives Tun, nicht als Unterlassen dar (vgl. Stree in Schönke-Schröder 159 a vor § 13 m. Nachw.). Dasselbe gilt, wenn jemand eine von dritter Seite eingeleitete Rettungsaktion vereitelt, z. B. einen Rettungsschwimmer gewaltsam zurückhält, oder wenn eine sonstige, auf Rettung hin ablaufende Kausalkette abgebrochen wird, wenn z. B. A eine auf X zutreibende Planke festhält oder ablenkt (vgl. Blei A T 276; Stree in Schönke-Schröder 159 vor § 13; Wessels aaO.; im Ergebnis übereinstimmend auch Bockelmann A T 143). Auch der sog. Ziegenhaarfall (vgl. R G 63, 211) ist nicht als pflichtwidriges Unterlassen, sondern als positives Tun zu
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entscheiden: Dem Fabrikanten, der nichtdesinfizierte Ziegenhaare durch seine Beschäftigten hat verarbeiten lassen, ist in erster Linie vorzuwerfen, daß er das gefährliche Material zur Verarbeitung freigegeben und dadurch den Tod mehrerer Arbeiterinnen verursacht hat. Der Vorwurf, die Desinfektion des Materials unterlassen zu haben, ist demgegenüber von nur untergeordneter Bedeutung, so daß die Tat sich bei komplexer Betrachtung ihrem sozialen Sinn nach nicht als Nichabwendung des Erfolgs, sondern als positives (aktives) Tun darstellt (vgl. Blei AT 274 f.; Maurach AT 582; Stree in SchönkeSchröder 158 vor § 13; Wessels AT 131; a. A. Baumann AT 244). Verfehlt wäre es auch, alle Fahrlässigkeitsdelikte den unechten Unterlassungsdelikten allein mit der Begründung zuzuordnen, ein bestimmter von der Rechtsordnung mißbilligter Erfolg sei durch Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt verursacht worden. Wenn z. B. ein Kraftfahrer (A) mit seinem Pkw, dessen Verkehrssicherheit durch technische Mängel beeinträchtigt ist, eine Fahrt unternimmt, in deren Verlauf er infolge Versagens der Bremsen einen tödlichen Unfall verschuldet, so liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit nicht darin, daß A es unterlassen hat, die technischen Mängel zu beseitigen; ihm ist vielmehr in erster Linie vorzuwerfen, daß er trotz der technischen Mängel des Fahrzeugs am Verkehr teilgenommen hat (vgl. RG 63, 392; Blei AT 274; Maurach AT 582; Wessels AT 131; a. A. Baumann AT 245). Entsprechendes gilt, wenn A unter Nichtbeachtung des gebotenen Sicherheitsabstands einen Radfahrer überholt, der hierdurch unsicher wird und bei seinem anschließenden Sturz tödlich verletzt wird (unklar insoweit BGH 11, 1).
III. Der objektive Tatbestand der unechten Unterlassungsdelikte 1. Erste Voraussetzung für die Tatbestandsverwirklichung ist der Eintritt eines bestimmten tatbestandsmäßigen Erfolgs (z. B. der Tod oder die Verletzung eines Menschen in den Fällen des §§ 211 ff. und 223 ff.). Tätigkeitsdelikte können nur ausnahmsweise durch pflichtwidriges Unterlassen verwirklicht werden (s. o. II 1 c). 2. Weitere Voraussetzung für die Tatbestandsverwirklichung ist die Erfolgsabwendungsmöglichkeit. Nur wer überhaupt in der Lage ist, einen bestimmten Erfolg zu verhindern, hat für diesen „rechtlich einzustehen". a) Die Erfolgsabwendungsmöglichkeit (und damit die Tatbestandsmäßigkeit) des Unterlassens entfällt insbesondere dann, wenn der zur Erfolgsabwendung Verpflichtete infolge räumlicher Entfernung oder Handlungsunfähigkeit nicht in der Lage ist, die von ihm erwartete Handlung vorzunehmen. Er hat in diesem Fall für den Erfolg nicht „einzustehen". Die strafrechtliche Verantwortlichkeit bleibt jedoch bestehen, wenn der zur Erfolgsabwendung Verpflichtete sich schuldhaft vom Ort der vorzunehmenden Handlung entfernt oder selbst schuldhaft in den Zustand der Handlungsunfähigkeit versetzt hat (sog. omissio libera in causa, vgl. Stree in Schönke-Schröder 144 vor § 13 m. Nachw.). Beispiel: Ein Schrankenwärter schläft unter der Einwirkung alkoholischer Getränke während seines Dienstes ein und versäumt es infolgedessen, die Schranken rechtzeitig zu schließen. Das Beispiel zeigt, daß es für die Frage der Erfolgsabwendungsmöglichkeit ausschließlich auf eine normative Betrachtung des Geschehens ankommt. Entscheidend ist allein, welche Maßnahmen zur Erfolgsabwendung dem jeweiligen Normadressaten bei Würdigung aller Umstände möglich waren. 72
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b) Wie unter BTV 2 vor § 1 dargelegt, ist eine Handlung für einen bestimmten Erfolg nur dann kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß auch der Erfolg entfiele (sog. Bedingungs- oder Äquivalenztheorie). Diese Formel kann bei den unechten Unterlassungsdelikten nicht vorbehaltlos übernommen werden, da das Unterlassen keine „Handlung" i. e. S. ist und der von der Rechtsordnung mißbilligte Erfolg primär nicht auf die pflichtwidrige Untätigkeit einer bestimmten Person, sondern auf andere Faktoren zurückzuführen ist, z. B. auf Naturereignisse oder das Verhalten Dritter, durch das ein bestimmtes Objekt in Gefahr gebracht wird. Andererseits wäre es verfehlt, auf eine Kausalitätsprüfung im Rahmen der Unterlassungsdelikte überhaupt zu verzichten, etwa mit der Begründung, daß das Unterlassen überhaupt nicht kausal sein kann für einen bestimmten Erfolg. Unterlassen ist mehr als rein passive Untätigkeit, sondern bedeutet die Nichtvornahme einer bestimmten, zur Erfolgsabwendung rechtlich geforderten Tätigkeit. Hieraus ergibt sich die Möglichkeit, mit einer sog. hypothetischen Kausalität zu arbeiten, woraus sich folgende Fragestellung ergibt: Wäre der tatbestandsmäßige Erfolg auch dann eingetreten, wenn der zur Erfolgsabwendung Verpflichtete der sich aus seiner Garantenstellung ergebenden Erfolgsabwendungspflicht nachgekommen wäre? Hierbei kommt es entscheidend darauf an, ob die Vornahme der erwarteten Handlung den Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgewendet hätte (vgl. B G H 6, 1 sowie bei Daliinger M D R 1956, 144; Blei A T 279; Bockelmann A T 130; Jescheck A T 469; Lackner III l c , b b v o r § 13; Maurach A T 591; Wessels A T 133). c) Die (hypothetische) Kausalität des Unterlassens ist zu verneinen, wenn der zur Erfolgsabwendung Verpflichtete bei Vornahme der von ihm erwarteten Handlung den konkret drohenden Erfolg nur unwesentlich beeinflussen oder durch einen anderen gleichwertigen Erfolg hätte ersetzen können. Wer es z. B. ablehnt, bei einem Brand seine Kinder aus der Dachwohnung in die A r m e der mit einem Sprungtuch bereitstehenden Helfer zu werfen, handelt nur dann tatbestandsmäßig, wenn die Kinder auf diese Weise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden wären (vgl. B G H bei Daliinger M D R 1971, 361; Jescheck A T 469; Lackner III 1 c, bb v o r § 13; weitergehend die im jüngeren Schrifttum vordringende sog. Lehre von der Risikoerhöhung: Der Erfolg ist dem Unterlassenden schon dann zuzurechnen, wenn feststeht, daß durch Vornahme der unterlassenen Handlung das Risiko des Erfolgseintritts tatsächlich vermindert worden wäre, vgl. Rudolphi SK 16 vor § 13 m. Nachw.; sehr zw.). Etwaige Zweifel hinsichtlich der Erfolgsabwendungsmöglichkeit wirken sich nach allgemeinen Grundsätzen zugunsten des zur Erfolgsabwendung Verpflichteten aus („in dubio pro reo"). 3. Nicht jeder, der es unterläßt, den Eintritt eines bestimmten, von der Rechtsordnung mißbilligten Erfolgs abzuwenden, obwohl ihm dies möglich wäre, kann für den Eintritt dieses Erfolgs strafrechtlich verantwortlich gemacht werden. Tatbestandsmäßig im Sinne eines unechten Unterlassungsdelikts handelt vielmehr nur, wer auf Grund einer bestimmten Garantenstellung „rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt". Diese Garantenstellung ist bei allen unechten Unterlassungsdelikten ein ungeschriebenes Merkmal des objektiven Tatbestands. Wie bereits unter I ausgeführt, wurde auf eine gesetzliche Festlegung der Kriterien, aus denen sich die Garantenstellung im Einzelfall ergeben kann, bewußt verzichtet, um die in der Rechtslehre z. Z. noch anhaltende Diskussion nicht durch einen Machtspruch des Gesetzgebers vorzeitig abzuschneiden. Während die Rspr. und die frühere h. L. im Schrifttum, die teilweise auch heute noch vertreten wird (vgl. z. B. Baumann A T 251 ff. ; Maurach A T 605 ff.), zur Begründung der Garantenstellung auf primär formelle Kriterien zurückgriff (Begründung durch Gesetz,
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Begründung durch freiwillige Übernahme vertraglicher Verpflichtungen, Begründung durch enge Lebens- und Gefahrengemeinschaften sowie Begründung durch vorausgegangenes gefahrbegründendes Tun), nimmt die neuere Lehre die Einteilung nach materiellen Kriterien vor, wobei die Einzelheiten allerdings noch sehr umstritten sind. Nach heute überwiegender Ansicht (vgl. Androulakis aaO. 205; Bockelmann A T 134; Jescheck ZStW 77, 123; Armin Kaufmann aaO. 283; Rudolphi aaO. 103; Stree in SchönkeSchröder Rn. 9 ff.; Wessels A T 119; kritisch Lackner 3 b) lassen sich die Entstehungsgründe einer Garantenstellung in zwei Gruppen einteilen: Eine Garantenstellung kann einmal dadurch entstehen, daß jemand gegenüber bestimmten Rechtsgütern eine spezielle Schutzfunktion hat; die zweite Gruppe erfaßt die Fälle, in denen jemand für bestimmte Gefahrenquellen verantwortlich ist. Über Versuche, alle Entstehungsgründe auf einen einheitlichen Grundgedanken zurückzuführen, siehe Herzberg aaO. und Schünemann aaO. 4. Folgt man der im Schrifttum überwiegend vorgenommenen Zweiteilung der Entstehungsgründe (s. o. 3), so kann sich eine Garantenstellung ergeben a) aus einer speziellen Schutzfunktion für bestimmte Rechtsgüter. Diese wiederum kann beruhen aa) auf einer gesetzlichen Regelung. So sind z. B. Eltern nach §§ 1626, 1631 BGB verpflichtet, für eine ärztliche Betreuung ihrer Kinder zu sorgen. Eine Verletzung dieser Pflicht kann eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung oder fahrlässiger Körperverletzung nach sich ziehen. Entsprechende Pflichten ergeben sich für den Vormund (vgl. § 1631 i. V. mit §§ 1793, 1800 BGB) und für die nichteheliche Mutter (vgl. § 1705 BGB). Unter Umständen sind auch die Großeltern verpflichtet, für das Wohl eines gefährdeten Enkels zu sorgen. Dies gilt vor allem dann, wenn sie mit ihren Enkeln in einer engen Lebensgemeinschaft verbunden sind, z. B. als Vorstand des gemeinsamen Haushalts (vgl. R G 72, 37; B G H 19, 167 f. m. zust. A n m . Schröder JR 1964, 227). Verfehlt wäre es dagegen, die Fürsorgepflicht für die Enkel auch aus der Unterhaltspflicht des § 1601 BGB ableiten zu wollen (vgl. B G H 19, 167 unter Hinweis darauf, daß die Unterhaltspflicht nur begrenzten Inhalt hat). Auch die Verletzung der sich aus § 1353 BGB ergebenden Pflicht der Ehegatten zur ehelichen Lebensgemeinschaft kann strafrechtliche Folgen haben. So ist ein Ehemann verpflichtet, seine Ehefrau vor drohenden gesundheitlichen Schäden zu bewahren. Entgegen einer früher weit verbreiteten Ansicht (vgl. z. B. R G 74, 285 betr. Beihilfe zum Meineid) begründet § 1353 BGB jedoch keine Pflicht, den anderen Ehegatten von strafbaren Handlungen abzuhalten (vgl. Hamm M D R 1970, 162; Krhe Justiz 1975, 350; Bockelmann A T 136; Maurach A T 506). Weitere gesetzlich begründete Handlungspflichten, deren Verletzung strafrechtliche Folgen nach sich ziehen kann, ergeben sich z. B. aus §§ 16, 17 PersonenstandsG (Unterlassung der vorgeschriebenen Personenstandsmeldungen kann Strafbarkeit gemäß § 169 begründen), aus § 34 StVO (Verletzung der Pflicht zur Absicherung der Unfallstelle kann Strafbarkeit gemäß §§ 222, 230 und 315 b begründen) sowie aus § 16 VersicherungsvertragsG (Verletzung bestimmter Offenbarungspflichten kann Betrug begründen); bb) auf einer engen Lebens- und Geiahrengemeinschaft, auch wenn diese nicht durch verwandtschaftliche Beziehungen begründet worden ist. So besteht beispielsweise für die Teilnehmer an einer Expedition oder an einem anderen schwierigen Unternehmen die Rechtspflicht, den übrigen Teilnehmern bei drohenden Gefahren beizustehen. Aber auch das Zusammenleben in einer Familien- oder Hausgemeinschaft kann die Pflicht begrün-
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den, sich gegenseitig vor drohenden Gefahren, insbesondere vor Gefahren für Leib oder Leben, zu bewahren (vgl. BGH 19,167). Nicht ausreichend sind dagegen Zufallsgemeinschaften, wie sie z. B. bei einem Wetterumschlag im Gebirge oder bei einem Schiffbruch entstehen können. Auch eine lose Zechgemeinschaft kann keine Garantenstellung begründen (BGH NJW 1954,1047); cc) auf der Übernahme einer Schutz- und Beistandspflicht. So sind insbesondere Ärzte, Bergführer, Reit- und Fahrlehrer sowie Kindermädchen verpflichtet, für das Wohl der ihnen anvertrauten Personen zu sorgen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang nicht der Vertragsabschluß als solcher, sondern die tatsächliche Übernahme der Vertrauensstellung mit der Folge, daß der Gefährdete, zu dessen Gunsten der Vertrag abgeschlossen wurde, z. B. der Bergsteiger, der sich einem Bergführer anvertraut hat, sich darauf verlassen hat, daß der zu seinem Schutz Verpflichtete seiner Pflicht nachkommt (h. L.; vgl. Stree in Schönke-Schröder Rn. 28 m. weit. Nachw.). Die Garantenstellung bleibt daher auch dann bestehen, wenn sich nachträglich die Nichtigkeit des ihr zugrundeliegenden Vertrags ergeben sollte (h. L.; vgl. Bockelmann AT 133). Umgekehrt ist eine Garantenstellung zu verneinen, wenn der vertraglich Verpflichtete pflichtwidrig seine Vertrauensstellung gar nicht angetreten hat. Wenn also der vertraglich verpflichtete Bergführer verschläft und der unerfahrene Bergsteiger sich trotzdem auf den Weg macht, dann aber abstürzt und tödlich verunglückt, kommt eine strafrechtliche Haftung des Bergführers mangels Garantenstellung nicht in Betracht. Der Tatbestand der fahrlässigen Tötung ist nichterfüllt; dd) auf einer sozialen Sonderstellung, d. h. wenn jemand aufgrund seines Berufs oder einer sonstigen besonderen Stellung innerhalb der Gesellschaft verpflichtet ist, Gefahren von der Allgemeinheit oder einem speziellen Personenkreis abzuwenden. So begründen insbesondere Autoritätsverhältnisse die Pflicht, innerhalb des Lebenskreises, auf den sich das Autoritätsverhältnis bezieht, für Ordnung zu sorgen und strafbare Handlungen zu verhindern. So sind z. B. Lehrer und andere Erziehungsberechtigte verpflichtet, dafür zu sorgen, daß die ihnen anvertrauten minderjährigen Schüler innerhalb des Schulbetriebs keine strafbaren Handlungen begehen. Entsprechendes gilt für militärische Vorgesetzte gegenüber ihren Untergebenen (siehe § 41 WStG) und für Schiffs Offiziere hinsichtlich der ihnen unterstellten Besatzungsmitglieder (siehe § 108 SeemannsG). Bei Amtsvorgesetzten, die rechtswidrige Taten ihrer Untergebenen dulden, ist § 357 zu beachten. Eine besondere Stellung gegenüber der Allgemeinheit nehmen auch Ärzte ein. Hat ein Arzt die Behandlung eines Patienten bereits übernommen, so ergibt sich seine Garantenstellung aus dem durch die Übernahme der Behandlung begründeten Vertrauensverhältnis (s. o. lit. cc). Aufgrund dieses Vertrauensverhältnisses ist der Arzt verpflichtet, alles zu tun, um eine Verschlechterung des Gesundheitszustands des Patienten zu verhindern und diesem eine Linderung seiner Schmerzen zu verschaffen (BGH LM Nr. 6 zu § 230; Stree in Schönke-Schröder Rn. 28). Er kann die weitere Behandlung des Patienten nur dann ablehnen, wenn die Gewähr besteht, daß ein anderer Arzt die Behandlung und damit zugleich auch die Verantwortung übernimmt. Bis dahin aber muß sich der Patient auf ihn verlassen können. Gehört der hilfesuchende Kranke noch nicht zum Patientenkreis des Arztes, so kann eine über die allgemeine Hilfspflicht des § 330 c hinausgehende Pflicht zur Übernahme einer Behandlung nur für Bereitschaftsärzte anerkannt werden (h. L.; vgl. Stree in Schönke-Schröder Rn. 28; Maurach AT 606; weitergehend Eb. Schmidt, Die Besuchspflicht des Arztes unter strafrechtlichen Gesichtspunkten, 1949). Ist eine sofortige Behandlung geboten, so ist der Bereitschaftsarzt grundsätzlich verpflichtet, sofort den erbetenen Hausbesuch zu machen (vgl. BGH 7, 211). Zuverlässige Ferndiagnosen auf 75
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Grund fernmündlicher Angaben des Kranken oder eines Angehörigen sind nur selten möglich (BGH NJW 1961, 2068). Der Arzt ist daher nur ausnahmsweise berechtigt, den erbetenen Hausbesuch zu verweigern, z. B. wenn er dringend zu einem anderen Patienten muß, dessen Behandlung er bereits übernommen hat, oder wenn andere Ärzte in der Nähe des hilfesuchenden Patienten verfügbar sind. Muß der hilfesuchende Patient infolge pflichtwidriger Untätigkeit des Arztes anhaltende Schmerzen erdulden, so ist der Atzt wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Körperverletzung strafbar (Hamm NJW 1975 604); b) aus der Verantwortlichkeit für bestimmte Gefahrenquellen. Diese wiederum kann sich ergeben aa) aus der Errichtung und dem Betrieb gefährlicher Anlagen und Einrichtungen. Wer z. B. Sprengungen in einem Steinbruch durchführt oder als Bauunternehmer einen Bau erstellt, hat dafür zu sorgen, daß bei den Arbeiten niemand zu Schaden kommt. Unter dem gleichen Gesichtspunkt ist auch der Eigentümer oder Besitzer eines Haus- oder Fabrikanwesens verpflichtet, das Anwesen in einem verkehrssicheren Zustand zu halten. Verletzt er diese Pflicht, so kann er nicht nur zivilrechtlich, sondern auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, wenn jemand auf seinem Grundstück zu Schaden kommt. So liegt z. B. fahrlässige Tötung vor, wenn ein Passant durch den Einsturz einer schon seit längerer Zeit offensichtlich baufälligen Stützmauer getötet wird. Entsprechendes gilt für den Betrieb von Anlagen oder Maschinen, soweit damit die naheliegende Gefahr eines Schadens verbunden ist, für die Durchführung von Motorsportveranstaltungen sowie für die Haltung von Tieren oder Kraftfahrzeugen. Besonders der Halter oder Besitzer eines Kraftfahrzeugs ist verpflichtet, dafür zu sorgen, daß von seinem Fahrzeug keine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht. Er hat insbesondere sein Fahrzeug in einem verkehrstüchtigen Zustand zu halten. Verletzt er diese Pflicht, so kann er wegen fahrlässiger Tötung oder fahrlässiger Körperverletzung zur Verantwortung gezogen werden, wenn sein Fahrer mit einem verkehrsuntüchtigen Fahrzeug einen Unfall mit Personenschaden verursacht. Er ist weiter verpflichtet, dafür zu sorgen, daß kein Unbefugter das Fahrzeug zu einer Schwarzfahrt benutzen kann. Verletzt er diese in § 14 Abs. 2 StVO ausdrücklich festgelegte Sicherungspflicht, so kann er nicht nur zivilrechtlich (vgl. § 7 Abs. 3 StVG), sondern auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, wenn sein Fahrzeug in die Hände eines fahrunkundigen oder fahruntüchtigen Schwarzfahrers fällt und dieser damit einen Unfall verschuldet (vgl. BGH 18, 359 ff.; 24, 354; VRS 20, 282; Dreher 12; Rudolphi SK 30; Stree in Schönke-Schröder 43). Sehr umstritten ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Beifahrer eines angetrunkenen Kraftfahrers für den von diesem verschuldeten Unfall verantwortlich gemacht werden kann. Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist eine Garantenstellung des Beifahrers nur ausnahmsweise zu bejahen, z. B. wenn er der Fahrzeughalter ist (BGH 14, 24; 18, 359; VRS 14, 197) oder wenn er mit dem Fahrer durch eine ständige Fahrergemeinschaft verbunden ist (BGH NJW 1959, 1979; Krhe Urt. v. 27. 7. 1972 - 3 Ss 85/72). Eine lockere Zechgemeinschaft kann dagegen noch keine Garantenpflicht begründen (BGH 19, 155; Ddf NJW 1966, 1175). Zum Ganzen siehe auch Oldenburg NJW 1961, 1938 sowie BödeckerDAR 1969,281. Über die Verkehrssicherungspflicht des Betriebsleiters einer Bergbahn, die vertraglich eine Pistenpflege übernommen hat, siehe BGH NJW 1971,1093; 1973,1379. In allen diesen Fällen ist jedoch zu beachten, daß die sich aus der Garantenstellung ergebende Pflicht nur dahin geht, drohende Gefahren abzuwenden. Tritt ungeachtet aller Bemühungen doch ein Schaden ein, wird z. B. bei einem heftigen Sturm ein Passant vom
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herabstürzenden Ziegel eines sonst einwandfreien Dachs getroffen, so ergibt sich aus diesem Unfall auch für den verantwortlichen Hausbesitzer nur die allgemeine Hilfspflicht des § 330 c (vgl. Stree in Schönke-Schröder 45); bb) aus der Raumherrschaft über ein Haus, eine Wohnung oder sonstige abgeschlossene Räumlichkeiten, für die jemand verantwortlich ist (BGH 27, 10 ff. m. Nachw.). Eine aus der Raumherrschaft abgeleitete Garantenstellung ist zumindest zugunsten solcher Personen anzunehmen, die der Inhaber der Räumlichkeit freiwillig bei sich aufgenommen hat. Wer sich auf Einladung des Wohnungsinhabers in eine fremde Wohnung begibt, muß sich darauf verlassen dürfen, daß ihm dieser bei schwerwiegenden Gefahren zur Seite steht. Der Wohnungsinhaber ist deshalb zum Einschreiten verpflichtet, wenn die Gefahr besteht, daß in seiner Wohnung ein Gast getötet, schwer mißhandelt, vergewaltigt, beraubt oder erpreßt wird (BGH aaO.). Die Pflicht zum Einschreiten sollte aber nicht auf diese Fälle beschränkt werden. Wenn das Gesetz einerseits die Unverletzlichkeit der Wohnung garantiert, so ergibt sich hieraus andererseits die erhöhte Pflicht für den Inhaber der Raumgewalt, dafür zu sorgen, daß innerhalb seines Herrschaftsbereichs keine strafbaren Handlungen begangen werden (vgl. Blei AT 291; Bockelmann AT 135; Stree in Schönke-Schröder 54). So macht sich z. B. ein Haushaltsvorstand der Beihilfe zur Abtreibung schuldig, wenn er vorsätzlich duldet, daß ein Mitglied seines Haushalts (Ehefrau, Tochter, Hausangestellte usw.) innerhalb der Wohnung einen unerlaubten Eingriff vornimmt oder an sich vornehmen läßt. Mit der gleichen Begründung ist Begünstigung anzunehmen, wenn ein Hausherr duldet, daß auf seinem Grundstück Diebesgut gelagert wird, um es dem Zugriff der Polizei zu entziehen; cc) aus gefahrbegründendem vorausgegangenem Tun (sog. Ingerenz). Grundsätzlich ist jeder, der die Gefahr eines schädlichen Erfolgs herbeiführt oder erhöht hat, verpflichtet, dafür zu sorgen, daß dieser Erfolg nicht eintritt. Streitig ist jedoch, ob jedes Verhalten, durch das eine Gefahr geschaffen worden ist, eine Garantenstellung zu begründen vermag oder ob an die gefahrbegründende Vorhandlung noch zusätzliche Anforderungen zu stellen sind, insbesondere ob das Vorverhalten pflichtwidrig gewesen sein muß. Während die früher h. L. es als unerheblich erachtete, ob die Vorhandlung pflichtwidrig war oder nicht (so heute noch Baumann AT 257; Herzberg MDR 1971, 74; Maurach AT 608; Welp JZ 1971, 433), zeigt sich sowohl in der Rechtsprechung als auch im neueren Schrifttum unverkennbar die Tendenz, sozialadäquate, nicht pflichtwidrige Handlungen aus dem Kreis der eine Garantenstellung begründenden Vorhandlungen auszuscheiden (vgl. BGH 19, 152; 25, 218 mit zust. Anm. Rudolphi JR 1974, 160; 26, 35; Ddf NJW 1966, 1175; Celle MDR 1971, 773; Krhe Justiz 1975, 151; Blei AT 286; Bockelmann AT 133, 136; Dreher 11; Jescheck AT 473; Lackner 3 a, dd; Rudolphi SK 41; Stree in Schönke-Schröder 35; Welzel 216; Wessels AT 135). Pflichtwidrig in diesem Sinn handelt der Unterlassende nur, wenn er eine Pflicht verletzt, deren Ziel es ist, gerade die durch die Vorhandlung verursachte Gefahr zu bekämpfen (vgl. Krhe Justiz 1975,151 betr. Überlassen einer Waffe zur Begehung eines Raubüberfalls). Eine Sonderstellung nehmen solche Fälle ein, in denen jemand eine typische Gefahrenquelle geschaffen hat, z. B. Sprengungen in einem Steinbruch durchführt, oder wenn es sich um die Herbeiführung eines rechtswidrigen Zustands handelt, der von einem Dauerdelikt erfaßt wird. In diesen Fällen wird derjenige, der die Gefahrenquelle geschaffen bzw. den rechtswidrigen Zustand hergestellt hat, unstreitig als Garant dafür angesehen, daß aus der Gefahrenquelle kein Schaden entsteht bzw. daß der rechtswidrige Zustand beendet wird (vgl. Blei AT 290 f.; Bockelmann AT 136; Stree in Schönke-Schröder 36 sowie oben aa). 77
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Beispiele: а) Ein Museumsaufseher, der versehentlich einen Besucher eingeschlossen hat, ist verpflichtet, den Eingeschlossenen zu befreien, sobald er seinen Irrtum bemerkt. Tut er dies nicht, so macht er sich wegen Freiheitsberaubung (§ 239) strafbar (vgl. RG 24, 339; Maurach AT 609). ß) Ein Wanderer, der einen ihn bedrohenden Wegelagerer in Notwehr niederschießt und schwer verletzt, ist nach Beendigung der Notwehrlage verpflichtet, sich um den Verletzten zu kümmern. Tut er dies nicht, so kann er nur wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft werden. Dies gilt mangels rechtswidriger Vorhandlung auch dann, wenn der Wegelagerer an den Folgen seiner Verletzungen stirbt und feststeht, daß er bei rechtzeitiger Hilfe noch hätte gerettet werden können (vgl. BGH 23, 327 m. zust. Anm. Bringewat MDR 1971, 716; Otto NJW 1974, 534; Rudolphi SK 41; a. A. Herzberg JuS 1971, 74; Maurach AT 608; Welp JZ 1971, 432). Eine Garantenpflicht gegenüber dem Angreifer kann nur dann bejaht werden, wenn sich der Vorgang im räumlichen Herrschaftsbereich des Angegriffenen abgespielt hat und deshalb fremde Hilfe nicht ohne weiteres möglich ist (vgl. Blei AT 291 sowie JA 1971, StR S. 25). Dann allerdings ergibt sich die Garantenstellung nicht aus der Abwehrhandlung, sondern aus dem Gesichtspunkt der Raumgewalt (s. o. Abschn. aa). y) Ein Gastwirt, der einem Kraftfahrer übermäßig alkoholische Getränke verabreicht hat, ist verpflichtet, die Fortsetzung der Fahrt zu verhindern, wenn der Gast offensichtlich so betrunken ist, daß er sich nach verständiger Beurteilung nicht mehr eigenverantwortlich verhalten kann (BGH 19, 152 unter Einschränkung der in BGH 4, 20 dargelegten Grundsätze; übereinstimmend Rudolphi SK 44 m. Nachw.). Verletzt er diese Pflicht, so kann er wegen fahrlässiger Tötung oder fahrlässiger Körperverletzung zur Verantwortung gezogen werden, wenn der fahruntüchtige Kraftfahrer einen Verkehrsunfall mit Personenschaden verschuldet (BGH aaO.). Bei privaten Gastgebern besteht eine Erfolgsabwendungspflicht nur, wenn sie aufgrund einer engen Lebensgemeinschaft (z. B. Familienoder Hausgemeinschaft) gegenüber dem angetrunkenen Fahrer eine Fürsorgepflicht haben (Ddf NJW 1966, 1175). Eine nicht mehr sozialadäquate, sondern objektiv pflichtwidrige und damit strafrechtlich relevante Gefahrenquelle schaffen jedoch sowohl Inhaber öffentlicher Gaststätten als auch private Gastgeber dann, wenn sie einen offensichtlich betrunkenen Gast, der das Haus nicht mehr sicher aus eigener Kraft verlassen kann, auf die stark befahrene Straße bringen und dort seinem Schicksal überlassen (BGH 26, 35). In diesem Fall besteht notfalls sogar die Pflicht, die Polizei herbeizurufen (BGH aaO.). б) Wird ein sich verkehrsgerecht verhaltender Kraftfahrer unverschuldet in einen schweren Unfall verwickelt, so trifft ihn nur die allgemeine Hilfspflicht des § 330 c; eine Garantenstellung wird hierdurch jedoch noch nicht begründet (vgl. BGH 25, 218 m. zust. Anm. Rudolphi JR 1974, 160; Stree in Schönke-Schröder 35; Welzel 216). 5. Zum objektiven Tb. gehören nur die Tatumstände, aus denen sich die Garantenstellung ergibt. Die sich aus der Garantenstellung ergebende Erfolgsabwendungspflicht ist dagegen kein Merkmal des obj. Tb., sondern allgemeines Verbrechensmerkmal (h. A., vgl. Maurach AT 595 f. m. weit. Nachw.). Die praktischen Auswirkungen dieser Differenzierung zeigen sich insbesondere auf der subj. Tatseite (s. u. IV). 6. Die sog. Entsprechungsklausel, die an die Stelle der in § 13 E 1962 vorgeschlagenen Gleichwertigkeitsklausel getreten ist, bringt auf der Tatbestandsebene gegenüber der 78
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früheren Rechtslage sachlich nichts Neues (h. L., vgl. Blei AT 292; Dreher 17; Maurach AT 598; Roxin JuS 1973, 198). Sie stellt lediglich klar, daß bei solchen Tatbeständen, die sich nicht in der Verursachung eines bestimmten Erfolgs erschöpfen, sondern die Herbeiführung dieses Erfolgs auf eine bestimmte Art und Weise voraussetzen, auch diese besonderen Tatbestandsmerkmale vorhanden sein müssen, damit das Unterlassen dem Tun „entspricht" (vgl. Dreher 17; Jescheck AT 476; Roxin JuS 1973, 198 f.; Rudolphi SK 17). So gehört z. B. zum Tb. des Betrugs, daß ein Irrtum durch Täuschung hervorgerufen wird; andere Tatbestände setzen für ihre Verwirklichung die Anwendung von List, Drohung oder Gewalt voraus (vgl. z. B. §§ 234, 234 a, 235, 237). Bei den auf die reine Verursachung abstellenden Delikten (z. B. §§ 212, 222, 223, 230, 303) ist die Entsprechungsklausel auf der Tatbestandsebene ohne jede Bedeutung. Insbesondere darf die Entsprechungsklausel nicht dahin verstanden werden, daß auch bei Vorliegen einer Garantenstellung die Nichtabwendung des Erfolgs erst dann tatbestandsmäßig ist, wenn das mit der Sache befaßte Gericht aufgrund einer über die Prüfung der einzelnen Tb.Merkmale hinausgehenden Gesamtbeurteilung aller Tatumstände zu dem Ergebnis kommt, daß das Unterlassen dem Tun „entspricht (h. L., a. A. Androulakis aaO. 219 ff.; Arthur Kaufmann-Hassemer JuS 1964, 153). Hauptanliegen des Gesetzgebers war es offensichtlich, solche Fälle aus dem Strafbarkeitsbereich auszuscheiden, bei denen es dem Unterlassenden unzumutbar ist, der sich aus seiner Garantenstellung ergebenden Handlungspflicht nachzukommen (vgl. Begr. zu § 13 E 1962). Diese Fälle wurden jedoch bereits unter der früheren Rechtslage als nicht strafbar angesehen. Umstritten war lediglich, ob bei Unzumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens schon die Tatbestandsmäßigkeit oder erst die Schuld entfällt (so zutreffend die h. A.). Die Neuregelung der Materie durch § 13 gibt keine Veranlassung, diesen Standpunkt aufzugeben, zumal die Entsprechungsklausel keinen Hinweis dafür bietet, wo die Gleichwertigkeitsprüfung vorzunehmen ist (übereinstimmend Bockelmann AT 141; Dallinger JR 1968, 7; Jescheck AT 481; Maurach AT 613; Rudolphi SK 31, 34 vor § 13; Welzel 206, 220; Wessels AT 136; für Ausschluß der Tatbestandsmäßigkeit jedoch Krhe Justiz 1975, 350; Dreher 18; Lackner 2 c; Stree in Schönke-Schröder 155 vor § 13).
IV. Der subjektive Tatbestand der unechten Unterlassungsdelikte 1. Der Vorsatz des Täters muß sich zunächst - wie bei den Begehungsdelikten - auf alle unrechtstypisierenden Merkmale des objektiven Tatbestands erstrecken, insbesondere auf den tatbestandsmäßigen Erfolg. Zum Vorsatz gehört weiter die Kenntnis aller Tatumstände, aus denen sich die Garantenstellung ergibt (über deren Entstehungsgründe s. o. III 4). Schließlich gehört zum Vorsatz der Wille zum Untätigbleiben in dem Bewußtsein, daß der drohende Erfolg abgewendet werden könnte. Nicht zum Vorsatz gehört dagegen das Bewußtsein, zur Erfolgsabwendung verpflichtet zu sein. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß nur die Garantenstellung, nicht auch die sich aus ihr ergebende Garantenpflicht ein (ungeschriebenes) Merkmal des obj. Tb. ist (s. o. III 5). 2. Für die Behandlung der Irrtumsprobleme ergibt sich aus den Ausführungen in Abschn. 1 folgendes: Ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum i. S. von § 16 liegt vor, wenn der Täter entweder nicht die Tatumstände kennt, die seine Garantenstellung begründen, oder wenn er keine Möglichkeit sieht, den drohenden Erfolg zu verhindern. Der Vorsatz bleibt dagegen bestehen, wenn der Täter in Kenntnis aller Tatumstände lediglich glaubt, er sei zur Erfolgsabwendung nicht verpflichtet (vgl. BGH [GrSen] 16, 155; GA 1968,
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336; Köln NJW 1973, 861; Jescheck AT 482; Maurach A T 610 f.; Wessels AT 136). Ein derartiger Irrtum ist nach den Grundsätzen des Verbotsirrtums (§ 17) zu behandeln, d. h. die Schuld entfällt nur, wenn der Irrtum für den Täter unvermeidbar war. War der Irrtum unvermeidbar, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. Beispiel: Wenn A sein Kind, das in einen Teich gefallen ist, nicht vor dem Ertrinken rettet, weil er die Gefahr nicht erkannt hat oder weil er nicht erkannt hat, daß es sich um sein eigenes Kind handelt oder weil er keine Rettungsmöglichkeit sieht, so liegt jeweils ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum vor; A kann allenfalls wegen fahrlässiger Tötung bestraft werden, wenn sein Irrtum auf Fahrlässigkeit beruht (vgl. § 16 Abs. 1 S. 2). Dagegen liegt ein nach § 17 zu behandelnder Verbotsirrtum vor, wenn A in Kenntnis aller Tatumstände irrig glaubt, er sei für die Rettung seines Kindes nicht verantwortlich. V. Die Rechtewidrigkeit der unechten Unterlassungsdelikte 1. Ist der tatbestandsmäßige Erfolg dadurch eingetreten, daß der Täter - vorsätzlich oder fahrlässig - der sich aus seiner Garantenstellung ergebenden Erfolgsabwendungspflicht (Garantenpflicht) nicht nachgekommen ist, obwohl er hierzu in der Lage gewesen wäre, so wird hierdurch - wie bei den Begehungsdelikten - die Rechtswidrigkeit indiziert, d. h. das Verhalten ist rechtswidrig, sofem der Täter sich nicht auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann. 2. Als Rechtfertigungsgründe kommen insbesondere in Betracht a) Einwilligung. Wenn z. B. ein Patient (P) es trotz Belehrung über die Folgen einer solchen Weigerung ablehnt, sich einer medizinisch dringend gebotenen Therapie zu unterziehen, handelt der Aizt (A) nicht rechtswidrig, wenn er die weitere Behandlung abbricht und P seinem Schicksal überläßt. Mit Rücksicht auf das Selbstbestimmungsrecht des P ist A weder berechtigt noch verpflichtet, die gebotene Therapie gegen den Willen des P zu erzwingen (vgl. Bockelmann AT 140). In entsprechender Anwendung der für die Teilnahme am Selbstmord entwickelten Grundsätze gilt dies selbst dann, wenn P durch seine Weigerung in Lebensgefahr gerät (Stree in Schönke-Schröder 154 vor § 13). Unwirksam wäre die Weigerung allerdings, wenn P infolge einer Bewußtseinsstörung oder aus ähnlichen Gründen nicht in der Lage ist, die Tragweite seiner Entscheidung zu überblicken. Rechtlich unbeachtlich ist die Weigerung ferner, wenn sie nicht von dem Patienten selbst, sondern von dem zur Sorge für seine Person Verpflichteten erklärt wird, z. B. wenn ein Zeuge Jehovas es aus Glaubensgründen ablehnt, bei seinem lebensgefährlich erkrankten Kind eine medizinisch dringend gebotene Bluttransfusion durchführen zu lassen (vgl. Bockelmann AT 140). Hier ist A nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, alles zu unternehmen, um das Leben des Kindes zu retten. Bei Gefahr im Verzug kann sogar Gewaltanwendung das rechte Mittel zum rechten Zweck sein; b) rechtfertigender Notstand (§ 34). Verletzt jemand seine Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung, um einer anderen, wichtigeren Pflicht genügen zu können, so handelt er zwar tatbestandsmäßig, aber nicht rechtswidrig. Beispiel: Nach einem schweren Verkehrsunfall wendet sich der Unfallarzt zunächst dem lebensgefährlich verletzten X zu, während der gleichfalls verletzte Y auf seine Behandlung warten muß und infolgedessen Schmerzen erduldet, die er bei sofortiger Behandlung nicht gehabt hätte. - Oder: Bei einem Kinderheimbrand rettet die Feuerwehr mit allen verfügbaren Kräften zuerst die Kinder, wobei die für den Einsatz Verantwortlichen bewußt in Kauf nehmen, daß das Feuer auf ein benachbartes Wochenendhaus übergreift.
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VI. Die Schuld der unechten Unterlassungsdelikte ist grundsätzlich nach den gleichen Kriterien wie bei den Begehungsdelikten zu beurteilen. Sie setzt insbesondere voraus, daß der Täter schuldfähig gewesen ist. Sie kann entfallen, 1. wenn der Täter sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum ( § 1 7 ) befunden hat, wobei auch der Irrtum über die Garantenpflicht als Verbotsirrtum zu behandeln ist (s. o. IV); 2. wenn der Täter sich auf einen gesetzlichen Schuldausschließungsgrund berufen kann. Beispiel: A unterläßt die Rettung seines in einen reißenden Strom gefallenen Kindes, weil ihm dies ohne eigene Lebensgefahr nicht möglich ist. - Oder: ein Nachtwächter unterläßt es, bei einem Einbruch die Alarmanlage zu betätigen, weil er von einem der Einbrecher mit einer Pistole bedroht wird. In beiden Beispielen greift als Schuldausschließungsgrund § 35 ein; 3. wenn der Täter sich in einer schuldausschließenden Pflichtenkollision befindet, d. h. wenn er mehrere gleichrangige Rettungspflichten hat, von denen er aber nur eine erfüllen kann. Beispiel: Ein Arzt wird zu zwei Schwerverletzten gerufen, kann aber nur einen versorgen, während der andere verblutet. - Oder: A sieht, wie seine Kinder X und Y ins Wasser fallen und zu ertrinken drohen. E r kann nur X retten, während Y ertrinkt. In diesen Fällen handelt der Täter jeweils tatbestandsmäßig und rechtswidrig, jedoch nicht schuldhaft (vgl. Gallas, Mezger-Festschr. S. 332; Jescheck A T 272). Nach h. A. soll in diesen Fällen sogar bereits die Rechtswidrigkeit entfallen (vgl. Baumann AT 361, Blei A T 293 ff.; Maurach-Zipf A T 1409; Wessels A T 137). Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß die Erfüllung der einen Pflicht die Verletzung der anderen - gleichwertigen - Pflicht nicht billigenswert erscheinen läßt. Die Konfliktssituation schafft deshalb nur einen Schuldausschließungsgrund. Zum Ganzen siehe auch Mangakis, Pflichtenkollision als Grenzsituation des Strafrechts, ZStW 84, 447 ff. sowie Arthur Kaufmann, MaurachFestschr. S. 336 ff.; 4. wenn dem Täter bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls rechtmäßiges Verhalten nicht zumutbar ist. Diese Fälle werden von einem Teil des Schrifttums bereits aus dem Bereich der Tatbestandsmäßigkeit ausgeschieden, während nach h. A. nicht schon die Tatbestandsmäßigkeit, sondern erst die Schuld entfällt (s. o. III 6 mit Schrifttumsnachweisen). Beispiele: A, der ein Zeltlager für 14- und 15jährige Jugendliche beiderlei Geschlechts leitet, erfährt eines Nachts durch Zufall, daß einige der ihm anvertrauten Jugendlichen die ihnen zugewiesenen Zelte verlassen und sich in die Zelte der Mädchen begeben haben. Er stellt fest, daß es in den Zelten der Mädchen bereits munter zugeht und offensichtlich auch schon zu sexuellen Handlungen gekommen ist. Da er sich darüber im klaren ist, daß die Eltern der Jugendlichen mit derartigen Zuständen nicht einverstanden sind, versucht er, die Jungen zur Rückkehr in ihre Zelte zu veranlassen. Dies gelingt ihm jedoch weder mit guten Worten noch mit Drohungen. Er könnte sich allenfalls mit Gewalt oder fremder Hilfe durchsetzen. Ein solches Vorgehen ist ihm jedoch bei Würdigung aller Umstände nicht zuzumuten. Der Vorwurf eines Vergehens gemäß § 180 Abs. 1 Nr. 2 wird in diesem Fall durch mangelnde Zumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens entkräftet. Dem A ist lediglich zuzumuten, am nächsten Tag dafür zu sorgen, daß die Jugendlichen, falls sie nicht zur Einsicht kommen, das Lager freiwillig verlassen oder von ihren Eltern abgeholt werden.
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VII. Täterschaft und Teilnahme richten sich nach allgemeinen Grundsätzen. Mittäterschaft ist anzunehmen, wenn mehrere zur Erfolgsabwendung verpflichtete Personen auf Grund gemeinschaftlichen Tatentschlusses ihre Garantenpflicht verletzen, z. B. wenn die Eltern eines geistig behinderten Kindes dieses dadurch vorsätzlich der Gefahr des Todes aussetzen, daß sie bei der Rast auf einem Autobahnrastplatz in einverständlichem Zusammenwirken das Kind nicht davon abhalten, die Autobahn zu überqueren (übereinstimmend R G 66, 74; Maurach A T 661; Eser in Schönke-Schröder § 25 Rn. 49 m. weit. Nachw.; für Nebentäterschaft in diesen Fällen Bockelmann A T 191). Wird ein tatbestandsmäßiger Erfolg dadurch verursacht, daß ein Beteiligter den Tatbestand durch positives (aktives) Tun verwirklicht, während ein anderer ihn hieran pflichtwidrig nicht hindert (z. B. wenn ein Betriebspolizist bei einem Einbruch „beide Augen zudrückt"), so ist grundsätzlich nur derjenige Täter, der die Tat selbst begeht, während der andere, der ihn hierbei durch seine pflichtwidrige Untätigkeit unterstützt, als „Randfigur" nur Gehilfe ist (vgl. Bockelmann A T 191; Gallas J Z 1952, 371; 1960, 686, 687; Jescheck A T 528; Lackner § 27 Anm. 4; Schmidhäuser S. 707; a. A. Rudolphi aaO. 138 sowie in SK 37 ff. vor § 13, der hier Mittäterschaft annehmen möchte; differenzierend Eser in Schönke-Schröder 78 ff. vor § 25). Nicht erforderlich ist, daß pflichtgemäßes Eingreifen die Tat mit Sicherheit verhindert hätte; es genügt, wenn der Gehilfe in der Lage gewesen wäre, ihre Vollendung durch sein Eingreifen zu erschweren ( B G H NJW 1953,1838). VIII. Versuch liegt vor, wenn der zur Erfolgsabwendung Verpflichtete in Kenntnis seiner Garantenstellung untätig bleibt und infolge seiner Untätigkeit die Gefahr des tatbestandsmäßigen Erfolgs nach seiner Vorstellung unmittelbar nahegerückt ist oder der Täter den Geschehensablauf mit der Möglichkeit des rettenden Eingreifens aus der Hand gibt (vgl. Jescheck A T 484; Roxin, Maurach-Festschr. S. 213, 231; Wessels A T 139). Entgegen der früher h. L. kann seit Inkrafttreten des 2. StrRG, das in § 22 zur Annahme eines Versuchs ein „unmittelbares Ansetzen" zur Tatbestandsverwirklichung voraussetzt, nicht schon generell in der ersten Phase der pflichtwidrigen Untätigkeit ein strafrechtlich relevanter Versuch gesehen werden. Wenn z. B. eine Mutter (M) ihr Kind dadurch töten will, daß sie es verhungern läßt, liegt Versuch nicht schon vor, wenn die M die erste Mahlzeit ausfallen läßt, sondern erst dann, wenn die Vorenthaltung der notwendigen Nahrung gesundheitsschädlichen Charakter annimmt (vgl. Wessels A T 140; weitergehend Dreher § 22 Rn. 22 unter Bezugnahme auf § 8: Versuch, sobald die Rechtspflicht zum Handeln eintritt). Untauglicher Versuch durch Unterlassen liegt vor, wenn jemand nur irrig Tatumstände annimmt, die eine - objektiv nicht gegebene - Erfolgsabwendungspflicht begründen würden. Beispiel: A sieht, wie ein Kind ins Wasser fällt und zu ertrinken droht. E r glaubt irrig, es sei sein eigenes Kind; dennoch bleibt er untätig. Entsprechendes gilt, wenn jemand objektiv gar keine Möglichkeit hat, den Erfolg abzuwenden, dies aber nicht erkennt. Beispiel: A verschuldet einen Unfall, bei dem ein Radfahrer (R) schwer verletzt wird. U m sich seiner Verantwortung zu entziehen, begeht er Unfallflucht und nimmt dabei in Kauf, daß R ohne sofortige ärztliche Betreuung an den Folgen seiner Verletzungen sterben wird. In diesem Fall liegt versuchte Tötung durch Unterlassen nicht nur vor, wenn R doch noch gerettet werden kann, sondern auch dann, wenn er zwar stirbt, sich aber nicht mehr mit Sicherheit feststellen läßt, daß eine Rettung objektiv noch möglich war. Kein Versuch, sondern ein strafloses Wahndelikt liegt dagegen vor, wenn jemand in Kenntnis aller Tatumstände irrig eine Garantenpflicht annimmt, die objektiv nicht besteht (vgl. B G H 16, 155, 160). Beispiel: Ein Angeklagter nimmt irrig an, er mache sich
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dadurch der Beihilfe zum Meineid schuldig, daß er in der Hauptverhandlung die Angaben eines wahrheitswidrig zu seinen Gunsten aussagenden Zeugen, auf den er zuvor keinerlei Einfluß ausgeübt hat, vor der Vereidigung nicht richtig stellt. Aus dem neueren Schrifttum siehe besonders Herzberg M D R 1973, 89 sowie Roxin, Maurach-Festschr. S. 213 ff. IX. Die sich aus Abs. 2 ergebende Möglichkeit der Strafmilderung trägt dem Umstand Rechnung, daß der Schuldgehalt der Unterlassungstat in der Regel geringer ist als bei der Begehungstat. Dies gilt uneingeschränkt allerdings nur für die Fälle, in denen ein zur Erfolgsabwendung verpflichteter Garant in einer Ausnahmesituation versagt. So macht es z. B. einen Unterschied, ob jemand sein Kind mit Tötungsvorsatz ins Wasser stößt oder ob er es nur unterläßt, ihm nachzuspringen, nachdem es ohne sein Zutun ins Wasser gefallen ist (vgl. Roxin JuS 1973, 200). Anders sind dagegen die Fälle zu beurteilen, in denen der Garant in einer Rolle versagt, die zu seiner gewohnten sozialen Funktion gehört. So macht es keinen Unterschied, ob ein Weichenwärter eine Weiche falsch stellt oder ob er es vergißt, sie überhaupt zu stellen (vgl. Roxin aaO.).
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Handeln für einen anderen
(1) Handelt jemand 1. als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person oder als Mitglied eines solchen Organs, 2. als vertretungsberechtigter Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft oder 3. als gesetzlicher Vertreter eines andern, so ist ein Gesetz, nach dem besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (besondere persönliche Merkmale) die Strafbarkeit begründen, auch auf den Vertreter anzuwenden, wenn diese Merkmale zwar nicht bei ihm, aber bei dem Vertretenen vorliegen. (2) Ist jemand von dem Inhaber eines Betriebes oder einem sonst dazu Befugten 1. beauftragt, den Betrieb ganz oder zum Teil zu leiten, oder 2. ausdrücklich beauftragt, in eigener Verantwortung Pflichten zu erfüllen, die den Inhaber des Betriebes treffen, und handelt er auf Grund dieses Auftrages, so ist ein Gesetz, nach dem besondere persönliche Merkmale die Strafbarkeit begründen, auch auf den Beauftragten anzuwenden, wenn diese Merkmale zwar nicht bei ihm, aber bei dem Inhaber des Betriebes vorliegen. Dem Betrieb im Sinne des Satzes 1 steht das Unternehmen gleich. Handelt jemand auf Grund eines entsprechenden Auftrages für eine Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, so ist Satz 1 sinngemäß anzuwenden. (3) Die Absätze 1 und 2 sind auch dann anzuwenden, wenn die Rechtshandlung, welche die Vertretungsbefugnis oder das Auftragsverhältnis begründen sollte, unwirksam ist. 83
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
I. Die durch das 2. StrRG an dieser Stelle eingefügte Vorschrift, die fast wörtlich mit dem durch das E G O W i G 1968 in Anlehnung an § 14 E 1962 eingeführten § 50 a übereinstimmt, hat ihre praktische Bedeutung vor allem auf dem Gebiet des Nebenstrafrechts. Ihr Anliegen ist es, bei den sog. Sonderdelikten (d. h. solchen Delikten, die nur von bestimmten Personen begangen werden können, vgl. B I 7 vor § 1) den Täterkreis auf solche Personen auszudehnen, denen zwar eine bestimmte Tätereigenschaft (z. B. die Eigenschaft als Arbeitgeber, Unternehmer oder Gewerbetreibender) fehlt, die es aber auf Grund einer besonderen Rechtsstellung oder als Beauftragte übernommen haben, für die Erfüllung bestimmter Sonderpflichten Sorge zu tragen. Für den Bereich der Ordnungswidrigkeiten ist § 9 OWiG zu beachten, der eine entsprechende Regelung enthält. Aus den Gesetzesmaterialien siehe die Begr. zu § 14 E 1962, den RegE (S. 62 BTDrucks. V/1319) und den Ber. des Rechtsausschusses (S. 16 BT-Drucks. V/2601). Aus dem Schrifttum siehe Blauth, Handeln für einen anderen nach geltendem und kommendem Strafrecht, 1968; Bruns, Heinitz-Festschr. S. 317, 324; Rimmelspacher J Z 1967, 472, 700; Schmitt J Z 1967, 698. II. Über besondere persönliche Merkmale (besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände) siehe grundsätzlich § 28 nebst Anmerkungen. Im Rahmen des § 14 sind allerdings nur solche besonderen persönlichen Merkmale relevant, durch die ein bestimmter Personenkreis, von dem das Gesetz die Erfüllung spezieller Pflichten erwartet, näher bezeichnet wird. In Betracht kommen insbesondere die Eigenschaft als Arbeitgeber, Gewerbetreibender, Hersteller, Unternehmer und Veranstalter, aber auch die Eigenschaft als Schuldner. So ist es z. B. entgegen der früheren Rechtslage (vgl. LG Osnabrück NJW 1969, 338) möglich, den Geschäftsführer eines in Konkurs gegangenen Einzelkaufmanns wegen Verletzung der Buchführungspflicht (§ 283 b) zu bestrafen, wenn er es pflichtwidrig unterlassen hat, die vorgeschriebenen Bilanzen zu ziehen. Der Geschäftsführer ist zwar nicht selbst Schuldner, fällt jedoch unter den erweiterten Täterkreis des § 14 (siehe hierzu auch BayObLG NJW 1969,1495). III. Die Voraussetzungen, unter denen sich der Handelnde besondere persönliche Merkmale, die nicht bei ihm selbst vorliegen, zurechnen lassen muß, sind in Abs. 1 Nr. 1 bis 3 sowie in Abs. 2 abschließend aufgezählt. Das Gesetz unterscheidet dabei zwei Fallgruppen: 1. Die 1. Fallgruppe (Abs. 1) erfaßt a) vertretungsberechtigte Organe einer juristischen Person und Mitglieder solcher Organe, z. B. Vorstandsmitglieder einer A G , Geschäftsführer einer G m b H (Einzelheiten siehe § 75 A n m . 2); b) die vertretungsberechttgten Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft, z. B. einer O H G oder einer KG, nicht jedoch Gesellschafter, die keine Vertretungsmacht haben, insbesondere Kommanditisten; c) gesetzliche Vertreter; hierher gehören vor allem Eltern und Vormünder, aber auch Konkursverwalter, Vergleichs- und Nachlaßverwalter sowie Testamentsvollstrecker (vgl. Bode NJW 1969, 212; Dreher 3; Lackner 2 a). Nicht hierher gehört dagegen der sog. gewillkürte Vertreter, z. B. der Stellvertreter eines Betriebsinhabers, der auf Grund vertraglicher Vereinbarung für die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften verantwortlich ist. In diesem Fall kann sich die strafrechtliche Verantwortlichkeit jedoch aus Abs. 2 ergeben.
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2. Die 2. Fallgruppe (Abs. 2) befaßt sich mit der strafrechtlichen Haftung von Personen, die innerhalb eines Betriebs im Auftrag des Inhabers oder eines sonstigen Befugten bestimmte verantwortliche Funktionen wahrnehmen. Sie erfaßt keineswegs alle Personen, die als Vertreter des Betriebsinhabers tätig werden. Dies würde zu einer unangemessenen Ausweitung des Strafbarkeitsbereichs führen. Besondere persönliche Merkmale, die zwar bei dem Inhaber des Betriebs oder Unternehmens, nicht aber bei seinem Beauftragten vorliegen, werden letzterem nach Abs. 2 nur dann zugerechnet, wenn er beauftragt ist, entweder den Betrieb ganz oder teilweise zu leiten (Nr. 1) oder in eigener Verantwortung Pflichten zu erfüllen, die den Inhaber des Betriebs treffen (Nr. 2). Im einzelnen: a) Unter Betrieb versteht man jede räumlich-technische Einheit, in der mehrere Personen unter Einsatz von Sachmitteln zur Erreichung eines bestimmten, nicht notwendig wirtschaftlichen Zwecks unter einer einheitlichen Leitung nicht nur vorübergehend zusammengefaßt sind. Art, Umfang und Rechtsform des Betriebs sind unerheblich. Erfaßt werden nicht nur Fabrik- und Gewerbebetriebe, sondern auch freie Berufe, z. B. die Praxis eines Arztes, die Kanzlei eines Anwalts oder das Büro eines Architekten. Um jeden Zweifel insoweit auszuschließen, ist in Abs. 2 Satz 2 das Unternehmen dem Betrieb gleichgestellt. Unternehmen ist eine kapitalmäßige Einheit, die auch aus mehreren Betrieben bestehen kann. Ein präzise faßbarer Unterschied zwischen beiden Begriffen besteht allerdings nicht (vgl. Bode NJW 1969, 212; Lenckner in Schönke-Schröder 30, 30 a m. weit. Nachw.). b) Im Falle des Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 muß der Täter bauitragt sein, den Betrieb bzw. das Unternehmen ganz oder teilweise zu leiten. Der Auftrag kann von dem Inhaber selbst oder einem sonst Befugten, z. B. einem Prokuristen, erteilt werden. Im Gegensatz zu dem engeren Tb. der Nr. 2 muß der Auftrag nicht „ausdrücklich" erteilt werden. Es genügt auch die stillschweigende Übertragung leitender Funktionen. Eigenmächtige Eingriffe in die Betriebsleitung begründen andererseits eine strafrechtliche Verantwortlichkeit erst von dem Zeitpunkt an, von dem an sie von der Betriebsleitung ausdrücklich oder stillschweigend gebilligt werden. Unerheblich ist, ob die Funktionen des Beauftragten auf kaufmännischem oder technischem Gebiet liegen. c) Im Falle des Abs. 2 S. 1 Nr. 2 muß der Täter beauftragt sein, Pflichten zu erfüllen, die an sich nur den Inhaber des Betriebs oder Unternehmens treffen. Hierher gehören z. B. die Pflichten, die sich für einen Betriebsinhaber in seiner Eigenschaft als Halter der betriebseigenen Kraftfahrzeuge ergeben, ferner die sich für einen Arbeitgeber aus den einschlägigen Arbeitsschutz- und Arbeitszeitvorschriften ergebenden Pflichten. Im Gegensatz zu Nr. 1 ist im Falle der Nr. 2 nicht erforderlich, daß der Beauftragte innerhalb des Betriebs eine leitende Funktion bekleidet. Andererseits muß ihm ausdrücklich der Auftrag erteilt worden sein, bestimmte Pflichten innerhalb des Betriebs zu erfüllen. Eine nur stillschweigende Übertragung bzw. Übernahme bestimmter Pflichten genügt hier nicht (vgl. Stgt Justiz 1969,126). In eigener Verantwortung handelt der Beauftragte, wenn er in eigener, freier Entscheidung Maßnahmen zu treffen hat, deren Anordnung normalerweise dem Betriebsinhaber selbst zusteht. Der eigenverantwortliche Charakter einer solchen Tätigkeit geht nicht dadurch verloren, daß der Beauftragte dem Betriebsinhaber oder einem anderen Repräsentanten des Betriebs über seine Tätigkeit Rechenschaft abzulegen hat und seine Tätigkeit innerbetrieblich überprüft wird.
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d) Zu den Stellen, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen (Abs. 2 Satz 3), gehören zunächst Behörden und Verwaltungsdienststellen aller Art, femer Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die Rechtsform ist unerheblich. Es macht daher keinen Unterschied, ob es sich um eine selbständige oder um eine unselbständige Anstalt des öffentlichen Rechts handelt. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es, eine sachlich nicht gerechtfertigte Differenzierung zwischen Betrieben der Privatwirtschaft einerseits und Verwaltungsstellen der öffentlichen Hand andererseits zu vermeiden. Der Fuhrpark einer Behörde muß genauso sorgfältig gewartet werden wie der Fahrpark eines privaten Spediteurs. Entsprechendes gilt für die Einhaltung der Vorschriften über Arbeitszeit und Arbeitsschutz. e) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 vor, so ist der Beauftragte strafrechtlich genauso zu behandeln, wie wenn er selbst Inhaber des Betriebs (Unternehmens) oder Leiter der Verwaltungsstelle wäre. Er kann sich nicht darauf berufen, daß ihm eine bestimmte, im Gesetz vorausgesetzte Tätereigenschaft fehlt. Hierin liegt, wie bereits unter I erwähnt, das besondere Anliegen der Vorschrift, die sich hauptsächlich auf dem Gebiet des Nebenstrafrechts auswirkt. IV. Die Unwirksamkeit der Rechtshandlung, auf der die Vertretungsbefugnis bzw. das Auftragsverhältnis beruht, steht der Anwendbarkeit der Absätze 1 und 2 nicht entgegen (vgl. Abs. 3). Der Vertreter oder sonst Beauftragte kann sich daher nicht darauf berufen, der Vertrag, durch den er zum Vertreter oder Beauftragten berufen wurde, sei wegen eines Formfehlers nichtig gewesen. Dies gilt allerdings nur in den Fällen, in denen er ungeachtet des Formfehlers - den ihm übertragenen Aufgabenkreis übernommen hat. Abs. 1 und 2 finden dagegen keine Anwendung, wenn der Vertreter oder Beauftragte unter Berufung auf den Formfehler allen Beteiligten klar zu erkennen gibt, daß er in Zukunft keine Pflichten mehr übernehmen werde. V. Wie bei allen Sonderdelikten (s. o. I) ist auf der subj. Tatseite erforderlich, daß der Täter die Umstände, aus denen sich seine besondere Täterqualifikation i. S. von § 14 ergibt, kennt. So läßt z. B. in den Fällen des Abs. 2 ein Irrtum über den Auftrag als solchen oder über den Inhalt und Umfang des Auftrags nach § 16 den Vorsatz entfallen. In Betracht kommt nur Bestrafung wegen fahrlässiger Tatbegehung, sofern diese im Einzelfall unter Strafe gestellt ist und der Irrtum auf Fahrlässigkeit beruht.
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Vorsätzliches und fahrlässiges Handeln
Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht. 1. Die Vorschrift stellt in sachlicher Ubereinstimmung mit § 15 E 1962 klar, daß fahrlässiges Verhalten nur dort strafbar ist, wo dies im Gesetz ausdrücklich vorgesehen ist. Im früheren Recht war dies bei der Auslegung der einzelnen Tatbestände oft zweifelhaft. Entsprechend der in § 15 getroffenen Regelung konnte das Wort „vorsätzlich" im Wege der Einzelanpassung in allen Tatbeständen des Besonderen Teils als entbehrlich gestrichen werden (vgl. z. B. §§ 303, 304, 305, 306 idF des EGStGB). Der Begriff „wissentlich" wurde nur in den Tatbeständen beibehalten, in denen der bedingte Vorsatz ausge-
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schlössen werden soll (vgl. z. B. §§ 134, 145). Dasselbe gilt für den verschiedentlich verwendeten Begriff „wider besseres Wissen" (vgl. z. B. §§ 145 d, 164). Dort jedoch, wo der Begriff „wissentlich" lediglich auf das Erfordernis des Vorsatzes hinwies, ohne daß hierdurch der bedingte Vorsatz ausgeschlossen werden sollte (was im Einzelfall früher streitig war), wurde der Begriff ebenfalls ersatzlos gestrichen (vgl. z. B. §§ 156, 159, 273, 324, 357). Dies bedeutet, daß der Begriff dort, wo er sich jetzt noch findet (z. B. in den §§ 134, 145), unter Ausschluß des bedingten Vorsatzes den direkten (unbedingten) Vorsatz voraussetzt (vgl. RegE Einl. II 2, S. 191 BT-Drucks. 7/550). 2. Von einer Legaldefinition der Begriffe Vorsatz und Fahrlässigkeit hat der Gesetzgeber des 2. StrRG abweichend von der in §§ 16-18 E 1962 vorgeschlagenen Regelung bewußt Abstand genommen. Die Auslegung dieser Begriffe wurde - wie früher - der Rspr. und Rechtslehre überlassen, um die mit einer gesetzlichen Fixierung verbundene Gefahr einer „Erstarrung der weiteren dogmatischen Entwicklung" auszuschließen (vgl. Ber. S. 8 BTDrucks. V/4095). 3. In Übereinstimmung mit § 15 E 1962 hat der Gesetzgeber des 2. StrRG auch bewußt eine Stellungnahme zu der Frage vermieden, ob und inwieweit Vorsatz und Fahrlässigkeit Elemente des Tatbestands oder der Schuld sind. 4. Handeln i. S. der Vorschrift ist die in den einzelnen Tatbeständen des Besonderen Teils beschriebene Tathandlung einschließlich der Erweiterungen, die sich aus den Vorschriften über Versuch und Teilnahme ergeben (vgl. Begr. zu § 15 E 1962). Nicht hierher gehören die in einigen Bestimmungen (z. B. in den §§ 186, 227, 330 a) enthaltenen objektiven Strafbarkeitsbedingungen, auf die sich weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit erstrecken müssen. Nicht hierher gehört femer die Verursachung von Auswirkungen, die über den tatbestandsmäßigen Erfolg hinausgehen. In welchem Umfang sich solche Auswirkungen der Tat, sofern verschuldet, auf die Strafzumessung auswirken können, siehe § 46 Anm. 3 d.
Vorbemerkungen zu §§ 16,17 1. Die in § 16 Abs. 1 getroffene Regelung für den Tatbestandsirrtum entspricht im wesentlichen dem früheren § 59. Sie stellt klar, daß bei einem Tatbestandsirrtum der Vorsatz entfällt, wobei jedoch nach wie vor offenbleibt, ob damit schon der Tatbestand oder erst die Schuld entfällt. Die Möglichkeit der Bestrafung wegen fahrlässiger Tatbegehung bleibt durch den Tatbestandsirrtum unberührt (§ 16 Abs. 1 S. 2). Neu ist die in § 16 Abs. 2 getroffene Regelung des Irrtums über Umstände, bei deren Vorliegen der Tatbestand eines milderen Gesetzes verwirklicht wäre. Daß der Täter in solchen Fällen nur nach dem milderen Gesetz, das er zu verwirklichen glaubt, zu bestrafen ist, entspricht dem Schuldprinzip und war schon früher allgemein anerkannt. 2. § 17 bringt die schon seit Jahrzehnten geforderte gesetzliche Regelung des Verbotsirrtums, ohne jedoch alle damit verbundenen Streitfragen befriedigend zu lösen. Ein Verbotsirrtum liegt vor, wenn dem Täter bei der Tatbegehung „die Einsicht fehlt, Unrecht zu tun", d. h. wenn er einen Tb. ohne Unrechtsbewußtsein ( = Bewußtsein der Rechtswidrigkeit) verwirklicht. 87
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a) Nach Ansicht des Reichsgerichts war ein Verbotsirrtum des Täters grundsätzlich unbeachtlich (error iuris nocet). Weder zur Annahme des Vorsatzes noch zur Begründung der Schuld hielt es das RG für erforderlich, daß der Täter das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit hatte oder wenigstens hätte haben können. In enger Anlehnung an den Wortlaut des § 59 wurde grundsätzlich nur der Irrtum über Tatumstände als beachtlich angesehen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sich der Irrtum auf den sog. Unrechtstatbestand oder auf solche Tatumstände erstreckte, bei deren Vorliegen die Rechtswidrigkeit oder die Schuld entfallen wäre. Sämtliche Formen des Tatirrtums wurden gemäß § 59 als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum behandelt. Der Rechtsirrtum war demgegenüber grundsätzlich unbeachtlich. Er wurde nur dann einem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum gleichgestellt, wenn er sich auf sog. außerstrafrechtliche Rechtsbegriffe oder Rechtssätze (Normen) bezog. Als „außerstrafrechtlich" galten solche Begriffe und Normen, die das Strafrecht aus anderen Rechtsgebieten, insbesondere aus dem Zivilrecht, unselbständig übernommen hatte. Zur Gruppe des vorsatzausschließenden außerstrafrechtlichen Irrtums gehörte z. B. Fremdheit der Sache bei den Eigentumsdelikten (vgl. RG 42, 44). Zusammenfassend siehe Härtung, Der Rechtsirrtum in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, D R Z 1949,342. b) Nach der sog. Vorsatztheorie, die in Frontstellung zu der mit dem Schuldprinzip unvereinbaren Rechtsprechung des RG entstanden ist und deren Anliegen es war, das vom RG unbeachtet gebliebene Unrechtsbewußtsein in den Verbrechensaufbau einzubeziehen, ist das Unrechtsbewußtsein Bestandteil des Vorsatzes. Vorsätzlich handelt nur, wer sich der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens bewußt ist. Nur der „dolus malus" zieht eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tatbegehung nach sich. Fehlt das Unrechtsbewußtsein, so kommt lediglich Bestrafung wegen fahrlässiger Tatbegehung in Betracht, sofern der Irrtum auf Fahrlässigkeit beruhte und die fahrlässige Tatbegehung mit Strafe bedroht ist. aa) Nach der sog. strengen Vorsatztheorie, die früher vor allem von Binding (Normen III [1908] 289), Nagler (LK 6. Aufl. 1944, S. 379 f., 482 ff.) und Mezger (Lehrbuch, 1. Aufl. 1931, S. 331) vertreten wurde, sich aber auch noch im neueren Schrifttum findet (vgl. Baumann bis 5. Aufl.; Lang-Hinrichsen JR 1952, 184, 302, 356; JZ 1953,362; GA 1957, 225; ZStW 63, 332; Sauer ZStW 69, 11; Schmidhäuser 327; Schönke-Schröder [17. Aufl.] § 59 Rn. 76 ff.; Schröder MDR 1950, 646; 1951, 387; 1953, 70; ZStW 65, 178), macht es für die rechtliche Beurteilung des Verbotsirrtums keinen Unterschied, aus welchem Grund das Unrechtsbewußtsein gefehlt hat. Nur das aktuelle Unrechtsbewußtsein begründet den Vorsatz. bb) Nach der sog. eingeschränkten Vorsatztheorie (vgl. Mezger NJW 1951,500; 1953,2; LK 8. Aufl. 1957 § 59 Anm. 17 b; Nowakowski ZStW 65 , 383) kann sich der Täter dagegen nicht auf einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum berufen, wenn ihm das Unrechtsbewußtsein auf Grund einer rechtsfeindlichen oder rechtsblinden Einstellung zur Rechtsordnung gefehlt hat. In diesen Fällen genügt das sog. potentielle Unrechtsbewußtsein, d. h. der Täter wird so behandelt, wie wenn er das Unrechtsbewußtsein gehabt hätte. (Zum Ganzen siehe auch Schmidhäuser in Mayer-Festschr. S. 317.) c) Beide Formen der unter b) dargestellten Vorsatztheorie konnten sich - abgesehen von den gegen sie dogmatisch erhobenen Bedenken (vgl. Welzel 161 ff., Maurach AT 458 ff.) - in der Praxis schon deshalb nicht durchsetzen, weil sie überall dort zu kriminalpolitisch untragbaren Ergebnissen führten, wo der Täter „rechtsfahrlässig" (und damit vorwerfbar) ohne Unrechtsbewußtsein gehandelt hat und deshalb nicht wegen vorsätzlicher Tatbegehung bestraft werden kann, andererseits aber auch nicht wegen fahrlässiger Tatbegehung bestraft werden kann, weil diese nur bei wenigen Tatbeständen mit Strafe bedroht
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ist. Der Bundesgerichtshof hat sich deshalb bereits früh in seiner Grundsatzentscheidung vom 18. 3. 1952 (BGH [GrSen] 2, 194) auf den Boden der sog. Schuldtheorie gestellt. Anliegen der Schuldtheorie ist es, in Abkehr von der Rspr. des RG das Unrechtsbewußtsein als grundsätzlich beachtliches Verbrechenselement zu berücksichtigen, aber nicht als Bestandteil des Vorsatzes, sondern als selbständiges Schuldelement. Vorsatz und Unrechtsbewußtsein sind streng zu trennen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob man den Vorsatz in Übereinstimmung mit dem herkömmlichen Verbrechensaufbau als Schuldelement oder im Anschluß an die Erkenntnisse der finalen Handlungslehre (siehe hierzu B V 3 vor § 1) als subj. Tb.-Merkmal behandelt. Im Gegensatz zur Vorsatztheorie wird der Schuldvorwurf andererseits nicht erst dadurch begründet, daß der vorsätzlich handelnde Täter sich der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens aktuell bewußt war; entscheidend ist allein, daß er unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auf Grund seiner persönlichen Kenntnisse und intellektuellen Fähigkeiten bei der ihm möglichen und zumutbaren Gewissensanspannung in der Lage gewesen wäre, die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens zu erkennen (sog. potentielles Unrechtsbewußtsein, vgl. BGH 2, 194, 200; 4, 1, 236). War der Verbotsirrtum unter Anwendung dieser Maßstäbe unvermeidbar, so entfällt die Schuld; war der Irrtum dagegen in vorwerfbarer ( = schuldhafter) Weise vermeidbar, so konnte die Strafe wegen gemilderter Schuld in analoger Anwendung von § 51 Abs. 2 (aF) nach Versuchsgrundsätzen gemildert werden (vgl. BGH 2, 194,209). d) Das 2. StrRG hat sich in § 17 in Anlehnung an § 21 E 1962 und § 20 AE trotz der im Schrifttum verschiedentlich erhobenen Mahnung, die wissenschaftliche Diskussion nicht durch einen Akt der Gesetzgebung abzuschneiden (siehe hierzu besonders Armin Kaufmann, ZStW 80, 43), eindeutig zur Schuldtheorie bekannt, deren Verfassungsmäßigkeit vom BVerfG inzwischen bestätigt worden ist (vgl. NJW 1976, 413). Die Vorsatztheorie hat deshalb seit dem 1.1. 1975 nur noch historische Bedeutung. 3. Vom Gesetzgeber des 2. StrRG noch nicht entschieden wurde die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob es sich bei dem Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds um einen Tatbestands- oder Verbotsirrtum oder um einen Irrtum eigener Art handelt. Die Entscheidung dieser Frage wurde wie bisher der Rspr. und Lehre überlassen (vgl. Ber. S. 9 BT-Drucks. V/4095). Dieser von Roxin (vgl. JuS 1973, 202) als „völlige Abdankung des Gesetzgebers" bezeichnete Verzicht auf eine gesetzgeberische Lösung des z. Z. wohl schwierigsten und umstrittensten Komplexes der Irrtumslehre hat zur Folge, daß alle bisher auf diesem Gebiet vertretenen Lehrmeinungen auch in Zukunft vertretbar sein werden. Dies gilt sowohl für die vor allem von den Vertretern des sog. finalen Handlungsbegriffs vertretene „strenge" Schuldtheorie, die den Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds vorbehaltlos der Regelung des § 17 unterstellt, als auch für die einzelnen Erscheinungsformen der „eingeschränkten" Schuldtheorie, wonach bei einem Irrtum dieser Art § 16 entweder direkt oder analog angewandt, zumindest aber auf die Rechtsfolgen des § 16 zurückgegriffen werden kann. Auch die Lehre von den sog. negativen Tatbestandsmerkmalen wird weiter in der Diskussion bleiben. Aus der Sicht der Rechtslehre mag diese „Lösung", die allen Lehrmeinungen eine zumindest theoretische Chance einräumt, mit Befriedigung aufgenommen worden sein. Der Praktiker (aber auch der Studierende) hätte es indes sicher begrüßt, wenn sich der Gesetzgeber zu einer klaren Entscheidung hätte durchringen können. Einzelheiten s. u. § 16 Anm. 3 und § 17 Anm. 3, wo auch der eigene Standpunkt zu dieser Streitfrage dargelegt wird. 89
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4. Aus dem neueren Schrifttum siehe insbesondere Backmann, Grundfälle zum strafrechtlichen Irrtum, JuS 1972, 196, 326, 452, 649; 1973, 30, 299; 1974, 40; - Baumann, Grenzfälle im Bereich des Verbotsirrtums, Welzel-Festschr. S. 533; - Blei, Unrechtsbewußtsein und Verbotsirrtum, JA 1970, StR 59, 99, 159, 179, 199; - Dreher, Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe, Heinitz-Festschr. S. 207; - Herdegen, Der Verbotsirrtum in der Rspr. des BGH, BGH-Festschr., 1975, S. 195; - Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960; - Horn, Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit, Strafrechtl. Abhandlungen, Neue Folge (Bd. 5), 1969; - Arthur Kaufmann, Zur Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, JZ 1954, 653; - ders., Tatbestand, Rechtfertigungsgründe und Irrtum, JZ 1956, 353 ff., 393 ff.; - ders., Die Irrtumsregelung im StrafgesetzEntwurf 1962, ZStW 76, 543; - Krümpelmann, Stufen der Schuld beim Verbotsirrtum, GA 1968, 129; - Lang-Hinrichsen, Zur Problematik der Lehre von Tatbestands- und Verbotsirrtum, JR 1952, 184; - ders., Tatbestandslehre und Verbotsirrtum, JR 1952, 302, 356; - Roxin, Die Behandlung des Irrtums im Entwurf 1962, ZStW 76, 582; - ders., Unterlassung, Vorsatz und Fahrlässigkeit usw. im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1973, 197; - Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, Göttinger Rechtswissenschaftl. Studien, Bd. 76, 1969; - Schmidhäuser, Über Aktualität und Potentialität des Unrechtsbewußtseins, H. Mayer-Festschr. S. 317; ders., Unrechtsbewußtsein und Schuldgrundsatz, NJW 1975, 1807; - Schröder, Tatbestands- und Verbotsirrtum, MDR 1951, 387; - Stree, Rechtswidrigkeit und Schuld im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1973, 461; - Warda, Schuld und Strafe beim Handeln mit bedingtem Unrechtsbewußtsein, Welzel-Festschr. S. 499; - ders., Vorsatz und Schuld bei ungewisser Tätervorstellung über das Vorliegen strafbarkeitsausschließender, insbesondere rechtfertigender Tatumstände, Lange-Festschr. S. 119; - Welzel, Zur Abgrenzung des Tatbestandsirrtums vom Verbotsirrtum, MDR 1952, 584; - ders., Diskussionsbemerkungen zum Thema „Die Irrtumsregelung im Entwurf", ZStW 76, 669.
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Irrtum über Tatumstände
(1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt. (2) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche den Tatbestand eines milderen Gesetzes verwirklichen würden, kann wegen vorsätzlicher Begehung nur nach dem milderen Gesetz bestraft werden. 1. Wie bereits unter Anm. 2 zu § 15 dargelegt, hat der Gesetzgeber des 2. StrRG abweichend von § 16 E 1962 - bewußt darauf verzichtet, den Begriff Voisatz einer Legaldefinition zu unterziehen. § 16 Abs. 1 S. 1 stellt lediglich klar, daß nicht vorsätzlich handelt, wer bei Tatbegehung einen zum gesetzlichen Tb. gehörenden Umstand nicht kennt. Hieraus ergibt sich im Wege des Umkehrschlusses, daß sich der Vorsatz auf alle Umstände (Merkmale) des gesetzlichen Tatbestands erstrecken muß (Vorsatz = Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung). Wegen der einzelnen Erscheinungsformen des Vorsatzes und der Stellung des Vorsatzes im Verbrechensaufbau siehe B V 3 vor § 1. Über die Entstehungsgeschichte der Vorschrift siehe Vorbem. 1-3, über das Schrifttum zum Tatbestands- und Verbotsirrtum siehe Vorbem. 4.
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2. Vorsatzausschließend ist unbestritten der Irrtum über den sog. Unrechtstatbestand, d. h. über solche Merkmale, die den Deliktstypus des jeweiligen Tatbestands bestimmen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob es sich um deskriptive oder normative Tatbestandsmerkmale handelt (vgl. Begr. zu § 19 E 1962). b) Beispiele: Der Vorsatz entfällt, wenn jemand eine fremde Sache zerstört in der irrigen Annahme, die Sache gehöre ihm selbst ( = Irrtum über das Tb.-Merkmal fremd). - Oder: Der kurzsichtige Jäger A schießt bei einer Jagd auf den leichtsinnig in sein Schußfeld geratenen Jagdgast X, den er in der Dämmerung für ein aufgescheuchtes Stück Wild hält ( = Irrtum über das Tb.-Merkmal Mensch). - Oder: A verkauft einen Fernsehapparat, der ohne sein Wissen vom Gerichtsvollzieher wegen einer Forderung gegen seine Ehefrau gepfändet worden war ( = Irrtum über das Tb.-Merkmal Pfändung in § 136 Abs. 1). b) Bei den sog. normativen Tatbestandsmerkmalen, d. h. solchen Tatbestandsmerkmalen, die ihre eigentliche Bedeutung erst durch eine rechtliche Wertung erhalten, genügt es, daß der Täter die Tatumstände kennt, die der Wertung zugrundeliegen, und daß er die Bedeutung dieser Tatumstände im Rechtsleben - wenngleich laienhaft - kennt (sog. Parallelwertung in der Laiensphäre). Wer z. B. eine Fahrkarte der Bundesbahn verfälscht, kann den Vorwurf der Urkundenfälschung nicht dadurch entkräften, daß er zu seiner Verteidigung vorbringt, er habe geglaubt, die Fahrkarte sei keine Urkunde. Hier genügt es, daß der Täter weiß, daß die Fahrkarte geeignet und bestimmt ist, rechtserhebliche Tatsachen (Fahrstrecke, Gültigkeitsdauer usw.) zu beweisen. Ist dies der Fall, so liegt kein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum, sondern ein unbeachtlicher Subsumtionsirrtum vor. c) Liegt ein Tatbestandsirrtum in diesem Sinne vor, so entfällt der Vorsatz ohne Rücksicht darauf, ob der Irrtum für den Täter vermeidbar war oder nicht. War der Irrtum vermeidbar, so kommt Bestrafung wegen fahrlässiger Begehung in Betracht, sofern diese bei dem in Frage stehenden Tatbestand mit Strafe bedroht ist (vgl. Abs. 1 Satz. 2). Kann dem Täter auch keine Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden oder ist die fahrlässige Tatbegehung nicht mit Strafe bedroht, so ist eine strafbare Handlung überhaupt nicht gegeben. 3. Bestritten ist die Behandlung des Irrtums über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds, der im neueren Schrifttum vorwiegend unter der Bezeichnung Irrtum über den Erlaubnistatbestand bekannt ist. Beispiele: A schießt auf B in der irrigen Annahme, dieser greife ihn mit einem Messer bedrohlich an (Fall der Putativnotwehr). - Oder: A hilft seinem Freund F beim Räumen seines Zimmers und wirft dabei verschiedene Sachen in die Mülltonne, wobei er irrig davon ausgeht, F habe ihm dazu den Auftrag gegeben ( = Irrtum über das Vorliegen einer rechtfertigenden Einwilligung). a) Der Gesetzgeber des 2. StrRG hat, wie bereits in Vorbem. 3 dargelegt, auf eine gesetzliche Regelung dieser Fallgruppe bewußt verzichtet und damit die Entscheidung, ob es sich um einen Tatbestands- oder Verbotsirrtum oder um einen Irrtum eigener Art handelt, wie bisher der Rspr. und Lehre überlassen (vgl. Ber. S. 9. BT-Drucks. V/4095). Die früheren Entwürfe hatten das Problem unterschiedlich behandelt: Während nach § 20 E 1962 nur die Vorsatzstrafe entfallen sollte, nahm § 19 Abs. 1 AE einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum an. Nachdem beide Entwürfe vom Gesetzgeber des 2. StrRG nicht übernommen wurden, muß das Problem wie bisher rechtssystematisch entwickelt werden. 91
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b) Vorsatzausschließend wäre der Irrtum über den Erlaubnistatbestand auf jeden Fall dann, wenn man auf der Grundlage der sog. Vorsatztheorie (vgl. Vorbem. 2 b) das Unrechtsbewußtsein als Bestandteil des Vorsatzes betrachten wollte. Da der Täter bei einem Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund ohne das nach der Vorsatztheorie für die Annahme von Vorsatz erforderliche (aktuelle) Unrechtsbewußtsein handelt, käme nach dieser Theorie nur eine Bestrafung wegen fahrlässiger Tatbegehung in Betracht, sofern der Irrtum auf Fahrlässigkeit beruht und die fahrlässige Tatbegehung im Einzelfall mit Strafe bedroht ist. Auf die Vorsatztheorie kann jedoch nicht mehr zurückgegriffen werden, nachdem der Gesetzgeber sich in § 17 eindeutig auf den Boden der Schuldtheorie gestellt hat und die Vorsatztheorie nur noch historische Bedeutung hat (vgl. Vorbem. 2 d). Nach dem derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung läßt sich die Annahme eines vorsatzausschließenden Tb.-Irrtums, wie Dreher überzeugend nachgewiesen hat (vgl. HeinitzFestschr. S. 207, 223) nur noch auf der Grundlage der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen vertreten (begründet von Ad. Merkel, Lehrbuch 1889 S. 82, fortgeführt von Frank ZStW 14, 363; in jüngerer Zeit wieder aufgenommen u. a. von Arthur Kaufmann JZ 1954, 653; JZ 1956, 353 ff.; 393 ff.; ZStW 76, 543 und Roxin ZStW 76, 582). Nach dieser Lehre gehören zum „gesetzlichen Tatbestand" i. S. von § 16 nicht nur die unrechtsbegründenden Merkmale des jeweiligen Tatbestands, sondern auch die sog. negativen Tatbestandsmerkmale, d. h. alle rechtfertigenden Elemente, bei deren Vorliegen von einem tatbestandsmäßigen Unrecht nicht gesprochen werden kann. Nach der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen ist die Rechtswidrigkeit zwar kein positives Tatbestandsmerkmal, auf das sich der Vorsatz beziehen muß (hier zeigt sich der Unterschied gegenüber der Vorsatztheorie), ihr Mangel jedoch ein negatives. Eine derartige Verflechtung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit ist jedoch nur auf der Grundlage eines zweiteiligen Verbrechensaufbaus möglich. Er verbietet sich dagegen auf der Grundlage eines dreistufigen Verbrechensaufbaus, der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld streng trennt und den Vorsatz als subj. Tb.-Merkmal versteht, das aufbaumäßig vor der Rechtswidrigkeit zu prüfen ist. Nach dem dreistufigen Verbrechensaufbau schließen die Rechtfertigungsgründe nicht die Tatbestandsmäßigkeit, sondern die Rechtswidrigkeit aus. Daß der Gesetzgeber auf dem Boden des hier vertretenen dreistufigen Verbrechensaufbaus steht, ergibt sich jetzt eindeutig aus den §§ 32 und 34, die klar erkennen lassen, daß in den Fällen der Notwehr und des rechtfertigenden Notstands nicht schon der Tatbestand entfällt, sondern die tatbestandsmäßige Handlung nicht rechtswidrig ist (vgl. Bockelmann AT 39; Dreher aaO. 220; zur Kritik der Lehre von den negativen Tb.-Merkmalen siehe insbesondere auch Gallas ZStW 67, 1, 19, 27; Hirsch, Die Lehre von den negativen Tb.-Merkmalen, 1960; Jescheck AT 188 f.; Armin Kaufmann JZ 1955, 37; Lenckner in Schönke-Schröder 17 vor § 13; Eb. Schmidt ZStW 67, 437; Welzel JZ 1952, 596; ZStW 67, 197, 209; Wessels AT 26 f.). Aus der Ablehnung der Lehre von den negativen Tb.-Merkmalen ergibt sich zwingend, daß der Irrtum über den Erlaubnistatbestand kein vorsatzausschließender Tb.-Irrtum sein kann (h. L.; a. A. Blei AT 115,179; Rudolphi SK 10). c) Der BGH hat sich zwar bisher noch nicht zu der unter lit. b) erörterten und im Ergebnis abgelehnten Lehre von den negativen Tb.-Merkmalen bekannt, kam jedoch auf der Grundlage der sog. eingeschränkten Schuldtheorie praktisch zu den gleichen Ergebnissen, indem er in Fortführung der Rechtsprechung des RG jeden Tatirrtum und damit auch den Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds der Regelung des § 59 (aF) unterstellte. Offen blieb jedoch, ob in diesen Fällen bereits der
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Vorsatz entfällt oder ob der Irrtum nur in den Rechtsfolgen einem vorsatzausschließenden Tb.-Irrtum gleichzustellen ist (vgl. BGH 2, 211, 236; 3, 105,194, 271 f.). Im Schrifttum wird die Rspr. des BGH überwiegend dahin interpretiert, daß der Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds den Vorsatz entfallen läßt. Ein klares „dogmatisches Bekenntnis" des BGH, das in diese Richtung weisen würde, fehlt jedoch (vgl. Dreher aaO. 223). d) Nach der sog. strengen Schuldtheorie (im Schrifttum u. a. vertreten von Bockelmann AT 119 f.; Härtung NJW 1951, 210; Heitzer NJW 1953, 210; Hirsch aaO. 314 ff.; Maurach [4. Aufl.] AT 454 ff., 468 ff., 475 f.; Niese DRiZ 1953, 20,; Eb. Schmidt SJZ 1948, 574; 1950, 835; MDR 1950,691; Warda JR 1950, 549 und Welzel 164 ff.) handelt es sich bei dem Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds um einen Verbotsirrtum, der wie jeder andere Irrtum über die Rechtswidrigkeit zu behandeln und somit der Regelung des § 17 zu unterstellen ist. Die Rechtsfolgen des Tb.-Irrtums (§ 16) sind weder direkt noch analog anwendbar. Wer z. B. in vermeintlicher Notwehr einen anderen tötet, ist bei Vermeidbarkeit des Irrtums wegen vorsätzlicher Tötung zu bestrafen. Die einzige Erleichterung für den Täter besteht darin, daß die Strafe gemäß § 17 S. 2 i. V. mit § 49 Abs. 1 gemildert werden kann. Die Schuld entfällt jedoch, wenn der Irrtum unvermeidbar war (§ 17 S. 1). e) Nach einer in den letzten Jahren immer mehr im Vordringen begriffenen Auffassung, die man als Lehre vom Erlaubnistatbestand bezeichnen könnte, handelt es sich bei dem Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds um einen Irrtum eigener Art, der zwischen dem Tatbestandsirrtum und dem Verbotsirrtum steht. Nach dieser u. a. Dreher (27 sowie Heinitz-Festschr. S. 207 ff.), Gallas (ZStW 67, 1,29), Jescheck (AT 349), Krümpelmann (GA 1968, 129), Lackner (§ 17 Anm. 5 b), MaurachZipf AT I 554 ff. und Wessels (AT 84 f.) vertretenen Ansicht schließt der Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds zwar nicht den Vorsatz aus; er ist jedoch in seinen Rechtsfolgen einem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum gleichzustellen. Vorsatzausschließend ist nur der Irrtum über den sog. Unrechtstatbestand, d.h. der Irrtum über die unrechtstypisierenden Merkmale des jeweiligen Tatbestands (s.o. 2). Der Irrtum über rechtfertigende Tatumstände, die den sog. Erlaubnistatbestand begründen, kann schon deshalb kein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum sein, weil er sich nicht auf den Tatbestand, sondern auf die Rechtswidrigkeit bezieht; er hat mit dem Irrtum über den Unrechtstatbestand jedoch gemeinsam, daß in beiden Fällen der Handlungsunwert hinter dem Erfolgsunwert zurückbleibt. In beiden Fällen irrt der Täter über Merkmale, die den materiellen Unrechtsgehalt begründen; er verkennt die Situation, aus der sich die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens ergibt. Diese gemeinsame Grundlage läßt es geboten erscheinen, den Irrtum über den Erlaubnistatbestand in seinen Rechtsfolgen dem Irrtum über den Unrechtstatbestand gleichzustellen und wie diesen dem Anwendungsbereich des § 16 zu unterstellen. Es entfällt aber nicht der Vorsatz, sondern nur die Vorsatzstrafe. Insoweit unterscheidet sich der hier vertretene Standpunkt sowohl von der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (s. o. 3 b) als auch von der Richtung im Schrifttum, die bei sonst sachlich übereinstimmenden Ergebnissen davon ausgeht, daß der Irrtum über den Erlaubnistatbestand ebenso wie der Irrtum über den Unrechtstatbestand bereits den Vorsatz ausschließt (vgl. z. B. Blei A T 115, 179; Cramer in Schönke-Schröder 14). Die Frage, ob der Irrtum über den Erlaubnistatbestand den Vorsatz oder nur die Vorsatzstrafe ausschließt, ist nicht nur rein theoretischer Natur. Die praktische Bedeutung des Unterschieds besteht darin, daß im einen Fall bereits der subj. Tb. entfällt, im anderen Fall dagegen erst die Schuld. Hieraus 93
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wiederum ergeben sich wesentliche Folgerungen für die Behandlung von Teilnehmern, die sich ihrerseits nicht in einem strafrechtlich relevanten Irrtum befinden. Nach der hier vertretenen Auffassung ist strafbare Teilnahme an einer Tat, bei der sich der Täter in einem Irrtum über den Erlaubnistatbestand befindet, ohne weiteres möglich (im Ergebnis übereinstimmend trotz sonst völliger Gleichstellung des Irrtums über den Erlaubnistatbestand mit dem Irrtum über den Unrechtstatbestand Rudolphi SK 13). 4. Nicht zum „gesetzlichen Tatbestand" i. S. von § 16 gehören die tatsächlichen Voraussetzungen eines Schuldausschließungsgrunds, z. B. des schuldausschließenden Notstands (§ 35). Ein Irrtum über ihr Vorliegen berührt weder den Vorsatz noch das Unrechtsbewußtsein. Es handelt sich deshalb weder um einen Tatbestands- noch um einen Verbotsirrtum. D e r Täter kennt alle unrechtstypisierenden Tatbestandsmerkmale und will auch ihre Verwirklichung. E r handelt damit vorsätzlich. Er weiß auch, daß er gegen eine Verbotsnorm verstößt und kann sich daher nicht auf fehlendes Unrechtsbewußtsein berufen.. Andererseits kann der Irrtum nicht schlechthin als unbeachtlich behandelt werden. Der Täter, der sich nur irrtümlich in einer Notstandslage wähnt, befindet sich psychologisch in der gleichen Situation, wie wenn er sich tatsächlich in einer Notstandslage befinden würde. Ein Teil des Schrifttums hatte deshalb früher in sachlicher Übereinstimmung mit dem Bundesgerichtshof ( B G H 5, 371, 374; 18, 311 f.) den Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Schuldausschließungsgrundes wie einen Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes behandelt und den Rechtsfolgen eines vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtums unterstellt. Bei Zugrundelegung dieser Ansicht käme nur Bestrafung wegen fahrlässiger Tatbegehung in Betracht, soweit diese unter Strafe gestellt ist und dem Täter Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden kann. Demgegenüber ging die h. L. im Schrifttum schon vor dem Inkrafttreten des 2. StrRG in sachlicher Übereinstimmung mit § 40 Abs. 2 E 1962 davon aus, daß es sich bei dem Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen des schuldausschließenden Notstands nicht um einen Quasi-Tatbestandsirrtum, sondern um einen Quasi-Verbotsirrtum handelt. Diese Auffassung wurde inzwischen durch das 2. StrRG in § 35 Abs. 2 gesetzlich verankert. 5. Da der Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg bei allen Erfolgsdelikten ein ungeschriebenes Merkmal des Tatbestands ist, ist der Irrtum über den Kausalverlauf dann beachtlich, wenn der tatsächliche Geschehnisablauf von der Vorstellung des Täters so sehr abweicht, daß er von diesem nicht mehr beherrscht wird und ihm daher auch nicht zugerechnet werden kann. Dies gilt insbesondere für die sog. atypischen Geschehnisabläufe. Beispiel: A schießt mit Tötungsvorsatz auf X, verletzt diesen aber nur leicht am Arm. Wenn B dann anschließend auf dem Weg zum Arzt bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, so handelt es sich insoweit um eine wesentliche Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Geschehnisablauf, die vom Vorsatz des A nicht umfaßt war. A ist demnach nur wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu bestrafen. (Weitere Einzelheiten und Beispiele siehe B IV 4 vor § 1). a) Unwesentliche Abweichungen des tatsächlichen Geschehnisablaufs gegenüber dem vorgestellten Geschehnisablauf sind rechtlich ohne Bedeutung; sie schließen den Vorsatz nicht aus. Der Vorsatz muß sich zwar auf den ganzen Geschehnisablauf erstrecken; da aber alle Einzelheiten dieses Ablaufs erfahrungsgemäß nicht immer voraussehbar sind, können unwesentliche Abweichungen den Täter nicht entlasten. Unwesentlich sind alle Abweichungen, die sich in den Grenzen der allgemeinen Lebenserfahrung halten, d. h. im
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Rahmen adäquater Kausalität liegen (vgl. B G H 23, 135; Welzel 73). Beispiel: A stürzt den X mit Tötungsvorsatz über das Geländer einer Brücke in einen Fluß. Wenn X entgegen der Vorstellung des A bereits vor Erreichen der Wasseroberfläche auf einen Brükkenpfeiler aufschlägt und sich hierbei tödliche Verletzungen zuzieht, so kann A sich nicht mit vorsatzausschließender Wirkung darauf berufen, der Tod sei entgegen seiner Vorstellung nicht durch Ertrinken, sondern durch ein „atypisches Ereignis" eingetreten. Weitere Beispiele aus der Rechtsprechung des B G H zu §§ 211 ff.: keine wesentliche Abweichung, wenn der Täter durch die ersten, noch im Zustand der Schuldfähigkeit gegen das Opfer geführten Hammerschläge in einen die Schuldfähigkeit ausschließenden Blutrausch gerät (vgl. B G H 7, 325). Dem gleich steht der Fall, daß der Täter schon bei Beginn des Zustechens oder Zuschlagens in eine seine Schuldfähigkeit ausschließende Affektamnesie gerät, die sich aus seinem vorausgegangenen Verhalten entwickelt hat und nicht durch äußere, von seiner Persönlichkeit unabhängige Einflüsse ausgelöst worden ist. Daß der Täter diese Beeinträchtigung seiner Schuldfähigkeit bei Beginn der Tatausführung vorausgesehen hat oder zumindest hätte voraussehen können (sog. actio libera in causa, vgl. § 20 Anm. 3), ist in Fällen dieser Art nicht erforderlich; es genügt vielmehr, daß er im Versuchsstadium noch schuldfähig war und das weitere Geschehen „adäquat" verlaufen ist ( B G H 23, 133, 136). Verneint wurde eine adäquate Verursachung in folgendem Fall ( B G H G A 1956, 26): A wollte seine Ehefrau auf deren Verlangen durch Pistolenschüsse töten. Als diese ohne tödliche Wirkung blieben und A sich schon im Zustand der Schuldunfähigkeit befand, tötete er seine Frau auf deren inständiges Bitten (!?) auf andere Weise, nämlich durch Hammerschläge auf den Kopf sowie durch Messerstiche ins Herz und in die Kehle. In diesem Fall kann die Bestrafung nur wegen eines versuchten Vergehens gemäß § 216 erfolgen. Nicht einmal Versuch liegt vor, wenn die Tat zwar noch im Zustand der Schuldfähigkeit geplant und vorbereitet wird, der Täter aber bereits vor der eigentlichen Tatausführung in einen seine Schuldfähigkeit ausschließenden Zustand gerät und die Tat dann in diesem Zustand begeht. Hier liegt - von dem Fall der actio libera in causa abgesehen - eine Straftat überhaupt nicht vor; in Betracht kommt lediglich eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (vgl. B G H 23, 356). b) Eine besondere Erscheinungsform des Irrtums über den Kausalverlauf stellen die Fälle dar, in denen der Täter den Erfolg nicht schon durch die zu diesem Zweck vorgenommene Handlung, sondern dadurch erreicht, daß er in der irrigen Annahme, der erstrebte Zweck sei bereits erreicht, eine weitere, anderen Zwecken dienende Handlung vornimmt. Die Problematik dieser unter dem unklaren und rechtsgeschichtlich überholten Begriff des dolus generalis bekannten Fälle besteht darin, daß die entscheidende, den Erfolg auslösende Handlung nicht mehr vom Vorsatz des Täters getragen wird. Beispiel: A würgt den X mit Tötungsvorsatz so lange, bis X bewußtlos zusammenbricht. Anschließend hängt er, um einen Selbstmord vorzutäuschen, den vermeintlich Toten am Fensterkreuz auf. Die nach Auffindung der Leiche durchgeführte Sektion (siehe hierzu §§ 87, 159 StPO) ergibt, daß X entgegen der Vorstellung des A nicht schon durch das Würgen, sondern erst durch das - von A ursprünglich gar nicht beabsichtigte - Aufhängen gestorben ist. Die Behandlung dieser Fälle ist sehr umstritten. Während die Rspr. (vgl. R G 67, 258; O G H B Z 1, 75; B G H M D R 1952, 16; 7, 329; 14, 193) sowie die h. L. im Schrifttum (vgl. Baumann A T 401; Blei A T 112 f.; Cramer in Schönke-Schröder § 15 Rn. 57; Dreher 7; Jescheck A T 234; Lackner § 15 Anm. II 2 a ; Wessels A T 51) eine unwesentliche Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf und demzufolge vollendete Tötung annehmen, liegt nach einer im Vordringen begriffenen Mindermeinung nur versuchte Tötung vor (vgl. Backmann JuS 1972, 196, 199; Engisch,
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Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1930, S. 72; Maiwald ZStW 78, 30; Maurach-Zipf AT I 348 f.; Welzel 74). Die letztgenannte Ansicht verdient den Vorzug, da nur sie den Umstand, daß die entscheidende Tötungshandlung nicht mehr vom Vorsatz des Täters getragen war, gebührend berücksichtigt. Der Umstand, daß der Tod aufgrund einer vom Vorsatz des Täters nicht mehr getragenen und vom Täter ursprünglich nicht einmal eingeplanten Handlung eingetreten ist, muß als wesentliche Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf gewertet werden. Der Fall darf nicht anders beurteilt werden als der von Cramer aaO. Rn. 57 als Beispiel für eine wesentliche Abweichung des Kausalverlaufs gebrachte Fall, daß der Täter das vermeintlich tote Opfer in seinem Pkw an einen abgelegenen Ort fahren will, um es dort zu verscharren, unterwegs aber einen Unfall verschuldet, bei dem das Opfer dann tatsächlich ums Leben kommt. Sowohl im Ausgangsfall (Tod des vermeintlich toten Opfers durch Aufhängen) als auch in dem Beispiel von Cramer kann dem Täter lediglich zur Last gelegt werden, daß er nach dem Tötungsversuch den Tod des Opfers fahrlässig verursacht hat. Diese fahrlässige Tötung tritt realkonkurrierend zu dem Tötungsversuch hinzu (vgl. Maiwald aaO. 58). Zur Annahme einer vorsätzlichen Tötung käme man im Ausgangsfall nur, wenn der Täter bei Vornahme der späteren Handlung (Aufhängen) mit der - wenn auch nur geringen Möglichkeit gerechnet hätte, das Opfer lebe noch, er den Tod des Opfers aber mit letzter Sicherheit bewirken wollte. Vollendete yorsätzliche Tötung liegt weiter dann vor, wenn das Aufhängen des Opfers zum ursprünglichen Tatplan des Täters gehört hat. In diesem Fall müßten Würgen und Aufhängen als einheitlicher Vorgang bewertet werden, für dessen rechtliche Beurteilung es unwesentlich ist, ob das Opfer schon durch das Würgen oder erst durch das Aufhängen gestorben ist (a. A. Maiwald aaO. 36 f., der auch hier nur versuchte Tötung annimmt; im Sinne der hier vorgenommenen Differenzierung jedoch Rudolphi SK 35; Fr. Chr. Schroeder LK Rn. 130 f. zu § 59 aF; Welzel 74). c) Probleme wirft auch der umgekehrte Fall auf: Wie ist zu entscheiden, wenn der Tod durch eine Handlung eintritt, die nach dem Tatplan noch nicht die entscheidende Tötungshandlung sein sollte. Beispiel: A will während einer Eisenbahnfahrt X in der Absicht betäuben, ihn seiner Barschaft zu berauben und anschließend, um einen Unfall vorzutäuschen, aus dem Zug zu werfen. Entgegen der Vorstellung des A führt jedoch bereits der erste Schlag, der X nur betäuben sollte, zum Tod. Der Unterschied zu den oben unter b) erörterten Fällen besteht darin, daß hier der zum Tod führende Schlag Bestandteil des vom Tötungsvorsatz getragenen Gesamtplans war. A hat sich deshalb des vollendeten Mordes in Tateinheit mit schwerem Raub schuldig gemacht (vgl. BGH GA 1955, 123; Maurach-Zipf AT 1349; Rudolphi SK 34; Welzel 74).
6. Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit ist grundsätzlich kein nach § 16 zu beurteilender Tatbestandsirrtum, sondern ein der Regelung des § 17 unterliegender Verbotsirrtum. Ein Tatbestandsirrtum liegt jedoch dann vor, wenn die Rechtswidrigkeit nicht allgemeines Verbrechensmerkmal, sondern - ausnahmsweise - unrechtstypisierendes Merkmal des jeweiligen Tatbestands ist. Dies gilt z. B. für die Rechtswidrigkeit des erstrebten Vermögensvorteils bei Betrug und Erpressung (vgl. BGH 3, 160; 4, 105,107; Jescheck AT 346) sowie für die Rechtswidrigkeit der erstrebten Zueignung bei Diebstahl und Raub (BGH 17, 87; Maurach-Zipf AT I 340). In diesen Fällen charakterisiert das Urteil „rechtswidrig" nicht die tatbestandsmäßige Handlung in ihrer Gesamtheit, sondern begründet erst die Tatbestandsmäßigkeit. Uber die Sonderstellung des Irrtums über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds s. o. Anm. 3.
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7. Nicht hierher gehören ferner der Irrtum über persönliche Strafausschließungsgründe, objektive Strafbarkeitsbedingungen und Prozeßvoraussetzungen.
8. Besondere Erscheinungsformen des Irrtums a) Von einem error in persona ( = Irrtum über die Person) spricht man, wenn der Täter die Person, gegen die sich sein Angriff richtet, mit einer anderen verwechselt. Ein solcher Irrtum ist rechtlich unbeachtlich, wenn die Tat unter dem gleichen rechtlichen Gesichtspunkt zu beurteilen gewesen wäre, wenn sie sich gegen die Person gerichtet hätte, die der Täter an sich verletzen wollte. Beispiel: A will den X töten und legt sich zu diesem Zweck am Wegrand auf die Lauer. Wider Erwarten erscheint aber nicht X, sondern Y, den A in der Dunkelheit für X hält und niederschießt. Eine derartige Personenverwechslung ist rechtlich unbeachtlich. Sie schließt weder den Vorsatz noch das Unrechtsbewußtsein aus. A durfte weder den X noch den Y töten. Er ist demnach wegen vollendeter vorsätzlicher Tötung zu bestrafen (h. L., vgl. z. B. Jescheck AT 232; Maurach-Zipf AT 345 f.; Wessels AT 49). Der Irrtum über die Person ist jedoch dann wesentlich, wenn die Tat ohne die Personenverwechslung rechtlich anders zu beurteilen gewesen wäre. In diesen Fällen kann sich der Irrtum zugunsten des Täters auswirken. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Täter ohne die Personenverwechslung gerechtfertigt gewesen wäre. Beispiel: Der auf Vorposten liegende Soldat A schießt einen eigenen Mann an, von dem er irrig annimmt, es sei ein angreifender Feind. Hier kommt nur fahrlässige Körperverletzung bzw. Tötung in Betracht (s. o. 3). b) Von einem error in objecto ( = Irrtum Uber die Sache) spricht man, wenn der Täter die Sache, gegen die sich sein Angriff richtet, mit einer anderen verwechselt. Hier finden die Grundsätze über den error in persona (siehe oben a) entsprechende Anwendung. Die Verwechslung ist unerheblich, wenn die rechtliche Beurteilung der Tat auch ohne sie die gleiche gewesen wäre. Beispiel: A will dem X dadurch Schaden zufügen, daß er ihm die Reifen seines Pkw zerschneidet. In der Dunkelheit verwechselt er aber den Pkw des X mit dem des Y. Ergebnis: Strafbarkeit des A wegen vollendeter vorsätzlicher Sachbeschädigung. Nur Versuch dagegen, wenn A aus Versehen seinen eigenen Pkw beschädigt. In diesem Fall hätte er nämlich keine fremde Sache beschädigt. c) Ein beachtlicher ( = vorsatzausschließender) Irrtum über den Geschehnisablauf (s. o. 5) liegt immer dann vor, wenn der Täter eine andere Person trifft als die, auf die er gezielt hatte (sog. aberratio ictus oder Abirrung). Beispiel: A will X töten, sein Schuß trifft aber den danebenstehenden Y. Hier kommt nur versuchte Tötung des X in Betracht. Diese steht in Idealkonkurrenz mit fahrlässiger Tötung, wenn A sich bei Abgabe des Schusses hätte sagen können und müssen, daß er nicht X, sondern Y treffen würde (vgl. Neustadt NJW 1964, 311; Jescheck AT 233 mit weit. Nachweisen). Aus dem jüngeren Schrifttum siehe besonders Backmann, Die Rechtsfolgen der aberratio ictus, JuS 1971, 113, sowie Herzberg. Aberratio ictus und abweichender Tatverlauf, ZStW 85, 867. d) Weitere Besonderheiten sind bei den unechten Unterlassungsdelikten zu beachten. Siehe hierzu ausführlich BGH 16,155 sowie § 13 Anm. IV. 9. Die Regelung des § 16 bezieht sich nicht nur auf strafbegründende, sondern auch auf straferhöhende Umstände. Beispiel: Wer seinen Vater mißhandelt, ohne zu wissen, daß 4
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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es sein Vater ist (z. B. infolge Verwechslung in der Dunkelheit), kann nicht nach § 223 Abs. 2, sondern nur wegen eines Vergehens nach § 223 Abs. 1 bestraft werden.
10. Abs. 1 S. 2 gibt die Möglichkeit, wegen fahrlässiger Tatbegehung zu bestrafen, sofem der vorsatzausschließende Tb.-Irrtum auf Fahrlässigkeit beruht und auch die fahrlässige Tatbegehung mit Strafe bedroht ist (vgl. § 15).
11. Nimmt der Täter bei Verwirklichung eines schweren Delikts irrig Umstände an, bei deren Vorliegen der Tb. eines milderen Gesetzes verwirklicht wäre, so kommt nach Abs. 2 nur eine Bestrafung nach dem milderen Gesetz in Betracht, obwohl dessen privilegierende Merkmale objektiv gar nicht gegeben sind. a) Beispiele: Dr. med. A gibt seinem unheilbar erkrankten Patienten (P) in der irrigen Vorstellung, P habe dies ausdrücklich und ernsthaft verlangt, ein tödlich wirkendes Medikament, um P von seinen Leiden zu erlösen. Stirbt P, so ist Dr. A nach § 16 Abs. 2 auch dann n u r g e m ä ß § 2 1 6 und nicht nach §§211,212(213) zu bestrafen, wenn sich nachträglich ergibt, daß P keinesfalls sterben, sondern nur ein schnell wirkendes Schlafmittel haben wollte. Entsprechendes gilt für den Bereich des § 217: So kommt eine Mutter, die unmittelbar nach der Geburt ihr nur vermeintlich nichteheliches Kind tötet, auch dann in den Genuß der sich aus § 217 ergebenden Privilegierung, wenn sich nachträglich herausstellt, daß das Kind ehelich war (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 26; Maurach-Zipf AT I 344). - Oder: A eignet sich eine Jacke zu, die er auf einer Waldbank gefunden hat und von der er irrig annimmt, der Eigentümer habe sie verloren, während sich in Wirklichkeit dieser nur kurzfristig entfernt, also noch (gelockerten) Gewahrsam hatte. Die Bestrafung erfolgt hier entsprechend der Vorstellung des A nicht wegen Diebstahls, sondern wegen Unterschlagung. b) Nicht über § 16 Abs. 2 sondern unmittelbar über § 16 Abs. 1 sind die Fälle zu lösen, bei denen der Täter zwar ein Merkmal des objektiv erfüllten schweren Tatbestands nicht kennt, die ihm bekannten Umstände aber gleichzeitig den Tb. eines milderen Gesetzes ergeben (vgl. Begr. zu § 19 E 1962; Maurach-Zipf AT I 343). Beispiel: A erkennt bei einer Schlägerei im dunklen Hof einer Gastwirtschaft nicht, daß sein Kontrahent, auf den er einschlägt, sein eigener Vater ist. Hier entfällt eine Strafbarkeit nach § 223 Abs. 2 gemäß § 16 Abs. 1. Da alle Tatbestandsmerkmale des § 223 Abs. 1 nicht nur in der Vorstellung des Täters, sondern auch objektiv gegeben sind, bedarf es für eine Bestrafung nach dieser Vorschrift keines Rückgriffs auf § 16 Abs. 2 (unpassend deshalb das Beispiel bei Bockelmann AT 73 unter III 2 b). c) Nicht hierher gehört seit der Neufassung des § 248 a durch das EGStGB der Fall, daß jemand eine wertvolle Sache entwendet, von der er irrig annimmt, sie sei geringwertig. Dieser Fall wird zwar in der Begr. zu § 19 Abs. 2 E 1962 als Musterbeispiel gebracht. Seit § 248 a jedoch keinen „Tatbestand" mehr enthält, sondern sich von § 242 nur noch dadurch unterscheidet, daß die Tat nur auf Antrag oder bei Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses verfolgt wird, ist für eine Anwendbarkeit des § 16 Abs. 2 kein Raum. Der Täter ist also ungeachtet seines Irrtums über den Wert der entwendeten Sache von Amts wegen zu verfolgen (vgl. § 248 a Anm. 3 c). Entsprechendes gilt im Rahmen des § 247 für die irrige Annahme, die entwendete Sache gehöre einem Angehörigen (vgl. § 247 Anm. 5). 98
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§ 17
Verbotsirrtum
Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. 1. Über Entstehungsgeschichte und Schrifttum siehe Vorbem. 1-4 vor § 16. 2. Ein Verbotsirrtum liegt vor, wenn dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht fehlt, Unrecht zu tun. Diese Situation ist der Ausnahmefall, da regelmäßig jeder, der einen gesetzlichen Tatbestand in Kenntnis aller unrechtstypisierenden Merkmale (d. h. vorsätzlich) verwirklicht, das Unrecht der Tat kennt, also mit Unrechtsbewußtsein handelt. So wie die Verwirklichung der objektiven Tatbestandsmerkmale die Rechtswidrigkeit „indiziert", läßt der Vorsatz auf das Unrechtsbewußtsein schließen (vgl. Bockelmann AT 119; Gallas ZStW 67,44 ff.; Jescheck AT 322; Wessels AT 32). 3. Der Verbotsirrtum kann in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten (siehe hierzu eingehend Backmann JuS 1972, 452; Horn aaO.; Rudolphi aaO.). Das Unrechtsbewußtsein kann entfallen, a) wenn der Täter die Verbots- oder Gebotsnorm, gegen die er verstößt, nicht kennt, z. B. weil er als Ausländer mit dem deutschen Recht nicht vertraut ist (sog. abstrakter Verbotsirrtum); b) wenn der Täter die Norm zwar kennt, sie aber rechtsirrig für ungültig hält, da gegen eine höhere Rechtsnorm verstoßend, z. B. wenn A glaubt, § 175 verstoße auch in seiner reformierten Form gegen verfassungsrechtlich garantierte Grundrechte (sog. Gültigkeitsirrtum, vgl. z. B. Bockelmann AT 120; Lackner 2 a; Rudolphi aaO. 181); c) wenn der Täter die Norm und ihre Gültigkeit zwar kennt, aber infolge falscher rechtlicher Wertung irrig glaubt, sein Verhalten werde von der Norm nicht erfaßt, z. B. irrige Annahme, die gefälschte Fahrkarte sei keine Urkunde, da nicht mit Unterschrift und Siegel versehen, oder irrige Annahme, der persönliche Reisebedarf sei unabhängig von seinem Umfang nicht zollpflichtig (sog. Subsumtionsirrtum, vgl. Bockelmann A T 119; Lackner 3; Wessels AT 47 f.); d) wenn der Täter die Norm, ihre Gültigkeit und generelle Anwendbarkeit auf sein Verhalten zwar kennt, aber irrig glaubt, sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen zu können (sog. konkreter Verbotsirrtum). Hierbei macht es nach der sog. strengen Schuldtheorie (vgl. § 16 Anm. 3 d) sowohl hinsichtlich der Einordnung dieses Irrtums als Verbotsirrtum als auch hinsichtlich seiner rechtlichen Behandlung keinen Unterschied, ob sich der Irrtum auf Bestehen, Art oder Umfang eines Rechtfertigungsgrunds bezieht. Unerheblich ist auch, ob die Fehlbeurteilung auf einem Tat- oder Rechtsirrtum beruht. Alle Formen des Irrtums über einen Rechtfertigungsgrund unterliegen nach der strengen Schuldtheorie der Regelung des § 17; die Irrtumsregelung des § 16 findet nach dieser Ansicht weder direkt noch analog Anwendung. Nachdem die sog. Vorsatztheorie (vgl. 2 b vor § 16 sowie § 16 Anm. 3 b) seit Inkrafttreten des 2. StrRG nur noch historische Bedeutung hat, ist diese Einordnung und Behandlung des Irrtums über einen Rechtfertigungsgrund unbestritten, soweit der Täter entwe4'
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der einen Rechtfertigungsgrund für sich in Anspruch nimmt, den die Rechtsordnung nicht anerkennt, oder wenn er über Umfang und Grenzen eines (anerkannten) Rechtfertigungsgrunds irrt. Beispiele: Der von X angegriffene A glaubt, er dürfe zu seiner Verteidigung jedes beliebige Mittel anwenden und auf X auch nach erfolgreicher Abwehr so lange einschlagen, bis X endgültig kampfunfähig ist. Dieser sog. Erlaubnisirrtum wird heute unbestritten als Verbotsirrtum i. S. von § 17 behandelt. Umstritten ist dagegen nach wie vor die Einordnung des Irrtums über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds (irrige Annahme von Tatumständen, bei deren Vorliegen der Täter gerechtfertigt wäre), z. B. wenn A auf X schießt in der irrigen Annahme, dieser sei im Begriff, seinerseits ihn mit einer Waffe anzugreifen (sog. Putativnotwehr). Nach der hier vertretenen Ansicht handelt es sich bei diesem Irrtum über den sog. Erlaubnistatbestand um einen Verbotsirrtum eigener Art, der nicht der Regelung des § 17 unterliegt, andererseits aber auch nicht den Vorsatz entfallen läßt, wohl aber wegen seiner strukturellen Verwandtschaft mit dem Tatbestandsirrtum in seinen Rechtsfolgen dem Tatbestandsirrtum gleichzustellen ist. Es entfällt nicht der zum subj. Tb. gehörende Vorsatz (sog. Tatbestandsvorsatz), sondern die der vorsätzlichen Tatbegehung entsprechende Schuld (sog. Vorsatzschuld). Einzelheiten und Auseinandersetzung mit abweichenden Lehrmeinungen siehe § 16 Anm. 3. 4. Die Rechtsfolgen des § 17 treten unabhängig davon ein, ob die mangelnde Unrechtseinsicht auf einer „positiven" Fehlbeurteilung der Rechtslage beruht oder ob der Täter sich über die Rechtslage überhaupt keine Gedanken gemacht hat. Es ist also nicht erforderlich, daß der Täter erst nach Prüfung der Rechtslage zu dem - falschen - Ergebnis gekommen ist, sein Verhalten stehe mit der Rechtsordnung in Einklang; § 17 findet vielmehr auch dann Anwendung, wenn der Täter sich keine Gedanken über die Rechtswidrigkeit seiner Tat gemacht hat (vgl. Ber. S. 9 BT-Drucks. V/4095; Bockelmann AT 119; Dreher 6; Lackner 3; Stree JuS 1973,461,467; Wessels AT 84). 5. Wie der Vorsatz muß auch das Unrechtsbewußtsein tatbestandsbezogen sein. Nicht ausreichend ist deshalb das Bewußtsein, gegen „Sitte und Moral" zu verstoßen; erforderlich ist vielmehr das Bewußtsein, daß die Tat gegen verbindliche Rechtsnormen verstößt und deshalb verboten ist (vgl. BGH GA 1969,61; h. L., vgl. Cramerin Schönke-Schröder 6 m. Nachw.). Nicht erforderlich ist allerdings, daß der Täter sich der Strafbarkeit seines Verhaltens bewußt ist (s. u. 6). Erfüllt ein Täter in Tateinheit mehrere Straftatbestände, so ergibt sich die Möglichkeit, daß ihm hinsichtlich des einen verwirklichten Tatbestands das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit fehlt, während er hinsichtlich eines weiteren Tatbestands mit Unrechtsbewußtsein gehandelt hat (sog. Teilbarkeit des Unrechtsbewußtseins, vgl. BGH 10, 35; 22, 314, 318; NJW 1963, 1931; h. L., vgl. Blei JA 1970, StR 179; Cramer in Schönke-Schröder 9). Beispiel: A läßt sich dazu verleiten, mit seiner erkennbar an hochgradiger Nymphomanie leidenden Schwester den Beischlaf zu vollziehen. In diesem Fall ist denkbar, daß A sich zwar der Rechtswidrigkeit des Inzests (§ 173 Abs. 2) bewußt ist, aber sich keine Gedanken darüber gemacht hat, daß auch der sexuelle Mißbrauch Widerstandsunfähiger als straf bedürftiges Unrecht angesehen wird (vgl. § 179). 6. Kein Verbotsirrtum liegt vor, wenn der Täter zwar weiß, daß das, was er tut, gegen verbindliche Normen des materiellen Rechts verstößt, er aber irrig glaubt, sein Verhalten sei nicht strafbar (vgl. Bockelmann AT 121; Dreher 6; Gallas ZStW 80, 30; Armin Kaufmann ZStW 80, 42; Lackner 2 a; Stree JuS 1973, 461, 467). Beispiel: A macht den
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Pkw des X dadurch funktionsunfähig, daß er die Luft aus den Reifen abläßt in der irrigen Vorstellung, dies werde durch keinen Straftatbestand erfaßt. Auch der Überzeugungstäter, der die Rechtsnormen, gegen die er verstößt, durchaus kennt, aber die ihn umgebende Rechtsordnung aus politischen, religiösen oder sonstigen Gründen ablehnt und ihre Normen für sich unverbindlich hält, kann sich nicht auf fehlendes Unrechtsbewußtsein berufen (vgl. Krhe NJW 1974, 2142; Cramer in Schönke-Schröder 6 m. weit. Nachw.). Seine Schuld besteht darin, daß er bewußt seine eigenen Wertvorstellungen an die Stelle der ihm bekannten Wertvorstellungen der Gesellschaft setzt (BGH 2, 208). Kein Fall des § 17 liegt schließlich vor, wenn der Täter die Rechtswidrigkeit seiner Tat für möglich hält und sich mit ihr abfindet (BGH JR 1952, 285; Cramer in Schönke-Schröder 7; Warda, Welzel-Festschr. S. 499, 504). Die Rechtslage ist insoweit vergleichbar mit dem bedingten Vorsatz. 7. Die Rechtsfolgen des Verbotsirrtums hängen davon ab, ob der Irrtum für den Täter vermeidbar war. War der Irrtum vermeidbar, so bleibt die Schuld bestehen, die Strafe kann jedoch nach § 49 Abs. 1 gemildert werden (§ 17 S. 2). Ein völliger Schuldausschluß kommt nur in Betracht; wenn der Irrtum unvermeidbar war. a) Die Vermeidbarkeit des Irrtums ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Der Täter ist verpflichtet, alle „geistigen Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen" einzusetzen, wenn es darum geht, sich über die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens ein Urteil zu bilden (vgl. BGH 2,201; 3, 357,366; 4 , 1 , 5 , 86, 236,243; h. L.). aa) Wer sich gleichgültig über die ihm unklare Grenze zwischen Recht und Unrecht hinwegsetzt, kann sich nicht auf schuldausschließenden Verbotsirrtum berufen. Er ist vielmehr verpflichtet, sich bei den zuständigen Stellen oder seinem Rechtsbeistand über die Rechtslage zu erkundigen. Dies gilt insbesondere dort, wo der Täter genau weiß, daß er in einen speziellen, rechtlich geregelten Lebenskreis eingreift und daß ein Rechtsverstoß für ihn oder die Allgemeinheit nachteilige Folgen haben kann. So kann man von jedem Kaufmann, der ein Handelsgeschäft betreibt, verlangen, daß er sich vor Beginn seiner Tätigkeit mit den einschlägigen handels- und steuerrechtlichen Bestimmungen vertraut gemacht hat. Auch ist es jedem Kraftfahrer zuzumuten, daß er alle Verkehrsregeln sicher beherrscht. Dies gilt auch für Ausländer, die sich mit ihren Fahrzeugen in das Gebiet der Bundesrepublik begeben. Ist die Rechtslage zweifelhaft, so darf der Täter, der sich der Zweifelhaftigkeit bewußt ist, in der Regel nicht auf die Richtigkeit seiner Rechtsauffassung oder auf Gerichtsentscheidungen, die noch nicht rechtskräftig sind, vertrauen (vgl. Braunschweig NJW 1976, 60, 62 m. Nachw.). Wer in der Vorstellung handelt, möglicherweise Unrecht zu tun, kann sich grundsätzlich nicht auf einen schuldausschließenden Verbotsirrtum berufen (Krhe NJW 1970, 64 f.; Dreher 5; Lackner 2 c). bb) Andererseits liegt in der Regel ein unvermeidbarer (schuldausschließender) Irrtum vor, wenn der Täter sich auf die Rechtsauskunft einer zuständigen Behörde oder sonst sachkundigen Person verlassen hat (vgl. BGH 5, 118). So kann sich z. B. ein Kfz-Halter beim Erwerb von Kfz-Zubehörteilen, durch deren Anbringung möglicherweise die Betriebserlaubnis des Fahrzeugs erlischt, auf die Auskunft einer Fachwerkstatt verlassen (BayObLG VM 1975 Nr. 127). Entsprechendes gilt für den Filialleiter einer Ladenkette, der sich aufgrund eines erkennbar unter Mitwirkung von Anwälten verfaßten Rundschreibens der zentralen Geschäftsleitung oder des Einzelhandelsverbands für berechtigt hält, von einem auf frischer Tat ertappten Ladendieb unter Androhung von Zwangsmaßnah101
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men eine „Bearbeitungsgebühr" oder „Fangprämie" zu verlangen (a. A. Braunschweig NJW 1976, 60 m. Bespr. Blei JA 1976, StR S. 37 ff. und Meier NJW 1976, 584). Besonders strenge Anforderungen sind bei einem Rechtskundigen zu stellen, da von ihm angenommen werden muß, daß er die Tragweite gesetzlicher Verbote und Gebote auf Grund seiner Ausbildung und Rechtspraxis wenigstens in der Regel zu erkennen veimag (vgl. BGH 3,105,108; 4, 80, 86). Zum Ganzen siehe auch HbgNJW 1977,1831. b) Die Strafmilderung bei einem vermeidbaren Verbotsirrtum ist nur fakultativ (die für die Tat angedrohte Strafe „kann" gemildert werden). Strafmilderung ist insbesondere dann zu versagen, wenn der Täter gegenüber der Rechtsordnung eine gleichgültige Haltung eingenommen oder auftretende Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens bewußt verdrängt hat. Im Regelfall stellt der Verbotsirrtum jedoch, auch wenn er vermeidbar war, einen Fall gemilderter Schuld dar, so daß die Versagung einer Strafmilderung nur ausnahmsweise in Betracht kommen dürfte (vgl. Stree JuS 1973, 461, 468 unter Bezugnahme auf § 46 Abs. 1). c) Über die Sonderbehandlung des Irrtums über den sog. Erlaubnistatbestand s. o. 3 d sowie § 16 Anm. 3 e.
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Schwerere Strafe bei besonderen Tatfolgen
Knüpft das Gesetz an eine besondere Folge der Tat eine schwerere Strafe, so trifft sie den Täter oder den Teilnehmer nur, wenn ihm hinsichtlich dieser Folge wenigstens Fahrlässigkeit zur Last fällt. 1. Die mit dem früheren § 56 sachlich übereinstimmende Vorschrift erstreckt das Schuldprinzip auch auf die sog. erfolgsqualifizierten Delikte. a) Begriff: Als erfolgsqualifizierte Delikte werden solche Tatbestände bezeichnet, bei denen der Grundtatbestand dadurch eine Qualifizierung erfährt, daß durch seine Begehung oder bei seiner Begehung ein weiterer, besonders straferschwerender Erfolg eintritt. Dieser qualifizierende Erfolg muß nach § 18 wenigstens fahrlässig herbeigeführt worden sein, d. h. die Schuld des Täters muß sich nicht nur auf die Verwirklichung des Grundtatbestands, sondern auch auf den qualifizierenden Erfolg erstrecken. Beispiel: A gibt dem B eine leichte Ohrfeige, ohne zu wissen, daß B mit einem skrofulösen Augenleiden behaftet ist. Verliert B infolge des Schlags das Sehvermögen, so kommt nur eine Bestrafung wegen vorsätzlicher leichter Körperverletzung (§ 223) in Betracht. § 224 greift nicht ein, da die schwere Folge der Tat für A nicht vorhersehbar war. Bei einigen neu eingefügten erfolgsqualifizierten Delikten muß der straferschwerende Erfolg sogar leichtfertig verursacht worden sein (vgl. §§ 177 Abs. 3, 178 Abs. 3, 239 a Abs. 2, 239 b Abs. 2, 251, 316 c Abs. 2). b) Übersicht über die erfolgsqualifizierten Delikte: Die bekanntesten sind Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226), schwere Körperverletzung (§§ 224, 225), Vergewaltigung mit Todesfolge (§ 177 Abs. 3), Freiheitsberaubung mit Todesfolge (§ 239 Abs. 3) und Raub mit Todesfolge (§ 251). Siehe ferner §§ 178 Abs. 3, 221 Abs. 3, 229 Abs. 2, 239 Abs. 2 und 3, 239 a Abs. 2, 239 b Abs. 2, 307 Nr. 1, 309, 312, 314, 316 c Abs. 2, 321
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Erster Titel: Grundlagen der Strafbarkeit
§ 18
Abs. 2, 324, 326, 340 Abs. 2. Nicht hierher gehören solche Vorschriften, die auf die Herbeiführung einer „besonderen Gefahr" abstellen, wie dies z. B. bei §§ 113 Abs. 2 Nr. 2, 125 a Nr. 3 und § 250 Abs. 1 Nr. 3 der Fall ist (vgl. BGH 26, 176; Küper NJW 1976,543). c) Schrifttum: Backmann, Gefahr als „besondere Folge der Tat" i. S. der erfolgsqualifizierten Delikte, MDR 1976, 969; - Gössel, Dogmatische Überlegungen zur Teilnahme am erfolgsqualifizierten Delikt, Lange-Festschrift S. 219; - Hardwig, Betrachtungen zum erfolgsqualifizierten Delikt, GA 1965, 97; - Hirsch, Zur Problematik des erfolgsqualifizierten Delikts, GA 1972, 65; - Hruschka, Konkurrenzfragen bei erfolgsqualifizierten Delikten, GA 1967,42; - Küper, Gefährdung als Erfolgsqualifikation? NJW 1976, 543; Maiwald, Der Begriff der Leichtfertigkeit als Merkmal erfolgsqualifizierter Delikte, GA 1974, 257; - Maurach, Probleme des erfolgsqualifizierten Delikts bei Menschenraub, Geiselnahme und Luftpiraterie, Heinitz-Festschr. S. 403; - Oehler, Das erfolgsqualifizierte Delikt und die Teilnahme an ihm, GA 1954, 33; - Schneider, Zur Anwendung des § 56 StGB, J Z 1956, 750; - Schröder, Konkurrenzprobleme bei den erfolgsqualifizierten Delikten, NJW 1956, 1737; - Tenckhoff, Die leichtfertige Herbeiführung qualifizierter Tatfolgen, ZStW 88, 897; - Vlsenheimer, Zur Problematik des Versuchs der erfolgsqualifizierten Delikte, GA 1966,257. 2. Die Neufassung der Vorschrift durch das 2. StrRG stellt in sachlicher Übereinstimmung mit der Rechtsprechung zu § 56 a. F. (vgl. BGH 19, 339, 341 m. Anm. Cramer J Z 1965, 31) klar, daß § 18 nicht nur für den Täter, sondern auch für den Teilnehmer (Anstifter, Gehilfen) gilt. Daß strafbare Teilnahme an einem erfolgsqualifizierten Delikt überhaupt möglich ist, obwohl es sich bei den erfolgsqualifizierten Delikten um Vorsatz/Fahrlässigkeits-Kombinationen handelt, Anstiftung und Beihilfe aber eine vorsätzliche Haupttat voraussetzen (vgl. §§ 26, 27), ergibt sich aus § 11 Abs. 2. Ob der an dem Grunddelikt als Mittäter, Anstifter oder Gehilfe Beteiligte nur wegen des Grunddelikts zu bestrafen ist oder ob auf ihn die schwerere Strafdrohung des erfolgsqualifizierten Delikts anwendbar ist, richtet sich ausschließlich danach, ob der Eintritt der schweren Folge für ihn selbst voraussehbar war bzw. ob er selbst insoweit leichtfertig gehandelt hat. Unerheblich ist, ob auch die übrigen Tatbeteiligten fahrlässig oder leichtfertig gehandelt haben (vgl. § 29). Beispiel: A stiftet B an, X zu verprügeln. Dieser kommt gerade aus der Klinik, in der er sich einer schweren Operation unterziehen.mußte, was zwar dem B, nicht jedoch dem A bekannt war. Unter den Schlägen des B brechen bei X die kaum verheilten Operationswunden wieder auf; X stirbt. Die Folge war nach Sachlage zwar für B, nicht jedoch für A voraussehbar. Hieraus folgt: B ist als Täter wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226) zu bestrafen; für A kommt dagegen nur Anstiftung zur Körperverletzung (§ 223) in Betracht. Umgekehrt ist gemäß § 29 der Teilnehmer auch dann wegen des erfolgsqualifizierten Delikts zu bestrafen, wenn die schwere Tatfolge zwar für ihn, nicht aber für den Täter vorhersehbar war. Dies wäre in dem oben angeführten Beispiel dann der Fall, wenn zwar A, nicht aber B gewußt hat, daß X gerade nach schwerer Krankheit aus dem Krankenhaus entlassen wurde. (Hat A die näheren Umstände nicht nur gekannt, sondern auch den schweren Erfolg, nämlich den Tod des X, gewollt und deshalb den nichtsahnenden B zur Tat verleitet, so kommt für ihn vorsätzliche Tötung in mittelbarer Täterschaft in Betracht, während B sich nur wegen Körperverletzung zu verantworten hat.) 103
§ 18
Zweiter Abschnitt: Die Tat
3. Das erfolgsqualifizierte Delikt ist grundsätzlich auch dann anwendbar, wenn die „besondere Folge" der Tat (in der Regel der Tod eines Menschen) schon durch den Versuch des Grundtatbestands eintritt. Beispiel: Beim Versuch, die X zu vergewaltigen, würgt A sein Opfer so stark, daß dieses stirbt, bevor A seine sexuellen Ziele erreicht. Hier erfolgt die Bestrafung aus dem Strafrahmen des § 177 Abs. 3, jedoch mit der Möglichkeit einer Strafmilderung nach §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1. Abweichend ist die Rechtslage nur bei den Tatbeständen, bei denen der qualifizierende Erfolg nicht schon mit der Tathandlung verknüpft ist, sondern auf dem Erfolg des Grundtatbestands aufbaut (h. L., vgl. Rudolphi SK 7 m. Nachw.; für Versuch auch in diesen Fällen jedoch Baumann A T 508; Cramer in Schönke-Schröder 9 mit weit. Nachw.). Nicht an die Handlung, sondern an den Erfolg knüpft der qualifizierende Erfolg insbesondere bei den Tatbeständen der § 224, 226 und 307 Nr. 1 an (siehe hierzu § 226 Anm. 2, § 307 Anm. 1). Wenn z. B. A mit Körperverletzungsvorsatz auf B einschlägt und dieser beim Versuch auszuweichen auf die Fahrbahn stürzt, wo er von einem gerade vorbeifahrenden Lkw erfaßt und tödlich verletzt wird, ist der Tod des B nicht Folge der von A gewollten Schlagverletzung; die Unfallverletzungen waren von A nicht gewollt. Hieraus folgt, daß A nicht wegen versuchter Körperverletzung mit Todesfolge, sondern nur wegen fahrlässiger Tötung zu bestrafen ist. Wurde B durch die dem Sturz vorausgegangenen Schläge leicht verletzt, so steht die fahrlässige Tötung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung (vgl. § 226 Anm. 2 m. weit. Nachw.). Strafbarer Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts kommt weiter auch dann in Betracht, wenn der Täter die Verwirklichung des Grundtatbestands versucht oder vollendet, der von ihm hierbei beabsichtigte schwere Erfolg jedoch nicht eintritt ( B G H 10, 309; 21, 194; G A 1958, 304; h. L., vgl. Cramer in Schönke-Schröder 10). Beispiel: A sperrt den X in einen Keller, um ihn dort verhungern zu lassen. X kann jedoch nach wenigen Stunden befreit werden. Der Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts ist dagegen nicht möglich, wenn der auf den qualifizierenden Erfolg gerichtete Vorsatz sich mit dem Vorsatz des Grundtatbestands nicht vereinbaren läßt. So sind z. B. die §§ 221 Abs. 3, 226, 229 Abs. 2 nicht anwendbar, wenn der Täter mit Tötungsvorsatz handelt. Dasselbe gilt für die in jüngerer Zeit aufgenommene Gruppe der erfolgsqualifizierten Delikte, bei denen der qualifizierende Erfolg leichtfertig verursacht worden sein muß (vgl. z. B. §§ 177 Abs. 3, 178 Abs. 3, 239 a Abs. 2, 239 b Abs. 2, 251, 316 c Abs. 2). Handelt der Täter in diesen Fällen mit Tötungsvorsatz, so kommt nur versuchter Mord oder Totschlag in Betracht.
4. Konkurrenzen: Die fahrlässige Tötung (§ 222) wird von den erfolgsqualifizierten Delikten zumindest dann konsumiert, wenn das erfolgsqualifizierte Delikt nur bei fahrlässiger Verursachung des qualifizierenden Erfolgs verwirklicht ist. Dies ist insbesondere bei § 226 der Fall (vgl. B G H 8, 54; h. L.). Auch die Tatbestände der Aussetzung mit Todesfolge (§ 221 Abs. 3) und der Giftbeibringung mit Todesfolge (§ 229 Abs. 2) setzen notwendig eine fahrlässige Tötung voraus, da bei Tötungsvorsatz nicht § 221 bzw. § 229, sondern nur die § § 2 1 1 ff. zur Anwendung kommen. Dasselbe gilt für solche erfolgsqualifizierten Delikte, bei denen der qualifizierende Erfolg leichtfertig verursacht worden sein muß (z. B. bei §§ 177 Abs. 3, 178 Abs. 3, 239 a Abs. 2, 239 b Abs. 2, 251, 316 c Abs. 2), sowie bei den Tatbeständen, bei denen das Gesetz nach dem Muster der erfolgsqualifizierten Delikte Regelbeispiele für besonders schwere Fälle gebildet hat, falls der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod verursacht hat (z. B. bei §§ 113 Abs. 2 Nr. 2, 125 a Nr. 3, 310 b Abs. 3 S. 2, 311 a Abs. 3 S. 2). 104
Erster Titel: Grundlagen der Strafbarkeit
§ 19, 20
Umstritten ist, ob die fahrlässige Tötung auch von solchen erfolgsqualifizierten Delikten konsumiert wird, bei denen die Straferschwerung unabhängig davon eintritt, ob der Tod als qualifizierende Folge vorsätzlich oder fahrlässig verursacht wurde. Hierher gehören z. B. die Tatbestände der §§ 239 Abs. 3, 307 Nr. 1, 312, 314, 321 Abs. 2, 324 (sog. unechte erfolgsqualifizierte Delikte, vgl. Cramer in Schönke-Schröder 2). Während die h. M. in diesen Fällen - je nach Sachlage - zwischen dem erfolgsqualifizierten Delikt einerseits und vorsätzlicher bzw. fahrlässiger Tötung andererseits Tateinheit annimmt, um die Tat genauer charakterisieren zu können (vgl. B G H 20, 269 m. Anm. Fuchs NJW 1966, 868; Blei A T 272; Cramer in Schönke-Schröder 6; Jescheck A T 551; Rudolphi SK 9), nimmt eine Mindermeinung auch in diesen Fällen hinsichtlich der fahrlässigen Tötung Konsumtion an (vgl. Dreher 6; Widmann M D R 1966, 554 m. Nachw.). Die letztgenannte Ansicht verdient den Vorzug, da bereits das erfolgsqualifizierte Delikt in der Lage ist, den Unrechtsgehalt der Tat objektiv und subjektiv voll zu erfassen (der qualifizierende Erfolg muß „wenigstens" fahrlässig verursacht worden sein). So ergibt sich z. B. bei einer Verurteilung aus § 239 Abs. 3, daß der Täter den Tod des Opfers nicht vorsätzlich, sondern nur fahrlässig verursacht hat. Hätte er ihn vorsätzlich verursacht, so käme § 239 Abs. 3 nicht allein, sondern nur idealkonkurrierend neben den §§ 211 ff. zur Anwendung. Eine Erwähnung des § 222 ist deshalb auch zur Klarstellung des Tenors nicht erforderlich (a. A. Hruschka G A 1967, 42).
§ 19
Schuldunfähigkeit des Kindes
Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist. 1. In sachlicher Übereinstimmung mit dem früheren § 1 Abs. 3 JGG, der durch Art. 26 Nr. 1 E G S t G B aufgehoben wurde, sind Kinder, d. h. Personen unter 14 Jahren, mangels Schuldfähigkeit strafrechtlich nicht verantwortlich. Es handelt sich insoweit um eine unwiderlegbare gesetzliche Vermutung. Die beschränkte Schuldfähigkeit der Jugendlichen (Personen, die bei Tatbegehung das 14., aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben) ist wie früher nach § 3 J G G zu beurteilen. 2. Wegen Beteiligung Dritter siehe § 29 nebst Anmerkungen.
§ 20
Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. 1. Die durch das 2. StrRG in die vorstehende Fassung gebrachte Vorschrift tritt an die Stelle des früheren § 51 und enthält ein klares Bekenntnis zum Schuldprinzip. Schuldfähig, d. h. strafrechtlich verantwortlich, ist nur, wer in der Lage ist, das Unrecht seiner Tat zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln. Während das Gesetz bei Kindern das Fehlen der erforderlichen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit unwiderlegbar
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§ 20
Zweiter Abschnitt: Die Tat
vermutet (§ 19) und bei Jugendlichen die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit im Einzelfall je nach dem Grad der Entwicklungsreife zu beurteilen ist (vgl. § 3 JGG), sind erwachsene Täter grundsätzlich als strafrechtlich voll verantwortlich anzusehen, sofern sich im Einzelfall nicht Anhaltspunkte für das Gegenteil ergeben. Aus dem neueren Schrifttum siehe besonders Bockelmann, Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit, ZStW 75, 372; - de Boor, Bewußtsein und Bewußtseinsstörungen, 1966; - Cramer, Verschuldete Zurechnungsunfähigkeit, JZ 1971, 766; - Danner, Gibt es einen freien Willen?, 1969; - Ehrhardt, die Schuldfähigkeit in psychiatrisch-psychologischer Sicht, in: Schuld - Verantwortung - Strafe, 1964; - ders. in Festschr. für Bürger-Prinz 1968, S. 259; - Geilen, Zur Problematik des schuldausschließenden Affekts, MaurachFestschr. S. 173; - Horn, Actio libera in causa - eine notwendige, eine zulässige Rechtsfigur?, GA 1969, 289; - Hruschka, Der Begriff der actio libera in causa und die Begründung ihrer Strafbarkeit, JuS 1968, 554; - Armin Kaufmann, Schuldfähigkeit und Verbotsirrtum, Eb. Schmidt-Festschr. S. 319; - Hilde Kaufmann, Die Regelung der Zurechnungsfähigkeit im E 1962, J Z 1967, 139; - Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit, in: Göppinger-Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie, 1972, S. 78 ff.; - Maurach, Fragen der actio libera in causa, JuS 1961, 373; - Schröder, Verbotsirrtum, Zurechnungsfähigkeit, actio libera in causa, GA 1967, 297; - Schwarz/ Wille, § 51 - gestern, heute und morgen, NJW 1971, 1061; - Stree, Rechtswidrigkeit und Schuld im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1973, 461, 465; - v. Winterfeld, Die Bewußtseinsstörung im Strafrecht, NJW 1975, 2229; - Würtenberger, Zur Problematik der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit, JZ 1954,209. 2. In sachlicher Übereinstimmung mit dem früheren Recht ( § 5 1 aF) setzt der Ausschluß der Schuldfähigkeit bestimmte biologische Merkmale und Zustände voraus, die sich auf die Psyche des Täters dahingehend auswirken, daß der Täter nicht in der Lage ist, das Unrecht der Tat zu erkennen oder - falls es nicht an der Einsichtsfähigkeit fehlt - nach dieser Einsicht zu handeln (sog. biologisch-psychologische [gemischte] Methode, vgl. Blei AT 163; Bockelmann AT 112; Jescheck AT 328; Lackner 1; Stree JuS 1973, 465). Die Änderungen gegenüber der früheren Rechtslage bestehen hauptsächlich im Sprachgebrauch, der weitgehend der psychiatrischen Terminologie angepaßt wurde (vgl. Stree aaO.). So wurden die früheren Begriffe „Bewußtseinsstörung, krankhafte Störung der Geistestätigkeit und Geistesschwäche" ersetzt durch die neuen Begriffe „krankhafte seelische Störung, tiefgreifende Bewußtseinsstörung, Schwachsinn und schwere andere seelische Abartigkeit". Durch die Formulierung unfähig, das Unrecht der Tat einzusehen, wurde außerdem - wie in § 17 - die Tatbestandsbezogenheit des Unrechtsbewußtseins klargestellt. Es genügt also nicht, daß sich der Täter nur der Sittenwidrigkeit seines Verhaltens bewußt ist; er muß vielmehr wissen, daß seine Tat materiell verbotenes Unrecht darstellt (vgl. Begr. zu § 24 E 1962; Stree aaO. 465 f.). 3. Die Ursachen der Schiddunfähigkeit a) Krankhafte seelische Störung ist jede von der Norm abweichende, tiefgreifende Beeinträchtigung der Denktätigkeit, der Willensbildung, des Gefühls-oder Trieblebens (vgl. RG 73, 122; BGH 14, 30; GA 1962,185; NJW 1962,1779). aa) Als Ursachen dieser Beeinträchtigung kommen zunächst alle Geisteskrankheiten in Betracht, und zwar sowohl die exogenen als auch die endogenen Psychosen. 106
Erster Titel: Grundlagen der Strafbarkeit
§ 20
a) Exogene Psychosen sind Störungen, die auf einer hirnorganischen Ursache beruhen, z. B. einer unfallbedingten Hirnverletzung (sog. traumatische Psychose), einem hirnorganisch begründeten Abbau der Persönlichkeit (Hirnarteriosklerose, Hirnatrophie), einer durch Alkohol- oder Drogenmißbrauch begründeten Intoxikation, einer progressiven Paralyse (Infektionspsychose) oder einer angeborenen Epilepsie. ß) Endogene Psychosen sind klinisch nicht exakt nachweisbare Veränderungen der Persönlichkeit, zu deren bekanntesten Erscheinungsformen die Schizophrenie und die manisch-depressiven Gemütsstimmungen gehören. bb) Als weitere (nicht zu den Geisteskrankheiten gehörende) Erscheinungsformen krankhafter seelischer Störungen haben die schweren Fälle der Satyriasis (krankhafte Steigerung des Geschlechtsstriebs beim Mann) und die Nymphomanie (krankhaft übersteigerter Geschlechtstrieb bei der Frau) zu gelten. Als Ursache einer krankhaften seelischen Störung kommt schließlich auch die früher in § 55 aF besonders hervorgehobene Taubstummheit in Betracht. Taubstumm ist, wer entweder von Geburt an oder doch immerhin schon so früh ohne Gehör war, daß er die Sprache nicht erlernen konnte und deshalb in seiner geistigen und sittlichen Entwicklung zurückgeblieben ist (RG 57, 239). Auch Taubblinde und Stummblinde können aufgrund ihres biologisch bedingten Entwicklungsrückstands schuldunfähig sein. Nicht hierher gehören jedoch Willensschwäche und sonstige reine Charaktermängel, die nicht selbst Folge einer krankhaften seelischen Störung sind (vgl. BGH 14,30). b) Bewußtseinsstörungen sind nichtkrankhafte Störungen der Persönlichkeitsstruktur (v. Winterfeld aaO.). In Betracht kommen insbesondere Schlaftrunkenheit, Erschöpfung und Übermüdung sowie hypnotische und posthypnotische Zustände, aber auch hochgradige Angst- und Zomaffekte, und zwar auch dann, wenn sie verschuldet sind, BGH 7, 325, 327 f.; Bockelmann AT 114; Lange LK 24 zu § 51 aF; v. Winterfeld aaO.; a. A. Geilen aaO.; in BGH 11, 20, 25 f. offen gelassen). Bei Trunkenheit liegt eine Bewußtseinsstörung nicht erst bei sinnloser Trunkenheit vor; es genügt schon eine starke Trübung des Bewußtseins. Beim Zusammenwirken von Alkohol und Medikamenten kann eine solche bereits dann vorliegen, wenn die BÄK noch erheblich unter 3°/0o liegt (Köln BA 1975, 278). Schließlich kann auch ein übermäßig starker Geschlechtstrieb zu einer die Schuldfähigkeit ausschließenden Bewußtseinsstörung führen (sog. Hypersexualität, BGH 14, 30; MDR 1955, 368; NJW 1962, 1779). Tiefgreifend ist die Bewußtseinsstörung, wenn sie das seelische Gefüge des Betroffenen zerstört oder erheblich erschüttert hat (Ber. S. 11 BT-Drucks. V/4095; v. Winterfeld aaO. 2230). Hieran fehlt es i.d.R. bei einer Psychopathie, die nur aus Charaktermängeln besteht und sich in einer kriminellen Veranlagung erschöpft (BGH 14, 30; MDR 1958, 528; Hamm NJW 1977, 1498). Ursache und Dauer der Bewußtseinsstörung sind unerheblich. Insbesondere ist nicht erforderlich, daß die Bewußtseinsstörung krankhafter Natur ist (BGH 11, 20). Entscheidend ist allein, daß sie zum Ausschluß der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit geführt hat. Ist die Bewußtseinsstörung verschuldet, so ist zu prüfen, ob sich der Täter unter dem Gesichtspunkt der sog. actio libera in causa (s. u. 6) oder wegen Vollrauschs (§ 330 a) strafbar gemacht hat. c) Schwachsinn ist eine hochgradige Intelligenzschwäche ohne nachweisbare Ursache. Der Schwachsinn ist, wie der Sprachgebrauch des Gesetzes zeigt, eine Unterart der seelischen Abartigkeit. Sie begegnet hauptsächlich in den Erscheinungsformen der Idiotie (allenfalls Erreichung der Entwicklungsstufe eines 6jährigen Kindes), der Imbezillität 107
§ 20
Zweiter Abschnitt: Die Tat
(allenfalls Erreichung der Entwicklungsstufe bis zum Beginn der Pubertät) und der Debilität (Stehenbleiben auf der Entwicklungsstufe bei Abschluß der Pubertät), kann aber auch als Senilität (Altersschwäche) sowie bei entwicklungsgestörten Taubstummen, Taubblinden und Blindstummen auftreten (s. o. lit. a). d) Zu den anderen seelischen Abartigkeiten gehören insbesondere Psychopathien, Neurosen und Triebstörungen, die einerseits nicht krankhaft sind (sonst liegt bereits lit. a vor), andererseits aber so schwer sind, daß sie die Persönlichkeit verformen und deshalb „Krankheitswert" haben. Hieran fehlt es, wenn die Psychopathie nur aus Willensschwäche und sonstigen Charaktermängeln besteht und sich in einer kriminellen Veranlagung erschöpft (vgl. B G H 14, 30; Bockelmann A T 115; Lange LK 64 ff. zu § 51 aF; Maurach-Zipf A T I 516 f.). 4. Von temporärer Schuldunfähigkeit spricht man, wenn der die Schuldfähigkeit ausschließende Zustand nur von vorübergehender Dauer ist (z. B. bedingt durch vorübergehenden Alkohol- oder Drogenmißbrauch oder einen schizophrenen Schub). Entscheidender Zeitpunkt ist dabei immer der Zeitpunkt der Tat. 5. Eine besondere Form der seelischen Störung bzw. Abartigkeit stellen die sog. Monomanien dar. Hierbei handelt es sich um Dranghandlungen und Triebentladungen, die sich bei voller intellektueller Klarheit nur auf bestimmten Lebensbereichen (z. B. auf dem Gebiet der Sexualdelikte oder der Eigentumsdelikte) und meist nur unter bestimmten äußeren Einflüssen (z. B. Pubertät, Menstruation, Schwangerschaft, Mondwechsel) zeigen. Zu den Monomanien in diesem Sinn gehören insbesondere die Kleptomanie (Stehlsucht) und die Pyromanie (Brandsucht). Auch der Verfolgungswahn und der Querulantenwahn können zu den Monomanien im weiteren Sinn gerechnet werden. Ob derartige, auf Wahnvorstellungen beruhende Dranghandlungen Krankheitswert haben (oder gar krankhaft sind) oder ob es sich um Erscheinungsformen strafrechtlich irrelevanter Charaktermängel handelt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und ist ohne Beiziehung eines psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen nicht festzustellen. Dasselbe gilt für die Frage, ob die Schuldfähigkeit ausgeschlossen oder nur vermindert ist. Einzelheiten siehe Lange LK 55 ff. zu § 51 aF mit weit. Nachw. 6. Die sog. actio libera in causa. Wie bereits oben (3 b) ausgeführt, kann eine Bewußtseinsstörung auch dann zum Schuldausschluß führen, wenn sie vom Täter schuldhaft herbeigeführt worden ist (siehe jedoch § 7 WStG, wonach selbstverschuldete Trunkenheit oder Berauschung anderer Art nicht zu einer Milderung der angedrohten Strafe führt, wenn die T a t eine militärische Straftat ist, gegen das Kriegsvölkerrecht verstößt oder in Ausübung des Dienstes begangen wird). Die verschuldete Bewußtseinsstörung kann jedoch in den Fällen zur Strafbarkeit führen, in denen der Täter sich in noch schuldfähigem („freiem") Zustand schuldhaft in einen die Schuldfähigkeit ausschließenden („unfreien") Zustand versetzt hat, obwohl er wußte oder sich hätte sagen können und müssen, daß er in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begehen würde (sog. actio libera in causa). Im einzelnen: a) Ungeachtet der im Zeitpunkt der Tatausführung vorliegenden Schuldunfähigkeit ist wegen vorsätzlicher Tatbegehung zu bestrafen, wenn der Täter sich in den Zustand der Schuldunfähigkeit versetzt hat,
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Erster Titel: Grundlagen der Strafbarkeit
§ 21
aa) um in diesem Zustand eine bestimmte rechtswidrige Tat (z. B. eine Brandstiftung) zu begehen, oder obwohl er bb) es als sicher vorausgesehen hat, daß er in diesem Zustand eine bestimmte rechtswidrige Tat begehen werde (direkter Vorsatz) oder obwohl er cc) die Begehung einer bestimmten rechtswidrigen Tat als möglich vorausgesehen und in Kauf genommen hat (bedingter Vorsatz). b) Fahllässige Tatbegehung liegt vor, wenn der Täter sich schuldhaft in einen seine Schuldfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt und dabei aa) zwar die Möglichkeit sieht, daß er in seinem Zustand eine (vorsätzliche oder fahrlässige) Straftat begehen wird, andererseits aber pflichtwidrig darauf vertraut, daß es zu keiner Straftat kommt, oder bb) infolge Fahrlässigkeit gar nicht erkennt, daß er eine (vorsätzliche oder fahrlässige) Straftat begehen könnte. c) Alle Fälle der actio libera in causa haben gemeinsam, daß sie den für die Beurteilung der Schuldfrage entscheidenden Zeitpunkt vorverlegen auf einen Zeitpunkt, in dem der Täter noch frei in seinen Entschlüssen, somit strafrechtlich verantwortlich war. Die Fälle, in denen der Täter sich Mut antrinkt, um alle noch bestehenden Hemmungen zu verlieren, können mit der mittelbaren Täterschaft verglichen werden: Der Täter benutzt gewissermaßen sein schuldunfähiges „Ich" zu einer Tat, die er sonst nicht begehen könnte. Diese Fälle sind allerdings in der Praxis selten. Häufger sind die Fälle, in denen der Täter nicht an die möglichen Folgen des Zustands denkt, in den er sich versetzt. Beispiel: A trinkt sich einen Rausch an, obwohl er weiß, daß er noch mit dem Pkw nach Hause fahren muß. Verschuldet er dann in volltrunkenem Zustand mit seinem Pkw einen tödlichen Unfall, so erfolgt die Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung gemäß § 222. Wegen des Verhältnisses der a. 1. i. c. zu § 330 a siehe Anm. 6 zu § 330 a. 7. Beachte §§ 63, 64 (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bzw. einer Entziehungsanstalt) sowie § 12 BZRG (Eintragung von Verfahrenseinstellungen und Freisprüchen, die wegen erwiesener oder nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit erfolgen).
§ 21
Verminderte Schuldfähigkeit
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. 1. Die verminderte Schuldfähigkeit führt nicht zum Schuldausschluß und damit zur Straflosigkeit des Täters, sondern gibt dem Gericht lediglich die Möglichkeit, die Strafe nach § 49 Abs. 1 zu mildern. Die Ursachen der verminderten Schuldfähigkeit sind die gleichen wie in § 20 (siehe dort Anm. 3). 109
§ 21
Zweiter Abschnitt: Die Tat
2. Bei verminderter Einsichtsfälligkeit findet § 21 nur dann Anwendung, wenn die in § 20 genannten geistigen Defekte tatsächlich zu einem Fehlen der Einsicht geführt haben (BGH 21, 27 mit zust. Anm. Dreher JR 1966, 350; Schröder JZ 1966, 452). Hat der Täter ungeachtet seiner verminderten Einsichtsfähigkeit das Unrecht der Tat erkannt, so kommt eine Strafmilderung nur in Betracht, wenn der Täter nicht mehr voll in der Lage war, nach dieser Einsicht zu handeln (verminderte Hemmungsfähigkeit, § 2 1 , 2 . Alt.). 3. Ob die Verminderung der Einsichts- oder Hemmungsfähigkeit erheblich war, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls (vgl. RG 69, 364). Geringe Abweichungen von der Norm (z. B. psychische Unausgeglichenheit, Willensschwäche, leichtere Erregungszustände oder Alkoholbeeinflussung) lösen die Rechtsfolgen des § 21 noch nicht aus. Die Abweichung von der Norm muß vielmehr durch die Tat deutlich erkennbar in Erscheinung getreten sein (ohne psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen in der Regel nicht feststellbar). In Betracht kommen vor allem leichtere Formen von Schizophrenie, Epilepsie und Schwachsinn (Imbezillität, Debilität) sowie schwerere Neurosen, Psychopathien (vgl. § 20 Anm. 3 d), Monomanien (vgl. § 20 Anm. 5) und Rauschzustände, die andererseits aber nicht so schwer sind, daß sie nach § 20 zu einem Ausschluß der Schuldfähigkeit führen. 4. Die Rechtsfolge des § 21 besteht darin, daß bei Vorliegen einer erheblich verminderten Einsichts- oder Hemmungsfähigkeit die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden kann. Mit Rücksicht darauf, daß verminderte Schuldfähigkeit in der Regel zugleich auch den Schuldvorwurf mildert, dürfte die Strafe grundsätzlich zu mildern sein (§ 22 A E hatte deshalb auch konsequent obligatorische Strafmilderung vorgeschlagen). Strafmilderung darf ohne Verstoß gegen das Schuldprinzip nur dort versagt werden, wo der Schuldgehalt der Tat ungeachtet der durch die verminderte Schuldfähigkeit bedingten Schuldminderung infolge gleichzeitig vorliegender schulderhöhender Umstände in der Person des Täters oder in der Art der Tatausführung so schwer wiegt, daß eine Unterschreitung des Regelstrafrahmens nicht angemessen erscheint (vgl. Bockelmann AT 117; zum Ganzen siehe auch BGH 7, 28, 31 sowie Stree JuS 1973, 461, 466 m. weit. Nachw.). Eine volle Ausschöpfung des Regelstrafrahmens würde bei einem vermindert schuldfähigen Täter auf jeden Fall gegen das Schuldprinzip verstoßen (vgl. Stree aaO.). 5. Gesetzlich nicht geregelt ist das Verhältnis zum Verbotsirrtum. Während § 21 eine Strafmilderung nur dann vorsieht, wenn die fehlende Unrechtseinsicht auf einer erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit beruht, kommt bei einem vermeidbaren Verbotsirrtum nach § 17 S. 2 eine Strafmilderung auch dann in Betracht, wenn der Irrtum ohne besondere Anstrengungen hätte vermieden werden können. Da der Täter, dessen Einsichtsmangel auf einem psychischen Defekt beruht, gegenüber einem Täter, dem die Unrechtseinsicht aus sonstigen Gründen fehlt, nicht schlechter gestellt werden darf, läßt sich eine befriedigende Lösung nur dadurch erzielen, daß man die täterfreundlichere Regelung des § 17 auch für die Fälle des § 21 anwendet (vgl. Blei JA 1970, StR 200; Stree Jus 1973, 461, 468 m. weit. Nachw.). Hieraus folgt: War der Irrtum für den vermindert schuldfähigen Täter bei Würdigung aller Umstände nicht zu vermeiden, so handelt er schuldlos; war der Irrtum yermeidbar, so kann die Strafe auch dann nach § 49 Abs. 1 gemildert werden, wenn die Schuldfähigkeit durch die in § 20 genannten psychischen Defekte nur unerheblich vermindert war. § 21 wird durch diese Spezialität des § 17 nicht bedeutungslos. Die Vorschrift behält ihre Bedeutung nicht nur für die Fälle der verminderten Hemmungsfähigkeit, sondern auch für die Frage der Unterbringung nach den §§ 63 und 64. 110
Zweiter Titel: Versuch
Vor § 22
6. Die Grundsätze der actio libera in causa (vgl. § 20 Anm. 6) sind auch bei der verminderten Schuldfähigkeit des § 21 zu beachten. Beispiel: A versetzt sich in einen seine Schuldfähigkeit erheblich vermindernden Rauschzustand, obwohl er weiß, daß er anschließend noch mit seinem Pkw fahren muß. Verschuldet er in diesem Zustand einen Unfall, so ist für eine Strafmilderung kein Raum (vgl. Koblenz DAR 1973, 75; Lackner 5 mit weit. Nachw.). 7. Beachte ferner §§ 63, 64 (psychiatrisches Krankenhaus, Entziehungsanstalt) sowie § 126 a StPO (einstweilige Unterbringung).
Zweiter Titel: Versuch Vorbemerkungen 1. Die einzelnen Verbrechensabschnitte a) Jede Straftat läßt sich, zeitlich gesehen, in folgende Abschnitte zerlegen: Entschlußfassung, Planung, Ausführung, Vollendung und Beendigung. Im Regelfall knüpft die gesetzliche Strafdrohung an die Vollendung der Tat an; der Strafbarkeitsbereich wird also grundsätzlich erst durch die Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale erreicht. Wann ein Tatbestand verwirklicht ist, ergibt sich aus seiner jeweiligen Struktur und kann deshalb nicht einheitlich beurteilt werden. Besonderheiten ergeben sich z. B. bei den sog. Unternehmensdelikten, bei denen der Versuch der Vollendung gleichgestellt ist (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 6). b) Von der rechtlichen Vollendung der Tat zu unterscheiden ist deren tatsächliche Beendigung. Während die rechtliche Vollendung bereits mit der Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale eintritt, kann von einer tatsächlichen Beendigung erst gesprochen werden, wenn das Geschehen, soweit es eine tatsächliche oder rechtliche Einheit darstellt, insgesamt zum Abschluß gekommen ist und der Täter die nach dem Tatbestand vorausgesetzte Absicht verwirklicht hat (vgl. Jescheck AT 389 m. Nachw.). Ein zeitliches Auseinanderfallen zwischen Vollendung und Beendigung kann sich vor allem bei Dauerdelikten und fortgesetzten Taten, aber auch bei Diebstahl und Raub, Betrug und Erpressung ergeben. So ist z. B. ein Diebstahl oder Raub bereits mit der Wegnahme vollendet; tatsächlich beendet ist er aber erst, wenn es dem Täter gelungen ist, die Sache aus dem Herrschaftsbereich des Geschädigten herauszuschaffen und eine „gewisse Sicherung" des Gewahrsams zu erlangen (vgl. BGH 4, 132, 133; 6, 248, 251; 8, 391; 20, 194, 196). Bis dahin ist bei einer Unterstützung des Täters durch Dritte je nach Sachlage Mittäterschaft oder Beihilfe möglich, während andererseits der Geschädigte, der die tatsächliche Beendigung der Tat vereiteln möchte, sich auf Notwehr berufen kann (der Angriff ist noch „gegenwärtig"). Entsprechendes gilt für Betrug und Erpressung. So genügt es z. B. zur Vollendung der Erpressung, daß der Genötigte eine Vermögensverfügung vornimmt und dadurch sein Vermögen schädigt (BGH 19, 342); tatsächlich beendigt ist die Tat aber erst, wenn es zu der vom Täter angestrebten Vermögensverschiebung kommt (BGH aaO.). Bei Dauerdelikten und fortgesetzten Taten wirkt sich der Unterschied zwischen rechtlicher Vollendung und tatsächlicher Beendigung nicht nur auf dem Gebiet der
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Teilnahme und bei der Notwehr, sondern auch bei der Verjährung aus (vgl. § 78 a Anm. 3 b). So beginnt z. B. bei einer Freiheitsberaubung die Verjährungsfrist erst mit der Beseitigung des rechtswidrigen Zustands; bei fortgesetzten Taten (z. B. fortgesetztem Fahren ohne Fahrerlaubnis) beginnt die Verjährungsfrist erst mit Abschluß des letzten Teilakts. Über die Abgrenzung von Beihilfe und Begünstigung in solchen Fällen siehe § 257 Anm. 2. Handlungen, durch die ein gesetzlicher Tatbestand nicht in allen Merkmalen erfüllt wird oder die die Zone des Tatbestandsmäßigen nicht einmal erreichen, sind nur dann strafbar, wenn der Strafbarkeitsbereich auf Grund besonderer gesetzlicher Bestimmungen auf die zeitlich vor der Tatvollendung liegenden Stadien der Verbrechensverwirklichung ausgedehnt wird. Man spricht in diesem Zusammenhang von sog. Strafausdehnungsgründen (vgl. Maurach A T 487). c) Der wichtigste Strafausdehnungsgrund ist der Versuch. Der Versuch ist das Verbrechensstadium, das der Vollendung am nächsten kommt und deshalb neben der Vollendung am ehesten strafbedürftig ist. Hier hat der Täter bereits unmittelbar zum Angriff auf die vom Tatbestand strafrechtlich geschützte Verbotszone angesetzt. Der Versuch ist dessen ungeachtet nicht generell, sondern nur bei Verbrechen und solchen Vergehen strafbar, bei denen das Gesetz dies ausdrücklich bestimmt (§ 23 Abs. 1). d) Die Vorbereitung einer Tat ist grundsätzlich straflos. Sie wird ausnahmsweise nur in solchen, gesetzlich eng begrenzten Fällen unter Strafe gestellt, in denen dies mit Rücksicht auf den Wert des bedrohten Rechtsguts oder mit Rücksicht auf die besondere Gefährlichkeit der Handlung geboten erscheint. Hierher gehören z. B. die §§ 80, 149, 234 a Abs. 3, 311 b, 316 c Abs. 3. Entschlußfassung und Planung sind für sich allein nie strafbar, die Verabredung eines Verbrechens nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 30 Abs. 2. 2. Das 2. StrRG hat die Vorschriften über Versuch, Rücktritt und tätige Reue, die früher in den §§ 43-46 geregelt waren, teils in Anlehnung an die §§ 26-28 E 1962, teils in Anlehnung an die §§ 24-26 A E grundlegend umgestaltet. § 22 regelt die Abgrenzung von Versuch und Vorbereitungshandlung, § 23 befaßt sich mit der Strafbarkeit des Versuchs unter besonderer Berücksichtigung des sog. untauglichen Versuchs (vgl. Abs. 3), während § 24 sich mit der Frage des strafbefreienden Rücktritts befaßt. Die früher in § 46 a enthaltene Legaldefinition des Begriffs der Unternehmensdelikte findet sich jetzt in § 11 Abs. 1 Nr. 6. 3. Schrifttum: Arzt, Bedingter Entschluß und Vorbereitungshandlung, J Z 1969, 54; Blei, Das Wahnverbrechen, JA 1973, StR 96 ff., 109 ff., 127 ff.; - ders., Versuch und Rücktritt vom Versuch nach neuem Recht, JA 1975, StR S. 23, 41; - Bockelmann, Zur Abgrenzung der Vorbereitung vom Versuch, JZ 1954, 468; - ders., Die Rechtsprechung des B G H zur Abgrenzung der Vorbereitung vom Versuch, J Z 1955, 193; - Bruns, Der untaugliche Täter im Strafrecht, 1955; - Furtner, Rechüiche Vollendung und tatsächliche Beendigung bei einer Straftat, JR 1966, 169; - Gössel, Zur Strafbarkeit des Versuchs nach dem 2. StrRG; zugleich ein Versuch zur Definition des irrealen Versuchs, G A 1971, 225; - ders., Über den fehlgeschlagenen Versuch, ZStW 87, 3; - Hardwig, Der Versuch bei untauglichem Subjekt, G A 1957, 170; - Heinitz, Streitfragen der Versuchslehre, JR 1956, 248; - Hruschka, Dogmatik der Dauerstraftaten und das Problem der Tatbeendigung, G A 1968, 193; - Isenbeck, Beendigung der Tat bei Raub und Diebstahl, NJW 1965, 2326; - Lampe, Genügt für den Entschluß des Täters sein bedingter Vorsatz?, NJW 112
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1958, 332; - J. Meyer, Kritik an der Neuregelung der Versuchsstrafbarkeit, ZStW 87, 598; - Roxin, Der Anfang des beendeten Versuchs, Maurach-Festschr. S. 213; - ders., Über den Rücktritt vom unbeendeten Versuch, Heinitz-Festschr. S. 251; - ders., Unterlassung, Vorsatz und Fahrlässigkeit, Versuch und Teilnahme im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1973, 329; - Rudolphi, Zur Abgrenzung zwischen Vorbereitung und Versuch, luS 1973, 20; - Schilling, Der Verbrechensversuch des Mittäters und des mittelbaren Täters, 1975; - Schneider, Der abergläubische Versuch, GA 1955,265; - Spendel, Zur Kritik der subjektiven Versuchs- und Teilnahmetheorie, JuS 1969, 314; - Stöger, Versuch des untauglichen Täters, 1961. - Weitere Hinweise siehe § 24 Anm. 1 c.
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Begriffsbestimmung
Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt. 1. Strafgrund des Versuchs ist die nach außen erkennbar in Erscheinung getretene Auflehnung des Täters gegen die Rechtsordnung (st. Rspr. und h. L. schon vor der Neufassung der Versuchsregelung durch das 2. StrRG, vgl. Jescheck AT 387; Maurach AT 508 f.; jeweils mit weit. Nachw.). Diese sog. subjektive Versuchstheorie, die nicht an der Gefährlichkeit der Tat, sondern an subjektiven Kriterien anknüpft und zu der sich auch der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform klar bekannt hat (vgl. Ber. S. 11 BTDrucks. V/4095), wirkt sich in § 22 bei der Abgrenzung von Versuch und Vorbereitung aus (eine Straftat versucht, wer „nach seiner Vorstellung von der Tat" . . .). Sie führt außerdem zur grundsätzlichen Strafbarkeit des sog. untauglichen Versuchs (vgl. § 23 Anm. 3). Schließlich wirkt sie sich dahin aus, daß die in § 23 Abs. 2 vorgesehene Strafmilderung auch dann nicht obligatorisch, sondern nur fakultativ ist, wenn die Tat objektiv völlig ungefährüch war. 2. Erste (negative) Voraussetzung für die Annahme eines Versuchs ist, daß die Tat nicht vollendet ist. Vollendet ist die Tat, wenn alle Tatbestandsmerkmale verwirklicht sind. Unerheblich ist dagegen, ob die Tat auch tatsächlich beendet ist (siehe hierzu Vorbem. 1 b). Bestritten ist, ob die Vorschriften für den Versuch auch dann (direkt oder analog) zur Anwendung kommen, wenn zwar alle Elemente des sog. Unrechtstatbestands (§ 16 Anm. 2) gegeben sind, der Täter aber in Unkenntnis von Tatumständen gehandelt hat, die sein Verhalten als gerechtfertigt erscheinen lassen und damit einen sog. Erlaubnistatbestand (§ 16 Anm. 2) begründen. Da sich die Tat in Fällen dieser Art nicht durch ihren Erfolgsunwert, sondern nur durch ihren Handlungsunwert auszeichnet, sind die Vorschriften über den Versuch zumindest analog anzuwenden (Schrifttumsnachweise und Beispiele siehe VI 5 e vor § 1). 3. Weitere, in § 22 nicht ausdrücklich hervorgehobene, vom Gesetzgeber jedoch als selbstverständlich angesehene (vgl. Ber. S. 11 BT-Drucks. V/4095) Voraussetzung ist der Tatentschluß. Der Tatentschluß enthält zunächst alle Elemente des Vorsatzes, wobei bedingter Vorsatz überall dort ausreicht, wo auch beim vollendeten Delikt Vorsatz ausreichen würde. Verlangt der in Frage stehende Tb. über den Vorsatz hinaus weitere subj.
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Tb.-Merkmale (z. B. die Zueignungsabsicht bei Diebstahl und Raub oder die Bereicherungsabsicht bei Betrug, Erpressung und Hehlerei), so müssen diese auch beim Versuch gegeben sein. 4. Der Entschluß wird strafrechtlich erst dadurch relevant, daß der Täter „nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestands unmittelbar ansetzt". Nach dieser sog. Ansatzformel (vgl. Roxin, JuS 1973, 329) kommt es für die Abgrenzung von Versuch und Vorbereitungshandlung sowohl auf objektive als auch auf subjektive Kriterien an (objektiver Bewertungsmaßstab auf subjektiver, im konkreten Tatvorsatz zu findender Beurteilungsgrundlage, vgl. BGH 26,201 m. Nachw.). a) Ein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung ist auf jeden Fall dann gegeben, wenn der Täter mit dem Ziel der Tatbestandsverwirklichung bereits ein Merkmal des Tatbestands verwirklicht hat, z. B. wenn es ihm zwecks Begehung eines Betrugs gelungen ist, das Opfer zu täuschen (vgl. BGH GA 1956, 355; Bockelmann AT 195). Die Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals ist jedoch nicht erforderlich. Es genügt vielmehr die Vornahme einer Handlung, die im Vorfeld der Tatbestandsverwirklichung liegt, d. h. dieser unmittelbar vorgelagert ist (vgl. BGH 26, 201 m. Anm. Otto NJW 1976, 578 und Gössel JR 1976, 249; Bockelmann AT 194 f.; Dreher 11; Jescheck AT 392; Maurach AT 499). Sinn und Zweck dieser restriktiven Formulierung ist es, eine zu weitgehende Vorverlegung des Versuchsbereichs zu verhindern, indem nur solche Handlungen als Versuch gewertet werden, die (nach der Vorstellung des Täters, siehe lit. b) zu einer unmittelbaren Gefährdung des geschützten Rechtsguts führen. b) Ob eine unmittelbare Gefährdung des geschützten Rechtsguts gegeben ist, richtet sich nach der Vorstellung des Täters. Diese subjektive Komponente führt einerseits dazu, daß auch solche Handlungen einen Versuch darstellen können, die objektiv ungeeignet sind, die vom Täter angestrebte Tatbestandsverwirklichung zu erreichen (Problem des sog. untauglichen Versuchs). Beispiel: A betätigt in der Absicht, X zu erschießen, den Abzug einer ungeladenen Pistole. Andererseits werden Handlungen, die objektiv als unmittelbare Gefährdung des geschützten Rechtsguts erscheinen, aus dem Bereich des Versuchs ausgeschieden, wenn sie nach dem Gesamtplan des Täters noch nicht zu einer unmittelbaren Gefährdung führen sollen, somit noch kein „unmittelbares Ansetzen" darstellen. Beispiel: A richtet eine geladene Pistole auf X, will diesen aber noch nicht erschießen, sondern nur zur Herausgabe der Brieftasche nötigen und die Entscheidung über die Abgabe eines tödlichen Schusses erst von der Reaktion des X abhängig machen. Hier liegt unter Berücksichtigung des Täterplans zwar eine versuchte räuberische Erpressung, aber noch kein versuchter Mord vor. Andererseits liegt strafbarer Versuch nicht erst dann vor, wenn A den Abzug der Pistole betätigt; ein „unmittelbares Ansetzen" zur Tatbestandsverwirklichung ist vielmehr schon dann anzunehmen, wenn A in der Absicht, nunmehr hic et nunc, d. h. ohne zeitliche Zäsur, den tödlichen Schuß abzugeben, in seine Hosentasche greift, um seine Pistole herauszuziehen, hierbei jedoch scheitert, weil sich das Korn der Waffe im Taschenfutter verwickelt (vgl. RG 68, 336; 77, 1; Jescheck AT 390; Welzel 190; Wessels AT 109 m. weit. Nachw.). Auch das vielzitierte Abketten des Wachhundes, um ungestört in dem nach Entfernung des Hundes ungeschützten Anwesen einen Diebstahl begehen zu können (vgl. RG 53, 217), kann nur durch Rückgriff auf den Gesamtplan des Täters beurteilt werden: Versuch nur dann, wenn der Täter die Absicht hat, nach Entfernung des Hundes ohne zeitliche Zäsur den geplanten Diebstahl zu begehen (vgl. RG aaO.); dagegen nur straflose Vorbereitungshandlung, wenn der eigentliche Diebstahl erst für die nächste Nacht geplant ist. Ähnlich zu differenzieren ist die rechtliche Beurtei114
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lung, wenn A in der Absicht, einen Einbruch zu begehen, das einzudrückende Fenster mit Schmierseife beschmiert, um ein Klirren der Glasscheiben zu verhindern (RG 54, 35). c) Die frühere Rspr. des BGH war sowohl in der Begründung als auch in ihren Ergebnissen sehr uneinheitlich. Insbesondere bei den Sittlichkeitsdelikten zeigte sich eine Tendenz zur Ausweitung des Versuchsbereichs, die schon früher Gegenstand entschiedener Kritik war (vgl. insbesondere Bockelmann JZ 1955, 193) und an der seit der Reform durch das 2. StrRG nicht mehr festgehalten werden kann (vgl. Maurach AT 499). So liegt entgegen BGH 6, 302 noch kein versuchter sexueller Mißbrauch eines Kindes (§ 176) vor, wenn A in der Absicht, ein 12jähriges Mädchen zur Vornahme sexueller Handlungen zu gewinnen, das Kind mittags anspricht und unter dem Versprechen, er werde ihm dann Schokolade kaufen und mit ihm Karussell fahren, auffordert, gegen Abend zum Festplatz zu kommen. Strafbarer Versuch eines Vergehens nach § 176 muß selbst dann abgelehnt werden, wenn es dem Täter gelingt, das Kind zu verleiten, ihn zu einem Spaziergang in einen nahegelegenen Wald zu begleiten, wo er alsdann die Vornahme sexueller Handlungen beabsichtigt. Entgegen der vielzitierten und in ihrer Begründung äußerst unklaren Entscheidung BGH NJW 1952, 514 (mit abl. Anm. Mezger) und entgegen BGH LM Nr. 22 zu § 211 kann auch das Auflauern zwecks Beraubung oder Tötung für sich allein selbst dann noch keinen strafbaren Versuch begründen, wenn der Tatplan so gut vorbereitet ist, daß er beim Eintreffen des Opfers ohne Schwierigkeiten realisiert werden kann. Die Grenze zwischen Vorbereitung und Versuch wird in diesen Fällen vielmehr erst dann überschritten, wenn das Opfer am Tatort erscheint und der Täter durch Ergreifen der Waffe oder in sonstiger Weise unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt (vgl. Wessels AT 109). Erst dann wird der Verbrechensvorsatz der „Feuerprobe" der kritischen Situation ausgesetzt (Bockelmann JZ 1954,468,473; Otto NJW 1976, 579). Abgesehen von diesen Fallgruppen kann die Rspr. des BGH zur Abgrenzung von Versuch und Vorbereitungshandlung im Ergebnis grundsätzlich übernommen werden. So liegt z. B. versuchte Zollhinterziehung vor, wenn ein Schmuggler im Begriff ist, die Grenze zu überschreiten (BGH 4, 333; 7, 291 f.; abzulehnen BGH bei Daliinger MDR 1975, 21: Versuch durch Einreise nach Österreich, um dort einen Pkw mit Schmuggelgut abzuholen); - oder: versuchter Diebstahl, wenn ein Taschendieb die Kleidung des in Aussicht genommenen Opfers abtastet (BGH GA 1958, 191); - oder: versuchter Diebstahl, wenn jemand durch Rütteln an den Vorderrädern prüft, ob das Lenkradschloß des Pkw, den er entwenden will, betätigt ist (BGH 22, 80). - Andererseits noch kein versuchter Betrug, sondern nur Vorbereitungshandlung, wenn ein Versicherungsnehmer eine gegen Diebstahl versicherte Sache beiseite schafft, um sie als gestohlen zu melden (BGH NJW 1952, 430 gegen RG 72, 66); - oder: noch kein versuchter Diebstahl, wenn der Täter sich zum Tatort begibt (BGH bei Daliinger MDR 1966, 197) oder in der Nähe des Tatorts Einbruchswerkzeug bereit legt (BGH bei Daliinger MDR 1966, 892). d) Aus der höchstrichterlichen Rspr. nach Inkrafttreten des 2. StrRG sind folgende Entscheidungen beachtenswert: versuchte Sachbeschädigung, wenn jemand in der Absicht, ein unmittelbar hinter der Grenze stehendes Schild zu verunstalten, mit einer einsatzbereiten Sprühdose die Grenze zu überschreiten versucht (BGH NJW 1975, 1610); - versuchter Einbruchsdiebstahl, wenn jemand eine Hofmauer überklettert, um auszukundschaften, ob sich im Hof geeignete Beute befindet oder ob vom Hof aus Gebäude zugänglich sind, aus denen man etwas stehlen kann (Hamm MDR 1976, 155); - versuchter Raub, wenn jemand in der Absicht, den Wohnungsinhaber unmittelbar nach dem öffnen der Tür gewaltsam zur Herausgabe des Bargelds zu nötigen, maskiert und mit einsatzbe115
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
reiter Waffe an der Hausglocke klingelt (BGH 26, 201 m. krit. Anm. Otto NJW 1976, 578). 5. Sonderfälle a) Die sog. Ansatzformel (s. o. 4) gilt auch dann, wenn der Täter alles getan hat, was nach seiner Vorstellung erforderlich ist, um den tatbestandsmäßigen Erfolg eintreten zu lassen (Fälle des sog. beendeten Versuchs, vgl. Jescheck AT 393; Roxin, Maurach-Festschr. S. 218; JuS 1973, 329). Auch in diesen Fällen liegt eine Versuchshandlung erst dann vor, wenn der Täter unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt hat, und zwar in der Weise, daß entweder das geschützte Rechtsgut unmittelbar gefährdet oder doch wenigstens der weitere Kausalverlauf dem unmittelbaren Einflußbereich des Täters entglitten ist. So wäre es z. B. verfehlt, versuchten Mord schon dann anzunehmen, wenn A seiner Ehefrau, die sich gerade auf einer längeren Reise befindet, E 605 in den Likör mischt und die Flasche anschließend wieder an ihren Platz stellt. Hier kann von einer unmittelbaren Gefährdung noch nicht gesprochen werden; auch konnte A das weitere Geschehen mühelos beherrschen (vgl. Jescheck aaO.; Roxin aaO.; krit. hierzu Blei JA 1975, StR S. 41). Anders dagegen, wenn A den mit Gift vermischten Likör seiner Ehefrau an ihren Urlaubsort nachschickt. In diesem Fall hat er nicht nur alles getan, was nach seiner Vorstellung zur Tatbestandsverwirklichung erforderlich war; er hat gleichzeitig auch das Tatgeschehen aus der Hand gegeben und hierdurch das Leben seiner Frau unmittelbar gefährdet. Das Beispiel zeigt, daß auf Grund der neuen Rechtslage nicht mehr immer schon dann von einem Versuch gesprochen werden kann, wenn der Täter die Handlung vorgenommen hat, die nach seiner Vorstellung den tatbestandsmäßigen Erfolg bewirken soll. Entscheidend sind vielmehr auch hier die Umstände des Einzelfalls. b) Auch bei den unechten Unterlassungsdelikten liegt Versuch erst dann vor, wenn der zur Erfolgsabwendung Verpflichtete in Kenntnis seiner Garantenstellung untätig bleibt und infolge seiner Untätigkeit entweder die Gefahr des tatbestandsmäßigen Erfolgs nach seiner Vorstellung unmittelbar bevorsteht oder der Täter den Kausalverlauf mit der Möglichkeit des rettenden Eingreifens aus der Hand gibt (Einzelheiten und Beispiele siehe § 13 Anm. VIII). c) Bei der mittelbaren Täterschaft tritt die Tat nicht erst dann ins Versuchsstadium, wenn der Tatmittler zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt. Andererseits liegt Versuch nicht immer schon mit dem Beginn der Einwirkung des Hintermanns auf den Tatmittler vor (so jedoch BGH 4, 270; Maurach AT 504; Blei AT 229). In Fortführung der unter a) und b) entwickelten Grundsätze kommt es vielmehr entscheidend darauf an, daß der Hintermann durch seine Einwirkung auf den Tatmittler entweder das geschützte Rechtsgut bereits unmittelbar gefährdet oder die Situation aus der Hand gegeben hat (vgl. Dreher 19; Jescheck AT 511; Wessels AT 111), wobei es dann unerheblich ist, ob der Tatmittler gutgläubig oder bösgläubig ist (vgl. Baumann JuS 1963, 93; Bockelmann JZ 1954, 473; Herzberg MDR 1973, 95; Jescheck AT 511; Blei AT 229; Roxin, Maurach-Festschr. S. 227 ff.; Rudolphi SK 20). Zum Ganzen siehe auch Schilling, Der Verbrechensversuch des Mittäters und des mittelbaren Täters, 1975. d) Bei der actio libera in causa (siehe hierzu § 20 Anm. 6), bei der der Täter gewissermaßen sein schuldunfähiges „Ich" zur Tatausführung benutzt, beginnt der Versuchsbereich nicht erst mit der im Zustand der Schuldunfähigkeit vorgenommenen Tatbestandsverwirklichung, sondern bereits mit der Herbeiführung der Schuldunfähigkeit (vgl. Dreher 116
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§ 20 Rn. 19; Maurach JuS 1961, 374; Roxin, Maurach-Festschr. S. 220 f.; a. A. Jescheck AT 396; Eser in Schönke-Schröder 55). Wenn A sich z.B. „Mut antrinkt", um die Scheune seines Nachbarn niederzubrennen, liegt eine unmittelbare Gefährdung des geschützten Rechtsguts bereits in dem Augenblick vor, in dem A so betrunken ist, daß er die Kontrolle über sich selbst verliert und die letzten Hemmungen abfallen. Daß die Gefahr dann möglicherweise doch nicht zum Schaden führt (z. B. weil der Täter schließlich einschläft oder infolge seiner Trunkenheit einen solchen Lärm verursacht, daß der Nachbar auf ihn aufmerksam wird), schließt nicht aus, daß der zur Tat entschlossene Täter in seinem enthemmten Zustand zunächst einmal eine akute Gefahr dargestellt hat. e) Über den Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts siehe § 18Anm. 3. f) Bei Tatbeständen mit Regelbeispielen für besonders schwere Fälle ist nach allgemeinen Grundsätzen zu differenzieren (vgl. Dreher 21m. Nachw.). So kann z. B. das Mitsichführen einer Waffe auf dem Weg zum Tatort in den Fällen der §§ 113 Abs. 2 Nr. 1, 121 Abs. 3 Nr. 2, 125 a Nr. 1 und Nr. 2 für sich allein noch keinen Versuch begründen, während andererseits das Einbrechen, Einsteigen usw. oder das Anwenden eines Nachschlüssels unter den Voraussetzungen des § 243 bereits ein unmittelbares Ansetzen zum Diebstahl darstellt.
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Strafbarkeit des Versuchs
(1) Der Versuch eines Verbrechens ist stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt. (2) Der Versuch kann milder bestraft werden als die vollendete Tat (§ 4 9 Abs. 1). (3) Hat der Täter aus grobem Unverstand verkannt, daß der Versuch nach der Art des Gegenstands, an dem, oder des Mittels, mit dem die Tat begangen werden sollte, überhaupt nicht zur Vollendung führen konnte, so kann das Gericht von Strafe absehen oder die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 4 9 Abs. 2). 1. In Übereinstimmung mit dem früheren Recht (§ 43 Abs. 2 aF) ist der Versuch nur bei Verbrechen stets strafbar; bei Vergehen ist er nur dann strafbar, wenn das Gesetz dies ausdrücklich bestimmt, z. B. bei gefährlicher Körperverletzung (§ 223 a Abs. 2), Diebstahl (§ 242 Abs, 2), Unterschlagung (§ 246 Abs. 2) und Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 2). 2. Die in Abs. 2 vorgesehene Strafmilderung ist nicht obligatorisch, sondern nur fakultativ (zur Begründung siehe Ber. S. 11 BT-Drucks. V/4095). Ob die Strafe zu mildem ist, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, wobei alle Tatumstände des Einzelfalls ebenso zu berücksichtigen sind wie die Persönlichkeit des Täters (BGH 16, 351; Bockelmann AT 198; Maurach AT 516). Treffen bei einer Tat mehrere Milderungsgründe zusammen, die auf den ermäßigten Strafrahmen des § 49 Abs. 1 hinweisen, so kann die Strafe ungeachtet des schwer verständlichen Wortlauts von § 50 zweimal 117
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
gemildert werden (vgl. § 50 Anm. 2). Wenn A z. B. im Zustand verminderter Schuldfähigkeit einen versuchten Mord begeht, kann die sich aus § 49 Abs. 1 Nr. 1 ergebende Mindeststrafe von drei Jahren Freiheitsstrafe für den versuchten Mord nochmals nach § 21 i. V. mit § 49 Abs. 1 Nr. 3 gemildert werden, so daß sich insgesamt eine Mindeststrafe von sechs Monaten ergibt. 3. Der sog. untaugliche Versuch a) Begriff. Von einem untauglichen Versuch spricht man, wenn die Handlung des Täters aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen von vornherein nicht geeignet ist, den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeizuführen. Diese Ungeeignetheit kann ihren Grund haben aa) in der Untauglichkeit des Subjekts, bb) in der Untauglichkeit des Objekts, cc) in der Untauglichkeit des Mittels. b) Die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs wird vom Gesetz zwar nicht ausdrücklich betont, ergibt sich aber bereits aus der Begriffsbestimmung des § 22, wonach eine Straftat versucht, wer „nach seiner Vorstellung von der Tat" zur Verwirklichung des Tatbestands unmittelbar ansetzt (sog. subj. Versuchstheorie, vgl. § 22 Anm. 1). Die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs ergibt sich außerdem aus der sog. Unverstandsklausel des Abs. 3 (Einzelheiten s. u. 6), die sich mit der Strafbarkeit von minder strafbedürftigen Fällen des untauglichen Versuchs befaßt und damit die grundsätzliche Strafbarkeit des untauglichen Versuchs voraussetzt. c) Die Strafbarkeit des Versuchs am untauglichen Objekt und der Versuch mit untauglichen Mitteln entspricht der früheren Rspr. zu § 43 a. F. seit der Entscheidung der Vereinigten Senate des Reichsgerichts vom 24. 5. 1880 (RG 1,439). Auch das jüngere Schrifttum hat die Strafbarkeit dieser Versuchsformen auf der Grundlage der subjektiven Theorie (vgl. § 22 Anm. 1) schon vor Inkrafttreten des 2. StrRG grundsätzlich bejaht (vgl. Jescheck AT 401 m. weit. Nachw.). Sieht man den Strafgrund des Versuchs nicht in der objektiven Gefährlichkeit der Tat, sondern in der Betätigung des verbrecherischen Willens, so kann es keinen Unterschied machen, aus welchem Grund der Täter bei der Verwirklichung seines Tatplans gescheitert ist. Eine nach außen in Erscheinung getretene Auflehnung des Täters gegen die Rechtsordnung durch die Betätigung des verbrecherischen Willens liegt nicht nur vor, wenn der Täter infolge eigener Ungeschicklichkeit, infolge der Aufmerksamkeit des Opfers oder aus ähnlichen Gründen seinen Tatplan nicht realisieren kann; sie ist vielmehr auch dann gegeben, wenn der Täter infolge der Untauglichkeit des Mittels oder des Objekts von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Sowohl beim „tauglichen" als auch beim „untauglichen" Versuch handelt es sich um eine mißlungene Manifestierung des verbrecherischen Willens. Eine unterschiedliche Beurteilung in rechtlicher Hinsicht ist deshalb sachlich nicht begründet. Aus dem gleichen Grunde ist es auch unerheblich, ob der Täter im Falle des Versuchs mit untauglichen Mitteln ein „absolut" untaugliches oder ein „relativ" untaugliches Mittel verwendet. Strafbarer Mordversuch liegt deshalb nicht nur vor, wenn A zur Tatausführung ein „an sich" taugliches Gift verwendet, dabei aber eine zu schwache Dosierung wählt (Versuch mit einem relativ untauglichen Mittel, vgl. BGH 11, 324), sondern auch dann, wenn er zur Tatausführung infolge einer Verwechslung Zucker anstatt Gift nimmt (Versuch mit einem absolut untauglichen Mittel). Beruht der Versuch mit absolut untauglichen Mitteln auf „grobem 118
Zweiter Titel: Versuch
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Unverstand", so kann das Gericht zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse nach Abs. 3 von Strafe absehen oder die Strafe nach seinem Ermessen mildern (Einzelheiten s. u. 6). Uber die besondere Situation des sog. abergläubischen Versuchs, der genau genommen kein Versuch, sondern eine besondere Erscheinungsform des Wahndelikts ist, s. u. 4. Beispiele aus der Rspr., in denen strafbarer Versuch mit untauglichen Mitteln angenommen wurde und die heute noch Gültigkeit beanspruchen können: über Abtreibungsversuch mit untauglichen Mitteln siehe R G 1, 439; 34, 217; 47, 66; 68, 13; über Totschlagsversuch mit zu gering dosierten Schlaftabletten siehe B G H 11, 324. - Strafbarer Versuch am untauglichen Objekt wurde angenommen bei einem Tötungsversuch an einer Leiche ( R G 1, 451), beim Abtreibungsversuch an einer nur vermeintlich schwangeren Frau ( R G 34, 217) sowie bei der Vornahme sexueller Handlungen an einem 14jährigen Mädchen, das der Täter irrig für erst 13 Jahre alt hielt ( R G 39, 316). Ein Versuch am untauglichen Objekt liegt auch dann vor, wenn der Täter bei Diebstahl, Raub, Betrug und Erpressung irrig annimmt, die von ihm erstrebte Zueignung bzw. Bereicherung sei rechtswidrig, während er in Wirklichkeit einen Rechtsanspruch darauf hat (vgl. R G 4 2 , 9 2 betr. Betrugsversuch). Strafbarer Versuch der Hehlerei liegt vor, wenn der Täter eine Sache erwirbt, von der er irrig annimmt, ein anderer habe sie gestohlen ( R G 64,130). d) Umstritten und durch das 2. StrRG nicht gesetzlich geregelt ist der Versuch des untauglichen Subjekts. Während der A E in § 25 Abs. 3 Nr. 1 den Versuch des untauglichen Subjekts zwar als solchen anerkennt, aber für straflos erklärt, hat der Gesetzgeber des 2. StrRG in Anlehnung an § 27 E 1962 das Problem ausgeklammert in der „Überzeugung, die Rechtsprechung werde auch ohne ausdrückliche Regelung Straflosigkeit annehm e n " (vgl. Ber. S. 11 BT-Drucks. V/4095). Dem kann in dieser allgemeinen Formulierung keinesfalls gefolgt werden. aa) Versuch liegt begrifflich zumindest in den Fällen vor, in denen die Untauglichkeit des Subjekts mit einer Untauglichkeit des Objekts korrespondiert, z. B. wenn im Falle des § 171 (Doppelehe) der Eheschließende nur irrig glaubt, in einer noch gültigen Ehe zu leben oder wenn im Falle des § 173 Abs. 1 (Inzest) der männliche Partner seine Partnerin irrig für seine leibliche Tochter hält (vgl. Jescheck A T 405 m. weit. Nachw.). In diesen Fällen ist die Untauglichkeit des Subjekts nicht absolut, sondern nur relativ, d. h. die Strafdrohung richtet sich nicht nur an bestimmte Personengruppen, z. B. Amtsträger, Soldaten oder Ärzte, sondern an alle Rechtsgenossen. Eine praktische Bedeutung hat diese Fallgruppe jedoch nicht mehr, da sowohl in § 171 als auch in § 173 die Strafdrohung für den Versuch durch das 4. StrRG aufgehoben wurde und auch der Abtreibungsversuch einer nur vermeintlich schwangeren Frau seit der Neufassung des § 218 durch das 5. StrRG die Gerichte nicht mehr befassen wird (vgl. § 218 Abs. 4 S. 2). bb) Umstritten und praktisch bedeutsam ist dagegen die Behandlung des Irrtums über die Tauglichkeit des Subjekts bei den echten Sonderdelikten, d. h. bei solchen Tatbeständen, bei denen sich die Strafdrohung nur an bestimmte Personengruppen richtet, z. B. an Amtsträger, Soldaten, Ärzte, Rechtsanwälte, Eltern und Erzieher. Hier ist die fehlende Täterqualität nicht relativ, sondern absolut. Sie kann also nicht (wie in der Fallgruppe aa) in eine Untauglichkeit des Objekts umgedeutet werden. Während ein Teil des Schrifttums den Versuch des untauglichen Subjekts auf der Grundlage der subjektiven Versuchstheorie mit der gleichen Begründung wie bei den übrigen Erscheinungsformen des untauglichen Versuchs (s. o. lit. a) generell als strafbar ansieht (vgl. z. B. Busch LK 49 zu § 43 aF; Lackner § 22 Anm. 2 b ; Maurach A T 512; ebenso die Entscheidung des Reichsgerichts in R G 72, 110, die wegen ihrer unseligen Thematik heute nur ungern zitiert wird),
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§ 23
Zweiter Abschnitt: Die Tat
behandelt eine nicht unbeachtliche Gegenmeinung den Versuch des untauglichen Subjekts als Sonderfall des (straflosen) Wahndelikts (vgl. z. B. Baumann AT 520; Hardwig GA 1957, 175; Welzel 194; im Ergebnis übereinstimmend auch § 25 Abs. 3 Nr. 1 AE und Ber. S. 11 BT-Drucks. V/4095). Die richtige Auffassung dürfte in der Mitte liegen (vgl. Blei AT 203 f.; Bockelmann AT 197 f.; Bruns, Der untaugliche Täter im Strafrecht, 1955, S. 18 ff.; Dreher § 22 Rn. 28; Eser in Schönke-Schröder § 22 Rn. 75 f.; Jescheck AT 404; Wessels AT 113: Handelt es sich um einen sog. umgekehrten Tatbestandsirrtum, d. h. nimmt der Täter irrig (tatsächliche oder rechtliche) Umstände an, bei deren Vorliegen er die für den jeweiligen Tb. erforderliche Täterqualität hätte, so liegt Versuch vor. Handelt es sich dagegen um einen umgekehrten Subsumtionsirrtum, d. h. zieht jemand in Kenntnis aller tatbestandserheblichen Umstände und ihrer sozialen Bedeutung (Parallelwertung in der Laiensphäre) nur falsche rechtliche Schlüsse, so liegt ein strafloses Wahndelikt vor. So liegt z. B. keine versuchte Bestechlichkeit, sondern ein Wahndelikt vor, wenn eine Raumpflegerin, die sich für eine Beamtin hält, weil sie bei einer Behörde arbeitet, dem Agenten eines Geheimdienstes gegen Bezahlung den Inhalt der Papierkörbe überläßt (vgl. Jescheck AT 404). Dagegen würde ein nach § 332 Abs. 1 S. 2 strafbarer Versuch vorliegen, wenn die Raumpflegerin auf Grund des VerpflichtungsG für den öffentlichen Dienst besonders verpflichtet, der Verpflichtungsakt jedoch aufgrund eines Formfehlers nichtig gewesen wäre. 4. Der sog. abergläubische Versuch Auch die subj. Versuchstheorie (s. o. 3 b) kann nicht völlig auf objektive Elemente verzichten. Das zeigt sich bei der Behandlung des sog. irrealen oder abergläubischen Versuchs (Totbeten, Verhexen, Verwendung sog. Sympathiemittel, vgl. RG 33, 321). Hier ist auch nach der subjektiven Versuchstheorie ein strafbedürftiges Verhalten nicht gegeben. Der Auflehnungswille des Täters erregt nicht Besorgnis, sondern Mitleid (Maurach AT 510). Der Täter ist nicht gefährlich. Für die subjektive Versuchstheorie bleibt die Ausscheidung des straflosen abergläubischen Versuchs aus dem Strafbarkeitsbereich immer schwierig. Ein Mordversuch mit Brombeerblättertee ist - auch vom verbrecherischen Willen aus betrachtet - nicht gefährlicher als der Versuch, einen Menschen durch Beten oder Fluchen zu töten. Gleichwohl wird man im ersten Fall (Brombeerblättertee) vom Boden der subjektiven Versuchstheorie aus wegen der Realität des Mittels konsequent Versuch annehmen müssen (der dann allerdings aufgrund der Unverstandsklausel des Abs. 3 straflos bleibt), während der zweite Fall (Totbeten, Verhexen usw.) schon begrifflich keinen strafrechtlich relevanten Versuch darstellt (h. L., vgl. Blei AT 204; Eser in Schönke-Schröder 13; Gössel GA 1971, 233; Jescheck AT 401; Maurach AT 510; Roxin JuS 1973,329, 331). 5. Das Wahndelikt a) Vom untauglichen Versuch streng zu unterscheiden ist das Wahndelikt. Während der Täter beim untauglichen Versuch irrig (tatsächliche oder rechtliche) Umstände annimmt, bei deren Vorliegen er eine rechtswidrige Tat begehen würde (sog. umgekehrter Tb.-Irrtum), handelt es sich beim Wahndelikt um einen umgekehrten Verbotsirrtum, d. h. der Täter nimmt irrig an, gegen eine Verbotsnorm zu verstoßen, die es gar nicht gibt oder die es zwar gibt, sich aber nicht auf seine Handlung erstreckt. Beispiele: A nimmt irrig an, gleichgeschlechtliche Handlungen seien generell, nicht nur unter den engen Voraussetzungen des § 175 strafbar; - oder: irrige Annahme eines aus dem Ausland zurückkehren120
Zweiter Titel: Versuch
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den Touristen, auch der persönliche Reisebedarf sei zollpflichtig; - oder: irrige Annahme eines Kraftfahrers, er sei nach einem Unfall auch dann wartepflichtig, wenn nur er allein geschädigt wurde (vgl. B G H 8, 263); - oder: eine nicht für den öffentlichen Dienst besonders verpflichtete Raumpflegerin nimmt irrig an, sie sei Beamtin, weil sie in einer Behörde beschäftigt ist (s. o. 3 d). b) Ein strafloses Wahndelikt liegt ferner dann vor, wenn jemand in Kenntnis aller Tatumstände sein an sich tatbestandsmäßiges, aber durch einen Rechtfertigungsgrund gedecktes Verhalten für strafbar hält. Beispiel: A glaubt, er mache sich auch dann des Totschlags schuldig, wenn er den ihn angreifenden B in Notwehr tötet. Kein Wahndelikt, sondern versuchter Totschlag liegt dagegen vor, wenn A nicht erkannt hat, daß B gerade im Begriff war, ihn anzugreifen, und die Tötung des B die einzige Rettungsmöglichkeit war (vgl. B VI 5 e vor § 1). c) Aus dem neueren Schrifttum siehe besonders Blei, Das Wahndelikt, J A 1973, StR 55 ff.; 73 ff.; 93 ff.; 109 ff.; - Engisch, Der „umgekehrte Irrtum" und das „Umkehrprinzip", Heinitz-Festschr. S. 185; - Traub, Die umgekehrte „Parallelwertung in der Laiensphäre" - Wahndelikt oder untauglicher Versuch?, JuS 1967,113. 6. Die „Unverstandsklausel" des Abs. 3 bezieht sich nur auf den Versuch am untauglichen Objekt und den Versuch mit untauglichen Mitteln (s. o. 3 c), nicht dagegen auf den sog. abergläubischen Versuch, der schon begrifflich keinen strafrechtlich relevanten Versuch darstellt, so daß sich die Frage nach seiner Strafbarkeit schon gar nicht aufwirft (s. o. Anm. 4 m. Nachw.). Auch der Versuch des untauglichen Subjekts fällt, sofern man ihn nicht als Wahndelikt behandelt (siehe Anm. 3 d m . Nachw.), mangels ausdrücklicher Erwähnung nicht unter den Anwendungsbereich der Vorschrift. a) Aus grobem Unverstand handelt der Täter, wenn sein Vorgehen offensichtlich ungeeignet ist, den angestrebten Erfolg zu bewirken, d. h. wenn die Untauglichkeit des Objekts oder des Mittels für jeden einsichtigen Menschen ohne Schwierigkeiten deutlich erkennbar ist (vgl. Gössel G A 1971, 227; Jescheck A T 402; Maurach A T 517). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Täter eine völlig abwegige Vorstellung von gemeinhin bekannten Ursachenzusammenhängen hat (vgl. Begr. zu § 27 E 1962; Roxin JuS 1973, 329, 332). So gesehen sind in der Praxis (entgegen Bockelmann A T 197) die Gerichte nicht gezwungen, neben der oft schwierigen Abgrenzung zwischen „tauglichem" und „untauglichem" Versuch auch noch den „untauglichsten" vom „untauglichen" Versuch zu unterscheiden. Erfaßt werden sollen praktisch nur die Fälle, die nach dem Urteil eines einsichtigen Menschen den Fällen des sog. abergläubischen Versuchs (s. o. 4) gleichwertig sind, wegen der Realität des Mittels aber nicht als abergläubischer Versuch behandelt werden können. Hierher gehört z. B. der Abtreibungsversuch mit Brombeerblättertee, nicht dagegen ein Abtreibungsversuch mit Senfbädern oder Seifenwasser, da der letztgenannte Fall „in weiten Kreisen des Volkes im Rufe der Tauglichkeit steht" (vgl. Jescheck A T 402 unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Schweizer Bundesgerichts zu Art. 23 Abs. 2 Schweiz. StGB). Offensichtlich untauglich und deshalb auf grobem Unverstand beruhend wäre andererseits der Versuch, ein 5000 m hoch fliegendes Flugzeug mit einer Pistole abzuschießen (vgl. Gössel aaO 227; Roxin aaO 330), nicht dagegen der Versuch, mit einer Waffe, die nur 1000 m weit trägt, ein 1200 m weit entferntes Ziel zu treffen (vgl. Begr. S. 12 BT-Drucks. V/4095; Roxin aaO. 331). Nicht hierher gehört weiter der Fall, daß der Täter ein offensichtlich untaugliches Mittel nur aufgrund einer Verwechslung anwendet, z. B. bei einem Mordversuch Zucker anstatt Arsen. 121
§ 24
Zweiter Abschnitt: Die Tat
b) Rechtsfolgen: Ob das Gericht von Strafe absieht oder die Strafe nur mildert, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Durch das Voranstellen der Möglichkeit, von Strafe abzusehen, hat der Gesetzgeber jedoch zum Ausdruck gebracht, daß „in erster Linie" das Absehen von Strafe zu erwägen ist (Ber. S. 12 BT-Drucks. V/4095). Der Vorschlag des AE, diese Fälle generell straflos zu lassen (vgl. § 25 Abs. 3 Nr. 2 AE) wurde nicht übernommen, da es auch in diesem Bereich durchaus Fälle geben kann, in denen ein wenngleich geringes - Strafbedürfnis besteht (vgl. Ber. aaO.). Das vom Sonderausschuß herangezogene Beispiel (Mordversuch mit einem zu gering dosierten Beruhigungsmittel) ist allerdings unglücklich gewählt, da man hier noch nicht von „grobem Unverstand" sprechen kann (vgl. Roxin JuS 1973, 329, 332). Beschränkt man die Anwendung der Unverstandsklausel auf die echten Fälle „groben Unverstands", d. h. auf solche Fälle, die ihrem „Schweregrad" entsprechend dem abergläubischen Versuch gleichzustellen sind, so bestehen keine Bedenken, in aller Regel von Strafe abzusehen. c) Prozessual beachte § 153 b StPO (Opportunitätsprinzip) und § 465 Abs. 1 S. 2 StPO (Kosten).
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Rücktritt
(1) Wegen Versuchs wird nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert. Wird die Tat ohne Zutun des Zurücktretenden nicht vollendet, so wird er straflos, wenn er sich freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung zu verhindern. (2) Sind an der Tat mehrere beteiligt, so wird wegen Versuchs nicht bestraft, wer freiwillig die Vollendung verhindert. Jedoch genügt zu seiner Straflosigkeit sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, die Vollendung der Tat zu verhindern, wenn sie ohne sein Zutun nicht vollendet oder unabhängig von seinem früheren Tatbeitrag begangen wird. 1. Die früher in § 46 enthaltenen Vorschriften über den Rücktritt vom Versuch wurden durch das 2. StrRG einer grundlegenden Neuregelung unterzogen, die zwar im Ergebnis sachlich nicht viel Neues bringt, jedoch manche unter der früheren Rechtslage aufgetretene Streitfrage gegenstandslos werden läßt. So ist jetzt in Abs. 1 S. 1 klargestellt, daß es nicht nur beim unbeendeten, sondern auch beim beendeten Versuch entscheidend auf die Freiwilligkeit des Rücktritts ankommt (Einzelheiten s. u. 5). Abs. 1 S. 2 gibt im Anschluß an BGH 11, 324 und die h. L. zu § 46 aF die Möglichkeit, unter gewissen Voraussetzungen auch dann Straflosigkeit anzunehmen, wenn bei einem beeendeten Versuch der Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs nicht vom Täter selbst verhindert wird (Fälle des untauglichen Versuchs und Erfolgsabwendung durch Dritte, Einzelheiten s. u. 6 d). Abs. 2 befaßt sich mit der früher nicht ausdrücklich geregelten Frage des Rücktritts bei Taten, an denen mehrere Personen beteiligt sind (Einzelheiten s. u. 7). 2. Anliegen der Vorschrift ist es, denjenigen zu belohnen, dem das Verdienst zukommt, durch freiwillige Aufgabe seines Tatplans auf den Boden der Rechtsordnung zurückgekehrt zu sein; die durch die Auflehnung gegen die Rechtsordnung begründete Schuld wird 122
Zweiter Titel: Versuch
§24
durch den freiwilligen Rücktritt praktisch kompensiert (h. L., vgl. Baumann AT 524; Bockelmann AT 200 sowie NJW 1955, 1420; Heinitz JR 1956, 249; Jescheck AT 406 f.; Schröder JuS 1962, 81; Welzel 196; Wessels AT 113). Demgegenüber stellt die Rspr. überwiegend teils darauf ab, daß dem Täter eine „goldene Brücke" zum Rückzug gebaut werden soll (vgl. z. B. RG 72,350; 73, 60; BGH 6, 85, 87; übereinstimmend Maurach AT 518); teils wird der Grund für die Straffreiheit darin gesehen, daß die freiwillige Aufgabe des Tatplans bzw. die freiwillige Verhinderung der Tatbestandsvollendung auf eine geringere verbrecherische Energie schließen lasse (vgl. z. B. BGH 9, 52; 14, 80). Beide Gesichtspunkte können jedoch gegenüber dem eingangs formulierten Leitgedanken allenfalls subsidiäre Bedeutung haben, da das Angebot zur Straflosigkeit („goldene Brücke") in der Praxis nur selten das tatsächliche Motiv zum Rücktritt sein dürfte und die Aufgabe des Verbrechensplans aufgrund fehlender Intensität des verbrecherischen Willens sich auch bei solchen Tätern findet, die unfreiwillig zurücktreten. b) Unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen über den Grund der Straffreiheit (s. o. lit. a) besteht allgemeine Ubereinstimmung darüber, daß § 24 einen persönlichen Strafaufhebungsgrund enthält. Strafbefreiender Rücktritt ist also erst zu prüfen, wenn festgestellt ist, daß der Täter, dessen Tat im Versuchsstadium zurückgeblieben ist, rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hat. Außerdem ist zu beachten, daß sich nur der Täter oder Teilnehmer auf die strafbefreiende Wirkung des Rücktritts berufen kann, in dessen Person die Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 oder 2 begründet sind. Wenn z. B. A den B zu einem Diebstahl anstiftet, B den Diebstahl auch versucht, jedoch freiwillig von diesem Versuch zurücktritt, so bleibt A wegen Anstiftung zum versuchten Diebstahl strafbar, obwohl B aufgrund seines freiwilligen Rücktritts straffrei ist (vgl. § 28 Abs. 2). c) Wegen des Schrifttums siehe Vorbem. 2 zu § 22, insbesondere Gössel GA 1971, 225; - Heinitz JR 1956, 248; - Roxin, Heinitz-Festschr. S. 251 sowie JuS 1973, 329, 332; außerdem Bockelmann, Wann ist der Rücktritt freiwillig, NJW 1955, 1417; - Bringewat, Kenntnis des Verletzten und tätige Reue, JuS 1971, 403; - Geilen, Zur Abgrenzung zwischen beendetem und unbeendetem Versuch, JZ 1972, 335; - Grünwald, Zum Rücktritt der Tatbeteiligten im künftigen Recht, Welzel-Festschr. S. 701; - Gutmann, Die Freiwilligkeit beim Rücktritt vom Versuch und bei der tätigen Reue, 1963; - Hruschka, Zur Frage des Wirkungsbereichs eines freiwilligen Rücktritts vom unbeendeten Versuch, JZ 1969, 495; - Lönnies, Rücktritt und tätige Reue beim unechten Unterlassungsdelikt, NJW 1962, 1950; - Muñoz-Conde, Theoretische Begründung und systematische Stellung der Straflosigkeit beim Rücktritt vom Versuch, ZStW 84, 756; - ders., Der mißlungene Rücktritt usw., GA 1973, 33; - Otto, Fehlgeschlagener Versuch und Rücktritt, GA 1967, 144; - v. Scheuerl, Rücktritt vom Versuch und Tatbeteiligung mehrerer, 1972; - Schröder, Grundprobleme des Rücktritts vom Versuch, JuS 1962, 81; - Ulsenheimer, Grundfragen des Rücktritts vom Versuch in Theorie und Praxis, 1976. 2. Der persönliche Strafaufhebungsgrund des § 24 greift nur ein, wenn die Tat noch nicht vollendet ist. Bei einer Tat, die zwar rechtlich vollendet, aber tatsächlich noch nicht beendet ist (vgl. Vorbem. 1 b vor § 22), kommt strafbefreiende tätige Reue nur in wenigen, gesetzlich geregelten Ausnahmefällen in Betracht (vgl. z. B. §§ 158, 310; Einzelheiten s. u. 9). 3. Straffreiheit kommt nicht nur beim unbeendeten Versuch, sondern auch beim beendeten Versuch in Betracht. Ob der Versuch beendet ist, richtet sich nach der Vorstellung des Täters (BGH 14, 75; 22, 330; h. L., vgl. Jescheck A T 408 m. weit. Nachw.). Demnach ist 123
§ 24
Zweiter Abschnitt: Die Tat
der Versuch beendet, wenn der Täter alles getan hat, was nach seiner Vorstellung zur Vollendung der Tat erforderlich war. Beispiele: Die A stellt ihrer auf das Essen wartenden Familie das mit giftigen Pilzen durchsetzte Pilzgericht auf den bereits gedeckten Mittagstisch; - oder: A würgt seine Ehefrau solange, bis diese das Bewußtsein verliert und A den Eindruck hat, sie sei bereits tot; - oder: der Anarchist A wirft in der Absicht, eine Polizeiwache in Brand zu setzen, einen sog. Molotow-Cocktail in ein offenstehendes Fenster. 4. Die Vorstellung des Täters ist nach h. A. auch dann entscheidend, wenn die Vollendung der Tat nach seinem Tatplan erst durch Vornahme mehrerer Handlungen eintreten soll (vgl. BGH 10, 129, 131; 14, 75, 79; 22, 176; 22, 330, 332; GA 1966, 208; Maurach AT 519; Wessels AT 114). Fraglich kann nur sein, ob es in diesen Fällen auf die Vorstellung des Täters bei Vornahme der ersten Handlung ankommt oder ob seine Vorstellung im Zeitpunkt der letzten Handlung entscheidend ist. a) Nimmt der Täter die zur Tatbestandsverwirklichung in Aussicht genommenen Tathandlungen ohne konkrete Vorstellung darüber vor, wieviele Handlungen zur Tatbestandsverwirklichung erforderlich sein werden, so kommt es für die Frage, ob der Versuch beendet ist, auf die Vorstellung des Täters nach Abschluß der letzten Handlung an (vgl. BGH 22, 176; h. L.). Beispiel: A schlägt mit Tötungsvorsatz so lange auf X ein, bis dieser bewußtlos zusammenbricht. Läßt er alsdann von ihm ab, weil er glaubt, X sei bereits tot, ein weiteres Zuschlagen sei deshalb nicht erforderlich, so liegt ein beeendeter Versuch vor. Glaubt A jedoch, X sei noch nicht lebensgefährlich verletzt, so liegt ein unbeendeter Versuch auch dann vor, wenn die bereits verabfolgten Schläge ohne die nach der Tat sofort eingeleiteten Rettungsmaßnahmen den Tod des X hätten herbeiführen können. Entscheidend ist allein, daß A die weitere Ausführung der Tat aufgegeben hat und der tatbestandsmäßige Erfolg nicht eingetreten ist. Unerheblich ist auch, wer die zur Lebenserhaltung erforderlichen Rettungsmaßnahmen eingeleitet hat. b) In gleicher Weise ist zu differenzieren, wenn der Täter nach Vornahme einer Handlung, die entgegen seiner Vorstellung noch nicht zur Tatbestandsverwirklichung geführt hat, mit gleicher Zielrichtung weitere Handlungen vornimmt, die mit der ersten Handlung aufgrund ihres engen örtlichen und zeitlichen Zusammenhangs eine natürliche Handlungseinheit bilden (vgl. BGH 21,319, 322; Blei AT 210; Dreher 4 sowie JR 1969, 107; Hruschka JZ 1969, 498; Jescheck AT 409; Lackner 3 b; a. A. BGH 22, 330; Wessels AT 115, wonach in diesen Fällen immer ein beendeter Versuch anzunehmen ist). Beispiel: A schießt auf X in der festen Überzeugung, diesen bereits beim ersten Schuß tödlich zu treffen. Als er erkennt, daß er X wider Erwarten nicht getroffen hat, schießt er das ganze Magazin leer. Ist X dann immer noch nicht tödlich verletzt, so kommt es für die Frage, ob ein beendeter oder nichtbeendeter Versuch vorliegt, entscheidend auf die Vorstellung des A nach Abgabe des letzten Schusses an. c) Die Vorstellung des Täters im Zeitpunkt der letzten Tathandlung ist auch dann entscheidend, wenn der Täter zunächst mehrere Handlungen für erforderlich gehalten hat, um den Tb. zu verwirklichen, die in Aussicht genommenen Tathandlungen dann aber vorzeitig abbricht. Beispiel: A hat die Absicht, X dadurch zu töten, daß er aus einem Hinterhalt sechs Schüsse auf ihn abgibt. Läßt A, von Reue ergriffen, nach dem ersten Schuß von seinem Vorhaben ab in der Hoffnung, X noch nicht tödlich getroffen zu haben, so liegt ein nicht beendeter Versuch auch dann vor, wenn der abgegebene Schuß entgegen der ursprünglichen Vorstellung X so schwer verletzt hat, daß er ohne sofortige Hilfe 124
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verbluten müßte. Wird X gerettet, so bleibt der Mordversuch schon deshalb straffrei, weil A die weitere Tatausführung freiwillig aufgegeben hat (§ 24 Abs. 1 S. 1, 1. Alt.). Unerheblich ist, ob A sich selbst um die Rettung bemüht hat. Er kann, wenn X gerettet wird, auf jeden Fall nur wegen gefährlicher Körperverletzung bestraft werden. Abwandlung: Wurde X bereits durch den ersten Schuß getötet, so kommt der Rücktritt zu spät: Der Tb. ist bereits erfüllt, so daß für strafbefreienden Rücktritt nach § 24 kein Raum mehr ist; daß der Tod entgegen der Vorstellung des A bereits durch den ersten Schuß bewirkt wurde, stellt eine unerhebliche Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Kausalverlauf dar. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob X nach dem ersten Schuß sofort tot zusammenbricht oder erst dadurch stirbt, daß A nach der Tat nicht sofort für ärztliche Betreuung gesorgt hat. 5. Der Rücktritt vom nichtbeendeten Versuch (über die Abgrenzung gegenüber dem beendeten Versuch s. o. 3, 4) setzt voraus, daß der Täter die weitere Tatausführung freiwillig aufgibt. a) Freiwillig ist der Rücktritt, wenn der Täter in der Vorstellung, noch nicht alles zur Tatbestandsverwirklichung Erforderliche getan zu haben, von der weiteren Tatausführung Abstand nimmt, obwohl er die Verwirklichung seines Tatplans noch für möglich hält (BGH 7, 296; h. L.). Nach der vielzitierten Frank'sehen Formel (Frank 18. Aufl. § 46 II) sagt sich der Täter beim freiwilligen Rücktritt: „Ich will nicht mehr zum Ziel kommen, selbst wenn ich es noch könnte." Maßgebend ist demnach die Vorstellung des Täters. Hieraus folgt, daß die Untauglichkeit von Mittel oder Objekt der Annahme strafbefreienden Rücktritts nicht entgegensteht, sofern der Täter die Ausführung seines ursprünglichen Tatplans noch für möglich hält. Umgekehrt schließt auch ein vermeintliches Hindernis die Freiwilligkeit des Rücktritts aus, wenn der Täter irrig annimmt, seinen Tatplan nicht mehr verwirklichen zu können. Beispiele: aa) A steigt in einen Kiosk ein, um aus der Ladenkasse DM 200,- zu entwenden, die er zur Auslösung seines verpfändeten Motorrads dringend benötigt. Mit einem geringeren Betrag ist ihm nicht gedient. Wenn A in der Kasse nur DM 5,- Wechselgeld vorfindet und diesen Betrag enttäuscht liegen läßt, so liegt kein strafbefreiender freiwilliger Rücktritt vor: A kann seinen ursprünglichen Plan - die Entwendung von 200,- DM - nicht mehr realisieren (vgl. BGH 4, 56). Anders wäre dagegen zu entscheiden, wenn sich A über den Kasseninhalt keine Gedanken gemacht hätte, sondern mit unbestimmtem Diebstahlsvorsatz eingestiegen wäre (vgl. RG 70,1). bb) Der in der Wohnung des X beschäftigte Einbrecher A hört, wie X gerade telefoniert. Er glaubt, X habe ihn bemerkt und benachrichtige die Polizei. In Wirklichkeit ahnt X nichts, sondern spricht mit seiner Freundin. Wenn A nun aus Furcht, an der weiteren Tatausführung gehindert zu werden, flieht, ohne etwas mitzunehmen, so ist sein Rücktritt nicht freiwillig. Der Rücktritt wäre dagegen freiwillig, wenn X zwar tatsächlich die Polizei gerufen, A hiervon aber nichts gemerkt und aus Gewissensgründen von der weiteren Tatausführung Abstand genommen hätte. b) Das Motiv zum Rücktritt muß nicht ethisch billigenswert oder gar wertvoll gewesen sein. Entscheidend ist allein, daß der Täter aus „autonomen", d. h. selbstgesetzten, ihm nicht psychisch oder physisch aufgezwungenen Motiven die weitere Tatausführung auf-
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gibt, obwohl er noch Herr seiner Entschlüsse ist und die Tatbestandsverwirklichung nach wie vor für möglich hält (BGH 7,296 m. zust. Anm. Jescheck MDR 1955, 563; h. L.). Ein ethisch billigenswerter Rücktrittsgrund (z. B. Scheu, seelische Erschütterung, Reue oder Selbstbesinnung) hat lediglich insofern Bedeutung, als bei seinem Vorliegen regelmäßig die Voraussetzungen des § 24 vorliegen. Beispiele: aa) Der Rücktritt ist freiwillig, wenn der Täter aus Gewissensnot (vgl. RG 14, 19, 22), Schamgefühl (vgl. RG 47, 74, 79) oder aufgrund eines eindringlichen Vorhalts eines Angehörigen, eines Freundes, aber auch eines Tatgenossen (vgl. BGH 21, 319, 321) von der weiteren Tatausführung Abstand nimmt. Auch Furcht vor Strafe schließt die Freiwilligkeit des Rücktritts grundsätzlich nicht aus (RG 47, 78; 54, 326; 57, 316; BGH 9, 50; h. L., vgl. Blei AT 212; Dreher 6; Maurach AT 521), sondern steht der Straffreiheit nur dann entgegen, wenn die Furcht den Täter so lähmt, daß er zur weiteren Tatausführung unfähig ist. Bei einem Vergewaltigungsversuch ist der Rücktritt auch dann freiwillig, wenn der Täter von seinem Vorhaben abläßt, weil das Opfer zu einer List greift und verspricht, sich alsbald an einem geeigneten Ort freiwillig hinzugeben (vgl. BGH 7, 296 m. zust. Anm. Jescheck MDR 1955, 563; BGH bei Dallinger MDR 1969, 15; Blei AT 213; Dreher 6; Jescheck AT 410; Maurach AT 522). Demgegenüber wird im Schrifttum teilweise die Freiwilligkeit mit der Begründung verneint, der Täter sei nur zurückgetreten, weil seine „Verbrechervernunft" es ihm geboten habe (vgl. Roxin ZStW 77, 97 ff. sowie in Heinitz-Festschr. S. 255 ff.; Rudolphi SK 25; übereinstimmend auch Bockelmann AT 201). Hierauf kann es jedoch nicht entscheidend ankommen; entscheidend ist allein, daß es der Täter nach wie vor für möglich hielt, ungeachtet der lockenden Versprechungen für die Zukunft seinen ursprünglichen Tatplan - hic et nunc - auch gegen den Willen des Mädchens zu realisieren (vgl. Eser in Schönke-Schröder 56; Maurach AT 522 m. weit. Nachw.). bb) Der Rücktritt ist unfreiwillig, wenn der Täter die Verwirklichung seines Tatplans aufgibt, weil er befürchtet, bei der Tatbegehung oder unmittelbar danach in eine Falle zu geraten, die zu seiner alsbaldigen Entdeckung führen und damit die Tatausführung sinnlos, falls nicht sogar unmöglich erscheinen lassen könnte. So liegt z. B. kein strafbefreiender Rücktritt vor, wenn der Täter von einem Vergewaltigungsversuch nur deshalb abläßt, weil die Überfallene Frau ihn wider Erwarten kennt und der Täter fürchtet, die Überfallene werde ihn später bei der Polizei anzeigen oder den Vorfall seiner Frau zur Kenntnis bringen (vgl. RG HRR 1939, 1434; BGH 9, 48; Jescheck AT 410; a. A. Maurach AT 521; BT 434). In diesem Fall kommt noch hinzu, daß der Täter infolge des Schrecks über die unerwartete Identifizierung durch die Überfallene Frau in aller Regel auch physisch gar nicht mehr in der Lage sein dürfte, seine sexuellen Ziele zu erreichen. Entsprechendes gilt, wenn der Täter von der Überfallenen Frau nur deshalb abläßt, weil sie ihre Regel hat und daher für seine Zwecke unbrauchbar ist (vgl. BGH 20, 279 m. Anm. Lackner JR 1966,106). c) Im Regelfall genügt es für die Annahme eines strafbefreienden Rücktritts, daß der Täter freiwillig die weitere Tatausführung aufgibt. Dies gilt allerdings nicht, wenn die Tat entgegen der Vorstellung des Täters bereits in ein Stadium gelangt ist, in dem die Aufgabe der weiteren Tatausführung nicht mehr ausreicht, den drohenden Erfolg abzuwenden, z. B. wenn bei einem Mordversuch das Opfer entgegen der Vorstellung des Täters schon so schwer verletzt ist, daß es nur noch durch sofortige ärztliche Hilfe gerettet werden kann. In diesen Fällen kann der Täter wie in den Fällen des beendeten Versuchs nur
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Zweiter Titel: Versuch
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dadurch Straffreiheit erlangen, daß er die Vollendung verhindert. Gelingt dies nicht, so kann sich die freiwillige Aufgabe des Tatplans nur noch bei der Strafzumessung auswirken (s. u. lit. e sowie 6e). d) Nur die endgültige Aufgabe der Tatausführung verschafft Straffreiheit. Nicht ausreichend ist es also, wenn der Täter seinen Tatplan nur vorübergehend aufgibt, um ihn später unter günstigeren Voraussetzungen ausführen zu können (vgl. RG 72, 350; BGH 7, 297; 21, 319, 321; Jescheck AT 409 f. m. weit. Nachw.). So liegt z. B. kein strafbefreiender Rücktritt vor, wenn A bei einem Einbruchsversuch seinen Tatplan aufgibt, um sich geeigneteres Werkzeug zu verschaffen, oder wenn er den Einbruchsplan zugunsten des zweckmäßiger erscheinenden Einschleichens aufgibt (vgl. Maurach AT 522). Auch ein vorübergehendes Aufschieben der Tatausführung (z. B. Abwarten bis zum Eintritt völliger Dunkelheit) begründet noch keinen strafbefreienden Rücktritt. Andererseits ist nicht erforderlich, daß der Täter sich entscheidet, nie wieder einen Angriff auf das gefährdete Tatobjekt zu unternehmen (Eser in Schönke-Schröder 39 m. Nachw.). e) Tritt der Erfolg trotz Aulgabe der weiteren Tatausführung ein, weil der Täter die Wirksamkeit seines bereits geleisteten Tatbeitrags unterschätzt hat, so trägt der Täter grundsätzlich das volle Risiko des Erfolgseintritts (vgl. Rudolphi SK 16 m. Nachw.). Der Rücktritt führt in diesen Fällen nur dann zur Straflosigkeit, wenn der weitere Geschehnisablauf atypisch verläuft (Einzelheitens. u. 6 e). 6. Der Rücktritt vom beendeten Versuch a) Auch beim beendeten Versuch kommt es entscheidend darauf an, daß der Täter die Vollendung der Tat freiwillig verhindert. Uber „freiwillig" s. o. 5 a. Die Tatentdeckung durch das Opfer oder einen Dritten, von dem der Täter ein Handeln gegen seine Interessen zu erwarten hat, ist allenfalls ein Indiz dafür, daß der Rücktritt nicht freiwillig war, schüeßt jedoch für sich allein die Freiwilligkeit des Rücktritts und damit die Straflosigkeit selbst dann nicht aus, wenn der Täter sich der Tatentdeckung bewußt ist. Entscheidend ist allein, daß er noch Herr seiner Entschlüsse ist und glaubt, den Eintritt des Erfolgs in seiner Hand zu haben. Umgekehrt ist der Rücktritt unfreiwillig, wenn der Täter seine Tat nur irrig für entdeckt hält und deshalb fürchtet, alsbald überführt und festgenommen zu werden. b) Nicht erforderlich ist, daß der Täter den Erfolg eigenhändig verhindert Straffreiheit kann sich auch verdienen, wer Hilfskräfte (z. B. Ärzte, Feuerwehr, Angehörige usw.) heranzieht, um den drohenden Erfolg abzuwenden (RG 15, 44 f.; BGH NJW 1973, 632; h. L.). c) Die früher gesetzlich nicht geregelte Frage, ob auch bei einem beendeten untauglichen Versuch strafbefreiender Rücktritt möglich ist, wird nunmehr durch § 24 Abs. 1 S. 2 eindeutig geregelt: Der Täter bleibt straflos, wenn er sich freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung zu verhindern. Ein solches Bemühen kommt naturgemäß nur so lange in Betracht, als der Täter die Untauglichkeit seines Versuchs noch nicht erkannt hat. d) § 24 Abs. 1 S. 2 regelt weiter den Fall, daß der Erfolg ohne Kenntnis des Täters von dritter Seite abgewendet wird. Auch in diesem Fall genügt es zur Straflosigkeit, daß der Täter sich freiwillig und emsthaft bemüht, die Vollendung der Tat zu verhindern (vgl. BGH MDR 1972, 751 m. krit. Anm. Blei JA 1972, StR 209; offen gelassen in NJW 1973, 127
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632 m. Anm. Blei JA 1973, StR99; Dreher 14; Jescheck AT 411; Lackner 4b; Maurach AT 524). Beispiel: Die A setzt ihr Kind unmittelbar nach der Geburt mit Tötungsvorsatz am Waldrand aus. Wenig später kehrt sie, von Reue ergriffen, an den Ort der Aussetzung zurück, findet das Kind aber nicht mehr vor, weil es inzwischen bereits von einem Pilzsammler gefunden und in Sicherheit gebracht worden ist. Die auf die Erfolgsabwendung gerichtete Tätigkeit muß allerdings äußerlich erkennbar bereits begonnen haben (vgl. Blei AT 214). Unerheblich ist dagegen, ob sie zur Erfolgsabwendung objektiv geeignet war (vgl. Dreher 14; Jescheck AT 411; a. A. Arzt, GA 1964, 2 ff.; Blei aaO.). Der Täter darf bei der Erfolgsabwendung durch Dritte nicht schlechter gestellt werden als beim Rücktritt nach einem beendeten untauglichen Versuch. So bliebe die A in dem oben erörterten Beispiel auch dann straflos, wenn sie infolge ihrer Aufregung den Ort der Aussetzung nicht mehr gefunden hätte, das Kind aber zwischenzeitlich durch Dritte gerettet worden wäre. e) Mißlingt die Rettungsaktion, d. h. tritt der Erfolg ungeachtet der Bemühungen des Täters doch ein, so ist der Täter im Regelfall wegen vollendeter Tatbegehung zu bestrafen (BGH NJW 1973, 632 f.). Sein vergeblicher Versuch, den Erfolgseintritt im letzten Augenblick noch abzuwenden, kann sich nur bei der Strafzumessung auswirken. Anders zu beurteilen sind die Fälle, in denen die Rettungsaktion nach allgemeiner Lebenserfahrung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Erfolg abgewendet hätte, der Erfolg dann aber doch dadurch eintritt, daß ein atypisches Zwischenereignis, auf das der Täter keinen Einfluß hat, seine Rettungshandlung unwirksam werden läßt. Beispiele: A schlägt X mit Tötungsvorsatz nieder. Als er sieht, daß X zu verbluten droht, bemüht er sich um einen Krankenwagen, der den X zum nächsten Krankenhaus fahren soll, auf dem Weg dorthin jedoch in einen Unfall verwickelt wird, bei dem X tödlich verletzt wird. Oder: Der Krankenwagen erreicht zwar sein Ziel, X weigert sich aber aus Gewissensgründen gegen eine Bluttransfusion, die allein sein Leben retten könnte. - Oder: A schickt seinem Nebenbuhler X eine Flasche Schnaps, der er mit Tötungsvorsatz Gift beigemischt hat. Nach Aufgabe der Sendung wendet er sich telefonisch an die Vermieterin des X, die er unter Hinweis auf eine angebliche Verwechslung flehentlich bittet, die Sendung nicht anzunehmen, sondern an ihn zurückgehen zu lassen. Die V sagt dies zwar zu, nimmt die Sendung aber doch entgegen und leitet sie in Kenntnis ihrer Gefährlichkeit an X weiter, der ahnungslos einen Schluck von der giftigen Mischung nimmt und stirbt. Während ein Teil des Schrifttums auch in Fällen dieser Art dem Täter das volle Risiko des Erfolgseintritts aufbürdet und ihm die Möglichkeit eines strafbefreienden Rücktritts generell abschneidet (vgl. Dreher 7; Lackner 4 b; Maurach AT 525), nimmt die Gegenmeinung zu Recht Straflosigkeit zumindest in den Fällen an, in denen ohne das atypische Zwischenereignis die Rettungshandlung den drohenden Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgewendet hätte (vgl. Blei AT 214; Eser in Schönke-Schröder 25, 65; Lenckner, Gallas-Festschr. S. 281, 290 ff.; Rudolphi SK 28). Die dogmatische Begründung dieses Ergebnisses ergibt sich aus der Erwägung, daß das atypische Zwischenereignis zu einer wesentlichen Abweichung des Geschehnisablaufs führt und der Täter deshalb nur bis zum Eintritt des atypischen Zwischenereignisses haftet. Der mit dem atypischen Zwischenereignis einsetzende weitere Geschehnisablauf wird von seinem Vorsatz nicht mehr gedeckt und entzieht sich damit zugleich auch der Steuerung durch den Täter. Diese Voraussetzungen liegen insbesondere dann vor, wenn das Opfer oder ein Dritter den Täter in Kenntnis der Gefahrensituation bewußt von der Herrschaft über das Geschehen ausschließt (vgl. Otto, Maurach-Festschr. S. 99; Muñoz-Conde GA 1973, 33; Rudolphi SK 28; Wessels AT 114). 128
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7. § 24 Abs. 2 regelt den Rücktritt bei der Tatbeteiligung mehrerer. Die Vorschrift bezieht sich sowohl auf den nichtbeendeten als auch auf den beendeten Versuch. „Tatbeteiligte" sind nicht nur Mittäter, sondern auch mittelbare Täter, Anstifter und Gehilfen (vgl. § 28 Abs. 2). Aus dem Schrifttum siehe insbesondere Lenckner, Gallas-Festschr. S. 281 ff. a) Nach Abs. 2 S. 1 bleibt straffrei, wer freiwillig die Vollendung der Tat verhindert. Beispiel: Bei einem Einbruchsversuch gelingt es dem Gehilfen G, den Dieb D, der mit Hilfe des ihm von G zur Verfügung gestellten Werkzeugs bereits in das Gebäude eingedrungen war, zur Aufgabe der weiteren Tatausführung zu überreden. b) Nach Abs. 2 S. 2, 1. Alt. bleibt der zurückgetretene Beteiligte auch dann straflos, wenn es ihm ungeachtet seines freiwilligen und ernsthaften Bemühens zwar nicht gelingt, die Vollendung der Tat selbst zu verhindern, die Tat aber ohne sein Zutun nicht vollendet wird. Beispiele: Bei einem von A und B gemeinschaftlich begangenen Einbruchsversuch versucht der von Gewissensbissen geplagte A vergeblich, seinen Komplizen B zur Aufgabe des Tatplans zu überreden. Während beide noch über die weitere Tatausführung diskutieren, erscheint die vom Wohnungsinhaber alarmierte Polizei und setzt dem Treiben ein Ende. - Oder: Bei einem Sprengstoffanschlag versucht A vergeblich, seinen Komplizen B davon abzuhalten, den von beiden gebastelten Sprengkörper in das offen stehende Fenster eines Polizeireviers zu werfen. Infolge eines Konstruktionsfehlere kommt es jedoch nicht zu der erwarteten Explosion. c) Nach der 2. Alt. des Abs. 2 S. 2 bleibt ein Tatbeteiligter, der sich freiwillig und ernsthaft darum bemüht, die Vollendung der Tat zu verhindern, schließlich auch dann straflos, wenn er die Vollendung zwar nicht verhindern kann, die Tat aber unabhängig von seinem früheren Tatbeitrag begangen wird. In dieser Regelung liegt eine vom Gesetzgeber bewußt vorgenommene Verschärfung gegenüber der früheren Rechtslage. Entgegen der früheren Rechtslage (siehe hierzu Lenckner aaO. m. Nachw.) genügt es nämlich nicht, daß der zurückgetretene Tatbeteiligte den von ihm bereits geleisteten Tatbeitrag rückgängig macht, d. h. „neutralisiert" (Maurach AT 677). Erforderlich ist vielmehr, daß er freiwillig und ernsthaft bemüht ist, die übrigen Tatbeteiligten von der weiteren Tatausführung abzuhalten oder sonst die Tatbestandsverwirklichung zu verhindern. Diese Verschärfung gegenüber der früheren Rechtslage beruht auf der Erwägung, daß eine Tat, an der mehrere beteiligt sind, im allgemeinen gefährlicher ist als die Tat einer Einzelperson und daß diese erhöhte Gefährlichkeit durch die Annullierung eines einzelnen Tatbeitrags noch nicht aufgehoben wird (vgl. Ber. S. 12 BT-Drucks. V/4095; kritisch hierzu Jescheck AT 415; Roxin JuS 1973, 329, 333; v. Scheuerl aaO. sowie die Begründung zu § 26 AE). Die vom Gesetzgeber gewollte und im Schrifttum kritisch beurteilte Verschärfung der Rücktritts Voraussetzungen dürfte sich allerdings in der Praxis nicht so gravierend auswirken, wie dies zunächst den Anschein hat. In den meisten Fällen enthält nämlich die Neutralisierung des eigenen Tatbeitrags bereits das Bestreben, die Vollendung der Tat zu verhindern (vgl. Lenckner, Gallas-Festschr. S. 295 ff.). Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen ein Gehilfe dem Täter das von ihm zur Verfügung gestellte Tatwerkzeug während der Tatausführung wegnimmt. Wird durch die Wegnahme des Tatwerkzeugs die Vollendung der Tat verhindert, so ergibt sich die Straffreiheit bereits aus Abs. 2 S. 1; wird die Tat ungeachtet des Zwischenfalls von den übrigen Tatbeteiligten mit anderen Werkzeugen vollendet, so kann sich der zurückgetretene Beteiligte in der Regel darauf berufen, er habe geglaubt, durch die Wegnahme des von ihm zur Verfügung gestellten Tatwerkzeugs alles getan zu haben, um die Vollendung zu verhindern. Anders zu beurteilen sind 5
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jedoch die Fälle, in denen die Tat ganz offensichtlich auch ohne den rückgängig gemachten Tatbeitrag des zurückgetretenen Beteiligten von den übrigen Beteiligten fortgeführt werden kann. So genügt es z. B. nicht, daß sich A bei einem gemeinsam mit B und C versuchten Einbruch einfach unter Mitnahme des von ihm mitgebrachten Schraubenziehers vom Tatort zurückzieht, obwohl er damit rechnet, daß B und C nach seinem Weggang den Einbruch mit ihrem eigenen oder am Tatort vorgefundenen Werkzeug zum Abschluß bringen werden. Wird der Einbruch dann tatsächlich durch B und C vollendet, so bleibt A nur dann straflos, wenn er alles unternommen hat, um B und C von der Tat abzuhalten oder die Vollendung auf sonstige Weise (z. B. durch Benachrichtigung des Eigentümers oder der Polizei) zu verhindern. d) Gelingt es dem zurückgetretenen Tatbeteiligten nicht, den Erfolg zu verhindern (Abs. 2 S. 1) und liegen auch die Voraussetzungen des Abs. 2 S. 2 (s. o. lit. b und c) nicht vor, so führt das freiwillige und ernsthafte Bemühen, die Vollendung der Tat zu verhindern, für sich allein nicht zur Straffreiheit. Der zurückgetretene Tatbeteiligte trägt vielmehr das volle Risiko für die sich aus der Fortwirkung seines Tatbeitrags ergebende Tatbestandsverwirklichung. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob der zur Vollendung führende Tatbeitrag bereits im Vorfeld der Tatbestandsverwirklichung oder erst bei der eigentlichen Tatausführung geleistet wurde. Beispiele: A stiftet B an, X zu vergiften, wobei er ihm das erforderliche Gift zur Verfügung stellt. Bekommt A wenig später Bedenken, so kann er Straffreiheit nur dadurch erlangen, daß es ihm gelingt, B noch vor der Tatausführung zu erreichen und von seinem Tatplan abzubringen oder die Tat auf sonstige Weise zu verhindern. Kommt seine Intervention jedoch zu spät, so ist A ungeachtet seiner Bemühungen strafbar wegen Anstiftung zum Mord, obwohl er den Tod des X im Zeitpunkt der Tatausführung nicht mehr will (vgl. Lenckner aaO. 286 ff.). Dasselbe gilt, wenn A den B zwar noch erreicht, es ihm aber nicht gelingt, B von seinem Tatplan abzubringen, B sich vielleicht nur zum Schein bereit erklärt, den Tatplan aufzugeben, die Tat dann schließlich aber doch ausführt. A bleibt dagegen straflos, wenn es ihm zunächst gelingt, B im letzten Augenblick gerade noch rechtzeitig von seinem Tatplan abzubringen, B es sich dann aber später anders überlegt und den Mord doch begeht; von der Beihilfe zum Versuch ist A mit straf befreiender Wirkung zurückgetreten (§ 24 Abs. 2 S. 1), und wegen Beihilfe zu dem später von B aufgrund eines neuen Tatentschlusses begangenen vollendeten Mords kann er deshalb nicht bestraft werden, weil er diese neue Tat (siehe hierzu oben 5 d) nicht vorsätzlich gefördert hat (vgl. RG 55, 105 f.; BGH NJW 1956, 30 sowie bei Daliinger MDR 1966, 20; Busch LK 46 zu § 46 a. F.; Lenckner, GallasFestschr. S. 287; Maurach AT 678; a. A. v. Scheuerl aaO. 84 ff.). In Betracht kommt allenfalls fahrlässige Tötung, falls A es versäumt hat, dafür zu sorgen, daß B das ihm zur Verfügung gestellte Gift vollständig zurückgibt oder vernichtet (vgl. Lenckner aaO. 289). e) Wird die Wirksamkeit eines Tatbeitrags rückgängig gemacht, bevor die Tat in das Versuchsstadium getreten ist (Beispiel: A nimmt dem B das zur Verfügung gestellte Einbruchswerkzeug weg, bevor B zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt), so ergibt sich die Straflosigkeit nicht erst aus § 24 Abs. 2, sondern aus der allgemeinen Erwägung, daß im Zeitpunkt der Rücknahme des Tatbeitrags noch keine rechtswidrige Tat i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 5 gefördert worden ist. Hieraus folgt, daß der zurückgetretene Beteiligte zur Erlangung von Straffreiheit nicht verpflichtet ist, sich ernsthaft darum zu bemühen, daß die in Aussicht genommene Tat nicht doch noch - unabhängig von seinem zurückgenommenen Tatbeitrag - vollendet wird. So bleibt A in dem zu Beginn dieses Abschnitts gebrachten Beispiel auch dann straflos, wenn B mit seinem Wissen den Einbruch mit anderweitig beschafftem Werkzeug begeht. Die strengen Rücktrittsvoraussetzungen des
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§ 24 Abs. 2 S. 2 (2. Alt.) wären nur dann von Bedeutung, wenn B mit dem von A beschafften Werkzeug den Einbruch bereits versucht hätte. In diesem Fall würde die Beseitigung des eigenen Tatbeitrags nicht genügen; A müßte sich vielmehr freiwillig und emsthaft darum bemühen, die weitere Tatausführung zu verhindern (s. o. lit. c). 8. Nur der Versuch als solcher bleibt straflos. Tatbestände, die bis zum Zeitpunkt des Rücktritts bereits erfüllt waren, werden von § 24 nicht erfaßt. Man spricht in solchen Fällen von einem qualifizierten Versuch. Beispiel: Wenn A nach Vorlage einer unechten Urkunde, die er selbst angefertigt hat, um sich durch Täuschung rechtswidrige Vermögensvorteile zu verschaffen, vom Betrugsversuch zurücktritt, so bleibt die bereits vollendete Urkundenfälschung von der Freiwilligkeit des Rücktritts unberührt. a) Tatbestände, die wegen Spezialität, Konsumtion oder Subsidiarität vom Versuch konsumiert würden, erhalten ihre eigenständige Bedeutung zurück, wenn der Versuch nach § 24 straflos bleibt. So können als vollendete Delikte übrig bleiben: aa) bei versuchtem Raub oder versuchter räub. Erpressung: Nötigung (§ 240), Freiheitsberaubung (§ 239) oder Körperverletzung (§§ 223 ff.); bb) bei versuchter Vergewaltigung: sexuelle Nötigung (§ 178), Beleidigung (§ 185) und Körperverletzung (§§ 223 ff.); cc) bei versuchtem Einbruchs- oder Nachschlüsseldiebstahl: Hausfriedensbruch (§ 123) und Sachbeschädigung (§ 303); dd) bei versuchter Tötung: Abtreibung (§ 218), Aussetzung (§ 221), Körperverletzung (§§ 223 ff.; siehe hierzu BGH JR 1952,414; BGH 16,122 sowie Vorbemerkung III 1 vor § 211) sowie Vergiftung (§ 229). b) Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn der Versuch, von dem der Täter mit strafbefreiender Wirkung zurücktritt, ein abstraktes Gefährdungsdelikt oder eine wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit selbständig unter Strafe gestellte Vorbereitungshandlung enthält. So bleibt z. B. wegen eines Vergehens nach § 149 strafbar, wer freiwillig vom Versuch einer Geldfälschung zurücktritt, ohne daß gleichzeitig die Voraussetzungen des § 149 Abs. 2 vorliegen. Demgegenüber lehnt die h. M. das Wiederaufleben eines bereits vollendeten konkreten Gefährdungsdelikts ab mit der Begründung, daß die sich auf dasselbe Rechtsgut beziehende Gefährdung nur die Vorstufe seiner Verletzung sei (vgl. Busch LK 41 zu § 46 aF; Jescheck AT 414; Eser in Schönke-Schröder 77). Folgt man dieser Ansicht, so schließt z. B. tätige Reue nach § 310 auch eine Bestrafung nach § 310 a aus. Dasselbe soll auch dann gelten, wenn dem Versuch eine Verbrechensverabredung nach § 30 Abs. 2 vorausgegangen war (vgl. BGH 14, 378; Busch LK 41 zu § 46 aF; Maurach AT 526; Eser in Schönke-Schröder 78; Wessels AT 116). Diese Ansicht kann allerdings zu dem unbefriedigenden Ergebnis führen, daß von mehreren Beteiligten derjenige am besten gestellt ist, der das geschützte Rechtsgut nicht nur gefährdet, sondern zugleich versucht hat, es zu verletzen. Beispiel: A, B und C verabreden gemeinsam ein Sprengstoffattentat. Im entscheidenden Zeitpunkt kommt C jedoch zu spät an den Tatort, worauf A und B die Tat allein versuchen. Treten sie anschließend freiwillig vom Versuch zurück, gehen sie nach h. M. völlig straffrei aus (a. A. Dreher 18), während C gemäß §311 i. V. mit § 30 Abs. 2 zu bestrafen wäre, obwohl er an dem Versuch nicht mehr beteiligt war, also weniger getan hat als A und B. 5»
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9. Sonderfälle a) Bei den sog. Untemehmenstatbeständen (siehe hierzu § 11 Anm. VI) findet § 24 keine Anwendung. Der Rücktritt führt deshalb nur dort zur Straflosigkeit, wo das Gesetz dies im Einzelfall ausdrücklich vorsieht (z. B. bei § 83 a für die §§81 und 82 und in § 316 a Abs. 2 für § 316 a Abs. 1). b) Auch bei selbständig unter Strafe gestellten Vorbereitungshandlungen führt die Aufgabe der beabsichtigten Tatausführung nur dort zu Straflosigkeit, wo das Gesetz dies ausdrücklich vorsieht, z. B. in § 31 für die Fälle des § 30, in § 83 a Abs. 2 für § 83 und in § 311 c Abs. 3 für die Fälle der §§ 310 b Abs. 4, 311 b und § 311 Abs. 5. Bei § 234 a Abs. 3 ist § 31 Abs. 2 analog anzuwenden (vgl. BGH 6,85). c) Keine Anwendung findet § 24 schließlich beim vollendeten Delikt. Wegen gesetzlich geregelter Ausnahmefälle siehe jedoch §§ 158,163 Abs. 2und310. d) Besonderheiten sind auch beim Rücktritt vom Versuch eines unechten Unterlassungsdelikts zu beachten: Bei einem noch unbeendeten Versuch genügt es im allgemeinen zur Annahme strafbefreienden Rücktritts, wenn der Täter die von ihm zur Erfolgsabwendung erwartete Handlung nachholt, z. B. wenn eine Mutter die Ernährung ihres Kleinkindes, das sie verhungern lassen wollte, wieder aufnimmt. Bei einem beendeten Versuch sind dagegen in der Regel zusätzliche Maßnahmen erforderlich, um den drohenden Erfolg zu verhindern (vgl. Lönnies, Rücktritt und tätige Reue bei den unechten Unterlassungsdelikten, NJW 1962,1950). Zum Ganzen siehe auch § 13 Anm. VIII.
Dritter Titel: Täterschaft und Teilnahme Vorbemerkungen 1. Die einzelnen Formen der Tatbeteiligung und ihre strafrechtliche Erfassung a) Die an die einzelnen Tatbestände anknüpfenden Strafdrohungen des Besonderen Teils richten sich grundsätzlich nur an denjenigen, der den jeweiligen Tatbestand selbst verwirklicht. Hieraus ergibt sich die Grundkonzeption des Täterbegriffs: Täter ist der „wer" des jeweiligen Tatbestands, d. h. derjenige, der alle objektiven und subjektiven Voraussetzungen eines gesetzlichen Tatbestands in eigener Person unmittelbar verwirklicht. Liegen diese Voraussetzungen vor, so wird die einmal begründete Täterschaft des unmittelbar Handelnden nicht dadurch berührt, daß dieser sich auf einen Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgrund berufen kann oder die Tat ohne eigenes Interesse oder unter dem Einfluß eines Dritten begangen hat. Die Frage, ob auch dieser Dritte sich als (mittelbarer) Täter strafrechtlich zu verantworten hat, ist hiervon unabhängig (Problem der sog. mittelbaren Täterschaft, Einzelheiten siehe § 25 Anm. III). b) Wird ein gesetzlicher Tatbestand in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken von mehreren Personen verwirklicht, von denen jede einzelne alle objektiven und subjektiven Merkmale des jeweiligen Tatbestands selbst verwirklicht, so liegt ein Fall der sog. Mittäterschaft vor, ohne daß sich besondere Probleme ergeben. Die Täterschaft der einzelnen 132
Dritter Titel: Täterschaft und Teilnahme
Vor § 25
Mittäter ergibt sich bereits unmittelbar aus der eigenhändigen Tatbestandsverwirklichung. Jeder Mittäter ist in Fällen dieser Art der „wer" des jeweiligen Straftatbestands. c) Einer besonderen gesetzlichen Regelung bedarf es lediglich in solchen Fällen, in denen an einer rechtswidrigen Tat Personen beteiligt sind, die an der Tatausführung nicht unmittelbar mitwirken, sondern sich außerhalb der eigentlichen Tatbestandszone halten, die Tat aber doch dadurch mitgestalten, daß sie den oder die Handelnden zur Tat verleiten oder bei der Tatausführung unterstützen. Die strafrechtliche Erfassung dieser Fälle erfolgt in der Regel nicht unmittelbar durch die einzelnen Tatbestände des Besonderen Teils. Es ist daher Aufgabe des Allgemeinen Teils, durch spezielle Vorschriften festzulegen, ob und in welchem Umfang die Strafdrohungen des Besonderen Teils auch auf solche Tatbeteiligte Anwendung finden, die den jeweiligen Tatbestand nicht selbst unmittelbar als Täter oder Mittäter verwirklichen. Dieses Ziel kann einmal dadurch erreicht werden, daß das Gesetz von einem umfassenden, einheitlichen Täterbegriff ausgeht und bestimmt, daß die Strafdrohungen des Besonderen Teils für alle Tatbeteiligten Anwendung finden, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie den Tatbestand selbst als unmittelbare Täter verwirklicht haben oder in sonstiger Weise an der Tatbestandsverwirklichung beteiligt waren. Dieses Prinzip der sog. Einheitstäterschaft, das sich z. B. in Dänemark, Italien, Norwegen und Österreich, aber auch in § 14 OWiG findet und dessen Übernahme manche schwierige Streitfrage bei der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme gegenstandslos werden ließe (Einzelheiten siehe Kienapfel, JuS 1974, 1), konnte sich bei der Neufassung des Allgemeinen Teils durch das 2. StrRG nicht durchsetzen. Maßgeblich für die Ablehnung des Einheitstäterprinzips waren vor allem die Schwierigkeiten, die sich bei den eigenhändigen Delikten und solchen Straftaten ergeben würden, die besondere persönliche Tätermerkmale voraussetzen (Einzelheiten siehe Begründung vor § 29 E 1962). Der Gesetzgeber des 2. StrRG hat sich deshalb dafür entschieden, in Anlehnung an das frühere Recht (vgl. §§ 47 ff. aF) und die Vorschläge des E 1962 sowie des A E das sog. dualistische System beizubehalten und den einzelnen Formen der Täterschaft die einzelnen Formen der Teilnahme gegenüberzustellen. Die Entscheidung des Gesetzgebers zugunsten des dualistischen Systems ist im Schrifttum überwiegend begrüßt worden (vgl. z. B. Cramer NJW 1969, 1929; 1970, 217; Dreher NJW 1970, 218; Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 113 ff.; Jescheck AT 489; Roxin JuS 1973, 329, 334; Welp VOR 1972, 299). 2. Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme a) Ausgehend von dem unter 1 c) dargestellten dualistischen System unterscheidet das Gesetz in § 25 drei Formen der Täterschaft, nämlich die Alleintäterschaft des unmittelbar handelnden Täters (Abs. 1, 1. Alt.), die sog. mittelbare Täterschaft (Abs. 1, 2. Alt.) und die Mittäterschaft (Abs. 2). Nicht gesetzlich geregelt ist die sog. Nebentäterschaft, die dann vorliegt, wenn jemand unter kausaler Mitwirkung des Tatbeitrags eines anderen, unabhängig von ihm handelnden Täters vorsätzlich oder fahrlässig einen Tatbestand verwirklicht (Einzelheiten und Beispiele siehe § 25 Anm. V). Diesen Formen der Täterschaft werden zwei Formen der Teilnahme gegenübergestellt, nämlich die in § 26 geregelte Anstiftung und die in § 27 geregelte Beihilfe. b) Wann im Einzelfall Täterschaft, wann Teilnahme vorliegt, kann oft zweifelhaft sein. Insbesondere die Abgrenzung von mittelbarer Täterschaft und Anstiftung sowie die Grenzziehung zwischen Mittäterschaft und Beihilfe stoßen nicht selten auf Schwierigkeiten, da die Lösung entscheidend von der Frage abhängt, ob man die Abgrenzung von
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
Täterschaft und Teilnahme ausschließlich oder überwiegend nach subjektiven Kriterien bestimmt oder ob man einer objektiven Betrachtungsweise den Vorzug gibt. aa) Ausgangspunkt der Rechtsprechung des früheren Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs bis zum Inkrafttreten des 2. StrRG war der aus der Äquivalenztheorie entwikkelte und wesensmäßig dem unter 1 c) dargelegten Einheitstäterbegriff nahestehende extensive Täterbegriff, der von der Gleichwertigkeit aller Bedingungen ausgehend grundsätzlich jeden als Täter ansieht, der einen Beitrag zur Tatbestandsverwirklichung geleistet hat. Demnach müßten auch der Anstifter und der Gehilfe als Täter bestraft werden, wenn das Gesetz diese Formen der Tatbeteiligung nicht einer speziellen, privilegierenden Regelung unterzogen hätte. Anstiftung und Beihilfe stellen sich somit als Strafeinschränkungsgriinde dar, ohne deren Existenz auch der Anstifter und der Gehilfe die volle Täterstrafe zu erwarten hätten. Aus der Gleichwertigkeit aller Bedingungen wurde weiter der Schluß gezogen, daß sich Täterschaft und Teilnahme nicht im objektiven Bereich unterscheiden können. Hieraus ergab sich zwangsläufig eine subjektive Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, bei der es entscheidend auf die innere Haltung des jeweiligen Tatbeteiligten zur Tat ankam: Wollte er die Tat „als eigene", d. h. hatte er den „animus auctoris", so war er Täter; wollte er die Tat „als fremde", d. h. hatte er den „animus socii", so war er Teilnehmer (st. Rspr. seit RG 2, 162). Die konsequente Durchführung des subjektiven Täterbegriffs führte dazu, daß bei fehlendem Täterwillen Täterschaft selbst in solchen Fällen abgelehnt wurde, in denen ein Tatbeteiligter alle Tatbestandsmerkmale in eigener Person vorsätzlich verwirklicht hatte. So konnte im viel erörterten „Badewannenfall" (RG 74, 84) die Angeklagte, die das nichteheliche Kind ihrer Schwester auf deren Bitten unmittelbar nach der Geburt in der Badewanne ertränkt hatte, mangels eines eigenen Tatinteresses nicht als Täterin, sondern nur als Gehilfin bestraft werden (und dadurch der ihr damals drohenden Todesstrafe entgehen). Auf der gleichen Ebene liegt der vom BGH entschiedene Staschynskij-Fall (BGH 18, 87): St. hatte in seiner Eigenschaft als sowjetischer Agent zwei in München lebende Mitglieder der ukrainischen Widerstandsbewegung auf Befehl und unter dem Druck seiner sowjetischen Auftraggeber mit einer Giftpistole getötet, ohne sich angeblich selbst mit den Interessen seiner Auftraggeber zu identifizieren. Mit Rücksicht auf diese Interessenlage sowie unter Berücksichtigung des Umstands, daß St. unter dem Einfluß „übermächtiger Faktoren" stand, verurteilte ihn der BGH nicht wegen täterschaftlichen Mordes, sondern nur wegen Beihilfe zum Mord. Aus den gleichen Gründen wurden auch die Teilnehmer an den berüchtigten Massenerschießungen unter der NS-Herrschaft nur dann wegen täterschaftlich begangenen Mordes bestraft, wenn sie sich entweder mit ihrem Auftraggeber identifiziert oder durch die Tatbegehung eigene Sonderinteressen verfolgt hatten. In diesen Fällen konnten sich die Angeklagten selbst dann nicht auf fehlenden Täterwillen berufen, wenn sie ihrerseits nur auf Befehl gehandelt hatten (vgl. z. B. Urt. v. 15. 7. 1969 [5 StR 504/68] und v. 16. 3. 1971 [1 StR 687/70]). Standen sie dagegen unter dem Einfluß „übermächtiger Faktoren", d. h. befanden sie sich - wie Staschynskij (vgl. BGH 18, 93) in einer verwirrenden Lage, aus der sie keinen anderen Ausweg sahen, so hatten sie sich nur wegen Beihilfe zu verantworten. Die Ablehnung des objektiven Täterbegriffs, der teils formal auf das äußere Tatbild, teils materiell auf die Tatherrschaft abstellte (so vor allem das jüngere Schrifttum, s. u. lit. bb), wurde vor allem damit begründet, daß die Abgrenzung nach objektiven Gesichtspunkten zu schematisch und eng sei; sie sei insbesondere nicht in der Lage, besondere Zwangslagen und ähnliche Ausnahmesituationen, aus denen heraus die Tat begangen worden ist, befriedigend zu berücksichtigen (vgl. BGH 18, 87, 92 f.). So hätte z.B. Staschynskij
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Dritter Titel: Täterschaft und Teilnahme
Vor § 25
wegen täterschaftlich begangenen Mords zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt werden müssen; seine Zwangslage hätte nicht einmal im Strafmaß mildernd berücksichtigt werden können. Im „Badewannenfall" hätte die tatausführende Schwester unter der damaligen Rechtslage ungeachtet des fehlenden Tatinteresses zum Tode verurteilt werden müssen. In der Tat läßt sich nicht ernsthaft bestreiten, daß der subjektiv bestimmte Täterbegriff der Rspr. wegen seiner flexibleren Anwendungsmöglichkeit in der Praxis zu Ergebnissen geführt hat, die allgemein als befriedigend angesehen wurden. Dies gilt auch für die rechtliche Beurteilung der oben erwähnten Massenerschießungen unter dem NSRegime. (Über die rechtspolitischen Gründe für das bisherige Festhalten der Rspr. an der subj. Theorie siehe insbesondere Härtung JZ 1954, 430 sowie Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 578) Andererseits liegt aber gerade in der außergewöhnlich weiten Bandbreite des extrem subjektiven Täterbegriffs dessen rechtsstaatliche Bedenklichkeit. Der große Ermessensspielraum, der dem Richter bei der Bewertung der Frage, ob ein Tatbeteiligter mit dem „animus auctoris" oder dem „animus socii" gehandelt hat, gegeben ist, läßt sich mit dem Bestimmtheitsgrundsatz des § 1 nur schwer in Einklang bringen. Auch läßt sich die Gefahr, daß die Animus-Formeln dazu mißbraucht werden, Täterschaft und Teilnahme zur Erzielung eines bestimmten Ergebnisses willkürlich zu vertauschen, zumindest nicht ausschließen. Schließlich ist zu beachten, daß das Tatinteresse für sich allein schon deshalb nicht als entscheidendes Kriterium für die Annahme von Täterschaft herangezogen werden kann, weil es eine ganze Reihe von Tatbeständen gibt, bei denen die Tatbegehung auch dann unter täterschaftlichen Gesichtspunkten zu beurteilen ist, wenn die Tat im Interesse eines Dritten begangen wird (vgl. BGH 8, 393, 396). So liegt Betrug nicht nur vor, wenn der Täter für sich selbst einen rechtswidrigen Vermögensvorteil erstrebt, sondern auch dann, wenn er - ohne eigenes Interesse, etwa die Aussicht auf Belohnung - einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zukommen lassen will. Entsprechendes gilt für die Erpressung (§§ 253, 255) und die Pfandkehr (§ 289). Das Tatinteresse kann daher, auch wenn man den subj. Täterbegriff grundsätzlich für richtig hält, lediglich als Indiz für das Vorhandensein eines Täterwillens gewertet werden. Ob ein Tatbeteiligter die Tat „als eigene" gewollt hat, richtet sich nicht rein subjektiv nach seinem Interesse an der Tat, sondern ist vom Gericht bei Würdigung aller Umstände wertend zu ermitteln (so zutreffend BGH 8, 393, 396 auf der Grundlage einer „beschränkt-subjektiven Theorie" unter ausdrücklicher Aufgabe der Rechtsansicht des früheren Reichsgerichts im „Badewannenfall", RG 74, 84). bb) Im neueren Schrifttum wird der subjektive Täterbegriff nur noch vereinzelt vertreten (vgl. z. B. Baumann AT 537, 557 ff. sowie JuS 1963, 51; NJW 1962, 374; 1963, 561; in eingeschränkter Form auch Cramer in Schönke-Schröder 63 ff.). Die h. L. steht demgegenüber auf dem Boden einer primär an objektiven Kriterien ausgerichteten Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme (sog. materiell-objektiver oder final-objektiver Täterbegriff, vgl. z. B. Blei AT 223 ff.; Jescheck AT 495; Lackner 2 b vor § 25; Maurach AT 627; Welzel 100). Ausgangspunkt dieser Lehre ist der sog. restriktive Täterbegriff, der im Gegensatz zum extensiven Täterbegriff (s. o. lit. aa) als Täter i. S. der Tatbestände des Besonderen Teils nur den Täter i. e. S. ansieht, d. h. denjenigen, der den gesetzlichen Tatbestand selbst oder durch einen anderen verwirklicht, nicht auch den Teilnehmer, der die Tat (als Anstifter) veranlaßt oder (als Gehilfe) unterstützt. Die Vorschriften über Anstiftung und Beihilfe stellen sich deshalb nicht als Strafeinschränkungsgriinde, sondern - ähnlich der Strafbarkeit des Versuchs - als Strafausdehnungsgründe dar, d. h. ohne ihre Existenz wären diese Beteiligungsformen nicht strafbar (h. L., vgl. Jescheck A T 492 m. Nachw.). Hieraus folgt, daß die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme bereits im 135
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
Rahmen des Unrechtstatbestands, nicht erst nach der Prüfung von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld zu vollziehen ist (vgl. Herzberg JuS 1974, 238; Wessels AT 94). Entscheidendes Kriterium für die Annahme von Täterschaft ist nach heute h. L. die sog. Tatherrschaft, d. h. das In-den-Händen-Halten des tatbestandsmäßigen Geschehnisablaufs (vgl. Maurach AT 659). Allerdings kann auch die Lehre von der Tatherrschaft bei der Festlegung des Täterbegriffs nicht völlig auf subjektive Kriterien verzichten. Erforderlich ist vielmehr, daß der Täter sich seiner Tatherrschaft bewußt ist und seinen Tatbeitrag mit dem Willen leistet, die Tatbestandsverwirklichung in der Weise zu beherrschen oder mitzubeherrschen, daß der Erfolg als sein eigenes Werk erscheint (vgl. Wessels AT 97). Der Teilnehmer zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, daß er ohne eigene Tatherrschaft und ohne den Willen, die Tat maßgeblich zu gestalten oder mitzugestalten, sich darauf beschränkt, (als Anstifter) die Tat zu veranlassen bzw. (als Gehilfe) zu fördern. Er ordnet sich und seinen Tatbeitrag dem des Täters unter. Die Tat erscheint nicht als sein Werk, wenngleich er zu ihrer Begehung beigetragen hat. cc) Der Gesetzgeber des 2. StrRG hat sich zwar nicht ausdrücklich zugunsten eines primär objektiv bestimmten Täterbegriffs entschieden; die Fassung des § 25 Abs. 1 zeigt jedoch unmißverständlich, daß jemand, der eigenhändig und voll verantwortlich einen Tatbestand verwirklicht, als Täter zu bestrafen ist und sich nicht darauf berufen kann, die Tat „als fremde" gewollt zu haben (vgl. S. 149 Begr. E 1962; Herzberg JuS 1974, 237, 239; Roxin JuS 1973, 329, 335; insoweit übereinstimmend auch Cramer in SchönkeSchröder 68). Entscheidungen, wie sie das Reichsgericht im „Badewannenfall" und der Bundesgerichtshof im „Staschynskij-Fall" (s. o. lit. aa) getroffen haben, ist damit der rechtsdogmatische Boden in Zukunft entzogen. Es ist vielmehr zu hoffen, daß die Rspr. die extrem subjektive Theorie aufgeben wird (siehe auch S. 147 f. Begr. E 1962). Auch das bisher auf der Grundlage des 2. StrRG veröffentlichte Schrifttum steht, soweit ersichtlich, eindeutig auf dem Boden des materiell-objektiven bzw. final-objektiven Täterbegriffs (vgl. Bockelmann AT 168; Dreher § 25 Rn. 2; Herzberg JuS 1974, 237, 239; Lackner § 25 Anm. 1 a; Maurach AT 659; Roxin JuS 1973, 329, 335; Wessels AT 96 f.; a. A. wohl nur Baumann AT 537,557). c) Über die besondere Problematik der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme bei den Unterlassungsdelikten siehe ausführlich § 13 Anm. 7. d) Schrifttum: Baumann, Die Tatherrschaft in der Rspr. des BGH, NJW 1962, 374; ders., Beihilfe bei eigenhändiger voller Tatbestandserfüllung, NJW 1963, 561; - ders., Täterschaft und Teilnahme, JuS 1963, 51, 85,125; - Bockelmann, Die moderne Entwicklung der Begriffe Täterschaft und Teilnahme im Strafrecht, Dt. Beiträge zum VII. Int. Strafrechtskongreß, Sonderheft der ZStW 1957, 46; - Börker, Zur Abhängigkeit der Teilnahme von der Haupttat, JR 1953, 166; - Busse, Täterschaft und Teilnahme bei Unterlassungsdelikten, Diss. Göttingen 1974; - Gallas, Täterschaft und Teilnahme, Materialien zur Strafrechtsreform, 1954, Bd. I, S. 121; - ders., Niederschriften über die Sitzungen der Großen Stl-äfrechtskommission, Bd. II, S. 67; - ders., Die moderne Entwicklung der Begriffe Täterschaft und Teilnahme im Strafrecht, Dt. Beiträge zum VII. Int. Strafrechtskongreß, Sonderheft der ZStW 1957, 3; - Härtung, Der „Badewannenfall", JZ 1954, 430; - Herzberg, Grundfälle zur Lehre von Täterschaft und Teilnahme, JuS 1974, 237, 374, 519, 574; 1975, 35, 171, 575, 647, 792; 1976, 40 (zusammengefaßt und überarbeitet in Heft 52 der JuS-Schriftenreihe, 1977) ; - Kienapfel, Der Einheitstäter im Strafrecht, 1971; - ders., Das Prinzip der Einheitstäterschaft, JuS 1974, 1; - Lange, 136
Dritter Titel: Täterschaft und Teilnahme
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Beteiligter und Teilnehmer, Maurach-Festschr. S. 235; - Ordeig, Gedanken zum Täterbegriff und zur Teilnahmelehre, ZStW 80, 915; - Otto, Straflose Teilnahme?, Lange-Festschr. S. 197; - Roxin, Straftaten im Rahmen organisatorischer Machtapparate, G A 1963, 193; - ders., Zur Dogmatik der Teilnahme lehre im Straf recht, J Z 1966, 293; - ders., Täterschaft und Tatherrschaft, 3. Aufl. 1975; - ders., Unterlassung, Vorsatz und Fahrlässigkeit, Versuch und Teilnahme im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1973, 329; - ders., Bemerkungen zum „Täter hinter dem Täter", Lange-Festschr. S. 173; - Sax, Der Bundesgerichtshof und die Täterlehre, J Z 1963, 329; - Schöneborn, Kombiniertes Teilnahme- und Einheitstätersystem für das Strafrecht, ZStW 87, 902; - Schroeder, Der Täter hinter dem Täter, 1965; - Spendel, Zur Kritik der subjektiven Versuchs-und Teilnahmetheorie, JuS 1969, 314; - ders., Der „Täter hinter dem Täter" - eine notwendige Rechtsfigur?, Lange-Festschr. S. 147. 3. Der Strafgrund der Teilnahme (Anstiftung und Beihilfe) besteht nach h. M. darin, daß Anstifter und Gehilfen die vom Täter begangene rechtswidrige Tat vorsätzlich und rechtswidrig veranlaßt bzw. gefördert haben (sog. Verursachungstheorie im Gegensatz zu der mit § 29 unvereinbaren sog. Schuldteilnahmetheorie, wonach der Strafgrund der Teilnahme darin bestehen soll, daß der Täter zu schuldhaftem Verhalten verleitet bzw. in seinem schuldhaften Verhalten unterstützt worden ist). Einzelheiten siehe § 26 Anm. 1 a, § 27 Anm. 1 a. 4. Die Akzessorietät von Täterschaft und Teilnahme a) Sowohl die Anstiftung als auch die Beihilfe setzen die Begehung einer Haupttat voraus. Es gibt keine Teilnahme ohne entsprechende Täterschaft. Dieses Abhängigkeitsverhältnis wird als Akzessorietät bezeichnet. Bleibt die in Aussicht genommene Haupttat im Versuchsstadium stecken, so kann auch der Teilnehmer nur wegen Anstiftung bzw. Beihilfe zum Versuch bestraft werden. Kommt die Haupttat überhaupt nicht zur Ausführung, so liegt versuchte Anstiftung bzw. versuchte Beihilfe vor, deren Strafbarkeit eigenen Regeln unterliegt (siehe hierzu ausführlich § 30 f. nebst Anm.). b) Seit der Neufassung der Teilnahmeregelung durch die StrRAngleichungsVO v. 29. 5. 1943 setzt die Strafbarkeit der Teilnahme nicht mehr voraus, daß der Täter die Tat volldeliktisch begangen hat. An die Stelle der sog. extremen Akzessorietät ist die limitierte Akzessorietät getreten, d. h. strafbare Teilnahme ist auch dann möglich, wenn der Täter selbst nicht schuldhaft gehandelt hat. Hieran hat sich auch durch die Neufassung des AT durch das 2. StrRG nichts geändert (vgl. § 29). Als Haupttat genügt wie früher eine vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat (vgl. §§ 26, 27). Einzelheiten § 26 Anm. 2 sowie § 29 Anm. 2. c) Über die Frage, ob und wieweit sich besondere persönliche Merkmale, die nur bei einigen Tatbeteiligten vorliegen, auf die Akzessorietät von Täterschaft und Teilnahme auswirken, siehe ausführlich § 28 nebst Anmerkungen. 5. Die versuchte Teilnahme a) Versuchte Anstiftung ist grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 strafbar, d. h. wenn die Tat, zu der angestiftet werden sollte, für den in Aussicht genommenen Täter ein Verbrechen gewesen wäre (Einzelheiten und Beispiele siehe die Ausführungen zu § 30). Lediglich in § 159 wird die strafbare versuchte Anstiftung auch auf die
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
Vergehen der falschen uneidlichen Aussage (§ 153) und der falschen Versicherung an Eides Statt (§ 156) ausgedehnt. Zu beachten sind außerdem einige Sondertatbestände, in denen die versuchte Anstiftung zu Vergehen selbständig unter Strafe gestellt wird (vgl. z. B. §§ 111 Abs. 2, 357). b) Die versuchte Beihilfe ist seit dem 3. StrRÄndG v. 4. 8. 1953 nicht mehr strafbar. Hieran hat sich auch durch das 2. StrRG nichts geändert. Zu beachten ist jedoch der in § 120 Abs. 3 unter Strafe gestellte Fall, daß jemand das Entweichen eines Gefangenen zu fördern versucht (ein als versuchte Täterschaft erfaßter Sonderfall der versuchten Beihilfe). 6. Die notwendige Teilnahme a) Begriff und Problemstellung. Von notwendiger Teilnahme spricht man, wenn ein Tatbestand nur durch das Zusammenwirken mehrerer Personen verwirklicht werden kann. Unproblematisch sind dabei die Fälle, bei denen alle Beteiligte unter gleicher Strafdrohung stehen. Dies gilt insbesondere für die sog. Konvergenzdelikte, d. h. für die Tatbestände, bei denen mehrere Tatbeteiligte auf ein bestimmtes gemeinsames Ziel hinwirken. Hierher gehören z. B. die Gefangenenmeuterei (§ 121), der schwere Hausfriedensbruch (§ 124) und der Landfriedensbruch (§ 125), außerdem Bandendiebstahl (§ 244 Abs. 1 Nr. 3) und Bandenraub (§ 250 Abs. 1 Nr. 4). Von den Konvergenzdelikten zu unterscheiden sind die sog. Begegnungsdelikte. Diese zeichnen sich dadurch aus, daß der Tatbestand nur durch sich gegenseitig ergänzende Handlungen mehrerer Personen erfüllt werden kann. Hierher gehören vor allem Bigamie (§ 171), Beischlaf unter Verwandten (§ 173 Abs. 1, 2), sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen, von Gefangenen usw. oder unter Ausnutzung einer Amtsstellung (§§ 174, 174 a, 174 b), homosexuelle Handlungen mit einem Jugendlichen (§ 175), Bestechlichkeit und Bestechung (§§ 332, 334), Gefangenenbefreiung (§ 120), Begünstigung (§ 257) und Strafvereitelung (§ 258). Soweit bei diesen Begegnungsdelikten alle Beteiligten unter gleicher Strafdrohung stehen, z. B. beim Beischlaf unter Geschwistern (§ 173 Abs. 2), ergeben sich ebensowenig Schwierigkeiten wie bei den Konvergenzdelikten. Problematisch sind lediglich die Fälle, bei denen das Gesetz die notwendig an einer Straftat Beteiligten unter verschiedene Strafdrohungen stellt oder gar nur einen als Täter erwähnt. Hierher gehören u. a. der Beischlaf mit Verwandten absteigender Linie (§ 173 Abs. 1), sexuelle Handlungen mit Schutzbefohlenen, Gefangenen usw. sowie unter Ausnutzung einer Amtsstellung (§§ 174, 174 a, 174 b), Gefangenenbefreiung (§ 120), Begünstigung (§ 257) und Strafvereitelung (§ 258). Hier wirft sich die Frage auf, ob der an einer Straftat notwendig Beteiligte, den das Gesetz überhaupt nicht erwähnt oder für den das Gesetz im Falle seiner Täterschaft eine geringere Strafe vorsieht, nach Teilnahmegrundsätzen auf die gleiche Stufe wie der andere notwendig Beteiligte gestellt werden kann, z. B. ob der nach der Tat fliehende Mörder noch zusätzlich wegen Anstiftung zur Strafvereitelung bestraft werden kann, wenn er bei einem Freund Zuflucht sucht. b) Grundsatz: Beschränkt sich der an einer Straftat notwendig Beteiligte auf den Tatbeitrag, der erforderlich ist, damit es überhaupt zur Tatbestandsverwirklichung kommen kann, so darf er über den Umweg der Teilnahme keiner Bestrafung zugeführt werden, die seiner Rolle als notwendigem Teilnehmer nicht entspricht. Beispiele: Ein Gefangener (G), der wegen gefährlicher Körperverletzung eine Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, wird von seinem Freund (F) aus der Vollzugsanstalt befreit, ohne
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selbst mehr zu tun als mitzugehen, nachdem sich die Tore für ihn geöffnet haben. Hier wäre es verfehlt, G wegen Beihilfe zur Gefangenenbefreiung oder zur Strafvereitelung zu bestrafen (vgl. BGH 4, 396, 400). Niemand erwartet, daß G sich seiner Befreiung widersetzt. - Oder: Wer einem Richter für eine pflichtwidrige richterliche Handlung ein Geschenk gewährt, kann nur als Täter eines Vergehens nach § 334 Abs. 2, nicht noch zusätzlich wegen Anstiftung zu einem Verbrechen nach § 332 Abs. 2 bestraft werden. Dasselbe gilt bei sog. Schutzgesetzen, d. h. wenn sich der notwendig Beteiligte zwar nicht nur rein passiv verhält, sondern aktiv an der Tatbestandsverwirklichung mitwirkt oder gar zu dieser anstiftet, aber der Tatbestand, um den es geht, seinem Schutz dient. Beispiel: Eine 15 jährige Schülerin (S) gibt ihrem Lehrer (L) zu verstehen, daß sie zu einem Liebesabenteuer mit ihm bereit wäre. Wenn sich L hierauf dazu hinreißen läßt, der lockenden Versuchung nachzugeben, so macht er sich eines Vergehens gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 schuldig. Die Einwilligung der S schließt weder die Tatbestandsmäßigkeit noch die Rechtswidrigkeit aus (vgl. BGH 7, 312; 8, 278). Es wäre jedoch verfehlt, wollte man auch die S wegen Anstiftung oder Beihilfe zur Verantwortung ziehen. Sinn und Zweck des § 174 ist es, Jugendliche in bestimmten Abhängigkeitsverhältnissen vor schädlichen sexuellen Einflüssen zu schützen (vgl. § 174 Anm. 1). Dieser Gesetzeszweck verbietet es, auch den Abhängigen selbst in den Strafbarkeitsbereich einzubeziehen. c) Umstrittene Grenzfälle aa) Zu den Schutzgesetzen, die eine strafbare Beteiligung desjenigen, dessen Schutz das Gesetz bezweckt, nach den oben dargelegten Grundsätzen der notwendigen Teilnahme schlechthin ausschließen, gehören seit der Neufassung des 13. Abschnitts durch das 4. StrRG auch die §§ 180, 180 a, 181 a. So bleibt z. B. eine jugendliche Prostituierte auch dann straflos, wenn sie aus eigener Initiative einen Zuhälter veranlaßt, sie unter Verstoß gegen § 180 Abs. 1 und Abs. 2 in einem Eros-Center unterzubringen, in dem sie in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit gehalten wird. Die Entscheidungen BGH 10, 386 und BGH 19, 107 sind durch die Neufassung der §§ 180 ff. gegenstandslos geworden. bb) Straflose notwendige Teilnahme liegt weiter dann vor, wenn der jeweilige Tb. eine besondere persönliche Situation des notwendig Beteiligten, insbesondere eine notstandsähnliche Motivationslage, privilegiert (vgl. Welzel 123). Hierher gehören die bereits oben (lit. a) erwähnten Tatbestände der §§ 120, 258, deren Strafdrohung sich nur gegen den Außenstehenden, nicht aber gegen den in seiner Freiheit beschränkten Gefangenen bzw. den in ein Strafverfahren verwickelten Beschuldigten, Angeklagten oder Verurteilten richtet. Ein Gefangener bleibt deshalb auch dann straflos, wenn er - insoweit über die Rolle hinausgehend, die ihm die §§ 120, 258 als handlungsmäßiges Minimum zugedacht haben - einen anderen anstiftet, ihn aus der Vollzugsanstalt zu befreien (h. L., vgl. Herzberg JuS 1975, 794 m. Nachw.; a. A. BGH 4, 396; 17, 236; Dreher § 120 Rn. 9). Materiell gesehen kann es nämlich keinen Unterschied machen, ob der Gefangene sich selbst befreit oder ob er sich hierzu der Hilfe eines Dritten bedient. Daß er im letztgenannten Fall einen Dritten zu schuldhaftem Verhalten verleitet, ist für die Strafbarkeit unerheblich, da der Strafgrund der Teilnahme nach h. M. ausschließlich darin besteht, daß eine rechtswidrige Tat veranlaßt oder gefördert wird (sog. Verursachungstheorie im Gegensatz zur sog. Schuldteilnahmetheorie, vgl. Maurach AT 680 sowie § 26 Anm. 1 a). Für den Bereich des § 258 Abs. 6 wird dies auch vom BGH anerkannt. So bleibt nach BGH 14, 172 (m. Anm. Schröder JR 1960, 248) ein Angehöriger des Täters gemäß § 258 Abs. 6 auch dann straflos, wenn er den Täter nicht selbst begünstigt, sondern einen 139
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Dritten dazu anstiftet. Die in § 257 Abs. 3 S. 2 getroffene Sonderregelung ist restriktiv auszulegen und darf nicht auch auf den Bereich der §§ 120 und 258 ausgedehnt werden (vgl. RegE S. 251 BT-Drucks. 7/550 unter Hinweis auf die notstandsähnliche Situation). Zum Ganzen siehe auch Lange, Die notwendige Teilnahme, 1939; Börker, JR 1956, 286; Zöller, Die notwendige Teilnahme, 1970; Herzberg, Anstiftung und Beihilfe als Straftatbestände, G A 1 9 7 1 , 1 , 7 . cc) Straflose notwendige Teilnahme liegt schließlich auch dann vor, wenn die über das notwendige Mindestmaß hinausgehende Beteiligung die nach dem jeweiligen Tb. typische Beteiligungsform darstellt (vgl. Welzel 123). Hierher gehört z. B. der Fall, daß eine Hausfrau einen Kaufmann dazu überredet, ihr eine Ware unter Verstoß gegen das LadenschlußG zu verkaufen (vgl. Maurach A T 669; a. A. R G 70, 344, 347 m. weit. Nachw.). d) Liegen die Voraussetzungen der lit. a) - c ) nicht vor, so richtet sich die Strafbarkeit des notwendig Beteiligten, der über das notwendige Mindestmaß der Beteiligung hinausgeht, nach allgemeinen Teilnahmegrundsätzen. Strafbar ist deshalb, wer einen anderen - gleich aus welchen Gründen - anstiftet, ihn zu Unrecht einer strafbaren Handlung zu verdächtigen (§ 164 schützt nicht nur Individualinteressen, sondern auch die Rechtspflege, ist also nicht nur „Schutzgesetz" zugunsten des zu Unrecht Verdächtigten, vgl. B G H 5, 66). Strafbar ist weiter auch der Mandant, der einen Rechtsanwalt anstiftet, ihn unter Verletzung des § 356 (Parteiverrat) anwaltschaftlich zu beraten (vgl. R G 71, 114 m. Anm. Schwinge JW 1937, 1810; Cramer in Schönke-Schröder § 356 Rn. 25).
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Täterschaft
(1) Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selbst oder durch einen anderen begeht. (2) Begehen mehrere die Straftat gemeinschaftlich, so wird jeder als Täter bestraft (Mittäter). I. In wörtlicher Übereinstimmung mit § 29 E 1962 und § 27 A E hat das 2. StrRG in § 25 drei Erscheinungsformen der Täterschaft gesetzlich erfaßt: die Täterschaft des unmittelbaren Alleintäters (Abs. 1 , 1 . Alt.), die mittelbare Täterschaft (Abs. 1, 2. Alt.) und die Mittäterschaft (Abs. 2). Keiner ausdrücklichen gesetzlichen Regelung wurde die Nebentäterschaft unterzogen (s. u. V). Auch wurde bewußt darauf verzichtet, die Voraussetzungen der drei gesetzlich erfaßten Erscheinungsformen im einzelnen näher festzulegen (vgl. S. 149 Begr. E 1962 zu den einzelnen Erscheinungsformen der mittelbaren Täterschaft). Aus der Fassung der Vorschrift und aus den Gesetzesmaterialien ist jedoch klar zu erkennen, daß die Neuregelung des Komplexes durch das 2. StrRG eindeutig auf dem Boden eines objektiven, durch die Lehre von der Tatherrschaft bestimmten Täterbegriffs steht (sog. materiell-objektiver oder final-objektiver Täterbegriff). Einzelheiten s. o. Vorbem. 2 b. Wegen des Schrifttums über die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme s. o. Vorbem. 2 d. A u s dem neueren Schrifttum speziell über die mittelbare Täterschaft siehe ergänzend Baumann, Mittelbare Täterschaft oder Anstiftung bei Fehlvorstellungen über den Tatmittler, J Z 1958, 230; - Bockelmann, Zur Problematik der Beteiligung an ver-
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meintlich vorsätzlich rechtswidrigen Taten, Gallas-Festschr. S. 261; - Herzberg, Mittelbare Täterschaft bei rechtmäßig oder unverboten handelndem Werkzeug, 1967; - ders., Eigenhändige Delikte, ZStW 82, 896; - Tröndle, Zur Frage der Teilnahme an unvorsätzlicher Haupttat, GA 1956, 129; - v. Uthmann, Objektive und subjektive Tatherrschaft, NJW 1961,1908. II. Unmittelbarer Alleintäter ist, wer die Straftat „selbst begeht", d. h. alle Merkmale eines gesetzlichen Tatbestands vorsätzlich in eigener Person verwirklicht. Liegen diese Voraussetzungen vor, so wird die einmal begründete Täterschaft nicht dadurch berührt, daß der Täter sich auf einen Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgrund berufen kann oder die Tat ohne eigenes Interesse oder unter dem Einfluß eines Dritten begangen hat. Insbesondere kann derjenige, der alle Merkmale eines gesetzlichen Tatbestands vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft verwirklicht, der Täterstrafe nicht dadurch entgehen, daß er sich darauf beruft, die Tat „als fremde" gewollt zu haben (Grundlage des objektiven Täterbegriffs, Einzelheiten und Begründung s. o. Vorbem. 2 b). Selbst einem schuldlos handelnden Täter, der einen gesetzlichen Tatbestand im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder in einem schuldausschließenden Notstand (§ 35) begeht, kann eine zumindest „fragmentarische Tatherrschaft" (Bockelmann AT 169) grundsätzlich nicht abgesprochen werden, so daß die Mitwirkung an einer solchen Tat nicht ausnahmslos zur mittelbaren Täterschaft führen muß, sondern auch Anstiftung und Beihilfe möglich sind. Unerheblich ist, ob der Täter die Tat mit eigenen Händen ausführt (z. B. seinen Widersacher mit der Faust niederschlägt) oder ob er sich hierzu eines Werkzeugs (z. B. einer Waffe oder eines Knüppels) bedient. Unmittelbar handelnder Täter ist schließlich auch, wer sich zur Tatbegehung eines Tiers bedient, z. B. einen Hund auf einen Menschen hetzt. Über die besondere Erscheinungsform der Tatbegehung durch Unterlassen siehe § 13 nebst Anmerkungen. III. Die mittelbare Täterschaft 1. Begriff: Mittelbarer Täter ist, wer die Tat „durch einen anderen begeht" (§ 25 Abs. 1, 2. Alt.), d. h. wer sich zur Tatbegehung eines anderen in der Weise bedient, daß dieser andere (der sog. Tatmittler) als sein Werkzeug erscheint. a) Da die mittelbare Täterschaft eine besondere Erscheinungsform der Täterschaft ist, kann mittelbarer Täter nur sein, wer auch unmittelbarer Täter sein kann. Setzt ein gesetzlicher Tb. eine bestimmte Täterqualifikation voraus (z. B. eine bestimmte Berufseigenschaft), so muß diese besondere Qualifikation auch beim mittelbaren Täter vorliegen. So kann z. B. ein Amtsdelikt nur von einem Amtsträger in mittelbarer Täterschaft verwirklicht werden. Setzt ein Tb. über den Vorsatz hinaus besondere subjektive Merkmale voraus, z. B. die Zueignungsabsicht bei Diebstahl und Raub oder die Bereicherungsabsicht bei Betrug und Erpressung, so müssen diese Merkmale auch beim mittelbaren Täter vorliegen. b) Wie der unmittelbare Täter muß auch der mittelbare Täter den Tb. im Besitz der Tatherrschaft verwirklichen, d. h. er muß objektiv in der Lage sein, den Geschehnisablauf nach seinem Willen maßgeblich zu gestalten und sich subjektiv dieser Tatherrschaft auch bewußt sein (vgl. Vorbem. 2 b, bb). Hieraus folgt, daß eine fahrlässige mittelbare Täterschaft begrifflich nicht denkbar ist. Beispiel: Ein Arzt, der unter Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt einer Krankenschwester ein falsches oder falsch dosiertes Medika-
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ment in die Hand gibt, macht sich zwar der fahrlässigen Tötung (§ 222) oder der fahrlässigen Körperverletzung (§ 230) schuldig, wenn das Medikament bei einem Patienten Schaden stiftet. Es wäre jedoch verfehlt, hier von mittelbarer Täterschaft zu sprechen (anders natürlich, wenn der Arzt bewußt die Gutgläubigkeit der Schwester ausnutzt, um dem Patienten zu schaden). Über die rechtliche Beurteilung der Irrtumsfälle, in denen der Hintermann zwar vorsätzlich handelt, sich aber seiner Tatherrschaft nicht bewußt ist, s. u. 2 c. 2. Das Verhältnis zur Anstiftung a) Auf der Grundlage des sog. restriktiven Täterbegriffs (Vorbem. 2 b, bb), der begriffsnotwendig zugleich ein „primärer" Täterbegriff ist (h. L., vgl. Jescheck AT 491 m. Nachw.), ist Anstiftung erst dann zu prüfen, wenn die Tatbestandsprüfung zu dem Ergebnis geführt hat, daß ein Fall der mittelbaren Täterschaft nicht vorliegt. b) Materiell unterscheidet sich die Anstiftung von der mittelbaren Täterschaft bei Zugrundelegung des materiell-objektiven bzw. final-objektiven Täterbegriffs (Vorbem. 2 b, bb) dadurch, daß der Anstifter zwar auch vorsätzlich auf die Tatbestandsverwirklichung hinwirkt, sich aber darauf beschränkt, in dem Täter den Tatentschluß hervorzurufen. Der Anstifter hat selbst keine Tatherrschaft und will die Tatausführung auch nicht nach seinem Willen maßgeblich gestalten. Der mittelbare Täter will demgegenüber auf seine den Geschehnisablauf beherrschende Rolle auch dann nicht verzichten, wenn er sich zur Tatausführung ganz oder teilweise eines anderen als „Werkzeug" bedient. MittelBare Täterschaft ist somit nur möglich, wenn der Tatmittler, gleich aus welchen Gründen (s. u. 3), unter dem beherrschenden Einfluß des Hintermanns steht. c) Die Behandlung der Irrtumsfälle aa) Schwierigkeiten treten zunächst dann auf, wenn der die Tat veranlassende Hintermann glaubt, der tatausführende Täter handle vorsätzlich, während dies tatsächlich nicht der Fall ist. Beispiel (vgl. Bockelmann GA 1954, 200; Welzel 123): Die Wilderer A und B ziehen in der Dunkelheit mit ihren Waffen durch den Wald, als plötzlich der Förster F auftaucht. A, der die Situation sofort erkennt und glaubt, auch B habe die Situation erkannt, ruft diesem zu; „Schieß doch!" Kurz entschlossen gibt B auf das sich im Hintergrund bewegende Ziel einen Schuß ab, der den F trifft und tödlich verletzt. Entgegen der Vorstellung des A hat B jedoch den F nicht als Menschen erkannt, sondern für ein Stück Wild gehalten. Auf der Grundlage des § 32 Abs. 1 E 1962 wäre A „wie ein Anstifter" zu bestrafen gewesen. Diese Vorschrift wurde jedoch vom Sonderausschuß nicht übernommen, da „der Gesetzgeber mit einer solchen Regelung zu sehr ins Detail gehen würde und dieser Fall in der Praxis nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt" (vgl. S. 13 BT-Drucks. V/4095). Im Schrifttum wird der Fall sehr unterschiedlich behandelt. Auf der Grundlage des (hier abgelehnten) extensiv-subjektiven Täterbegriffs könnte A zwanglos als Anstifter bestraft werden: Er hat den Tod des F vorsätzlich verursacht und dabei die Tat des B „als fremde" gewollt (vgl. Baumann AT 575; Schönke-Schröder [17. Aufl.] 95 vor § 47 a. F.). Auf der Grundlage des hier vertretenen restriktiv-objektiven Täterbegriffs wird der Fall demgegenüber überwiegend als versuchte Anstiftung zum Mord gelöst (vgl. Blei AT 230; Bockelmann AT 187; GA 1954, 200; Gallas-Festschr. S. 271; Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 46; Maurach AT 675; Tröndle GA 1956, 143; Welzel 123; im Ergebnis übereinstimmend auch Cramer in Schönke-Schröder 73 vor § 25): Eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tötung in mittelbarer Täterschaft scheitert daran, daß A sich seiner Tatherrschaft, die er infolge des bei B vorhandenen Tb.-Irrtums 142
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objektiv hatte, nicht bewußt war; eine Bestrafung wegen vollendeter Anstiftung kommt ebenfalls nicht in Betracht, weil es A nicht gelungen war, in B den erforderlichen Tatbestandsvorsatz hervorzurufen. Diese Lösung wird vielfach - verständlicherweise - als unbefriedigend empfunden, da die Verurteilung nur wegen versuchter Anstiftung nicht zum Ausdruck bringen kann, daß das Opfer schließlich - wie von A gewollt - tot ist. Außerdem versagt die Lösung, wenn die in Frage stehende Tat kein Verbrechen, sondern nur ein Vergehen ist. Alle Versuche jedoch, entweder ungeachtet des fehlenden Bewußtseins der Tatherrschaft bei A doch zu mittelbarer Täterschaft (so z. B. Kohlrausch-Lange I B 2 a vor § 4 7 aF sowie v. Uthmann NJW 1961, 1908) oder ungeachtet des fehlenden Vorsatzes bei B doch zu Anstiftung zu kommen (so z. B. Gallas, Materialien I S. 139; Jescheck AT 499, 510; Lackner 4 a vor § 25; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 267 f.; offensichtlich anders jedoch neuerdings in JuS 1973, 335), sind dogmatisch äußerst zweifelhaft und deshalb abzulehnen (siehe insbesondere Bockelmann, Gallas-Festschr. S 261 ff.). Etwaige Strafbarkeitslücken müssen in Kauf genommen werden (vgl. Herzberg JuS 1974, 574 ff.; übereinstimmend auch Samson SK 39 sowie Wessels AT 102). bb) Entsprechendes gilt für den umgekehrten Fall, daß der die Tat veranlassende Hintermann glaubt, der Tatausführende sei sein - gutgläubiges (vorsatzloses) oder geisteskrankes - Werkzeug, während der Tatausführende in Wirklichkeit vorsätzlich und voll verantwortlich handelt. Beispiel: In dem unter aa) gebrachten Wildererfall überschaut B die Sachlage, während A irrig annimmt, B durchschaue sie nicht, sondern halte den F für ein Stück Wild. In diesem Fall ist die Annahme von vollendeter mittelbarer Täterschaft nur dann unbedenklich, wenn man den (hier abgelehnten) subjektiven Täterbegriff vertritt (so konsequent Baumann JZ 1958, 233; Cramer in Schönke-Schröder 72 vor § 25). Auf der Grundlage eines objektiv bestimmten Täterbegriffs bietet sich dagegen zunächst nur eine Bestrafung wegen versuchter mittelbarer Täterschaft an (vgl. Herzberg JuS 1974, 575 sowie in Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 45; Maurach AT 675; Samson SK 38). Diese Lösung wird jedoch (ähnlich wie die Lösung über versuchte Anstiftung im Ausgangsfall, s. o. lit. aa) überwiegend als unbefriedigend empfunden, da sie nicht zu berücksichtigen vermag, daß F, wie von A gewollt, getötet wurde; außerdem versagt sie überall dort, wo der Versuch nicht mit Strafe bedroht ist. Die h. L. nimmt deshalb unter Zurückstellung gewisser Bedenken Anstiftung an mit der Begründung, daß die objektiv vorliegende Anstiftung gegenüber der von A angenommenen mittelbaren Täterschaft die mindere Beteiligungsform darstellt (arg. a maiore ad minus, vgl. Bockelmann AT 173; Gallas Materiahen I S. 139; Jescheck AT 510; Lackner 1 b, cc; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 271 ff.; Schmidhäuser AT 428; Stratenwerth AT Rn. 1021 f.; Tenckhoff, JuS 1976, 526, 528). 3. Die einzelnen Fälle der mittelbaren Täterschaft Die typischen Fälle der mittelbaren Täterschaft sind dadurch gekennzeichnet, daß der Tatmittler entweder nicht tatbestandsmäßig, oder zwar tatbestandsmäßig, aber nicht rechtswidrig oder nicht schuldhaft handelt (siehe die folgenden Abschnitte a-c). Bei einem volldeliktisch handelnden Tatmittler kommt mittelbare Täterschaft nur ausnahmsweise in Betracht (siehe unten Abschn. d). Im einzelnen sind folgende Fallgruppen zu unterscheiden: a) Beim Tatmittler fehlt bereits der Tatbestand, und zwar entweder aus subjektiven oder aus objektiven Gründen.
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Beispiele: aa) Ein Polizeibeamter (P) läßt einen Häftling durch einen Mitgefangenen so lange schlagen, bis dieser ein Geständnis ablegt. Der Häftling, der sich zu der Tat hergibt, kann den Tatbestand der Aussageerpressung (§ 343) schon objektiv nicht erfüllen, da er kein Untersuchungsbeamter ist. P hat sich der Aussageerpressung in mittelbarer Täterschaft schuldig gemacht, indem er sich zur Tatausführung eines sog. qualifikationslosen dolosen Werkzeugs bediente. bb) Ein Vater treibt seine minderjährige Tochter dadurch in den Tod, daß er ihr solange Vorwürfe macht, sie peinigt und schikaniert, bis sie seinem Rat folgt und Selbstmord begeht. Hier liegt keine straflose Teilnahme am Selbstmord, sondern vorsätzliche Tötung in mittelbarer Täterschaft vor; das Mädchen selbst handelt nicht einmal tatbestandsmäßig (vgl. OGH BZ 2, 7 sowie der viel zitierte Fall Höfeidt, ZStW 58, 544). cc) Ein Viehhändler (V) veranlaßt seinen Arbeiter (A), die Kühe seines Nachbarn (N) von der Weide zu treiben und ihm zuzuführen, indem er ihm bewußt der Wahrheit zuwider vorspiegelt, N sei damit einverstanden, da er seine unrentable Landwirtschaft aufgeben und den Verlust seiner Versicherungsgesellschaft melden wolle, um dann mit der Versicherungssumme eine neue Existenz aufbauen zu können. Unterwirft sich A der Weisung des V in der Annahme, N wollte tatsächlich die Versicherung betrügen, so kommt für V Diebstahl in mittelbarer Täterschaft in Betracht, während A weder vorsätzlich noch mit Zueignungsabsicht handelt, für ihn somit schon der subjektive Tatbestand entfällt. dd) Abwandlung: Wenn V den A nicht durch List zur Tat bestimmt, sondern durch die Drohung, ihn fristlos zu entlassen, ergibt sich für V dieselbe Lösung. Er ist wegen Diebstahls in mittelbarer Täterschaft zu bestrafen, während bei A, der sich dem Willen des V unterworfen hatte und ohne eigene Zueignungsabsicht handelte, Beihilfe zum Diebstahl anzunehmen ist. ee) A veranlaßt auf einer Treibjagd den kurzsichtigen B, auf den Treiber X zu schießen, wobei er genau weiß, daß B infolge seiner Kurzsichtigkeit den X für ein Stück Wild hält. In derartigen Fällen, bei denen der Hintermann einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum des Tatmittlers ausnutzt, kommt für den Hintermann eindeutig und unbestritten nur mittelbare Täterschaft in Betracht, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Irrtum des Tatmittlers auf Fahrlässigkeit beruht oder nicht. Kannte A den vorsatzausschließenden Tb.-Irrtum des B nicht, nahm er vielmehr an, B durchschaue die Sachlage, so ist er bei Zugrundelegung eines objektiven Täterbegriffs wegen versuchter Anstiftung zu bestrafen (str.; Einzelheiten s. o. 2 c, aa). Wegen des umgekehrten Falles s. o. 2 c, bb. b) Der Tatmittler handelt tatbestandsmäßig, aber nicht rechtswidrig Hier kommt es besonders auf die richtige Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme an, da Anstiftung und Beihilfe nur bei rechtswidrigen Taten strafbar sind, mittelbare Täterschaft aber auch dann möglich ist, wenn der Tatmittler sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann, in seiner Person also nicht rechtswidrig handelt. Mittelbare Täterschaft setzt in solchen Fällen voraus, daß der Hintermann, der sich selbst auf keinen Rechtfertigungsgrund berufen kann, in der Lage ist, das Tatgeschehen durch den Einsatz eines Tatmittlers dergestalt zu steuern, daß er selbst die Fäden in der Hand hat, während der Tatmittler die Situation infolge Täuschung oder unter dem Druck einer Notlage nicht zu beherrschen vermag.
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Beispiele: aa) A weiß, daß der geistesschwache B leicht erregbar ist, insbesondere nach Alkoholgenuß. In Ausnutzung dieses Umstands setzt er ihm zunächst Schnaps vor und hetzt ihn dann gegen X. Wie von A vorhergesehen und gewollt, gelingt es dem als schlagkräftig bekannten X, den Angreifer B abzuwehren, wobei dieser erheblich verletzt wird. Hier hatte A die Fäden in der Hand. Sowohl B als auch X waren seine Werkzeuge. A ist demnach wegen vorsätzlicher Körperverletzung in mittelbarer Täterschaft zu bestrafen. Seine Tatherrschaft wird durch die sog. Willensherrschaft begründet, die nicht nur bei einem durch einen psychischen Defekt oder jugendliches Alter leicht beeinflußbaren, sondern auch bei einem strafrechtlich voll verantwortlichen Angreifer angenommen werden kann, den der Hintermann durch einen entsprechenden Motivirrtum zum Angriff veranlaßt hat (h. L.; a. A. Herzberg, Mittelbare Täterschaft bei rechtmäßig oder unverboten handelndem Werkzeug, 1967, S. 29; Jescheck A T 507; Cramer in Schönke-Schröder 20; Samson SK 32). bb) Abwandlung: Wenn B und X sich im Zeitpunkt des Eingreifens von A bereits im Streit befanden und A nunmehr dem angegriffenen X eine Waffe zur Verteidigung gibt, so liegt für A nur straflose Beihilfe zu einer durch Notwehr gerechtfertigten Tat vor. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob dem A die Situation, in der er zugunsten des X eingreifen konnte, willkommen war oder nicht. Entscheidend ist, daß er die Situation als solche nicht selbst mit dem Willen zur Tatherrschaft herbeigeführt hatte (vgl. Maurach AT 639; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 163; Welzel 105). cc) A beschuldigt bewußt der Wahrheit zuwider den völlig unschuldigen B des Mordes an X und erreicht so, daß B für einige Zeit in U-Haft genommen wird. Hier sind die Staatsanwälte, Richter, Polizeibeamten und Beamten der Haftanstalt, die für den Erlaß und Vollzug des Haftbefehls verantwortlich sind, gutgläubige Werkzeuge in der Hand des A. Während die Beamten rechtmäßig, da pflichtgemäß, handeln, hat A sich einer Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft schuldig gemacht (vgl. BGH 3, 4; 10, 307; h. L.). c) Der Tatmittler handelt tatbestandsmäßig und rechtswidrig, aber schuldlos. Mittelbare Täterschaft kommt auch dann in Betracht, wenn der Tatmittler schuldunfähig ist (vgl. §§ 19, 20) oder sich auf entschuldigenden Notstand (§ 35) berufen kann. Es wäre allerdings verfehlt, schlechthin in allen Fällen, in denen der Hintermann eine schuldunfähige oder in einer Notstandslage befindliche Person zu einer rechtswidrigen Tat veranlaßt, ausnahmslos mittelbare Täterschaft anzunehmen. Nach dem Grundsatz der limitierten Akzessorietät (vgl. § 29 sowie Vorbem. 4 b) ist an der rechtswidrigen Tat eines schuldlos handelnden Täters auch Teilnahme möglich. Ob in solchen Fällen mittelbare Täterschaft oder Teilnahme vorliegt, hängt entscheidend davon ab, ob und in welchem Umfang der Tatausführende als das Werkzeug des Hintermanns angesehen werden kann. Mittelbare Täterschaft des Hintermanns liegt in derartigen Grenzfällen nur dann vor, wenn die „Handlungsherrschaft" des Tatausführenden durch die „Willensherrschaft" des Hintermanns überlagert wird, so daß die Tat auch als sein Werk erscheint (vgl. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 131 ff., 143; Wessels AT 100; ähnlich auch Herzberg JuS 1974, 237, 242). Ist eine derartige Willensherrschaft des Hintermanns nicht ersichtlich, so kommen als Beteiligungsformen nur Anstiftung oder Beihüfe in Betracht. Beispiele: aa) A nötigt den Grafiker B durch die Drohung, er werde ihn sonst erschießen, einen Paß zu fälschen. Beugt sich B dieser Drohung, so ist er zwar - ungeachtet des auf ihn ausgeüb145
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ten Zwangs - Täter einer Urkundenfälschung, aber nach § 35 entschuldigt. A ist infolge seines übermächtigen Einflusses auf B mittelbarer Täter der Urkundenfälschung. bb) Abwandlung: A gibt dem allgemein als geschickt, aber zugleich als geisteskrank bekannten B den Rat, sich durch Paßfälschungen seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Folgt B seinem Rat, so bleibt er infolge seiner Schuldunfähigkeit gemäß § 20 straflos, A ist Anstifter. Eine Tatherrschaft des A in der Form einer Willensherrschaft ist hier nicht ersichtlich. cc) Bei einem Schiffbruch gibt A von sicherer Warte aus dem hilflos im Wasser treibenden X den Rat, den sich an einer Planke festklammernden Y ins Wasser zu stoßen, um sich auf diese Weise selbst zu retten. Folgt X diesem Rat, so ist er gemäß § 35 entschuldigt. A ist mangels Tatherrschaft nicht mittelbarer Täter, sondern nur Anstifter. Mittelbare Täterschaft käme im vorliegenden Fall nur dann in Betracht, wenn A die Lage zu Lasten des Y äußerlich umgestaltet hätte, z. B. wenn er dem X ein Messer zugeworfen hätte (vgl. Herzberg JuS 1974, 243; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 151; nur für Teilnahme auch in diesem Fall jedoch Blei AT 228). Auf § 35 kann A sich nur dann berufen, wenn X ein Angehöriger (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 1) oder eine ihm nahestehende Person ist. dd) Ähnlich zu differenzieren ist bei der Verleitung oder Unterstützung von Kindern und Jugendlichen, denen noch die nach § 3 JGG erforderliche Unrechtseinsicht fehlt. Wenn z. B. A dem 13jährigen B, den er zufällig bei einem Einbruch beobachtet, einen Rat gibt, wie er am besten in das Anwesen eindringen kann, liegt nur Beihilfe zum Diebstahl vor; eine Willensherrschaft ist nicht ersichtlich. Dagegen liegt mittelbare Täterschaft vor, wenn A den leicht zu beeinflussenden B durch Versprechen einer Belohnung dazu überredet, in das Anwesen des X einzudringen und für ihn dort bestimmte Gegenstände zu entwenden (vgl. RG 39, 37,39; Jescheck AT 509). ee) Auch die Herbeiführung und Ausnutzung eines schuldausschließenden VerbotsIrrtums kann zur Annahme von mittelbarer Täterschaft führen, sofem der Hintermann hierdurch eine Willensherrschaft begründet und die schließlich ausgeführte Tat bei Würdigung der Gesamtumstände auch als sein Werk angesehen werden muß (vgl. Blei AT 228; Gallas, Materialien I 134; Jescheck AT 508; Maurach AT 641). Beispiel: Der deutsche Vorarbeiter A beauftragt einen ausländischen Arbeitnehmer B durch die bewußt unwahre Behauptung, dies sei in der Bundesrepublik ohne weiteres erlaubt, mit der körperlichen Züchtigung eines arbeitsunwilligen Lehrlings. Hier ist B unmittelbarer Täter, A begeht die Körperverletzung in mittelbarer Täterschaft. d) Der Tatmittler handelt volldeliktisch Ob mittelbare Täterschaft auch bei einem volldeliktisch handelnden Tatmittler möglich ist, gehört im Schrifttum zu den am meisten umstrittenen Fragen auf dem Gebiet von Täterschaft und Teilnahme. Die z. Z. wohl h. L. steht auf dem Standpunkt, daß die Möglichkeit mittelbarer Täterschaft dort endet, wo der Tatausführende voll verantwortlicher Täter ist, da in diesem Fall nicht mehr von einem zur Tat mißbrauchten Werkzeug gesprochen werden könne (vgl. Gallas, Materialien I S. 134; ders., Deutsche Beiträge S. 14 ff.; Herzberg JuS 1974, 241; Jescheck AT 496, 504; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 158; ders., ZStW 78, 222; Wessels AT 100). Demgegenüber steht eine im Vordringen begriffene Mindermeinung auf dem Standpunkt, daß es auch bei einem volldeliktisch handelnden Tatmittler in bestimmten Ausnahmesituationen den „Täter hinter dem Täter", d. h. mittelbare Täterschaft geben kann (siehe hierzu insbesondere Fr. Chr.
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Schroeder, Der Täter hinter dem Täter, S. 120 ff.; außerdem Baumann NJW 1963, 564; Maurach A T 632; für den vermeidbaren Verbotsirrtum auch Blei A T 228 und Lackner 1 b, bb). Dieser letztgenannten Auffassung ist beizutreten: Wenn man schon in der Willensherrschaft ein entscheidendes Kriterium für die Begründung einer täterschaftsbegründenden Tatherrschaft sieht, so kann es nicht darauf ankommen, ob sich das „ O p f e r " dem schädlichen Einfluß des Hintermanns schuldlos beugt oder ob sich dieser Einfluß nur schuldmindernd auswirkt. Entscheidend sind die faktischen Verhältnisse, nicht ihre normative Beurteilung. Entscheidend ist allein, daß es dem Hintermann gelingt, den Tatausführenden durch Täuschung oder Drohung seinem Willen zu unterwerfen, so daß der Tatausführende als Werkzeug in seiner Hand und die schließlich ausgeführte Tat - auch als sein Werk erscheint. Hierher gehören insbesondere die Fälle, in denen der Tatmittler aa) vermindert schuldfähig ist (§ 21), bb) sich in einem verschuldeten Verbotsirrtum befindet (§ 17 S. 2), cc) verschuldet in eine Notstandslage geraten ist (§ 35 Abs. 1 S. 2), dd) sich sonst in einem Abhängigkeitsverhältnis befindet, aus dem er keinen anderen Ausweg sieht, als die ihm angesonnene Tat zu begehen, z. B. wenn A die leicht beeinflußbare, ihm sexuell hörige B unter der Drohung, sie sonst zu verlassen, zur Tötung ihres Mannes bestimmt, nachdem er ihr zuvor das Gift beschafft und genaue Anweisung f ü r die Tatausführung erteilt hatte (vgl. Maurach A T 632). ee) Als Fall mittelbarer Täterschaft ist auch der rechtswidrige dienstliche Befehl eines militärischen Vorgesetzten zu betrachten, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob für den Untergebenen die Rechtswidrigkeit erkennbar war und ob er an die Verbindüchkeit der ihmerteilten Weisung glaubte (vgl. § 33 WStG). 4. Ausschluß der mittelbaren Täterschaft a) Mittelbare Täterschaft ist zunächst bei den eigenhändigen Delikten ausgeschlossen, d. h. überall dort, wo das Gesetz das strafbedürftige Unrecht gerade in der unmittelbar körperlichen Vornahme einer bestimmten Handlung sieht, insbesondere bei den Aussagedelikten und den sog. Fleischesverbrechen (B I 6 vor § 1). Beispiele: aa) Wenn A den gutgläubigen B dazu verleitet, ihm der Wahrheit zuwider vor Gericht als Zeuge unter Eid zu bestätigen, er habe mit ihm zur Tatzeit Skat gespielt, sich also nicht am Tatort aufhalten können, so kommt für B allenfalls fahrlässiger Falscheid (§ 163), für A der Sondertatbestand des § 160 (Verleitung zum Flascheid) in Betracht. Meineid in mittelbarer Täterschaft ist dagegen ausgeschlossen. bb) Wenn A zwei Geschwister miteinander verkuppelt, die sich schon lange nicht mehr gesehen haben und nicht mehr kennen (Fall der Hamburger Bordellwirtin), so kann A nicht wegen Inzests (§ 173) in mittelbarer Täterschaft bestraft werden. In Betracht kommt nur Strafbarkeit gemäß § 180, falls die speziellen Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind. b) Mittelbare Täterschaft ist ferner bei den sog. Sonderdelikten ausgeschlossen, d. h. überall dort, wo das Gesetz eine ausdrückliche Beschränkung des Täterkreises vorgenommen hat, insbesondere bei den Amtsdelikten, aber auch bei den unechten Unterlassungsdelikten (s. B I 7 vor § 1). So kann sich wegen Verletzung des Privatgeheimnisses (§ 203) nur
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ein Arzt, Apotheker usw., wegen Falschbeurkundung im Amt (§ 348) nur ein Amtsträger strafbar machen; Rechtsbeugung (§ 336) kann nur ein Richter oder eine ihm gleichgestellte Person begehen. Mittelbare Täterschaft seitens eines Außenstehenden ist in all diesen Fällen ausgeschlossen, jedoch besteht bei der Falschbeurkundung die Möglichkeit, den Außenstehenden, der einen Beamten durch Täuschung zu einer Falschbeurkundung veranlaßt hat, wegen mittelbarer Falschbeurkundung nach dem Sondertatbestand des § 271 zu bestrafen. Die Erschleichung eines Fehlurteils kann als Betrug, Begünstigung, Freiheitsberaubung, Meineid oder falsche Verdächtigung bestraft werden, wenn es gelingt, den Richter durch falsche Angaben zu täuschen. Sofern derartige Hilfslösungen fehlen, bleibt der Hintermann straflos, was zwar vielfach unbefriedigend erscheinen mag, aber hingenommen werden muß. In beschränktem Umfang können die bei den Sonderdelikten entstehenden Strafbarkeitslücken durch § 14 geschlossen werden. So macht sich z. B. der Geschäftsführer einer GmbH, der jemandem gestattet, ein Kraftfahrzeug der GmbH ohne die erforderliche Fahrerlaubnis zu führen, gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 nach § 21 Abs. 1 Nr. 2 StVG strafbar, obwohl er selbst nicht der Halter des Kraftfahrzeugs ist (vgl. Bockelmann AT 174). 5. Über den Versuch der mittelbaren Täterschaft siehe ausführlich § 22 Anm. 5 c. 6. Für einen Exzeß des Tatmittlers ist der mittelbare Täter nach allgemeinen Grundsätzen (§ 16 Abs. 1) grundsätzlich nicht verantwortlich. In Betracht kommt allenfalls fahrlässige Tatbegehung des Hintermanns, falls der Exzeß des Tatmittlers für ihn voraussehbar war. Beispiel: In einem psychiatrischen Krankenhaus gelingt es dem Pfleger A, den an Pyromanie leidenden B, der auf seiner Station untergebracht und völlig von ihm abhängig ist, dahingehend zu beeinflussen, daß er eines Nachts in das Ärztehaus eindringt und den mit A verfeindeten Arzt Dr. X tötet. Wenn B in der Hoffnung, dem A auch dadurch einen Gefallen zu erweisen, nicht nur den X tötet, sondern auch noch das Haus in Brand setzt, ist A nicht nur wegen Mordes in mittelbarer Täterschaft, sondern (in Tateinheit) auch noch wegen fahrlässiger Brandstiftung strafbar, da er mit einem derartigen Exzeß des B aufgrund dessen krankhafter Veranlagung hätte rechnen können und müssen. Eine Verwechslung des in Aussicht genommenen Tatobjekts (error in persona vel obiecto, vgl. § 16 Anm. 8) seitens des Tatmittlers führt beim mittelbaren Täter nur dann zur Annahme eines vollendeten Delikts, wenn der mittelbare Täter dem Tatmittler die Individualisierung des Opfers überlassen hatte (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 35). In diesem Fall liegt nämlich aus der Sicht des mittelbaren Täters nur eine unwesentliche Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten Geschehnisablauf vor. Handelte der Tatmittler dagegen ohne eigene Verantwortung bei der Individualisierung des Opfers, so finden für den mittelbaren Täter die Grundsätze der aberratio ictus (vgl. § 16 Anm. 8 c) Anwendung. Es kann keinen Unterschied machen, ob sich jemand zur Tatausführung eines mechanischen Werkzeugs, eines dressierten Tieres oder eines von ihm gesteuerten Menschen bedient (übereinstimmend Baumann AT 564; Cramer in Schönke-Schröder 36; Lackner 1 b, aa; Rudolphi SK § 16 Rn. 30; Wessels AT 101). So könnte in dem oben erörterten Beispiel A nur wegen versuchten Mords in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung bestraft werden, wenn B infolge einer Verwechslung nicht den X, sondern den in derselben Wohnung schlafenden Y tötet. Liegt beim Tatmittler ein Fall der aberratio ictus vor (z. B. wenn in dem oben erörterten Fall B mit einer Axt den X töten will, aber nicht X, sondern dessen neben ihm ruhende Ehefrau tödlich verletzt), so sind nach allgemeinen Grundsätzen (vgl. § 16 Anm. 8 c)
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sowohl der Tatmittler als auch der mittelbare Täter nur wegen versuchter Tatbegehung strafbar. Daneben kommt (in Tateinheit) fahrlässige Tatbegehung in Betracht. Für den mittelbaren Täter liegt ein Fall der aberratio ictus schließlich auch dann vor, wenn ein unvorsätzlich handelnder Tatmittler einen anderen Erfolg bewirkt, als dies vom mittelbaren Täter beabsichtigt war, z. B. wenn der ahnungslose Briefträger des Sprengstoffpaket bei einem falschen Adressaten abgibt (h. L., vgl. Jescheck AT 510 m. weit. Nachw.). IV. Die Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2) 1. Mittäterschaft ist das bewußte und gewollte Zusammenwirken mehrerer bei Begehung einer Straftat. Hieraus folgt, daß Mittäterschaft nur bei vorsätzlicher, nicht auch bei fahrlässiger Tatbegehung möglich ist. Handeln mehrere Personen zwar vorsätzlich, aber nicht in einverständlichem Zusammenwirken, so liegt ein Fall der Nebentäterschaft vor (s. u. V). 2. Mittäterschaft ist echte Täterschaft. Mittäter kann deshalb nur sein, wer auch als tauglicher Täter in Betracht kommt und alle obj. und subj. Tb.-Merkmale in seiner Person selbst verwirklicht oder durch eine andere, von ihm abhängige Person (Tatmittler, Werkzeug) verwirklichen läßt (Mittäterschaft in der Form der mittelbaren Täterschaft, z. B. der Bandenchef, der durch die Mitglieder seiner Bande eine bestimmte Tat nach seinen Anweisungen begehen läßt, vgl. Bockelmann AT 178; Maurach AT 660). Im einzelnen: a) Bei eigenhändigen Delikten (B I 6 vor § 1) ist Mittäterschaft begrifflich ausgeschlossen. Sagen z. B. mehrere Zeugen in einem gerichtlichen Verfahren unter Eid falsch aus, so sind sie auch dann nicht Mittäter, sondern Alleintäter, wenn sie ihre Aussage vorher abgesprochen haben. b) Bei den sog. Sonderdelikten (z. B. Amtsdelikte, Verrat von Privatgeheimnissen, unechte Unterlassungsdelikte, vgl. B I 7 vor § 1) kommt als Mittäter nur in Betracht, wer auch als Alleintäter in Betracht kommen könnte. So können z. B. nach einem Verkehrsunfall der Fahrer und der auf dem Beifahrersitz mitfahrende Halter des unfallbeteiligten Pkw gemeinschaftlich als Mittäter Unfallflucht begehen, da sie beide eine gesetzlich begründete Wartepflicht haben. Ist aber der Beifahrer selbst nicht wartepflichtig (Normalfall), so kommt eine strafbare Beteiligung an der Unfallflucht des Fahrers nur in der Form von Anstiftung oder Beihilfe in Betracht (BGH 15, 1; h. L., vgl. Jescheck AT 515; Lackner 2 b). c) Erfordert der in Frage stehende Tb. neben dem Vorsatz weitere subj. Merkmale, z. B. die Zueignungsabsicht bei Diebstahl und Raub oder die Bereicherungsabsicht bei Betrug und Erpressung, so müssen diese Merkmale auch beim Mittäter vorliegen. Fehlen diese Merkmale, so kommen selbst bei vorhandener Tatherrschaft als Formen strafbarer Beteiligung nur Anstiftung oder Beihilfe in Betracht (BGH NJW 1977, 204 m. Nachw.). Hierbei ist allerdings zu beachten, daß die Zueignungsabsicht bei Diebstahl und Raub keine Bereicherungsabsicht des Täters voraussetzt (vgl § 242 Anm. VI 2 a) und eine tatbestandsmäßige Bereicherungsabsicht bei Betrug und Erpressung auch dann vorliegt, wenn der Täter die Absicht hat, einen Dritten zu Unrecht zu bereichem. 3. Als gemeinschaftlicher Tatentschluß genügt jedes gegenseitige ausdrückliche oder stillschweigende Einverständnis (BGH 6, 248; h. L.). Dieses Einverständnis wird in der Regel bereits vor oder zu Beginn der Tat hergestellt. Kommt es erst während der Tat zustande, so spricht man von sukzessiver Mittäterschaft (Einzelheiten s. u. 7).
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§ 25
Zweiter Abschnitt: Die Tat
4. Wie die übrigen Formen der Täterschaft setzt auch die Mittäterschaft eine Tatherrschaft aller Mittäter voraus. Hierdurch unterscheidet sich die Mittäterschaft von der Teilnahme, insbesondere von der Beihilfe (sog. materiell-objektiver bzw. final-objektiver Täterbegriff, vgl. Vorbem. 2 b). Aus dem Wesen der Mittäterschaft folgt allerdings, daß die einzelnen Mittäter die Tatherrschaft nicht allein, d. h. jeder für sich, ausüben, sondern im Wege einer arbeitsteiligen Rollenverteilung (h. L. auf der Grundlage des hier vertretenen obj. Täterbegriffs, vgl. Jescheck AT 516 f.; Maurach AT 657 ff.; Wessels AT 98; abzulehnen dagegen die auf der „Animus-Formel" basierende Entscheidung BGH 16, 12). Im Gegensatz zu Anstiftung und Beihilfe treten die einzelnen Mittäter dabei als quasi gleichberechtigte Partner eines kriminellen Unternehmens auf, wobei jeder Partoer seinen eigenen Tatbeitrag nicht nur als Förderung fremden Tuns, sondern als Teil der einander ergänzenden Tätigkeiten aller Beteiligter und umgekehrt den Tatbeitrag der übrigen Tatbeteiligten als Ergänzung seines eigenen Tatanteils ansieht (subjektive Komponente der Mittäterschaft, auf die auch bei einem primär objektiv bestimmten Täterbegriff nicht verzichtet werden kann (vgl. BGH bei Martin DAR 1969, 142; Bockelmann AT 178; Wessels AT 98). Die Beihilfe zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, daß der Gehilfe seinen Tatbeitrag der Tatherrschaft des Täters unterordnet, ohne selbst im Besitz der Tatherrschaft zu sein (vgl. S. 150 Begr. E 1962). 5. Eine eigenhändige Tatausführung ist nicht erforderlich. Mittäter eines Bankraubs kann deshalb auch sein, wer vor der Bank in einem Pkw wartet, während die übrigen Tatbeteiligten den eigentlichen Überfall verüben (h. L., vgl. Jescheck AT 517). Sogar Anwesenheit am Tatort ist zur Annahme von Mittäterschaft nicht unbedingt erforderlich (Fall des regieführenden Bandenchefs, der alle Vorbereitungen getroffen hat, sich aber bei der eigentlichen Tatausführung im Hintergrund hält, vgl. Bockelmann AT 178; Maurach AT 660). Zu weitgehend dagegen die rein subjektiv orientierte Entscheidung BGH 16, 12, wonach Mittäterschaft auch dann vorliegen soll, wenn ein Komplize den anderen durch die Zusage, später für das erforderliche Benzin aufzukommen, dazu überredet, zwecks Durchführung einer gemeinsamen Autofahrt einen Pkw zu entwenden. 6. Für einen Exzeß des Mittäters sind die übrigen Mittäter nach allgemeinen Grundsätzen (§ 16) nicht verantwortlich, sofern es sich im Einzelfall nicht um eine qualitativ und quantitativ unwesentliche Abweichung vom gemeinschaftlichen Tatplan handelt. Die Ausführungen zum Exzeß bei der mittelbaren Täterschaft (s. o. III 6) gelten insoweit entsprechend. Wenn z. B. bei einem gemeinschaftlichen Einbruch A ohne Wissen seines Komplizen B eine Schußwaffe mit sich führt, so ist nur A nach § 244 Abs. 1 Nr. 1 zu bestrafen. Für B verbleibt es bei einer Bestrafung nach §§ 242, 243 Abs. 1 Nr. 1. Der nach allgemeinen Grundsätzen (vgl. § 16 Anm. 8) unbeachtliche error in persona vel obiecto eines Mittäters belastet dagegen auch die übrigen Mittäter (vgl. BGH 11, 268; h. L., vgl. Wessels A T 9 9 ; a. A. Herzberg JuS 1974, 719, 721; Spendel JuS 1969,314). 7. Wer sich erst im Laufe der Tat einem anderen als Mittäter anschließt (sog. sukzessive Mittäterschaft), muß sich die bis dahin verwirklichten Tatbestandsmerkmale zurechnen lassen, soweit sie ihm bekannt und bei der unter seiner Mitwirkung erfolgten weiteren Tatausführung noch wirksam waren (BGH 2, 344). Beispiel: A sieht, wie B in die Wohnung des X einbricht, um dort einen Diebstahl zu begehen. Wenn er sich nunmehr die günstige Situation zunutze macht und gemeinsam mit B die Wohnung ausräumt, so ist er nicht nur wegen eines gemeinschaftlichen einfachen Diebstahls, sondern wegen eines in Mittäterschaft begangenen Einbruchsdiebstahls zu bestrafen. Dagegen liegt ein einfacher
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Dritter Titel: Täterschaft und Teilnahme
§ 26
Diebstahl vor, wenn A die von B geschaffene Lage nur ausnutzt, ohne irgendwie mit B zusammenzuarbeiten (vgl. BGH 2, 346 sowie bei Dallinger MDR 1969, 533; Ffm NJW 1969,1915; Maurach AT 661).
V. Die Nebentäterschaft Von Nebentäterschaft spricht man, wenn ein Tb. von mehreren Personen verwirklicht wird, ohne daß ein bewußtes und gewolltes Zusammenwirken vorliegt (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 72). Diese Voraussetzungen sind vor allem dann gegeben, wenn mehrere Personen einen Erfolg durch Fahrlässigkeit verursachen, z. B. wenn bei einem von zwei Kraftfahrern verschuldeten Verkehrsunfall eine dritte, unbeteiligte Person, etwa ein Fußgänger, verletzt wird. Aber auch bei vorsätzlicher Tatbegehung ist Nebentäterschaft möglich. Beispiel: Dr. med. A gibt seiner Sprechstundenhilfe S ein, wie er weiß, tödlich wirkendes Medikament mit dem Auftrag, dieses Medikament dem mit ihm verfeindeten Patienten X zu verabfolgen. Wenn die S das Medikament dem X unbesehen, unter Verletzung der ihr zumutbaren Sorgfaltspflicht, verabreicht und X an den Folgen der Vergiftung stirbt, so ist sie wegen fahrlässiger Tötung, Dr. A wegen vorsätzlicher Tötung zu bestrafen. In ihrem Verhältnis zueinander sind Dr. A und die S als Nebentäter anzusehen. Daß bei Dr. A gleichzeitig die Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft gegeben sind, steht dem nicht entgegen. Die Begriffe mittelbare Täterschaft und Nebentäterschaft schließen sich nicht aus, wie das Beispiel eindeutig zeigt. - Abwandlung: wenn die S wider Erwarten die tödliche Wirkung des Medikaments erkennt, dieses aber dennoch verabfolgt, weil auch sie auf X schlecht zu sprechen ist, hat auch sie sich wegen vorsätzlicher Tötung zu verantworten. Umstritten ist allerdings, ob sich Dr. A bei der gegebenen Sachlage wegen versuchter Tötung in mittelbarer Täterschaft (so z. B. Maurach AT 675) oder wegen Anstiftung (so die h. L.) strafbar macht. Einzelheiten s. o. III 2 c, bb. Auf jeden Fall scheidet jedoch Mittäterschaft aus, da ein bewußtes und gewolltes Zusammenwirken fehlt.
§ 26
Anstiftung
Als Anstifter wird gleich einem Täter bestraft, wer vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat. 1. Bei der in § 26 erfaßten Anstiftung handelt es sich - ähnlich wie bei der Strafdrohung für den Versuch - um einen Strafausdehnungsgrund, d. h. die nur auf den Täter abgestellten Strafdrohungen des Besonderen Teils finden auf Grund spezieller gesetzlicher Regelung auch auf den Anwendung, der den eigentlichen Täter vorsätzlich zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat (sog. restriktiv-objektiver Täterbegriff, vgl. Vorbem. 2 b, bb vor § 25). a) Der Strafgrund der Anstiftung besteht nach heute h. M. darin, daß der Anstifter durch seine Einwirkung auf den Täter eine rechtswidrige Tat verursacht hat (sog. Verursachungstheorie). Der Anstifter wird also nicht deshalb bestraft, weil er den Täter „in 151
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
Schuld verstrickt" hat (so die sog. Schuldteilnahmetheorie, die sich jedoch nicht mit § 29 in Einklang bringen läßt, wonach jeder Tatbeteiligte ohne Rücksicht auf die Schuld der übrigen Beteiligten strafbar ist). Die praktischen Auswirkungen der Verursachungstheorie zeigen sich vor allem bei der sog. limitierten Akzessorietät, wonach strafbare Anstiftung auch dann möglich ist, wenn der Täter selbst nicht schuldhaft handelt (s. u. 2 c), außerdem bei der Beurteilung des sog. agent provocateur (s. u. 5 d). d) U b e r das Verhältnis zur Täterschaft, insbesondere zur mittelbaren Täterschaft, siehe ausführlich III 2 zu § 25 sowie unter 2 a - 2 c; von der Beihilfe unterscheidet sich die Anstiftung dadurch, daß der Anstifter im Täter den Tatentschluß überhaupt erst hervorruft, während der Gehilfe den bereits vorhandenen Tatentschluß durch seinen Tatbeitrag lediglich fördert. Hieraus folgt, daß die Beihilfe gegenüber der Anstiftung den geringeren Unrechtsgehalt hat. Dies wirkt sich einmal darin aus, daß die Strafe für den Gehilfen nach § 49 Abs. 1 zu mildern ist (vgl. § 27 Abs. 2), während der Anstifter nach § 26 „gleich dem Täter" zu bestrafen ist (kritisch hierzu Roxin JuS 1973, 329, 336); außerdem ist zwar die versuchte Anstiftung unter gewissen Voraussetzungen strafbar (nämlich bei Verbrechen, § 30 Abs. 1, sowie - ausnahmsweise - einigen Vergehen, vgl. 4 a vor § 25), während die versuchte Beihilfe grundsätzlich straflos bleibt. D e r geringere Unrechtsgehalt der Beihilfe zeigt sich schließlich darin, daß beim Zusammentreffen beider Teilnahmeformen die Beihilfe von der Anstiftung verdrängt wird, d. h. keine rechtlich selbständige Bedeutung hat (vgl. B G H 4, 247; h. L.). c) Das 2. StrRG hat materiell am Wesen der früher in § 48 (aF) geregelten Anstiftung nichts geändert. Es hat lediglich i. S. der Rspr. seit B G H [GrSen] 9, 370 ff. klargestellt, daß Anstiftung nur bei vorsätzlichen Taten strafbar ist (kritisch zu diesem „Machtspruch" des Gesetzgebers Gallas ZStW 8 0 , 3 1 ; Armin Kaufmann ZStW 8 0 , 3 6 f.; Roxin JuS 1973, 329, 335 f.). Die hierdurch möglicherweise entstehenden Strafbarkeitslücken, die in bestimmten Irrtumsfällen bei den sog. eigenhändigen Delikten (B I 6 vor § 1) und den sog. Sonderdelikten (B I 7 vor § 1) auftreten können, wurden bewußt in Kauf genommen (Ber. S. 12 BT-Drucks. V/4095). Über die praktischen Auswirkungen dieser Regelung s. u. 2 a. d) Aus dem neueren Schrifttum siehe zunächst die Hinweise unter 2 d vor § 25 (Täterschaft und Teilnahme) sowie § 25 Anm. I (mittelbare Täterschaft), außerdem Backmann, Die Rechtsfolgen der aberratio ictus, JuS 1971,113; - Bemmann, Zum Fall Rose-Rosahl, M D R 1958, 817; - ders., Die Umstimmung des Tatentschlossenen zu einer schwereren oder leichteren Begehungsweise, Gallas-Festschr. S. 273; - Herzberg, Anstiftung und Beihilfe als Straftatbestände, G A 1971, 1; - Küper, Der „agent provocateur" im Strafrecht, G A 1974, 321; - Leß, Der Unrechtscharakter der Anstiftung, ZStW 69, 43; Loewenstein, Error in obiecto und aberratio ictus, JuS 1966, 314; - Lüderssen, Zum Strafgrund der Teilnahme, 1967; - Montenbruck, Abweichung der Teilnehmervorstellung von der verwirklichten Tat, ZStW 83, 323; - Plate, Zur Strafbarkeit des agent provocateur, ZStW 84, 294; - Erika Stork, Anstiftung eines Tatentschlossenen zu einer vom ursprünglichen Tatplan abweichenden Tat, Diss. Münster, 1969; - Stratenwerth, Der agent provocateur, M D R 1953, 717;-Trechsel, Der Strafgrund der Teilnahme, 1967. 2. Die vom Anstifter veranlaßte Haupttat muß alle objektiven und subjektiven Merkmale eines gesetzlichen Tatbestands erfüllen, wobei nach der klaren Entscheidung des Gesetzgebers nur vorsätzliche Taten in Betracht kommen (kritisch zu dieser Entwicklung das oben unter 1 c zitierte Schrifttum). Außerdem ist erforderlich, daß die vom Täter
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Dritter Titel: Täterschaft und Teilnahme
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aufgrund der Anstiftung begangene Tat rechtswidrig ist. Nicht erforderlich ist dagegen, daß der Täter auch schuldhaft gehandelt hat (sog. limitierte Akzessorietät, s. o. 4 vor § 25 sowie § 29 nebst Anmerkungen). Über die Auswirkungen besonderer persönlicher Merkmale s. § 28. a) Die Haupttat muß vorsätzlich begangen werden. Vorsätzlich handelt der Täter auch bei den sog. Mischtatbeständen i. S. von § 11 Abs. 2, d. h. solchen Tatbeständen, die sich aus einer Vorsatz-Fahrlässigkeitskombination zusammensetzen. Handelt der Täter ohne den zur Begründung von Anstiftung erforderlichen Vorsatz und nutzt der Hintermann diesen ihm bekannten Umstand zur Begehung einer rechtswidrigen Tat aus, so kommt als strafbare Beteiligungsform nur mittelbare Täterschaft in Betracht. Im Regelfall kann in Fällen dieser Art auch ohne weiteres mittelbare Täterschaft angenommen werden, da der Hintermann infolge des beim Tatausführenden vorhandenen Tb.-Irrtums im Besitz der Tatherrschaft ist, der Tatausführende (Tatmittler) somit als sein Werkzeug erscheint (vgl. § 25 Anm. III 3 a, cc, ee). Schwierigkeiten entstehen erst, wenn es sich bei der in Frage stehenden Tat um ein eigenhändiges Delikt (B I 6 vor § 1) oder um ein Sonderdelikt (B I 7 vor § 1) handelt. In diesen Fällen scheidet auch mittelbare Täterschaft aus (vgl. § 25 Anm. III 4). Hierdurch entstehen zwangsläufig Strafbarkeitslücken, die nur bei einigen der in Frage stehenden Delikten durch gesetzliche Sonderregelungen ausgeglichen werden können (vgl. §§ 160, 180 und 271 sowie die Beispiele unter III 4 zu § 25), im übrigen aber hingenommen werden müssen (und vom Gesetzgeber das 2. StrRG auch bewußt in Kauf genommen wurden, vgl. S. 12 BT-Drucks. V/4095). Beispiele: Wenn nach einem Verkehrsunfall der unfallbeteiligte A seinen Beifahrer B beauftragt nachzusehen, ob etwas „passiert" sei, und B im Bestreben, möglichst schnell nach Hause zu kommen, dem A wahrheitswidrig versichert, es sei nichts passiert, A könne unbesorgt weiterfahren, so kann A, wenn er im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft seine Fahrt fortsetzt, mangels Vorsatzes nicht wegen Unfallflucht bestraft werden. Mittelbare Täterschaft des B scheidet aus, weil er am Unfall nicht beteiligt war, somit nicht die für § 142 tatbestandskonstitutive Wartepflicht hatte. Anstiftung scheidet ebenfalls aus, da A nicht vorsätzlich gehandelt hat, auf eine vorsätzliche Haupttat aber nicht verzichtet werden kann (kritisch zu diesem unbefriedigenden, aber unabweislichen Ergebnis u. a. Roxin JuS 1973, 329, 336; siehe auch Stgt JZ 1959, 579 m. Anm. Lange). - Oder: A veranlaßt den Gynäkologen Dr. B, bei dem seine Ehefrau (F) in Behandlung steht, durch die unwahre Behauptung, die F habe ihn von seiner Schweigepflicht entbunden, zu Auskünften über Ursachen und Umfang der bei der F festgestellten Krankheit. In diesem Fall kann Dr. B, der sich in einem Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds befunden hat, nach h. L. nicht wegen vorsätzlichen Geheimnisverrats (§ 203 Abs. 1) bestraft werden. Es ist zwar umstritten, ob bei einem Irrtum über den Erlaubnistatbestand bereits der Vorsatz oder nur die Vorsatzstrafe entfällt (siehe hierzu ausführlich § 16 Anm. 3); es wäre jedoch verfehlt, die Frage, ob A wegen Anstiftung bestraft werden kann, von der Entscheidung dieser Streitfrage abhängig zu machen. Nach der hier vertretenen Irrtumslehre wäre der Tatbestandsvorsatz zwar zu bejahen (vgl. § 16 Anm. 3 e), so daß die Möglichkeit strafbarer Teilnahme nicht schlechthin entfiele (h. L., vgl. Maurach AT 726; Roxin JuS 1973, 329, 336); materiell gesehen war A jedoch nicht Anstifter, sondern mittelbarer Täter: Er hat den Dr. B nicht zur Preisgabe eines Berufsgeheimnisses „bestimmt", d. h. verführt ( = korrumpiert), sondern als gutgläubiges Werkzeug zur Ausspähung des Geheimnisses mißbraucht. Würde das Gesetz auch die Ausspähung eines Geheimnisses selbständig unter Strafe stellen oder bestünde die Möglichkeit, A wegen Geheimnisverrats in mittelbarer Täterschaft zu bestrafen, käme niemand ernsthaft auf den Gedanken, A wegen Anstiftung 153
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
zu bestrafen. Anstiftung ist deshalb abzulehnen (übereinstimmend Köln NJW 1962, 686 mit Anm. Bindokat; Dreher MDR 1962, 529; Mösl LK 20 zu § 300 aF; Welzel 336; siehe auch § 203 Anm. XI). Strafbare Teilnahme setzt zwar grundsätzlich keine mit Unrechtsbewußtsein begangene Haupttat voraus, jedoch dürfen die Fälle, in denen der Hintermann die Tatherrschaft hat, nicht nur deshalb in Anstiftung oder Beihilfe „umfunktioniert" werden, weil mittelbare Täterschaft rechtlich ausgeschlossen ist. - Beachte: In beiden Beispielen könnte nach einem Teil der Lehre dann Anstiftung angenommen werden, wenn der jeweilige Täter entgegen der Vorstellung des jeweiligen Hintermanns die Sachlage durchschaut und somit vorsätzlich den Tb. des § 142 bzw. des § 203 verwirklicht hätte (vgl. § 25 Anm. III 2 c, bb). b) Die Haupttat muß rechtswidrig sein. Ist die Haupttat nicht rechtswidrig, weil der Täter sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann, so kommt strafbare Anstiftung eines Dritten nicht in Betracht. Denkbar ist jedoch die Annahme mittelbarer Täterschaft, wenn der Hintermann, der sich selbst auf keinen Rechtfertigungsgrund berufen kann, in der Lage ist, das Tatgeschehen so zu steuern, daß der gerechtfertigt handelnde Tatmittler nur als sein Werkzeug erscheint (Einzelheiten und Beispiele siehe § 25 Anm. III 3 b). c) Nach dem Grundsatz der limitierten Akzessorietät (s. o. 4 vor § 25 sowie § 29) setzt die Annahme von Anstiftung keine scfauldhaft begangene Haupttat voraus. Da jedoch bei einem schuldlos handelnden Täter auch mittelbare Täterschaft in Betracht kommt, muß in jedem Einzelfall immer zuerst geprüft werden, ob der Hintermann den jeweiligen Tb. nicht selbst als mittelbarer Täter verwirklicht hat (Einzelheiten und Beispiele s. o. § 25 Anm. III 3 c). 3. Bestimmen bedeutet das Hervorrufen eines Tatentschlusses. Hierbei genügt, daß die Einwirkung des Anstifters für die Entstehung des Tatentschlusses mitursachlich war (BGH bei Dallinger MDR 1970, 730). a) Der Tatentschluß umfaßt den gesamten subjektiven Tatbestand. Es genügt also nicht, daß der Täter zu einem Handeln im weiteren Sinn veranlaßt wird. Erforderlich ist vielmehr, daß der Täter vorsätzlich handelt (s. o. 2 a) und auch alle sonstigen subjektiven Merkmale, die der jeweilige Tb. erfordert (z. B. die Zueignungsabsicht bei Diebstahl und Raub oder die Bereicherungsabsicht bei Betrug und Erpressung) in seiner Person verwirklicht. Nicht erforderlich ist dagegen, daß der Täter auch mit Unrechtsbewußtsein handelt. b) Gelingt es dem Anstifter nicht, in dem in Aussicht genommenen Täter den Tatentschluß hervorzurufen, oder war der Täter bereits zur Tat entschlossen (omni modo facturus), so liegt keine vollendete, sondern nur versuchte Anstiftung vor (über deren Strafbarkeit siehe § 30 Abs. 1 nebst Anmerkungen). Wurde der bereits zur Tat entschlossene Täter durch die Einwirkung des Anstifters in seinem Tatentschluß bestärkt, so besteht auch die Möglichkeit der Bestrafung wegen Beihilfe (vgl. Jescheck AT 523). Die versuchte Anstiftung tritt in diesem Fall als subsidiär zurück (vgl. Busch LK 11 zu § 49 a aF; Maurach JZ 1961,144; Cramerin Schönke-Schröder Rn. 5 zu § 30). c) Anstiftung zu einem qualifizierten Delikt (z. B. Raub mit Waffen), wird nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß der Angestiftete bereits entschlossen war, die Tat als solche zu begehen (vgl. BGH 19, 339; Baumann AT 576; Busch LK 25 f. zu § 48 aF; Dreher 3; Lackner 2; Maurach AT 687; Stree, Heinitz-Festschr. S. 277; Wessels AT 103; a. A. Bemmann, Gallas-Festschr. S. 273; Jescheck AT 523; Samson SK 4, jeweils m. weit.
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Dritter Titel: Täterschaft und Teilnahme
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Nachw.). Beispiel: Der zum Raub entschlossene B greift erst auf Anraten des A bei der Tatbegehung zu einer Waffe, mit der er dann den Nachtwächter X niederschlägt. Während die h. A. in diesem Fall bei A Anstiftung zum schweren Raub annimmt, liegt nach der Mindermeinung lediglich Beihilfe zum schweren Raub in Tateinheit mit Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung vor. 4. Als Mittel der Anstiftung kommt jede Einwirkung in Betracht, die geeignet ist, im Täter den erforderlichen Tatentschluß (s. o. 3) hervorzurufen. In Betracht kommen vor allem Überredung sowie die Erteilung eines Rats. Die Anstiftung kann aber auch in versteckter Form erfolgen, z. B. durch Schaffen einer provokativen Verbrechensgelegenheit (vgl. Lackner 2; Widmann JuS 1970, 241, 243; a. A. Plate ZStW 84, 294 Fn. 2 m. weit. Nachw.) oder dadurch, daß der Anstifter dem Täter zum Schein von der in Aussicht genommenen Tat abrät (vgl. Dreher 4). Auch Drohung und Täuschung kommen als Mittel in Betracht, jedoch ist in diesen Fällen immer zuerst zu prüfen, ob kein Fall mittelbarer Täterschaft vorliegt (siehe hierzu ausführlich § 25 Anm. III 2). 5. Der Vorsatz des Anstifters ist ein doppelter: Er muß sich einmal darauf erstrecken, daß der in Aussicht genommene Täter sich zu der ihm angesonnenen Tat entschließt (Hervorrufung des Entschlusses, s. o. 3). Der Vorsatz muß sich außerdem auf die Verwirklichung aller objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale der in Aussicht genommenen Tat, insbesondere auf deren Vollendung erstrecken (Vollendungswille des Anstifters). Bedingter Vorsatz genügt in jeder Hinsicht (RG 72, 26, 29; BGH 2, 279; h. L., vgl. Jescheck AT522; Lackner 4). a) Für einen Exzeß des Täteis haftet der Anstifter nach allgemeinen Grundsätzen (§16 Abs. 1) nicht. Dies gilt sowohl dann, wenn der Täter erheblich über das hinausgeht, was der Anstifter gewollt hat (sog. quantitativer Exzeß), als auch dann, wenn er etwas ganz anderes tut (sog. qualitativer Exzeß). Beispiele: A stiftet den B an, X zu verprügeln. Wenn B nun X totschlägt, so ist B - je nach Art seines Vorsatzes - wegen Mordes, Totschlags oder vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu bestrafen. Für A kommt dagegen nur Anstiftung zur Körperverletzung in Betracht (BGH 2, 223, 225). Oder: A möchte dem X schaden. Er stiftet daher den B an, bei X einen Einbruch zu begehen. Wenn B nun wider Erwarten bei der Tatbegehung auf einen Nachtwächter stößt und diesen niederschießt, so kann A für die Gewalttätigkeit des B nicht verantwortlich gemacht werden. b) Unerhebliche Abweichungen der ausgeführten Tat gegenüber der vom Anstifter vorgestellten Tat können den Anstifter nicht entlasten. Hierbei ist zu beachten, daß die Grenzen des Anstiftervorsatzes verhältnismäßig weit gezogen werden müssen, da es zum Wesen der Anstiftung gehört, daß der Anstifter die Einzelheiten der Tatausführung in der Regel nicht kennt und auch nicht kennen kann, diese vielmehr dem Täter anheimstellt (vgl. Jescheck AT 523 m. weit. Nachw.). Beispiel: A stiftet B an, den vor der Hauptpost abgestellten Volkswagen des X zu entwenden. Wenn B nun nicht den VW des X, sondern den daneben stehenden Opel des Y entwendet, da dieser leichter kurzzuschließen ist, so ist dies für die Strafbarkeit des A wegen Anstiftung zum Diebstahl unerheblich. c) Zu den unerheblichen Abweichungen gehört nach h. M. auch der Fall, daß der Täter bei der Tatausführung einem error in persona unterliegt (Fall „Rose-Rosahl", vgl. Preuß, Obertribunal GA 7, 322; Backmann JuS 1971, 119, 416; Busch LK 22 zu § 48 aF;
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§ 26
Zweiter Abschnitt: Die Tat
Cramer in Schönke-Schröder 18; Dreher 15; Lackner 4; Loewenheim JuS 1966, 314; Maurach AT 689 f.; Welzel 75, 117; a. A. Baumann AT 584; Bemmann MDR 1958, 821; Blei AT 251; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 215; Rudolphi SK § 16 Rn. 30; Schmidhäuser AT 445; Stratenwerth AT I Nr. 302; Wessels AT 104; neuerdings auch Jescheck AT 524). Beispiel: Der von A zur Tötung des X angestiftete B tötet versehentlich den Y, den er in der Dunkelheit für den X hält. Während die h. L. B wegen vollendeten Mords bzw. Totschlags und den A als Anstifter hierzu bestraft, nimmt die abweichende Ansicht bei A teils versuchte Anstiftung (vgl. z. B. Jescheck AT 524; Wessels AT 104), teils Anstiftung zum Versuch (vgl z. B. Blei AT 251) an. In Schwierigkeiten gerät die h. L. dann, wenn der Täter nach Entdeckung seines Irrtums aufgrund eines neu gefaßten Entschlusses wenig später das „richtige" Opfer tötet. Hier müßte die h. L. zu dem „unmöglichen" Ergebnis kommen, daß A wegen Anstiftung zum Mord in zwei Fällen zu bestrafen wäre, obwohl er den Tod nur eines ganz bestimmten Menschen in seinen Vorsatz aufgenommen hatte (vgl. Wessels AT 104). Dieses Ergebnis kann auch nicht dadurch befriedigend korrigiert werden, daß man die zweite Tat des B (Tötung des X) als „Exzeß" behandelt (so aber Loewenheim JuS 1966,315); denn gerade den X sollte B ja töten. Die im Schrifttum vordringende Mindermeinung kann den Fall dagegen zwanglos wie folgt lösen: Für A liegt zunächst nur versuchte Anstiftung zum Mord bzw. Totschlag vor (gegebenenfalls in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung); diese versuchte Anstiftung geht dann in der vollendeten Anstiftung zum Mord bzw. Totschlag auf, wenn B nach Entdekkung seines Irrtums auch den X tötet. Da nur diese Konstruktion zu einer sachgerechten Lösung führt, ist der im Schrifttum vertretenen Mindermeinung gegenüber der h. L. der Vorzug zu geben. d) Da zum Vorsatz des Anstifters auch der Vollendungswille gehört (Folge der sog. Verursachungstheorie, s. o. 1 a), begeht derjenige, der nur den Versuch einer Straftat will (z. B. der sog. agent provocateur, der lediglich prüfen will, ob ein anderer zu einer bestimmten Straftat überhaupt fähig ist), keine Anstiftung (h. L., vgl. Küper GA 1974, 321; Jescheck AT 522; Maurach AT 686; a. A. Stratenwerth MDR 1953, 717; differenzierend Plate ZStW 84, 294). Nach h. M. bleibt der agent provocateur dabei auch dann straflos, wenn er zwar die formelle Vollendung, nicht aber die zu einem irreparablen Schaden führende materielle Beendigung der Tat in seinen Vorsatz einbezieht (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 16; Dreher 8; Maurach AT 686). Kommt es entgegen der Vorstellung des agent provocateur doch zu einer irreparablen Rechtsgutverletzung, so hat sich der agent provocateur wegen fahrlässiger Tatbegehung zu verantworten, falls er die drohende Rechtsgutverletzung fahrlässig nicht verhindert hat und auch die fahrlässige Tatbegehung mit Strafe bedroht ist.
6. Bleibt die Tat hinter der Vorstellung des Anstifters zurück, so kommt dies nach allgemeinen Akzessorietätsgrundsätzen auch dem Anstifter zugute. Begeht z. B. der von A angestiftete B entgegen der Vorstellung des A keine gefährliche, sondern nur eine leichte Körperverletzung, so kann A nur aus dem Strafrahmen des § 223 bestraft werden. Oder: A stiftet B an, einen Meineid zu leisten. Wenn B nun zwar falsch aussagt, aber wider Erwarten nicht vereidigt wird, so kann auch A insoweit nur wegen Anstiftung zur uneidlichen Falschaussage (§§ 153, 26) bestraft werden. Diese Bestrafung kann aber nur den objektiven Unrechtsgehalt der Tat erfassen. Um auch den subjektiven Unrechtsgehalt erfassen zu können, ist es erforderlich, A außerdem noch wegen versuchter Anstiftung zum Meineid (§§ 154, 30) zu bestrafen. Die Anstiftung zur uneidlichen Falschaussage
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Dritter Titel: Täterschaft und Teilnahme
§ 27
und die versuchte Anstiftung zum Meineid stehen in diesem Fall in Idealkonkurrenz (vgl. BGH 9, 131; h. L). Bleibt die Tat im Versuchsstadium, so kann auch der Anstifter nur wegen Anstiftung zum Versuch bestraft werden. 7. Wegen der Möglichkeit der Annahme von Anstiftung bei sog. Mischtatbeständen, die sich aus Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen zusammensetzen, siehe § 11 Anm. X 2. Wegen Anstiftung bei erfolgsqualifizierten Deükten siehe § 18 Anm. 2. 8. Von sog. Kettenanstiftung spricht man, wenn der Anstifter den Tatentschluß beim Täter nicht selbst herbeiführt, sondern sich hierzu Dritter bedient. Unerheblich ist dabei die Zahl der Zwischenglieder (BGH 6, 359). Es ist auch nicht erforderlich, daß der Anstifter den Haupttäter und alle Zwischenglieder kennt. Die Kettenanstiftung wird unabhängig hiervon als Anstiftung bestraft (Anstiftung zur Anstiftung = Anstiftung zur Haupttat).
§ 27
Beihilfe
(1) Als Gehilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat. (2) Die Strafe für den Gehilfen richtet sich nach der Strafdrohung für den Täter. Sie ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern. 1. Bei der in § 27 erfaßten Beihilfe handelt es sich wie bei der Anstiftung um einen sog. Strafausdehnungsgrund (vgl. 2 b, bb vor § 25 sowie § 26 Anm. 1). a) Der Strafgrund der Beihilfe besteht nach h. M. darin, daß der Gehilfe durch seine dem Täter geleistete Hilfe eine rechtswidrige Tat gefördert hat (sog. Verursachungs- oder Förderungstheorie, Einzelheiten s. § 26 Anm. 1 a). Über das Verhältnis zur Täterschaft, insbesondere zur Mittäterschaft, siehe ausführlich 2 b vor § 25 sowie § 25 Anm. II und Anm. IV 4; über das Verhältnis zur Anstiftung siehe § 26 Anm. 1 b; über das Verhältnis zu Begünstigung und Strafvereitelung siehe § 257 Anm. 2. b) Das 2. StrRG hat materiell am Wesen der früher in § 49 (aF) geregelten Beihilfe nicht viel geändert. Es hat lediglich - wie auch bei der Anstiftung - klargestellt, daß Beihilfe nur bei vorsätzlich begangenen Taten möglich ist (Einzelheiten und Auswirkungen s. § 26 Anm. 1 c, 2 a). Außerdem ist die in Abs. 2 S. 2 vorgesehene Strafmilderung jetzt im Gegensatz zur früheren Regelung nicht mehr nur fakultativ, sondern obligatorisch. c) Aus dem neueren Schrifttum siehe insbesondere Claß, Die Kausalität der Beihilfe, Stock-Festschr. S. 115; - Dreher, Kausalität der Beihilfe, MDR 1972, 553; - Isenbeck, Beendigung der Tat bei Raub und Diebstahl, NJW 1965, 2326; - Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, 1972; - Schaffstein, Die Risikoerhöhung als objektives Zurechnungsprinzip im Strafrecht usw., Honig-Festschr. S. 169; - Vogler, Zur Frage der Ursächlichkeit der Beihilfe für die Haupttat, Heinitz-Festschr. S. 295. - Siehe auch die Hinweise unter 2 d vor § 25 (Täterschaft und Teilnahme), § 25 Anm. I (mittelbare Täterschaft) und § 26 Anm. 1 d (Anstiftung). 157
§ 27
Zweiter Abschnitt: Die Tat
2. Die vom Gehilfen geförderte Haupttat muß - wie bei der Anstiftung - alle obj. und subj. Merkmale eines gesetzlichen Tatbestands erfüllen, wobei zum subj. Tb. auch der Vorsatz gehört. Außerdem muß die Haupttat rechtswidrig sein. Nicht erforderlich ist jedoch, daß der Täter auch schuldhaft handelt (Grundsatz der limitierten Akzessorietät). Hinsichtlich der Einzelheiten und Auswirkungen kann auf die entsprechenden Ausführungen zur Anstiftung (§ 26 Anm. 2) verwiesen werden. Nicht erforderlich ist schließlich, daß der tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft handelnde Täter auch strafbar ist. Hieraus ergibt sich u. a. die Möglichkeit der Teilnahme an einer Tat, die für den Täter eine sog. mitbestrafte („straflose") Nachtat ist.
3. Die strafrechtlich relevante Handlung des Gehilfen besteht im Hilfeleisten. a) Die Mittel der Beihilfe sind unbeschränkt. Ausreichend ist jede Förderungshandlung, durch welche die äußeren Bedingungen der in Aussicht genommenen Tat verbessert werden (sog. physische oder technische Beihilfe). Dem gleich steht der Fall, daß der Täter durch Ratschläge oder bestimmte Zusicherungen in seinem Tatentschluß bestärkt wird (sog. psychische oder intellektuelle Beihilfe). Beispiele: A verschafft dem B das Tatwerkzeug (physische Beihilfe); - oder: A gibt dem B einen Rat, wie er gefahrlos in das Haus X einbrechen kann (psychische Beihilfe). Beachte: Nur bei der psychischen, nicht auch bei der physischen Beihilfe ist erforderlich, daß der Täter die ihm zuteil gewordene Unterstützung kennt. Wenn A beispielsweise für B, während dieser einen Einbruch begeht, Schmiere steht, kann er auch dann wegen Beihilfe bestraft werden, wenn B gar nichts davon weiß (sog. heimliche Beihilfe, vgl. Jescheck A T 525). b) Beihilfe kann auch durch Unterlassen geleistet werden. Dies setzt objektiv voraus, daß sowohl die Pflicht als auch die Möglichkeit besteht, den drohenden Erfolg abzuwenden. Subjektiv ist erforderlich, daß der zur Erfolgsabwendung Verpflichtete alle seine Erfolgsabwendungspflicht begründenden Tatumstände und die Erfolgsabwendungsmöglichkeit kennt und daß er untätig bleibt in dem Bewußtsein, hierdurch eine fremde Tat zu unterstützen. Sehr umstritten ist die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Pflicht besteht, einen Selbstmord zu verhindern (siehe hierzu Vorbem. V vor § 211), femer die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Prozeßpartei verpflichtet ist, einen Zeugen vom Meineid abzuhalten (siehe hierzu § 154 Anm. 6). Zum Ganzen siehe auch § 13 Anm. VII. c) Zeitlich gesehen kann die Beihilfe schon im Vorbereitungsstadium geleistet werden (z. B. durch Beratung bei der Planung oder durch Verschaffen des Tatwerkzeugs). Spätester Zeitpunkt ist wie bei der Mittäterschaft die materielle Beendigung der Tat (vgl. Jescheck AT 525 m. weit. Nachw.). So liegt z. B. Beihilfe zum Diebstahl, nicht bereits Begünstigung vor, wenn A dem B hilft, die Diebesbeute aus dem Anwesen des X herauszuschaffen und in den auf der Straße stehenden Pkw des B zu laden (h. L.; kritisch hierzu Isenbeck NJW 1965, 2327). - Oder: Beihilfe zur Freiheitsberaubung, wenn A die Polizei durch Täuschung davon abhält, das Anwesen zu durchsuchen, in dem X von B gefangen gehalten wird. d) Umstritten ist die Frage der Kausalität der Beihilfe für die Haupttat. Unproblematisch sind die Fälle, in denen die Haupttat ohne die Beihilfehandlung unterblieben oder gescheitert wäre. Eine Kausalität in diesem engeren Sinn ist jedoch nicht erforderlich (vgl.
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Dritter Titel: Täterschaft und Teilnahme
§ 27
BGH 1 StR 23/75 bei Daliinger MDR 1975, 542; Vogler, Heinitz-Festschr. S. 296 mit umfassenden Schrifttumsnachweisen). Andererseits kann Beihilfe nicht schon bei jeder Hilfeleistung angenommen werden, ohne Rücksicht darauf, ob die Haupttat in concreto gefördert worden ist (so aber Herzberg GA 1971, 1,7, der in der Beihilfe ein abstraktes Gefährdungsdelikt sieht). Die Beihilfe ist weder ein abstraktes Gefährdungsdelikt noch ein unechtes Unternehmensdelikt, sondern eine unselbständige Erscheinungsform des Verbrechens, die nur im Zusammenhang mit der jeweiligen Tat gesehen werden darf. Zwischen der vom Täter ausgeführten Tat und dem Tatbeitrag des Gehilfen, der sich mit dem Täter „solidarisiert" (Vogler aaO. 309) muß eine objektiv feststellbare Beziehung bestehen. Einerseits erforderlich, andererseits aber auch ausreichend ist dabei jede Gehilfentätigkeit, die nach allgemeiner Erfahrung generell geeignet ist, die vom Täter in Aussicht genommene Rechtsverletzung zu fördern. Dies gilt auch dann, wenn im Einzelfall das Risiko für das Rechtsgut nicht erhöht wird (Vogler aaO. 312). So liegt strafbare Beihilfe zum Diebstahl nicht nur vor, wenn der Täter den ihm vom Gehilfen verschafften Nachschlüssel mit Erfolg zur Tat benutzt, sondern auch dann, wenn der Täter ihn gar nicht benötigt, etwa weil die Tür offen ist; auch in dem viel erörterten Leiterfall von Schaffstein (Honig-Festschr. S. 169 ff., 182) kann es nicht darauf ankommen, ob der Täter die Leiter auch ohne fremde Hilfe zum Tatort hätte tragen können (vgl. Vogler aaO.; a. A. Schaffstein aaO.). Im wesentlichen übereinstimmend auch Lackner 2 a m. weit. Nachw. 4. Hinsichtlich des Gehilfenvorsatzes gelten die zur Anstiftung entwickelten Grundsätze (§ 26 Anm. 5) entsprechend. Zum Vorsatz des Gehilfen gehört insbesondere auch der Vollendungswille (Folge des Verursachungs- bzw. Förderungsprinzips). Wer eine fremde Tat nur zum Schein unterstützt, ohne deren Vollendung zu wollen (sog. Scheinbeihilfe), kann deshalb nicht wegen Beihilfe bestraft werden. Beispiel: A gibt dem zum Mord entschlossenen B ein Mittel, das er als giftig bezeichnet, von dem er aber weiß, daß es völlig harmlos ist. Benutzt B das Mittel, so macht er sich des versuchten Mordes schuldig. A kann mangels Vorsatzes nicht bestraft werden. Er hat nicht die Vollendung, sondern nur den Versuch gewollt. 5. Uber Abweichungen der ausgeführten Tat gegenüber der Vorstellung des Gehilfen einschließlich der Komplexe Exzeß des Täters und error in persona gelten die Ausführungen zur Anstiftung (§ 26 Anm. 5 a-c) entsprechend. Für den Fall, daß die Tat hinter der Vorstellung des Täters zurückbleibt, gilt § 26 Anm. 6 entsprechend. 6. Wegen der Möglichkeit von Beihilfe bei sog. Mischtatbeständen (Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen) siehe § 11 Anm. X 2, über die Beihilfe bei erfolgsqualifizierten Delikten siehe § 18 Anm. 2. 7. Konkurrenzen: Gegenüber der Anstiftung ist die Beihilfe als die schwächere Teilnahmeform subsidiär (§ 26 Anm. 1 b). Umgekehrt geht die Beihüfe der versuchten Anstiftung vor (wichtig bei der Einwirkung auf einen „omni modo facturus", vgl. § 26 Anm. 3 b). Beihilfe zur Beihilfe ist Beihilfe zur Haupttat, desgleichen Beihilfe zur Anstiftung und Anstiftung zur Beihilfe (sog. Kettenteilnahme). Wird durch eine einheitliche Handlung zu mehreren Taten Beihilfe geleistet, so liegt nur eine Beihilfe in gleichartiger (unechter) oder ungleichartiger (echter) Tateinheit vor (vgl. Jescheck AT 529).
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§ 28
§ 28
Zweiter Abschnitt: Die Tat
Besondere persönliche Merkmale
(1) Fehlen besondere persönliche Merkmale (§ 14 Abs. 1), welche die Strafbarkeit des.Täters begründen, beim Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfe), so ist dessen Strafe nach § 49 Abs. 1 zu mildern. (2) Bestimmt das Gesetz, daß besondere persönliche Merkmale die Strafe schärfen, mildern oder ausschließen, so gilt das nur für den Beteiligten (Täter oder Teilnehmer), bei dem sie vorliegen. 1. Anliegen der Vorschrift ist es, besondere persönliche Umstände, die die Strafbarkeit begründen, schärfen, mildern oder gar ausschließen, entsprechend dem allgemeinen Schuldprinzip unter Durchbrechung der allgemeinen Akzessorietätsgrundsätze nur dem Beteiligten zuzurechnen, in dessen Person sie begründet sind. Das 2. StrRG hat sachlich an der Rechtslage seit der Neufassung des ehemaligen § 50 durch das EGOWiG v. 24. 5. 1968 nichts geändert. Abs. 1, der sich mit strafbegründenden besonderen persönlichen Merkmalen befaßt, entspricht dem früheren § 50 Abs. 2; die Regelung des Abs. 2 für besondere persönliche Merkmale, durch die die Strafbarkeit verschärft, gemildert oder ausgeschlossen wird, stimmt - abgesehen von dem Klammerzusatz - wörtlich mit § 50 Abs. 3 aF überein. Der ehemalige § 50 Abs. 1 findet sich jetzt in § 29. Aus dem neueren Schrifttum siehe insbesondere Blauth, „Handeln für einen anderen" nach geltendem und kommendem Strafrecht, 1968; - Geppert, Zur Problematik des § 50 II usw., ZStW 82, 40; - Heidland, Die besonderen persönlichen Merkmale i. S. des § 50 II StGB, Diss. Heidelberg 1970; - Jakobs, Niedrige Beweggründe beim Mord, NJW 1969, 489; - ders., Anm. zu BGH 23, 39, NJW 1970, 1089; - Langer, Zum Begriff der „besonderen persönlichen Merkmale", Lange-Festschr. S. 241; - Maurach, Die Mordmerkmale aus der Sicht des § 50 StGB, JuS 1969, 249; - Samson, § 50 Abs. 2 n. F. StGB und die Verjährung, ZRP 1969, 27; - Schröder, Der § 50 StGB n. F. und die Verjährung beim Mord, JZ 1969, 132; - Stree, Das Versehen des Gesetzgebers (§ 50 Abs. 2, 3), JuS 1969, 403; - Vogler, Zur Bedeutung des § 28 StGB für die Teilnahme am unechten Unterlassungsdelikt, Lange-Festschr. S. 265. 2. Besondere persönliche Merkmale i. S. der Absätze 1 und 2 sind nach § 14 Abs. 1 alle besonderen persönlichen Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände, durch die der Täter charakterisiert wird ( = täterbezogene Merkmale, durch die der Deliktstypus bestimmt wird). Hierbei macht es keinen Unterschied, ob es sich um Merkmale von bestimmter Dauer handelt (z. B. die Eigenschaft als Amtsträger oder Soldat) oder ob die den Täter charakterisierenden Merkmale nur vorübergehender Art sind (z. B. eine plötzlich aufkommende Mordlust). Zu beachten ist, daß nicht alle subj. Tb.-Merkmale zugleich auch besondere persönliche Merkmale i. S. des § 28 sind. Nicht hierher gehören vor allem der Vorsatz und diejenigen subj. Unrechtselemente, in denen sich lediglich die innere Einstellung des Täters zu dem von ihm erreichten oder erstrebten rechtswidrigen Erfolg widerspiegelt und durch die nicht der Täter, sondern die Tat charakterisiert wird (vgl. BGH 22, 375, 380; Cramer in Schönke-Schröder 14). Nicht unter den Anwendungsbereich der Vorschrift fallen daher die Zueignungsabsicht bei Diebstahl und Raub, die Bereicherungsabsicht bei Betrug und Erpressung, die Täuschungsabsicht bei der Urkundenfälschung, die Verbreitungsabsicht
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Dritter Titel: Täterschaft und Teilnahme
§ 28
bei den Münzdelikten sowie die Schädigungsabsicht bei der schweren mittelbaren Falschbeurkundung. In all diesen Fällen handelt es sich lediglich um die subjektive Kehrseite des im objektiven Tatbestand beschriebenen rechtswidrigen Erfolgs, nicht um besondere persönliche Merkmale. Ungeachtet der vorstehend wiedergegebenen Kriterien kann die Abgrenzung von tat- und täterbezogenen Merkmalen im Einzelfall äußerst schwierig sein. Die Ermittlung einleuchtender Kriterien, nach denen sich tat- und täterbezogene Merkmale klar unterscheiden lassen, ist nach Bockelmann (AT 188) eine „fast unlösbare, jedenfalls bisher nicht gelöste Aufgabe". Sie ist vor allem deshalb so schwierig, weil tatbezogene mit objektiven und täterbezogene mit subjektiven Merkmalen nicht gleichgesetzt werden dürfen. So ist z. B. das Verhältnis einer Mutter zu ihrem nichtehelichen Kind ein objektives, zugleich aber (unbestritten) ein täterbezogenes Merkmal. Umgekehrt sind Vorsatz und Absicht - wie dargelegt - zwar subjektive Tb.-Merkmale, aber nicht täterbezogen. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung bei den Mordmerkmalen, die teils als täterbezogen, teils als tatbezogen behandelt werden (s. u. 4 e).
3. Liegt ein strafbegründendes persönliches Merkmal zwar beim Täter, aber nicht beim Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfen) vor, so ist die Strafe des Teilnehmers gemäß § 28 Abs. 1 nach den Grundsätzen des § 49 Abs. 1 zu mildern. Diese Regelung enthält eine Privilegierung des Teilnehmers, die sich insbesondere bei der Anstiftung auswirkt, da der Anstifter nach § 26 gleich dem Täter zu bestrafen ist, während beim Gehilfen die Strafe auch ohne die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 nach § 49 Abs. 1 zu mildem ist (§ 27 Abs. 2 S. 2). Allerdings ist auch für den Gehilfen die Strafmilderung nach § 28 Abs. 1 nicht ohne jede Bedeutung. Da das Kumulationsverbot des § 50 für das Zusammentreffen mehrerer Milderungsgründe nach § 49 Abs. 1 nicht gilt, kann sich der Gehilfe unter den Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 kumulativ auf zwei Strafmilderungsgründe berufen (BGH NJW 1975, 837). Führt allerdings allein das Fehlen eines persönlichen Merkmals (z. B. eines Treueverhältnisses i. S. von § 266) dazu, daß ein Tatbeteiligter, der sonst als Mittäter behandelt werden müßte, nur als Gehilfe verurteilt werden darf, so kommt ihm die Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 nur einmal zugute (BGH aaO.). Zu den strafbegründenden besonderen persönlichen Merkmalen i. S. von Abs. 1 gehören z. B. die Eigenschaft als Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter in den Fällen, in denen diese Eigenschaft strafbegründend ist (vgl. z. B. §§ 203 Abs. 2, 336, 348), die Soldateneigenschaft bei echten militärischen Straftaten (vgl. § 2 Nr. 1 WStG), die Gewerbs- und Gewohnheitsmäßigkeit bei den Delikten, die nur bei gewerbs- oder gewohnheitsmäßiger Begehung strafbar sind (z. B. in den Fällen der §§ 180 a Abs. 1-3 und 181 a Abs. 2), die Böswilligkeit in § 223 b, die Rücksichtslosigkeit in § 315 c Abs. 1 Nr. 2, das Schutzverhältnis in § 223 b und das Treueverhältnis in § 266 (BGH NJW 1975, 837), nicht jedoch der Vorsatz, der Zueignungswille in § 246 (Krhe Justiz 1975, 314), die Zueignungs-, Bereicherungs- und Vorteilsabsicht in den Fällen der §§ 242, 253, 259, 263 (vgl. BGH 22, 375; Bockelmann AT 188; Jescheck AT 500; Lackner 2 a; Wessels AT 102), ferner nicht die Garantenstellung bei den unechten Unterlassungsdelikten, da durch die Garantenstellung keine Sonderpflicht, sondern ein tatbezogenes personales Unrechtsmerkmal begründet wird (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 13; a. A. Dreher 6; Geppert ZStW 82, 70; Jescheck AT 500; Lackner 2 a; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 515). Nicht hierher gehören schließlich die Eigenschaft als Gefangener in §§ 120 f., als Unfallbeteiligter in § 142 und als Kfz-Halter in § 21 StVG (vgl Lackner 2 a). 6
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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§28
Zweiter Abschnitt: Die Tat
4. Die Bedeutung des Abs. 2 a) Nach reinen Akzessorietätsgründen ist die Strafe des Teilnehmers immer dem Gesetz zu entnehmen, das auch auf die Handlung des Täters Anwendung findet (vgl. §§ 26, 27 Abs. 2). Dieser Grundsatz wird durch § 28 Abs. 2 unter bestimmten Voraussetzungen durchbrochen. Nach dieser Vorschrift belasten besondere persönliche Merkmale, die die Strafe schärfen, nur den Täter oder Teilnehmer, bei dem sie vorliegen. Umgekehrt kommen besonders persönliche Merkmale, die die Strafe mildem oder ausschließen, nur dem zugute, in dessen Person sie begründet sind. Die durch § 28 Abs. 2 bewirkte Lockerung der Akzessorietät von Täterschaft und Teilnahme hat zur Folge, daß bei mehreren Tatbeteiligten unter bestimmten, in ihrer Person begründeten (oder fehlenden) Voraussetzungen verschiedene Straftatbestände zur Anwendung kommen. Beispiele: Der Hilfsarbeiter A stiftet den Vollzugsbeamten B an, seinem Freund F, der eine längere Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, während einer Außenarbeit zur Flucht zu verhelfen. Folgt B dem Drängen des A, so macht er sich der qualifizierten Gefangenenbefreiung (§ 120 Abs. 2) schuldig. Nach reinen Akzessorietätsgrundsätzen müßte auch A aus dem erhöhten Strafrahmen des § 120 Abs. 2 bestraft werden. Dies soll durch § 28 Abs. 2 verhindert werden. Die Amtseigenschaft ist ein besonderes persönliches Merkmal, das nur den B, nicht auch den A belastet. Dieser ist deshalb als Anstifter aus dem Strafrahmen des § 120 Abs. 1 zu bestrafen. - Oder: Wenn A aus Habgier (z. B. um keine Alimente zahlen zu müssen) der B hilft, ihr nichteheliches Kind unmittelbar nach der Geburt zu töten, wird A gemäß §§211, 27 (28 Abs. 2) wegen Beihilfe zum Mord bestraft, obwohl die B selbst nur nach § 217 strafbar ist. b) Zu den strafschärfenden (qualifizierenden) Merkmalen gehören insbesondere die Amtseigenschaft bei den unechten Amtsdelikten, die Gewerbs- und Gewohnheitsmäßigkeit in den Fällen, in denen sie sich nicht strafbegründend, sondern erschwerend auswirkt (vgl. z. B. §§ 292 Abs. 3, 293 Abs. 3, 302 a Abs. 2 Nr. 2), die Voraussetzungen des Rückfalls in §48, die verwandtschaftlichen Beziehungen in den §§221 Abs. 2, 223 Abs. 2, das besondere Treueverhältnis bei der Veruntreuung in § 246 sowie die täterbezogenen Mordmerkmale (Einzelheiten s. u. lit. e). c) Zu den strafmildernden (privilegierenden) Merkmalen gehören insbesondere das Handeln auf ausdrückliches und ernstliches Verlangen in § 216 und die Eigenschaft als Mutter eines nichtehelichen Kindes (vgl. Lackner 3 b m. weit. Nachw.; a. A. Jescheck AT 501 und Wessels AT 72, 104, die im letztgenannten einen speziellen Schuldmilderungsgrund sehen und deshalb nicht § 28 Abs. 2, sondern § 29 zur Anwendung bringen). Nicht hierher, sondern unter den Anwendungsbereich des § 29 gehören die Fälle des verschuldeten Verbotsirrtums (§ 17 S. 2) und der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21). In diesen Fällen wird nicht der Unrechtstypus, sondern die Schuld verändert. d) Zu den persönlichen Strafausschließungsgründen, denen auch die Strafaufhebungsgründe zuzurechnen sind, gehören insbesondere der Rücktritt vom Versuch (§ 24) und alle sonstigen zu Straflosigkeit führenden besonderen Rücktrittsregelungen, außerdem die Privilegierungen des Vortäters bei Begünstigung und Strafvereitelung (§§ 257 Abs. 3, 258 Abs. 5) sowie das Angehörigenprivileg in § 258 Abs. 6, falls man dieses nicht als speziellen Schuldausschließungsgrund betrachtet und damit der Regelung des § 29 unterstellt (vgl. Jescheck AT 354). e) Sehr umstritten ist die Einordnung der Mordmerkmale. Folgt man der hier im Anschluß an die h. L. im Schrifttum vertretenen Ansicht, derzufolge es sich bei den 162
Dritter Titel: Täterschaft und Teilnahme
§ 29
Mordmerkmalen um Strafschärfungsgründe gegenüber dem Totschlag handelt (vgl. Vorbem. II vor § 211), so sind die Motivmerkmale der 1. Gruppe in § 211 Abs. 2 („aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder aus sonstigen niedrigen Beweggründen") und die Absichtsmerkmale der 3. Gruppe („um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken") besondere persönliche Merkmale i. S. von § 28 Abs. 2 (vgl. Blei JA 1969, StR3; Koffka JR 1969, 41; Schröder JZ 1969, 132). Die abweichende Ansicht des KG in JR 1969, 63, wonach die niedrigen Beweggründe in §211 tatbezogene Merkmale sein sollen, ist entschieden abzulehnen (vgl. BGH 22, 375 f.; 23, 39; Blei JA 1969, StR 52; Koffka aaO.). Tatbezogen sind dagegen die Mordmerkmale der 2. Gruppe in § 211 („heimtückisch, grausam, mit gemeingefährlichen Mitteln"). Sie unterliegen weder der Regelung des § 28 Abs. 1 noch der des Abs. 2 (vgl. Blei JA 1969, StR 3, sachlich übereinstimmend in allen Punkten auch Mäurach JuS 1969, 249). Zu einer anderen Beurteilung des Komplexes gelangt man nur dann, wenn man den Mordtatbestand gegenüber dem Tatbestand des Totschlags als einen selbständigen Tatbestand mit eigenem Unrechtsgehalt ansieht (st. Rspr. seit BGH 1, 368, 372). Dann sind alle Mordmerkmale nicht strafschärfend, sondern strafbegründend, und damit der Regelung des § 28 Abs. 2 entzogen. Sie unterliegen jedoch, soweit sie täterbezogen sind (1. und 3. Gruppe), der Regelung des § 28 Abs. 1 (vgl. BGH 22, 375 ff.; 23, 39; NJW 1969, 1765; Jakobs NJW 1970, 1089; Blei JA 1969, StR S. 3). Die Unterschiede zwischen beiden Auffassungen haben sich besonders auffällig bei der Verjährungsfrage gezeigt (BGH aaO.).
§ 29
Selbständige Strafbarkeit des Beteiligten
Jeder Beteiligte wird ohne Rücksicht auf die Schuld des anderen nach seiner Schuld bestraft. 1. Die durch das 2. StrRG neu gefaßte Vorschrift, die sachlich mit dem früheren § 50 Abs. 1 übereinstimmt, ist Ausfluß des Schuldprinzips. Sie beruht auf den Grundgedanken, daß die Schuld jedes Tatbeteiligten unabhängig von der Schuld der übrigen Tatbeteiligten zu beurteilen ist. Schuldausschließende oder schuldmildernde Umstände entlasten nur den Tatbeteiligten, in dessen Person sie vorliegen. Wenn z. B. A in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken mit dem infolge einer unerkennbaren Geisteskrankheit schuldlos handelnden B den mit beiden verfeindeten X niederschlägt, sind beide Mittäter eines Vergehens der gemeinschaftlichen Körperverletzung nach § 223 a. Daß B nach § 20 straflos bleibt, ist für die Strafbarkeit des A ohne Bedeutung. Entsprechendes würde gelten, wenn B nicht infolge Geisteskrankheit, sondern infolge Trunkenheit strafrechtlich nicht verantwortlich gewesen wäre. Auch in diesem Fall wäre A wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung strafbar, während für B Strafbarkeit nach § 330 a in Betracht käme. 2. Aus § 29 ergibt sich weiter der Grundsatz der sog. limitierten Akzessorietät, der seit der Neufassung der Vorschriften über die Teilnahme durch die StrafrechtsangleichungsVO v. 29. 5. 1943 an die Stelle der sog. extremen Akzessorietät getreten ist. § 29 besagt in sachlicher Übereinstimmung mit den §§ 26, 27, daß Anstiftung und Beihilfe auch an schuldlos begangenen Haupttaten möglich sind. Als Haupttat genügt eine vor6*
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§30
Zweiter Abschnitt: Die Tat
sätzlich begangene tatbestandsmäßige und rechtswidrige Tat. Daraus folgt allerdings nicht, daß schlechthin jede Mitwirkung an einer schuldlos, aber vorsätzlich begangenen Tat als Anstiftung oder Beihilfe strafbar ist. Nach dem restriktiv-objektiven Täterbegriff, der zugleich ein primärer Täterbegriff ist, kommt in solchen Fällen vielmehr strafbare Teilnahme (Anstiftung oder Beihilfe) erst dann in Betracht, wenn die Prüfung zu dem Ergebnis geführt hat, daß kein Fall der mittelbaren Täterschaft vorliegt (vgl. Vorbem. 2 b, bb vor § 25 und § 25 Anm. III 2 a). Hat der die Tat veranlassende oder unterstützende Hintermann die Tatherrschaft, so ist er ungeachtet der sich aus den §§ 26, 27, 29 formell ergebenden Möglichkeit von Anstiftung und Beihilfe nicht Teilnehmer, sondern Täter in der Form der mittelbaren Täterschaft (§ 25 Anm. III 3 c, § 26 Anm. 2 c, 4) oder der Mittäterschaft (s. o. Anm. 1). Über die umstrittene Frage, wie ein Irrtum über die eigene Rolle als Täter oder Teilnehmer zu beurteilen ist, siehe ausführlich § 25 Anm. III 2 c.
§ 30
Versuch der Beteiligung
(1) Wer einen anderen zu bestimmen versucht, ein Verbrechen zu begehen oder zu ihm anzustiften, wird nach den Vorschriften über den Versuch des Verbrechens bestraft. Jedoch ist die Strafe nach § 49 Abs. 1 zu mildem. § 23 Abs. 3 gilt entsprechend. (2) Ebenso wird bestraft, wer sich bereit erklärt, wer das Erbieten eines anderen annimmt oder wer mit einem anderen verabredet, ein Verbrechen zu begehen oder zu ihm anzustiften. 1. Das 2. StrRG hat in wesentlicher Ubereinstimmung mit § 35 E 1962 an der Grundkonzeption des früheren Rechts (vgl. 49 a aF) festgehalten. Der Vorschlag des A E , auf eine Strafdrohung für die in Abs. 2 erfaßten Fälle ersatzlos zu verzichten (vgl. § 32 A E ) , wurde mit Rücksicht auf die „sehr gefährlichen Bindungen", die durch die in Frage stehenden Fälle entstehen können, nicht übernommen (vgl. Ber. S. 13 BT-Drucks. V/4095; kritisch hierzu Roxin JuS 1973, 329, 333). Eine Klarstellung gegenüber der früheren Fassung erfolgte insofern, als in Übereinstimmung mit der früheren Rechtsprechung (vgl. B G H 7, 234) jetzt auch die versuchte Kettenanstiftung (versuchte Anstiftung zur Anstiftung) ausdrücklich unter Strafe gestellt ist. Neu gegenüber der früheren Regelung sind die obligatorische Strafmilderung (Abs. 1 S. 1) und die Verweisung auf die Unverstandsklausel des § 23 Abs. 3. Aus dem neueren Schrifttum siehe insbesondere Börker, Zur Bedeutung besonderer persönlicher Eigenschaften bei der versuchten Anstiftung usw., J R 1956, 286; - R. Busch, Zur Teilnahme an den Handlungen des § 49 a StGB, Maurach-Festschr. S. 245; - Dreher, Grundsätze und Probleme des § 49 a StGB, G A 1954, 11; - ders., Anm. zu B G H 6, 308, M D R 1955, 119; - ders., Anm. zu B G H 14, 156, NJW 1960, 1163; - ders., Anm. zu B G H 24, 38, M D R 1971, 410; - Gallas, Der dogmatische Teil des Alternativentwurfs, ZStW 80, 1; - Letzgus, Vorstufen der Beteiligung, Erscheinungsformen und ihre Strafwürdigkeit, 1972; - Maurach, Die Problematik der Verbrechensverabredung, J Z 1961, 137; - Meister, Zweifelsfragen zur versuchten Anstiftung, M D R 1956, 16; - Roxin, Unterlassung, Vorsatz und Fahrlässigkeit, Versuch und Teilnahme im neuen Strafgesetz164
Dritter Titel: Täterschaft und Teilnahme
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buch, JuS 1973, 329,333; - R. Schmitt, Rücktritt von der Verabredung zu einem Verbrechen, JuS 1961,25 ; - Schröder, Grundprobleme des § 49 a StGB, JuS 1967,289. 2. Sowohl die versuchte Anstiftung des Abs. 1 als auch die in Abs. 2 erfaßten Erscheinungsformen des Verbrechens stellen keine eigenen Tatbestände dar; es handelt sich vielmehr um FäDe vorweggenommener Teilnahme (BGH 4, 19; h. L., vgl. Bockelmann AT 202; Jescheck AT 531; Maurach AT 699 und JZ 1961, 138). Anliegen der Vorschrift ist es, den Zeitpunkt der Strafbarkeit bei besonders strafbedürftigen Delikten zum Schutz der Allgemeinheit möglichst weit vorzuverlegen. Insbesondere Kapitalverbrechen sollen möglichst schon im Ansatz strafrechtlich erfaßt werden können. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß die Gefahr für das geschützte Rechtsgut besonders stark ist, wenn der Verbrechensplan von mehreren Personen abgesprochen und vorbereitet wird (vgl. Dreher 2; Jescheck AT 531; Lackner 1; Schröder JuS 1967, 289). Diese besondere Gefährlichkeit konspirativer Bindungen war auch der Grund, weshalb das 2. StrRG entgegen dem Vorschlag des AE und verschiedenen Stimmen im Schrifttum (vgl. Roxin aaO. mit Nachw.) an der strafrechtlichen Erfassung der in Abs. 2 aufgeführten Vorstufen der Beteiligung festgehalten hat (vgl. Ber. S. 13 BT-Drucks. V/4095). 3. Zur Strafbarkeit der versuchten Anstiftung (Abs. 1): a) Die in Aussicht genommene Tat muß ein Verbrechen i. S. von § 12 Abs. 1 sein. (Über Sonderfälle der versuchten Anstiftung zu Vergehen siehe §§111 Abs. 2, 159 und 357.) Unproblematisch sind dabei die Fälle, in denen die Tat im Falle der Ausführung sowohl für den in Aussicht genommenen Täter als auch für den Anstifter ein Verbrechen wäre. Umstritten sind dagegen die Fälle, in denen die Tat im Falle ihrer Ausführung nur infolge besonderer persönlicher Merkmale (vgl. § 14) für den in Aussicht genommenen Täter ein Verbrechen, für den Anstifter jedoch nur ein Vergehen wäre. Während ein Teil des Schrifttums in diesen Fällen in entsprechender Anwendung von § 28 Abs. 2 nicht auf die Person des Täters, sondern auf die des Anstifters abstellt (vgl. z. B. Baumann AT 609; Lackner 1; Maurach AT 701; Schröder aaO.; Wessels AT 102), stellen der Bundesgerichtshof (vgl. BGH 6, 308) und die h. L. im Schrifttum maßgeblich auf die Qualifikation des in Aussicht genommenen Täters ab (vgl. Bockelmann AT 203; Börker JR 1956, 286; Busch LK 21 zu § 49 a aF; Dreher NJW 1953, 313; GA 1954, 11, 16; MDR 1955, 119; Welzel 118). Das 2. StrRG hat die Streitfrage bewußt offengelassen und „ihre Entscheidung wie bisher der Rechtsprechung überlassen", dabei aber die eingeschlagene Linie bereits angedeutet (vgl. Ber. S. 13 BT-Drucks. V/4095): § 30 erfaßt alle Fälle, in denen die in Aussicht genommene Tat durch ihren erhöhten Unrechtsgehalt zum Verbrechen wird (wobei der erhöhte Unrechtsgehalt auch durch personale Unrechtselemente, z. B. durch die Eigenschaft als Amtsträger, begründet werden kann), nicht jedoch die Fälle, in denen der Verbrechenscharakter ausschließlich durch die erhöhte Schuld des in Aussicht genommenen Täters begründet wird. Diese Differenzierung entspricht der schon unter der früheren Rechtslage von Jescheck AT 533 und hier in den Vorauflagen vertretenen Ansicht. Zu beachten ist allerdings, daß die Fälle, in denen eine Tat ausschließlich wegen des erhöhten Schuldgehalts zum Verbrechen wird, durch die Reformgesetze der letzten Jahre praktisch gegenstandslos geworden sind. Dies gilt für die Tatbestände des Diebstahls i. R. und des Betrugs i. R. (aufgehoben durch das 1. StrRG) ebenso wie für den Tb. des § 260 (durch das EGStGB in ein Vergehen umgewandelt). Dies bedeutet, daß in Übereinstimmung mit der schon früher h. M. grundsätzlich auf den für die Tat in Aussicht genommenen Täter abzustellen ist (vgl. Blei AT 257; Dreher 6; a. A. Maurach AT 701 165
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
und Roxin JuS 1973, 334, die auch die Gegenansicht noch für vertretbar halten). Durch die im Rahmen des EGStGB vorgenommene zahlenmäßige Beschränkung der (unechten) Verbrechen im Amt und die schon im 1. StrRG erfolgte Umwandlung der Fremdabtreibung in ein Vergehen hat die Streitfrage allerdings erheblich an Aktualität verloren. Geblieben ist die Problematik jedoch z. B. für den von Maurach AT 702 gebrachten Fall, daß der von X hierum ernsthaft ersuchte A den nicht eingeweihten B vergeblich auffordert, X zu töten. Hier würde sich die Tötung des X für B als Mord oder Totschlag (somit als Verbrechen), für A dagegen nur als Vergehen darstellen. b) Die in Aussicht genommene Tat muß zwar nicht schon in allen Einzelheiten konkretisiert, immerhin aber doch so bestimmt sein, daß der in Aussicht genommene Täter sie begehen könnte, wenn er wollte (vgl. BGH 15, 276; 18, 160; Lackner 1). So genügt es z. B. nicht, wenn A auf die Frage des B, wie er wohl am schnellsten zu Geld kommen könne, den allgemein gehaltenen, aber durchaus ernst gemeinten Rat gibt, er möge doch einen Bankraub mit Geiselnahme durchführen. c) Die versuchte Anstiftung begegnet in mehreren Erscheinungsformen: § 30 Abs. 1 erfaßt nicht nur die Fälle, in denen der in Aussicht genommene Täter das Ansinnen, ein Verbrechen zu begehen, von Anfang an zurückweist. Die Vorschrift kommt vielmehr auch dann in Betracht, wenn es aus anderen Gründen nicht zur Tatausführung kommt, z. B. wenn der in Aussicht genommene Täter zwar zunächst den Tatentschluß faßt, diesen aber wieder aufgibt, bevor die Tat in das Versuchsstadium getreten ist (tritt sie in das Versuchsstadium, so liegt nicht versuchte Anstiftung, sondern Anstiftung zum Versuch vor); schließlich gehört hierher der Fall, daß der in Aussicht genommene Täter bereits zur Tat entschlossen war (Fall des „omni modo facturus", vgl. § 26 Anm. 3 b). Der versuchten Anstiftung zur Täterschaft gleichgestellt ist die versuchte Anstiftung zur Anstiftung. Die versuchte Anstiftung zur Beihilfe bleibt dagegen als versuchte Beihilfe straflos. d) Uber das Merkmal „Bestimmen" siehe § 26 Anm. 3, über die Mittel dazu § 26 Anm. 4. Ob das Bestimmen bereits „versucht" worden ist, richtet sich nach allgemeinen Abgrenzungskriterien (vgl. § 22). Erforderlich ist also ein „unmittelbares Ansetzen", z. B. das Absenden eines Briefs, in dem der Empfänger zur Begehung eines Verbrechens aufgefordert wird. Nicht erforderlich ist, daß die Aufforderung den Adressaten erreicht (vgl. BGH 8, 261; Blei AT 257; Bockelmann AT 202; Lackner 2 a; Maurach AT 700; a. A. Jescheck AT 534 m. weit. Nachw.) und daß dieser sie in ihrer Bedeutung richtig erkennt (RG 47,230; Lackner 2 a). e) Hinsichtlich des Vorsatzes gelten die Ausführungen zur Anstiftung entsprechend (vgl. § 2 6 Anm. 5). f) Die Bestrafung erfolgt nach den Vorschriften über den Versuch (Abs. 1 S. 1), wobei die Strafmilderung jedoch abweichend von § 23 Abs. 2 obligatorisch ist (Abs. 1 S. 2). Auf die Unverstandsklausel des § 23 Abs. 3 weist Abs. 1 S. 3 hin. Ist die in Aussicht genommene Tat nur auf Grund von besonderen persönlichen Merkmalen ein Verbrechen, die zwar beim Täter, nicht aber beim Anstifter vorliegen, so ist bei der Strafzumessung außerdem § 28 Abs. 2 zu beachten. g) Teilnahme an einer versuchten Anstiftung ist, da § 30 keinen selbständigen Tb. enthält (s.o. 2), nur in der Form der Anstiftung strafbar (Anstiftung zur versuchten Anstiftung = versuchte Anstiftung zur Haupttat). Beispiel: Wenn A den B auffordert, X zum Raub anzustiften, X aber das Ansinnen des B zurückweist, ist B wegen versuchter Anstiftung zum Raub, A wegen Anstiftung zu einer versuchten Anstiftung zum Raub zu bestrafen. 166
Dritter Titel: Täterschaft und Teilnahme
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Beihilfe zur versuchten Anstiftung ist zwar begrifflich denkbar, aber nicht strafbar. Die Straflosigkeit ergibt sich aus der Erwägung, daß auch die versuchte Beihilfe nicht strafbar ist, obwohl dort der Rechtsfrieden wesentlich stärker gefährdet ist (vgl. BGH 14, 156). Wenn schon straflos bleibt, wer dem zum Mord entschlossenen Täter das Messer in die Hand drückt, das dieser dann aber bei der Tatausführung nicht benutzt, so muß erst recht straflos bleiben, wer einem anderen ein Messer gibt, damit dieser mit größerer Aussicht auf Erfolg einen Dritten zum Mord anstiften kann. 4. Zur Strafbarkeit der in Abs. 2 erfaßten Vorstufen der Tatbeteiligung: a) Ein Sichbereiterklären liegt nicht nur vor, wenn sich jemand dazu bereit erklärt, ein Verbrechen als Täter zu begehen; es genügt bereits die Bereitschaft, einen Dritten zu einem Verbrechen anzustiften. Nicht ausreichend ist dagegen die Erklärung der Bereitschaft, sich als Gehilfe an einem Verbrechen zu beteiligen. Auf jeden Fall aber muß eine ernst gemeinte Erklärung der eigenen Bereitschaft vorliegen (BGH 6, 346; h. L.). Nicht erforderlich ist dagegen, daß die Erklärung auch emst genommen wird. b) Das Erbieten eines anderen nimmt an, wer sich - ausdrücklich oder stillschweigend mit der Begehung des Verbrechens durch den anderen einverstanden erklärt. Nicht erforderlich ist, daß das Anerbieten ernst gemeint war; es genügt, daß die Annahme des Anerbietens emst gemeint ist (BGH 10, 388; sehr bestr.; a. A. Jescheck AT 535 m. weit. Nachw. unter Hinweis auf die mangelnde Gefährlichkeit, wenn das Anerbieten nicht ernst gemeint war). c) Verabredung ist die vorbereitete Mittäterschaft, aber auch die vorbereitete Anstiftung. Auch bei dieser Alternative ist erforderlich, daß die beiderseits abgegebenen Erklärungen ernst gemeint sind. Beispiel: A und B sprechen am Biertisch über die Möglichkeit, wie man einen Raubüberfall auf die X-Bank inszenieren könnte. Während A die Sache ernst nimmt und glaubt, auch B wolle sich an der Tat beteiligen, hält dieser alles nur für einen Scherz. Hier kommt kein „Verabreden" in Betracht, wohl aber hat A sich B gegenüber zu einem Verbrechen bereit erklärt und außerdem dessen Anerbieten, sich an einem Verbrechen zu beteiligen, angenommen. Daß das Anerbieten des B nicht ernsthaft gemeint war, ist unerheblich (vgl. BGH 10,388). d) Wie bei der versuchten Anstiftung ist auch bei den Erscheinungsformen des Abs. 2 erforderlich, daß die in Aussicht genommene Tat so bestimmt ist, daß die Beteiligten sich über Ort, Zeit und Art der Tatbegehung wenigstens einigermaßen im klaren sind, ohne daß die Tat allerdings bereits in allen Einzelheiten konkretisiert sein müßte (s. o. 3 b sowie Hbg MDR 1948,368). 5. Konkurrenzen: § 30 ist subsidiär gegenüber Vollendung und Versuch der in den Formen des Abs. 1 oder Abs. 2 vorbereiteten Tat. Im einzelnen: a) Subsidiarität ist auch dann anzunehmen, wenn A zunächst mehrere Personen vergeblich zur Teilnahme auffordert, dann aber die geplante Tat allein oder mit dritten Personen ausführt (BGH 8, 38). b) Keine Subsidiarität, wenn der Täter sich zwar zur Tat entschließt, aber bei der Tatausführung hinter der Vorstellung des Anstifters zurückbleibt. Beispiel: A stiftet B an, als Zeuge vor Gericht einen Meineid zu leisten. Wenn B nun wider Erwarten nicht vereidigt wird, sondern nur uneidlich falsch aussagt, so ist A nicht nur wegen Anstfitung zur uneidlichen Falschaussage, sondern außerdem - in Tateinheit - wegen versuchter Anstif167
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
tung zum Meineid zu bestrafen (vgl. B G H 9, 131). Eine Bestrafung nur wegen Anstiftung zur uneidlichen Falschaussage würde zwar den objektiven, nicht aber den subjektiven Unrechtsgehalt der Tat erfassen. A stünde sogar besser da, als wenn B das Ansinnen, einen Meineid zu leisten, ganz von sich gewiesen hätte. 6. Über gesetzlich geregelte Sonderfälle strafbarer Vorbereitung siehe u. a. §§ 80, 83, 149, 234 a Abs. 3 und 316 c Abs. 3. Hinsichtlich der Konkurrenzen ist dabei zu beachten, daß § 30 Abs. 2 einerseits hinter den spezielleren Regelungen der §§ 83 und 357 zurücktritt (vgl. R G 68, 90 zu § 357; Köln NJW 1954, 1259 zu § 83), andererseits aber i. V. mit § 234 a Abs. 1 dem § 234 a Abs. 3 vorgeht ( B G H 6, 85).
§ 31
Rücktritt vom Versuch der Beteiligung
(1) Nach § 30 wird nicht bestraft, wer freiwillig 1. den Versuch aufgibt, einen anderen zu einem Verbrechen zu bestimmen, und eine etwa bestehende Gefahr, daß der andere die Tat begeht, abwendet, 2. nachdem er sich zu einem Verbrechen bereit erklärt hatte, sein Vorhaben aufgibt oder, 3. nachdem er ein Verbrechen verabredet oder das Erbieten eines anderen zu einem Verbrechen angenommen hatte, die Tat verhindert. (2) Unterbleibt die Tat ohne Zutun des Zurücktretenden oder wird sie unabhängig von seinem früheren Verhalten begangen, so genügt zu seiner Straflosigkeit sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, die Tat zu verhindern. 1. Wie bei der versuchten Täterschaft (vgl. § 24) sieht das Gesetz auch bei der versuchten Anstiftung (§ 30 Abs. 1) und den in § 30 Abs. 2 unter Strafe gestellten Vorstufen der Tatbeteiligung die Möglichkeit eines strafbefreienden Rücktritts vor. Die Vorschrift, die wörtlich mit § 36 E 1962 übereinstimmt und sachlich der früher in § 49 a Abs. 3 und Abs. 4 enthaltenen Regelung entspricht, enthält somit einen persönlichen Strafaufhebungsgrund. 2. Wie beim Rücktritt von der versuchten Täterschaft ist auch in den Fällen des § 31 entscheidende Voraussetzung, daß der Rücktritt freiwillig erfolgt (siehe hierzu ausführlich § 24 Anm. 5 a). In den Fällen des Abs. 1 ist weiter erforderlich, daß der Täter die durch sein Verhalten für das geschützte Rechtsgut begründete Gefahr neutralisiert und durch geeignete Maßnahmen dafür sorgt, daß die verabredete oder sonst in strafbarer Weise in Aussicht genommene Tat nicht zur Ausführung kommt. 3. Nach Abs. 2 genügt bereits das freiwillige und ernsthafte Bemühen, die Tat zu verhindern, wenn die Tat ohne Zutun der Zurücktretenden unterbleibt (z. B. wenn der von A zu einem Raub angestiftete B seinen Tatplan schon selbst aufgegeben hat, bevor A ihn aufsucht, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen) oder wenn die Tat unabhängig von seinem früheren Verhalten begangen wird (z. B. wenn der Anzustiftende ein omni modo
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Vierter Titel: Notwehr und Notstand
Vor § 32
facturus war). Die Ausführungen zu § 24 Abs. 1 S. 2 und § 24 Abs. 2 S. 2 gelten im übrigen entsprechend. 4. Auf die gesetzlich geregelten Sonderfälle strafbarer Vorbereitung (vgl. § 30 Anm. 6) finden die Rücktrittsvorschriften des § 31 weder unmittelbar noch analog Anwendung, wie sich aus der Existenz spezieller Rücktrittsregelungen bei einzelnen dieser Tatbestände ergibt.
Vierter Titel: Notwehr und Notstand Vorbemerkungen I. Übersicht Die Neufassung des Allgemeinen Teils durch das 2. StrRG behandelt die Komplexe Rechtswidrigkeit und Schuld ebensowenig umfassend und einheitlich wie das frühere Recht. Während die Schuldunfähigkeit (§§ 19, 20) und der - zumindest teilweise - ebenfalls den Schuldsektor betreffende Komplex Tatbestands- und Verbotsirrtum (§ 16, 17) bereits im 1. Titel dieses Abschnitts unter der Überschrift „Grundlagen der Strafbarkeit" behandelt wurden und wichtige Rechtfertigungsgründe sich (zu Recht) im Besonderen Teil finden (vgl. §§ 193, 218 a, 226 a), regelt der folgende 4. Titel lediglich die Komplexe Notwehr und Notstand, wobei es sich bei der Notwehr (§ 32) und dem rechtfertigenden Notstand (§ 34) um Rechtfertigungsgründe handelt, während der in § 33 behandelte Notwehrexzeß und der Notstand des § 35 Schuldausschließungsgründe enthalten. Ungeregelt sind nach wie vor die rechtfertigende Einwilligung einschließlich der mutmaßlichen Einwilligung sowie die rechtfertigende und entschuldigende Pflichtenkollision. Diese Fälle bleiben wie bisher der Entwicklung durch Rechtsprechung und Lehre vorbehalten. Lediglich mit dem rechtfertigenden Notstand des § 34, der an die Stelle des früheren, gewohnheitsrechtlich entwickelten rechtfertigenden „übergesetzlichen Notstands" getreten ist, hat das 2. StrRG im Anschluß an § 39 E 1962 und § 15 AE gesetzgeberisches Neuland betreten. Da das Gesetz, wie ausgeführt, auch in seiner Neufassung durch das 2. StrRG eine in sich geschlossene Systematik vermissen läßt, wurden die dogmatischen Grundlagen bereits in den Vorbemerkungen vor § 1 dargelegt, und zwar der Verbrechensaufbau in Abschn. B II, die Rechtfertigungsgründe in Abschn. B VI 3-5, die Schuldausschließungsgründe in Abschn. B VII 2, 3, die persönlichen Strafausschließungsgründe in Abschn. D und die Prozeßvoraussetzungen sowie Prozeßhindernisse in Abschn. F. II. Die im Strafgesetzbuch enthaltenen Rechtfertigungsgründe (Notwehr, rechtfertigender Notstand, Wahrnehmung berechtigter Interessen bei den Tatbeständen der Beleidigung, die einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigenden Indikationen sowie die rechtfertigende Einwilligung in eine Körperverletzung) werden bei der Kommentierung der jeweiligen Gesetzesstelle erörtert (vgl. §§ 32, 34, 193, 218 a, 226 a). Ausführungen über das Züchtigungsrecht finden sich in Anm. III zu § 223. Von besonderer Bedeutung sind außerdem die Notstandsrechte des BGB (§§ 228, 904), das Selbsthilferecht gemäß § 229 BGB, die Einwilligung des Verletzten, soweit sie nicht schon in § 226 a erfaßt ist, 169
Vor § 32
Zweiter Abschnitt: Die Tat
femer die mutmaßliche Einwilligung und das Handeln im Interesse des Verletzten. Diese Rechtfertigungsgründe werden im folgenden behandelt. 1. Nach § 228 BGB (sog. Verteidigungsnotstand) handelt nicht rechtswidrig, wer eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, um eine durch sie drohende Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, wenn a) die Beschädigung oder Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und b) der Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht. Beispiel: A sieht, wie ein bissiger Hund ein kleines Kind anfällt. Er ergreift einen Stock und schlägt auf den Hund ein, wobei er ihn erheblich verletzt. 2. Nach § 904 BGB (sog. aggressiver Notstand) ist gerechtfertigt, wer auf eine fremde Sache einwirkt, wenn a) die Einwirkung zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr notwendig und b) der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist. Als Einwirkung gilt nicht nur die Beschädigung oder Zerstörung der Sache, sondern auch deren Wegnahme. Beispiel: A reißt eine Zaunlatte los, um sich gegen einen Hund verteidigen zu können. Schlägt er den Hund tot, so ist die Tötung des Hundes gemäß § 228 BGB und die Beschädigung des Zauns gemäß § 904 BGB gerechtfertigt. 3. § 229 BGB gibt bei Fehlen obrigkeitlicher Hilfe folgende Selbsthilferechte: a) Wegnahme oder Beschädigung von Sachen, b) Festnahme eines fluchtverdächtigen Schuldners, c) Brechung von Widerstand gegen eine Handlung, die der andere zu dulden verpflichtet ist. Beispiele: Der Gastwirt G hält gewaltsam einen Zechpreller fest. - Oder: Ein Arzt, dessen Wagen streikt, nimmt gewaltsam den Wagen des X weg, um damit einen Schwerverletzten in die nächste Klinik zu bringen. Siehe ferner die sich aus den §§ 561, 859, 860 BGB ergebenden Selbsthilferechte des Vermieters, des Besitzers und des Besitzdieners. 4. Die Einwilligung des Verletzten kann sowohl tatbestandsausschließende als auch rechtfertigende Wirkung haben. a) Tatbestandsausschließende Wirkung hat die Einwilligung in den Fällen, in denen der entgegenstehende Wille des Verletzten geschriebenes öder ungeschriebenes Merkmal des obj. Tb. ist. So ist schon der Tb. des § 123 nicht erfüllt, wenn A den B zu sich in die Wohnung bittet und B dieser Einladung folgt. Von einem „Eindringen" kann hier nicht gesprochen werden. Entsprechendes gilt bei Nötigung (§ 240) und Erpressung (§ 253), aber auch bei der Vergewaltigung (§ 177), bei Diebstahl (§ 242) und unbefugtem Gebrauch von Fahrzeugen (§ 248 b) sowie bei der Verletzung fremden Jagdrechts (§ 292). In all diesen Fällen wird die tatbestandsausschließende Zustimmung im neueren
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Vierter Titel: Notwehr und Notstand
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Schrifttum im Anschluß an Geerds (Einwilligung und Einverständnis des Verletzten im Strafrecht, GA 1954, 262) üblicherweise als Einverständnis bezeichnet (vgl. z. B. Bockelmann AT 102; Geppert ZStW 84, 947; Jescheck AT 276; Lackner 2 a, aa vor § 32; Wessels AT 63). Dieses Einverständnis hat - insoweit abweichend von der rechtfertigenden Einwilligung - rein tatsächlichen Charakter. Der Tb. entfällt deshalb auch dann, wenn derjenige, der die Zustimmung erteilt, mangels Verstandesreife oder aufgrund sonstiger Willensmängel die Tragweite seiner Entscheidung nicht erfaßt (vgl. BGH 23, 1; h. L.). Aus der tatbestandsausschließenden Wirkung des Einverständnisses folgt weiter: irrige Annahme seines Vorliegens führt zu vorsatzausschließendem Tb.-Irrtum (§ 16), irrige Unkenntnis seines tatsächlichen Vorliegens begründet Versuch (§ 22). b) Rechtfertigende Wirkung hat die Einwilligung, wenn sie nicht schon den Tatbestand entfallen läßt (s. o. lit. a) und außerdem folgende Voraussetzungen gegeben sind: aa) Der Verzicht auf das geschützte Rechtsgut muß rechtlich zulässig sein. Dies setzt voraus, daß der Einwilligende befugt ist, über das geschützte Rechtsgut zu verfügen. Unbeachüich ist die Einwilligung deshalb bei vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung (arg. aus § 216), bei allen Delikten, die dem Schutz des Einwilligenden dienen (vgl. z. B. §§ 174 ff., 302 a), sowie bei allen Tatbeständen, die nicht ausschließlich den Schutz von Individualrechtsgütern bezwecken. Letzteres ist z. B. bei der falschen Verdächtigung (§ 164) der Fall, da diese sich rechtsgutmäßig nicht nur gegen den Denunzierten, sondern auch gegen die staatliche Rechtspflege richtet (vgl. BGH 5, 66). Entsprechendes gilt für die Einwilligung im Rahmen des § 315 c (vgl. BGH 23, 261 sowie § 31'5 c Anm. III 8). Demgegenüber kann die Einwilligung beachtlich sein bei Unterschlagung und Sachbeschädigung, bei den Beleidigungstatbeständen (§§ 185 ff.), bei den Indiskretionsdelikten (§§ 201 ff.) sowie bei der Körperverletzung, für die § 226 a eine Sonderregelung enthält. bb) Der Einwilligende muß die erforderliche Einsichtsfähigkeit besitzen, d. h. aufgrund seiner geistigen und sittlichen Entwicklung in der Lage sein, die Bedeutung und Tragweite des von ihm - ausdrücklich oder konkludent - erklärten Rechtsgutverzichts zu erkennen (vgl. BGH 4, 88, 8, 357 f.; 12, 379). Hieran kann es vor allem bei Kindern, Jugendlichen, Betrunkenen und Geisteskranken fehlen. Unerheblich ist jedoch, ob der Einwilligende zivilrechtlich voll geschäftsfähig ist (vgl. BGHZ 29,33; h. L.). Entscheidend ist allein, daß die Zustimmung zu dem Angriff auf das geschützte Handlungsobjekt Ausdruck der anzuerkennenden persönlichen Entscheidungsfreiheit des Rechtsgutinhabers ist (vgl. Jescheck AT 283 m. weit. Nachw.). cc) Die Einwilligung muß frei von Willensmängeln sein (BGH 16, 309 f.). Hieran fehlt es, wenn sie durch Gewalt oder Drohung abgenötigt oder durch Täuschung erschlichen worden ist (BGH 4,113, 118;h. L., vgl. Jescheck AT 284 m. weit. Nachw.). dd) Umstritten ist, ob die rechtfertigende Wirkung der Einwilligung in entsprechender Anwendung der in § 226 a enthaltenen Sonderregelung dann entfällt, wenn die Tat gegen die guten Sitten verstößt, d. h. „dem sittlichen Empfinden eines gerecht Denkenden" zuwiderläuft (BGH 4, 32, 88, 91). Beispiel: A steckt mit Einwilligung des F dessen gegen Feuersgefahr versicherte Feldscheune in Brand, um dem F die Versicherungssumme zukommen zu lassen. Im Gegensatz zur früher h. L. lehnt eine immer mehr im Vordringen begriffene Ansicht die entsprechende Anwendung des § 226 a in solchen Fällen mit der zutreffenden Begründung ab, daß die grundsätzlich anerkannte Entscheidungsfreiheit des Rechtsgutträgers nur dort eingeschränkt werden darf, wo der Gesetzgeber dies
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ausdrücklich vorsieht (vgl. Arzt, Willensmängel bei der Einwilligung, 1970, S. 36 f.; Jescheck AT 280 f.; Noll ZStW 77, 21; Lenckner in Schönke-Schröder 37 vor §32; Wessels AT 65). Ist die Tat sittenwidrig, so finden sich oft auch noch andere Tatbestände, die in der Lage sind, den Unrecht^gehalt der Tat befriedigend zu erfassen. So könnte in dem oben gebrachten Beispiel A wegen Versicherungsbetrugs (§ 265) sowie wegen Beihilfe zum Betrug des F bestraft werden, falls F den Schaden gemeldet und die Versicherungssumme ausbezahlt bekommen hätte. ee) Auch bei fahrlässigen Delikten kann sich die Einwilligung des Verletzten als Rechtfertigungsgrund auswirken. In diesen Fällen will der Einwilligende zwar nicht den Erfolg, er nimmt aber das Risiko seines Eintritts in Kauf (vgl. § 226 a Anm. 3 a, d m. weit. Nachw.). ff) Auf der subj. Tatseite ist folgendes zu beachten: Fehlt die Einwilligung, nimmt der Täter aber irrig Umstände an, bei deren Vorliegen er durch Einwilligung gerechtfertigt gewesen wäre, so kommt eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tatbegehung nicht in Betracht (Einzelheiten s. § 16 Anm. 3 e). In Betracht kommt nur Bestrafung wegen fahrlässiger Tatbegehung, sofern diese mit Strafe bedroht ist und der Irrtum auf Fahrlässigkeit beruhte. Ein den Vorsatz und die Vorsatzstrafe nicht berührender Verbotsirrtum liegt dagegen vor, wenn der Täter in Kenntnis aller den materiellen Unrechtsgehalt der Tat begründenden Tatumstände einer tatsächlich vorliegenden Einwilligung eine rechtfertigende Wirkung beimißt, die sie rechtlich nicht haben kann, z.B. wenn jemand mit einem 13jährigen Mädchen sexuelle Handlungen vornimmt in der irrigen Vorstellung, das Einverständnis des Kindes schließe jede strafrechtliche Erheblichkeit seines Verhaltens aus. Handelt der Täter umgekehrt in Unkenntnis einer objektiv vorliegenden, strafrechtlich auch relevanten Einwilligung, so liegt nur Versuch vor: Die Tat zeichnet sich nicht durch ihren Erfolgswert, sondern ausschließlich durch ihren Handlungsunwert aus (h. L., vgl. Bockelmann AT 104; Jescheck AT 284; Wessels AT 65). 5. Der Einwilligung gleichgestellt ist die mutmaßliche Einwilligung. Diese bewirkt einen Ausschluß der Rechtswidrigkeit, wenn der Verletzte wegen Krankheit, Abwesenheit oder aus sonstigen Gründen die Einwilligung nicht erteilen kann, ein „verständiger Mensch" in seiner Lage sie jedoch bei objektiver Würdigung aller Umstände mit Sicherheit erteilen würde. a) Das Handeln im Interesse des Verletzten stellt dabei den wichtigsten Unterfall der mutmaßlichen Einwilligung dar. Beispiele: A schlägt die Wohnungstür des B ein, um diesen vor dem drohenden Gastod zu bewahren. - Oder: A dringt bei einem Rohrbruch in das Haus des auf Reisen befindlichen B ein, um zu verhindern, daß dessen Kellergeschoß überflutet wird. Auch in diesen Fällen tritt eine Rechtfertigung nur ein, wenn man bei objektiver Beurteilung die Einwilligung des Verletzten unterstellen kann. Oder: Operation eines bewußtlos in die Klinik eingelieferten Schwerverletzten. In allen Fällen, in denen die Einwilligung des Verletzten nach objektivem Urteil zu erwarten war, ist es für die Rechtfertigung unerheblich, ob der Verletzte dann später auch tatsächlich einverstanden ist. Etwas anderes gilt nur, wenn der entgegenstehende Wille des Verletzten dem Täter im Zeitpunkt der Tat aus irgendwelchen Umständen bereits bekannt war. b) Die zweite Untergruppe erfaßt die Fälle, bei denen es an einem schutzwürdigen Erhaltungsinteresse des Verletzten fehlt und seine Einwilligung bei Würdigung aller Umstände
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Vierter Titel: Notwehr und Notstand
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auch ohne vorherige Befragung unterstellt werden darf (sog. Prinzip des mangelnden Interesses, vgl. Lackner 6 vor § 32; Roxin, Welzel-Festschr. S. 447; Wessels AT 66). Beispiele: Ein Vertreter, dem sein gesamtes Bargeld entwendet worden ist und der keine Möglichkeit hat, sich mit seinem Geschäftsherrn in Verbindung zu setzen, verkauft die ihm anvertraute Musterkollektion, um die Hotelkosten für sich und seine Untervertreter bezahlen zu können. - Oder: Eine Gruppe Jugendlicher liest in einer obstreichen Gegend bei einem Klassenausflug Fallobst auf. - Oder: Eine Hausangestellte gibt einem Bettler einen Teller Suppe. c) Keine rechtfertigende Wirkung tritt ein, wenn dem Täter aufgrund ihm allgemein erteilter Weisung oder aus einem früheren, ähnlich gelagerten Fall bekannt ist, daß der Verletzte mit der Vornahme der Handlung keinesfalls einverstanden wäre, z. B. wenn nach einem Verkehrsunfall die Angehörigen eines Verletzten, der bewußtlos in die Klinik gebracht wird, dem Arzt mitteilen, daß der Verletzte aus religiöser Überzeugung jeden operativen Eingriff und jede Bluttransfusion ablehnt oder wenn in dem unter b) gebrachten Beispiel die Hausangestellte genau weiß, daß der Haushaltsvorstand und seine Ehefrau jegliche Unterstützung von Bettlern prinzipiell ablehnen. d) Aus dem neueren Schrifttum siehe insbesondere Roxin, Uber die mutmaßliche Einwilligung, Welzel-Festschr. S. 447. 6. Die Einhaltung des erlaubten Risikos schließt in der Regel nicht erst die Rechtswidrigkeit, sondern bereits die Tatbestandsmäßigkeit aus. Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen sich jemand sozialadäquat verhält, indem er die im Verkehr gebotene Sorgfalt beachtet (vgl. Bockelmann AT 106; Geppert ZStW 83, 947, 995; Jescheck AT 298). So entfällt z. B. mangels Außerachtlassung der objektiv im Verkehr erforderlichen Sorgfalt schon der Tb. des § 230, wenn jemand als Kraftfahrer ein Kind verletzt, das ihm hinter einem geparkten Lkw hervorkommend von rechts in die Fahrbahn gelaufen ist und das er vorher nicht sehen konnte. Anders zu beurteilen sind nur die Fälle, in denen jemand eine ausgesprochen gefährlich erscheinende und deshalb grundsätzlich verbotene Handlung vornimmt, dabei aber einen anerkannten Zweck in erlaubter Weise verfolgt. Hierher gehört z. B. die in § 193 als besonderer Rechtfertigungsgrund geregelte Wahrnehmung berechtigter Interessen durch Behauptung oder Verbreitung rufgefährdender Tatsachen. Hierher gehören aber auch bestimmte riskante Rettungshandlungen (vgl. BGH bei Daliinger MDR 1971, 361 sowie Jescheck AT 299 m. weit. Nachw.). Beispiel: Ein Landarzt nimmt eine komplizierte Entbindung in einem abgelegenen Bauernhof vor, da ein Transport der jungen Frau in die Klinik mit Rücksicht auf den langen Weg und die schlechten Wegverhältnisse nicht mehr in Frage kommt. Gelingt es dem Arzt infolge seiner fehlenden Spezialausbildung und mangelnden Ausrüstung nicht, das Leben der jungen Frau zu retten, so handelt er zwar tatbestandsmäßig, aber nicht rechtswidrig, da die vorgenommene Hausentbindung mit Rücksicht auf die Dringlichkeit der Maßnahme und die widrigen Begleitumstände zwar riskant, im Interesse des gefährdeten Rechtsguts aber unbedingt geboten erschien (vgl. Jescheck AT 299).
III. Die gesetzlichen Schuldausschließungsgründe (Schuldunfähigkeit, unvermeidbarer Verbotsirrtum, schuldausschließender Notwehrexzeß und entschuldigender Notstand) werden bei der jeweiligen Gesetzesstelle erörtert (§§ 17, 20, 33, 35). Sie haben alle gemeinsam, daß sie Situationen berücksichtigen, in denen dem Täter rechtmäßiges Verhalten nicht zugemutet werden kann oder in denen man dem Täter aus anderen Gründen 173
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
keinen Vorwurf daraus machen kann, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten hat (Schuld = Vorwerfbarkeit). Dieser Grundgedanke führte nicht nur zur Entwicklung des inzwischen durch das 2. StrRG in § 17 auch gesetzlich anerkannten Verbotsirrtums, sondern auch zur Anerkennung des übergesetzlichen Schuldausschließungsgrunds der schuldausschließenden Pflichtenkollision (vgl. Bockelmann AT 126 f.; ders., Strafrechtliche Untersuchungen, 1957, S. 84 ff.; Gallas, Mezger-Festschr. S. 311 ff., 332; Eb. Schmidt, SJZ 1949, 559; Welzel 184 f.; krit. dazu Henkel, Mezger-Festschr. S. 249 ff.; zum Ganzen siehe auch Arthur Kaufmann, Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, MaurachFestschr. S. 327; Küper, Rechtfertigender Notstand, Pflichtenkollision und übergesetzliche Entschuldigung, JuS 1971, 474; Mangakis, Die Pflichtenkollision als Grenzsituation des Strafrechts, ZStW 84, 447; Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 2. Aufl. 1974; Welzel, Anm. zu OGH BZ 1, 321, MDR 1949, 373; ders., Zum Notstandsproblem, ZStW 63, 47; Wittig, Der übergesetzliche Schuldausschließungsgrund der Unzumutbarkeit in verfassungsrechtlicher Sicht, JZ 1969,546). 1. Eine derartige Pflichtenkollision kommt dann in Betracht, wenn der Täter sich in der Zwangslage befindet, mehrere gleichwertige Pflichten erfüllen zu müssen, von denen er aber nur jeweils eine erfüllen kann. Beispiel: Ein Arzt wird zu zwei Schwerverletzten gerufen, kann aber nur einen versorgen, während der andere verbluten muß. - Oder: Ein Vater sieht, wie seine Kinder X und Y ins Wasser fallen. Er kann nur X retten, dem er sich zuerst zugewendet hatte, Y ertrinkt. In diesem Zusammenhang gehören auch die sog. Euthanasiefälle, die sich zu Beginn des 2. Weltkriegs ereigneten und nach Kriegsende zur gerichtlichen Entscheidung gestellt wurden (vgl. OGH BZ 1, 321, 336; 2,117,122; BGH NJW 1953,513). In all diesen Fällen kommt eine Berufung auf rechtfertigenden Notstand nicht in Betracht, da § 34 voraussetzt, daß das geschützte Rechtsgut das beeinträchtigte „wesentlich überwiegt". Hiervon kann in den beiden ersten Beispielfällen ganz offensichtlich keine Rede sein. Aber auch die in den Euthanasieverfahren angeklagten Anstaltsärzte konnten sich nicht mit rechtfertigender Wirkung darauf berufen, sie hätten durch die Opferung der von ihnen ausgewählten hoffnungslosen Fälle das Leben vieler anderer geisteskranker Patienten gerettet. Wenn es um Menschenleben geht, ist eine quantitative Güterabwägung ebenso ausgeschlossen wie eine qualitative. Trotzdem muß eine Lösung gefunden werden, die für die beteiligten Personen, die sich in einer unlösbaren Pflichtenkollision befinden, zu Straflosigkeit führt. Während die Rspr. in den Euthanasiefällen die Lösung teils über den Verbotsirrtum gesucht (vgl. BGH NJW 1953, 513), teils einen persönlichen Strafausschließungsgrund angenommen hat (vgl. OGH BZ 1, 321, 335; 2, 117, 126; zustimmend Peters JR 1949, 496; Oehler JR 1951, 489), nimmt die h. L. im Schrifttum zu Recht einen übergesetzlichen Schuldausschließungsgrund an, wenn die Handlung das einzige Mittel war, um noch größeres Unheil zu verhüten, und der Täter in Verfolgung seines Rettungszwecks das geringere Übel gewählt hat (vgl. Baumann AT 474; Jescheck AT 272, 378; Arthur Kaufmann aaO. 336 ff.; Welzel 185, Wessels AT 80). Eine Mindermeinung versucht demgegenüber, Fälle dieser Art nicht erst im Schuldbereich, sondern bereits auf der Unrechtsebene zu lösen (vgl. Bockelmann GA 1959, 271; Mangakis aaO.). Nach Blei (AT 187 f.) kann in solchen Situationen, in denen „das Recht nicht mehr befehlen kann", die Handlung weder als rechtmäßig noch als rechtswidrig bezeichnet werden, wobei dann allerdings offen bleibt, ob der durch eine solche Handlung in seinen Rechten Verletzte sich in einer Notwehrsituation befindet oder ob er sich im Falle der Verteidigung nur auf schuldausschließenden Notstand berufen kann. 174
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2. Die Wahl des kleineren Übels entschuldigt auch dann, wenn der Täter sich zwar nicht in einer Pflichtenkollision i. e. S. befindet (d. h. zum Handeln rechtlich verpflichtet ist), sondern aus einer sonstigen Konfliktssituation heraus schicksalhaft in einen Geschehnisablauf eingreift, um größeres Unheil zu verhindern. Beispiel: A kann den in Bergnot geratenen B nur dadurch retten, daß er das Seil kappt, durch das B mit dem weiter unten hängenden C verbunden ist. Er nimmt dabei in Kauf, daß C nunmehr tödlich abstürzt, handelt aber trotzdem, weil ohne sein Eingreifen wenig später auch B verloren gewesen wäre. A war in diesem Fall zwar nicht berechtigt, dem Schicksal in der Weise vorzugreifen, daß er den C zugunsten des gleichfalls gefährdeten B vorzeitig opfert. Er hat aber dadurch, daß er wenigstens B gerettet hat% das kleinere Übel gewählt und deshalb nicht schuldhaft gehandelt (vgl. Gallas, Mezger-Festschr. S. 327; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 27; Maurach-Zipf AT I 468f., 475; Samson SK § 34 Rn. 20; Welzel 185; Wessels AT 58). Die Frage, ob A gerechtfertigt oder nur entschuldigt ist, kann insbesondere für die Notwehrprobe von Bedeutung sein: Wollte man das Eingreifen des A als gerechtfertigt ansehen, so wäre C seinerseits nicht berechtigt, sich gegen A zur Wehr zu setzen. Auch Dritte dürften nicht zugunsten des C in den Geschehnisablauf eingreifen. 3. Befindet sich der Täter in keiner Pflichtenkollision und wählt er durch sein Eingreifen auch nicht das kleinere Übel, so ist er weder gerechtfertigt noch entschuldigt, wenn er die Gefahr lediglich von einem Rechtsgut auf das andere ablenkt. Beispiel: A sieht, wie bei einem Schiffbruch B und C um eine rettende Planke kämpfen. Der Ausgang des Kampfes ist ungewiß. Wenn A den Kampf dadurch beendet, daß er den B mit einer Pistole niederstreckt, so ist er weder gerechtfertigt noch entschuldigt. Rechtfertigende Nothilfe entfällt, da sowohl B als auch C durch ihre beiderseits vorgetragenen Angriffe rechtswidrig handeln; Schuldausschluß entfällt, da A sich weder in einer Pflichtenkollision befand noch das kleinere Übel wählte. Die Schuld entfiele nur dann, wenn C ein Angehöriger des A wäre (dann § 35) oder wenn ohne das Eingreifen des A sowohl B als auch C umkommen müßten. In diesem letzteren Fall hätte A das kleinere Übel gewählt (s. o. 2). 4. Auch wenn die mangelnde Zumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens die primäre Basis aller gesetzlichen Schuldausschließungsgründe (§§ 17, 19, 20, 33, 35) darstellt, wäre es doch verfehlt, die Unzumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens als allgemeinen übergesetzlichen Schuldausschließungsgrund anzuerkennen (h. L., vgl. .lescheck AT 379; MaurachZipf AT I 466; a. A. Lücke JR 1975, 55 und Wittig JZ 1969, 456). Wollte der Gesetzgeber nämlich eine so weitgehende Regelung in dieser allgemeinen Form, so wären gesetzliche Sonderregelungen, wie sie sich z. B. in § 258 Abs. 5 und Abs. 6 finden, unverständlich, da überflüssig. Auch die eng begrenzte Neufassung der Notstandsregelung in § 35 zeigt eindeutig, daß für einen allgemeinen Schuldausschließungsgrund der Unzumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens kein Raum sein kann. Besonderheiten sind lediglich bei den unechten Unterlassungsdelikten (siehe hierzu § 13 Anm. VI 4) sowie bei den Fahrlässigkeitsdelikten zu beachten. Im Rahmen dieser beiden Fallgruppen wird heute allgemein anerkannt, daß die Unzumutbarkeit als „regulatives Prinzip" (vgl. Jescheck A T 380) den Strafbarkeitsbereich einschränkt, ohne daß man jedoch bereits von einem allgemeinen übergesetzlichen Schuldausschließungsgrund sprechen kann. Beispiele: Der Landarbeiter A brennt auf Geheiß seines Arbeitgebers in der Nähe eines Getreidespeichers altes Gestrüpp nieder. Er weiß, daß dies nicht ungefährlich ist, wagt aber keine Einwendungen, da er fürchtet, seine Stellung zu verlieren. Im übrigen vertraut 175
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
er darauf, daß es zu keinem Unglück kommt. Fängt der Getreidespeicher dann trotz aller Vorsichtsmaßnahmen Feuer, so hängt die Frage der Zumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens und damit die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Brandstiftung gemäß § 309 davon ab, wie groß einerseits die drohende Gefahr der Entlassung und andererseits die Brandgefahr war. Hierbei sind alle Umstände des Einzelfalls zu würdigen. - Oder: Ein Kraftfahrer, der sich mit einem offensichtlich fahruntüchtigen Lastzug in den Verkehr begibt und infolge Versagens der Bremsanlage einen tödlichen Unfall verschuldet, kann sich zu seiner Entschuldigung nicht darauf berufen, er habe seinen Arbeitgeber zwar auf den Zustand des Fahrzeugs hingewiesen, dieser habe aber eine Reparatur aus finanziellen Gründen abgelehnt und ihm mit Entlassung gedroht, falls er die Fahrt nicht ausführte. Die Gefahr der Entlassung ist nicht so schwerwiegend zu beurteilen wie die Gefahr, die von einem verkehrsuntüchtigen Lastzug ausgeht. - Siehe auch RG 30, 25 („Leinenfängerfall").
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Notwehr
(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. (2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden. I. Die Neufassung der Vorschrift durch das 2. StrRG enthält gegenüber der früheren Regelung in § 53 sachlich keine wesentlichen Änderungen, stellt jedoch klar, daß es sich bei der Notwehr um einen Rechtfertigungsgrund handelt. Die Anerkennung als Rechtfertigungsgrund beruht auf der Erwägung, daß das Recht dem Unrecht nicht weichen muß. Wer sich oder einen anderen einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff ausgesetzt sieht, darf alle Maßnahmen ergreifen, die erforderlich und geboten sind, um den Angriff abzuwehren. Aus dem neueren Schrifttum siehe insbesondere Baumann, Notwehr im Straßenverkehr?, NJW 1961, 1745; - ders., Rechtsmißbrauch bei Notwehr, MDR 1962, 349; - Bertel, Notwehr gegen verschuldete Angriffe, ZStW 84, 1; - Bockelmann, Menschenrechtskonvention und Notwehrrecht, Engisch-Festschr. S. 456; - ders., Notwehr gegen verschuldete Angriffe, Honig-Festschr. S. 19; - Gallas, Anm. zu OLG Stgt v. 21. 4. 1948, DRZ 1949, 43; - Gutmann, Die Berufung auf das Notwehrrecht als Rechtsmißbrauch?, NJW 1962, 286; - Kratzsch, Grenzen der Strafbarkeit im Notwehrrecht, 1968; - ders., § 53 StGB und der Grundsatz nullum crimen sine lege, GA 1971, 65; - Krüger, Die Bedeutung der Menschenrechtskonvention für das Deutsche Notwehrrecht, NJW 1970, 1483; Lenckner, Notwehr bei provoziertem und verschuldetem Angriff, GA 1961, 299; - ders., „Gebotensein" und „Erforderlichkeit" der Notwehr, GA 1968, 1; - Roxin, Die provozierte Notwehrlage, ZStW 75, 541; - Rudolphi, Notwehrexzeß nach provoziertem Angriff, JuS 1969, 461; - R. Schmidt, Der rechtswidrige Angriff bei der Notwehr, NJW 1960, 1706; - Schröder, Anm. zu BGH NJW 1962, 308, JR 1962, 187; - ders., Anm. zu BGH 24, 356, JuS 1973, 157; - Fr.-Chr. Schroeder, Die Notwehr als Indikator politischer Grundanschauungen, Maurach-Festschr. S. 127; - Seelmann, Grenzen privater Nothilfe, ZStW 89, 36; - Stree, Rechtswidrigkeit und Schuld im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1973, 461; - Suppert, Studien zur Notwehr und notwehrähnlichen Lagen, 1973. 176
Vierter Titel: Notwehr und Notstand
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II. Die Voraussetzungen im einzelnen: 1. Die Notwehrsituation a) Notwehrfähig ist jedes Rechtsgut, also nicht nur Leib und Leben, sondern auch Vermögen, Eigentum, Freiheit, femer der Anspruch auf Gemeingebrauch und der Anspruch auf Integrität der Intimsphäre. So ist z. B. eine Frau, die in ihrer Wohnung beim Baden oder bei ihrer Toilette von einem sog. Spanner belästigt wird, berechtigt, diesen - notfalls mit Gewalt - zu vertreiben. An einer rechtlich geschützten Intimsphäre fehlt es jedoch, wenn sich ein Liebespaar in einem öffentlichen Park beim Liebesspiel beobachtet fühlt (vgl. BayObLG NJW 1962, 1782 m. Anm. Erdsiek NJW 1962, 2242). Auch heimliche Film- und Fotoaufnahmen können allgemeine Persönlichkeitsrechte des Abgebildeten verletzen (BGHZ 24, 200, 208). Keine die Wegnahme der Fotoausrüstung rechtfertigende Notwehrsituation liegt jedoch vor, wenn Polizeibeamte einen Demonstrationszug fotografieren, um mit Hilfe der Lichtbilder die unbekannten Täter früherer Straftaten zu ermitteln (BGH NJW 1975, 2075 m. Anm. Schmidt JZ 1976, 32) oder um bei etwaigen Ausschreitungen die Täter identifizieren zu können. Notwehrfähig ist schließlich auch das Recht des DDR-Bürgers auf Freizügigkeit (Fr.-Chr. Schroeder JZ 1974, 114), was ihn allerdings nicht ohne weiteres berechtigt, sich den Fluchtweg ohne Rücksicht auf Verluste freizuschießen (Hamm JZ 1976, 610). Rechtsgüter, die dem Staat in seiner Eigenschaft als Träger der Staatshoheit zustehen, sind für den einzelnen Staatsbürger grundsätzlich nicht notwehrfähig. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß der Staat sich die Wahrung der öffentlichen Ordnung selbst vorbehalten hat (BGH 5, 247 im sog. Sünderinnenfall; Stgt NJW 1966, 748; h. L., vgl. Baumann NJW 1961, 1745; Bockelmann AT 92; Jescheck AT 253; Lenckner in Schönke-Schröder Rn. 6 ff.; Wessels AT 61). Der einzelne Bürger ist also nicht befugt, sich als „Hilfspolizist" zu betätigen und - notfalls mit Gewalt - dafür zu sorgen, daß z. B. die Verkehrsregeln eingehalten und keine jugendgefährdenden Schriften verkauft werden (BGH NJW 1975, 1161). Auch die sog. Staatsnotwehr ist als Rechtfertigungsgrund grundsätzlich abzulehnen, solange die hierfür zuständigen staatlichen Organe noch funktionsfähig sind (sehr bestr., übereinstimmend Jescheck AT 253 m. Nachw.). b) Angriff ist jede Handlung, die auf die Verletzung eines Rechtsguts hinzielt. Der Angriff kann auch in einem pflichtwidrigen Unterlassen bestehen, z. B. wenn eine Mutter es versäumt, ihrem Kind ausreichende Nahrung zukommen zu lassen. Bei Angriffen, die von einem Tier ausgehen, ergibt sich die Zulässigkeit der Verteidigung nur dann aus § 32, wenn das Tier von einem Menschen zum Angriff gehetzt worden ist. Im übrigen richtet sich die Zulässigkeit der Abwehr jedoch nach § 228 BGB (vgl. II 1 vor § 32) oder nach § 34 (rechtfertigender Notstand). c) Gegenwärtig ist jeder Angriff, der gerade stattfindet oder unmittelbar bevorsteht (RG 53, 133; 55, 84; 67, 337, 339; BGH NJW 1973, 255; h. L., vgl. Jescheck AT 254; Maurach-Zipf AT I 380). Wielange ein Angriff noch als gegenwärtig angesehen werden kann, ist Tatfrage. So ist keine Notwehr mehr möglich, wenn A dem B eine Ohrfeige gegeben hat und weitere Schläge nicht zu befürchten sind. Schlägt B zurück, so kann er sich nicht auf § 32 berufen (siehe jedoch § 233). Der Angriff des A war bereits beendet. Die rechtliche Vollendung des Tatbestands und die tatsächliche Beendigung des Angriffs, auf die es entscheidend ankommt, fallen hier zusammen. Anders beim Diebstahl. Dieser ist zwar mit der Wegnahme rechtlich vollendet. Tatsächlich beendet ist er aber erst, wenn es dem Täter gelungen ist, die entwendete Sache aus dem Herrschaftsbereich des
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Geschädigten wegzuschaffen und seinen eigenen Gewahrsam zu sichern. Solange ist Notwehr zulässig. Wer also einen Dieb auf frischer Tat beobachtet, ist berechtigt, ihn zu verfolgen und ihm, notfalls mit Gewalt, die Beute wieder abzunehmen (vgl. RG 55, 82). Trifft der Geschädigte dagegen den Dieb erst wieder nach 4 Wochen mit der bei der Tat erbeuteten Sache, so kann das Recht zur Wegnahme nur aus den Bestimmungen über das Selbsthilferecht (§§ 229, 230,859 BGB) abgeleitet werden. Siehe hierzu Vorbem. II 4. d) Rechtswidrig ist jeder Angriff, der der materiellen Rechtsordnung widerspricht und den der Angegriffene daher nicht dulden muß. Nur ein Mensch kann rechtswidrig handeln. Uber die Abwehr von Tierangriffen s. o. lit. b. Unerheblich ist, ob ein rechtswidriger Angriff einen Straftatbestand erfüllt und ob der Angreifer schuldhaft handelt. Grundsätzlich zulässig ist deshalb auch Notwehr gegen Angriffe von Kindern, Geisteskranken und Betrunkenen (RG 27, 44 f.; BGH 3, 217 f.; h. L., vgl. Jescheck AT 254; einschränkend Bertel ZStW 84,1, 11; Schmidhäuser, HonigFestschr. S. 193 ff.; zum Ganzen siehe auch unten Anm. 6). 2. Die Verteidigungshandiung muß zur Abwehr des Angriffs objektiv erforderlich sein. Die Erforderlichkeit richtet sich nach den besonderen Umständen des Einzelfalls. Entscheidend sind dabei die Stärke und Hartnäckigkeit des Angriffs sowie die Mittel, die dem Angegriffenen zur Verfügung stehen. Bei mehreren wirksamen Mitteln ist grundsätzlich das mildere zu wählen. Genügt z. B. ein Schreckschuß, um einen Einbrecher zu vertreiben, so ist ein gezielter Schuß unzulässig. Dem Angegriffenen ist jedoch grundsätzlich nicht zumutbar, sich im Rahmen seiner Abwehr auf einen Kampf einzulassen, dessen Ausgang ungewiß ist. Er darf vielmehr das Mittel wählen, das mit Gewißheit eine sofortige Beendigung des Kampfes gewährleistet (BGH GA 1969, 23). Aber auch dieser Grundsatz gilt nicht uneingeschränkt. Besonders bei einem Streit unter Ehegatten oder sonstigen nahen Angehörigen ist ein besonders strenger Maßstab an die Erforderlichkeit des Verteidigungsmittels anzulegen. Die Wahl eines möglicherweise tödlich wirkenden Abwehrmittels ist grundstätzlich auch dann nicht gerechtfertigt, wenn die Anwendung milderer Mittel die Beseitigung der Gefahr nicht oder nicht mit Sicherheit erwarten läßt (BGH NJW 1969, 802 betr. eine Ehefrau, die ihren Mann dadurch tötete, daß sie mit der Spitze ihres Schimms einen heftigen Stoß gegen seinen Kopf führte). Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Angreifer offensichtlich nach dem Leben trachtet oder der Angriff auch ohne entsprechenden Vorsatz des Angreifers lebensbedrohliche Ausmaße annimmt (BGH NJW 1975, 62). In diesem Fall hat der Angegriffene das volle Notwehrrecht (BGH aaO.; DeubnerNJW 1969,1184). 3. Subjektiv ist erforderlich, daß der Täter mit Verteidigungswillen handelt. Fehlt dieser, so kommt eine Rechtfertigung durch Notwehr selbst dann nicht in Betracht, wenn die Handlung objektiv erforderlich war, um den Angriff abzuwehren. Hierher gehören zwei Fallgruppen: a) Der Täter handelt in Unkenntnis der Notwehrsituation. Beispiel: A schießt B nieder, ohne zu wissen, daß dieser seinerseits gerade im Begriff ist, auf ihn zu schießen. b) Der Täter hat die Notwehrsituation absichtlich provoziert, um einen Anlaß zu haben, seinem Gegner zu schaden. Beispiel: A hänselt den B solange, bis dieser zum Messer greift und sich auf ihn stürzt. Genau das hat A gewollt. Er greift nunmehr zur Pistole und schießt B nieder.
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In beiden Fällen kommt eine Rechtfertigung nicht in Betracht. Fraglich ist nur, ob der Täter wegen eines vollendeten oder nur wegen eines versuchten Delikts zu bestrafen ist. Während im Falle a) mit Rücksicht auf den fehlenden Erfolgsunwert nur Versuch vorliegt, ist in der Fallgruppe b) wegen vollendeter Tatbegehung zu bestrafen. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß in den Fällen der Absichtsprovokation der Täter den Angriff des Gegners in der Hand hat, er also in Wirklichkeit selbst der Angreifer ist (vgl. BGH MDR 1954, 335; Neustadt NJW 1961, 2076). Ähnlich wie bei der actio libera in causa (siehe hierzu § 20 Anm. 6) ist ihm zum Vorwurf zu machen, daß er durch sein der späteren Abwehrhandlung vorausgegangenes Verhalten rechtswidrig und schuldhaft die Notwehrsituation überhaupt erst heraufbeschworen hat (sog. actio illicita in causa, vgl. Schröder JR 1962, 188; siehe auch unten Anm. 6). 4. Auch bei Fahrlässigkeitstaten kommt rechtfertigende Notwehr in Betracht, sofern die Abwehr objektiv erforderlich und subjektiv von einem Verteidigungswillen getragen war (BGH 25, 229; Hamm NJW 1962, 1169; Baldus LK 16, 23 zu § 53 aF; Bockelmann AT 157 f.). Beispiel: A will den Angreifer B durch einen Warnschuß abschrecken, verletzt ihn aber dabei aus Versehen am Bein. Ergibt sich nachträglich, daß ein gezielter Schuß zur Verteidigung objektiv erforderlich war, so ist A durch Notwehr gerechtfertigt. Subjektiv genügt, daß A den Schuß abgab, um sich zu verteidigen. Zum Ganzen siehe auch C 3 vor § 1. 5. Bei der Nothilfe (Verteidigung der Rechtsgüter eines Dritten) ist zu beachten, daß diese nicht gegen den Willen des Angegriffenen ausgeübt werden darf. Wenn der Verletzte den Angriff nicht abwehren will, steht auch einem anderen nicht das Recht zu, seine Hilfe aufzudrängen (vgl. BGH 5,245,247; Lacknter 2 e). 6. Das Recht zur Notwehr endet dort, wo sich seine Ausübung als Recbtsmißbrauch darstellt. Diese im Ergebnis heute nahezu unbestrittene Einschränkung des Notwehrrechts wird im Schrifttum teilweise damit begründet, daß die „erforderliche" Verteidigung zwar im Regelfall, jedoch nicht immer zugleich auch die „gebotene" Verteidigung sei (vgl. Baumann A T 319; Dreher 12,18; Himmelreich GA 1966,129; MDR 1967,361; Lackner 3; Wessels AT 61). Auch der BT-Sonderausschuß für die Strafrechtsreform hat nur unter diesem Aspekt an der sehr umstrittenen Gebotenheitsklausel festgehalten (vgl. S. 14 BT-Drucks. V/4095; kritisch hierzu Stree JuS 1973, 461 f.). Demgegenüber steht die Gegenmeinung auf dem Standpunkt, daß die Begriffe „erforderlich" und „geboten" nach der Gesetzesgeschichte dasselbe bedeuten (vgl. Baldus LK 29 zu § 53 aF; Blei AT 129; Bockelmann AT 96 sowie in Honig-Festschr. S. 24; Jescheck AT 256; MaurachZipf AT I 382), ihre Unterscheidung zumindest aber überflüssig sei (vgl. Lenckner GA 1968, 7 sowie in Schönke-Schröder 44). Die Frage bedarf indes keiner abschließenden Entscheidung, da man sich über die Erforderlichkeit sozialethischer Beschränkungen des Notwehrrechts in den in Frage stehenden Fallgruppen im wesentlichen einig ist (kritisch allerdings Kratzsch GA 1971, 75, der in dieser Entwicklung zu Unrecht einen Verstoß gegen Art. 103 II GG sieht). Sämtliche in Frage stehenden Fälle haben gemeinsam, daß die Verteidigung gegen einen rechtswidrigen Angriff in der konkreten Situation weder zum Schutz des bedrohten Rechtsguts noch zur Bewährung der Rechtsordnung unbedingt erforderlich ist (vgl. Bockelmann aaO.; Jescheck AT 257 f. m. weit. Nachw.). In Betracht kommen insbesondere folgende Fallgruppen: a) die Abwehr von Angriffen, die von Kindern, Betrunkenen, Geisteskranken oder sonst offensichtlich schuldlos handelnden Personen ausgehen. Hier ist es in der Regel möglich, 179
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dem Angriff, notfalls durch Flucht, auszuweichen. Die Flucht wird in diesen Fällen nicht als „schimpflich" angesehen und ist deshalb solange zumutbar, als die Gefahr des Angriffs durch sie risikolos abgewendet werden kann. So ist z. B. zumutbar, sich gegen Beleidigungen eines Betrunkenen nur mit Worten, nicht aber mit Tätlichkeiten zur Wehr zu setzen (BGH 3, 218; h. L.). Da die als Angreifer in Frage stehenden Personen ohnehin strafrechtlich nicht verantwortlich sind, verlangt auch die „Bewährung der Rechtsordnung" keine konsequente Abwehr des Angriffs. b) Auch bei der Abwehr provozierter Angriffe ist es dem Angegriffenen zunächst zuzumuten, dem Angriff, soweit möglich, auszuweichen oder sich mit einem möglichst ungefährlichen Verteidigungsmittel zu verteidigen. So kann sich insbesondere der lebensgefährdende Einsatz einer Waffe als Rechtsmißbrauch darstellen (BGH 26, 143 m. krit. Anm. Kratzsch NJW 1975, 1933). Auch darf nicht zur „Trutzwehr" übergegangen werden, solange auch „Schutzwehr" Aussicht auf erfolgreiche Verteidigung bietet (BGH 24, 356 m. zust. Anm. Roxin NJW 1972, 1821 und Schröder JuS 1973, 157). Andererseits ist der Angegriffene - ungeachtet der von ihm ausgegangenen Provokation - nicht verpflichtet, sich mißhandeln zu lassen. Er darf vielmehr, falls dies unumgänglich ist, notfalls sogar zum Messer oder einer sonstigen Waffe greifen (BGH aaO.). Allerdings ist dann unter dem Gesichtspunkt der sog. actio iilicita in causa weiter zu prüfen, ob der Angegriffene im Zeitpunkt der von ihm ausgegangenen Provokation die sich hieraus später ergebende Notwehrsituation mit ihren Folgen (Notwendigkeit, den provozierten Angreifer zu töten oder zu verletzen) hätte voraussehen können und müssen. Bei Bejahung dieser Frage ist der Angegriffene wegen fahrlässiger Tatbegehung zur Verantwortung zu ziehen, wenn ihm schließlich keine andere Wahl mehr bleibt, als den gereizten Angreifer niederzuschlagen. c) Entsprechend ist die Rechtslage, wenn der abzuwehrende Angriff zwar objektiv rechtswidrig ist, der Angegriffene aber zuvor in vorwerfbarer Weise den Angreifer in einen Irrtum über die Rechtswidrigkeit seines Angriffs versetzt hat (Hamm NJW 1977, 590). In diesen Fällen ist die Abwehr des Angriffes zumindest dann rechtswidrig, wenn die durch sie herbeigeführte Gefährdung des Angreifers in krassem Mißverhältnis zur Ranghöhe des angegriffenen Rechtsguts steht (Hamm aaO.). Beispiel: Ein Betriebsangehöriger, der durch ungewöhnliches Verhalten (Einladen von Kartons in seinen PKW) in den Verdacht des Diebstahls geraten ist und sich bei einer Kontrolle des Werkschutzes weigert, den Kofferraum seines PKW zu öffnen, darf sich weiteren Maßnahmen des Werkschutzes selbst dann nicht durch einen rasanten, das Leben der Kontrollperson gefährdenden Schnellstart entziehen, wenn die Kontrolle objektiv unzulässig war (Sachverhalt der Entscheidung des OLG Hamm). d) Einschränkungen unterliegt schließlich auch die Abwehr von Bagatellangriffen, insbesondere von Angriffen auf geringwertige Rechtsgüter. Beispiel: A kommt zufällig hinzu, wie die Jugendlichen X, Y und Z auf seinem abseits gelegenen Ackergrundstück Kirschen holen und trotz Abmahnung ihr Treiben fortsetzen. Selbst als A mit einer Schußwaffe droht und einen Schreckschuß abgibt, erntet er nur Hohngelächter, so daß er vor der Wahl steht, entweder scharf zu schießen oder zu resignieren. Eine Güterabwägung zwischen dem angegriffenen und dem durch die Verteidigung beeinträchtigten Rechtsgut ist zwar grundsätzlich nicht erforderlich (vgl. RG 55, 82 ff.; h. L.); Einschränkungen des Notwehrrechts sind deshalb nur dort geboten und zulässig, wo das durch die Verteidigung betroffene Rechtsgut zu dem geschützten in einem unerträglichen Mißverhältnis steht (vgl. BayObLG NJW 1954, 1477; NJW 1963, 824; Baldus LK 21 zu § 53 aF; Dreher 20;
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Jescheck AT 258; Lenckner in Schönke-Schröder 50 m. weit. Nachw.). In diesen Fällen stellt sich die rücksichtslose Ausübung des Notwehrrechts als Rechtsmißbrauch dar, der die Verteidigung auch dann rechtswidrig erscheinen läßt, wenn sie zur Abwehr des Angriffs erforderlich ist. Ein solcher Rechtsmißbrauch liegt insbesondere dann vor, wenn jemand zur Verteidigung geringwertiger Sachgüter ein Menschenleben aufs Spiel setzt. Ein Blick auf § 228 BGB bestätigt diese Einschränkung des Notwehrrechts. Wenn es schon rechtswidrig ist, einen wertvollen Hund zu töten, der einem Huhn nachjagt, so kann es noch weniger als rechtmäßig angesehen werden, wenn jemand zum Schutz einer geringwertigen Sache einen Menschen schwer verletzt oder tötet. Auch in der Rspr. hat sich dieser Gedanke immer mehr durchgesetzt (vgl. Stuttgart D R Z 1949, 42 m. Anm. Gallas; BayObLG aaO.). Ob man in dem eingangs gebrachten Beispiel von einem derartigen unerträglichen Mißverhältnis sprechen kann, hängt davon ab, ob sich X, Y und Z nur Kirschen zum alsbaldigen persönlichen Verbrauch pflücken oder eine größere Menge zur Anlegung eines Vorrats oder gar zum Verkauf ernten wollten. Im letzteren Fall dürfte man A das Recht zu einem gezielten, allerdings möglichst ungefährlichen Schuß (etwa auf die Beine eines der Beteiligten) nicht absprechen, wenn er sonst wirklich keine andere Möglichkeit hat, dem Übergriff Einhalt zu gebieten. Hieran hat auch die durch Gesetz vom 7. 8. 1952 Bundesrecht gewordene Menschenrechtskonvention nichts geändert. Auch wenn Art. 2 Abs. 2 MRK die Tötung eines Menschen zur Verteidigung von Vermögen, Eigentum, Freiheit usw. nicht ausdrücklich als Rechtfertigungsgrund zuläßt, so kann es andererseits nicht als Zweck der MRK angesehen werden, die innerstaatlichen Regelungen des Notwehrrechts innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten auf einen einheitlichen Nenner zu bringen und die Tötung eines Menschen nur zur Abwehr eines Angriffs auf Leib oder Leben als gerechtfertigt anzusehen. Die MRK will vielmehr nur solche Ausgestaltungen des Notwehirechts ausschließen, die dem Zweck der Konvention grundsätzlich widersprechen und sich bedenkenlos über das Rechtsgut Leben hinwegsetzen. Diese Voraussetzungen sind aber bei der z. Z. äußerst sozialethisch orientierten Auslegung des § 32, nach der jeder Rechtsmißbrauch ausgeschaltet wird, nicht gegeben (h. L., vgl. Jescheck AT 259 f. m. weit. Nachw. sowie Ber. S. 14 BT-Drucks. V/4095). Im übrigen steht die h. M. zutreffend auf dem Standpunkt, daß die MRK nur das Verhältnis Staat-Bürger, nicht aber die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander betrifft (vgl. Lenckner in SchönkeSchröder 62 m. Nachw.). d) Auch im Straßenverkehr sind die Notwehrrechte unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauchs eingeschränkt. So liegt eine durch nichts gerechtfertigte Nötigung vor, wenn ein Kraftfahrer sich dadurch Zugang zu einer Parklücke verschafft, daß er Fußgänger, die ihm im Weg stehen, mit seinem Wagen zur Seite drängt (vgl. BayObLG NJW 1963, 824; Hbg NJW 1968, 662 f.). Eine rechtswidrige Nötigung liegt auch dann vor, wenn ein Kraftfahrer auf der Autobahn zum Zwecke des Überholens seinen Vordermann durch dichtes Auffahren und ständiges Signalgeben veranlaßt, die Überholfahrbahn freizugeben (vgl. BGH 19, 263). Zum Ganzen siehe auch Ddf NJW 1961, 1783 und Baumann NJW 1961,1745 sowie die Ausführungen zu § 240. III. Uber die Bedeutung des Notwehrexzesses siehe § 33 nebst Anmerkungen. IV. Von Putativnotwehr spricht man, wenn eine Notwehrlage objektiv nicht gegeben ist, der Täter vielmehr nur irrig glaubt, es liege ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff vor. Beispiel: A schießt auf B, weil er glaubt, dieser wolle ihn mit einem zum Schlag
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erhobenen Knüppel niederschlagen; in Wirklichkeit aber hatte B nur einen „Spaß" gemacht. In allen Fällen der Putativnotwehr handelt der Täter rechtswidrig. Auch der Vorsatz bleibt unberührt. Der Täter befindet sich jedoch in einem Irrtum, der in den Rechtsfolgen einem vorsatzausschließenden Tb.-Irrtum gleichzustellen ist (vgl. § 16 Anm. 3 e). Beruht sein Irrtum auf Fahrlässigkeit, so besteht die Möglichkeit, wegen fahrlässiger Begehung zu bestrafen, sofern diese im Einzelfall mit Strafe bedroht ist (vgl. § 16 Abs. 1 S. 2). Die Schuld entfällt dagegen, wenn der Irrtum nach Sachlage unvermeidbar war. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Irrtum über die Erforderlichkeit der Abwehrmaßnahme auf Bestürzung, Furcht oder Schrecken zurückzuführen ist (vgl. § 33). Kein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum, sondern ein nach § 17 zu behandelnder Verbotsirrtum liegt vor, wenn der Täter in Kenntnis aller Tatumstände sich zu einer Abwehrmaßnahme berechtigt glaubt, die objektiv - z. B. wegen Rechtsmißbrauchs nicht gerechtfertigt ist. Hier entfällt die Schuld nur dann, wenn der Irrtum für den Täter bei Würdigung aller Umstände unvermeidbar war.
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Überschreitung der Notwehr
Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft. 1. Die Neufassung der Vorschrift durch das 2. StrRG enthält gegenüber der früheren Regelung in § 53 Abs. 3 sachlich keine wesentlichen Änderungen (zur Entstehungsgeschichte siehe Ber. S. 14 f. BT-Drucks. V/4095 sowie Stree, Rechtswidrigkeit und Schuld im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1973, 461 ff.). Obwohl die Begr. des Sonderausschusses dies ausdrücklich offenläßt, stellt der in § 33 geregelte Notwehrexzeß nach ganz überwiegender Ansicht einen Schuldausschließungsgrund dar, der auf der Erwägung beruht, daß Verwirrung, Furcht und Schrecken die normgemäße Willensbildung des rechtswidrig Angegriffenen so wesentlich beeinträchtigen, daß von einer strafrechtlich erheblichen Schuld nicht mehr gesprochen werden kann (vgl. Rudolphi JuS 1969, 462 f.). - Schrifttumsnachweise § 32 Anm. I. 2. Die Vorschrift geht davon aus, daß der Täter sich tatsächlich in einer echten Notwehrsituation (§ 32 Anm. II 1) befindet und im Rahmen der von einem Verteidigungswillen (§ 32 Anm. II 3) getragenen Verteidigungshandlung über die objektiv erforderliche Verteidigung (§ 32 Anm. II 2) hinausgeht (sog. intensiver Notwehrexzeß). Nicht hierher gehört der Fall, daß der Täter in der irrigen Annahme, der bereits abgeschlossene Angriff dauere noch an, Handlungen vornimmt, die zur Verteidigung objektiv gar nicht mehr erforderlich sind (sog. extensiver Notwehrexzeß, vgl. RG 54, 36 f.; 61, 216 f.; Jescheck AT 370; Maurach-Zipf AT 484; Wessels AT 78; a. A. Blei AT 186; Lenckner in Schönke-Schröder 7; Roxin, Henkel-Festschr. S. 189). Der extensive Notwehrexzeß ist jedoch nicht völlig unerheblich. Irrt sich der Täter z. B. infolge seiner Verwirrung über das Fortbestehen des Angriffs, so kommt allenfalls Bestrafung wegen fahrlässiger Tatbegehung in Betracht, falls der Irrtum auf Fahrlässigkeit beruht; ist die Fahrlässigkeit zu verneinen, so handelt der Täter nach allgemeinen Gesichtspunkten schuldlos (vgl. Ber. S. 14 BT-Drucks. V/4095; Jescheck AT 370). Unerheblich ist der extensive Notwehrexzeß nur, wenn der Täter bewußt die Grenzen der zulässigen Notwehr überschreitet. In 182
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diesem Fall führt allerdings auch der in § 33 geregelte intensive Notwehrexzeß nicht zum Schuldausschluß (s. u. 3). 3. Als Ursachen der Notwehrüberschreitung führen nur Verwirrung, Furcht oder Schrekken zum Schuldausschluß. Das Merkmal „Verwirrung" ist an die Stelle des früheren Merkmals „Bestürzung" getreten, weil es den in Unordnung geratenen seelischen und geistigen Zustand des Angegriffenen, der zu einer überlegten Gegenwehr nicht fähig ist, treffender kennzeichnet (vgl. S. 158 Begr. § 38 E 1962). Das Wort „aus" Verwirrung usw. soll verdeutlichen, daß ein innerer Zusammenhang zwischen Affekt und NotwehrÜberschreitung bestehen muß (Ber. S. 15 BT-Drucks. V/4095). Unerheblich ist, ob neben Verwirrung, Furcht oder Schrecken noch andere Motive (z. B. Zorn oder Empörung) für die Notwehrüberschreitung mitursächlich gewesen sind (vgl. BGH GA 1969, 23; Dreher 3; Jescheck AT 369; Lackner 1). Für einen Schuldausschluß nach § 33 ist jedoch kein Raum mehr, wenn der Täter hierbei bewußt die Grenzen der erforderlichen Verteidigung überschreitet (vgl. Baldus LK 43 zu § 53 aF; Bockelmann AT 126; Lenckner in SchönkeSchröder 6; Welzel 89; a. A. BayObLG JR 1952, 113 sowie die h. L., vgl. Jescheck AT 370 m. weit. Nachw.). 4. Von einem Putativnotwehrexzeß spricht man, wenn der Täter nicht nur irrig eine Notwehrlage annimmt, sondern darüber hinaus infolge Verwirrung, Furcht oder Schrekken (oder aus einem anderen, ähnlichen Grund) über das Maß der Verteidigung hinausgegangen ist, das bei einem tatsächlich gegen ihn geführten Angriff erforderlich gewesen wäre. Hier besteht die Möglichkeit der Bestrafung wegen fahrlässiger Tatbegehung, wenn dem Täter das Entstehen seines Irrtums trotz seiner Verwirrung usw. vorgeworfen werden kann (vgl. BGH NJW 1968, 1885). Kann ihm dagegen bei Würdigung aller Umstände weder daraus ein Vorwurf gemacht werden, daß er einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff für gegeben hielt, noch daraus, daß er das Maß der Abwehr verkannt hat, das gegen den von ihm angenommenen Angriff notwendig war, so kann er auch nicht wegen fahrlässiger Tatbegehung bestraft werden; er ist vielmehr entschuldigt (vgl. BGH aaO.).
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Rechtfertigender Notstand
Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden. 1. Die durch das 2. StrRG neu eingefügte Vorschrift tritt an die Stelle des von der Rechtslehre entwickelten und in der Rspr. seit der Grundsatzentscheidung des Reichsgerichts v. 11. 3. 1927 (RG 61,242) anerkannten übergesetzlichen Notstands. Sie beruht, ebenso wie die Notstandsrechte des BGB (II 1, 2 vor § 32), auf dem Prinzip der Güterabwägung. Zur Gesetzesgeschichte siehe Ber. S. 15 BT-Drucks. V/4095 sowie Stree, Rechtswidrigkeit und Schuld im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1973, 461 ff. 183
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Schrifttum: Amelung, Erweitern allgemeine Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 34 StGB, hoheitliche Eingriffsrechte des Staates?, NJW 1977, 833; - Heinitz, Zur Entwicklung der Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit, Eb. Schmidt-Festschr. S. 266; - Krey, Der Fall Peter Lorenz - Probleme des rechtfertigenden Notstands bei der Auslösung von Geiseln, ZRP 1975, 97 mit Rezension Blei JA 1975, StR 123; - Küper, Rechtfertigender Notstand, Pflichtenkollision und übergesetzliche Entschuldigung, JuS 1971, 474; - Lampe, Defensiver und aggressiver übergesetzlicher Notstand, NJW 1968, 88; - Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965; - Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 2. Aufl. 1974; - Eb. Schmidt, Das Reichsgericht und der „übergesetzliche Notstand", ZStW 49, 350; - Stratenwerth, Prinzipien der Rechtfertigung, ZStW 68,41. 2. Die Notstandslage wird dadurch gekennzeichnet, daß eine gegenwärtige Gefahr für Leben, körperliche Integrität, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut nur durch Beeinträchtigung eines anderen Rechtsguts beseitigt werden kann. a) Rettungsfähig ist, wie bei der Notwehr, jedes allgemein anerkannte und geschützte Rechtsgut, soweit es im Einzelfall schutzbedürftig und schutzwürdig ist (Einzelheiten s. § 32 Anm. II 1 a). b) Eine Gefahr liegt vor, wenn der Eintritt eines Schadens wahrscheinlicher ist als sein Ausbleiben (vgl. RG 66, 225; BGH 18, 271 sowie § 315 Anm. 4). c) Gegenwärtig ist eine Gefahr, wenn sie nach allgemeiner Erfahrung ohne alsbaldige Gegenmaßnahmen den Eintritt eines Schadens als sicher, zumindest aber als höchstwahrscheinlich erscheinen läßt (BGH NJW 1951, 769). Auch eine Dauergefahr kann gegenwärtig sein, wenn sie jederzeit in einen Schaden umschlagen kann (BGH 5, 371, 373). d) Unerheblich ist, ob die Gefahr von dem Träger des geschützten Rechtsguts oder von einem Dritten verschuldet worden ist (RG 61, 242, 255; Ddf VRS 30, 444; h. L.), jedoch ist in diesen Fällen besonders kritisch zu prüfen, ob die Notstandshandlung angemessen ist (s. u. 3 c). 3. Die Notstandshandlung muß erforderlich sein, um die Gefahrenlage zu beseitigen; außerdem muß sie das „angemessene" Mittel sein (S. 2). a) Nicht anders abwendbar ist die Gefahr, wenn nur die Beeinträchtigung des durch die Notstandshandlung betroffenen Rechtsguts das geeignete Mittel ist, um die Gefahr abzuwenden. Die Formulierung „nicht anders abwendbar" findet sich auch im entschuldigenden Notstand des § 35. Sie darf nicht dahin verstanden werden, daß die Berufung auf rechtfertigenden Notstand zu versagen ist, wenn ein anderes gleichwertiges Mittel zur Beseitigung des Notstands vorhanden war. Sachlich bedeutet die Formulierung das gleiche wie die in § 15 AE vorgeschlagene Erforderlichkeitsklausel, die auch die Grundlage für die rechtfertigende Notwehr darstellt (vgl. Stree JuS 1973, 461, 463). Hieraus folgt: Die Notstandshandlung muß erforderlich sein, um die Gefahr zu beseitigen, wobei an die Erforderlichkeit strenge Maßstäbe anzulegen sind (Hamm NJW 1976, 721). Von mehreren zur Verfügung stehenden Mitteln hat der Täter das mildeste zu wählen; bei mehreren gleichwertigen Mitteln hat er ein Aus Wahlrecht. Einzelheiten siehe auch § 32 Anm. II 2. b) Gerechtfertigt ist die Notstandshandlung - ungeachtet ihrer Erforderlichkeit - nur, wenn die Interessenabwägung zu dem Ergebnis führt, daß bei Abwägung der widerstrei-
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tenden Interessen das geschützte Rechtsgut das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Ob dies der Fall ist, richtet sich insbesondere nach dem Rang der betroffenen Rechtsgüter und dem Grad der ihnen drohenden Gefahren. aa) Bei gleichrangigen Rechtsgütern kommt eine Rechtfertigung grundsätzlich nur in Betracht, wenn das geschützte Rechtsgut rechnerisch feststellbar den höheren Wert besitzt. Beispiel: Ein Weichenwärter (W) leitet eine führerlose Rangierlok auf ein Nebengleis, auf dem lediglich einem leeren Güterwagen Gefahr droht. Er verhindert damit, daß die Lok auf einen Zug mit wertvoller Ladung prallt. Der materielle, rechnerisch exakt feststellbare Wertvergleich ist aber nicht immer entscheidend, da § 34 nicht auf einen bloßen Gütervergleich, sondern auf die Abwägung der widerstreitenden Interessen abstellt. Beispiel: Bei einer durch Naturereignisse bedingten Evakuierung wird angeordnet, daß in jeder Notaufnahmebaracke, in der mehrere Familien untergebracht sind, jeweils nur ein Hund gehalten werden darf. Wenn A nun, um seinen wertvollen Rassehund weiter halten zu dürfen, die „Promenadenmischung" der Familie B vergiftet, so ist er nicht durch § 34 gerechtfertigt, da das Interesse der Familie B an der Erhaltung ihres weniger wertvollen Hundes genauso schutzwürdig, u. U. sogar noch höher einzuschätzen ist als das von A verfolgte Interesse. Schlechthin unzulässig ist die Berufung auf rechtfertigenden Notstand, wenn sich die kollidierenden Interessen von Menschenleben gegenüberstehen. Wenn z. B. in dem oben gebrachten Beispiel der Weichenwärter W die führerlose Lok, um einen Frontalzusammenstoß mit einem vollbesetzten Triebwagen zu vermeiden, in eine Gruppe von Strekkenarbeitern leitet, von denen drei getötet werden, so entfällt nicht bereits die Rechtswidrigkeit, sondern erst die Schuld, da W das kleinere Übel gewählt hat (vgl. III 1, 2 vor § 32 m. Nachw.). bb) Besteht zwischen den kollidierenden Interessen kein rechnerisch feststellbarer quantitativer, sondern ein qualitativer Unterschied, so müssen die Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Grad der jeweiligen Gefahr, den entscheidenden Ausschlag geben. So wäre es z. B. zulässig, nach einem schweren Eisenbahnunglück zwecks Aufnahme mehrerer lebensbedrohlich Verletzter in einem Krankenhaus die erforderlichen Betten dadurch frei zu machen, daß einige andere Patienten selbst auf die Gefahr hin, daß ihre Genesung sich verzögert oder ihr Gesundheitszustand sich vorübergehend sogar verschlechtert, gegen ihren Willen vorzeitig entlassen werden. Noch schwieriger ist die Rechtslage, wenn die kollidierenden Rechtsgüter untereinander in keinerlei Zusammenhang stehen und deshalb abstrakt überhaupt nicht miteinander vergleichbar sind, z. B. wenn sich das Interesse eines Patienten an der Wahrung des ärztlichen Berufsgeheimnisses und Interessen der Allgemeinheit gegenüberstehen. Auch hier entscheiden immer die Umstände des Einzelfalls. So kann sich z. B. ein Arzt nicht auf rechtfertigenden Notstand berufen, wenn er im Interesse der Verbrechensaufklärung sein Berufsgeheimnis verletzt, indem er die Polizei auf einen flüchtigen Dieb hinweist, der ihn wegen einer bei Begehung des Diebstahls erlittenen Verletzung konsultiert hat; andererseits würde das Interesse der Allgemeinheit an der Verbrechensaufklärung „wesentlich überwiegen", wenn es sich bei der Tat, aus deren Anlaß sich der Patient verletzt hat, um einen Mord oder ein Sprengstoffverbrechen handelte. (Weitere Beispiele in diesem Zusammenhang siehe § 203 Anm. IX 5.) - Entsprechendes gilt für sog. Lauschaktionen, insbesondere für Abhörmaßnahmen in Vollzugsanstalten. Diese erfüllen zwar den Tb. des § 201, sind aber nicht rechtswidrig, wenn sie als Mittel der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung zur Verhinderung von Terroranschlägen eingesetzt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, daß die observierten Personen Terroranschläge
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oder andere Delikte aus dem Bereich der Schwerkriminalität planen, und andere Mittel, dies zu verhindern, nicht zur Verfügung stehen. Solange dieser Komplex nicht gesetzlich geregelt ist (etwa im Sinne der §§ 100 a ff. StPO betr. die Überwachung des Fernmeldeverkehrs), kann er nur über § 34 erfaßt werden (kritisch hierzu Amelung NJW 1977,833). Beispiele aus der höchstrichterlichen Rspr.: Wer einem betrunkenen Kraftfahrer mit Gewalt den Zündschlüssel wegnimmt, um einen drohenden Unfall zu verhüten, begeht keine rechtswidrige Nötigung (vgl. Koblenz NJW 1963, 1991). - Oder: Wer in angetrunkenem Zustand mit seinem Pkw einen anderen Pkw verfolgt, in dem eine Frau offensichtlich entführt werden soll, erfüllt zwar den Tatbestand des § 316, kann aber durch rechtfertigenden Notstand gerechtfertigt sein (vgl. Celle NJW 1969, 1775). - Oder: Wer ohne Fahrerlaubnis seinen Pkw benutzt, um auf seinem abseits gelegenen Grundstück einen drohenden Diebstahl zu verhindern, kann sich für die Fahrt zum mutmaßlichen Tatort (nicht auch für die Rückfahrt) auf rechtfertigenden Notstand berufen (Ddf VM 1976 Nr. 39). - Andererseits: keine Rechtfertigung eines Rechtsanwalts, der zur Abwendung des wirtschaftlichen Zusammenbruchs seiner Kanzlei Mandantengelder veruntreut (BGH NJW 1976, 680 m. Anm. Küper JZ1976,515 und Kienapfel JR 1977,27). Steht das Leben eines Menschen auf dem Spiel, so müssen andere Rechtsgüter bei der Güterabwägung grundsätzlich zurücktreten. So darf z. B. ein Arzt bei der Fahrt zu einem Schwerkranken die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschreiten, soweit dies im Interesse des Erkrankten geboten und ohne Gefährdung anderer möglich ist (vgl. Ffm DAR 1963, 244; Jescheck AT 269). Selbst eine Trunkenheitsfahrt kann unter diesen Voraussetzungen gerechtfertigt sein, falls der Notruf den Arzt in seiner Freizeit erreicht und keine andere Möglichkeit besteht, dem Erkrankten die erforderliche sofortige ärztliche Hilfe zukommen zu lassen. Befindet sich ein Kind in akuter Lebensgefahr, so kann sich der Arzt notfalls auch mit Gewalt über das Sorgerecht der Eltern hinwegsetzen, falls diese sich den erforderlichen ärztlichen Maßnahmen widersetzen und die Herbeiführung einer Entscheidung des Vormundschaftsgerichts infolge Eilbedürftigkeit nicht mehr möglich ist. Auch das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen - einschließlich seines Freiheitsinteresses - tritt bei der Güterabwägung hinter dem Rechtsgut Leben grundsätzlich zurück. Daher liegt keine rechtswidrige Nötigung vor, wenn A den B mit Gewalt davon abhält, sich durch einen Sturz von einer Brücke das Leben zu nehmen. Die Rechtfertigung eines zur Lebenserhaltung vorgenommenen Eingriffs in das Recht auf Selbstbestimmung findet jedoch dort seine Grenzen, wo es bei Würdigung aller Umstände nicht mehr angemessen ist (s. u. lit. c). c) Die Notstandshandlung muß ein angemessenes Mittel zur Gefahrenabwendung sein (S. 2). Die Bedeutung dieser Klausel, die in § 1 5 A E im Anschluß an Lenckner (aaO. 133) als „überflüssig" bewußt vermieden wurde, ist im Schrifttum sehr umstritten. Eine Mindermeinung vertritt den Standpunkt, daß die Notstandshandlung immer schon dann „angemessen" ist, wenn unter Berücksichtigung aller Umstände das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt (vgl. Lenckner aaO.; Stratenwerth AT I Nr. 138; Stree JuS 1973, 461, 464; krit. zur Angemessenheitsklausel auch Gallas ZStW 80, 1, 26; Maurach-Zipf AT 1403). Demgegenüber geht die h. L. im Anschluß an die Vorstellungen des Sonderausschusses (S. 15 BT-Drucks. V/4095) zutreffend davon aus, daß S. 2 keine Leerklausel enthält, sondern im Interesse des durch die Notstandshandlung betroffenen Rechtsguts einen zweiten Wertungsvorgang erfordert (Bockelmann AT 99 f.; Dreher 12; Jescheck AT 269; Wessels AT 58). Die Notstandshandlung ist nicht schon dann gerechtfertigt, wenn die Interessenabwägung zugunsten des geschützten 186
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Rechtsguts ausfällt; zusätzlich ist vielmehr erforderlich, daß die Notstandshandlung auch sozialethisch angemessen ist. Im Regelfall werden beide Wertungen zwar zum gleichen Ergebnis kommen; es gibt jedoch auch Fälle, in denen die Rettungshandlung trotz des überwiegenden Interesses des geschützten Rechtsguts sozialethisch nicht vertretbar ist. Beispiel: Bei einem plötzlichen Gewitterregen entreißt A einer ärmlich gekleideten Frau den Schirm, um die wertvolle Theatergarderobe seiner Frau zu retten. Hier mag zwar das Interesse an der Erhaltung der wertvollen Kleidung bei Berücksichtigung aller Umstände (bevorstehender Theaterbesuch usw.) das Interesse der Schirmbesitzerin „wesentlich überwiegen", das Verhalten des A muß jedoch trotzdem sozialethisch mißbilligt werden (vgl. Bockelmann AT 100). Entsprechendes gilt für den viel zitierten Blutspenderfall \on Gallas (vgl. Mezger-Festschr. S. 325 f. sowie Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 70): Selbst wenn hierin die einzige Chance zur Erhaltung eines Menschenlebens beruht, darf grundsätzlich niemand gezwungen werden, sich gegen seinen Willen als Blutspender zur Verfügung zu stellen. Obwohl in diesem Fall die Güterabwägung (das Leben des Erkrankten auf der einen Seite, körperliche Integrität und Freiheit auf der anderen Seite) klar zugunsten der Interessen des Erkrankten ausfällt, wäre eine gewaltsame Blutentnahme sozialethisch nicht vertretbar, da gegen die Menschenwürde und das Freiheitsprinzip als Grundlage der Rechtsordnung verstoßend (vgl. Gallas aaO.; übereinstimmend Ber. S. 15 BT-Drucks. V/4095; Blei AT 148; Bockelmann AT 99; Dreher 16; Jescheck AT 270; Samson SK 18; Wessels AT 58). Etwas anderes gilt nur dann, wenn zwischen dem Verletzten und der zur Blutspende benötigten Person so enge soziale Bindungen bestehen, daß man sogar eine Rechtspflicht zur Blutspende annehmen müßte. In diesem Fall könnte die Erfüllung der Rechtspflicht notfalls durch Gewalt erzwungen werden, sofern sie das einzige Mittel zur Lebenserhaltung ist und der betroffenen Person keinen gesundheitlichen Nachteil bringt (vgl. Wessels AT 59 betr. das Verhältnis zwischen Ehegatten, Eltern und Kindern, u. U. auch bei Soldaten im gemeinsamen Fronteinsatz). Die Angemessenheitsklausel hat ferner für die Fälle Bedeutung, in denen jemand aufgrund einer sich aus seiner beruflichen Tätigkeit oder einer sonstigen Garantenstellung ergebenden Sonderpflicht bestimmte Gefahren auf sich nehmen muß, um seiner Pflicht zu genügen. So kann sich z. B. ein Arzt nicht der weiteren Behandlung eines Patienten mit der Begründung entziehen, er werde infolge der Ansteckungsgefahr selbst gefährdet (vgl. Maurach-Zipf AT I 403). Dies gilt auch dann, wenn die von dem Verpflichteten erwartete Handlung sich nur auf den Schutz von Sachwerten bezieht (vgl. Ber. S. 15 BTDrucks. V/4095; Jescheck AT 270). So kann z. B. ein Feuerwehrmann seine Mitwirkung am Löschen eines Wohnhauses nicht mit der Begründung verweigern, die Löschaktion sei viel zu gefährlich, außerdem hätten schon alle Bewohner das Haus verlassen. Eine sinnlose Aufopferung eigener Interessen kann allerdings auch in diesen Fällen nicht verlangt werden. Schließlich ist die Angemessenheitsklausel auch für die Fälle von Bedeutung, in denen die Notstandslage verschuldet worden ist (vgl. Jescheck AT 270). Wenn z. B. A nach Rückkehr von einer längeren Wanderung feststellen muß, daß er unterwegs seinen Geldbeutel mit einem größeren Geldbetrag infolge Leichtsinns während einer Rast hat liegen lassen, so ist er nicht befugt, seinem Nachbarn das einzige zur Verfügung stehende Moped wegzunehmen, um möglichst schnell zum Rastplatz zurückzukehren. 4. Auf der subjektiven Seite ist erforderlich, daß die Rettungshandlung von einem entsprechenden RettungswiUen getragen wird (vgl. Ber. S. 15 BT-Drucks. V/4095; krit. dazu Stree, JuS 1973, 461, 464). Nicht erforderlich ist allerdings, daß der Täter eine gewissen-
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hafte Prüfung aller zum Ausschluß der Rechtswidrigkeit führenden Tatumstände vorgenommen hat (vgl. Jescheck AT 246, 270; Maurach-Zipf AT I 406; Wessels AT 57). Die frühere Rechtsprechung, die im Rahmen des übergesetzlichen rechtfertigenden Notstands die pflichtgemäße Prüfung der Notstandsvoraussetzungen durch den Notstandstäter verlangte (vgl. RG 62, 137 f.; BGH 2, 114; 3, 7) und deshalb überwiegend auf Kritik gestoßen ist, dürfte durch den Verzicht des Gesetzgebers auf die Aufnahme dieses zusätzlichen Erfordernisse gegenstandslos geworden sein (vgl. Lackner 2 e; Maurach-Zipf AT 1406; offengelassen von Blei AT 150 und Stree JuS 1973,461, 465). Für den Putativnotstand (irrige Annahme von Tatumständen, bei deren Vorliegen die Handlung durch rechtfertigenden Notstand gerechtfertigt gewesen wäre) gelten die Ausführungen zur Putativnotwehr (§ 32 Anm. IV) und zur irrig angenommenen Einwilligung (Vorbem. II 4 b, ff, vor § 32) entsprechend. Handelt der Täter umgekehrt in Unkenntnis einer objektiv gegebenen Notstandssituation, so liegt, da die Tat sich nicht durch ihren Erfolgsunwert, sondern ausschließlich durch ihren Handlungsunwert auszeichnet, kein vollendetes, sondern nur ein versuchtes Delikt vor (vgl. Bockelmann AT 194; Jescheck AT 246; Lackner 2 d zu § 22; Lenckner aaO. 195 ff.; Maurach-Zipf AT I 406 unter Aufgabe der noch in der 4. Aufl. vertretenen Ansicht; Stratenwerth AT I Rn. 511 ff.; Wessels AT 54; a. A. Dreher 18; Gallas ZStW 80, 1, 26 und Welzel 83 f., die vollendetes Delikt annehmen). 5. Die durch das 2. StrRG nicht ausdrücklich geregelte rechtfertigende Pflichtenkollision ist ein Unterfall des rechtfertigenden Notstands (vgl. Jescheck AT 270; Maurach-Zipf AT 1407). Sie tritt dann ein, wenn jemand eine ihm obliegende Rechtspflicht nur dadurch erfüllen kann, daß er gleichzeitig eine andere verletzt. Gerechtfertigt ist er in Fällen dieser Art nur, wenn er die höherwertige Pflicht erfüllt (siehe hierzu die Beispiele unter § 13 Anm. V 2 b). Handelt es sich dagegen um gleichwertige Pflichten, so bleibt die Rechtswidrigkeit bestehen, jedoch entfällt die Schuld, wenn der Täter das kleinere Übel gewählt hat, zumindest aber keine bessere (rechtmäßige) Entscheidung treffen konnte (sehr bestr., Einzelheiten und Beispiele siehe III 1 vor § 32 m. Nachw.). 6. Konkurrenzen: Während der A E ausdrücklich bestimmt hat, daß „sonstige Vorschriften über rechtmäßige Notstandshandlungen unberührt bleiben", d. h. der allgemeinen Notstandsregelung vorgehen (vgl. § 19 Abs. 2 AE), hat das 2. StrRG bewußt auf die Aufnahme einer solchen Subsidiaritätsklausel verzichtet, da auch ohne sie das Rangverhältnis von Sonderbestimmungen gegenüber der allgemeinen Bestimmung des § 34 StGB „nicht zweifelhaft" sein kann (vgl. Ber. S. 15 f. BT-Drucks. V/4095; für Subsidiarität des § 34 gegenüber anderen rechtfertigenden Notstandsregelungen auch Bockelmann AT 100; Dreher 23; Lackner 3; Maurach-Zipf AT 395).
§ 35
Entschuldigender Notstand
(1) Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. Dies gilt nicht, soweit dem Täter nach den Umstän188
Vierter Titel: Notwehr und Notstand
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den, namentlich weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen; jedoch kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden, wenn der Täter nicht mit Rücksicht auf ein besonderes Rechtsverhältnis die Gefahr hinzunehmen hatte. (2) Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche ihn nach Absatz 1 entschuldigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden konnte. Die Strafe ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern. 1. Die durch das 2. StrRG an dieser Stelle eingefügte Vorschrift faßt die früher getrennt behandelten Fälle des entschuldigenden Notstands (§ 54 aF) und des Nötigungsnotstands (§ 52 aF) zu einer einheitlichen Regelung zusammen. Diese Zusammenfassung wurde damit begründet, daß der Nötigungsnotstand nur als besondere Erscheinungsform des allgemeinen Notstands anzusehen sei und deshalb keine gesonderte rechtliche Beurteilung erfordere (vgl. Begr. zu § 40 E 1962; kritisch dazu Stree JuS 1973, 461, 468). Die Neufassung beschränkte sich allerdings nicht nur auf diesen „Rationalisierungseffekt", sondern brachte auch materiell wesentliche Neuerungen. So wird jetzt z. B. auch die Freiheit als notstandsfähiges Rechtsgut anerkannt. Außerdem wurde der Kreis der Personen, denen Notstandshilfe geleistet werden kann, um die sog. Sympathiepersonen erweitert (s. u. 2 a). Neu sind schließlich auch die Irrtumsregelung des Abs. 2 und die Strafmilderungsmöglichkeit in Abs. 2 S. 2. Nach der klaren Fassung des Gesetzes enthält die Vorschrift einen Schuldausschließungsgrund, der auf der Erwägung beruht, daß in gewissen Notsituationen normgerechtes Verhalten nicht zumutbar ist und dem Täter deshalb nicht vorgeworfen werden kann. Der Gesetzgeber des 2. StrRG hat indes bewußt davon Abstand genommen, den Gedanken der Unzumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens zu einem allgemeinen schuldausschließenden Prinzip zu erheben, so daß wie vor der Neufassung des Allgemeinen Teils durch das 2. StrRG nur ausnahmsweise auf einen übergesetzlichen Schuldausschließungsgrund zurückgegriffen werden kann (Einzelheiten Vorbem. III vor § 32). Zur Gesetzesgeschichte siehe Ber. S. 16 BT-Drucks. V/4095 sowie Stree, Rechtswidrigkeit und Schuld im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1973, 461, 468; - Schrifttum: Gallas, Der dogmatische Teil des Alternativentwurfs, ZStW 80, 1; - Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip, Mezger-Festschr. S. 249; - Kuhnt, Pflichten zum Bestehen des strafrechtlichen Notstands, Diss. Freiburg, 1966; - Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935; - Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 2. Aufl. 1974. 2. Die Notstandslage wird dadurch gekennzeichnet, daß der Täter eine gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit nur dadurch abwenden kann, daß er eine rechtswidrige Tat ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 5) begeht. a) Rettungsfähig sind im Gegensatz zur rechtfertigenden Notstandsregelung des § 34 nicht alle Rechtsgüter, sondern nur das Leben, die körperliche Integrität und die Freiheit. Hierbei muß es sich entweder um Rechtsgüter des Täters selbst oder eines Angehörigen ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 1) handeln; ausreichend sind aber auch Rechtsgüter einer dem Täter „nahestehenden" Person (Sympathieperson). Die Einbeziehung der Sympathiepersonen beruht auf der Erkenntnis, daß nicht allein verwandtschaftliche Beziehungen menschliche Bindungen begründen, die in Notlagen eine Zwangswirkung auslösen können (vgl. Stree 189
§ 35
Zweiter Abschnitt: Die Tat
JuS 1973, 461, 470). Leider ist der Begriff ziemlich unscharf. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollen nur solche Personen erfaßt werden, die mit dem Notstandstäter z. B. in Hausgemeinschaft leben oder in ähnlicher Weise wie Angehörige mit ihm verbunden sind (vgl. Begr. § 40 E 1962), z.B. langjährige enge Freunde und Mitglieder des Haushalts. Weniger feste Bindungen reichen nicht aus. So würde es z. B. nicht genügen, wenn ein Jugendlicher sich mit allen Besuchern einer bestimmten Diskothek eng verbunden fühlt. b) Über gegenwärtige Gefahr siehe § 34 Anm. 2 b, c. c) Auf den Entstehungsgrund der Gefahr (z. B. Naturereignisse, Unglücksfälle, wirtschaftliche Notlagen, Gewalttätigkeiten) kommt es nicht an. Unerheblich ist zunächst auch, ob die Gefahrenlage verschuldet war, jedoch entfällt die Berufung auf schuldausschließenden Notstand, wenn der Notstandstäter die Kollisionslage selbst verursacht hatte (Einzelheiten s. u. 4 a). 3. Die Rettungshandlung muß geeignet und erforderlich sein, um die Gefahrenlage zu beseitigen; außerdem muß sie von einem Rettungswillen getragen werden. a) Nicht anders abwendbar ist die Gefahr, wenn nur die Begehung einer rechtswidrigen Tat geeignet ist, die Gefahrenlage zu beseitigen. Von mehreren zur Verfügung stehenden Mitteln muß der Täter das jeweils mildeste wählen. Die Ausführungen zum rechtfertigenden Notstand (§ 34 Anm. 3 a) gelten insoweit entsprechend. Je schwerwiegender die mit der Rettungshandlung verbundene Rechtsgutverletzung ist, desto sorgfältiger muß der Täter die Möglichkeit eines anderen Auswegs aus der Notlage prüfen (BGH 18, 312). Dies gilt insbesondere für die Fälle des Nötigungsnotstands. Hier darf der Genötigte dem auf ihn ausgeübten Druck zur Begehung einer rechtswidrigen Tat nur dann nachgeben, wenn der Druck unwiderstehlich und Notwehr gegen den Nötigenden nicht möglich, zumindest nicht zumutbar ist. b) Das Erfordernis des Rettungswillens ergibt sich aus der Formulierung „um die Gefahr . . . abzuwenden". Fehlt der Rettungswille (z. B. wenn der Täter die Notstandssituation überhaupt noch nicht erkannt hat), so kommt eine Berufung auf schuldausschließenden Notstand nicht in Betracht. Der Täter ist vielmehr wegen vollendeter Tatbegehung zu bestrafen. 4. Nach der Zumutbarkeitsklausel des Abs. 1 S. 2 entfällt die Berufung auf schuldausschließenden Notstand, wenn es dem Täter bei Würdigung aller Umstände zumutbar wäre, die Gefahr „hinzunehmen". Zweck dieser Regelung ist es, einer Ausuferung des Notstandsrechts entgegenzuwirken. Gleichwohl stellen die Fälle des Abs. 1 S. 2 nicht die Regel, sondern die Ausnahme dar. Die Berufung auf schuldausschließenden Notstand darf nur dort versagt werden, wo die gesetzlich hervorgehobenen Beispielsfälle oder „ähnlich bedeutsame Umstände" ersichtlich sind (vgl. Ber. S. 16 BT-Drucks. V/4095; Stree JuS 1973,461,470). a) Nach dem ersten Beispielsfall wird die Berufung auf schuldausschließenden Notstand versagt, wenn der Täter die Gefahr selbst verursacht hat. Diese Regelung bedeutet gegenüber der früheren Rechtslage insofern eine Verschärfung, als nach früherem Recht (§ 54 aF) nur die verschuldete Notstandslage die Entschuldigung ausgeschlossen hat. Die insoweit getroffene Neuregelung ist deshalb im Schrifttum überwiegend auf Kritik gesto-
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Vierter Titel: Notwehr und Notstand
§ 35
ßen (vgl. Jescheck AT 363; Maurach AT [4. Aufl.] 400; Stratenwerth AT I Nr. 641; Stree JuS 1973, 461, 470). Durch die im 2. Halbsatz des Abs. 1 S. 2 eingeräumte Möglichkeit einer Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 werden die durch die Neufassung entstehenden Härten nur teilweise gemildert. Eine für die Praxis befriedigende, dem Schuldprinzip entsprechende Regelung läßt sich nur dadurch finden, daß man die Herbeiführung der Gefahr lediglich als Beispiel dafür ansieht, daß die Hinnahme der Gefahr zumutbar ist. Deshalb ist in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu prüfen, ob nicht trotz Herbeiführung der Gefahr deren Hinnahme unzumutbar war. Diese Prüfung könnte dann in sachlicher Ubereinstimmung mit dem früheren Recht und in Einklang mit dem Schuldprinzip zu dem Ergebnis führen, daß nur bei einer verschuldeten Notstandslage die Berufung auf schuldausschließenden Notstand zu versagen ist (übereinstimmend Bockelmann AT 124; Dreher 10 f.; Lackner 3 a; Maurach-Zipf AT I 477 unter Aufgabe der noch in der 4. Aufl. vertretenen Ansicht; einschränkend auch Rudolphi SK 15: § 35 Abs. 1 S. 2 erfaßt nur die Fälle, in denen der Täter die Gefahr in objektiv pflichtwidriger Weise herbeigeführt hat). Beispiel: Wenn A bei einer von ihm veranstalteten Bootsfahrt auf hoher See durch ein leichtsinniges Manöver das Boot zum Kentern gebracht hat, ist er nicht entschuldigt, wenn er, um sein Leben zu retten, dem B den einzig verfügbaren Rettungsring entreißt und dadurch B dem sicheren Tod preisgibt. Es wäre dagegen verfehlt, dem A Berufung auf schuldausschließenden Notstand auch dann zu versagen, wenn er das Kentern schuldlos verursacht hätte, etwa aufgrund einer plötzlich auftretenden Kreislaufschwäche. Schon unter der früheren Rechtslage war umstritten, ob die Berufung auf schuldausschließenden Notstand nur dann zu versagen ist, wenn der Täter die eigentliche Notstandslage verschuldet hat (so z. B. RG 72, 249 sowie die h. L., vgl. Baldus LK 6 zu § 54 aF; Welzel 180), oder ob ein Schuldausschluß bereits dann nicht mehr in Betracht kommt, wenn der Täter nur die Gefahr, die schließlich zum Notstand führte, verschuldet hat. MaurachZipf (AT I 478) und Rudolphi (SK 16) halten auch unter der neuen Rechtslage an der bisher h. A. fest; dies erscheint jedoch aufgrund des eindeutig auf die Gefahr abstellenden Gesetzeswortlauts zweifelhaft (übereinstimmend Bockelmann AT 124). Wenn sich z. B. A trotz Sturmwarnung unter Mimahme des B mit seinem Kleinboot auf das offene Meer hinauswagt und das Boot dann schließlich bei aufkommendem Sturm durch ein Fehlverhalten des B kentert, kann sich A nicht auf schuldausschließenden Notstand berufen, wenn er dem B den einzig vorhandenen Rettungsring entreißt. Ein Schuldausschluß nach § 35 kommt nicht in Betracht, da A die Gefahr schuldhaft heraufbeschworen hat; daß die eigentliche Kollisionslage von B verschuldet wurde, steht dem nicht entgegen. Umgekehrt könnte sich allerdings auch B nicht auf schuldausschließenden Notstand berufen, wenn er dem A den einzigen Rettungsring entrissen hätte. Erfolgt die Rettungshandlung zugunsten eines Angehörigen oder einer sog. Sympathieperson, so kommt es nach der eindeutigen Fassung des Gesetzes ausschließlich darauf an, ob der Täter die Gefahr verschuldet hat (Ber. S. 16 BT-Drucks. V/4095; Dreher 11; Lackner 3 a; Maurach-Zipf AT I 478; Wessels AT 76). Auf das Verschulden des in Not befindlichen kommt es dagegen nicht an. Diese von der früher h. L. abweichende Ansicht (vgl. Jescheck AT 363 m. Nachw.) ist wenig überzeugend, wenn man einerseits davon ausgeht, daß es demjenigen, der sich selbst schuldhaft in Gefahr gebracht hat, grundsätzlich zuzumuten ist, die „Gefahr hinzunehmen", und wenn man andererseits berücksichtigt, daß jemand, der einen Angehörigen schuldhaft in Not gebracht hat, sich besonders genötigt fühlt, die Notlage wieder unter allen Umständen zu beseitigen (vgl. Dreher 11; Jescheck AT 363 f.; Stree JuS 1973, 461, 470). Zu einer Gleichbehandlung beider Fälle führt die hier unter c, cc vertretene Ansicht.
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Zweiter Abschnitt: Die Tat
b) Ein besonderes Rechtsverhältnis, das zur Hinnahme der Gefahr verpflichtet und damit die Berufung auf schuldausschließenden Notstand versagt, ist für solche Personen anzunehmen, die aufgrund gesetzlicher Bestimmungen, vertraglicher Vereinbarungen oder kraft Gewohnheitsrechts eine erhöhte Gefahrtragungspflicht haben. Dies gilt insbesondere (vgl. Ber. S. 16 BT-Drucks. V/4095 sowie Jescheck A T 366; Maurach-Zipf A T 1479). aa) für Soldaten, die beispielsweise einen rechtmäßigen Befehl nicht mit der Begründung verweigern können, im Falle einer Ausführung des Befehls drohe ihnen Gefahr für Leib und Leben (vgl. § 6 WStG); bb) für Seeleute, die ihre Dienstpflichten auch dann erfüllen müssen, wenn ihnen hierdurch Gefahr droht (vgl. § 29 Abs. 2 - 4 Seemannsgesetz vom 26. 7. 1957, BGBl. II 713); cc) für Polizeibeamte, die z. B. einen flüchtigen Verbrecher auch dann verfolgen müssen, wenn dieser bewaffnet ist (sinnlose Selbstaufopferung kann natürlich auch hier nicht verlangt werden); dd) für Feuerwehrleute, Ärzte, Angehörige von Berg- und Seenotdiensten, die durch ihre haupt- oder nebenberufliche Tätigkeit zwangsläufig gewissen Gefahren ausgesetzt sind; ee) für Richter und Staatsanwälte, die sich selbst auf die Gefahr persönlicher Repressalien hin nicht zu einer Rechtsbeugung verleiten lassen dürfen; ff) für Diplomaten, nicht jedoch für sog. Spitzenpolitiker ohne staatliche Funktionen (vgl. K r e y Z R P 1975,97); gg) bei rechtmäßigen Amtshandlungen, gegen die Widerstand auch dann verboten ist, wenn die Amtshandlung auf einem Irrtum beruht. So darf ein auf Grund ordnungsgemäß ergangenen Haftbefehls Inhaftierter die Beamten der Haftanstalt auch dann nicht niederschlagen, wenn er objektiv unschuldig ist. Im Interesse der Aufrechterhaltung der Staatsordnung muß der Betroffene auch in diesen Fällen auf die gesetzlich vorgesehenen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe verwiesen werden. c) Die Hinnahme der Gefahr ist außerdem zumutbar aufgrund „ähnlich bedeutsamer Umstände" (Ber. S. 16 BT-Drucks. V/4095), etwa wenn aa) die „nahestehende Person" doch nicht so eng mit dem Täter verbunden ist, daß es angemessen erscheint, eine schwerwiegende Rechtsverletzung zu entschuldigen (z. B. wenn A zwei Kleinkinder aus dem überfüllten Rettungsboot stößt, um seine Freundin retten zu können), oder wenn bb) die drohende Gefahr verhältnismäßig gering ist, die Folgen der zu ihrer Beseitigung erforderlichen Rettungshandlung jedoch schwerwiegend sind (vgl. Dreher 14; Lackner 3 b; Stree JuS 1973, 461, 470; Wessels A T 76), z. B. wenn der von einem Hausbesitzer gestellte und bis zum Eintreffen der Polizei in einem Keller eingesperrte Einbrecher sich nur dadurch befreien kann, daß er das vor dem Keller postierte Kind des Hausbesitzers niederschießt, oder wenn cc) bei einer Notstandshandlung zugunsten eines Angehörigen oder einer Sympathieperson die Notstandslage von dem Angehörigen bzw. der Sympathieperson vorsätzlich oder grob fahrlässig verschuldet worden ist und die Notlage nur durch eine folgenschwere Rechtsgutverletzung beseitigt werden kann (übereinstimmend Rudolphi SK 17).
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Fünfter Titel: Straflosigkeit parlamentarischer Äußerungen und Berichte
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5. Führt die Anwendung der Zumutbarkeitsklausel zu dem Ergebnis, daß der Notstandstäter die Gefahr hätte hinnehmen müssen, also nicht entschuldigt ist, so kann nach dem 2. Halbsatz des Abs. 1S. 2 die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. Diese Strafmilderung entfällt jedoch in den Fällen, in denen der Täter eine erhöhte Gefahrtragungspflicht hatte (s. o. 4 b). Wer auf „Posten gestellt" ist, soll nicht darauf vertrauen dürfen, im Falle seines Versagens milde angefaßt zu werden (vgl. Stree JuS 1973,461, 471). 6. Die irrige Annahme einer Notstandssituation (Putativnotstand) führt zum Schuldausschluß, sofern der Irrtum unvermeidbar war. War der Irrtum vermeidbar, so ist der Täter wegen vorsätzlicher Tatbegehung zu bestrafen, die Strafe ist jedoch nach § 49 Abs. 1 zu mildern. Die abweichende Rspr., wonach bei einem vermeidbaren Irrtum die Bestrafung wegen fahrlässiger Tatbegehung zu erfolgen hat (sofern auch die fahrlässige Tatbegehung mit Strafe bedroht ist, vgl. BGH 5, 371, 374; 18, 311 f.), ist durch § 35 Abs. 1 gegenstandslos geworden (siehe auch § 16 Anm. 4).
Fünfter Titel: Straflosigkeit parlamentarischer Äußerungen und Berichte § 36
Parlamentarische Äußerungen
Mitglieder des Bundestages, der Bundesversammlung oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes dürfen zu keiner Zeit wegen ihrer Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die sie in der Körperschaft oder in einem ihrer Ausschüsse getan haben, außerhalb der Körperschaft zur Verantwortung gezogen werden. D i e s gilt nicht für verleumderische Beleidigungen. 1. Die durch das 2. StrRG in Anlehnung an § 41 E 1962 und § 34 AE neu gefaßte Vorschrift tritt an die Stelle des früheren § 11, der sich allerdings nur auf die Mitglieder von Gesetzgebungsorganen eines Landes bezog. Sachlich bringt die Vorschrift allerdings keine wesentlichen Änderungen, da die Indemnität der Bundestagsabgeordneten und der Mitglieder der Bundesversammlung bereits durch Art. 46 Art. 1 GG und § 7 des Ges. über die Wahl des Bundespräsidenten gesichert war. Anliegen der Vorschrift ist es, den Schutz der parlamentarischen Rede- und Abstimmungsfreiheit zu gewährleisten. 2. Aus dem Wesen der Indemnität als persönlicher Strafausschließungsgrund folgt, daß strafbare Teilnahme (Anstiftung und Beihilfe) Außenstehender möglich ist (vgl. §§ 26, 27, 28 Abs. 2). Wird jemand durch eine rechtswidrige Äußerung in seinen Rechten verletzt, so hat er die Möglichkeit der Notwehr. 3. Von der hier geregelten Indemnität streng zu unterscheiden ist die allgemeine Immunität, die für Bundestagsabgeordnete in Art. 46 Abs. 2 bis Abs. 4 und für Landtagsabgeordnete in den Landesverfassungen sowie in § 152 a StPO geregelt ist. Während die Indemnität einen dauernden Ausschluß der Strafbarkeit bedeutet, handelt es sich bei der Immunität um ein Verfolgungshindernis, das von den zuständigen Gremien jederzeit 7
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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§ 37
Zweiter Abschnitt: Die Tat
durch Aufhebung der Immunität beseitigt werden kann und spätestens mit Beendigung des Mandats gegenstandslos wird. Wegen des Ruhens der Verjährung siehe § 78 b. 4. Keine Indemnität besteht für verleumderische Beleidigungen (vgl. §§ 90 Abs. 3, 103, 187, 187 a Abs. 2). Zu ihrer Verfolgung bedarf es lediglich der Aufhebung der Immunität.
§ 37
Parlamentarische Berichte
Wahrheitsgetreue Berichte über die öffentlichen Sitzungen der in § 36 bezeichneten Körperschaften oder ihrer Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei. Die durch das 2. StrRG in Anlehnung an § 42 E 1962 und § 35 A E neu gefaßte Vorschrift tritt an die Stelle des früheren § 12. Ihre Rechtsnatur ist umstritten. Während das OLG Braunschweig (NJW 1953, 516) und die h. L. (vgl. Maurach-Zipf AT I 429 m. Nachw.) einen Rechtfertigungsgrund annehmen, wird andererseits mit beachtlichen Gründen der Standpunkt vertreten, es handle sich wie bei der in § 36 geregelten Indemnität der Abgeordneten um einen Strafausschließungsgrund, da die strafrechtliche Freistellung der Parlamentsberichte nicht höher eingestuft werden dürfe als die Indemnität der Abgeordneten selbst (vgl. Jescheck A T 143 m. weit. Nachw.). Der sachliche Unterschied beider Auffassungen ist allerdings gering, da auch nach der letztgenannten Ansicht wegen der „sachbezogenen Wirkung" der Vorschrift strafbare Teilnahme nicht in Betracht kommt (vgl. Lackner 1).
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat Erster Titel: Strafen — Freiheitsstrafe — Vorbemerkungen I. Die Rechtsfolgen der Tat wurden durch das bereits am 1. 9. 1969 bzw. 1. 4. 1970 in Kraft getretene 1. StrRG und das am 1. 1. 1975 in Kraft getretene 2. StrRG grundlegend umgestaltet. Ungeachtet aller Änderungen blieb jedoch das sog. zweispurige System des früheren Rechts in wesentlicher Übereinstimmung mit dem E 1962 (vgl. §§ 43 ff.) und dem A E (vgl. §§ 36 ff.) erhalten, d. h. das System der Strafen (§§ 38 ff.) wird ergänzt durch ein flankierendes System von Maßregeln (§§ 61 ff.), die ausschließlich in Betracht kommen, wenn der Schutzzweck des Strafrechts (vgl. 1 1 , 4 vor § 1) mit der dem Schuldprinzip unterliegenden Strafe entweder überhaupt nicht oder nicht ausreichend erreicht werden kann. 1. Unter dem Titel Strafen faßt das Gesetz in den § § 3 8 ff. Haupt- und Nebenstrafen sowie sog. Nebenfolgen zusammen. Sämtliche Strafen zeichnen sich dadurch aus, daß sie eine staatliche Mißbilligung für sozialschädliches Verhalten zum Ausdruck bringen und von dem durch sie Betroffenen als Zufügung eines Übels empfunden werden. Alle Strafen stehen dabei unter dem von der Rechtsprechung als Verfassungsrechtssatz anerkannten Schuldprinzip (nullum crimen, nulla poena sine culpa, vgl. BVerfGE 20, 323), d. h. jede Strafe darf den Täter nur nach dem Grad seiner Schuld belasten und kommt daher nur als Rechtsfolge einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Tat in Betracht. Über den Rechtsgrund der Strafe im einzelnen und die mit der Strafe erstrebten Zwecke siehe Vorbem. 1 vor § 46. a) Als Hauptstrafen kennt das Gesetz seit dem 1. StrRG nur noch die (einheitliche) Freiheitsstrafe (§§ 38, 39) und die Geldstrafe (§§ 40-43). Während die Freiheitsstrafe als „ultima ratio" repressiven staatlichen Eingreifens hauptsächlich der Bekämpfung der schweren und mittleren Kriminalität vorbehalten bleibt, stellt die Geldstrafe die staatliche Reaktion auf die Fälle der leichteren Kriminalität dar, die in der Praxis zahlenmäßig bei weitem überwiegen. Die Tendenz der Neufassung des Strafensystems durch das 2. StrRG geht eindeutig dahin, die Freiheitsstrafe noch mehr als früher zugunsten der Geldstrafe zurückzudrängen. Dies ergibt sich einmal aus der Anhebung der Strafuntergrenze der Freiheitsstrafe auf einen Monat (§ 38 Abs. 2), wodurch der kurzfristigen Freiheitsstrafe entgegengewirkt werden soll, zum anderen aus der Umgestaltung des Geldstrafensystems, das einen Schwerpunkt des Reformwerks darstellt und in seiner neuen Form als Tagessatzsystem möglichst allen Fällen der leichten Kriminalität gerecht werden soll. b) Aus der Vielzahl der früheren Nebenstrafen ist als echte (reine) Nebenstrafe nur noch das Fahrverbot des § 44 übrig geblieben, das dem früheren § 37 entspricht. Die übrigen Nebenstrafen des früheren Rechts wurden dagegen zum Teil bereits durch das 1. StrRG ersatzlos beseitigt (z. B. die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte sowie die Aberkennung der Eidesfähigkeit, vgl. §§ 32, 161 aF), teils durch das 2. StrRG und das EGStGB in sog. Nebenfolgen und Maßnahmen umgewandelt (vgl. z. B. die in den 7«
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Vor § 38
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
§§ 45-45 b geregelte Aberkennung der Amtsfähigkeit, der in den §§ 73-73 d geregelte Verfall und die Bekanntmachung der Verurteilung in den Fällen der §§ 165, 200). Die in den §§ 74-74 f geregelte Einziehung hat demgegenüber in sachlicher Übereinstimmung mit dem früheren Recht eine doppelte Funktion: Soweit sie sich auf Gegenstände bezieht, die einem schuldhaft beteiligten Täter oder Teilnehmer gehören, wirkt sie sich als Nebenstrafe aus; soweit sie lediglich wegen der Gefährlichkeit des einzuziehenden Gegenstands ausgesprochen wird (d. h. ohne Rücksicht auf die Eigentumsverhältnisse und die Schuld der Tatbeteiligten), handelt es sich um eine Sicherungsmaßregel. c) Der früher zu den Nebenstrafen gerechnete Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts wird jetzt in den §§ 45—45 b unter der neuen Bezeichnung Nebenfolgen zusammengefaßt. Im Besonderen Teil des StGB weisen die § 92 a, 101, 108 c, 109 i und 358 auf die Zulässigkeit dieser Nebenfolgen hin. Nebenfolgen besonderer Art mit strafähnlichem Charakter („Prangerstrafe") enthalten die in §§ 165 und 200 enthaltenen Vorschriften über die Bekanntmachung eines Urteils. d) Im Jugendstrafrecht hat nur die Jugendstrafe (§§ 17 ff. JGG) den Charakter einer Kriminalstrafe, nicht dagegen die Erziehungsmaßregeln (§§ 9 ff. JGG) und die Zuchtmittel (§§13 ff. JGG); im Wehrstrafrecht gehört nur der in § 9 WStG geregelte Strafarrest zu den Kriminalstrafen. e) Nicht zu den Kriminalstrafen gehören Disziplinarmaßnahmen sowie Geldbußen nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten. Der Zweck der Geldbuße besteht darin, eine bestimmte Ordnung durchzusetzen und denjenigen, der gegen diese Ordnung verstößt, nachhaltig und spürbar darauf hinzuweisen, daß er die zum Schutz der Ordnung erlassenen Gebote und Verbote zu beachten hat. Den gleichen Zweck verfolgt auch das durch das OWiG 1968 eingeführte Verwarnungsgeld, das an die Stelle der früheren gebührenpflichtigen Verwarnung getreten ist (vgl. Bode DAR 1969, 57 f.) und bei Verkehrsordnungswidrigkeiten jetzt bis zu einer Höhe von 40,- DM erhoben werden kann (§ 27 Abs. 1 StVG). 2. Von den Strafen (einschließlich Nebenstrafen und Nebenfolgen) streng zu unterscheiden sind die sog. Maßnahmen. Unter Maßnahmen faßt das Gesetz in § 11 Abs. 1 Nr. 8 die Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61-72), Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung (§§ 73-76 a) zusammen. Während für die Strafe das Verbrechen Strafgrund ist, stellt sich für die Maßnahme das Verbrechen lediglich als Anlaß dar. Sie treten teils neben, teils an die Stelle der Strafe. Einzelheiten siehe Vorbem. vor § 61. II. Schrifttum: Baumann, Beschränkung des Lebensstandards anstatt kurzfristiger Freiheitsstrafe, 1968; - ders., ZRP 1974, 78; - Bockelmann, Zur Reform des Strafensystems, JZ 1951, 494; - Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974; - Cramer, Das Strafensystem des StGB, JurA 1970, 183; - Horn, Die strafrechtlichen Sanktionen, 1975; Horstkotte, Die Vorschriften des 1. StrRG zur Reform des Strafrechts über die Strafbemessung, JZ 1970, 122; - ders., Gesetzgebung zum Ersatz kurzer und mittelfristiger Freiheitsstrafen; Dt. strafrechtl. Landesreferate zum IX. Intern. Kongreß für Rechtsvergleichung, Beiheft zur ZStW, 1974, S. 46; — Jescheck, Die kriminalpolitische Konzeption des AE, ZStW 80, 54; - Kunert, Der zweite Abschnitt der Strafrechtsreform, NJW 1970, 537; - Nowakowski, Vom Schuld- zum Maßnahmenstrafrecht, Kriminologische Gegenwartsfragen, 1972, Heft 10; - Otto, Personales Unrecht, Schuld und Strafe, ZStW 87, 539; - Zipf, Die Rechtsfolgen der Tat im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1974,137 ff., 273 ff. Weitere Hinweise siehe § 40 Anm. 1 sowie 2 vor § 46.
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Erster Titel: Strafen
§ 38
§ 38
Dauer der Freiheitsstrafe
(1) Die Freiheitsstrafe ist zeitig, wenn das Gesetz nicht lebenslange Freiheitsstrafe androht. (2) Das Höchstmaß der zeitigen Freiheitsstrafe ist fünfzehn Jahre, ihr Mindestmaß ein Monat. 1. Die Vorschrift entspricht im wesentlichen dem früheren § 18 idF des 1. StrRG, von dem sie sich lediglich dadurch unterscheidet, daß das Mindestmaß der Freiheitsstrafe von einem Tag auf einen Monat angehoben wurde (s. u. 4). 2. Lebenslange Freiheitsstrafe als einzige (absolute) Strafe ist nur noch für Mord (§211) und die in § 220 a Abs. 1 Nr. 1 erfaßten Fälle des Völkermords vorgesehen. Bei Totschlag und den Fällen des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer ist die lebenslange Freiheitsstrafe nur dann obligatorisch, wenn ein „besonders schwerer Fall" vorliegt (vgl. §§ 212 Abs. 2, 316 a Abs. 1 S. 2). Eine Reihe weiterer Tatbestände sieht die lebenslange Freiheitsstrafe fakultativ neben zeitiger Freiheitsstrafe vor (vgl. §§ 80, 81 Abs. 1, 94 Abs. 2, 100 Abs. 2, 229 Abs. 2, 239 a Abs. 2, 239 b Abs. 2, 251, 307, 310 b Abs. 3, 311 a Abs. 3, 312, 316 c Abs. 2 und 324). Die Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe, deren Gegner in den letzten Jahren stark zugenommen haben (vgl. Arzt ZStW 83, 1; Bemmann GA 1967,139; Grünwald ZStW 80, 99; Triffterer ZRP 1970,13, 38; 1974, 141; 1976, 91; Röhl, Über die lebenslange Freiheitsstrafe, 1969; insbesondere aber Einsele/Feige/Müller-Dietz, Die Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe, 1971) wurde inzwischen durch Beschl. des BVerfG v. 21. 6. 1977 bestätigt (NJW 1977, 1525). Über die Möglichkeit, die Problematik wenigstens in Extremfällen durch die Anerkennung eines übergesetzlichen Schuldmilderungsgrund in analoger Anwendung der §§ 17 S. 2, 35 Abs. 2 zu entschärfen, siehe LG Hamburg NJW 1976, 1756 m. Anm. Hanack. 3. Die auf 15 Jahre festgelegte Obergrenze der zeitigen Freiheitsstrafe darf auch bei Bildung einer Gesamtstrafe nicht überschritten werden (§ 54 Abs. 2). Liegen die Voraussetzungen einer Gesamtstrafenbildung jedoch nicht vor, so können mehrere zeitige Freiheitsstrafen auch dann ohne Unterbrechung vollstreckt werden, wenn ihre Summe 15 Jahre überschreitet (Hamm NJW 1971,1373; h. L.). 4. Die Anhebung des Mindestmaßes der zeitigen Freiheitsstrafe auf einen Monat bringt deutlich die Tendenz zum Ausdruck, die kurzfristige Freiheitsstrafe als kriminalpolitisch unerwünscht möglichst zu verdrängen. Es läßt sich zwar nicht ernsthaft bestreiten, daß auch Freiheitsstrafen unter einem Monat eine „Schocktherapie" bewirken können. Diesem sicher als positiv zu beurteilenden Effekt steht andererseits die Gefahr gegenüber, daß ein bisher noch nicht sozial abgeglittener, jedoch gefährdeter Täter durch den Vollzug der Freiheitsstrafe „kriminell infiziert" wird. Hinzu kommt die Erwägung, daß während einer kurzen Freiheitsstrafe eine gezielte resozialisierende Behandlung nur schwer möglich ist und den Vollzugsdienst unverhältnismäßig stark belastet. Der Vorschlag des AE, das Mindestmaß der zeitigen Freiheitsstrafe aus den bezeichneten Gründen auf sechs Monate anzuheben, konnte dagegen nicht realisiert werden, da sich die Geldstrafe nicht für alle in Frage kommenden Fallgruppen eignet und Ersatzsanktionen anderer Art nicht zur Verfügung stehen. Unter diesem Aspekt stellt sich die Lösung des 2. StrRG als 197
§§ 39,40
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Kompromiß zwischen dem früheren Recht und den Forderungen des AE dar (vgl. Ber. S. 17 ff. BT-Drucks. V/4095). Zu beachten ist, daß § 38 Abs. 2 nicht für die Fälle gilt, in denen eine Ersatzfreiheitsstrafe zu vollstrecken ist; deren Mindestmaß liegt wie früher bei einem Tag (§ 43 S. 2).
§ 39
Bemessung der Freiheitsstrafe
Freiheitsstrafe unter einem Jahr wird nach vollen Wochen und Monaten, Freiheitsstrafe von längerer Dauer nach vollen Monaten und Jahren bemessen. 1. Die Bemessung einer Freiheitsstrafe nach Bruchteilen von Jahren, Monaten oder Wochen ist unzulässig (so schon RG 43, 320; BGH 7, 322 zu § 19 aF). Andererseits ist das Gericht nicht gehalten, immer dann, wenn die Zahl der kleineren Zeiteinheiten die nächst größere erreicht oder übersteigt, auf die größere (und einem etwaigen Rest der kleineren Zeiteinheit) zu erkennen, z. B. statt auf 14 Monate auf 1 Jahr + 2 Monate (BayObLG NJW 1976, 1951 m. krit. Bespr. Blei JA 1976, StR S. 201; übereinstimmend auch Koblenz VRS 51 [1976], 350). 2. Die kleinste jetzt noch zulässige Strafeinheit von einer Woche (früher: ein Tag) bzw. von einem Monat (bei längeren Freiheitsstrafen) darf nur dann unterschritten werden, wenn bei einer Gesamtstrafenbildung die Summe der Einzelstrafen erreicht oder überschritten würde (vgl. BGH 16, 167 zu §§ 19, 75 aF). So kann z. B. ausnahmsweise auf eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Wochen erkannt werden, wenn eine Gesamtstrafe aus Einzelstrafen von 1 Jahr und 1 Monat zu bilden ist.
- Geldstraf e § 40
Verhängung in Tagessätzen
(1) Die Geldstrafe wird in Tagessätzen verhängt. Sie beträgt mindestens fünf und, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt, höchstens dreihundertsechzig volle Tagessätze. (2) Die Höhe eines Tagessatzes bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters. Dabei geht es in der Regel von dem Nettoeinkommen aus, das der Täter durchschnittlich an einem Tag hat oder haben könnte. Ein Tagessatz wird auf mindestens zwei und höchstens zehntausend Deutsche Mark festgesetzt. (3) Die Einkünfte des Täters, sein Vermögen und andere Grundlagen für die Bemessung eines Tagessatzes können geschätzt werden. (4) In der Entscheidung werden Zahl und Höhe der Tagessätze angegeben. 1. Die Umgestaltung der Geldstrafe durch das 2. StrRG und die durch das EGStGB vorgenommenen Korrekturen gehören zu den Schwerpunkten der Strafrechtsreform.
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Erster Titel: Strafen
§ 40
Anliegen dieser Reform ist es, den Anwendungsbereich der Freiheitsstrafe (§§ 38, 39) zwecks Vermeidung der kriminalpolitischen Nachteile, die sich aus der Isolierung des aus seiner Umgebung herausgerissenen Täters und aus der Gefahr einer „kriminellen Infektion" ergeben, auf die Fälle zu beschränken, in denen eine Geldstrafe wegen der Schwere der Tat oder wegen besonderer, in der Person des Täters liegender Gründe allein oder in Verbindung mit anderen Sanktionen nicht mehr in Betracht kommen kann. Der hauptsächliche Anwendungsbereich der Freiheitsstrafe liegt demnach bei der schweren und mittleren Kriminalität. In Betracht kommen hierbei insbesondere drei sich häufig überschneidende Fallgruppen: zunächst die Fälle, die sich durch ein außergewöhnliches Sühnebedürfnis auszeichnen und in denen schon der gesetzliche Strafrahmen keine Geldstrafe zuläßt, zum anderen solche Fälle, in denen die Allgemeinheit durch Isolierung des als gefährlich einzuschätzenden Täters gesichert werden muß, und schließlich die Fälle, in denen die Resozialisierung des Täters dessen „stationäre Behandlung" erfordert. Demgegenüber liegt der Anwendungsbereich der Geldstrafe primär bei der Bagatellkriminalität (falls hier nicht schon die Voraussetzungen der §§ 153 ff. StPO vorliegen) und der leichteren Kriminalität, die in der Praxis zahlenmäßig weit überwiegt. In diesem Bereich bereiten nur die Fälle praktische Schwierigkeiten, in denen der Täter durch wiederholte Rückfälligkeit zeigt, daß die für Straftaten der in Frage stehenden Art „an sich" angebrachte Geldstrafe offensichtlich nicht ausreicht, um einerseits die durch die Rückfälligkeit erhöhte Tatschuld angemessen zu erfassen und andererseits eine erneute Rückfälligkeit möglichst auszuschließen. Einzelheiten s. § 47 Anm. 5 a, § 48 Anm. 1. Schrifttum: Frank, Die Neuregelung der Geldstrafe, JA 1976, 235; -Grebing, Probleme der Tagessatz - Geldstrafe, ZStW 88, 1049; - Horn, Das Geldstrafensystem des neuen Allg. Teils usw., NJW 1974, 625; - ders., Zwei Jahre neues Geldstrafensystem - eine Zwischenbilanz, JR 1977, 95; - Kaiser, Fortbildung des Geldstrafenrechts durch die Revisionsgerichte und die Justizverwaltungen, NJW 1976, 608; - D. Meyer, Bemerkungen zur neuen Geldstrafenregelung, MDR 1975, 188; - ders., Gedanken zur Schätzung des Einkommens bei der Festsetzung der Höhe des Tagessatzes, DAR 1976,147; - ders., Die Berücksichtigung der künftigen Einkommensentwicklung des Täters bei der Bemessung der Höhe eines Tagessatzes, MDR 1977,17; - Schall, Ehegattensplitting und Tagessatzsystem, JuS 1977, 307; - Seib, Strafzumessung nach Einführung der Tagessätze, DAR 1975, 104; - ders., die Bemessung der Tagessatzhöhe, NJW 1976, 2202; - Tröndle, Die Geldstrafe in der Praxis und Probleme ihrer Durchsetzung unter besonderer Berücksichtigung des Tagessatzsystems, ZStW 86, 545; - Zipf, Probleme der Neuregelung der Geldstrafe in Deutschland, ZStW 86, 513. 2. Um den Anwendungsbereich der Geldstrafe entsprechend den Intentionen des Gesetzgebers (siehe hierzu insbesonders Ber. S. 20 ff. BT-Drucks. V/4095 und Ber. S. 4 ff. BT-Drucks. 7/1261) möglichst weit ausdehnen zu können, wurde das bei der Berechnung der Geldstrafe anzuwendende System grundlegend umgestaltet. An die Stelle des früheren Geldsummensystems ist das Tagessatzsystem getreten, das sich bereits im skandinavischen Rechtsbereich bewährt hat. Nach früherem Recht wurde die Geldstrafe in einem einheitlichen Bemessungsvorgang „unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls" in Form einer bestimmten Geldsumme festgesetzt. Nach dem Tagessatzsystem vollzieht sich die Bemessung der Geldstrafe demgegenüber in zwei getrennten Akten: In der ersten Phase wird die Zahl der vom Täter zu entrichtenden Tagessätze festgesetzt, in der zweiten Phase des Bemessungsvorgangs geht es um die Höhe der einzelnen Tagessätze. Grundlage der ersten Phase sind dabei die allgemein für die Straf199
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
zumessung maßgeblichen Gesichtspunkte (insbesondere die Tatschuld und die mit der Strafe angestrebten Strafzwecke), die zweite Phase wird durch die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters bestimmt (Einzelheiten s. u. 3 und 4). Diese Trennung gibt die Möglichkeit, die Strafzumessung rationaler, transparenter und im Ergebnis auch gerechter zu gestalten. Die Strafzumessung erscheint nicht mehr als irrationales Produkt einer „amorphen Gesamtschau" von Tatschuld, Täterpersönlichkeit, Sozialprognose, Einkommens- und Vermögensverhältnissen, aber auch nicht nur als „Katalogsresultante" (vgl. Horn NJW 1974,625). 3. Die nach § 40 Abs. 1 zu bestimmende Zahl der Tagessätze (mindestens fünf, höchstens 360, im Falle der Gesamtstrafenbildung höchstens 720, vgl. § 54 Abs. 2) richtet sich nach allgemeinen Strafzumessungsgrundsätzen (vgl. § 46), jedoch haben die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters bei dieser ersten Phase des Zumessungsvorgangs außer Betracht zu bleiben. Diese wirken sich lediglich auf die Höhe des Tagessatzes aus (§ 40 Abs. 2). Wenn z. B. der Generaldirektor A und sein Fahrer B nach einem Verkehrsunfall den am Unfall mitbeteiligten X bei der Diskussion über die Schuldfrage gemeinschaftlich mißhandelt haben und das Gericht bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zu dem Ergebnis kommt, daß weder der Schuldgehalt der Tat noch die mit der Strafe verfolgten Zwecke eine unterschiedliche Bewertung erfordern (z. B. wenn beide Angeklagte durch den Vorfall äußerst erregt und an den Tätlichkeiten gleichermaßen beteiligt waren, wenn sie beide noch nicht vorbestraft sind und in geordneten Verhältnissen leben und sich beide in der Hauptverhandlung einsichtig zeigen), so ist für beide Angeklagte die gleiche Anzahl von Tagessätzen zu verhängen. Ihre unterschiedlichen wirtschaftlichen Verhältnisse sind erst in der zweiten Phase des Strafzumessungsvorgangs, nämlich bei der Festlegung der Höhe der Tagessätze, zu berücksichtigen. So wäre es z. B. denkbar, daß A bei Zugrundelegung von 10 Tagessätzen zu je 300,- DM im Ergebnis DM 3000,-, sein Fahrer B jedoch bei Zugrundelegung eines Tagessatzes von 30,- DM nur 300,— DM als Strafe zu entrichten hat. Nur durch diese Differenzierung kann erreicht werden, daß die Strafe beide Täter gleich empfindlich trifft. 4. Die Höhe des Tagessatzes richtet sich nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters, wobei die Untergrenze eines Tagessatzes bei 2 , - DM und die Obergrenze bei 10 000,- DM liegt (Abs. 2 S. 3). Läßt das Urteil nicht erkennen, daß sich das Gericht um die Feststellung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters bemüht hat, so liegt hierin grundsätzlich ein sachlicher Mangel, der in der Revision zur Aufhebung des Urteils führen kann (BGH NJW 1976, 2220). a) Zu den persönlichen Verhältnissen i. S. der Vorschrift gehören insbesondere der Familienstand des Täters und die Zahl der unterhaltsberechtigten Personen, außerdem das Alter und der Gesundheitszustand, aber auch der bisherige Lebensstandard des Täters, der durch die Strafe in zumutbarer Weise eingeschränkt werden darf, soweit dies nicht zu einer diskriminierenden Entsozialisierung des Täters führt. Nicht hierher gehören die Vorstrafen, die bereits in der ersten Phase des Strafzumessungsvorgangs bei der Festlegung der Zahl der Tagessätze zu berücksichtigen sind. b) Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters werden einerseits durch sein Einkommen und sein Vermögen, andererseits durch seine Verbindlichkeiten, insbesondere seine Unterhaltsverpflichtungen bestimmt. Die in den parlamentarischen Beratungen und auch noch nach der Verabschiedung des 2. StrRG umstrittene Frage, ob dem Täter nur die lohnpfändungsfreien Beträge als Existenzminimum verbleiben dürfen (so § 49 AE) oder
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ob durch die Geldstrafe nur der Betrag abgeschöpft werden darf, dessen „Einbuße dem Täter aufgrund seiner erzielbaren Einkünfte, seines verwertbaren Vermögens und seines tatsächlichen Lebenszuschnitts unter Berücksichtigung seiner Unterhalts- und sonstigen angemessenen Zahlungsverpflichtungen sowie seiner persönlichen Verhältnisse im Durchschnitt täglich zuzumuten ist" (sog. Einbußeprinzip, vgl. Ber. S. 20 BT-Drucks. V/4095; Horn NJW 1974, 625 ff.; Zipf JuS 1974, 140 Fn. 23 m. weit. Nachw.), wurde durch das EGStGB gerade noch rechtzeitig vor Inkrafttreten der neuen Regelung durch Einführung des sog. Nettoprinzips gegenstandslos (vgl. Frank JA 1976, StR S. 57,60). aa) Ausgangspunkt für die Festsetzung der Höhe eines Tagessatzes ist das Nettoeinkommen, das der Täter durchschnittlich an einem Tag hat oder haben könnte (Abs. 2 S. 2). Das Nettoeinkommen umfaßt alle Einkünfte aus selbständiger oder nichtselbständiger Arbeit, aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung, aber auch Renten-, Unterhalts- und Versorgungsleistungen sowie Sachleistungen, durch die eigene Aufwendungen zur Bestreitung des Lebensunterhalts erspart werden (z. B. freie Kost und Logie im Elternhaus oder bei der Bundeswehr, vgl. Hamm NJW 1976, 1221; Köln NJW 1977, 307). Abzuziehen sind lediglich Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, Beiträge zur privaten Krankenversicherung und Altersvorsorge, Werbungskosten und Betriebsausgaben (vgl. Horstkotte Prot. VII S. 635; Dreher 6; Lackner 6 a; Stree in SchönkeSchröder 9). Etwaige Verbindlichkeiten, die zu den üblichen Lebenshaltungskosten gehören (z. B. Ausgaben für Miete sowie Verbindlichkeiten aus Anschaffungsdarlehen oder Bausparverträgen), bleiben dabei grundsätzlich außer Betracht (Celle NJW 1975, 2029 und JR 1977, 382 m. Anm. Tröndle; Krhe Justiz 1976, 477; h.L., vgl. D. Meyer MDR 1975, 188, 190). Ist der Täter aufgrund dieser Verbindlichkeiten nicht in der Lage, Strafe und Kosten ohne Gefährdung seines angemessenen Lebensstandards aus den laufenden Einkünften zu bezahlen, so hat er auf etwa vorhandene Ersparnisse zurückzugreifen oder - soweit zumutbar- Vermögenswerte zu veräußern. bb) Ausnahmen von dem Nettoprinzip sind dann zu machen, wenn die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse außergewöhnlich günstig oder ungünstig sind. a) Verfügt der Täter z. B. über ein größeres Vermögen, so kann es angemessen sein, die Nettoeinkünfte zu überschreiten (vgl. Ber. S. 5 BT-Drucks. 7/1261). So wäre es z. B. unangemessen, bei einem Täter, der von den Einkünften seines umfangreichen Haus- und Grundbesitzes lebt, diese Einkünfte aber schon aus steuerlichen Gründen durch gezielte Investitionen so geschickt steuert, daß ihm ausweislich seines Steuerbescheids nur ein zu versteuerndes Jahreseinkommen von 18 000,- DM verbleibt, nur einen Tagessatz von 50,- DM festzusetzen. Dieser Gedanke darf allerdings nicht dazu verleiten, die gesetzlich vorgesehene Einkommenseinbuße, die lediglich zu einem vorübergehenden Konsumverzicht führen soll, in eine Vermögenseinbuße „umzufunktionieren". Die Geldstrafe darf weder direkt noch mittelbar zu einer Vermögenskonfiskation führen (vgl. Lackner 6 b, bb; Zipf JuS 1974,139). ß) Lebt der Täter in ungünstigen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen, so kann der Tagessatz auch unter dem auf den Tag umgerechneten Nettoeinkommen festgesetzt werden. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Lebenszuschnitt des Täters durch finanzielle Belastungen, denen er sich nicht entziehen kann, im Verhältnis zum Durchschnitt der Bezieher vergleichbarer Einkommen fühlbar eingeschränkt wird (Lackner 6 b, aa). Unterhaltsverpflichtungen sind entsprechend den Empfehlungen des 13. Dt. Verkehrsgerichtstags 1975 in'Goslar „angemessen" zu berücksichtigen (h. M., vgl. Kaiser NJW 1976, 608; D. Meyer MDR 1976, 276, jew. m. Nachw.). Die Auswir-
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kungen im Einzelfall sind allerdings noch äußerst umstritten. Rspr. und Schrifttum tendieren z. Z. ganz überwiegend dahin, jede Unterhaltsveipflichtung, für die der Täter tatsächlich Leistungen aus seinem eigenen Vermögen erbringt, als überdurchschnittliche Belastung vom Nettoeinkommen abzuziehen (vgl. Ddf NJW 1977, 260; Seib NJW1976, 2201, jew. m. Nachw.). Diese Tendenz entspricht wohl kaum den Intentionen des Gesetzgebers. Nach den Gesetzesmaterialien (vgl. Ber. S. 5 BT-Drucks. 7/1261) sollten nur bei außergewöhnlichen Unterhaltsverpflichtungen, z. B. bei mehr als zwei unterhaltsberechtigten Kindern, Abzüge vom Nettoeinkommen vorgenommen werden (übereinstimmend Stgt Urt. v. 22. 8. 1975 - Ss 276/75; Dreher 7; hier die Voraufl.), da die Unterhaltspflicht gegenüber der Ehefrau und ein bis zwei Kindern nichts Außergewöhnliches, sondern die Regel ist. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß jede Unterhaltsverpflichtung den wirtschaftlichen Bewegungsspielraum ohne Ausgleich einschränkt. Ein Familienvater wird bei gleich hohem Nettoeinkommen durch eine gleich hohe Geldstrafe härter betroffen als ein Junggeselle ohne Unterhaltsverpflichtungen. Aus Gründen der Gerechtigkeit erscheint es deshalb geboten, Unterhaltsverpflichtungen nicht erst ab zwei Kindern, sondern auch gegenüber der nicht mitverdienenden Ehefrau und nur einem Kind zu berücksichtigen (vgl. Ddf NJW 1977, 260 m. weit. Nachw.). Umstritten ist weiter, nach welchen Maßstäben Unterhaltsverpflichtungen zu berücksichtigen sind. Nach einer in Rspr. und Schrifttum teilweise vertretenen Ansicht (vgl. Hamm NJW 1976, 722 im Anschluß an Seib DAR 1975, 107) ist für jedes unterhaltsberechtigte Kind der um das Kindergeld gekürzte Satz der RegelunterhaltsVO vom 30. 7. 1976 (BGBl. I 2042) abzuziehen (z. Z. bis zum 6. Lj. monatlich DM 165,-, bis zum 12. Lj. DM 200,- und bis zum 18. Lj. DM 237,-). Diese Sätze können jedoch allenfalls Anhaltspunkte für eine angemessene Berücksichtigung sein (vgl. D. Meyer NJW 1976, 1110; NJW 1977, 541; krit. auch Krhe Justiz 1976, 477). Einfacher und flexibler ist die Methode, für jedes unterhaltsberechtigte Kind 10% des Nettoeinkommens in Abzug zu bringen. Allerdings kann auch diese Methode nur Anhaltspunkte für eine angemessene Berücksichtigung der Unterhaltsverpflichtungen bieten. Die Aufstellung starrer Regeln wäre jedenfalls verfehlt (BGH 27, 212; Celle JR 1977, 382 m. Anm. Tröndle). - Entsprechendes gilt für Unterhaltsverpflichtungen gegenüber dem nicht selbst verdienenden Ehegatten. Nach Ansicht der Oberlandesgerichte Hamm und Ffm (Hamm NJW 1976, 722, 723 m. abl. Anm. D. Meyer NJW 1976, 1110; Ffm NJW 1976, 2220 m. abl. Anm. D. Meyer NJW 1977, 541) sollen Unterhaltsansprüche des Ehepartners in der Weise berücksichtigt werden, daß zunächst das Nettoeinkommen beider Ehegatten zusammengerechnet und dann dem straffällig gewordenen Ehepartner nur die Hälfte des Gesamtnettoeinkommens als eigenes Nettoeinkommen zugerechnet wird. Nach Seib aaO. ist es dagegen ausreichend, für den nichtverdienenden Ehepartner etwa 20% vom Einkommen des straffällig gewordenen Ehepartners abzuziehen. Zu ähnlichen Ergebnissen führt die vom OLG Ddf vertretene Ansicht, wonach lediglich der Unterhaltsanspruch des einkommenslosen Ehegatten zu berücksichtigen ist (NJW 1977, 260 m. Bespr. Schall JuS 1977, 307; ähnlich jetzt auch der 4. Senat des OLG Hamm, vgl. NJW 1977, 724). Diese Ansicht ist nicht nur rechtssystematisch überzeugend; sie führt auch zu befriedigenden Ergebnissen. Der abw. Ansicht der Oberlangesgerichte Hamm und Ffm ist insbesondere entgegenzuhalten, daß das Gesetz nicht auf das Familieneinkommen, sondern auf das Einkommen des Täters abstellt (vgl. D. Meyer NJW 1976, 1110). Sie führt außerdem dazu, daß die Höhe der Geldstrafe bei einem alleinverdienenden verheirateten Täter beträchüich niedriger ausfallen muß, als dies nach bisheriger Praxis der Fall war. Diese Konsequenz läßt sich entgegen der Auffassung des OLG Hamm auch nicht dadurch rechtfertigen, daß nach dem Willen des Gesetzgebers der 202
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Unrechtsgehalt einer Straftat in der Anzahl der Tagessätze und nicht in deren Höhe zum Ausdruck kommt. Die Geldstrafe erfüllt nur dann ihren Zweck als Ersatz für die kurzfristige Freiheitsstrafe, deren Funktion sie aufgrund der Strafrechtsreform übernommen hat, wenn sie vom Täter im Ergebnis als spürbares Übel empfunden wird. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber in der Endphase der parlamentarischen Beratungen das ursprünglich vorgesehene Einbußesystem durch das Nettoeinkommensystem ersetzt. Dieser Wille des Gesetzgebers sollte jetzt nicht durch eine Aufweichung des Nettoeinkommenprinzips unterlaufen werden. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß dem verdienenden Ehegatten durch die Arbeit der Ehefrau in Haushalt und Familie fortgesetzt Vermögenswerte Leistungen zufließen (vgl. Seib NJW 1976,2202). Außergewöhnliche Belastungen, die eine Abweichung vom Nettoeinkommenprinzip rechtfertigen, liegen insbesondere dann vor, wenn der Täter Belastungen hat, die nicht zu den üblichen Lebenshaltungskosten zu rechnen, sondern z. B. aus einem Krankheitsfall in der Familie, aus dem Aufbau der beruflichen Existenz oder infolge längerer Arbeitslosigkeit entstanden sind. In solchen Fällen ist dem Täter auch nicht mit Erleichterungen nach § 42 gedient. Die Höhe der Tagessätze ist vielmehr ohne Rücksicht auf die sich aus § 42 ergebenden Erleichterungen zu bestimmen. y) Verfügt der Täter über unterschiedliche Einkünfte, so ist sein durchschnittliches Einkommen zu ermitteln, und zwar unter Berücksichtigung eines längeren Zeitraums (etwa je drei Monate vor und nach der letzten tatrichterlichen Entscheidung, vgl. Dreher 6; a. A. Kaiser NJW 1976, 608). Dies gilt nicht nur für beruflich Selbständige, sondern auch für Fälle vorübergehender Einkommenslosigkeit (Hamburg NJW 1975, 2030; Koblenz NJW 1976, 1275: Hilf VM 1976 Nr. 129), sowie für Wehrpflichtige, bei denen nicht nur auf den Wehrsold, sondern auch auf die Tätigkeit abzustellen ist, die sie vor Beginn ihres Wehrdienstes ausgeübt haben bzw. nach Ableistung ihres Wehrdienstes wieder ausüben werden. Zum Ganzen siehe auch.D. Meyer MDR1977,17. 6) Probleme besonderer Art ergeben sich bei Arbeitslosen, Schülern, Studenten und Hausfrauen. Auch bei diesen Personengruppen beträgt der Tagessatz ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Verdienstmöglichkeiten mindestens 2- DM. Es wäre allerdings verfehlt, immer nur diesen Mindestsatz der Bemessung der Strafe zugrundezulegen. In diesem Zusammenhang wird nämlich von Bedeutung, daß beim Fehlen tatsächlicher Einkünfte die Einkünfte zugrundezulegen sind, die der Täter bei zumutbarem Einsatz seiner Arbeitskraft haben könnte. So ist es z. B. Schülern und Studenten zumutbar, während der Ferien einer Arbeit nachzugehen, sofern nicht besondere Umstände (z. B. bevorstehende Prüfungen, Krankheit) dem entgegenstehen (vgl. Dreher 9; Kaiser NJW 1976, 609; D. Meyer MDR 1975, 188, 191; Seib DAR 1975, 108 und NJW 1976, 2202; einschränkend Ffm NJW 1976, 635; Köln NJW 1976, 636; völlig ablehnend Stree in Schönke-Schröder 11, der nur die Unterhaltsleistungen einschließlich der Naturalbezüge als relevantes Einkommen anerkennt). Auch einer Hausfrau, die keine Kinder zu versorgen hat, kann es zumutbar sein, zumindest vorübergehend (etwa als Aushilfsverkäuferin beim Saisonschlußverkauf) Arbeit aufzunehmen. Unproblematisch sind dabei die Fälle, in denen die Hausfrau infolge guter wirtschaftlicher Verhältnisse ihres gut verdienenden Ehemanns selbst in guten wirtschaftlichen Verhältnissen lebt. In diesen Fällen können als erzielbares Einkommen die Beträge angesetzt werden, die die Frau im Falle des Getrenntlebens von ihrem Ehemann als Unterhaltsleistung beanspruchen könnte (übereinstimmend Ddf NJW 1977, 260 m. Bespr. Schall JuS 1977, 307; Celle JR 1977, 382 m. Anm. Tröndle; h.L., vgl. D. Meyer NJW 1976, 1111 m. Nachw.). Es wäre jedenfalls abwegig, bei der Ehefrau eines gut 203
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
verdienenden Unternehmers von dem gesetzlichen Mindestsatz von 2 , - DM auszugehen, weil sie nicht berufstätig ist und ihr, etwa wegen der Zahl der Kinder oder aus gesundheitlichen Gründen, die Aufnahme einer Berufstätigkeit nicht zugemutet werden kann. Bereits oben unter ß abgelehnt wurden andererseits die Entscheidungen OLG Hamm NJW 1976, 723 und Ffm 1976, 2220, wonach Grundlage für die Tagessatzberechnung die Hälfte des Gesamtbetrags der beiden Eheleuten für den Lebensunterhalt zur Verfügung stehenden Mittel sein soll (ähnlich jedoch Kaiser NJW 1976, 608 und Seib NJW 1976, 2202). Stellt man der hier vertretenen Ansicht folgend auf den Unterhaltsanspruch ab, so würde sich z.B. nach dem in zivilrechtlichen Unterhaltsprozessen üblichen Schlüssel 3 : 2 : 1 (3 Anteile für den Ehemann, 2 Anteile für die Ehefrau und 1 Anteil für jedes Kind) das Einkommen einer nicht berufstätigen Ehefrau, deren Mann 2100,- DM verdient und die 2 Kinder hat, auf DM 600,- belaufen, der Tagessatz somit 20,- DM betragen. Bei Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen kommt es auf die Umstände des Einzelfalls, insbesondere auf die Dauer der Erwerbslosigkeit an. Liegt das Einkommen an der Grenze des Existenzminimums, z. B. bei Sozialhilfeempfängern, Kleinrentnern, Unterhaltsempfängern und anderen Personen mit gleich niedrigem Einkommen, so kann die schematische Anwendung des Nettoeinkommenprinzips zu einer unvertretbar starken Belastung des Täters führen. In diesen Fällen kann es angebracht sein, den TS unter dem Dreißigstel des monatlichen Nettoeinkommens anzusetzen, u. U. sogar bis auf den Mindestbetrag von 2DM oder einen nahe daran liegenden Betrag herabzugehen (Köln NJW 1977, 307 m. zust. Anm. D. Meyer NJW 1977, 724). Bei Soldaten sind neben dem Wehrsold auch die Sachleistungen zu berücksichtigen, so daß bei einem wehrpflichtigen Soldaten z. Z. von einem TS von ca. 15,- DM ausgegangen werden kann. Das tägliche Nettoeinkommen eines Soldaten auf Zeit kann dagegen bei ca. 35,- DM angesetzt werden. E) Umstritten ist, ob bei einer hohen Anzahl von Tagessätzen (etwa ab 90 TS) Ausnahmen vom Nettoeinkommenprinzip zulässig sind (so z.B. BGH NJW 1976, 1511 m. Nachw. unter Hinweis auf die wirtschaftlich bedrückende Belastung einer zu hohen Geldstrafe). Andererseits bedeutet ein derartiges Zurückweichen vor dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers eine bedenkliche Verwässerung des neuen Geldstrafensystems, das nur dann die ihm zugedachte Funktion als Ersatz für die kurzfristige Freiheitsstrafe erfüllen kann, wenn es konsequent angewandt wird (vgl. D. Meyer NJW 1976, 2219). 5. Verweigert der Beschuldigte die Auskunft über seine wirtschaftlichen Verhältnisse, macht er hierzu nur allgemein gehaltene Angaben oder erscheinen seine Angaben zweifelhaft, so ist es Aufgabe der Ermittlungsbehörden bzw. des Gerichts, alle geeigneten Beweismittel zur Ermittlung auszuschöpfen, wobei allerdings mit Rücksicht auf die sich aus Abs. 3 ergebende Möglichkeit der Schätzung § 244 StPO keine Anwendung findet. Eingehende Ermittlungen sind nur geboten, wenn die Zahl der Tagessätze hoch ist (etwa ab 90 Tagessätzen, vgl. Dreher 14). Bei Arbeitnehmern führt in der Regel eine Befragung des Arbeitgebers zu der gewünschten Auskunft, bei beruflich Selbständigen wird es dagegen oft nicht zu vermeiden sein, die Einkünfte und sonstigen Bemessungsgrundlagen zu schätzen. Die Einholung einer Auskunft des Finanzamts scheitert an der Wahrung des Steuergeheimnisses (vgl. § 30 AO). Der Vorschlag der Bundesregierung, die Finanzbehörden zu verpflichten, den Gerichten und Staatsanwaltschaften auf deren Ersuchen Auskünfte über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten zu erteilen (§ 161 Abs.2StPO idFdesRegE, S. 300 BT-Drucks. 7/550), konnte sich in den parlamentarischen 204
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§ 41
Beratungen nicht durchsetzen. Das „goldene Kalb" des Steuergeheimnisses bleibt somit nach wie vor eine uneinnehmbare Festung (vgl. Göhler NJW 1974, 829 Fn. 63). Die Grundlagen der Schätzung (z. B. Beruf, Lebenszuschnitt, Grundbesitz, Pkw usw.) sind in den Urteilsgründen festzuhalten (Koblenz NJW 1976,1275). 6. Im Urtettstenor werden nur Anzahl und Höhe der Tagessätze, nicht jedoch die sich hieraus ergebende Gesamtsumme ausgesprochen (vgl. Abs. 4 sowie Zipf JuS 1974, 137, 139). So könnte der Urteilstenor z. B. lauten: „Der Angeklagte A aus X wird wegen eines Vergehens der fahrlässigen Tötung zu 100 Tagessätzen in Höhe von je 50,- DM verurteilt." Da Zahl und Höhe der Tagessätze unabhängig voneinander festzusetzen sind, eine Wechselwirkung somit fehlt, ist eine Rechtsmittelbeschränkung auf die Höhe der Tagessätze grundsätzlich zulässig (BGH 27, 70; h.L.). Auch kann sich das Revisionsgericht, wenn lediglich die Höhe der Tagessätze zu beanstanden ist, auf die Aufhebung dieses Teils des Strafausspruchs beschränken (Hamm NJW 1976,723). In der Berufungsinstanz darf die Zahl der Tagessätze keinesfalls erhöht werden (§ 331 Abs. 1 StPO). Das Verschlechterungsverbot hindert jedoch nicht, die Höhe der Tagessätze heraufzusetzen, sofern sich die Einkommensverhältnisse des Angeklagten zwischenzeitlich verbessert haben. Allerdings darf das ursprüngliche „GeldstrafenEndprodukt" mit Rücksicht auf das Verschlechterungsverbot auch in diesem Fall nicht überschritten werden, so daß eine Anhebung der Tagessatzhöhe nur in diesem Rahmen möglich ist (vgl. Horn JR 1977, 95, 97; siehe auch Celle NJW 1976, 121 und Roos NJW 1976, 1485). So ist es z.B. möglich, die ursprüngliche Strafe von 30 TS zu je 20,- DM durch eine Strafe von 20 TS zu je 30,- DM zu ersetzen, wenn einerseits die Schuld des Angeklagten geringer beurteilt wird als in erster Instanz, sich andererseits aber seine Einkommensverhältnisse verbessert haben (oder sie in erster Instanz falsch berechnet wurden). 7. Für die Vollstreckung der Geldstrafe gelten die Vorschriften der JustizbeitreibungsO (vgl. § 459 StPO), wegen Zahlungserleichterungen (Stundung, Ratenzahlung) siehe § 42 sowie §§ 459 a ff. StPO, wegen der Ersatzfreiheitsstrafe siehe § 43.
§ 41
Geldstrafe neben Freiheitsstrafe
Hat der Täter sich durch die Tat bereichert oder zu bereichern versucht, so kann neben einer Freiheitsstrafe eine sonst nicht oder nur wahlweise angedrohte Geldstrafe verhängt werden, wenn dies auch unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters angebracht ist. 1. Die an die Stelle des früheren § 27 a getretene Vorschrift gibt die Möglichkeit, neben Freiheitsstrafe auf Geldstrafe zu erkennen, wenn der Täter - mit oder ohne Erfolg - in Bereicherungsabsicht gehandelt hat. Dies gilt auch für die Fälle, in denen die Bereicherungsabsicht Tatbestandsmerkmal ist (vgl. §§ 253, 259, 263). Das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 steht nicht entgegen, da § 46 Abs. 3 nur die Strafzumessung betrifft, während § 41 den jeweiligen Strafrahmen modifiziert (vgl. Bockelmann AT 209; Maurach AT 810). Die Vorschrift, die wegen des latenten Spannungsverhältnisses zu § 46 Abs. 1 S. 2 Ausnahmecharakter hat (BGH NJW 1976,1510), soll vor allem der wirkungsvolleren Bekämpfung schwerwiegender Fälle der Wirtschaftskriminalität dienen (RegE
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§ 42
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
S. 212 BT-Drucks. 7/550). Sie kommt außerdem dann in Betracht, wenn keine Möglichkeit besteht, durch Einziehung oder Anordnung des Verfalls (§§ 73 ff.) auf das Vermögen des Täters zurückzugreifen. 2. Ob das Gericht von der Möglichkeit der kumulativen Geldstrafe neben einer Freiheitsstrafe Gebrauch macht, richtet sich nach allgemeinen Strafzumessungsgrundsätzen. Die gesetzlich besonders hervorgehobenen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse stellen dabei nur einen, allerdings besonders gewichtigen Gesichtspunkt dar (RegE S. 212 BT-Drucks. 7/550). So ist die kumulative Geldstrafe insbesondere dort angebracht, wo der Täter in gesicherten Verhältnissen lebt und z. B. einen Betrieb unterhält, der auch während seiner durch den Strafvollzug bedingten Abwesenheit mit Gewinn fortgeführt wird; umgekehrt erscheint in der Regel eine zusätzliche Geldstrafe verfehlt, wenn sie die Wiedereingliederung des Täters nach Verbüßung der Freiheitsstrafe gefährden oder gar zu einer Entsozialisierung führen könnte (BGH 26, 325).
§ 42
Zahlungserleichterungen
Ist dem Verurteilten nach seinen persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnissen nicht zuzumuten, die Geldstrafe sofort zu zahlen, so bewilligt ihm das Gericht eine Zahlungsfrist oder gestattet ihm, die Strafe in bestimmten Teilbeträgen zu zahlen. Das Gericht kann dabei anordnen, daß die Vergünstigung, die Geldstrafe in bestimmten Teilbeträgen zu zahlen, entfällt, wenn der Verurteilte einen Teilbetrag nicht rechtzeitig zahlt. 1. Die Geldstrafe ist grundsätzlich mit Eintritt der Rechtskraft fällig. Ist dem Verurteilten die sofortige Zahlung des Gesamtbetrags aufgrund seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (siehe hierzu § 40 Anm. 4 a, b) mangels Liquidität nicht möglich und kann ihm auch nicht zugemutet werden, einen Kredit aufzunehmen oder Vermögenswerte zu veräußern, so hat das Gericht dem Verurteilten bereits im Urteilstenor Zahlungserleichterungen zu gewähren. Verfehlt wäre es allerdings, die Raten so niedrig zu halten, daß sie von dem Verurteilten nicht mehr als das Übel empfunden werden, das sie auf Grund des Strafzwecks sein sollen (vgl. Blei AT 355; Maurach AT 811). Entsprechend der früheren Praxis (vgl. BGH 13, 356) kann von der Bewilligung von Zahlungserleichterungen Abstand genommen werden, wenn schon im Zeitpunkt der Entscheidung damit zu rechnen ist, daß der Verurteilte die ihm gesetzten Fristen nicht einhalten wird (vgl. Lackner 2; Maurach AT 811). 2. Die Verfallsklausel in Satz 2 erspart den ausdrücklichen Widerruf der im Urteil bzw. Strafbefehl ausgesprochenen Vergünstigung und bietet damit die Möglichkeit, die Vollstreckung der Geldstrafe, für die der Rechtspfleger zuständig ist, zu beschleunigen. Dem Verurteilten bleibt es jedoch unbenommen, bei der Vollstreckungsbehörde erneut Ratenzahlung zu beantragen (§ 459 a Abs. 3 S. 2 StPO). 3. Für nachträgliche Entscheidungen über die Bewilligung von Zahlungserleichterungen entscheidet nach § 459 a StPO die Vollstreckungsbehörde, deren Funktionen der Rechtspfleger ausübt (vgl. §§ 22, 31 RPflG).
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Erster Titel: Strafen
§ 43
Die Vollstreckungsbehörde kann im Rahmen ihrer sich aus § 459 a Abs. 2 StPO ergebenden Zuständigkeit auch gerichtliche Entscheidungen abändern oder aufheben (RegE S. 310 BT-Drucks. 7/550). Vollstreckungsbehörde ist grundsätzlich die Staatsanwaltschaft (vgl. § 451 StPO), jedoch werden die Landesregierungen durch Art. 315 EGStGB ermächtigt, durch RechtsVO bis zum 31. 12. 1979 die Vollstreckung dem Richter beim Amtsgericht zu übertragen, soweit dieser im ersten Rechtszug entschieden und nicht auf Freiheitsstrafe erkannt hat. 4. Über Einwendungen des Verurteilten gegen die Entscheidungen der Vollstreckungsbehörde entscheidet das Gericht (vgl. § 459 h StPO). 5. Beachte § 79 a Nr. 2 c (Ruhen der Vollstreckungsverjährung, solange Zahlungserleichterungen bewilligt sind).
§ 43
Ersatzfreiheitsstrafe
An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe. Einem Tagessatz entspricht ein Tag Freiheitsstrafe. Das Mindestmaß der Ersatzfreiheitsstrafe ist ein Tag. 1. Da die Ersatzfreiheitsstrafe eine echte Kriminalstrafe ist (vgl. BGH 20, 16), findet die Vorschrift nur auf die Geldstrafen des StGB und der strafrechtlichen Nebengesetze Anwendung, nicht dagegen auf Zwangs-, Ordnungs- und Wertersatzstrafen (Einzelheiten siehe Tröndle LK 5 zu § 29 aF). 2. Entgegen der früheren Praxis ist das Maß der Ersatzfreiheitsstrafe nicht mehr in den Urteilstenor aufzunehmen (vgl. RegE S. 311 BT-Drucks. 7/550; Bremen NJW 1975, 1527 m. weit. Nachw.). Auch ohne besonderen Ausspruch im Urteil tritt aufgrund der klaren Regelung in S. 2 an die Stelle eines Tagessatzes ein Tag Freiheitsstrafe (krit. hierzu Blei AT 356; Zipf JuS 1974,141). 3. Das Mindestmaß der Ersatzfreiheitsstrafe beträgt nach S. 3 einen Tag. Hierdurch soll verhindert werden, daß in Fällen, in denen ein Restbetrag von weniger als 5 Tagessätzen nicht beigetrieben werden kann, unter Berufung auf § 40 Abs. 1 S. 2 die zwangsweise Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs vereitelt wird (vgl. Ber. S. 22 BT-Drucks. V/4095, siehe jedoch § 459 e Abs. 3 StPO, wonach wegen eines Teilbetrags, der keinem vollen Tag Freiheitsstrafe entspricht, die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe nicht angeordnet werden darf). 4. Die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe wird von der Vollstreckungsbehörde angeordnet (§ 459 e Abs. 1 StPO). Vollstreckungsbehörde ist grundsätzlich der bei der StA tätige Rechtspfleger (vgl. § 42 Anm. 3). 5. Uber Einwendungen gegen die Anordnung der Vollstreckung entscheidet das Gericht (§ 459 h StPO). Die Vollstreckung hat zu unterbleiben, wenn sie für den Verurteilten eine unbillige Härte wäre (§ 459 f StPO). Von dieser Möglichkeit sollte jedoch nur ganz
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§ 44
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
ausnahmsweise Gebrauch gemacht werden, da die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe das einzige Mittel ist, um zu verhindern, daß die Träger der staatlichen Strafgewalt nur als „Papiertiger" erscheinen. Eine „unbillige H ä r t e " liegt insbesondere dann vor, wenn der Verurteilte infolge Krankheit oder Arbeitslosigkeit schuldlos nicht in der Lage ist, die Geldstrafe selbst bei Gewährung von Zahlungserleichterungen zu bezahlen. Die Vorschrift darf sich jedoch nicht als Freibrief für Zahlungsunwillige und Asoziale auswirken.
- Nebenstrafe § 44
Fahrverbot
(1) Wird jemand wegen einer Straftat, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugfiihrers begangen hat, zu einer Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe verurteilt, so kann ihm das Gericht für die Dauer von einem Monat bis zu drei Monaten verbieten, im Straßenverkehr Kraftfahrzeuge jeder oder einer bestimmten Art zu führen. Ein Fahrverbot ist in der Regel anzuordnen, wenn in den Fällen einer Verurteüung nach § 315 c Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a, Abs. 3 oder § 316 die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 unterbleibt. (2) Darf der Täter nach den für den internationalen Kraftfahrzeugverkehr geltenden Vorschriften im Inland Kraftfahrzeuge führen, ohne daß ihm von einer deutschen Behörde ein Führerschein erteilt worden ist, so ist das Fahrverbot nur zulässig, wenn die Tat gegen Verkehrsvorschriften verstößt. (3) Das Fahrverbot wird mit der Rechtskraft des Urteils wirksam. Für seine Dauer wird ein von einer deutschen Behörde erteilter Führerschein amtlich verwahrt. In ausländischen Fahrausweisen wird das Fahrverbot vermerkt. (4) Ist ein Führerschein amtlich zu verwahren oder das Fahrverbot in einem ausländischen Fahrausweis zu vermerken, so wird die Verbotsfrist erst von dem Tage an gerechnet, an dem dies geschieht. In die Verbotsfrist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. I. Die Vorschrift enthält, wie sich jetzt nicht nur aus ihrer Stellung im Gesetz, sondern auch aus der Überschrift ergibt, eine Nebenstrafe, und zwar die einzige echte Nebenstrafe, die das S t G B seit der Neufassung durch das 2. S t r R G überhaupt kennt (siehe hierzu Vorbem. 1 b vor § 38). 1. Anliegen der Vorschrift ist es, leichtsinnige und nachlässige Kraftfahrer, die durch erhebliche Verkehrsverstöße oder besondere Unzuverlässigkeit im Zusammenhang mit dem Führen von Kraftfahrzeugen in Erscheinung getreten sind, ohne daß man jedoch schon von einer mangelnden Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sprechen kann, in der Form eines „Denkzettels" (amtl. Begründung) eindringlich auf ihre Pflichten im Straßenverkehr hinzuweisen.
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§ 44
2. Das Fahrverbot (FV) des § 44 und die Fahrerlaubnisentziehung (FE) gemäß § 69 schließen sich grundsätzlich aus. Hat sich der Täter durch die Tat als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen, so ist ihm gemäß § 69 die Fahrerlaubnis zu entziehen. Ein FV neben einer FE kommt vor allem dann in Betracht, wenn der Täter ohnehin nur eine gemäß § 69 a Abs. 2 beschränkte Fahrerlaubnis besitzt. Beispiel: Dem Landwirt L wurde wegen Trunkenheit am Steuer seines Pkw die Fahrerlaubnis gemäß § 69 entzogen. Gemäß § 69 a Abs. 1 wird eine Sperrfrist von 1 Jahr festgesetzt. Mit Rücksicht auf die Erfordernisse der von L betriebenen Landwirtschaft nimmt das Gericht jedoch gemäß § 69 a Abs. 2 landwirtschaftliche Fahrzeuge von der Sperre aus. L erhält daraufhin vom Landratsamt eine neue Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Führerscheinklasse 4, beschränkt auf Kraftfahrzeuge mit einer Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h. Wenig später verschuldet er mit seinem Traktor einen Unfall, der ein FV erfordert. Ein FV neben einer FE kommt weiter dann in Betracht, wenn das Gericht verhindern will, daß der Angeklagte nach dem Entzug der Fahrerlaubnis ein führerscheinfreies Mofa benutzt. 3. Schrifttum: Bode, Voraussetzungen des Fahrverbots, DAR 1970, 67; - Cramer, Die Austauschbarkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis gegen ein Fahrverbot, NJW 1968, 1746; - Herlan, Entziehung der Fahrerlaubnis und Fahrverbot durch Strafrichter und Verwaltungsbehörden, 1972; - Himmelreich/Hentschel, Fahrverbot und Führerscheinentzug, 1975; - Lackner, Das zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs, JZ 1965, 92, 120; - Warda, Das Fahrverbot gem. § 37 StGB, GA 1965, 65; - Wollentin-Breckerfeld, Verfahrensrechtliche Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des Fahrverbots, NJW 1966, 632.
II. Die Voraussetzungen im einzelnen: 1. Der Täter muß eine Straftat, d. h. eine schuldhaft begangene rechtswidrige Tat, begangen haben. Das FV auf Grund einer Verkehrsordnungswidrigkeit wird in § 25 StVG einer gesonderten Regelung unterzogen, die jedoch sachlich im wesentlichen dem § 44 StGB entspricht. Ein Unterschied besteht lediglich insofern, als bei Ordnungswidrigkeiten ein FV nur bei „groben oder beharrlichen" Verkehrsverstößen zulässig ist (s. u. III 2), während § 44 diese Einschränkung nicht enthält (vgl. BGH 24, 348). Die Verfassungsmäßigkeit des § 25 StVG ist inzwischen durch das BVerfG bestätigt worden (vgl. NJW 1969,1623). 2. Die Straftat muß entweder beim Führen eines Kraftfahrzeugs oder im Zusammenhang damit oder unter Verletzung der Pflichten eines Kfz-Führers begangen worden sein. a) Kraftfahrzeug ist jedes Fahrzeug i. S. der §§ 1 Abs. 2 StVG, 4 StVZO, also auch ein nicht führerscheinpflichtiges Mofa (vgl. BGH VM 1972 Nr. 25). b) Zu den strafbaren Handlungen beim Führen von Kraftfahrzeugen gehören insbesondere alle Verkehrsvergehen nach dem StGB, z. B. fahrlässige Tötung, fahrlässige Körperverletzung, Unfallflucht sowie alle Formen der Straßenverkehrsgefährdung, außerdem die in den strafrechtlichen Nebengesetzen enthaltenen Verkehrsvergehen, z. B. Fahren mit einem nicht versicherten Fahrzeug (§ 6 PflVersG). Für die Verkehrsordnungswidrigkeiten ist § 25 StVG zu beachten (s. o. II 1). Uber „Führen" eines Kfz siehe ausführlich § 315 c Anm. 3.
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c) Im Zusammenhang mit dem Führen eines Kfz ist eine Tat z. B. dann begangen, wenn der Täter das Kfz zur Begehung vorsätzlicher Taten wie Diebstahl, Zollvergehen oder Sittlichkeitsdelikten benutzt. Einzelheiten siehe § 69 Anm. II 1 a. d) Eine Verletzung der Pflichten eines Kfz-Führers liegt z. B. vor, wenn ein Kfz-Führer einem betrunkenen Beifahrer das Steuer seines Fahrzeugs überläßt (vgl. BGH VM 1963 Nr. 93). Das gleiche gilt für die Überlassung eines Kfz an eine Person ohne Fahrerlaubnis und Verstöße gegen das PflVersG (vgl. Hamm VRS 12, 272; Braunschweig VRS 18, .342 sowie OVG Lüneburg DAR 1972, 55). Auch Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte bei Entnahme einer Blutprobe kann hierher gerechnet werden (Hamm VRS 8,46). 3. Anliegen des Abs. 1 Satz 2 ist es, die Fälle befriedigend zu erfassen, in denen sich der Täter einer fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung durch Trunkenheit im Verkehr oder einer folgenlosen Trunkenheitsfahrt (§§ 315 c Abs. 1 Nr. 1 a, Abs. 3, 316) schuldig gemacht hat, das Gericht ihn aber ausnahmsweise - obwohl ein sog. Regelfall i. S. von § 69 Abs. 2 vorliegt - nicht (oder nicht mehr, vgl. Ffm VM 1976 Nr. 40) als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen hält und deshalb von einem Entzug der Fahrerlaubnis absieht. Hierher gehören vor allem die in Anm. II 1 b zu § 69 aufgeführten Beispiele, außerdem der Fall, daß das Gericht mit Rücksicht auf die lange Dauer der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung von einer endgültigen Fahrerlaubnisentziehung absieht (Ffm aaO.). Die Vorschrift will dagegen nicht erreichen, daß die Gerichte in allen „Härtefällen" auf den Ausspruch eines FV „ausweichen", obwohl ein Regelfall i. S. von § 69 Abs. 2 vorliegt. Das sog. 0,8-Promillegesetz, auf das § 44 Abs. 1 S. 2 zurückgeht, wollte keinesfalls eine Aufweichung der bisherigen Rspr. zu § 69 ermöglichen, sondern im Gegenteil den Komplex der Trunkenheit am Steuer wegen seiner besonderen Sozialschädlichkeit fester als bisher unter Kontrolle bringen (vgl. Janiszewski BA 1974, 155, 166 ff.). 4. Der Täter muß aus Anlaß der Tat zu einer Freiheits- oder Geldstrafe verurteilt worden sein. Geldbußen nach dem OWiG führen nur unter den Voraussetzungen der §§ 25, 25 a StVG zu einem Fahrverbot. Über die Möglichkeit eines FV im vereinfachten Jugendverfahren siehe § 76 JGG. Kein FV kann ausgesprochen werden, wenn das Gericht ungeachtet des Schuldspruchs von Strafe absieht (z. B. bei strafbefreiender tätiger Reue in den Fällen der §§ 315 Abs. 6, 315 b Abs. 6, 316 a Abs. 2) oder wenn die Strafverfolgung verjährt ist. III. Ausspruch und Dauer des Fahrverbots. 1. Das FV kann sowohl durch Urteil als auch im Strafbefehlsverfahren ausgesprochen werden (§ 407 Abs. 2 Nr. 1 StPO). Im Jugendgerichtsverfahren kann das FV auch im vereinfachten Jugendverfahren (§ 76JGG) angeordnet werden. 2. Die Verhängung des FV steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Durch § 25 StVG ist klargestellt worden, daß im Verfahren wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit (bei Verkehrsvergehen gelten die sich aus § 25 StVG ergebenden Beschränkungen nicht, vgl. BGH 24, 348) nur „grobe oder beharrliche" Verkehrsverstöße oder Pflichtverletzungen eines Kfz-Führers zu einem FV führen können. Ein grober Verstoß, der „in der Regel" zu einem FV führt, liegt vor, wenn der Betroffene ein Kraftfahrzeug geführt hat, obwohl seine Blutalkoholkonzentration die 0,8-Promille-Grenze erreicht oder überschritten hatte (vgl. § 25 Abs. 1 S. 2 StVG i. V. mit § 24 a StVG, abgedruckt nach § 316 210
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StGB). Aber auch sonst kann schon eine einmalige Pflichtverletzung die Verhängung eines FV rechtfertigen, wenn der Verkehrsverstoß wegen besonderer Gefahrenträchtigkeit auf einen erhöhten Grad an Leichtfertigkeit des Kraftfahrers schließen läßt, z. B. wenn ein Kraftfahrer zu verkehrsreicher Zeit auf einer Ausfallstraße die höchstzulässige Geschwindigkeit von 50 km/h um 32 km/h überschritten hat (Hamm DAR 1969, 187) oder wenn er, um sein repariertes Fahrzeug zu testen, in geschlossener Ortschaft eine längere Strecke mit 100 km/h gefahren ist (Hamm VM 1970 Nr. 35). Nach dem bundeseinheitlichen Bußgeldkatalog ist bei einer Ordnungswidrigkeit neben der Geldbuße ein Fahrverbot außer in den bereits erörterten Fällen (erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung) in der Regel dann auszusprechen, wenn ein Kraftfahrer an unübersichtlichen Stellen unter Nichtbeachtung eines Überholverbotszeichens oder einer ununterbrochenen weißen Linie verbotswidrig überholt, wenn er an Fußgängerüberwegen falsch überholt oder vorbeifährt oder wenn er auf einer Autobahn verbotswidrig wendet oder rückwärts fährt. (Aus dem Schrifttum hierzu siehe besonders Janiszewski DAR 1970, 85). Ungeachtet des Bußgeldkatalogs darf jedoch von der Möglichkeit des FV erst dann Gebrauch gemacht werden, wenn nach der Überzeugung des Gerichts feststeht, daß der mit dieser Nebenfolge angestrebte Erfolg — die Spezialprävention — im Einzelfall auch mit einer empfindlichen und im Wiederholungsfall auch mit einer verschärften Geldstrafe nicht erreicht werden kann (vgl. BVerfG VM 1969 Nr. 116; Hamm VM 1971 Nr. 38). Andererseits kann auch ein erstmaliger Verkehrsverstoß eines Kraftfahrers, der seit Jahrzehnten die Fahrerlaubnis besitzt, ein FV rechtfertigen, wenn der Verkehrsverstoß besonders gefahrenträchtig war und auf eine besondere Verantwortungslosigkeit schließen läßt (vgl. Ddf VM 1971 Nr. 117 betr. Verkehrsbehinderung durch Zurücksetzen, Anhalten und Wendeversuch auf einem BAB-Verteilerring). Da das FV eine echte Nebenstrafe ist (s. o. I), sind bei der Entscheidung über seinen Ausspruch alle Strafzwecke zu berücksichtigen, so auch der Strafzweck der Abschreckung anderer (sog. Generalprävention, vgl. BayObLG VRS 32, 347). Im Vordergrund müssen jedoch spezialpräventive Gesichtspunkte stehen (Hamm VM 1970 Nr. 35). 3. Die Dauer des FV beträgt mindestens 1 Monat, höchstens 3 Monate. Es unterscheidet sich dadurch wesentlich von der FE gemäß § 69, die mit einer Sperrfrist von mindestens 6 Monaten verbunden ist. Die Höchstdauer von 3 Monaten kommt z. B. dann in Betracht, wenn ein Kraftfahrer die höchstzulässige Geschwindigkeit wiederholt erheblich überschritten hat (vgl. Ddf VM 1971 Nr. 89) oder wenn ein Kraftfahrer durch dichtes Auffahren auf seinen Vordermann bei hoher Geschwindigkeit und über eine längere Strecke die Freigabe der Überholfahrbahn erzwingt (vgl. Ddf VM 1972 Nr. 92). War dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren die Fahrerlaubnis gemäß § 111 a StPO vorläufig entzogen worden, so ist die Dauer der vorläufigen FE gemäß § 51 Abs. 5 auf das FV ganz oder teilweise grundsätzlich anzurechnen. Dasselbe gilt, wenn der Führerschein vor der Entscheidung über das FV oder die FE in amtliche Verwahrung genommen, sichergestellt oder beschlagnahmt worden war, ohne daß ein förmlicher Gerichtsbeschluß nach § 111 a StPO ergangen war (vgl. § 51 Abs. 5 S. 2 i. V. mit § 69 a Abs. 6). Es ist in diesen Fällen sogar denkbar, daß das ausgesprochene FV nur noch deklaratorische Bedeutung hat, z. B. wenn ein FV ausgesprochen wird, das durch die vorläufige FE oder Sicherstellung des Führerscheins als verbüßt gilt. Auch wenn der Verurteilung mehrere rechtlich selbständige Handlungen zugrunde liegen, kann das FV nur bis zu einer Höhe von 3 Monaten ausgesprochen werden (vgl. Stree in Schönke-Schröder 18, 27). Erscheinen 3 Monate FV nicht ausreichend, so ist an eine FE gemäß § 69 zu denken, sofern sich ein entsprechender Eignungsmangel nachweisen läßt.
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§ 44
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
IV. Wirkung des Fahrverbots, Berechnung der Verbotsfrist. 1. Nach Abs. 3 wird das FV mit der Rechtskraft des Urteils (Strafbefehls) wirksam. Der Führerschein wird jedoch - anders als bei der FE des § 69 - nicht eingezogen, sondern lediglich amtlich verwahrt (Abs. 3 S. 2). 2. Die Verbotsfrist wird erst von dem Tage an gerechnet, an dem der Verurteilte seinen Führerschein in amtliche Verwahrung gegeben hat. Versäumt er es, seinen Führerschein nach Rechtskraft des Urteils (Strafbefehls) unverzüglich in amtliche Verwahrung zu geben, so läuft er Gefahr, daß sich die festgesetzte Verbotsfrist zu seinem Nachteil automatisch verlängert. Sie beginnt nämlich, wie dargelegt, schon mit Eintritt der Rechtskraft, wird aber erst von dem Tag an gerechnet, an dem der Führerschein in amtliche Verwahrung genommen werden kann. Durch diese Regelung soll verhindert werden, daß der Verurteilte durch eine planmäßige Verzögerung der Herausgabe seines Führerscheins die Wirkungen des FV praktisch umgeht. Bei der jetzigen gesetzlichen Regelung aber hat er ein Interesse daran, seinen Führerschein möglichst schon am Tage der Rechtskraft in amtliche Verwahrung zu geben. Um ihn vor unbegründeten Nachteilen, die sich aus der Berechnung der Verbotsfrist ergeben könnten, möglichst zu bewahren, ist er gem. § 268 c StPO über den Beginn der Verbotsfrist zu belehren (siehe auch §§ 409 Abs. 1 S. 2 StPO, 25 Abs. 8 StVG). 3. Die Zeit, während der der Verurteilte sich aufgrund einer behördlichen Anordnung in einer Anstalt befindet (z. B. zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe), wird in die Verbotsfrist nicht eingerechnet (Abs. 5 S. 2). Für das FV bei Verkehrsordnungswidrigkeiten ergibt sich eine entsprechende Regelung aus § 25 Abs. 5 S. 2 StVG. 4. War dem Verurteilten vor der Entscheidung über das FV gemäß § 111 a StPO die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen worden oder befand sich sein Führerschein sonst schon in amtlicher Verwahrung, so ist die Zeit vor Erlaß des Urteils (Strafbefehls usw.), wie oben unter III 3 erwähnt, gemäß § 51 Abs. 5 grundsätzlich ganz oder teilweise anzurechnen. Dem Beschuldigten ist dabei gleichzeitig mit der Entscheidung über das FV der Führerschein bis zur Rechtskraft grundsätzlich wieder auszuhändigen (§ 111 a Abs. 5 S. 1 StPO). Das Gericht kann jedoch, wenn es eine Verbotsfrist ausspricht, die noch nicht durch die Zeit der vorläufigen FE verbüßt ist, die Rückgabe aufschieben, wenn der Beschuldigte dem nicht widerspricht (§ 111 a Abs. 5 S. 2 StPO). Der Beschuldigte wird diese Regelung vor allem dann akzeptieren, wenn er beabsichtigt, gegen das Urteil (Strafbefehl, Bußgeldbescheid usw.) kein Rechtsmittel einzulegen. In diesem Fall ist die Zeit zwischen Erlaß und Rechtskraft der Entscheidung gem. § 450 Abs. 3 StPO unverkürzt anzurechnen. Besteht der Verurteilte auf Rückgabe des Führerscheins und legt er gleichzeitig Rechtsmittel ein, so kann er bis zum Eintritt der Rechtskraft von seiner Fahrerlaubnis rechtmäßig Gebrauch machen. V. Das FV bezieht sich auf Kraftfahrzeuge aller Art, somit auch auf führerscheinfreie Kraftfahrzeuge (z. B. Mofas, vgl. Hamm VRS 34, 367; Oldenburg VM 1969 Nr. 8; Dreher 10). Eine Beschränkung des FV auf Fahrzeuge bestimmter Art ist nach Abs. 1 möglich, kommt aber nur als Ausnahme in Betracht, z. B. um einem Landwirt, der bei einer Vergnügungsfahrt einen schweren Unfall verschuldet hat, die Möglichkeit zu geben, wenigstens noch seine landwirtschaftlichen Nutzfahrzeuge zu führen, ihm andererseits aber doch einen „Denkzettel" zu verabfolgen, indem man ihm die Benutzung aller übri212
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gen Fahrzeuge verbietet. Die „Fahrzeugart" bestimmt sich zunächst nach den Fahrzeuggruppen, die der Einteilung der Führerscheinklassen gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 StVZO zugrundeliegen. Enthält eine Führerscheinklasse mehrere Gruppen, so kann das FV auf einzelne dieser Gruppen beschränkt werden (Stgt DAR 1975, 305). Unzulässig ist es dagegen, das Eigentum an einem Fahrzeug als Bestimmungsmerkmal der Fahrzeugart aufzufassen (vgl. Saarbrücken NJW 1970, 1053). Auch die Beschränkung des FV auf das Führen von Taxis ist unzulässig (Stgt aaO.; Dreher 10). Zum Ganzen siehe auch § 69 a Anm. 2.
VI. Besonderheiten bei ausländischen Führerscheinen 1. Ein FV kann gem. § 44 Abs. 2 nur bei Verstößen gegen Verkehrsvorschriften ausgesprochen werden, nicht auch bei solchen Delikten, die nur im Zusammenhang mit dem Führen eines Fahrzeugs begangen wurden oder gegen sonstige Pflichten eines Kfz-Führers verstoßen (s. o. II 2 c, d). 2. Das FV wird in dem ausländischen Fahrausweis lediglich vermerkt (Abs. 3 S. 3); der Führerschein wird also nicht amtlich verwahrt. Die Verbotsfrist beginnt mit dem Tage der Eintragung. Zum Zwecke der Eintragung kann der Führerschein beschlagnahmt werden (§ 463 bAbs. 2StPO). 3. Für die Verkehrsordnungswidrigkeiten sieht § 25 Abs. 3 StVG eine dem § 44 entsprechende Regelung vor. VII. Zuwiderhandlungen gegen ein FV nach § 44 StGB oder § 25 StVG sind nach § 21 StVG als Vergehen unter Strafe gestellt. Unter den dort näher bestimmten Voraussetzungen ist auch die Einziehung des Fahrzeugs zulässig. VIII. Ein FV wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß in einem anderen Verfahren bereits wegen einer anderen Straftat ein FV ausgesprochen wurde. Dies kann zur Folge haben, daß der betroffene Kraftfahrer insgesamt länger als 3 Monate kein Fahrzeug führen darf. Im Falle einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung darf jedoch eine Verbotsfrist von 3 Monaten insgesamt nicht überschritten werden (vgl. Stree in Schönke-Schröder 27).
IX. Prozessual ist folgendes zu beachten: a) Sowohl im Strafverfahren als auch im Bußgeldverfahren nach dem OWiG muß der Angeklagte bzw. Betroffene gemäß § 265 StPO auf die Möglichkeit der Verhängung eines FV hingewiesen werden, wenn diese Nebenfolge in der Anklage (Strafbefehl) bzw. im Bußgeldbescheid vorher noch nicht angedroht oder verhängt worden war (vgl. Hamm MDR 1971, 776; Stgt VM 1972 Nr. 112 in entsprechender Anwendung von § 265 Abs. 2 StPO). Wegen der unterschiedlichen Voraussetzungen gilt dies auch dann, wenn der Angeklagte zuvor auf die Möglichkeit einer FE hingewiesen worden war (a. A. Ddf VM 1973 Nr. 16). b) Im Rechtsmittelverfahren ist eine Beschränkung des Rechtsmittels auf die Verhängung des FV nur dann möglich, wenn im Einzelfall kein innerer Zusammenhang mit der ausgesprochenen Strafe oder Geldbuße besteht (vgl. Celle NJW 1969, 1187). Wegen der 213
§ 45
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
bestehenden Wechselwirkung zwischen Strafe (Buße) und Nebenstrafe bzw. Nebenfolge (siehe hierzu vor allem BGH 24, 11) wird dies allerdings nur ausnahmsweise der Fall sein (vgl. Oldenburg VRS 42,193; Händel NJW 1971,1473). c) Wird dem Täter in I. Instanz die Fahrerlaubnis entzogen, so steht das Verschlechterangsverbot der §§ 331, 358 Abs. 2 StPO (sog. Verbot der reformatio in peius) dem Ausspruch eines FV in der Berufungsinstanz oder - nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht - in der erneuten Hauptverhandlung nicht entgegen (vgl. Cramer NJW 1968,1764; st. Rspr., vgl. BGH VRS 40, 54). Das FV ist zwar im Gegensatz zur FE keine Sicherungsmaßregel, sondern eine echte Nebenstrafe. Beide Institutionen sind aber in ihrer praktischen und kriminalpolitischen Zielsetzung so wesensähnlich, daß man das FV nicht als ein völlig andersartiges, sondern als ein milderes Reaktionsmittel ansehen muß. d) Wird ein neben einer Geldbuße gemäß § 25 StVG angeordnetes FV in der Rechtsmittelinstanz aufgehoben, so ist der erneut mit der Sache befaßte Tatrichter durch das Verschlechterungsverbot nicht gehindert, die ursprünglich festgesetzte Geldbuße angemessen zu erhöhen (vgl. BGH 24, 11). Für ein gemäß § 44 neben einer Geldstrafe angeordnetes FV gelten diese Grundsätze seit der Neuregelung des Geldstrafensystems durch das EGStGB jedoch nicht mehr: Eine Erhöhung der Tagessatzzahl ist bei einem nur vom Angeklagten eingelegten Rechtsmittel schlechthin unzulässig; eine Anhebung der Tagessatzhöhe kommt nur dann in Betracht, wenn für deren Festsetzung ausnahmsweise (z. B. mit Rücksicht auf die durch das FV bedingte Einkommensminderung) die gleichzeitige Verhängung des FV von Bedeutung war (BayObLG VM 1976 Nr. 87). Die weitergehende frühere Rspr. (vgl. z. B. Hamm NJW 1971, 1190 und Koblenz VRS 47, 416) ist durch die Gesetzesänderung überholt.
- Nebenfolgen § 45
Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts
(1) Wer wegen eines Verbrechens zu Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wird, verliert für die Dauer von fünf Jahren die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen. (2) D a s Gericht kann dem Verurteilten für die Dauer von zwei bis zu fünf Jahren die in Absatz 1 bezeichneten Fähigkeiten aberkennen, soweit das Gesetz es besonders vorsieht. (3) Mit dem Verlust der Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, verliert der Verurteilte zugleich die entsprechenden Rechtsstellungen und Rechte, die er innehat. (4) Mit dem Verlust der Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, verliert der Verurteilte zugleich die entsprechenden Rechtsstellungen und Rechte, die er innehat, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt. 214
Erster Titel: Strafen
§ 45
(5) Das Gericht kann dem Verurteilten für die Dauer von zwei bis zu fünf Jahren das Recht, in öffentlichen Angelegenheiten zu wählen oder zu stimmen, aberkennen, soweit das Gesetz es besonders vorsieht. 1. Die Reform der vom Gesetz als „Nebenfolgen" bezeichneten Statusminderungen war bereits Gegenstand des 1. StrRG. Die jetzigen §§ 45-45 b stimmen mit den §§ 31-33 idF des 1. StrRG wörtlich überein. Über entsprechende Nebenfolgen in anderen Gesetzen siehe insbesondere § 375 AO. 2. Unter öffentlichen Ämtern sind alle Stellungen zu verstehen, in denen Dienstverrichtungen wahrzunehmen sind, die sich aus der Staatsgewalt ableiten und staatlichen Zwekken dienen (vgl. RG 62, 26). Hierher gehören insbesondere alle Ämter in der staatlichen Verwaltung und in der Justiz, aber auch Ämter in der Gemeindeverwaltung sowie in Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts, soweit diese staatlichen Zwecken dienen. Dies ist z. B. auch der Fall bei den Landesversicherungsanstalten. Für Notare, Laienrichter und Rechtsanwälte ergibt sich das Erfordernis der Amtsfähigkeit aus § § 4 9 BNotO, 32 Nr. 1 GVG und 14 Nr. 3 BRAO. 3. Der Begriff der öffentlichen Wahlen ist weiter zu verstehen als in § 108 d. Er umfaßt alle Wahlen in öffentlichen Angelegenheiten, z. B. Wahlen innerhalb der Berufsgenossenschaften (vgl. Dreher 3 m. Nachw.). 4. Während die zwingende Folge des Abs. 1 nur bei Verbrechen eintritt, derentwegen der Täter zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr verurteilt worden ist, bringt Abs. 2 einen erweiterten Anwendungsbereich der Vorschrift für die Fälle der §§ 92 a, 101, 102 Abs. 2, 108 c, 109 i und 358. Im Nebenstrafrecht ist die Aberkennung der Amtsfähigkeit und der Wählbarkeit z. B. in § 375 AO vorgesehen. Die Entscheidung steht in diesen Fällen jedoch - anders als bei Abs. 1 - im Ermessen des Gerichts. Die Höhe der jeweiligen Freiheitsstrafe, neben der auf Amtsunfähigkeit erkannt werden kann, ist unterschiedlich. 5. Die Absätze 3 und 4 stellen klar, daß Entscheidungen nach Abs. 1 und Abs. 2 sich auch auf solche Rechtsstellungen und Rechte beziehen, die der Verurteilte bereits innehat. Der Verlust dieser Rechtsstellungen und Rechte ist zwingend. Zu beachten ist lediglich der Vorbehalt des Abs. 4, der sich auf § 47 Abs. 1 Nr. 2 Bundeswahlgesetz bezieht. Nach dieser Vorschrift entscheidet über den Verlust der Mitgliedschaft im Bundestag als Folge des Verlusts der Wählbarkeit infolge eines Gerichtsurteils der Vorstand des Bundestags. 6. Der Verlust des Wahl- und Stimmrechts ist nur unter engen Voraussetzungen und nur zeitlich begrenzt möglich (vgl. Abs. 5). Lediglich die §§ 92 a, 101, 102 Abs. 2, 108 c und 109 i sehen diese Rechtsfolge vor. Die Entscheidung steht im Ermessen des Gerichts. 7. Im Urteilstenor müssen die Nebenfolgen des § 45 nur in den Fällen erscheinen, in denen die Entscheidung im Ermessen des Gerichts steht, nämlich bei Abs. 2 und Abs. 5. Im Falle des Abs. 1, wo es sich um zwingendes Recht handelt, bedarf es dagegen keiner ausdrücklichen Erwähnung im Urteil. 215
§§ 45a, 45b
§ 45 a
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Eintritt und Berechnung des Verlustes
(1) Der Verlust der Fähigkeiten, Rechtsstellungen und Rechte wird mit der Rechtskraft des Urteils wirksam. (2) Die Dauer des Verlustes einer Fähigkeit oder eines Rechtes wird von dem Tage an gerechnet, an dem die Freiheitsstrafe verbüßt, verjährt oder erlassen ist. Ist neben der Freiheitsstrafe eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet worden, so wird die Frist erst von dem Tage an gerechnet, an dem auch die Maßregel erledigt ist. (3) War die Vollstreckung der Strafe, des Strafrestes oder der Maßregel zur Bewährung oder im Gnadenwege ausgesetzt, so wird in die Frist die Bewährungszeit eingerechnet, wenn nach deren Ablauf die Strafe oder der Strafrest erlassen wird oder die Maßregel erledigt ist. 1. Die Regelung des Abs. 1 bezieht sich auf jede Art des Verlusts nach § 45, gleichgültig, ob er befristet (§ 45 Abs. 1, 2 und 5) oder endgültig ist (§ 45 Abs. 3 und 4), während die Abs. 2 und 3 nur den befristeten Verlust betreffen. 2. Da die die Aberkennung von Fähigkeiten und Rechten begrenzenden Fristen gemäß Abs. 2 erst zu laufen beginnen, wenn die Freiheitsstrafe verbüßt ist, sind einem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten die in § 45 Abs. 1 bezeichneten Fähigkeiten praktisch auch lebenslang aberkannt. Die in § 45 Abs. 1 enthaltene zeitliche Beschränkung wird in diesem Falle nicht wirksam. 3. Beispiel zu Abs. 3: Der Beamte A wird wegen Bestechlichkeit (§ 332) zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt. Außerdem wird ihm gemäß §§ 358, 45 Abs. 2 auf die Dauer von 3 Jahren die Fähigkeit aberkannt, öffentliche Ämter zu bekleiden. Verbüßt er die Strafe voll, so beginnt die dreijährige Frist mit der Entlassung aus der Vollzugsanstalt (Abs. 2 Satz 1). Wird ihm dagegen nach einer Verbüßung von 7 Monaten der Strafrest gemäß § 57 auf zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt, so beginnt die Laufzeit der Amtsunfähigkeit erst mit dem endgültigen Erlaß der Strafe. Wird der Strafrest nach dem Ende der Bewährungszeit erlassen, so wird nach Abs. 3 die Bewährungszeit auf die Dauer der Amtsunfähigkeit angerechnet, so daß die Fähigkeit, ein öffentliches Amt zu" bekleiden, vom Ende seiner Bewährungszeit an noch ein Jahr aberkannt bleibt. A kann sich also 3 Monate früher um ein neues öffentliches Amt bewerben, als wenn er die Strafe voll verbüßt hätte.
§ 45 b
Wiederverleihung von Fähigkeiten und Rechten
(1) Das Gericht kann nach § 45 Abs. 1, 2 verlorene Fähigkeiten und nach § 45 Abs. 5 verlorene Rechte wiederverleihen, wenn 1. der Verlust die Hälfte der Zeit, für die er dauern sollte, wirksam war und 2. zu erwarten ist, daß der Verurteilte künftig keine vorsätzlichen Straftaten mehr begehen wird. 216
Zweiter Titel: Strafbemessung
Vor § 46
(2) In die Fristen wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Verurteilte auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. 1. Die Entscheidung, die im Ermessen des Gerichts steht, dient der Resozialisierung des Verurteilten. 2. Formelle Voraussetzung für eine vorzeitige Wiederverleihung der nach § 45 Abs. 1, 2 oder 5 aberkannten Fähigkeiten und Rechte ist, daß der Verlust bereits mindestens die Hälfte der ursprünglich vorgesehenen Frist wirksam gewesen ist (Abs. 1 Nr. 1). Wegen der Berechnung der Frist siehe § 45 a Abs. 2 und 3 sowie § 45 b Abs. 2. 3. Materielle Voraussetzung ist eine günstige Täterprognose. 4. Die Wiederverleihung bezieht sich nicht auf solche Rechte und Rechtsstellungen, die der Täter bereits vor der Verurteilung innegehabt, aber als Folge des Verlusts der Amtsfähigkeit und der Wählbarkeit nach § 45 Abs. 3 und 4 eingebüßt hat. Um solche Rechte und Rechtsstellungen muß er sich neu bemühen. Die Möglichkeit einer Wiederverleihung im Gnadenweg wird hierdurch allerdings nicht berührt.
Zweiter Titel: Strafbemessung Vorbemerkungen 1. Sinn und Zweck der Strafe gehören seit jeher zu den umstrittensten Themen nicht nur innerhalb der Strafrechtswissenschaft, sondern auch der Gesellschaftspolitik. Ausgangspunkt jeder zu einer Theorie über Sinn und Zweck der Strafe führenden Erörterung ist die Feststellung, daß die Strafe, gleich in welcher Form sie ausgesprochen werden mag, ein Übel darstellt und als solches auch empfunden werden soll. Strafe ist damit Repression. Die Berechtigung des Staates zur Anwendung repressiver Maßnahmen in Form von Strafen ergibt sich aus seiner Aufgabe, den Schutz der von der Gesellschaft anerkannten Rechtsgüter zu garantieren. Zum Schutz dieser Rechtsgüter bedient sich die Rechtsordnung normierter Rechtssätze in der Form von Verboten und Geboten, in denen klar festgelegt („typisiert") wird, welche Handlungen als sozialschädlich zu unterlassen bzw. welche Handlungen geboten sind, um einen sozialschädlichen Erfolg zu verhindern. Um die Einhaltung dieser Normen zu gewährleisten, bedarf es bestimmter Sanktionen, nämlich der Strafen. Da es in einem modernen Rechtsstaat weder möglich noch wünschenswert ist, daß jeder einzelne, der durch eine normwidrige Handlung in seinen Interessen berührt worden ist, im Wege der privaten Strafe selbst eingreift, ist es Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, daß nach Feststellung eines sozialschädlichen Verhaltens die angedrohten Sanktionen durch die verfassungsrechtlich hierzu berufenen Träger der Staatsgewalt in einem rechtsstaatlich geregelten Verfahren ausgesprochen und schließlich auch vollstreckt werden. Die Strafe ist damit die Antwort der Gesellschaft auf sozialschädliches Verhalten. Ihr Rechtsgrund ist die Begehung eines Verbrechens, d. h. eines rechtswidrigen Verhaltens, das von einem gesetzlichen Tatbestand erfaßt wird und dem Täter als schuldhaftes Verhalten vorgeworfen werden kann. Mit der Frage nach dem
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Vor § 46
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Rechtsgrund der Strafe ist allerdings noch nicht die Frage nach ihrem Sinn und Zweck beantwortet. a) Nach den auf Kant und Hegel zurückgehenden absoluten Theorien erschöpft sich das Wesen der Strafe in der Repression. Der Täter wird allein deshalb bestraft, weil er schuldhaft gegen die „Spielregeln" der Gesellschaft verstoßen hat (punitur, quia peccatum est). Art und Höhe der Strafe bestimmen sich ausschließlich nach der Schwere der Rechtsverletzung und dem Grad der Schuld. Dadurch werden Schuld und Sühne zu den tragenden Pfeilern der Strafe, da Wesen und Zweck gleichermaßen in der Schuldvergeltung liegen. Weitergehende Strafzwecke, insbesondere die Verhinderung künftiger Straftaten, stellen sich nicht als primäre Zwecke, sondern nur als wünschenswerte Nebeneffekte der Strafe dar. b) Auch die sog. relativen Theorien können auf das Verbrechen als Strafgrund nicht verzichten. Sinn und Zweck der Strafe erschöpfen sich aber nicht in ihrem Wesen (Repression als Folge von Verstößen gegen strafbewehrte Normen), sondern zielen auf die Verhinderung künftiger Straftaten ab. Durch die Bestrafung des Täters zeigt der Staat dem Bürger, welche Folgen ein Verstoß gegen die von der Gesellschaft aufgestellten Normen nach sich ziehen kann. Die Bestrafung soll sowohl den Täter selbst als auch alle übrigen präsumtiven Täter von der Begehung ähnlicher Taten abhalten (punitur, ne peccetur; Gedanke der Spezial- und Generalprävention). Die Repression ist nicht Selbstzweck, sondern nur notwendiges Mittel zur Prävention. Hauptvertreter der den Präventionsgedanken betonenden „soziologischen" oder „modernen" Strafrechtsschule im sog. Schulenstreit um die Wende des 19./20. Jahrhunderts war Franz von Liszt (1851-1919) auf der Grundlage seiner 1882 herausgegebenen Abhandlung „Der Zweckgedanke im Strafrecht" und dem auf ihr beruhenden „Marburger Programm", als namhafter Gegenspieler auf der Seite der „klassischen" Strafrechtsschule ist Binding (1841-1920) zu nennen. Eine neue Erscheinungsform des Präventionsdenkens wird z. Z. von der internationalen Bewegung der „Défense Sociale" zur Diskussion gestellt (vgl. Marc Ancel, Die neue Sozialverteidigung, 1970; Filippo Grammatica, Grundlagen der Défense Sociale, 1965). c) Als Folge des unter b) erwähnten Schulenstreits zwischen der „klassischen" und der „modernen" (soziologischen) Strafrechtsschule haben sich die sog. Vereinigungstheorien herausgebildet, die auch als Grundlage des 1. und 2. StrRG angesehen werden können. Sie beruhen auf der zutreffenden Erwägung, daß die staatliche Reaktion auf ein Verbrechen nicht unter einem einseitigen Aspekt erfolgen darf, sondern vielschichtiger Natur sein muß, um den Gesamtumständen des Einzelfalls, insbesondere der Täterpersönlichkeit, gerecht zu werden. So kann im einen Fall das klassische Prinzip der Schuldvergeltung im Vordergrund stehen (z. B. bei Tätern, die entweder nicht resozialisierungsbedürftig oder nicht resozialisierungsfähig sind), während im anderen Fall spezial- oder generalpräventive Erwägungen den Ausschlag geben können. Nur eine sinnvolle, den Umständen des Einzelfalls angepaßte Kombination des auf dem Prinzip der Schuldvergeltung beruhenden Sühnegedankens mit dem Gedanken der Spezial- und Generalprävention kann die Strafe als ein verfassungskonformes Reaktionsmittel des Staates erscheinen lassen. Im einzelnen ist dabei folgendes zu beachten: Grundlage der Strafzumessung ist die Schuld des Täters (sog. Schuldprinzip, vgl. § 46 Abs. 1 S. 1). Je größer die Schuld, desto stärker das Verlangen der Gesellschaft nach Sühne. Gleichwohl ist der Sühnegedanke durch die Erkenntnisse der modernen Kriminologie in den letzten Jahren immer mehr in den Hintergrund getreten. Diese Entwicklung hat inzwischen nicht 218
Zweiter Titel: Strafbemessung
Vor § 46
nur in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, sondern vor allem auch in den Strafrechtsreformgesetzen ihren Niederschlag gefunden. Der mit der Strafe verfolgte Schuldausgleich darf nie Selbstzweck sein; die Strafe als Antwort der Gesellschaft auf eine Straftat ist vielmehr nur dann gerechtfertigt, wenn sie sich als notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts erweist (vgl. BGH 24, 40, 42). Diese Schutzaufgabe wird primär durch eine Strafe erfüllt, die geeignet ist, den Täter von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten (sog. Spezialprävention) und ihn, sofern er bereits sozial abgeglitten ist, wieder in die Gesellschaft einzugliedern (sog. Resozialisierung, vgl. § 46 Abs. 1 S. 2). Kurzfristige Freiheitsstrafen erreichen den gewünschten Resozialisierungseffekt nur selten. Ihr Anwendungsbereich wurde daher durch die Reformgesetzgebung, insbesondere durch das 2. StrRG, erheblich eingeschränkt. Nach den Erfahrungen des Strafvollzugs ist es nur bei längeren Freiheitsstrafen möglich, den sozial abgeglittenen Täter durch eine gezielte sozialpädagogische Behandlung wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Bei Gelegenheitstätern, die noch nicht als sozial abgeglitten erscheinen, dürfte grundsätzlich eine angemessene Geldstrafe den erstrebten Abschreckungseffekt erreichen und bei Straftaten, deren Unrechts- und Schuldgehalt nicht allzu schwer wiegt, auch eine ausreichende Sühne darstellen (Denkzettelfunktion der Geldstrafe). In diesen Fällen könnte eine Freiheitsstrafe u. U. sogar eine entsozialisierende Wirkung erzielen, was § 46 Abs. 1 S. 2 zuwiderlaufen würde. Um jede kriminalpolitisch unerwünschte Anwendung einer kurzfristigen Freiheitsstrafe auszuschließen, wurde in § 38 Abs. 2 das gesetzliche Mindestmaß auf einen Monat erhöht und die Verhängung von Freiheitsstrafen unter sechs Monaten in § 47 Abs. 1 nur dann zugelassen, wenn dies „zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich" ist. Aber selbst in diesen Fällen ist die Freiheitsstrafe, wenn irgend möglich, zur Bewährung auszusetzen (vgl. § 56 Abs. 1). Zur Erfüllung ihrer präventiven Schutzaufgabe kann die Strafe unter bestimmten Voraussetzungen auch den Zweck verfolgen, potentielle weitere Täter von Straftaten dieser oder ähnlicher Art abzuhalten (sog. Generalprävention). Die Strafe ist dann „zur Verteidigung der Rechtsordnung" (vgl. §§ 47 Abs. 1, 56 Abs. 3) so zu bemessen, daß sie in sozial besonders gefährdeten Kreisen Beachtung findet und der Rechtsgemeinschaft zeigt, daß der Staat noch in der Lage ist, das Recht gegenüber dem vom Täter begangenen Unrecht durchzusetzen (vgl. BGH 24, 40, 44). Solche Erwägungen werden vor allem dort im Vordergrund stehen, wo ein bestimmtes Delikt in einer für die Allgemeinheit unerträglichen Weise überhand nimmt, wie dies z. B. bei Fahrzeugdiebstählen und bei Trunkenheit im Verkehr zu beklagen ist. Aber auch bei Gewalttätigkeiten jeder Art kann die Verteidigung der Rechtsordnung es gebieten, Strafen auszusprechen, die allgemein beeindrucken. Das in § 46 Abs. 1 Satz 1 festgelegte Schuldprinzip darf allerdings auch in diesen Fällen nicht verletzt werden. Die Strafe muß in erster Linie Schuldstrafe bleiben. Eine Überschreitung des schuldangemessenen Strafmaßes aus Gründen der Generalprävention ist schlechthin unzulässig (so schon BGH 20, 266 auf der Grundlage des früheren Rechts). Zu beachten ist ferner, daß generalpräventive Erwägungen überall dort verfehlt sind, wo wegen der besonderen Fallgestaltung eine abschreckende Wirkung auf Dritte psychologisch gar nicht erwartet werden kann (vgl. BGH JR 1969,187 m. Anm. Koffka betr. eine Mutter, die aus Verzweiflung zusammen mit ihrem Kleinkind aus dem Leben scheiden wollte und den Gashahn öffnete, wobei dann allerdings nur das Kind getötet wurde, während sie selbst gerettet werden konnte). Aber auch in den Fällen, in denen die Verteidigung der Rechtsordnung aus generalpräventiven Erwägungen eine eindrucksvolle Bestrafung des Täters erfordert, hat der Richter genau abzuwägen, ob er im Rahmen 219
§ 46
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
des ihm eingeräumten Spielraums (sog. Spielraum- oder Schuldrahmentheorie, vgl. BGH 20, 266) bei der Strafzumessung an die obere Grenze der schuldangemessenen Strafe geht oder ob er im Interesse der Resozialisierung oder aus einer anderen spezialpräventiven Erwägung nur eine verhältnismäßig milde Strafe verhängt. Die Tatsache, daß das Gesetz die Generalprävention im Gegensatz zur mehrfachen Erwähnung der sozialen Anpassung des Täters (vgl. §§ 46 Abs. 1 S. 1, 47 Abs. 1, 59 Abs. 1) nicht ausdrücklich hervorhebt, läßt nämlich erkennen, daß seit Inkrafttreten des 1. StrRG der Schwerpunkt der Strafzumessung bei der Spezialprävention zu liegen hat (vgl. BGH 24,40,42). 2. Schrifttum: Ancel, Die neue Sozialverteidigung, 1970; - Bockelmann, Vom Sinn der Strafe, Heidelberger Jahrbücher, 1961, S. 25; - ders., Schuld und Sühne, 1957; - ders., Fr. v. Liszt und die kriminalpolitische Konzeption des Allg. Teils, ZStW81, 597; Brinkmann, Vom Sinn der Strafe usw., 1954; - Bruns, Die „Generalprävention" als Zweck und Zumessungsgrund der Strafe usw., v. Weber-Festschr. 1963, 75; — ders., Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974; — Dreher, Zur Spielraumtheorie als der Grundlage der Strafzumessungslehre des Bundesgerichtshofs, JZ 1967, 41; - ders., Gedanken zur Strafzumessung, JZ 1968, 209;-Hoerster, Zur Generalprävention als dem Zweck staatlichen Strafens, GA 1970, 272; - Klose, „Ius puniendi" und Grundgesetz, ZStW 86, 33; Melzer, Chancen und Möglichkeiten der Sozialverteidigung in Deutschland, ZStW 84, 648; - Noll, Die ethische Begründung der Strafe, 1962; - Ostendorf, Auf Generalprävention kann noch nicht verzichtet werden, ZRP 1976, 281; - Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, JuS 1966, 377; - ders., Fr. v. Liszt und die kriminalpolitische Konzeption des Alternativentwurfs, ZStW 81, 611 ; - Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, 2. Aufl. 1971; - Schaff stein, Spielraumtheorie, Schuldbegriff und Strafzumessung nach den Strafrechtsreformgesetzen, Gallas-Festschr. S. 99; - Eb. Schmidt, Vergeltung, Sühne und Spezialprävention, ZStW 67, 177; - Schröder, Zur Verteidigung der Rechtsordnung, JZ 1971, 241 ; - Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung, 1972. Weitere Hinweise siehe Vorbem. II vor § 38.
§ 46
Grundsätze der Strafzumessung
(1) D i e Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. D i e Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen. (2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters, die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen. 220
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(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden. 1. Die durch das 2. StrRG an dieser Stelle eingefügte Vorschrift, die wörtlich mit § 13 idF des 1. StrRG übereinstimmt, bekennt sich in Abs. 1 S. 1 ausdrücklich zum Schuldstrafrecht, d. h. Strafen dürfen nur dann und nur insoweit verhängt werden, als dem Täter sein Verhalten zum Vorwurf gemacht werden kann (nulla poena sine culpa). Die Schuld des Täters ist somit — wie bisher — Ausgangspunkt und Grundlage jeder Strafzumessung. Der Schuldbegriff des Strafzumessungsrechts ist dabei weiter zu verstehen als der Terminus Schuld im Zusammenhang mit der Lehre vom Verbrechen: Schuld i. S. von § 46 Abs. 1 S. 1 ist der Inbegriff aller Merkmale, die das Gewicht des sozialethischen Unwerturteils bestimmen (vgl. Bockelmann AT 221; Dreher 4). Über den Rechtsgrund der Strafe im einzelnen und die mit der Strafe verfolgten Zwecke (Spezialprävention, Generalprävention) siehe Vorbem. 1. - Aus dem Schrifttum siehe insbesondere Lackner, GallasFestschr. S. 117 ff., außerdem Schaffstein, Gallas-Festschr. S. 99 ff., und die Hinweise in Vorbem. 2. 2. Innerhalb der Strafzumessung im Einzelfall hat sich der Richter zunächst an den gesetzlich festgesetzten Strafrahmen zu halten. Innerhalb dieses Strafrahmens hat der Richter unter Berücksichtigung aller besonderen Umstände des Einzelfalls die Strafe auszusprechen, die einerseits schuldangemessen ist, andererseits den gesetzlich anerkannten Strafzwecken (s. Vorbem. 1) gerecht wird. Lediglich bei Mord und den in § 220 a Abs. 1 Nr. 1 erfaßten Fällen des Völkermords, für die das Gesetz zwingend lebenslange Freiheitsstrafe vorsieht, ist der Richter einer dem Einzelfall angepaßten Strafzumessung enthoben. Im übrigen hat der Richter jedoch im Rahmen der ihm schuldangemessen erscheinenden Strafe einen „Spielraum", innerhalb dessen er dem einen oder anderen Strafzweck praktische Bedeutung zukommen lassen kann (sog. Spielraum- oder Schuldrahmentheorie, vgl. BGH 20, 266 sowie Vorbem. 1). Dieser „Spielraum" wird allerdings dadurch eingeengt, daß nach den Intentionen des Gesetzgebers die Strafe grundsätzlich an den besonderen persönlichen Verhältnissen des Täters und den aus ihnen resultierenden spezialpräventiven Gesichtspunkten auszurichten ist (vgl. §§ 46 Abs. 1 S. 2, 47, 56), während generalpräventive Gesichtspunkte - sofern sie mit spezialpräventiven Gesichtspunkten in Widerspruch stehen, also eine echte Antinomie der Strafzwecke vorliegt - nur ausnahmsweise den Ausschlag geben können (vgl. BGH 24,40,42). 3. Die in Abs. 2 aufgeführten Ermessensrichtlinien sollen dem Richter Hinweise auf die Tatumstände geben, die bei der Strafzumessung innerhalb des durch die Tatschuld abgegrenzten Strafrahmens von besonderer Bedeutung sein können. Der Katalog des Abs. 2 ist weder abschließend noch zwingend. Er kann und will den Richter in seiner Bewertung für und wider den Täter auch keinesfalls festlegen. a) Die Beweggründe und Ziele des Täters sind vor allem bei vorsätzlichen Delikten zu beachten. So werden sich einerseits Habgier, Gewinnsucht und ähnliche niedrige Beweggründe in der Regel strafschärfend auswirken (sofern sie nicht schon zum gesetzlichen Tatbestand gehören, vgl. Abs. 3); andererseits können z. B. ethisch beachtenswerte politische Motive die Tat in einem günstigeren Licht erscheinen lassen. b) Auch die aus der Tat sprechende Gesinnung und der bei der Tat aufgewendete Wille können sich teils zu Gunsten, teils zum Nachteil des Täters auswirken. So macht es z. B.
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
einen Unterschied, ob jemand aus Gewinnsucht oder aus einer staatsfeindlichen Gesinnung heraus fortgesetzt Steuern hinterzieht oder ob er seinen Verbindlichkeiten nur deshalb nicht nachkommt, weil er sich gerade in finanziellen Schwierigkeiten befindet. Des weiteren wird man z. B. bei einem Bandendiebstahl zu differenzieren haben, ob alle Beteiligten mit gleicher verbrecherischer Intensität auf die Bildung der Bande und die einzelnen Taten hingewirkt haben oder ob einige der Beteiligten sich nur aufgrund ihrer eigenen Willensschwäche zur Mitwirkung haben verführen lassen. c) Das Maß der Pflichtwidrigkeit wird vor allem bei Fahrlässigkeitsdelikten zu beachten sein. So macht es z. B. einen Unterschied, ob sich ein Schrankenwärter durch einen dringenden Anruf oder durch übermäßigen Alkoholgenuß von seiner Pflicht, die Schranke rechtzeitig zu schließen, hat abhalten lassen. - Oder: Alkoholgenuß vor Antritt der Fahrt kann sich bei einem Kraftfahrer auch dann straferschwerend auswirken, wenn die Alkoholwirkung für das spätere Unfallgeschehen nicht ursächlich war, der Alkoholgenuß aber Schlüsse auf die persönliche Unzuverlässigkeit zuläßt (BGH VM 1972 Nr. 104). d) Auch die Art der Tatausführung kann von Einfluß auf die Strafzumessung sein. Es kann z. B. nicht unerheblich sein, ob der Täter sich spontan zu einem Einbruch entschließt und diesen mit den Werkzeugen begeht, die er gerade am Tatort findet, oder ob er die Tat von langer Hand vorbereitet und mit Spezialwerkzeugen begeht, die er vorher erst noch beschaffen muß. Von Bedeutung ist ferner, ob sich die Tat als einmalige Verfehlung oder als fortgesetztes Verbrechen oder Vergehen darstellt. So ist die gesetzliche Mindeststrafe dann nicht mehr angemessen, wenn der Tatbestand mehrmals verwirklicht und zugleich ein anderes Strafgesetz verletzt wird (vgl. Stgt Justiz 1972, 207). Auswirkungen der Tat, insbesondere schwere Tatfolgen, können dem Täter nur dann strafschärfend zur Last fallen, wenn er sie vorausgesehen hat, zumindest aber hätte voraussehen können. Die frühere Rspr. des BGH, wonach auch solche Folgen zu berücksichtigen sind, die als solche zwar nicht voraussehbar waren, aber aus einer vom Täter schuldhaft herbeigeführten Gefahr resultierten (vgl. BGH [GrSen] 10, 259), ist durch die Neufassung des Gesetzes gegenstandslos geworden (vgl. Dreher 23 m. Nachw.). e) Von besonderer Bedeutung sind das Vorleben des Täters sowie seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Hierher gehören vor allem die sog. Lebensführungsschuld, die sich dann strafschärfend auswirkt, wenn»sie die Vorwerfbarkeit der Tat steigert (vgl. Begründung zu § 60 E 1962). Es macht einen Unterschied, ob ein Gelegenheits- oder Konfliktstäter vor Gericht steht, oder ob es sich um einen Berufs- und Gewohnheitsverbrecher handelt, der sich durch alle bisherigen Strafen von seinem kriminellen Lebenswandel nicht hat abhalten lassen. Läßt das Urteil nicht erkennen, daß sich das Gericht um Feststellungen über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten bemüht hat, so liegt hierin grundsätzlich ein die Revision begründender sachlicher Mangel (BGH NJW 1976, 2220 m. Anm. Bruns JR1977,162). aa) Die wirtschaftlichen Verhältnisse spielen besonders bei Eigentums- und Vermögensdelikten eine Rolle. So macht es z. B. einen Unterschied, ob ein ungelernter Gelegenheitsarbeiter einen Diebstahl begeht, weil sein Verdienst nicht ausreicht, um den täglichen Lebensbedarf zu decken, oder ob ein gut bezahlter Prokurist Gelder unterschlägt, um sich eine Fotosafari in Afrika leisten zu können. Uber die Bedeutung der wirtschaftlichen Verhältnisse bei der Bemessung der Geldstrafe siehe ausführlich § 40 Anm. 4. 222
Zweiter Titel: Strafbemessung
§ 46
bb) Vorstrafen können auch dann strafschärfend berücksichtigt werden, wenn sie nicht einschlägig sind (BGH 24, 198). Getilgte oder tilgungsreife Vorstrafen dürfen allerdings ungeachtet der durch sie begründeten erhöhten Schuld und ungeachtet des möglicherweise bestehenden spezialpräventiven Bedürfnisses nach einer höheren Strafe gemäß §§ 49 Abs. 1, 61 BZRG in kriminalpolitisch bedenklicher Weise (vgl. Zipf JuS 1974, 144) auch dann nicht zum Nachteil des Angeklagten verwertet werden, wenn die Akten noch vorliegen. Strafschärfend kann jedoch berücksichtigt werden, daß der Angeklagte sich durch ein früheres, durch Einstellung oder Freispruch abgeschlossenes Verfahren nicht hat warnen lassen (vgl. BGH 25, 64; Krhe NJW 1973, 291). Erklärter Zweck des § 49 BZRG ist es nämlich, dem Verurteilten die Resozialisierung zu erleichtem. Außerdem ist das Verwertungsverbot Ausdruck des Gedankens der „entsühnenden Wirkung" einer Strafe (vgl. BGH 24, 378, 381). Beide Gesichtspunkte entfallen jedoch bei einem Freispruch oder einer Einstellung des Verfahrens (vgl. Köln NJW 1973, 378; Krhe aaO.). Über die oft recht unbefriedigenden Konsequenzen dieser Rechtslage siehe Händel JR 1973, 265 sowie Middendorf. Die Schizophrenie des Strafrichters, BA 1973,149. f) Zu dem Verhalten nach der Tat gehört vor allem die Bereitschaft, den Schaden wiedergutzumachen. Diese wirkt sich strafmildernd aus. Andererseits kann man von einem die Tat bestreitenden Angeklagten nicht verlangen, daß er sich zur Wiedergutmachung des Schadens verpflichtet (Stgt Justiz 1972, 322). Strafschärfend darf ein nach der Straftat liegendes Verhalten nur verwertet werden, wenn es Schlüsse auf ihren Unrechtsgehalt zuläßt oder Einblick in die (zu mißbilligende) Einstellung des Täters zu seiner Tat zuläßt (BGH NJW 1971, 1758), z. B. wenn eine festgestellte Uneinsichtigkeit auf Charaktermängeln oder Rechtsfeindschaft beruht oder einsichtslosen Starrsinn erkennen läßt (BGH aaO., Krhe Beschl. v. 28. 8. 1974 - 3 Ss 94/74; Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 606). Zur Strafzumessung speziell bei Gewissenstätern siehe BayObLG MDR 1976, 946. Begeht der Täter nach der zur Aburteilung stehenden Tat eine weitere Straftat, die Gegenstand eines selbständigen, noch nicht abgeschlossenen Verfahrens ist, so kann dieses strafrechtlich relevante Nachtatverhalten bei der Strafzumessung nicht strafschärfend verwertet werden (Saarbrücken JR 1975, 468 m. Anm. Zipf), jedoch bestehen keine Bedenken, bei Aburteilung der späteren Tat sowie bei der späteren Gesamtstrafenbildung straferschwerend zu berücksichtigen, daß die spätere Tat während eines bereits anhängigen Verfahrens begangen wurde (Saarbrücken aaO. mit Nachw.; zur Problematik der Doppelverwertung beim Vor- und Nachtatverhalten siehe auch Bruns aaO. 157 ff. sowie 562 ff.). Zum Verhalten nach der Tat gehört auch das Verhalten im Strafverfahren, soweit es auf die Persönlichkeit des Täters und den Grad der Tatschuld Rückschlüsse zuläßt. Ein einsichtiges Geständnis wird grundsätzlich strafmildernd zu berücksichtigen sein. Andererseits darf die Tatsache, daß der Angeklagte die Tat leugnet oder von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch macht, nicht strafschärfend berücksichtigt werden. Schließlich darf sich auch ungebührliches Benehmen vor Gericht nicht in einer Erhöhung der Strafe niederschlagen. Hierfür stehen dem Gericht andere Möglichkeiten offen (vgl. § 178 GVG). Zur Bewertung des Nachtrunks bei einem Unfall unter Alkoholeinwirkung siehe § 142 Anm. 4. 4. Das in Abs. 3 aufgestellte Verbot der mehrfachen Verwertung von Tatumständen, die bereits Merkmale des gesetzlichen Tatbestands sind, will verhindern, daß der Schutzgedanke einer Vorschrift in unzulässiger Weise zu Gunsten oder zu Lasten des Täters überbetont wird. So ist es unzulässig, bei einem Versuch strafmildernd zu berücksichtigen, 223
§ 47
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
daß der vom Täter erstrebte Erfolg nicht eingetreten ist. Umgekehrt wäre es unzulässig, bei einem Meineid strafschärfend zu berücksichtigen, daß die Rechtspflege erheblich gefährdet wurde; bei einer fahrlässigen Tötung darf nicht straferschwerend berücksichtigt werden, daß ein Mensch sein Leben verloren hat (BayObLG NJW 1954, 1211). Ebenso dürfen Vorstrafen, die rückfallbegründend i. S. von § 48 sind, bei der Strafzumessung innerhalb des Strafrahmens von § 48 nicht nochmals strafschärfend herangezogen werden. Andererseits liegt eine unzulässige Doppelverwertung von Tb.-Merkmalen nicht schon darin, daß eine Strafaussetzung wegen der besonders rücksichtslosen und gefährlichen Art der Tatbegehung (Lebensgefährdung mehrerer Polizeibeamten) und im Hinblick darauf versagt wird, daß sonst ein Nachahmungseffekt oder der Eindruck der Schutzlosigkeit entstehen könnte (Hamm NJW 1973,1891). 5. Die gesetzliche Mindeststrafe ist nur dann angemessen, wenn die Schuld des Täters an der unteren Grenze der Durchschnittsfälle liegt. Hiervon kann jedenfalls dann keine Rede sein, wenn der Tb. mehrmals verwirklicht ist (z. B. bei einer fortgesetzten Tat) und zugleich noch ein anderes Strafgesetz verletzt wird (vgl. Stgt Justiz 1972, 207).
§ 47
Kurze Freiheitsstrafe nur in Ausnahmefällen
(1) Eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten verhängt das Gericht nur, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich machen. (2) Droht das Gesetz keine Geldstrafe an und kommt eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten oder darüber nicht in Betracht, so verhängt das Gericht eine Geldstrafe, wenn nicht die Verhängung einer Freiheitsstrafe nach Absatz 1 unerläßlich ist. Droht das Gesetz ein erhöhtes Mindestmaß der Freiheitsstrafe an, so bestimmt sich das Mindestmaß der Geldstrafe in den Fällen des Absatzes 1 nach dem Mindestmaß der angedrohten Freiheitsstrafe; dabei entsprechen dreißig Tagessätze einem Monat Freiheitsstrafe. 1. Entsprechend der allgemeinen Intention der Strafrechtsreformgesetze (vgl. I I a vor § 38; § 40 Anm. 1) ist es das Anliegen der Vorschrift, die Verhängung von Freiheitsstrafen unter sechs Monaten nur noch auf Ausnahmefälle zu beschränken. Hierfür war ausschlaggebend, daß kurzzeitige Freiheitsstrafen sich zur Verbrechensbekämpfung vielfach als ungeeignet erwiesen haben, da die Dauer ihres Vollzugs nicht ausreicht, um eine erzieherische Wirkung zu erzielen. Zudem wird der Täter vielfach in sozial schädlicher Weise aus der Gesellschaft herausgerissen und in seiner Umgebung oft zum Kriminellen gestempelt. Hinzu kommt die Gefahr der kriminellen Infektion durch die Berührung mit anderen Straffälligen. Unter diesen Gesichtspunkten sind die vom Vollzug einer kurzfristigen Freiheitsstrafe ausgehenden Gefahren vielfach größer als der durch den Vollzug erstrebte spezialpräventive Nutzen, der allenfalls in einer Abschreckung des Täters bestehen kann. 224
Zweiter Titel: Strafbemessung
§ 47
2. § 47 schränkt zwar die Entscheidung des Richters in der Wahl der Strafart gegenüber der früheren Rechtslage erheblich ein, ist deshalb jedoch nicht verfassungswidrig (BVerfG NJW 1970,1453). 3. Bei realkonkurrierenden Taten kommt es für die Anwendbarkeit des § 47 nicht auf die Gesamtstrafe, sondern darauf an, ob die verhängten Einzelstrafen unter der Grenze von sechs Monaten liegen (BGH 24,165; h. L.). 4. Nach Abs. 1 können nur besondere Umstände die Verhängung kurzfristiger Freiheitsstrafen rechtfertigen. Eine kurzfristige Freiheitsstrafe kommt nur dann in Betracht, wenn sie als letzte Möglichkeit erscheint, um auf den Täter einzuwirken oder um den Bestand der Rechtsordnung zu schützen. Generalpräventive Erwägungen sollen dabei nur in einem engen Bereich zur Begründung der kurzfristigen Freiheitsstrafe herangezogen werden (vgl. Begründung des Sonderausschusses, S. 6. BT-Drucks. V/4094). Die besonderen Umstände, die ausnahmsweise zu einer kurzfristigen Freiheitsstrafe führen, können sowohl in der Tat als auch in der Persönlichkeit des Täters liegen. Ein solcher in der „Persönlichkeit" des Täters liegender besonderer Umstand kann aber nicht allein schon darin gesehen werden, daß der Angeklagte mittellos ist und eine Geldstrafe nicht bezahlen kann. Schlechte wirtschaftliche Verhältnisse sind vornehmlich bei der Bemessung der Geldstrafe selbst zu berücksichtigen und nicht dafür maßgebend, ob Geldstrafe oder Freiheitsstrafe zu verhängen ist (vgl. Ffm NJW 1971, 669). 5. Die bisher veröffentlichte höchstrichterliche Rspr. befaßt sich überwiegend mit der Strafzumessung bei Trunkenheit im Verkehr. Gerade auf diesem für die tägliche Praxis äußerst wichtigen Gebiet hat die durch die Reformgesetze getroffene Neuregelung zu einem einschneidenden Umdenkprozeß gezwungen, dessen Auswirkungen sowohl auf die Rückfallquote als auch auf das allgemeine Ansteigen der Alkoholkriminalität noch nicht abschließend beurteilt werden können (Ffm NJW 1971, 666). Fest steht nur, daß sich die Zahl der schweren Verkehrsunfälle, bei denen Alkoholeinfluß als Unfallursache oder mitwirkende Ursache festgestellt wurde, in bestimmten Bezirken seit Inkrafttreten des 1. StrRG wesentlich erhöht hat. So ist beispielsweise in NRW die Zahl der Verkehrsunfälle mit Personenschaden, für die Alkoholbeeinflussung ursächlich war, in den ersten vier Monaten des Jahres 1970 gegenüber 1969 um 34,8% gestiegen (vgl. Hamm BA 1971, 144). Über eine ähnliche Entwicklung in Südbaden hat Händel berichtet (BA 1971,114). Auch in der Folgezeit hat sich an dieser Tendenz nicht viel geändert. So ist in Bad.-Wttbg. die Zahl der wegen Trunkenheit im Verkehr Veurteilten von 1972-1976 um insgesamt 20,8% auf den neuen Höchststand von 19422 gestiegen. Fest steht weiter, daß Geldstrafen, selbst wenn sie noch so hoch sind, entgegen allen Vermutungen der Theorie in der Praxis von den betroffenen Kraftfahrern doch weit weniger gefürchtet werden als die nach früherem Recht drohende Freiheitsstrafe, selbst wenn diese zur Bewährung auszusetzen ist (Händel aaO. 115). Es wird Aufgabe der Rechtsprechung sein, dieser Tendenz entgegenzuwirken und das Problem wieder in den Griff zu bekommen, um in der Öffentlichkeit nicht den Eindruck entstehen zu lassen, daß die Trunkenheit im Verkehr ungeachtet ihrer offensichtlichen Sozialschädlichkeit nicht mehr als kriminelles Unrecht angesehen und deshalb nicht mehr mit der erforderlichen Intensität verfolgt wird. Diesem Ziel dienen auch die ausgewogenen und maßvollen Empfehlungen des 8. Verkehrsgerichtstags 1970 in Goslar (abgedruckt in k + v 1970, 39), an denen der 13. Verkehrsgerichtstag 1975 grundsätzlich festgehalten hat. Die gegen diese Empfehlungen gerichteten Angriffe von Jagusch (vgl. NJW 1970, 401, 1865) wurden inzwischen von 8
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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§ 47
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Middendorff (BA 1970, 257; 1971, 26), Seib (BA 1970, 405; 1971, 18), Kruse (BA 1971, 15) und Tröndle (BA 1971, 73) mit überzeugender Begründung zurückgewiesen. Derartige Empfehlungen sind ein unerläßliches und legitimes Mittel zur Herbeiführung einer gerechten Harmonisierung bei der Ahndung vergleichbarer Fälle, insbesondere wenn diese in zunehmend steigender Zahl auftreten. Fehlende Einheitlichkeit kann zur Willkür und damit zu groben Ungerechtigkeiten führen. Hinzu kommt, daß der Richter an die Empfehlungen nicht gebunden, in seiner Entscheidungsfreiheit also nicht eingeschränkt ist. Vor allem aber ist er, auch wenn er den Empfehlungen folgt, nach wie vor verpflichtet, bei jedem Einzelfall gewissenhaft zu prüfen, ob auch wirklich ein Durchschnittsfall i. S. der Empfehlungen vorliegt. Folgt man diesen Empfehlungen, so ergibt sich unter Berücksichtigung der bisher veröffentlichten Rspr. folgendes Bild: a) Ob eine Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter unerläßlich ist, richtet sich vor allem nach der Schwere der Schuld und der Strafempfindlichkeit (Saarbrücken DAR 1970, 164). Bei Ersttätern mit günstiger Sozialprognose wird i. d. R. eine angemessene Geldstrafe (etwa 30-40 Tagessätze) i. V. mit einem empfindlichen Entzug der Fahrerlaubnis (Sperrfrist 6-12 Monate) sowohl die Gefahr des Rückfalls ausräumen als auch die erforderliche generalpräventive Wirkung zeitigen und damit den Strafzweck erreichen (vgl. Ffm NJW 1971, 669; Köln BA 1971, 61). Schlechte Einkommens- und Vermögensverhältnisse können sich nur auf die Höhe der Tagessätze und die Gewährung von Ratenzahlung auswirken, keinesfalls aber dazu führen, nur aus diesem Grund auf eine Freiheitsstrafe zu erkennen (Ffm aaO.). Ernster zu beurteilen sind die Fälle, in denen der Täter zwar noch nicht einschlägig, wohl aber wegen anderer Taten bereits wiederholt in Erscheinung getreten ist und deshalb als allgemein unzuverlässig beurteilt werden muß. In diesen Fällen kann eine, im Durchschnittsfall allerdings noch zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe durchaus „unerläßlich" sein, um dem Täter die Bedeutung seiner Tat und die Folgen eines etwaigen Rückfalls nachhaltig ins Bewußtsein zu bringen. Dasselbe gilt, wenn der Täter die Trunkenheitsfahrt ohne Fahrerlaubnis durchgeführt, hierbei einen Unfall verschuldet und anschließend noch Unfallflucht begangen hat. Hier muß schon deshalb an eine Freiheitsstrafe gedacht werden, weil die neben der Strafe nach § 69 a Abs. 1 S. 3 auszusprechende Sperrfrist den Täter, der noch keine Fahrerlaubnis besitzt, i. d. R. weniger hart trifft als einen Kraftfahrer, dem aus Anlaß der Tat eine bereits vorhandene Fahrerlaubnis entzogen wird. Eine Freiheitsstrafe kann ferner dann unerläßlich sein, wenn ein auf einer Zechtour betroffener Kraftfahrer hartnäckig versucht, dem ihn verfolgenden Polizeieinsatzwagen zu entfliehen, und hierbei andere Verkehrsteilnehmer verantwortungslos gefährdet (vgl. Ffm DAR 1972, 48). Keinesfalls sollte bei einem nicht einschlägig vorbestraften Täter schematisch, ohne Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls, nur auf Geldstrafe erkannt werden (vgl. Spiegel BA 1970, 28 ff.). Bei Wiederholungstätern ist eine Geldstrafe zwar nicht generell ausgeschlossen (vgl. Ffm NJW 1970, 956; Zweibrücken DAR 1970, 164; BayObLG NJW 1970, 871; Krhe Justiz 1970, 162; Celle MDR 1970, 521), jedoch wird sie im Durchschnittsfall nur ausnahmsweise in Betracht kommen, z. B. wenn die einschlägige Vorstrafe schon mehrere Jahre zurückliegt, der Täter aus Anlaß der Tat selbst schwer verletzt wurde oder besondere Umstände seine Schuld als außergewöhnlich gering erscheinen lassen. Im übrigen jedoch, insbesondere bei wiederholtem oder schnellem Rückfall (siehe hierzu vor allem Seib BA 1970, 409), bei einer Fahrt ohne Fahrerlaubnis oder trotz entzogener Fahrerlaubnis, bei einer Trunkenheitsfahrt i. V. mit Unfallflucht, wird zur Einwirkung auf den durch mildere
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Maßnahmen offensichtlich nicht beeindruckbaren Täter eine Freiheitsstrafe unerläßlich sein (vgl. Hamm NJW 1971, 670; Seib aaO.). Dies gilt auch dann, wenn es zu keinem Unfall gekommen ist (vgl. Köln DAR 1970, 246). Allerdings muß das Gericht auch in diesen Fällen in der Urteilsbegründung klar zum Ausdruck bringen, weshalb eine Geldstrafe nach seiner Überzeugung nicht mehr in Betracht kommen kann (vgl. Ffm NJW 1971, 666). Die Verhängung einer Freiheitsstrafe besagt im übrigen noch nicht, daß diese auch zu verbüßen sein wird. b) Bei der Frage, ob die Verteidigung der Rechtsordnung eine Freiheitsstrafe als unerläßlich erscheinen läßt, kommt es grundsätzlich weder auf den Gesichtspunkt der Sühne noch - zumindest nicht allein - auf die Schwere der Schuld an; auch das Genugtuungsinteresse des Verletzten und seiner Angehörigen ist grundsätzlich auszuklammern (vgl. BGH 24, 40 ff., 64 ff. zum gleichen Begriff in § 56 Abs. 3). Bei der Bestimmung dieses Begriffs ist vielmehr nach Auffassung des BGH (aaO. 44) davon auszugehen, daß es zur Aufgabe der Strafe gehört, „das Recht gegenüber dem vom Täter begangenen Unrecht durchzusetzen, die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung damit vor der Rechtsgemeinschaft zu erweisen und zugleich ähnlichen Rechtsverletzungen potentieller Täter vorzubeugen (spezielle Generalprävention)". Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte is* die Verhängung einer kurzfristigen Freiheitsstrafe zur Verteidigung der Rechtsordnung nur dann unerläßlich, wenn zu befürchten ist, daß die Verhängung nur einer Geldstrafe die Rechtstreue der Bevölkerung gefährden könnte (vgl. Celle NJW 1970, 872; Stgt Justiz 1970, 237). Diese Voraussetzungen liegen einmal bei den bereits erwähnten Wiederholungstätern vor (vgl. Celle aaO.); sie können aber auch bei besonders schweren Tatfolgen gegeben sein. Bei fahrlässiger Tötung unter Alkoholeinwirkung wird deshalb eine Geldstrafe nur ganz ausnahmsweise in Betracht kommen, z. B. wenn der Getötete ein naher Angehöriger des Täters war oder der Täter durch den Unfall selbst schwer verletzt wurde. In allen übrigen Fällen geht es dann weniger um die Frage, ob die Verhängung einer Freiheitsstrafe unerläßlich ist, als vielmehr darum, ob die verhängte Freiheitsstrafe, die in der Praxis allgemein über der Grenze von sechs Monaten liegt, noch zur Bewährung ausgesetzt werden kann (vgl. BGH 24, 64; Koblenz DAR 1971, 106; Oldenburg BA 1970, 246; 1971, 139; Hamm BA 1971, 140, 144 m. Anm. Schneble sowie die Ausführungen zu § 56). Zum Ganzen siehe auch Martin BA 1970, 13; Spiegel BA 1970, 28; Zabel BA 1970,132; Händel BA 1970, 204. Die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Verteidigung der Rechtsordnung kann auch dann erforderlich sein, wenn ein angetrunkener Kraftfahrer auf der Flucht vor der ihn verfolgenden Polizei leichtfertig und verantwortungslos andere Verkehrsteilnehmer gefährdet (vgl. Ffm DAR 1972,48). 6. Im Bereich der allgemeinen Kriminalität kann eine kurzfristige Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung vor allem dann unerläßlich sein (vgl. Koffka LK 12,13 zu § 14 aF), wenn der Täter a) bereits wiederholt, insbesondere einschlägig, vorbestraft ist, b) sich in sozial besonders gefährdender Umgebung befindet (wichtig z. B. für Drogenabhängige), c) sich nach Uberzeugung des Gerichts der Vollstreckung der Geldstrafe entziehen wird (zu beachten vor allem bei Wohnsitzlosen und solchen Personen, die ständig Wohnsitz und Arbeitsstelle wechseln, sobald eine Pfändung droht), 8'
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§ 48
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
d) die Geldstrafe nach der Überzeugung des Gerichts nicht selbst aufbringen wird, sondern voraussichtlich ein Dritter die Zahlung für ihn übernehmen wird (z. B. der Arbeitgeber, in dessen Auftrag der Täter die Tat begangen hat, oder eine mit dem Täter sympathisierende Gruppe), oder e) wenn eine Geldstrafe von der Bevölkerung als unverständliches Zurückweichen des Staates vor dem Verbrechen empfunden werden müßte und hierdurch die Gefahr entsteht, daß einerseits das Vertrauen in eine wirksame Verbrechensbekämpfung schwindet und andererseits potentielle weitere Täter eine zu milde Beurteilung als Anreiz zur Nachahmung empfinden werden. 7. Abs. 2. S. 1 befaßt sich mit den Fällen, in denen das Gesetz nur Freiheitsstrafe androht, z. B. bei der Mißhandlung von Schutzbefohlenen (§ 223 b) oder bei besonders schweren Fällen des Diebstahls (§ 243). Auch in diesen Fällen kommt eine unter sechs Monaten liegende Freiheitsstrafe nur unter den engen Voraussetzungen des Abs. 1 in Betracht. 8. Droht das Gesetz ein erhöhtes Mindestmaß der Freiheitsstrafe an, so ist dieses Mindestmaß nach Abs. 2 S. 2 auch bei der Geldstrafenbildung zu beachten. Beispiel: Bei der falschen uneidlichen Aussage beträgt die gesetzlich angedrohte Mindeststrafe drei Monate Freiheitsstrafe (vgl. § 153). Will das Gericht auf Geldstrafe erkennen, weil eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten oder darüber nicht in Betracht kommt und eine unter sechs Monaten liegende Freiheitsstrafe nicht „unerläßlich" i. S. von Abs. 1 ist, so beträgt nach Abs. 2 S. 2 die auszusprechende Geldstrafe mindestens 90 Tagessätze. 9. Besonderheiten sind nach § 10 WStG für Soldaten zu beachten: Bei Soldaten kann abweichend von § 47 auch dann auf Freiheitsstrafe erkannt werden, wenn dies aufgrund besonderer Umstände zur Wahrung der Disziplin geboten ist. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob Gegenstand des Verfahrens eine militärische Straftat i. S. der §§ 15 ff. WStG oder eine sonstige Straftat ist. Entsprechendes gilt für Straftaten von Ersatzdienstleistenden (vgl. § 56 ErsatzdienstG). 10. Prozessual ist zu beachten: a) die Urteilsgriinde müssen die Umstände erkennen lassen, derentwegen das Gericht eine kurzfristige Freiheitsstrafe ausnahmsweise für unerläßlich hält. b) Ein Verstoß gegen § 47 begründet die Revision. Wegen der bestehenden Wechselwirkungen zwischen Strafe und Maßnahmen erfaßt die Revision auch die nach §§ 69, 69 a angeordneten Maßnahmen (Hamm BA 1971,140; Ffm NJW 1971, 666).
§ 48
Rückfall
(1) Begeht jemand, nachdem er 1. schon mindestens zweimal im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes wegen einer vorsätzlichen Straftat zu Strafe verurteilt worden ist und 2. wegen einer oder mehrerer dieser Taten für die Zeit von mindestens drei Monaten Freiheitsstrafe verbüßt hat, 228
Zweiter Titel: Strafbemessung
§ 48
eine vorsätzliche Straftat und ist ihm im Hinblick auf Art und Umstände der Straftaten vorzuwerfen, daß er sich die früheren Verurteilungen nicht hat zur Warnung dienen lassen, so ist die Mindeststrafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten, wenn die Tat nicht ohnehin mit einer höheren Mindeststrafe bedroht ist. Das Höchstmaß der angedrohten Freiheitsstrafe bleibt unberührt. (2) Absatz 1 gilt nicht, wenn das Höchstmaß der für die neue Tat angedrohten Freiheitsstrafe weniger als ein Jahr beträgt. (3) Im Sinne des Absatzes 1 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Nr. 2. (4) Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. 1. Die durch das 2. StrRG an dieser Stelle eingefügte Vorschrift stimmt wörtlich mit § 17 idF des 1. StrRG überein, so daß in allen Zweifelsfragen auf Rspr. und Schrifttum zu § 17 aF zurückgegriffen werden kann. Die Anhebung der gesetzlichen Mindeststrafe auf sechs Monate als zwingende Rechtsfolge selbst bei Delikten im Bereich der unteren Kriminalität (z. B. bei Zechprellereien und kleineren Warenhausdiebstählen) beruht auf der kriminologisch gesicherten Erfahrung, daß bei einer Freiheitsstrafe von kürzerer Dauer keine ausreichende resozialisierende Einwirkungsmöglichkeit gegeben ist. Die Vorschrift läßt sich deshalb zwanglos in die kriminalpolitische Gesamtkonzeption der Strafrechtsreform einordnen, deren Anliegen es ist, die resozialisierungsfeindliche kurzfristige Freiheitsstrafe möglichst zu vermeiden (vgl. Bockelmänn AT 227; Zipf JuS 1974, 137, 144). Das Schuldprinzip ist insofern gewahrt, als der Rückfalltäter sich ungeachtet seiner früheren Verurteilungen erneut zu strafbaren Handlungen hat hinreißen lassen, die mit seinen früheren Taten in einem kriminologisch inneren Zusammenhang stehen (Einzelheiten s. u. 2 c—f). Schrifttum: Hillenkamp, Zur materiellen Rückfallklausel des § 17 StGB, GA 1974, 208; - Reiss, Die Bestrafung von Wiederholungstätern gemäß § 17 StGB, RPfleger 1974, 295. 2. Die Voraussetzungen der Rückfallschärfung a) Der Täter muß mindestens zweimal wegen eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens zu Strafe verurteilt worden sein (sog. Vor Verurteilungen). Eine Gesamtstrafe gilt dabei immer nur als eine Verurteilung (vgl. Abs. 3 S. 1). Die 2. Tat muß nach der 1. Verurteilung begangen sein; nicht erforderlich ist jedoch, daß das 1. Urteil bei Begehung der 2. Tat schon rechtskräftig war (BGH 26, 387; str.). Art und Begehungsform der Vortat sind unerheblich. Rückfallbegründend sind demnach auch Versuch, Anstiftung, Beihilfe und versuchte Anstiftung. Die Vorverurteilung muß im räumlichen Geltungsbereich des StGB erfolgt sein. Nicht rückfallbegründend sind demnach Verurteilungen im Ausland und in der DDR (vgl. § 3 Anm. 3 a), was andererseits nicht hindert, auch solche Vorstrafen nach allgemeinen Strafzumessungsregeln (vgl. § 46 Abs. 2) als erschwerend zu 229
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
berücksichtigen. Vorstrafen, die getilgt oder tilgungsreif sind oder nach § 60 BZRG nicht in das BZR zu übernehmen sind, scheiden als rückfallbegründende Vorverurteilungen aus und dürfen auch sonst im Rahmen der Strafzumessung nicht straferschwerend berücksichtigt werden (vgl. Krhe Justiz 1972, 361). b) Der Täter muß aufgrund einer oder mehrerer der früher abgeurteilten Straftaten mindestens drei Monate Freiheitsstrafe verbüßt haben (sog. Vorverbiißungszeit). Wurde in dem früheren Verfahren die U-Haft oder eine andere Art der Freiheitsentziehung auf die ausgesprochene Freiheitsstrafe (nicht auch Geldstrafe, vgl. Hamm NJW 1974, 155; Dreher MDR 1970, 965 f.) angerechnet, so steht dies der Verbüßung gleich (vgl. Abs. 3 S. 2). Nur die Verbüßung einer Freiheitsstrafe ist rückfallbegründend. Die Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe ist entgegen der h. L. keine Verbüßung einer „Freiheitsstrafe" (vgl. BGH 27, 90 m. eingehender Begründung und umfassenden Nachweisen). Setzt sich eine Gesamtfreiheitsstrafe aus Einzelstrafen zusammen, die sowohl für eine vorsätzliche als auch für eine fahrlässige Straftat ausgesprochen wurden (z. B. Verurteilung wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung und anschließender Unfallflucht zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Monaten, gebildet aus Einzelstrafen von je 2 Monaten), so ist die Gesamtstrafe nur dann rückfallbegründend, wenn die Einzelstrafe für die vorsätzliche Tat mindestens 3 Monate beträgt (Hamm MDR 1976,157). c) Die neu zur Aburteilung stehende Tat muß wiederum eine vorsätzliche Straftat sein. Es darf sich dabei auch um kein Bagatelldelikt handeln. Die Folgen des § 48 werden nicht ausgelöst, wenn die neu abzuurteilende Tat mit einer Strafe bedroht ist, deren Höchstmaß unter 1 Jahr Freiheitsstrafe liegt (Abs. 2). Bei sonstigen Fällen der Kleinkriminalität, z. B. einem Zechbetrug oder einem Warenhausdiebstahl, wird jedoch § 48 nach h. M. nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Schuldgehalt der Tat, wenn man von der Rückfälligkeit absieht, an der untersten Grenze liegt (BayObLG NJW 1977, 912 m. zust. Anm. Zipf JR 1977, 387; Stgt Justiz 1971, 357; Hamm NJW 1972, 1381). Dies führt zwar, wie gerade der Sachverhalt der Entscheidung NJW 1972,1381 zeigt (Schadenssumme bei vier Einzeltaten zusammen nicht einmal 5,- DM), verschiedentlich zu unbefriedigenden Ergebnissen, ist jedoch auf der Grundlage der nicht ganz glücklich gefaßten Vorschrift unabweisbar (vgl. Blei JA 1972, StR 183; a.A. Richter NJW 1977,1907). d) Neben diesen formellen Voraussetzungen ist weiterhin erforderlich, daß den Täter ein erhöhter Schuldvorwurf trifft. Dieser kann im Falle des § 48 schon darin gesehen werden, daß der Täter sich die Vorverurteilungen offensichtlich nicht hat zur Warnung dienen lassen und deshalb - schon aus spezialpräventiven Erwägungen - besonders empfindlich bestraft werden muß. Ein Verstoß gegen das Schuldprinzip kann in der Regelung des § 48 auch dann nicht gesehen werden, wenn man berücksichtigt, daß ein nicht oder nur wenig vorbestrafter Täter für die „gleiche" Tat weniger hart bestraft würde. Die Tat des Rückfalltäters ist eben nicht die „gleiche" Tat, sondern zeichnet sich durch erhöhten Schuldvorwurf aus. Trotzdem sind die Bedenken von Horstkotte (vgl. JZ 1970, 162) nicht ganz unbegründet, wenn man berücksichtigt, daß z. B. ein Zechpreller, der einen Gastwirt um 3,80 DM geschädigt hat, zwingend zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt werden muß (s. o. lit. c). e) Aus der Formulierung „im Hinblick auf Art und Umstände der Straftaten" ist weiter zu schließen, daß zwischen der neu abzuurteilenden Tat und den rückfallbegründenden Vortaten ein gewisser innerer, kriminologisch zu begründender Zusammenhang bestehen
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§ 48
muß. Bei völlig verschiedenartigen Straftaten, z. B. einer Unterhaltspflichtverletzung, einer Unfallflucht und einem Diebstahl, kommt eine Strafschärfung nach § 48 nicht in Betracht. Erforderlich, aber ausreichend ist immer ein kriminologisch faßbarer Zusammenhang, der eine bestimmte kriminelle Kontinuität erkennen läßt (vgl. Börtzler NJW 1971, 682, 684). Kein derartiger innerer Zusammenhang besteht in der Regel zwischen einem Vollrausch (§ 330 a) und der sog. Rauschtat (BGH NJW 1974, 465; weitergehend Hamm NJW 1975, 548: Eine Vorverurteilung wegen eines im Vollrausch begangenen Diebstahls hat Warnfunktion auch für spätere, nicht rauschbedingte Diebstähle). f) Die neue Tat muß den Schluß zulassen, daß der Täter sich die früheren Verurteilungen nicht hat „zur Warnung dienen lassen". Diese Voraussetzungen können - von Ausnahmen abgesehen — auch dann vorliegen, wenn soziale Hilflosigkeit oder fehlende Eingliederungshilfe die neue Tat begünstigt haben (Stgt Justiz 1971, 357). Bei rückfälligen Triebtätern (z. B. Exhibitionisten, Stgt Justiz 1974, 189) kommt eine Strafschärfung nach § 48 allerdings nur dann in Betracht, wenn die Warnfunktion früherer Verurteilungen durch die Triebe nicht überdeckt wird.
3. Für die Rückfallverjährung kommt es nach Abs. 4 ausschließlich auf den Zeitraum zwischen den einzelnen Taten an, und zwar sowohl auf die Frist zwischen den einzelnen Vortaten als auch auf die Frist zwischen der letzten Vortat und der neuen Tat (vgl. BGH 25, 106 m. Anm. Koffka JR 1973, 250). Die Zeitpunkte der Verurteilungen sind nur insofern von Bedeutung, als sie wegen der an sie geknüpften Warnfunktion vor der Begehung der nächsten zu einer Vorverurteilung führenden Tat bzw. vor der neu abzuurteilenden Tat liegen müssen (BGH aaO.). Handelt es sich bei der zweiten Vorstrafe um eine Gesamtstrafe, so kommt es für die Berechnung der Fristen darauf an, daß die erste der Gesamtstrafe zugrundeliegende Einzeltat im Verhältnis zur ersten Vortat innerhalb der Fünfjahresfrist liegt; die letzte der Gesamtstrafe zugrundeliegende Einzeltat wiederum muß im Verhältnis zur neu abzuurteilenden Tat innerhalb der Fünfjahresfrist liegen (BGH aaO.). Beispiel: A wird am 30. 4. 1960 wegen eines am 1. 1. 1960 begangenen Diebstahls zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt. In der Zeit vom 1. 12. 1964 bis zum 20. 11. 1966 begeht er eine Serie weiterer Diebstähle, deretwegen er am 10. 10. 1967 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt wird. Am 20. 11. 1973 begeht er einen neuen Diebstahl, nachdem er in der Zwischenzeit sowohl die 10 Monate aus dem ersten Urteil als auch die 2 Jahre Freiheitsstrafe aus dem zweiten Urteil verbüßt hat. Hier sind sowohl die Verurteilung vom 30. 4. 1960 als auch die Verurteilung am 10. 10. 1967 rückfallbegründend. Die Verurteilung am 30.4. 1960 ist deshalb rückfallbegriindend, weil die erste Tat der am 10. 10. 1967 abgeurteilten Serie in die Fünfjahresfrist fällt; die Verurteilung am 10. 10. 1967 ist rückfallbegründend, weil die letzte Tat der an diesem Tag abgeurteilten Serie nach Abzug der Zeit, während der A sich in Strafhaft befunden hat, im Verhältnis zu der neuen Tat am 20. 11. 1973 ebenfalls noch in die Fünfjahresfrist fällt. In die Fünfjahresfrist nicht eingerechnet wird nämlich die Zeit, während der der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt (auch einer ausländischen, vgl. BGH 24, 62) verwahrt wurde und deshalb nicht zeigen konnte, ob er sich in der Freiheit zu bewähren vermag. Hat der Täter nach der letzten Vorverurteilung mehrere neue Straftaten begangen, so ist die Rückfallverjährung für jede von ihnen selbständig festzustellen (BGH 24, 94 gegen Hamm NJW 1971, 2073). Über getilgte und tilgungsreife Vorverurteilungen s. o. 2 a. 231
§ 49
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
4. Prozessual ist folgendes zu beachten: a) Im Urteilstenor ist die Verurteilung unter den Voraussetzungen des § 48 nicht besonders zum Ausdruck zu bringen (BGH 23, 237; h. L., vgl. Börtzler NJW 1971, 682 f.; Koff ka LK 31 zu § 17 a. F. b) Die Urteilsgriinde müssen die Voraussetzungen des § 48 klar erkennen lassen. Eine Bezugnahme auf Anklage, Strafliste oder Vorstrafakten ist unzulässig. c) Ergeben sich die Voraussetzungen des § 48 erst in der Hauptverhandlung, so ist ein Hinweis nach § 265 StPO erforderlich. d) Ein Rechtsmittel, das die Rückfallvoraussetzungen angreift, erstreckt sich auf den gesamten Strafausspruch; umgekehrt erfaßt ein auf die Straffrage beschränktes Rechtsmittel auch die Rückfallfrage (Koblenz VRS 49, 52; Dreher 14; Lackner 6). 5. Der Resozialisierung des Rückfalltäters dient die in § 68 Abs. 1 Nr. 1 vorgesehene Möglichkeit, Fiihrungsaufsicht anzuordnen.
§ 49
Besondere gesetzliche Milderungsgründe
(1) Ist eine Milderung nach dieser Vorschrift vorgeschrieben oder zugelassen, so gilt für die Milderung folgendes: 1. An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren. 2. Bei zeitiger Freiheitsstrafe darf höchstens auf drei Viertel des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden. Bei Geldstrafe gilt dasselbe für die Höchstzahl der Tagessätze. 3. Das erhöhte Mindestmaß einer Freiheitsstrafe ermäßigt sich im Falle eines Mindestmaßes von zehn oder fünf Jahren auf zwei Jahre, im Falle eines Mindestmaßes von drei oder zwei Jahren auf sechs Monate, im Falle eines Mindestmaßes von-einem Jahr auf drei Monate, im übrigen auf das gesetzliche Mindestmaß. (2) Darf das Gericht nach einem Gesetz, das auf diese Vorschrift verweist, die Strafe nach seinem Ermessen mildern, so kann es bis zum gesetzlichen Mindestmaß der angedrohten Strafe herabgehen oder statt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe erkennen. 1. Die Eingangsformulierung stellt klar, daß die Vorschrift nicht für alle Fälle möglicher Strafmilderung gilt, sondern nur für die Vorschriften, die ausdrücklich auf § 49 Abs. 1 hinweisen. Der Deliktscharakter als Verbrechen oder Vergehen (vgl. § 12) bleibt durch die Strafrahmenänderung unberührt. a) Die Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 ist zwingend vorgeschrieben für die Beihilfe (§ 27 Abs. 2), beim Fehlen besonderer persönlicher Merkmale, die zwar beim Täter, nicht aber beim Teilnehmer vorliegen (§ 28 Abs. 1), bei der versuchten Anstiftung und
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Zweiter Titel: Strafbemessung
§ 50
den übrigen Fällen der versuchten Beteiligung (§ 30 Abs. 1 S. 2, siehe auch § 111 Abs. 2) sowie beim vermeidbaren Irrtum über eine schuldausschließende Notstandssituation (§ 35 Abs. 2). b) Eine Strafmilderung nach Abs. 1 ist möglich bei den unechten Unterlassungsdelikten (§ 13 Abs. 2), beim vermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 S. 2), bei der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21), beim Versuch (§ 23 Abs. 2), in den Fällen des § 35 Abs. 1 S. 2 (wenn der Täter in einer Notstandslage die Gefahr „nach den Umständen" hinzunehmen hatte, z. B. weil er die Gefahr verschuldet hatte, nicht jedoch, wenn er sie „mit Rücksicht auf ein besonderes Rechtsverhältnis" hinzunehmen hatte), außerdem in den Fällen der §§ 239 a Abs. 3 und 239 b Abs. 2 (Sonderfälle des Rücktritts bei erpresserischem Menschenraub und Geiselnahme). 2. § 49 Abs. 2 öffnet den Weg zu einem milderen Strafrahmen für Fälle, in denen das Gesetz dem Gericht unter Bezugnahme auf § 49 Abs. 2 die Möglichkeit gibt, die Strafe nach seinem Ermessen zu mildern. Teilweise handelt es sich dabei um Vorschriften, in denen das Gericht auch von Strafe absehen könnte. Bestimmungen, die auf § 49 Abs. 2 verweisen, finden sich z. B. in § 23 Abs. 3 (Unverstandsklausel beim untauglichen Versuch), beim Aussagenotstand (§ 157 Abs. 1 und Abs. 2) und bei wechselseitigen Straftaten nach § 233, außerdem in einigen Sonderfällen der tätigen Reue nach vollendetem Delikt (vgl. §§ 83 a, 84 Abs. 5, 85 Abs. 3, 98 Abs. 2, 129 Abs. 6, 158 Abs. 1, 311 c Abs. 2, 315 Abs. 6, 315 b Abs. 6, 316 a Abs. 2 und 316 c Abs. 4. Siehe außerdem §§ 84 Abs. 4 und 90 Abs. 2).
§ 50
Zusammentreffen von Milderungsgründen
Ein Umstand, der allein oder mit anderen Umständen die Annahme eines minder schweren Falles begründet und der zugleich ein besonderer gesetzlicher Milderungsgrund nach § 49 ist, darf nur einmal berücksichtigt werden. 1. In ähnlicher Weise wie § 46 Abs. 3 eine unzulässige Doppelverwertung von Tatbestandsmerkmalen zu Lasten des Täters verbietet, will § 50 verhindern, daß der Täter beim Zusammentreffen von Milderungsgründen zu weitgehend privilegiert wird. Beispiel: Wenn A im Zustand verminderter Schuldfähigkeit (§ 21) einen schweren Raub begeht, hat das Gericht die Möglichkeit, die Strafe entweder unmittelbar dem § 250 Abs. 2 zu entnehmen (Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren) oder den Strafrahmen des § 250 Abs. 1 (Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahre) nach § 21 i. V. mit § 49 Abs. 1 zu mildern, was nach § 49 Abs. 1 Nr. 3 zu einer Mindeststrafe von zwei Jahren führen würde. Unzulässig wäre es jedoch, auf den ermäßigten Strafrahmen des § 250 Abs. 2 zusätzlich § 49 Abs. 1 zur Anwendung zu bringen, was zu einer Mindeststrafe von nur drei Monaten führen würde. 2. Das Doppelverwertungsverbot gilt allerdings nicht, wenn mehrere „besondere" gesetzliche Milderungsgründe nach § 49 kumulativ zusammentreffen, z. B. wenn ein vermindert Schuldfähiger Beihilfe zu einem schweren Raub leistet (BGH 26, 54; Bockelmann AT 230; Dreher 3; Horn SK 9; Lackner 3; Maurach AT 834). In diesem Fall 233
§ 51
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
ist die Strafe des § 2 5 0 Abs. 1 zunächst nach § 27 i. V. mit § 49 Abs. 1 zu mildern. Der ermäßigte Strafrahmen nach § 4 9 Abs. 1 Nr. 3 mit einer Mindeststrafe von zwei Jahren kann dann nochmals nach § 21 i. V. mit § 49 Abs. 1 gemildert werden, was zu einer gesetzlichen Mindeststrafe von sechs Monaten führen würde. Nicht mehrere Milderungsgründe, sondern nur ein nach § 4 9 zu berücksichtigender Milderungsgrund liegt vor, wenn allein das Fehlen eines besonderen persönlichen Merkmals i. S. von § 28 Abs. 1 dazu führt, daß ein Tatbeteiligter, der sonst als Mittäter behandelt werden müßte, nur als Gehilfe verurteilt werden darf ( B G H 26, 53 m. zust. Anm. Bruns J R 1975, 5 1 0 ; Lackner 3). Auch beim vermeidbaren Verbotsirrtum des vermindert schuldfähigen Täters kommt mit Rücksicht auf die Spezialität des täterfreundlicheren § 17 S. 2 nur eine einmalige Milderung in Betracht (Horn SK 10).
§ 51
Anrechnung
(1) Hat der Verurteilte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie auf zeitige Freiheitsstrafe und auf Geldstrafe angerechnet. Das Gericht kann jedoch anordnen, daß die Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Verurteilten nach der Tat nicht gerechtfertigt ist. (2) Wird eine rechtskräftig verhängte Strafe in einem späteren Verfahren durch eine andere Strafe ersetzt, so wird auf diese die frühere Strafe angerechnet, soweit sie vollstreckt ist. (3) Ist der Verurteilte wegen derselben Tat im Ausland bestraft worden, so wird auf die neue Strafe die ausländische angerechnet, soweit sie vollstreckt ist. Für eine andere im Ausland erlittene Freiheitsentziehung gilt Absatz 1 entsprechend. (4) Bei der Anrechnung von Geldstrafe oder auf Geldstrafe entspricht ein Tag Freiheitsentziehung einem Tagessatz. Wird eine ausländische Strafe oder Freiheitsentziehung angerechnet, so bestimmt das Gericht den Maßstab nach seinem Ermessen. (5) Für die Anrechnung der Dauer einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111 a der Strafprozeßordnung) auf das Fahrverbot nach § 44 gilt Absatz 1 entsprechend. In diesem Sinne steht der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis die Verwahrung, Sicherstellung oder Beschlagnahme des Führerscheins (§ 94 der Strafprozeßordnung) gleich. 1. Der bereits durch das 1. StrRG erfolgte Übergang von der fakultativen zur obligatorischen Anrechnung der U-Haft beruht auf der Erwägung, daß dem Untersuchungsgefangenen aus Gründen prozessualer Natur ein Opfer an seiner Freiheit auferlegt wird, obwohl er bis zum Urteil als unschuldig zu gelten hat. Dieses zusätzliche Opfer soll durch 234
Zweiter Titel: Strafbemessung
§ 51
die automatische Anrechnung der U-Haft ausgeglichen werden (vgl. Schröder JR 1971, 28). Aus dem Schrifttum siehe insbesondere Baumgärtner, Die Auswirkungen der neuen Fassung des § 60 Abs. 1 StGB, MDR 1970, 190; Dencker, Die Anrechnung der Untersuchungshaft usw., MDR 1970, 965 sowie Schröder JR 1971, 28. 2. Über U-Haft siehe §§ 112 ff., 230 Abs. 2 StPO. Zu den Fällen anderer Freiheitsentziehung gehören insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder einer sozialtherapeutischen Anstalt gemäß § 126 a StPO oder aufgrund landesrechtlicher Bestimmungen (vgl. BGH bei Dallinger MDR 1971, 363), die Auslieferungshaft (vgl. BGH GA 1956, 120) sowie die Haft zur Sicherung der Abschiebung im Falle einer Verurteilung nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG (Hamm NJW 1977, 1019), sämtliche Formen einer Freiheitsentziehung aufgrund § 127 StPO (vgl. Lackner 1 a; Pohlmann RPfleger 1970, 265, 270; a. A. Baumgärtner MDR 1970, 190 betr. Festnahme durch Privatpersonen), die Unterbringung aufgrund §§ 71 Abs. 2, 72 Abs. 3, 73 JGG sowie die stationäre Untersuchung gemäß § 81 StPO, nicht jedoch die Zeit einer körperlichen Untersuchung oder Blutentnahme gemäß § 81 a StPO (vgl. LG Oldenburg RPfleger 1970, 175 m. abl. Anm. Pohlmann; Lackner 1 a). Der Disziplinararrest nach § 10 Abs. 1 Nr. 6 der WehrdisziplinarO gehört zwar nicht unmittelbar hierher, da er schon von seiner Zweckrichtung her gesehen der U-Haft nicht gleichgestellt werden kann (vgl. Celle NJW 1965, 926; Dreher 3; Lackner 6), ist aber nach h. M. gleichwohl auf die erkannte Strafe grundsätzlich voll anzurechnen (vgl. BVerfG NJW 1967, 1951; Celle NJW 1968, 1103; Oldenburg NJW 1968, 2256), ui^d zwar nicht nur auf Freiheitsstrafe, sondern auch auf Geldstrafe (vgl. § 39 Abs. 3 d StrVollstrO; Ffm NJW 1971, 852; Lackner 6). 3. Die Freiheitsentziehung muß aus Anlaß einer Tat erfolgt sein, die Gegenstand des Strafverfahrens ist oder gewesen ist. Danach ist nicht notwendig, daß der Täter die Freiheitsentziehung gerade aus Anlaß der Tat, deretwegen er zu Strafe verurteilt wird, erlitten hat. Es genügt auch eine Freiheitsentziehung aus Anlaß einer anderen Tat, die Gegenstand desselben Strafverfahrens ist oder war. Wird z. B. jemand in demselben Verfahren wegen Diebstahls z. N. des A verurteilt, gleichzeitig aber von der Anklage eines weiteren Diebstahls z. N. des B freigesprochen, so muß die Untersuchungshaft auch dann auf die Strafe angerechnet werden, wenn sie ausschließlich wegen des Diebstahls z. N. des B angeordnet worden war. 4. Unerheblich ist, in welcher Lage des Verfahrens der Beschuldigte die Freiheitsentziehung erlitten hat. Auch die während des Rechtsmittelverfahrens erlittene U-Haft ist bei der abschließenden Entscheidung grundsätzlich in vollem Umfang anzurechnen. Nicht ausdrücklich geregelt wurde die früher sehr umstrittene Frage, ob die im Rechtsmittelverfahren erlittene U-Haft auch dann angerechnet werden kann oder muß, wenn es infolge Rücknahme des Rechtsmittels zu einer abschließenden gerichtlichen Entscheidung nicht mehr kommt. Die frühere Praxis ging überwiegend dahin, die nach Urteilsverkündung bis zum Eintritt der Rechtskraft erlittene U-Haft nur unter den beschränkten Voraussetzungen des § 450 StPO anzurechnen. Nach § 450 StPO kann aber nur die U-Haft angerechnet werden, die der Angeklagte erlitten hat, seit er auf Rechtsmittel verzichtet oder das eingelegte Rechtsmittel zurückgenommen hat oder seitdem die Einlegungsfrist ungenutzt abgelaufen ist. Hieran kann nicht mehr festgehalten werden. Aufgrund der neuen Rechtslage, derzufolge die U-Haft kraft Gesetzes angerechnet wird, wenn das Gericht nicht ausdrücklich das Gegenteil anordnet, muß jetzt bei der Strafvollstreckung 235
§ 51
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
über § 450 StPO hinausgehend auch die Zeit angerechnet werden, die bis zur Rücknahme des vom Angeklagten eingelegten Rechtsmittels verstrichen ist (vgl. Stgt Justiz 1970,112; Ffm NJW 1970, 1140; Ddf NJW 1970, 768; München NJW 1970, 1141; h. L.). Siehe auch § 39 StrVollstrO. 5. Ausnahmsweise kann das Gericht auch anordnen, daß die Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt. Dies ist jedoch nur möglich aus Gründen, die sich aus dem Verhalten des Täters nach der Tat ergeben. Art und Schwere der Tat selbst können nicht Anlaß zur Versagung der Anrechnung geben. Als Grund, der zu einer Anordnung nach Abs. 1 Satz 2 führen kann, kommt in erster Linie ein Verhalten des Täters in Betracht, das nicht seiner Verteidigung dient, sondern erkennbar darauf abzielt, die Untersuchungshaft zu verlängern (z. B. um sich durch die spätere Anrechnung ungerechtfertigte Vorteile bei der Strafvollstreckung zu verschaffen) oder den Zweck verfolgt, das Verfahren aus anderen Gründen böswillig zu verschleppen (BGH 23, 307 m. Anm. Schröder JR 1971, 28). Unter diesen Gesichtspunkten können auch Fluchtvorbereitungen und Fluchtversuche einen Grund für die Versagung der Anrechnung darstellen. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß solche Handlungen, die selbst Haftgrund sind und gerade deshalb zur Inhaftierung führen, nicht zugleich auch zu einer Versagung der Anrechnung der Haft führen können. Dies wäre ein vom Gesetz nicht gewolltes Übel. Deshalb kommt eine Nichtanrechnung der Haft nur dort in Betracht, wo Fluchtvorbereitungen oder Fluchtversuche auch tatsächlich zu einer Verschleppung des Verfahrens geführt haben (BGH aaO.). Beruht eine Verzögerung des Verfahrens darauf, daß der Beschuldigte seine prozessualen Rechte und Möglichkeiten voll ausschöpft, so ist für eine Ausnahmeentscheidung nach Abs. 1 S. 2 kein Raum. Die Einlegung von Rechtsmitteln rechtfertigt deshalb auch dann nicht die Versagung der Anrechnung der Haft, wenn mit ihr eine Verlängerung des Verfahrens bezweckt sein sollte (s. o. 1 b). Da der Angeklagte nicht verpflichtet ist, dem Gericht bei der Aufklärung des Sachverhalts zu helfen oder gar an seiner Überführung mitzuwirken, kann die Anrechnung der Untersuchungshaft nicht mit der Begründung versagt werden, der Angeklagte habe hartnäckig geleugnet gl. BGH JZ 1956, 695; NJW 1956, 1845). Auch anmaßendes oder ungehöriges Benehmen in der Hauptverhandlung kann die Versagung nicht begründen. 6. Absatz 2 behandelt die Anrechnung von Strafen, die in einem früheren Verfahren verhängt worden sind. Wird z. B. wegen mehrerer Taten nachträglich eine Gesamtstrafe gebildet (§ 55) und ist eine in sie einbezogene Strafe bereits zum Teil vollstreckt, so muß die vollstreckte Strafe, auch soweit sie durch Anrechnung von Untersuchungshaft oder andere Freiheitsentziehung als vollstreckt gilt, auf die Gesamtstrafe angerechnet werden. Auch im Wiederaufnahmeverfahren ist die Anrechnung einer bereits vollstreckten Strafe erforderlich, wenn wegen derselben Tat eine andere Strafe gebildet wird. 7. Abs. 3 (Anrechnung von Auslandsstrafen) will verhindern, daß jemand wegen derselben Tat mehrfach bestraft wird. Die praktische Bedeutung ist gering, da die Strafverfolgungsbehörden gemäß § 153 c Abs. 1 Nr. 3 StPO die Möglichkeit haben, von einer Strafverfolgung abzusehen, wenn wegen der im Ausland begangenen Tat im Ausland schon eine Strafe vollstreckt worden ist und die im Inland zu erwartende Strafe nach Anrechnung der ausländischen nicht mehr ins Gewicht fallen würde. Auslandsstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt worden sind, fallen nicht unter Abs. 3. 236
Dritter Titel: Strafbemessung bei mehreren Gesetzesverletzungen
Vor § 52
8. Abs. 5 befaßt sich mit den Auswirkungen, die eine bereits vor dem Urteil angeordnete vorläufige, die Fahrerlaubnis beschränkende Maßnahme auf ein im Urteil ausgesprochenes Fahrverbot hat. Siehe hierzu ausführlich § 44 Anm. III 3. Setzt sich das Urteil mit der Frage der Anrechnung der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung auf die Dauer des ausgesprochenen Fahrverbots nicht auseinander, so gilt die gesetzliche Regelfolge der Anrechnung (vgl. Köln VRS 44 [1973] 14). Wird nach einer vorläufigen Maßnahme abschließend die endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet (§ 69), so ist Abs. 5 nicht anwendbar. Für diesen Fall gelten die besonderen Vorschriften des § 69 a Abs. 4 bis 6. 9. Die Anrechnung der Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung gilt als Verbüßung der Strafe und ist daher riickfallbegründend (siehe § 48 Abs. 3 Satz 2). 10. Ist die U-Haft anzurechnen (Regelfall), so bedarf es entgegen der früheren Rechtslage keines besonderen Ausspruchs im Urteilstenor. Dies gilt auch bei Verurteilung zu Geldstrafe. Der Umrechnungsmaßstab ergibt sich in diesem Fall aus § 51 Abs. 4 S. 1. Wird gleichzeitig auf Freiheits- und Geldstrafe erkannt (siehe hierzu § 41), so ist die erlittene U-Haft zunächst auf die Freiheitsstrafe anzurechnen. Ein besonderer Ausspruch im Urteilstenor ist nur in den Fällen des Abs. 2 (Anrechnung einer bereits rechtskräftig verhängten und ganz oder teilweise vollstreckten Strafe aus einem früheren Verfahren) und in den Fällen des Abs. 4 S. 2 (Anrechnung von Auslandsstrafen) sowie dann geboten, wenn die Anrechnung nach Abs. 1 S. 2 unterbleiben soll.
Dritter Titel: Strafbemessung bei mehreren Gesetzesverletzungen Vorbemerkung: Die Lehre von der Konkurrenz I. Handlungseinheit und Handlungsmehrheit 1. Werden mehrere Tatbestände durch eine Handlung verwirklicht, so spricht man von Handlungseinheit. Hierbei ist zunächst ohne Bedeutung, ob nach dem Ergebnis der weiteren rechtlichen Würdigung die Verurteilung unter mehreren rechtlichen Gesichtspunkten zu erfolgen hat (sog. Tateinheit, s. unten II 1) oder ob bereits ein Tatbestand ausreicht, um den Unrechtsgehalt der Tat zu erfassen (sog. Gesetzeskonkurrenz, s. u. III). Handlungseinheit in diesem Sinn liegt auch dann vor, wenn durch eine Handlung derselbe Tatbestand mehrfach verwirklicht wird, z. B. wenn jemand durch den Wurf einer Handgranate mehrere Personen tötet. Eine besondere Erscheinungsform der Handlungseinheit ist die natürliche Handlungseinheit, die terminologisch nicht mit der fortgesetzten Tat (s. u. IV) verwechselt werden darf. Eine natürliche Handlungseinheit liegt zunächst dann vor, wenn zur Erreichung eines bestimmten Erfolgs mehrere gleichgeartete Handlungen von einem einheitlichen Handlungswillen getragen werden und auf Grund eines engen örtlichen und zeitlichen Zusammenhangs derart zusammengehören, daß sie bei natürlicher Betrachtungsweise 237
Vor § 52
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
eine einheitliche Handlung bilden (vgl. BGH 10, 230; NJW 1967, 61). Beispiel: A hat die Absicht, den Kirschbaum seines Nachbarn zu plündern. Da der Baum voll hängt, muß er die Leiter mehrfach umstellen, bis er schließlich mehrere Körbe gefüllt hat. Hier stellt sich das Abernten des Baums, auch wenn es sich über Stunden erstrecken sollte, bei natürlicher Betrachtungsweise als eine einheitliche Handlung dar, ohne daß auf die Konstruktion einer fortgesetzten Tat zurückgegriffen werden müßte. Eine natürliche Handlungseinheit kann auch dann vorliegen, wenn der Täter seinen Tatplan mit dem zunächst gewählten Mittel nicht verwirklichen kann und er deshalb im unmittelbaren Anschluß an den zunächst mißglückten Versuch zu einem anderen Mittel greift. Dies gilt selbst dann, wenn durch die verschiedenen Anstrengungen zur Verwirklichung desselben Tatplans verschiedene Straftatbestände verwirklicht werden. Kommt das Delikt schließlich zur Vollendung, so sind diejenigen Betätigungen, die sich lediglich als Versuchshandlung darstellen, in der Regel nicht selbständig strafbar (BGH aaO.). Beispiel: A fordert B auf, ihm die Brieftasche herauszugeben. Zur Unterstützung seiner Forderung schlägt er ihm mit der Faust ins Gesicht. Als B trotz dieser massiven Einwirkung sich immer noch weigert, die Brieftasche herauszugeben, schlägt A ihn nieder und zieht ihm die Brieftasche aus der Rocktasche. Hier stellen sich die versuchte räuberische Erpressung und der vollendete Raub bei natürlicher Betrachtungsweise als einheitliche Handlung dar. A ist daher nur wegen vollendeten Raubs zu bestrafen. Die versuchte räuberische Erpressung, die sich gegen die gleichen Rechtsgüter richtet, geht in der Bestrafung auf (BGH NJW 1967,60 f.). 2. Werden mehrere Tatbestände durch mehrere Handlungen verwirklicht oder wird ein Tatbestand wiederholt verwirklicht, so spricht man von Handlungsmehrheit. Auch hier ist es zunächst ohne Bedeutung, zu welchem Ergebnis die weitere rechtliche Wertung führt. Entscheidend ist allein, ob bei natürlicher Betrachtungsweise mehrere Handlungen vorliegen. Ist dies der Fall, so ist weiter zu prüfen, ob die einzelnen Handlungen rechtlich als selbständige Taten zu beurteilen sind (sog. Tatmehrheit, s. u. II 2), ob ein Fall der Gesetzeskonkurrenz vorliegt (z. B. ob eine Handlung sich als mitbestrafte Vor- oder Nachtat darstellt, s. u. III 2) oder ob die Voraussetzungen einer rechtlichen Handlungseinheit vorliegen, wie dies allgemein bei der fortgesetzten Tat anerkannt ist (s. u. IV).
II. Idealkonkurrenz und Realkonkurrenz 1. Von Idealkonkurrenz ( = Tateinheit) spricht man, wenn durch eine Handlung mehrere verschiedene Tatbestände verwirklicht werden und die rechtliche Wertung ergibt, daß ein Tatbestand allein den Unrechtsgehalt der Tat nicht zu erfassen vermag (BGH 25, 373). Die Strafe ist in diesem Fall dem Gesetz zu entnehmen, das die schwerste Strafe androht (sog. Absorptionsprinzip, vgl. § 52 Abs. 2). Von einer gleichartigen Idealkonkurrenz spricht man, wenn durch eine Handlung dasselbe Gesetz mehrfach verwirklicht wird, z. B. wenn jemand durch den Wurf einer Handgranate mehrere Personen verletzt. Einzelheiten siehe die Ausführungen zu § 52. 2. Von Realkonkurrenz ( = Tatmehrheit) spricht man, wenn durch mehrere Handlungen mehrere Tatbestände verwirklicht werden und die rechtliche Wertung ergibt, daß Gesetzeskonkurrenz in der Form einer mitbestraften Vor- oder Nachtat (s. u. III 2 d und 238
Dritter Titel: Strafbemessung bei mehreren Gesetzesverletzungen
Vor § 52
e) nicht in Betracht kommt. In diesem Fall ist die Strafe nach den §§ 53—55 zu bilden. Entsprechendes gilt, wenn derselbe Tatbestand mehrfach verwirklicht ist und kein Fall einer rechtlichen Handlungseinheit im Sinn einer fortgesetzten Tatbegehung vorliegt. 3. Terminologie. Während die Begriffe Handlungseinheit und Handlungsmehrheit sich nur mit der Frage befassen, wieviele Handlungen im natürlichen Sinn vorliegen, befassen sich die Begriffe Idealkonkurrenz und Realkonkurrenz (jetzt amtlich als Tateinheit bzw. Tatmehrheit bezeichnet) mit bestimmten Rechtsfolgen bei Handlungseinheit und Handlungsmehrheit. Handlungseinheit muß nicht immer zu Idealkonkurrenz ( = Tateinheit), Handlungsmehrheit nicht immer zu Realkonkurrenz ( = Tatmehrheit) führen. Sowohl Handlungseinheit als auch Handlungsmehrheit können auch dann vorliegen, wenn die rechtliche Würdigung zu dem Ergebnis führt, daß die jeweils verwirklichten Tatbestände in Gesetzeskonkurrenz stehen. (Zum Ganzen siehe Geerds, Zur Lehre von der Konkurrenz im Strafrecht, Kieler rechtswissenschaftliche Abhandlungen, 1961, S. 240 ff.).
III. Die sog. Gesetzeskonkurrenz 1. Begriff Von Gesetzeskonkurrenz spricht man, wenn durch eine oder mehrere Handlungen mehrere verschiedene Tatbestände oder derselbe Tatbestand mehrfach verwirklicht wird, die Rechtsfolgen der §§ 52-55 jedoch nicht eintreten, weil der Unrechtsgehalt der Tat durch einen der verwirklichten Tatbestände erschöpfend erfaßt wird (BGH 25, 373). Es liegt somit, genau genommen, gar keine echte, sondern nur eine scheinbare Konkurrenz der verwirklichten Tatbestände vor. 2. Die einzelnen Erscheinungsformen der Gesetzeskonkurrenz In den Fällen der Handlungseinheit tritt die Gesetzeskonkurrenz in den Erscheinungsformen der Spezialität, der Konsumtion oder der Subsidiarität auf, in den Fällen der Handlungsmehrheit begegnet sie hauptsächlich als mitbestrafte Vor- oder Nachtat, ausnahmsweise auch (z. B. beim räuberischen Diebstahl, § 252) in der Form der Spezialität. Im einzelnen: a) Von Spezialität spricht man, wenn mehrere Tatbestände sich mit der gleichen Verbotsmaterie befassen und sich nur dadurch unterscheiden, daß das eine Gesetz die Materie spezieller behandelt als das andere. Spezialität besteht insbesondere zugunsten der tatbestandlichen Abwandlungen eines Grundtatbestands, wobei es in diesem Zusammenhang unerheblich ist, ob es sich um selbständige oder unselbständige Abwandlungen handelt. Bei mehreren Qualifizierungen desselben Grundtatbestands wird das Gesamtbild der Tat immer durch die schwerste Begehungsform bestimmt. Die minder schweren Qualifizierungen haben keine rechtlich selbständige Bedeutung und sind nur bei der Strafzumessung zu berücksichtigen (BGH 21, 183, 185; h. L.). So kann z. B. bei einem Raub mit Todesfolge (§ 251) strafschärfend berücksichtigt werden, daß die Tat mittels einer Waffe begangen wurde. § 250 erscheint jedoch, da keine Tateinheit vorliegt, nicht im Urteilstenor (BGH aaO.). Trifft eine Qualifizierung mit einer Privilegierung desselben Grundtatbestands zusammen, so geht die Privilegierung der Qualifizierung vor (sog. 239
Vor § 52
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Sperrwirkung des milderen Gesetzes, vgl. Maurach A T 754). Wenn z. B. eine Mutter ihr nichteheliches Kind unmittelbar nach der Geburt tötet, ist sie auch dann nur wegen eines Verbrechens nach § 217 und nicht wegen Mordes zu bestrafen, wenn sie dabei aus niedrigen Beweggründen gehandelt hat. Die niedrigen Beweggründe sind dann lediglich im Rahmen der allgemeinen Strafzumessungserwägungen (§ 46 Abs. 2) zu berücksichtigen. b) Von Konsumtion spricht man, wenn ein Tatbestand notwendig, zumindest aber regelmäßig die Begehung eines anderen Tatbestands voraussetzt und dessen Unrechtsgehalt mitumfaßt, ohne daß dieser andere Tatbestand als Grundtatbestand angesehen werden kann. So enthält z. B. jede Vergewaltigung eine Beleidigung der betroffenen Frau. § 185 wird daher durch § 177 konsumiert. Ebenso werden konsumiert § 222 durch § 226 ( B G H 8, 54), §§ 240 und 242 durch § 249, § 223 durch § 218 ( B G H 10, 312) und durch §§ 211 ff. ( B G H 16,122). c) Von Subsidiarität spricht man, wenn von mehreren Gesetzen das eine nur hilfsweise zur Anwendung kommt für den Fall, daß nicht bereits ein anderes, ebenfalls verwirklichtes Gesetz eingreift. In einigen Fällen ist die Subsidiarität im Gesetz ausdrücklich vorgesehen, in anderen ergibt sie sich nur aus dem Sinn des Gesetzes (sogenannte stillschweigende Subsidiarität, vgl. Maurach A T 752; Geerds aaO. 183). Beispiele für Tatbestände, die eine Subsidiaritätklausel enthalten: § 145 d (Vortäuschen einer Straftat); § 183 a (Erregung öffentlichen Ärgernisses); § 248 b (unbefugter Gebrauch von Fahrzeugen); § 265 a (Erschleichen von Leistungen); § 316 (Trunkenheit im Verkehr); § 21 OWiG (Subsidiarität der Ordnungswidrigkeit, wenn sich die Tat gleichzeitig als Straftat darstellt). Bei einigen der mit einer Subsidiaritätsklausel ausgestatteten Tatbestände ist zu beachten, daß die Subsidiarität nur dann zur Geltung kommt, wenn der andere, gleichfalls verwirklichte Tatbestand die Tat mit schwererer Strafe bedroht. Man spricht hier von einer sog. relativen Subsidiarität (vgl. §§ 125, 248 b, 265 a). Dasselbe gilt, wenn eine Vorschrift aufgrund der in ihr enthaltenen Subsidiaritätsklausel nur im Verhältnis zu bestimmten, im Gesetz näher bezeichneten Vorschriften subsidiär ist (vgl. z. B. §§ 145 Abs. 2, 145 d, 183 a). So kann z. B. § 145 d (Vortäuschen einer Straftat) zwar nicht mit §§ 164, 258 und 258 a, wohl aber mit §§ 153 ff. oder § 267.in Tateinheit stehen. d) Von einer mitbestraften Vortat spricht man, wenn bei einer Mehrheit von strafbaren Handlungen der Unrechtsgehalt der früheren Handlung von dem der späteren mit umfaßt wird. So verliert z. B. der Versuch seine selbständige Bedeutung gegenüber der Vollendung ( B G H 10, 230). e) Eine mitbestrafte Nachtat liegt vor, wenn bei mehreren strafbaren Handlungen der Schwerpunkt bei der früheren Handlung, der sog. Haupttat, liegt und die spätere Handlung nur eine Vertiefung des bereits eingetretenen Schadens bewirkt, z. B. wenn der Täter einer Unterschlagung den Geschädigten durch Täuschung davon abhält, die unterschlagene Sache zurückzufordern (sog. Sicherungsbetrug, vgl. Hamm NJW 1974, 1958). Keine mitbestrafte Nachtat, sondern eine rechtlich selbständige Handlung liegt vor, wenn durch die Nachtat ein neues Rechtsgut oder ein neuer Rechtsgutträger verletzt wird, z. B. wenn ein Dieb die gestohlene Sache an einen gutgläubigen Dritten verkauft, der nach § 935 BGB kein Eigentum erlangen kann. Da sich die mitbestrafte Nachtat für den Vortäter als persönlicher Strafausschließungsgrund auswirkt, bleibt die Strafbarkeit etwaiger Teilnehmer unberührt.
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Dritter Titel: Strafbemessung bei mehreren Gesetzesverletzungen
Vor § 52
IV. Der Begriff der fortgesetzten Tat ermöglicht es, mehrere gleichartige Taten, die sich über einen gewissen Zeitraum erstrecken und oft nur schwer in allen Einzelheiten aufzuklären sind, als einheitliche Straftat im Rechtssinn zu behandeln, obwohl in tatsächlicher Hinsicht mehrere Handlungen vorliegen (sog. rechtliche oder juristische Handlungseinheit). 1. Voraussetzungen: Nach den von der Rspr. entwickelten Grundsätzen müssen die Einzelakte einer fortgesetzten Tat in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen, sich durch eine im wesentlichen gleichartige Begehungsweise auszeichnen und gegen das gleiche Rechtsgut gerichtet sein. Bei höchstpersönlichen Rechtsgütern ist weiter erforderlich, daß die Einzelakte sich gegen denselben Rechtsgutträger richten. So liegen z. B. drei rechtlich selbständige Handlungen, keine fortgesetzte Tat nach § 173 vor, wenn A sich aufgrund einheitlichen Tatentschlusses nacheinander an seinen Töchtern X, Y und Z vergeht. Subjektiv ist nach h. A. ein sog. Gesamtvorsatz erforderlich, d. h. der Tätervorsatz muß spätestens bei Beendigung des ersten Teilakts die späteren Teilakte in ihren wesentlichen Grundzügen umfassen (vgl. BGH 1, 313, 315; 19, 323; 23, 33; 26, 5; Jescheck AT 544). Beispiel: A entwendet vorgefaßtem Tatentschluß entsprechend jeden Freitag aus der Werkstatt seines Arbeitgebers Werkzeuge und Kleinmaterial, um damit am Wochenende Schwarzarbeiten verrichten zu können. Nicht ausreichend ist dagegen der noch unbestimmte Wille, bei jeder sich bietenden Gelegenheit Diebstähle zu begehen. Nicht ausreichend ist auch der sog. Fortsetzungsvorsatz, d. h. der nach Abschluß eines Teilakts gefaßte Entschluß, die frühere Tat durch einen weiteren Teilakt fortzusetzen (so allerdings ein Teil der Lehre; krit. hierzu Lackner IV 2 b vor § 52). 2. Rechtsfolgen: Alle Einzelakte der fortgesetzten Tat stellen sich als eine einheitliche Handlung im Rechtssinn dar. Die Auswirkungen dieser rechtlichen Handlungseinheit zeigen sich vor allem bei der Strafbemessung (§ 53 Anm. 1 b), außerdem bei Gesetzesänderungen (§ 2 Anm. 2), bei Beurteilung von Tatzeit (§ 8 Anm. 1, 2 a) und Tatort (§ 9 Anm. 2 c), bei den Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung (§ 66 Anm. III 2 a), bei Amnestie und Verjährung (§ 78 a Anm. 3 b) sowie bei der Rechtskraft (alle vor der Urteilsverkündung begangenen Teilakte nehmen an der Rechtskraft teil, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie dem Gericht bekannt waren oder nicht (BGH 6, 92, 95; 9, 324). Delikte, die mit Teilakten einer fortgesetzten Tat in Tateinheit stehen, stehen auch untereinander in Tateinheit, wenn die verbindende fortgesetzte Tat in ihrem Unrechtsgehalt wenigstens annähernd gleichwertig ist (sog. Klammerwirkung der fortgesetzten Tat, vgl. BGH 3, 165; 18, 26; NJW 1975, 985 f.). V. Auch das Dauerdelikt ist ein Fall der rechtlichen Handlungseinheit. Hierher gehören alle Taten, bei denen der Täter einen rechtswidrigen Zustand nicht nur in strafbarer Weise herstellt, sondern auch in strafbarer Weise aufrechterhält (z. B. Freiheitsberaubung und Fahren ohne Fahrerlaubnis). Die Rechtsfolgen sind die gleichen wie bei der fortgesetzten Tat (s. o. IV 2). Über das Verhältnis des Dauerdelikts zu anderen, gleichzeitig verwirklichten Tatbestände siehe BGH 18, 29 ff., 66 ff. Nicht hierher gehören die sog. Zuständsdelikte, bei denen nur die Herstellung, nicht auch die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands unter Strafdrohung steht (vgl. z. B. § 171). VI. Keine rechtliche Handlungseinheit bilden die sog. Sammelstraftaten oder Kollektivdelikte, d. h. solche Taten, die nur durch das Band der Gewerbsmäßigkeit, Gewohnheitsmäßigkeit oder Geschäftsmäßigkeit verbunden sind (vgl. RG 72, 164; BGH 1, 41; h. L.).
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§ 52 § 52
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat Tateinheit
(1) Verletzt dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder dasselbe Strafgesetz mehrmals, so wird nur auf eine Strafe erkannt. (2) Sind mehrere Strafgesetze verletzt, so wird die Strafe nach dem Gesetz bestimmt, das die schwerste Strafe androht. Sie darf nicht milder sein, als die anderen anwendbaren Gesetze es zulassen. (3) Geldstrafe kann das Gericht unter den Voraussetzungen des § 4 1 neben Freiheitsstrafe gesondert verhängen. (4) Auf Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen (§ 1 1 Abs. 1 Nr. 8) muß oder kann erkannt werden, wenn eines der anwendbaren Gesetze sie vorschreibt oder zuläßt.
1. Ein Fall der sog. echten oder ungleichartigen Tateinheit (Idealkonkurrenz) liegt vor, wenn der Täter durch ein und dieselbe Handlung (siehe hierzu Vorbem. I) mehrere Tatbestände verwirklicht und der Unrechtsgehalt der Tat nur durch Bestrafung wegen aller verwirklichter Tatbestände voll erfaßt werden kann (Abs. 1, 1. Alt.). Ob die letztgenannte Voraussetzung vorliegt, ist eine Frage der rechtlichen Wertung, die von der Struktur und dem Zweck der jeweils verwirklichten Tatbestände abhängt. Führt die rechtliche Wertung zu dem Ergebnis, daß bereits ein Tatbestand allein ausreicht, um den Unrechtsgehalt der Tat zu erfassen, so spricht man von Gesetzeskonkurrenz. Diese kann ihrerseits in drei Erscheinungsformen auftreten (Spezialität, Konsumtion und Subsidiarität). Siehe hierzu ausführlich Vorbem. III. 2. Ein Fall der sog. unechten oder gleichartigen Tateinheit (Idealkonkurrenz) liegt vor, wenn durch ein und dieselbe Handlung derselbe Tb. mehrmals verwirklicht wird (Abs. 1, 2. Alt.), z. B. wenn ein Schuß mehrere Menschen verletzt oder eine beleidigende Äußerung mehreren Personen zugerufen wird. Beim Zusammentreffen mehrerer Tatmodalitäten desselben Tatbestands in einer Handlung liegt allerdings noch keine Idealkonkurrenz vor. Vielmehr wird der Tatbestand nur einmal verletzt. So ist z. B. der Tatbestand des § 292 nur einmal erfüllt, wenn der Täter dem Wild erst nachstellt, es fängt und anschließend erlegt. Dasselbe gilt für die einzelnen Fälle des schweren Raubs. 3. Liegen die Voraussetzungen des § 52 vor, so müssen alle verwirklichten Tatbestände im Urteilstenor erscheinen. Die Tatbestände, bezüglich derer Gesetzeskonkurrenz gegeben ist, erscheinen demgegenüber nicht im Urteilstenor. 4. Die Strafe wird nach dem sogenannten Absorptionsprinzip gebildet, d. h. sie wird dem Tatbestand entnommen, der im Einzelfall die schwerste Strafe androht. Bei der Ermittlung der schwersten Strafdrohung kommt es auf die gesetzlichen Strafrahmen an, aus denen die Strafe im konkreten Fall zu bilden ist, so daß auch der durch das Vorliegen eines besonders schweren Falles erweiterte oder bei minder schweren Fällen eingeengte Strafrahmen bedeutsam wird. Entscheidend ist dabei nicht die abstrakte, sondern die konkrete Betrachtungsweise: Zur Anwendung kommt das Gesetz, das unter Berücksichtigung aller möglicher Straf242
Dritter Titel: Strafbemessung bei mehreren Gesetzesverletzungen
§ 53
schärfungs- und Strafmilderungsgründe nach den Umständen des konkreten Einzelfalls die schwerste Strafe zuläßt. 5. Die milderen Strafbestimmungen werden absorbiert ( = aufgezehrt), sind aber doch nicht ganz bedeutungslos und zwar insofern, als ihre Mindeststrafe nicht unterschritten werden darf (vgl. Abs. 2 S. 2). Wo die Verhängung einer Geldstrafe neben der Freiheitsstrafe im Ermessen des Gerichts steht (§ 41), bleibt es auch bei Idealkonkurrenz dem Gericht überlassen, die Geldstrafe aus der milderen Strafdrohung neben der Strafe aus dem schwereren Gesetz zu verhängen (Abs. 3). 6. Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 8) müssen oder können nach Abs. 4 unabhängig davon ausgesprochen werden, welches der verwirklichten Gesetze sie vorschreibt oder zuläßt (sog. Kombinationsprinzip, vgl. Bockelmann AT 234, 242).
§ 53
Tatmehrheit
(1) Hat jemand mehrere Straftaten begangen, die gleichzeitig abgeurteilt werden, und dadurch mehrere zeitige Freiheitsstrafen oder mehrere Geldstrafen verwirkt, so wird auf eine Gesamtstrafe erkannt. (2) Trifft zeitige Freiheitsstrafe mit Geldstrafe zusammen, so wird auf eine Gesamtstrafe erkannt. Jedoch kann das Gericht auf Geldstrafe auch gesondert erkennen; soll in diesen Fällen wegen mehrerer Straftaten Geldstrafe verhängt werden, so wird insoweit auf eine Gesamtgeldstrafe erkannt. (3) § 5 2 Abs. 3 , 4 gilt entsprechend. 1. Tatmehrheit (Realkonkurrenz) liegt vor, wenn der Täter durch mehrere Handlungen entweder mehrere Tatbestände oder denselben Tatbestand mehrfach verwirklicht und die rechtliche Wertung ergibt, daß weder Gesetzeskonkurrenz in der Form der straflosen Voroder Nachtat vorliegt, noch ein Fall einer rechtlichen Handlungseinheit im Sinne einer fortgesetzten Tat (IV vor § 52) gegeben ist. Ob man von mehreren Handlungen sprechen kann, ist im wesentlichen eine Frage tatsächlicher Art, wobei es entscheidend auf die sog. natürliche Betrachtungsweise ankommt (vgl. I vor § 52). Wenn beispielsweise A den Apfelbaum des X schüttelt und anschließend 50 kg Äpfel zusammenliest und abfährt, so stellt sich dieser Vorgang bei natürlicher Betrachtungsweise auch dann als einheitliche Handlung dar, wenn A zur Tatbegehung eine Stunde benötigt und zweimal fahren muß, um die Äpfel wegzuschaffen. Es wäre verfehlt, hier etwa von einem fortgesetzten Diebstahl zu sprechen. (Ein solcher würde jedoch dann vorliegen, wenn A vorgefaßtem Tatplan entsprechend heute den Apfelbaum des X und morgen den Birnbaum des Y aberntet.) Eine einheitliche Handlung wäre selbst dann anzunehmen, wenn A während seiner eigenmächtigen Erntearbeit gegen den Eigentümer X, von diesem zur Rede gestellt, zur Verteidigung seiner Beute tätlich vorgeht (räuberischer Diebstahl, vgl. § 252). b) Die weitere Frage, ob der Unrechtsgehalt der mehreren Handlungen nur durch Bestrafung aller Handlungen erfaßt werden kann, ist dagegen eine solche der rechtlichen 243
§ 53
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Wertung, die teils vom Zweck der in Frage stehenden Handlungen, teils von der Struktur der verwirklichten Tatbestände abhängt. Führt die rechtliche Wertung zu dem Ergebnis, daß die eine von mehreren Straftaten sich gegenüber einer anderen als mitbestrafte Voroder Nachtat darstellt, so kommt eine selbständige Bestrafung wegen dieser Handlung unter dem Gesichtspunkt der Realkonkurrenz nicht in Betracht (siehe hierzu ausführlich III 2 d vor § 52). Dasselbe gilt, wenn die rechtliche Wertung zu dem Ergebnis führt, daß mehrere, in tatsächlicher Hinsicht selbständige Handlungen sich als rechtliche Handlungseinheit i. S. einer sog. fortgesetzten Tat darstellen (siehe hierzu IV vor § 52). 2. Sind die obengenannten Voraussetzungen gegeben, so ist gemäß § 54 aus den einzelnen Strafen eine Gesamtstrafe zu bilden, und zwar nicht nur bei zeitigen Freiheitsstrafen, sondern auch beim Zusammentreffen mehrerer Geldstrafen sowie beim Zusammentreffen von Freiheitsstrafen und Geldstrafen. Im letztgenannten Fall ergeben sich folgende Möglichkeiten: a) Nach Abs. 2 S. 1 hat das Gericht grundsätzlich auf eine Gesamtstrafe zu erkennen. Diese kann nach § 54 Abs. 1 S. 1 nur in einer Gesamtfreiheitsstrafe bestehen. Erkennt das Gericht dem Grundsatz des Abs. 1 folgend auf eine Gesamtfreiheitsstrafe, so bedarf dies im allgemeinen keiner besonderen Begründung (Celle NdsRpfl. 1976, 263). Auch ein besonders niedriger Tagessatz ist allein noch kein Umstand, der es nahelegt, nach Abs. 2 S. 2 gesondert auf Geldstrafe zu erkennen (Celle aaO.). b) Das Gericht kann auf die Geldstrafe auch gesondert erkennen (Abs. 2 S. 2). Dies kommt vor allem dann in Betracht, wenn ein Bedürfnis besteht, die nur geldstrafenwürdigen Taten von den anderen Taten deutlich abzuheben, z. B. wenn jemand wegen eines Diebstahls eine längere Freiheitsstrafe verwirkt hat, neben die dann noch eine Geldstrafe wegen eines Verkehrsdelikts tritt (vgl. Begründung zu § 68 E 1962). Handelt es sich um mehrere Geldstrafen, die realkonkurrierend zu einer Freiheitsstrafe hinzutreten, mit dieser aber aus den soeben erwähnten Gründen nicht zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verbunden werden sollen, so hat das Gericht neben der Freiheitsstrafe auf eine Gesamtgeldstrafe zu erkennen (Abs. 2 S. 2, letzter Halbsatz). c) Will das Gericht unter den Voraussetzungen des § 41 wegen einer Tat neben Freiheitsstrafe gesondert auf Geldstrafe erkennen, so tritt diese Geldstrafe kumulativ neben die Gesamtfreiheitsstrafe (vgl. Abs. 3 i. V. mit § 52 Abs. 3; siehe auch § 52 Anm. 5). Trifft eine solche kumulative Geldstrafe mit einer weiteren Geldstrafe zusammen, die nach Abs. 2 S. 2 selbständig ausgesprochen werden soll, so ist aus den einzelnen Geldstrafen eine Gesamtstrafe zu bilden, die dann selbständig neben die Freiheitsstrafe tritt. Beispiel: A hat eine Untreue sowie eine fahrlässige Körperverletzung begangen. Für die Untreue hält das Gericht neben einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten eine Geldstrafe von 100 Tagessätzen für angemessen, während es wegen der fahrlässigen Körperverletzung auf eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen erkennen möchte. In diesem Fall wäre es dann nach § 54 Abs. 2 S. 2 möglich, neben der Freiheitsstrafe auf eine Gesamtgeldstrafe von etwa 110 Tagessätzen zu erkennen. 3. Nach Abs. 3 werden Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 8) nicht in die Gesamtstrafe einbezogen, sondern nach dem sog. Kombinationsprinzip wie im Falle der Tateinheit selbständig ausgesprochen.
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Dritter Titel: Strafbemessung bei mehreren Gesetzes verletzungen § 54
§ 54
Bildung der Gesamtstrafe
(1) D i e Gesamtstrafe wird durch Erhöhung der verwirkten höchsten Strafe, bei Strafen verschiedener Art durch Erhöhung der ihrer Art nach schwersten Strafe gebildet. Dabei werden die Person des Täters und die einzelnen Straftaten zusammenfassend gewürdigt. (2) D i e Gesamtstrafe darf die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen. Sie darf bei Freiheitsstrafe fünfzehn Jahre und bei Geldstrafe siebenhundertzwanzig Tagessätze nicht übersteigen. (3) Ist eine Gesamtstrafe aus Freiheits- und Geldstrafe zu bilden, so entspricht bei der Bestimmung der Summe der Einzelstrafen ein Tagessatz einem Tag Freiheitsstrafe. 1. Wie nach früherem Recht (krit. hierzu Zipf JuS 1974, 145) wird die Gesamtstrafe durch die Erhöhung der verwirkten schwersten Strafe nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 gebildet (sog. Asperationsprinzip). Die verwirkte schwerste Strafe wird in diesem Zusammenhang als Einsatzstrafe bezeichnet. Ergänzt wird das Asperationsprinzip durch das sog. Kombinationsprinzip (vgl. § 53 Abs. 3). 2. Die Erhöhung der Einsatzstrafe wird nach Abs. 2 durch ein relatives und ein absolutes Höchstmaß begrenzt. Das relative ist in der Weise bestimmt, daß die Gesamtstrafe die Summe der verwirkten Einzelstrafen nicht erreichen darf. Das absolute Höchstmaß der Gesamtstrafe ist bei zeitigen Freiheitsstrafen in Anlehnung an § 38 Abs. 2 auf 15 Jahre begrenzt; bei Geldstrafen dürfen (über den Höchstsatz des § 40 Abs. 1 hinausgehend) 720 Tagessätze nicht überschritten werden. Ist aus einer Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden, so entspricht ein Tagessatz der Geldstrafe einem Tag Freiheitsstrafe (vgl. Abs. 3 i. V. mit § 53 Abs. 2 S. 1). 3. Für die Bildung der Gesamtstrafe innerhalb des abgesteckten Strafrahmens gibt Abs. 1 Satz 2 dem Richter noch eine besondere Zumessungsrichtlinie: Bei der Gesamtstrafenbüdung müssen die Person des Täters und die einzelnen Straftaten zusammenfassend gewürdigt werden. Damit soll darauf hingewiesen werden, daß die einzelnen Taten Ausfluß einer einheitlichen Täterpersönlichkeit sind und als ein Inbegriff, nicht als bloße Summe einzelner Taten zu beurteilen sind. In der Gesamtstrafe soll daher auch das Verhältnis der einzelnen Straftaten zueinander, ihr Zusammenhang, ihre größere oder geringere Selbständigkeit und das gesamte in den Straftaten hervortretende Verschulden des Täters Berücksichtigung finden (vgl. Begründung zu § 69 E 1962). 4. Die schriftlichen Urteilsgriinde müssen erkennen lassen, welche Gesichtspunkte bei der Gesamtstrafenbildung maßgeblich waren (BGH 24, 268 m. Anm. Jagusch NJW 1972, 454). Eine erschöpfende Darstellung ist hierbei allerdings grundsätzlich nicht erforderlich. Die Gesamtstrafe ist nur dann eingehender zu begründen, wenn die Einsatzstrafe nur geringfügig überschritten oder die Summe der Einzelstrafen nahezu erreicht wird (BGH aaO.). 5. Abschließendes Beispiel: A hat folgende Straftaten begangen, die als rechtlich selbständige Handlungen in Realkonkurrenz stehen: einen Diebstahl, eine Untreue sowie 245
§ 55
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
eine fahrlässige Körperverletzung. Das Gericht hält folgende Einzelstrafen für tat- und schuldangemessen: für den Diebstahl eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten, für die Untreue eine Freiheitsstrafe von 8 Monaten sowie eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen und für die fahrlässige Körperverletzung eine Geldstrafe von 10 Tagessätzen. Will das Gericht nach § 53 Abs. 2 S. 2 auf die Geldstrafe für die fahrlässige Körperverletzung gesondert erkennen, so hat es aus den beiden Freiheitsstrafen eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden, deren Höhe zwischen 8 Monaten und 1 Woche als unterste Grenze und 13 Monaten als oberste Grenze liegen müßte. (Beachte: Freiheitsstrafen von einem Jahr und länger werden nur nach vollen Monaten und Jahren bemessen, vgl. § 39.) Neben die auf diese Weise zu bildende Gesamtfreiheitsstrafe müßte eine Gesamtgeldstrafe treten, deren Höhe auf mindestens 31 Tagessätze und höchstens 39 Tagessätze zu bemessen wäre. In der Praxis kommen solche Grenzwerte allerdings kaum vor. Zu denken wäre etwa an eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und eine Gesamtgeldstrafe von 35 Tagessätzen.
§ 55
Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe
(1) D i e §§ 5 3 und 5 4 sind auch anzuwenden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat. Als frühere Verurteilung gilt das Urteil in dem früheren Verfahren, in dem die zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten. (2) Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen (§ 1 1 Abs. 1 Nr. 8), auf die in der früheren Entscheidung erkannt war, sind aufrechtzuerhalten, soweit sie nicht durch die neue Entscheidung gegenstandslos werden. 1. Die Vorschrift beruht auf dem Gedanken, daß ein Angeklagter, der mehrere Taten begangen hat, die aus irgendwelchen Gründen in verschiedenen Verfahren abgeurteilt werden, nicht anders gestellt werden soll, als wenn alle Taten in einem, und zwar in dem ersten Verfahren, abgeurteilt worden wären (BGH 7,180 f.). 2. Voraussetzungen: a) Die neu abzuurteilende Tat muß vor der früheren Verurteilung begangen worden sein. Als frühere Verurteilung gilt der Zeitpunkt der Verkündung des Urteils, in dem die zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten. Maßgeblicher Zeitpunkt kann also auch noch eine Verurteilung in der Berufungsinstanz sein, sofern die Berufung nicht nur als unzulässig oder gemäß § 329 Abs. 1 StPO wegen unentschuldigten Ausbleibens des Angeklagten zu verwerfen ist (BGH 15, 69; 17,173), ebenso ein Urteil, das lediglich zur Bildung einer Gesamtstrafe geführt hat (Celle NJW 1973, 2214; h. L.), nicht jedoch ein nachträglicher Gesamtstrafenbeschluß nach § 460 StPO (Krhe Justiz 1974, 190; Stree in Schönke-Schröder 9). Bei Strafbefehlen entscheidet der Erlaß, nicht der Zeitpunkt der Zustellung (Dreher 1; Lackner 1 a; Remmele NJW 1974, 486; a. A. Stree in Schönke-Schröder 10 m. weit. Nachw.). Bei fortgesetzten Taten und Dauerdelikten kommt es darauf an, ob der jeweils letzte Teilakt vor der früheren Verurteilung liegt (BGH 9, 370,383; Hamm NJW 1957,1937; h. L.). 246
Dritter Titel: Strafbemessung bei mehreren Gesetzesverletzungen
§ 55
b) Das frühere Urteil, dessen Straffestsetzung zur Bildung einer Gesamtstrafe herangezogen werden soll, muß im Zeitpunkt der späteren Aburteilung bereits rechtskräftig sein. c) Die früher erkannte Strafe, die auch eine Geldstrafe sein kann, darf noch nicht vollstreckt, verjährt oder erlassen sein. Entscheidender Zeitpunkt ist dabei der Zeitpunkt der letzten tatrichterlichen Entscheidung in dem neuen Verfahren (BGH 12, 94; h. L., vgl. Lackner 1 b m. weit. Nachw.). Ist auf die Revision des Angeklagten eine Gesamtstrafe aufgehoben worden und darf bei der neuen Verhandlung keine Gesamtstrafe mehr gebildet werden, weil die einzubeziehende Strafe inzwischen verbüßt worden ist, so darf die verbleibende Einzelstrafe nicht mehr höher bemessen werden als die aufgehobene Gesamtstrafe abzüglich der verbüßten Strafe (BGH aaO.). Bei teilweiser Vollstreckung einer einzubeziehenden Strafe beachte § 51 Abs. 2 (Anrechnung). 3. Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 8) werden in die Gesamtstrafe nicht einbezogen (vgl. §§ 53 Abs. 3 und 52 Abs. 4). In der Regel folgt daraus, daß die in der früheren Entscheidung angeordneten Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen aufrechtzuerhalten sind. Es besteht jedoch die Möglichkeit, daß sie durch die neue Entscheidung gegenstandslos werden. Nur in diesem Falle ist ihre frühere Anordhung aufzuheben. Die zeitliche Höchstdauer einer Maßregel, z. B. die Sperrfrist für die Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis, darf nicht überschritten werden. Die Sperrfrist beginnt jedoch nicht schon mit der Rechtskraft des früheren Urteils (so jedoch BGH 24, 205; hier die Vorauflage), sondern erst mit der Rechtskraft der Gesamtstrafenentscheidung (vgl. Dreher 8; Geppert MDR 1972, 280, 283; Lackner 5 b). Bei der Bemessung der Sperrfrist sind jedoch die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Maßregel in der Zwischenzeit bereits ausgegangen sind. Einzelheiten s. § 69 a Anm. 9. 4. Besonderheiten: a) Wurde die frühere Strafe zur Bewährung ausgesetzt, so steht dies einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung nicht entgegen. Siehe hierzu § 58 Anm. 2. b) War die frühere Strafe eine Gesamtstrafe, so ist sie bei der neuen Gesamtstrafenbildung in ihre Einzelstrafen aufzulösen. Die neue Gesamtstrafe muß zwar nicht höher sein als die frühere (BGH NJW 1973, 63; h. L.), sollte deren Höhe jedoch mindestens erreichen (BGH 7, 183; a. A. Dreher 5); andererseits darf sie die Summe der alten Gesamtstrafe und der neu hinzutretenden Einzelstrafen nicht übersteigen (BGH 15, 164; Krhe Justiz 1965, 119; Stgt NJW 1968, 1731; Lackner 2 a; a. A. Dreher 5; Stree in SchönkeSchröder 40). Bei einer nachträglichen Gesamtgeldstrafe besteht eine Bindung aA die einzubeziehende Strafe nur hinsichtlich der Zahl der Tagessätze, nicht auch hinsichtlich deren Höhe. Diese richtet sich grundsätzlich nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters im Zeitpunkt der Gesamtstrafenentscheidung, was sich - je nach Veränderung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse - teils vorteilhaft, teils nachteilig auswirken kann (vgl. BGH bei Spiegel DAR 1977, 141, 149; Horn JR 1977, 95, 97; Roos NJW 1976, 1483ff.). Haben sich die Einkommensverhältnisse des Täters im Zeitpunkt der Gesamtstrafenbildung verschlechtert, so kann dies u. U. sogar dazu führen, daß das „Gesamtstrafen-Endprodukt" niedriger ausfällt als die einzubeziehende Einzelstrafe (vgl.Horn aaO.; a.A. BayObLG JR 1977, 335 m.abl. Anm.Horn). Beispiel: A wird am 1. 6. wegen Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe von 30 TS ä 8 0 , - D M ( = 2400,- DM) verurteilt. Nach Rechtskraft des Urteils wird bekannt, daß er am 20. 5. ohne Fahrerlaubnis gefahren ist. Hält der Richter in der erneuten HV am 1.8. für das 247
§ 56
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Vergehen gemäß § 21 StVG 15 TS und als Gesamtstrafe 40 TS für angemessen, so beträgt das Gesamtstrafen-Endprodukt, wenn sich zwischenzeitlich durch den Verlust der Fahrerlaubnis die Einkommensverhältnisse so verschlechtert haben, daß nur noch ein TS von 2 0 - DM in Betracht kommt, 40 X 20 = 800,- DM. Diesen „fatalen forensischen Konsequenzen" (Horn aaO. Fn. 24) könnte in der Praxis allerdings dadurch begegnet werden, daß das Verfahren wegen der später aufgedeckten Tat gemäß § 154 StPO eingestellt wird. Haben sich umgekehrt die Einkommensverhältnisse des Täters im Zeitpunkt der Gesamtstrafenbildung verbessert, so ist in entsprechender Anwendung des im Rechtsmittelverfahren entwickelten Verschlechterungsverbots darauf zu achten, daß das Gesamtstrafen-Endprodukt die Summe der Einzelstrafen nicht überschreitet (BGH aaO.; Horn aaO.; Roos aaO.). Beispiel: A wird am 1. 8. rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 60 TS ä 10,- DM verurteilt. Am 30. 10. muß er sich für eine weitere Tat verantworten, die vor dem 1. 8. begangen wurde und für die der Richter eine Geldstrafe von 40 TS aussprechen will. Als Gesamtstrafe erscheinen 80 TS angemessen. Haben sich die Einkommensverhältnisse zwischenzeitlich so gebessert, daß ein TS von 30,- DM in Betracht kommt, so würde eine Gesamtgeldstrafe von 80 X 30 = 2400,- DM die Summe der Einzelstrafen (600,- DM + 1200,- DM = 1800,- DM) übersteigen. Der Angeklagte hätte also aus der nachträglichen Gesamtstrafenbildung nicht den vom Gesetz gewollten Vorteil, sondern einen offensichtlich unbefriedigenden Nachteil. Um dies zu verhindern, muß die Höhe des TS der Gesamtstrafe so bemessen werden, daß dem Angeklagten zumindest kein Nachteil entsteht. So wäre es z. B. zulässig, in dem zuletzt besprochenen Fall den TS mit 20,- DM zu bemessen. c) Einzelstrafen für Taten nach der früheren Verurteilung bleiben bei der Gesamtstrafenbildung außer Betracht. Sie sind gegebenenfalls in einer gesonderten Gesamtstrafe zusammenzufassen mit der Folge, daß mehrere Gesamtstrafen selbständig nebeneinandertreten (Krhe Justiz 1975,151). d) Die Gesamtstrafenbildung ist obligatorisch. Sie darf grundsätzlich nicht dem Beschlußverfahren nach § 460 StPO überlassen werden (BGH GrS 12, 1), es sei denn, daß das einzubeziehende frühere Urteil durch einen aussichtsreichen Wiedereinsetzungs-oder Wiederaufnahmeantrag in seinem Bestand gefährdet ist (BGH 23, 98 m. krit. Anm. Küper MDR 1970, 885) oder die Einbeziehung ohne größeren Zeitaufwand nicht möglich ist (Hamm NJW 1970, 1200 m. Anm. Küper NJW 1970, 1559). Zuständig für das Beschlußverfahren nach § 460 StPO ist nicht die Strafvollstreckungskammer, sondern das erkennende Gericht des ersten Rechtszugs, das die höchste Einzelstrafe (nicht Gesamtstrafe) ausgesprochen hat (BGH NJW 1976,1512 im Anschluß an BGH 11, 293).
Vierter Titel: Strafaussetzung zur Bewährung § 56
Strafaussetzung
(1) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen 248
Vierter Titel: Strafaussetzung zur Bewährung
§ 56
und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Dabei sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind. (2) Das Gericht kann unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 auch die Vollstreckung einer höheren Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen, wenn besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Verurteilten vorliegen. (3) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten wird die Vollstreckung nicht ausgesetzt, wenn die Verteidigung der Rechtsordnung sie gebietet. (4) Die Strafaussetzung kann nicht auf einen Teil der Strafe beschränkt werden. Sie wird durch eine Anrechnung von Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung nicht ausgeschlossen. 1. Entsprechend der Zielsetzung der Strafrechtsreform, Strafe nicht allein als Schuldvergeltung um der Vergeltung willen, sondern als Maßnahme zur sozialen Anpassung des Täters zu begreifen, hatte bereits das 1. StrRG mit Wirkung vom 1. 4. 1970 einen erweiterten Anwendungsbereich der Strafaussetzung zur Bewährung gebracht. Als wesentliche Neuerungen sind dabei zu nennen: die Aussetzung von Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr, ausnahmsweise sogar bis zu zwei Jahren, die grundsätzliche Verpflichtung des Gerichts, Freiheitsstrafen auszusetzen, und eine stärkere Differenzierung der Maßnahmen, die das Gericht im Rahmen der Strafaussetzung anordnen kann. Mit diesen Neuerungen sollte erreicht werden, daß sich das Rechtsinstitut nicht in der Drohung künftiger Strafvollstrekkung erschöpft. An Stelle der kriminalpädagogisch wenig wirkungsvollen und mitunter sozial schädlichen Vollstreckung kurz- oder mittelfristiger Freiheitsstrafen soll dem besserungswilligen Gelegenheitstäter die Aussicht auf Straferlaß eingeräumt und dem bereits kriminell gefährdeten Täter zugleich eine wirksame Hilfe zu künftig rechtmäßigem Verhalten gegeben werden. Das Wesen der Strafaussetzung zur Bewährung stellt sich somit nicht nur als reine Vollstreckungsmodalität, sondern als der Versuch einer ambulanten Resozialisierung und damit als wichtiges Mittel moderner Kriminalpolitik dar (vgl. Ber. S. 9 f BT-Drucks. V/4094; Bockelmann A T 244; Zipf JuS 1974, 145). Innerhalb des Strafensystems nimmt die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe ihren Platz dort ein, wo eine Geldstrafe nicht mehr ausreicht, allen Strafzwecken (siehe hierzu I vor § 46) gerecht zu werden, andererseits aber die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe weder zur Resozialisierung des Täters („stationäre Behandlung") noch zur „Verteidigung der Rechtsordnung" noch zur Sicherung der Allgemeinheit geboten erscheint. Schrifttum: Bietz, Empfiehlt sich eine erweiterte Strafaussetzung zur Bewährung?, Z R P 1977, 62; - Bruns, Die Strafaussetzung zur Bewährung, G A 1956, 193; - Kunert, Kurze Freiheitsstrafe und Strafaussetzung zur Bewährung, M D R 1969, 705. 2. Nur Freiheitsstrafen können nach § 56 zur Bewährung ausgesetzt werden. Eine Strafaussetzung von Geldstrafen und Ersatzfreiheitsstrafen ist in Übereinstimmung mit dem
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
früheren Recht nicht vorgesehen. Die in § 59 neu eingeführte „Verwarnung mit Strafvorbehalt" darf nicht als Strafaussetzung zur Bewährung angesehen werden, da eine Verurteilung zu Strafe in diesen Fällen überhaupt nicht erfolgt. Formelle Voraussetzung für die Aussetzung einer Freiheitsstrafe ist, daß diese eine bestimmte Höhe nicht überschreitet. Entsprechend der allgemeinen kriminalpolitischen Tendenz der Strafrechtsreform, die Vollstreckung kurzfristiger Freiheitsstrafen möglichst zu vermeiden, ergibt sich hierbei im einzelnen folgendes Bild: a) Freiheitsstrafen unter 6 Monaten dürfen nach § 47 nur ausnahmsweise verhängt werden, nämlich wenn dies zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung „unerläßlich" ist. Aus der Unerläßlichkeit der Verhängung ergibt sich jedoch nicht zugleich auch die Unerläßlichkeit der Vollstreckung. Die Vollstreckung ist vielmehr zur Bewährung auszusetzen, wenn die soziale Prognose günstig ist (s. u. 3). Die Strafaussetzung darf nicht mit der Begründung versagt werden, die Verteidigung der Rechtsordnung erfordere den Vollzug der Strafe. Eine solche Argumentation ist nur bei Freiheitsstrafen von 6 Monaten bis zu 1 Jahr zulässig (vgl. Abs. 3). b) Auch Freiheitsstrafen von 6 Monaten bis zu 1 Jahr sind bei guter Sozialprognose grundsätzlich zur Bewährung auszusetzen. Strafaussetzung kann jedoch versagt werden, wenn die Verteidigung der Rechtsordnung dies - ausnahmsweise - gebietet (Abs. 3). Siehe hierzu ausführlich Anm. 4. c) Freiheitsstrafen von über 1 Jahr bis zu 2 Jahren können nur unter ganz bestimmten, sehr strengen Voraussetzungen zur Bewährung ausgesetzt werden (siehe Abs. 2 sowie Anm. 5). 3. Entscheidende materielle Voraussetzung für die Strafaussetzung ist eine günstige Täterprognose. Es muß eine begründete Aussicht dafür bestehen, daß sich der Täter schon durch die Verurteilung auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs künftig von Straftaten abhalten läßt. Nicht erforderlich ist, daß der Täter mit Sicherheit keine weiteren Straftaten mehr begehen wird; es genügt, daß nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung (im Strafbefehlsverfahren dürfen keine Freiheitsstrafen mehr ausgesprochen werden, vgl. § 407 Abs. 2 StPO) wahrscheinlich ist, daß der Angeklagte sich bereits die Verurteilung als solche zur Warnung dienen läßt und auch ohne Vollstreckung der Strafe keine weiteren Taten begehen wird. Nicht erforderlich ist ferner die Erwartung, daß der Täter in Zukunft ein „gesetzmäßiges und geordnetes Leben" führen wird, wie dies noch vor Inkrafttreten des 1. StrRG gefordert wurde (§ 23 Abs. 2 aF). So kann z. B. einer Prostituierten wegen eines Beischlafdiebstahls oder einer Trunkenheitsfahrt Strafaussetzung nicht allein wegen ihres „unsittlichen Lebenswandels" versagt werden (BGH 20, 203). Als Grundlage der Prognose sind die in Abs. 1 Satz 2 aus Gründen der Vereinheitlichung der gerichtlichen Praxis - jedoch nicht abschließend - aufgeführten Gesichtspunkte heranzuziehen, und zwar so, wie sie sich im Zeitpunkt der Urteilsfindung darstellen. Dabei ist es unschädlich, daß die gleichen Kriterien bereits für die Strafzumessung ausschlaggebend waren. Soweit die Wirkungen der Aussetzung berücksichtigt werden sollen, bringt schon der Gesetzeswortlaut („für ihn") zum Ausdruck, daß nur solche mit spezialpräventivem Charakter zu beachten sind. Bei vorbestraften Tätern wird die Prognose sehr oft ungünstig sein, und zwar auch dann, wenn es sich um ungleichartige Vorstrafen handelt (Köln BA 1973, 267). Jedoch dürfen die Vorstrafen für sich allein ohne Abwägung weiterer Umstände nicht maßgeblich sein, zumal die neue Regelung nach dem Vorbild des JGG
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Vierter Titel: Strafaussetzung zur Bewährung
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bewußt auf formelle Versagungsgründe verzichtet hat. Bei Rückfalltätern, die innerhalb der Bewährungszeit erneut einschlägig in Erscheinung getreten sind, darf eine Strafaussetzung zwar nicht schlechthin versagt werden; sie bedarf in diesem Fall jedoch besonders eingehender Darlegungen (Saarbrücken NJW 1975, 2215). Hat der Täter schon einmal wegen einer ähnlich gelagerten Straftat eine kurze Freiheitsstrafe verbüßt, so bedarf die Nichtaussetzung einer neuen, nicht wesentlich höheren kurzfristigen Freiheitsstrafe besonders sorgfältiger Begründung, da der bei kurzen Freiheitsstrafen allein maßgebliche spezialpräventive Erfolg mit diesem Reaktionsmittel bisher offensichtlich nicht erzielt werden konnte (vgl. Ffm NJW 1970, 956). Auch kann eine günstige Erwartung nicht mit der Begründung versagt werden, daß der Angeklagte die Tat leugnet (dies ist sein Recht) oder die Wiedergutmachung des Schadens ablehnt (vgl. Hamm NJW 1960, 61; BGH 5, 238). 4. Wie bereits oben (Anm. 2 b) erwähnt, sind auch Freiheitsstrafen von 6 Monaten bis zu 1 Jahr bei guter Prognose grundsätzlich zur Bewährung auszusetzen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz sieht Abs. 3 lediglich für den Fall vor, daß die Verteidigung der Rechtsordnung die Vollstreckung gebietet. Dieser Begriff, der sich bereits in § 47 findet (siehe dort Anm. 5), wurde erst bei der 2. Lesung der Reformgesetze im Plenum des BT eingeführt, und zwar als Ersatz für den zunächst vorgeschlagenen Begriff „Bewährung der Rechtsordnung". Die Gesetzesmaterialien geben keine eindeutigen Richtlinien für die Auslegung beider Begriffe. Unbestritten ist jedoch, daß sie generalpräventive Elemente enthalten, auf die auch in einem modernen Schuldstrafrecht nicht verzichtet werden kann (vgl. Vorbem. 1 c vor § 46). a) In seiner Grundsatzentscheidung vom 8. 12. 1970 (BGH 24, 40) hat der 1. Senat des BGH zu dem Begriff wie folgt Stellung genommen (S. 43 ff.): aa) Zu den Aufgaben der Strafe gehört es, das Recht gegenüber dem vom Täter begangenen Unrecht durchzusetzen, die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung damit vor der Rechtsgemeinschaft zu erweisen und zugleich künftigen ähnlichen Rechtsverletzungen potentieller Täter vorzubeugen (sog. spezielle Generalprävention). Beide Zweckgesichtspunkte liegen dem Begriff der Verteidigung der Rechtsordnung zugrunde. Im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalität erfüllt im allgemeinen bereits die Verhängung der Freiheitsstrafe die Zwecke der Rechtsdurchsetzung und der Abschreckung potentieller Täter, so daß der Rechtsgüterschutz hier im Regelfall eine Strafvollstreckung nicht erfordert. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe ist daher nur geboten, wenn andernfalls eine ernstliche Gefährdung der rechtlichen Gesinnung der Bevölkerung ( = „Rechtstreue des Volkes") als Folge des schwindenden Vertrauens in die Funktion der Rechtspflege zu besorgen wäre. Eine solche Gefährdung ist gegeben, wenn der bloße Strafausspruch ohne Vollstreckung von der Bevölkerung angesichts der außergewöhnlichen konkreten Fallgestaltung als ungerechtfertigte Nachgiebigkeit und unsicheres Zurückweichen vor dem Verbrechen verstanden werden könnte. Die Vollstreckung ist somit nur geboten, wenn eine Aussetzung im Hinblick auf schwerwiegende Besonderheiten des Einzelfalls für das allgemeine Rechtsempfinden schlechthin unverständlich erscheinen müßte und das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts und in den Schutz der Rechtsordnung vor kriminellen Angriffen dadurch erschüttert werden könnte. bb) Als besondere Umstände, die eine Versagung der Strafaussetzung rechtfertigen können, nennt der BGH beispielsweise besonders schwere Tatfolgen (siehe hierzu auch unten lit. b), eine sich aus der Art der Tatausführung ergebende erhebliche verbrecherische 251
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Intensität, ein hartnäckiges rechtsmißachtendes Verhalten, ungewöhnliche Gleichgültigkeit gegenüber den verletzten Rechtsgütern, dreistes Spekulieren auf Strafaussetzung bereits bei der Tatbegehung, ferner rasche Wiederholungstaten, einschlägige Vorstrafen, insbesondere Rückfall in der Bewährungszeit. Eine Versagung der Strafaussetzung kann schließlich auch dann geboten sein, wenn die Tat Ausdruck einer verbreiteten Einstellung ist, die eine durch einen erheblichen Unwertgehalt gekennzeichneten Norm nicht ernst nimmt und von vornherein auf die Aussetzung einer etwaigen Freiheitsstrafe vertraut. cc) Unzulässig ist es dagegen, die Versagung der Strafaussetzung mit dem Sühnegedanken oder ausschließlich mit der Schwere der Schuld zu begründen. Auch die Belange des Verletzten und seiner Angehörigen, also deren persönliches Genugtuungsinteresse, sind grundsätzlich auszuklammern (S. 43,44). dd) Unzulässig ist es ferner, bestimmte Tatbestände oder Tatbestandsgruppen generell von der Strafaussetzung auszuschließen. b) Weitere Beispiele aus der höchstrichterl. Rspr.: aa) Auch bei fahrlässiger Tötung durch Trunkenheit am Steuer wäre es verfehlt, die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zwischen 6 Monaten und 1 Jahr schon „in der Regel" auszuschließen (BGH 24, 64). Vielmehr sind - wie auch sonst - alle Umstände des Einzelfalls gewissenhaft zu prüfen (BGH aaO.; Krhe Justiz 1974, 64). Zugunsten des Täters kann sich z. B. auswirken, daß er selbst schwer verletzt wurde oder sein Verschulden geringer war als das des verunglückten Opfers (BGH aaO.). Zugunsten des Täters kann sich weiter auswirken, daß der bei dem Unfall getötete Beifahrer sich zur Mitfahrt entschlossen hatte, obwohl er die Alkoholbeeinflussung des Fahrers kannte und auch wußte, daß der Fahrer mit dem Fahrzeug nicht vertraut war (vgl. Zweibrücken BA 1973, 274). Sonst aber wird in „den meisten Fällen die Aussetzung auch bei strafaussetzungswürdigen Tätern auf Unverständnis stoßen und das Rechtsgefühl der Bevölkerung ernstlich gefährden" (BGH aaO. sowie VRS 47, 14 f.). Dies gilt auch dann, wenn der Alkohol aus besonderem Anlaß getrunken wurde, z. B. anläßlich einer Familienfeier oder aus Freude über Umstände, die sich vorteilhaft auf die weitere Berufsausbildung auswirken (Krhe Justiz 1974, 64), und wenn die Alkoholeinwirkung so stark war, daß die Verurteilung nicht wegen fahrlässiger Tötung, sondern wegen Vollrauschs erfolgt (Krhe NJW 1975,1936; Koblenz BA 1977,57). bb) Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe ist insbesondere dann geboten, wenn die Tat sich durch eine außergewöhnliche verbrecherische Intensität auszeichnet, z. B. wenn ein Kraftfahrer die Polizeibeamten, die seinen Führerschein einbehalten haben, in einen Hinterhalt lockt und mit Waffengewalt zur Rückgabe seines Führerscheins zwingt (Ffm NJW 1971,1813). c) Gebietet die Verteidigung der Rechtsordnung die Vollstreckung der Strafe, so kommt dem Umstand, daß der sozial angepaßte Täter durch die Vollstreckung aus der sozialen Ordnung herausgerissen wird, keine entscheidende Bedeutung zu (Ffm NJW 1971, 1813). 5. Freiheitsstrafen von über 1 Jahr bis zu 2 Jahren können nach Abs. 2 nur dann zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn „besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Täters vorliegen". Es handelt sich hierbei um eine Ausnahmevorschrift, die vor allem die Berücksichtigung einer besonderen Konfliktslage ermöglichen soll (BGH
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24, 2). Keinesfalls genügt wie in Abs. 1 eine günstige Sozialprognose zur Gewährung von Strafaussetzung. Als Beispiele für „einmalige Taten, die in einer ganz besonderen Konfliktslage begangen worden sind", werden in den Gesetzesmaterialien erwähnt: Fälle des mißglückten Doppelselbstmords, die Kindstötung sowie die Tötung eines unheilbar Kranken auf dessen Verlangen (vgl. BGH aaO.). Allerdings sollte die Möglichkeit einer Strafaussetzung nicht auf derartige extreme Konfliktslagen beschränkt werden (vgl. Römer JR 1973, 454). Die Abgrenzungsformel der „besonderen Umstände" besagt lediglich, daß „gewöhnliche", „durchschnittliche", „allgemeine" oder „einfache" Strafmilderungsgründe eine Strafaussetzung nach § 56 Abs. 2 nicht rechtfertigen. Einerseits erforderlich, andererseits aber ausreichend sind vielmehr Strafmilderungsgründe, die so gewichtig sind, daß sie dem Fall zugunsten des Täters den „Stempel des Außergewöhnlichen" aufdrücken (BGH NJW 1977, 639). So kann z.B. auch bei Verstößen gegen das BTMG ein „außergewöhnlicher Fall" vorliegen (BGH NJW 1976, 1413 m. Anm. Schreiber JR 1977, 167). Auf dem Gebiet des Verkehrsstrafrechts ist eine Aussetzung nach § 56 Abs. 2 grundsätzlich unangebracht (vgl. BGH VRS 50 [1976], 340). Auch bei Gewaltverbrechen wie schwerem Raub oder schwerer räuberischer Erpressung werden die Voraussetzungen des Abs. 2 in der Regel auch bei Ersttätern nicht vorliegen (siehe auch BGH 25, 142, 144: Aussetzung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr kommt regelmäßig nur in Betracht, wenn die Tat einer unerwarteten und unausweichlichen Konfliktslage entsprang, die an Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgriinde heranreicht). Bei Gesamtstrafen muß die Gesamtwürdigung sich mit den einzelnen von der Gesamtstrafe erfaßten Taten auseinandersetzen, sofern diese bei der Gesamtstrafenbildung nicht offensichtlich ohne Bedeutung sind (BGH 25, 142). Besondere Umstände, die erst nach der Tat eintreten (z. B. jahrelange Erpressung des Täters durch das Opfer), fallen ebenfalls nicht unter den Anwendungsbereich der Vorschrift, können sich jedoch strafmildernd auswirken (vgl. Krhe MDR 1972, 240 m. krit. Anm. Blei JA 1973, StR 79). Auch der Verlust der Fahrerlaubnis, der für den Täter erhebliche Nachteile haben mag, begründet keine „besonderen Umstände" i. S. von § 56 Abs. 2 (vgl. BGH VRS 44 [1973], 266). 6. Eine Beschränkung der Strafaussetzung auf einen Teil der erkannten Strafe ist unzulässig. Soll die durch den Vollzug der Strafe drohende soziale und psychische Belastung des Verurteilten vermieden und seine Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft erreicht werden, so muß die Strafaussetzung für die gesamte Strafe vollständig gewährt werden (Abs. 4). Andernfalls ist sie in vollem Umfang zu versagen. So können bei einer Verurteilung zu einer Gesamtstrafe nicht Einzelstrafen hiervon gesondert zur Bewährung ausgesetzt werden, etwa weil sie im Gegensatz zur Gesamtstrafe unter einem Jahr liegen. Maßgebend ist allein die Höhe der Gesamtstrafe (siehe § 58 Abs. 1). 7. Wird eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe gemäß § 55 oder gemäß § 460 StPO in eine nachträgliche Gesamtstrafe einbezogen, so hat das mit der Gesamtstrafenbildung befaßte Gericht erneut über die Strafaussetzung zu entscheiden (vgl. § 58 Anm. 2 sowie BGH 7, 180). Beträgt die Gesamtstrafe mehr als ein Jahr und liegen nicht die Voraussetzungen des Abs. 2 vor, so kommt die bisher gewährte Strafaussetzung automatisch in Wegfall. 8. Wenn auch die Anrechnung der Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung als teilweise Strafverbüßung die Strafaussetzung nicht prinzipiell ausschließt (Abs. 4 Satz 2), so kann doch eine Strafaussetzung dann nicht mehr erfolgen, wenn nur
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
aufgrund der Anrechnung der Untersuchungshaft der noch zu verbüßende Strafrest unter der Höchstgrenze des Abs. 1 bzw. des Abs. 2 liegt (vgl. BGH 5,377). 9. Prozessual ist folgendes zu beachten: a) Die Strafaussetzung, über die seit Aufhebung des früheren § 263 Abs. 4 StPO durch das EGStGB mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird, ist bereits im Urteilstenor zum Ausdruck zu bringen (vgl. § 260 Abs. 4 StPO). Sie darf weder den Urteilsgründen noch einem gesonderten Beschluß vorbehalten werden. Lediglich die Bewährungsfrist sowie etwaige Auflagen und Weisungen (§§ 56 a-c) werden in einem gesonderten Beschluß, der mit dem Urteil verkündet wird, zusammengefaßt. b) Die Frage der Strafaussetzung ist von Amts wegen zu prüfen. Hat das Gericht Zweifel, ob der Angekl. sich in Zukunft straffrei führen wird, so darf Strafaussetzung nicht gewährt werden; der Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten" gilt hier nicht (h. L., vgl. Dreher 6 m. Nachw.). c) Nach § 267 Abs. 3 StPO müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, weshalb die Strafe ausgesetzt oder entgegen einem in der Verhandlung gestellten Antrag nicht ausgesetzt wurde. Ein Verstoß gegen diese Bestimmung begründet in aller Regel die Revision, es sei denn, daß nach den Feststellungen des Urteils schon die äußeren Voraussetzungen für eine Strafaussetzung fehlen. d) Eine Rechtsmittelbeschränkung auf die Frage der Strafaussetzung ist zwar grundsätzlich möglich (vgl. BGH 24, 165; Ffm NJW 1971, 1814; h. L.), jedoch dann unwirksam, wenn die für die Strafaussetzung maßgeblichen Gesichtspunkte sich im konkreten Fall von den Strafzumessungserwägungen nicht trennen lassen (Saarbrücken NJW 1975, 2213). Mit Rücksicht auf die bestehenden Wechselwirkungen erfaßt das Rechtsmittel immer zugleich auch etwaige Maßregeln, insbesondere die Entziehung der Fahrerlaubnis (vgl. Ffm NJW 1970, 957; 1971, 666; Hamm BA 1971, 140). Eine Berufungsbeschränkung ist weiter dann unzulässig, wenn zum Schuldspruch nur lückenhafte Feststellungen getroffen sind, die den Unrechts- oder Schuldgehalt der Tat nicht ausreichend erkennen lassen (vgl. Hamm DAR 1972, 245). Die Berufungsbeschränkung ist in solchen Fällen unbeachtlich. Eine Verkennung dieser Grundsätze ist in der Revision von Amts wegen zu beachten und führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (Koblenz BA 1974,430). e) Der Begriff „Verteidigung der Rechtsordnung" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff (vgl. BGH 24, 41; Stgt Justiz 1970, 163) und unterliegt als solcher der Nachprüfung des Revisionsgerichts, das jedoch in Grenzfällen die Wertung des Tatrichters respektieren sollte, sofern sich diese nicht offensichtlich als Fehlgriff erweist. f) Das Revisionsgericht darf die Feststellungen des Tatrichters zur Sozialprognose nicht durch eigene ersetzen, sondern lediglich prüfen, ob der Tatrichter ausreichende Feststellungen getroffen und die richtige Konsequenz aus seinen Feststellungen gezogen hat. Kommt der Tatrichter nach seinem pflichtgemäßen Ermessen bei Zugrundelegung der höchstrichterl. Rspr. zum Ergebnis, daß es sich um einen „außergewöhnlichen Fall" i. S. dieser Rspr. handelt, und setzt er deshalb eine Freiheitsstrafe zwischen ein und zwei Jahren nach § 56 Abs. 2 zur Bewährung aus, so muß es dabei grundsätzlich sein Bewenden haben (BGH NJW 1976, 1413). In Zweifelsfällen hat das Revisionsgericht die Wertung des Tatrichters zu respektieren. Dies folgt aus der Ermessensfreiheit, die sich aus der Unbestimmtheit und Fallbezogenheit des Begriffs der „besonderen Umstände" 254
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ergibt (BGH NJW 1977, 639). Sind die getroffenen Feststellungen unzulänglich oder widerspruchsvoll, so ist die Sache gem. § 354 Abs. 2 StPO unter Aufhebung des Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Hat der Tatrichter nach Auffassung des Revisionsgerichts den Begriff der Verteidigung der Rechtsordnung fehlerhaft interpretiert, so kann das Revisionsgericht, falls keine weiteren Feststellungen mehr zu treffen sind, in der Sache selbst entscheiden und - je nach Sachlage - die zu Unrecht gewährte Strafaussetzung in Wegfall bringen oder die zu Unrecht versagte Strafaussetzung gewähren (vgl. Koffka LK 53 zu § 23 aF). Im letzteren Fall ist die Sache jedoch grundsätzlich zur Festsetzung der Bewährungszeit sowie etwaiger Auflagen und Weisungen an den Tatrichter zurückzuverweisen (vgl. BayObLG bei Wagner DRiZ 1970, 279; a. A. Koffka aaO.). g) Aus dem Verbot der Schlechterstellung (sog. reformatio in peius, vgl. §§ 331, 358 Abs. 2 StPO) folgt, daß die Strafe auch dann nicht erhöht werden darf, wenn dem Angeklagten auf sein Rechtsmittel die zunächst versagte Strafaussetzung gewährt wird. Umgekehrt darf die bereits gewährte Strafaussetzung auch dann nicht versagt werden, wenn die Höhe der Strafe auf ein Rechtsmittel des Angeklagten ermäßigt wird (Armin Kaufmann JZ 1958, 297; Ffm NJW 1964, 368; h. L., vgl. Dreher 10).
§ 56 a
Bewährungszeit
(1) Das Gericht bestimmt die Dauer der Bewährungszeit. Sie darf fünf Jahre nicht überschreiten und zwei Jahre nicht unterschreiten. (2) Die Bewährungszeit beginnt mit der Rechtskraft der Entscheidung über die Strafaussetzung. Sie kann nachträglich bis auf das Mindestmaß verkürzt oder vor ihrem Ablauf bis auf das Höchstmaß verlängert werden. 1. Die durch das 2. StrRG hier eingestellte Vorschrift stimmt wörtlich mit § 24 Abs. 1 und 2 idF des 1. StrRG überein. Der ehemalige § 24 Abs. 3 (Ruhen der Vollstreckungsverjährung während der Bewährungszeit) findet sich jetzt in § 79 a Nr. 2 b. 2. Mit der „Entscheidung über die Strafaussetzung", mit deren Rechtskraft die Bewährungszeit zu laufen beginnt, ist nur das Urteil gemeint, in dem die Strafaussetzung angeordnet wird, nicht etwa der Beschluß, in dem die Bewährungszeit festgesetzt wird. 3. Eine Verlängerung der Bewährungszeit ist nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut (Abs. 2 Satz 2) grundsätzlich nur bis zum Ablauf der Bewährungszeit möglich. Dies erscheint insoweit unbefriedigend, als die für den Verurteilten wesentlich einschneidendere Maßnahme, nämlich der Widerruf der Strafaussetzung, auch noch nach Ablauf der Bewährungszeit beschlossen werden kann (vgl. § 56 f Anm. 4). Man wird deshalb zumindest in den Fällen, in denen ein Widerruf nach § 56 f an sich in Betracht kommt, im Einzelfall aber zu hart erscheint, eine Verlängerung der Bewährungsfrist ausnahmsweise auch noch nach Ablauf der zunächst ausgesprochenen Bewährungszeit für zulässig erachten müssen (vgl. Oldenburg NJW 1964, 2434; Hamm NJW 1975, 2112; Saarbrücken NJW 1977, 1249; Dreher 1; Stree in Schönke-Schröder § 56 f Rn. 10; a. A. Ffm NJW 1975, 270; Horn SK § 56 f Rn. 30; Lackner 1; Miesen NJW 1974, 1493). Auf jeden Fall
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§ 56b
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
ist den Gerichten zu empfehlen, die Entscheidung gemäß § 56 f so rechtzeitig einzuleiten, daß die Bewährungszeit, falls erforderlich, noch vor ihrem Ablauf verlängert werden kann. Dies kommt vor allem dann in Betracht, wenn sich während der Bewährungszeit Führungsmängel zeigen, die einerseits die bei der Verurteilung angenommene günstige Prognose in Frage stellen, andererseits aber als Grund zum Widerruf nicht ausreichend erscheinen (vgl. § 56 f Abs. 2). 4. Prozessual ist zu beachten: a) Die Entscheidung über die Bewährungszeit sowie über die Bewährungsauflagen und Weisungen erfolgt durch einen Beschluß des Gerichts, das die Strafaussetzung anordnet. Der Beschluß ist gemäß § 268 a StPO zusammen mit dem Urteil zu verkünden. Er unterliegt gemäß § 305 a StPO der Beschwerde, die allerdings nur darauf gestützt werden kann, daß eine in dem Beschluß getroffene Anordnung gesetzwidrig ist. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn sie einen unzumutbaren Eingriff in die Lebensführung des Beschwerdeführers darstellt (vgl. §§ 56 b Abs. 1 Satz 2, 56 c Abs. 1 Satz 2). b) G e m ä ß § 268 a Abs. 3 StPO ist der Angeklagte über das Wesen der Strafaussetzung, die Bewährungszeit, Auflagen und Weisungen sowie über die Möglichkeiten des Widerrufs der Strafaussetzung zu belehren. Die Belehrung erfolgt grundsätzlich mündlich, nur ausnahmsweise schriftlich (vgl. §§ 268 a, 453 a StPO).
§ 56 b
Auflagen
(1) Das Gericht kann dem Verurteilten Auflagen erteilen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. Dabei dürfen an den Verurteilten keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden. (2) Das Gericht kann dem Verurteilten auferlegen, 1. nach Kräften den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen, 2. einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse zu zahlen oder 3. sonst gemeinnützige Leistungen zu erbringen. (3) Erbietet sich der Verurteilte zu angemessenen Leistungen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen, so sieht das Gericht in der Regel von Auflagen vorläufig ab, wenn die Erfüllung des Anerbietens zu erwarten ist. 1. In den §§ 56 b bis 56 d werden die Maßnahmen, die im Rahmen der Bewährungszeit angeordnet werden können, klar gegeneinander abgegrenzt. a) § 56 b beinhaltet solche Maßnahmen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen (Auflagen). Die Vorschrift hat deshalb repressiven Charakter und ist hauptsächlich auf Gelegenheits- und Konfliktstäter anwendbar, die einer nachhaltigen Aufsicht und Einwirkung während der Bewährungszeit nicht bedürfen, denen aber dennoch ihre Verurteilung fühlbar gemacht werden muß.
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Vierter Titel: Strafaussetzung zur Bewährung
§ 56 b
b) Die Erteilung von Auflagen ist in das Ermessen des Gerichts gestellt. Die angeordneten Auflagen dürfen jedoch an den Verurteilten weder im Hinblick auf seine Lebensführung noch auf seine Rechtsstellung unzumutbare Anforderungen stellen. Die in Abs. 2 generell für zulässig erklärten Auflagen können daher im Einzelfall unzulässig, da unzumutbar sein, z. B. wenn ein nach Abs. 2 Nr. 2 festgesetzter Geldbetrag die Vermögensund Einkommensverhältnisse des Angeklagten überfordert. 2. Der in Abs. 2 aufgeführte Katalog enthält eine abschließende Aufzählung der zulässigen Auflagen. a) Zur Wiedergutmachung des Schadens (Nr. 1) kann auch die Auflage gehören, Schadensersatz in Geld zu leisten, falls die Herstellung des früheren Zustands nicht mehr möglich ist, ferner die Auflage, bestimmte ehrenrührige Äußerungen zu widerrufen. Weitergehende Ansprüche des Verletzten, die sich aus der Tat ergeben, z. B. der Anspruch auf Unterlassung künftiger Rechtsverletzungen, können nicht zur Auflage gemacht werden. b) Nach Nr. 2 können Geldbußen nicht nur zugunsten gemeinnütziger Vereinigungen, sondern auch zugunsten der Staatskasse auferlegt werden. Dies gilt vor allem bei solchen Straftaten, bei denen es „tatadäquate" gemeinnützige Einrichtungen, die als Empfänger in Betracht kommen könnten, nicht gibt (vgl. Ber. S. 12 BT-Drucks. V/4094). Außerdem ist es ja gerade die Staatskasse, die auch die Kosten der Strafrechtspflege zu tragen hat. Andererseits muß es als unzulässig angesehen werden, dem Angeklagten die Auflage zu erteilen, die Kosten des Verfahrens zu begleichen (vgl. BGH 9, 365). c) Bei den in Nr. 3 als Auflage vorgesehenen gemeinnützigen Leistungen ist in erster Linie an Arbeitsleistungen in Krankenhäusern, Heimen und ähnlichen Einrichtungen gedacht. Sie kann aber auch in Sachleistungen zugunsten gemeinnütziger Organisationen bestehen. Zu beachten ist das Übermaßverbot. Arbeitsauflagen dürfen nicht zu verfassungswidriger „Zwangsarbeit" werden (vgl. Art. 12 Abs. 2 S. 1 GG). 3. Abs. 3 verfolgt den Zweck, den Verurteilten im Rahmen der Strafaussetzung zur freiwilligen Mitarbeit anzuregen. Dabei müssen die selbstgewählten Leistungen zwar Auflagencharakter haben, aber nicht unbedingt unter den Katalog des Abs. 2 fallen. Bietet der Verurteilte angemessene Leistungen an und ist ihre Erfüllung auch zu erwarten, so ist das Gericht grundsätzlich verpflichtet, von gerichtlichen Auflagen abzusehen, es sei denn, besondere Umstände rechtfertigen die Ausnahme von dieser gesetzlichen Regel. Erfüllt der Verurteilte seine freiwillig übernommenen Pflichten nicht, so kann das Gericht gemäß § 56 e nachträglich Auflagen anordnen; ein sofortiger Widerruf der Strafaussetzung sollte allein deswegen jedoch noch nicht erfolgen (vgl. § 56 f Abs. 2). 4. Prozessual beachte §§ 265 a StPO (Befragung hinsichtlich freiwilliger Leistungen), 268 a Abs. 3 StPO (Belehrung), 305 a StPO (Beschwerde) und 453 StPO (nachträgliche Entscheidungen nach § 56 e). Da die Auflagen nicht im Urteil, sondern in einem gesonderten Beschluß festgesetzt werden, unterliegen sie trotz ihres strafähnlichen Charakters auch nach der Neufassung des § 331 StPO durch das EGStGB nicht dem Verbot der reformatio in peius (vgl. Kleinknecht Rn. 6 zu § 331 StPO; aA Koblenz NJW 1977, 1074 m. weit. Nachw.). Dies ergibt sich nicht zuletzt auch daraus, daß § 56 e sogar noch nach Rechtskraft des Urteils die Möglichkeit gibt, bei entsprechend veränderter Sachlage Auflagen und Weisungen zum Nachteil des Verurteilten zu ändern. 9
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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§ 56 c
Weisungen
(1) Das Gericht erteilt dem Verurteilten für die Dauer der Bewährungszeit Weisungen, wenn er dieser Hilfe bedarf, um keine Straftaten mehr zu begehen.* Dabei dürfen an die Lebensführung des Verurteilten keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden. (2) Das Gericht kann den Verurteüten namentlich anweisen, 1. Anordnungen zu befolgen, die sich auf Aufenthalt, AusbUdung, Arbeit oder Freizeit oder auf die Ordnung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse beziehen, 2. sich zu bestimmten Zeiten bei Gericht oder einer anderen Stelle zu melden, 3. mit bestimmten Personen oder mit Personen einer bestimmten Gruppe, die ihm Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, nicht zu verkehren, sie nicht zu beschäftigen, auszubilden oder zu beherbergen, 4. bestimmte Gegenstände, die ihm Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, nicht zu besitzen, bei sich zu führen oder verwahren zu lassen oder 5. Unterhaltspflichten nachzukommen. (3) Die Weisung, 1. sich einer Heilbehandlung oder einer Entziehungskur zu unterziehen oder 2. in einem geeigneten Heim oder einer geeigneten Anstalt Aufenthalt zu nehmen, darf nur mit Einwilligung des Verurteilten erteilt werden. (4) Macht der Verurteilte entsprechende Zusagen für seine künftige Lebensführung, so sieht das Gericht in der Regel von Weisungen vorläufig ab, wenn die Einhaltung der Zusagen zu erwarten ist. 1. Weisungen sind Gebote und Verbote mit dem Ziel, dem Verurteilten zu helfen, keine weiteren Straftaten mehr zu begehen. Während die Auflagen des § 56 b dem Verurteilten eine Genugtuung für das begangene Unrecht abverlangen, dienen die Weisungen ausschließlich spezialpräventiven Zwecken. Soweit andere Wirkungen (z. B. die Erfüllung sittlicher oder durch den Anstand gebotener Pflichten oder die Genugtuung für das begangene Unrecht) nur als Nebenfolgen der Weisungen auftreten, berühren sie deren Zulässigkeit nicht. Wie die Auflagen müssen sich jedoch auch die Weisungen, die sich hauptsächlich auf die Lebensführung des Verurteilten beziehen, im Rahmen des Zumutbaren halten (vgl. § 56 b Anm. 1 b). Sie können nicht nur für sich allein, sondern auch neben Auflagen ausgesprochen werden. Weisungen, die in den Ermessungsbereich einer Behörde eingreifen, sind unzulässig. So ist z. B. die von AG Berlin-Tiergarten einem fünfmal wegen Kfz-Diebstahls und Fahrens ohne Fahrerlaubnis vorbestraften Angeklagten erteilte Weisung, seiner Neigung zum unerlaubten Führen von Kraftfahrzeugen durch Erlangung einer Fahrerlaubnis entgegenzuwirken (vgl. DAR 1971, 21) sicher gut gemeint, aber rechtlich unzulässig. Die Verwaltungsbehörde kann auf diese Weise nicht gezwungen werden, einem Mann, den sie aufgrund seiner Vorstrafen für unzuverlässig hält, eine Fahrerlaubnis zu erteilen. Außerdem dürfte die Gefahr weiterer Kfz-Diebstähle durch den Erwerb einer Fahrerlaubnis nicht ausgeräumt werden.
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Vierter Titel: Strafaussetzung zur Bewährung
§ 56d
2. Der in Abs. 2 aufgeführte Katalog bringt im Gegensatz zum Katalog der Auflagen nur eine beispielhafte Aufzählung. Eine schematische, wenn auch noch so ausführliche Aufstellung der einzelnen Weisungen könnte der mit ihnen verfolgten fürsorgerischen Tätigkeit nicht gerecht werden. Diese setzt vielmehr vielfältige, dem jeweiligen Einzelfall angepaßte Reaktionsmittel voraus. Rechtsstaatliche Bedenken wegen dieser Unbestimmtheit der Weisungen (Art. 103 Abs. 2 GG) dürften aber deswegen kaum mehr bestehen, weil die Weisungen anders als die der Genugtuung dienenden Auflagen keinen strafähnlichen Charakter mehr besitzen. Unzulässig wären allerdings Weisungen, die mit dem Grundgesetz, insbesondere den Grundrechten, nicht in Einklang ständen, z. B. wenn jemand die Weisung bekäme, regelmäßig die Kirche zu besuchen (vgl. Art. 4 GG), eine bestimmte Person zu heiraten oder dies zu unterlassen (vgl. Art. 6 GG) oder einem bestimmten Verein beizutreten bzw. aus ihm auszutreten (vgl. Art. 9 GG). Andererseits verstößt es nicht gegen rechtsstaatliche Grundsätze, wenn ein wegen Verletzung der Unterhaltspflicht verurteilter Handwerksmeister angewiesen wird, seinen unrentabel gewordenen Einmannbetrieb aufzugeben und ein abhängiges Arbeitsverhältnis im gleichen Handwerk einzugehen, damit er künftig durch gesicherte Verdienstmöglichkeit seinen Unterhaltsverpflichtungen nachkommen kann (vgl. Celle NJW 1971, 718). Verfassungsrechtlich zulässig ist auch die Weisung, nicht im Gaststättengewerbe tätig zu sein, sofern gerade diesfe Tätigkeit aufgrund einer besonderen Veranlagung des Täters schwere Gefahren für die Allgemeinheit mit sich bringen kann (vgl. Hamburg NJW 1972, 168). 3. Das Erfordernis der Einwilligung zu einer besonderen Weisung nach Abs. 3 (Heilbehandlung, Entziehungskur usw.) schließt sich der Erkenntnis an, daß eine psychiatrische oder medizinische Behandlung gegen den Willen des Betroffenen ohnehin keinen Erfolg verspricht (wichtig vor allem für die Fälle des § 183 Abs. 3, der bei Exhibitionisten die erweiterte Möglichkeit der Strafaussetzung bietet, wenn der Täter voraussichtlich erst nach längerer Heilbehandlung nicht mehr rückfällig wird). Prozessual beachte in diesem Zusammenhang § 265 a StPO sowie § 56 b Anm. 4. 4. Die Regelung des Abs. 4 entspricht der des § 56 b Abs. 3 und will wie dieser den Verurteilten im Rahmen einer der sozialen Anpassung dienenden Strafaussetzung zur freiwilligen Mitarbeit anregen. Zum Ganzen s. auch § 56 b Anm. 3 und 4.
§ 56 d
Bewährungshilfe
(1) Das Gericht unterstellt den Verurteilten für die Dauer der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers, wenn dies angezeigt ist, um ihn von Straftaten abzuhalten. (2) Eine Weisung nach Absatz 1 erteilt das Gericht in der Regel, wenn es eine Freiheitsstrafe von mehr als neun Monaten aussetzt und der Verurteilte noch nicht siebenundzwanzig Jahre alt ist. (3) Der Bewährungshelfer steht dem Verurteilten helfend und betreuend zur Seite. Er überwacht im Einvernehmen mit dem Gericht die Erfüllung der A u f lagen und Weisungen sowie der Anerbieten und Zusagen. Er berichtet über die 9*
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§ 56d
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Lebensführung des Verurteilten in Zeitabständen, die das Gericht bestimmt. Gröbliche oder beharrliche Verstöße gegen Auflagen, Weisungen, Anerbieten oder Zusagen teilt er dem Gericht mit. (4) Der Bewährungshelfer wird vom Gericht bestellt. Es kann ihm für seine Tätigkeit nach Absatz 3 Anweisungen erteilen. (5) Die Tätigkeit des Bewährungshelfers wird haupt- oder ehrenamtlich ausgeübt. 1. Die Bewährungshilfe ist durch das 1. StrRG neu gestaltet und durch das 2. StrRG unverändert übernommen worden. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers handelt es sich dabei um eine Art „ambulanter Behandlung". Der Bewährungshilfe wird in Zukunft schon deshalb größere Bedeutung als früher zukommen, weil mehr Freiheitsstrafen als früher zur Bewährung ausgesetzt werden. Berücksichtigt man weiter, daß jetzt auch verhältnismäßig hohe Freiheitsstrafen (bis zu 1 Jahr, ausnahmsweise sogar bis zu 2 Jahren) ausgesetzt werden können und Bewährungshilfe auch im Rahmen der Führungsaufsicht angeordnet wird (vgl. § 68 a), so zeigt sich, daß der Bewährungshelfer in Zukunft noch wesentlich schwierigere und verantwortungsvollere Aufgaben zu bewältigen hat als bisher. Er ist gewissermaßen der Mittler zwischen dem Rechtsbrecher und der Gesellschaft. Von seinem Wirken und dem Verständnis, das die Gesellschaft für seine verantwortungsvolle Arbeit aufbringt, wird es abhängen, ob die mit dem neuen Strafrecht verbundenen Erwartungen erfüllt werden (vgl. Hohler NJW 1969, 1225, 1227). Hier wird sich zeigen, ob die Strafrechtsreform wirklich nur - wie vielfach befürchtet - eine „weiche Welle" eingeleitet hat oder einen Ansatz zu echter Reform darstellt. 2. Rechtlich gesehen handelt es sich bei der Unterstellung unter die Aufsicht eines Bewährungshelfers um eine Weisung. Da sie regelmäßig einen recht nachhaltigen Eingriff in die Lebensführung des Verurteilten darstellt, kommt sie nur in solchen Fällen zur Anwendung, in denen andere, weniger einschneidende Weisungen nicht oder nur weniger geeignet sind, den Verurteilten zu einer Lebensführung zu bringen, die ihn von neuen Straftaten abhält. 3. Nach Abs. 2 kommt die Bewährungshilfe vor allem für jüngere Rechtsbrecher (Jungtäter bis zu 27 Jahren) in Betracht, die zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten oder mehr verurteilt wurden und deshalb besonders gefährdet erscheinen. In diesen Fällen soll Bewährungshilfe in der Regel angeordnet werden. 4. Abs. 3 umschreibt die Pflichten des Bewährungshelfers und sein Verhältnis zum Gericht, das ihn bestellt (siehe auch Abs. 4). Der Bewährungshelfer ist in seiner verantwortungsvollen Tätigkeit (s. o. 1) freier gestellt als früher. Er kann dem Verurteilten (Probanden) allerdings selbst keine Auflagen oder Weisungen nach §§ 56 b, 56 c erteilen. Hält er solche für notwendig, so hat er seine Anregungen zur Vorbereitung einer Entscheidung nach § 56 e dem Gericht zu unterbreiten. Dasselbe gilt, wenn er erteilte Auflagen oder Weisungen für überholt hält. 5. Die Rechtsstellung des Bewährungshelfers bleibt der Landesgesetzgebung vorbehalten. Siehe hierzu für Bad.-Wttbg Erl. v. 28. 3./7. 4. 1955 (Justiz 134); Bayern Bek. v. 12. 8. 1955 (BayBSJu IV S. 60), ergänzt durch Bek. v. 4. 12. 1959 (BayJMBl. 207);
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Vierter Titel: Strafaussetzung zur Bewährung
§§ 56e, 56f
Berlin G v. 13. 5. 1954 (GVB1. 285), letztes ÄndG v. 6. 3. 1970 (GVB1. 474); Bremen Erl. v. 15. 6. 1955 (Amtl. Mitt. 168); Hessen Erl. v. 21. 12. 1953 (Staatsanz. 1954 S. 108); Niedersachsen G v. 25. 10. 1961 (GVB1. 315), letztes ÄndG v. 2. 12. 1974 (GVB1. 535); NRW G v. 2. 2. 1968 (GVB1. 26), letztes ÄndG v. 3. 12. 1974 (GVNW 1504); Rh.-Pf G v. 11. 7. 1956 (GVB1. 86), letztes ÄndG v. 5. 11. 1974 (GVB1. 469); Saarld Vfg v. 1. 10. 1957 (Justbl. 74); Schl.-Holst. G v. 7. 1. 1956 (GVOB1. 4), ÄndG v. 24. 3. 1970 (GVOB1. 66,70).
§ 56 e Nachträgliche Entscheidungen Das Gericht kann Entscheidungen nach den §§ 56 b bis 56 d auch nachträglich treffen, ändern oder aufheben. 1. Die Vorschrift gibt die Möglichkeit, die „ambulante Therapie" den Fortschritten oder Rückschritten anzupassen, die der Verurteilte macht (vgl. Bockelmann AT 251). Sie setzt voraus daß nach Verkündung des ursprünglichen Beschlusses neue Umstände bekannt werden oder eintreten (vgl. Stgt NJW 1969, 1220; h. L.). Das Verschlechterungsverbot (Verbot der reformatio in peius) gilt in diesem Zusammenhang nicht (Stgt aaO.; BayObLG bei Rüth DAR 1970, 263; Dreher 1; Lackner 1; aA Stree in SchönkeSchröder 5). Stand der Verurteilte bereits unter Bewährungsaufsicht, so wird das Gericht vor jeder nachträglichen Entscheidung vor allem auch den Bewährungshelfer hören. 2. Prozessual siehe §§ 453,453 b, 462 a StPO.
§ 56 f Widerruf der Strafaussetzung (1) Das Gericht widerruft die Strafaussetzung, wenn der Verurteilte 1. in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, daß die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat, 2. gegen Weisungen gröblich oder beharrlich verstößt oder sich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers beharrlich entzieht und dadurch Anlaß zu der Besorgnis gibt, daß er emeut Straftaten begehen wird, oder 3. gegen Auflagen gröblich oder beharrlich verstößt. (2) Das Gericht sieht jedoch von dem Widerruf ab, wenn es ausreicht, die Bewährungszeit zu verlängern (§ 56 a Abs. 2) oder weitere Auflagen oder Weisungen zu erteilen, namentlich den Verurteilten einem Bewährungshelfer zu unterstellen (§ 56 e). (3) Leistungen, die der Verurteilte zur Erfüllung von Auflagen, Anerbieten, Weisungen oder Zusagen erbracht hat, werden nicht erstattet. Das Gericht kann jedoch, wenn es die Strafaussetzung widerruft, Leistungen, die der Verurteilte zur Erfüllung von Auflagen nach § 56 b Abs. 2 Nr. 2, 3 oder entsprechenden Anerbieten nach § 56 b Abs. 3 erbracht hat, auf die Strafe anrechnen. 261
§ 56f
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
1. Die Strafaussetzung ist zu widerrufen, wenn der Verurteilte durch Begehung einer neuen (vorsätzlichen oder fahrlässigen) Straftat zeigt, daß die bei Gewährung der Strafaussetzung gestellte Prognose offensichtlich falsch war (Abs. 1 Nr. 1). Dem gleich steht der Fall, daß der Verurteilte sich in vorwerfbarer Weise nicht an das Therapieprogramm hält und dadurch seine Resozialisierung gefährdet (Abs. 1 Nr. 2) oder in grober oder beharrlicher Weise gegen die ihm erteilten Auflagen verstößt (Abs. 1 Nr. 3). Im letztgenannten Fall ist der Widerruf trotz sonst günstiger Prognose geboten (vgl. RegE S. 213 BT-Drucks. 7/550; Göhler NJW 1974, 831 f.), bei einem Verstoß gegen Weisungen jedoch nur bei ungünstiger Prognose (Krhe Justiz 1975, 350). Ein Fehlverhalten, das zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft liegt, kann nur ausnahmsweise als Widerrufsgrund gewertet werden (Krhe Justiz 1976, 261; Lackner la).
2. Nach Abs. 2 hat das Gericht von einem Widerruf abzusehen, wenn dessen Voraussetzungen nach Abs. 1 zwar vorliegen, das Gericht aber glaubt, daß auch mildere Maßnahmen ausreichen, um den offensichtlich labilen Probanden vielleicht doch noch ohne den Vollzug der Strafe zu resozialisieren. Zu den milderen Maßnahmen gehört insbesondere auch die Auferlegung einer (weiteren) Geldbuße (vgl. Ffm NJW 1971,720). 3. Nach Abs. 3 Satz 1 ist eine Rückerstattung von Leistungen, die im Rahmen von Auflagen und Leistungen nach §§ 56 b, 56 c erbracht wurden, grundsätzlich ausgeschlossen. Für Leistungen nach § 56 b Abs. 2 Nr. 2 und 3 oder § 56 b Abs. 3 sieht 56 f Abs. 3 Satz 3 allerdings aus Gründen der Billigkeit die Möglichkeit einer Ausnahme vor. 4. Der Widerruf kann während, aber auch erst nach Ablauf der Bewährungsfrist erfolgen. Die Umstände, die Anlaß zum Widerruf geben, müssen jedenfalls vor Ablauf der Bewährungsfrist eingetreten sein. Nicht erforderlich ist dagegen, daß sie auch vor Ablauf der Bewährungszeit bekannt werden. Es genügt, daß sie zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt sind (Krhe Justiz 1964, 44; Ddf MDR 1969, 683; Hbg NJW 1970, 65). Die Entscheidung ist an keine Frist gebunden, jedoch fordern rechtsstaatliche Grundsätze (Rechtssicherheit und Vertrauensschutz), daß die Entscheidung so bald wie möglich herbeigeführt wird. Eine ausgesprochen verzögerliche Behandlung kann einen Widerruf dann unzulässig machen, wenn die weitere Entwicklung des Täters neue, günstige Aspekte aufweist (Krhe Justiz 1976, 436). Im Falle des Abs. 1 Nr. 1 ist Widerrufsgrund die Begehung einer Straftat in der Bewährungszeit, nicht deren Aburteilung. Ist das Gericht - etwa auf Grund eines Geständnisses - davon überzeugt, der Verurteilte habe eine neue Tat verübt, die den Widerruf rechtfertigt, so braucht es mit dieser Entscheidung nicht zuzuwarten, bis die Tat rechtskräftig abgeurteilt ist (Stgt NJW 1976, 200 m. Nachw.). Hierzu ist allerdings regelmäßig erforderlich, daß das Gericht die Akten des neuen Verfahrens einsieht (Stgt aaO.). 5. Zuständig für den Widerruf ist grundsätzlich das Gericht des ersten Rechtszugs (§ 462 a Abs. 2 StPO). Geht es um den Widerruf eines nach § 57 zur Bewährung ausgesetzten Strafrests, so ist die Strafvollstreckungskammer zuständig (§ 462 a Abs. 1 StPO), jedoch bleibt auch in diesem Fall das Gericht des ersten Rechtszugs zuständig, wenn der Verurteilte vor dem 1.1. 1975 bedingt aus Strafhaft entlassen worden war (BGH NJW 1975,1130,1791; Stgt NJW 1976, 200 m. weit. Nachw.).
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Vierter Titel: Strafaussetzung zur Bewährung
§§ 56 g, 57
6. Der Widerruf der Strafaussetzung ist mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar (§ 453 Abs. 2 StPO). Wird der Widerrufsbeschluß öffentlich zugestellt, ohne daß der Verurteilte zuvor gehört worden war (zur Zulässigkeit der öffentlichen Zustellung siehe Krhe NJW 1964, 1085; Braunschweig NJW 1971, 1710; Hamm MDR 1972, 259), so erfordert die Beachtung des Verfassungsgrundsatzes des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) es nicht, den Verurteilten bei schuldhafter Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde über eine unmittelbare oder analoge Anwendung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand so zu stellen, als ob er das Rechtsmittel fristgerecht eingelegt hätte; es genügt vielmehr, wenn ihm in entsprechender Anwendung von § 33 a StPO nachträglich die Anhörung durch das Gericht ermöglicht wird, das den Widerruf beschlossen hat (BGH 26,127).
§ 56 g
Straferlaß
(1) Widerruft das Gericht die Strafaussetzung nicht, so erläßt es die Strafe nach Ablauf der Bewährungszeit. § 5 6 f Abs. 3 Satz 1 ist anzuwenden. (2) D a s Gericht kann den Straferlaß widerrufen, wenn der Verurteilte im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes wegen einer in der Bewährungszeit begangenen vorsätzlichen Straftat zu Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wird. Der Widerruf ist nur innerhalb von einem Jahr nach Ablauf der Bewährungszeit und von sechs Monaten nach Rechtskraft der Verurteilung zulässig. § 56 f Abs. 3 gilt entsprechend. 1. Der Erlaß der Strafe nach dem Ablauf der Bewährungszeit beruht nicht mehr wie früher auf der positiven Feststellung, daß sich der Verurteilte bewährt habe, sondern geht vom nicht erfolgten Widerruf der Strafaussetzung aus. Somit hat das Gericht nach Ablauf der Bewährungszeit zunächst die Frage des Widerrufs der Strafaussetzung (§ 5£ f Abs. 1) abschließend zu prüfen. Ergibt sich dabei, daß die Voraussetzungen des Widerrufs der Strafaussetzung nicht erfüllt sind, so hat es die Strafe zu erlassen. 2. Ein Widerruf des Straferlasses kommt nur dann in Betracht, wenn sich erst nach dem Erlaß der Strafe (§ 56 g Abs. 1) ergibt, daß der Verurteilte innerhalb der Bewährungszeit erneut in erheblichem Maß straffällig geworden ist. Da die Widerrufsentscheidung eine bereits rechtskräftige Entscheidung gegenstandslos werden läßt, ist sie nur aus schwerwiegendem Anlaß (vorsätzliche Straftat, Freiheitsstrafe von mindestens 6 Monaten) und nur zeitlich beschränkt (spätestens 1 Jahr nach Ablauf der Bewährungszeit) zulässig. 4. Prozessual beachte § 453 Abs. 2 StPO (sofortige Beschwerde).
§ 57
Aussetzung des Strafrestes
(1) D a s Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn 263
§ 57
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
1. zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind, 2. verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird, und 3. der Verurteilte einwilligt. Bei der Entscheidung sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind. (2) Schon nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe kann das Gericht die Vollstreckung des Restes zur Bewährung aussetzen, wenn 1. mindestens ein Jahr der Freiheitsstrafe verbüßt ist, 2. besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Verurteilten vorliegen und 3. die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind. (3) Die §§ 56 a bis 56 g gelten entsprechend; die Bewährungszeit darf, auch wenn sie nachträglich verkürzt wird, die Dauer des Strafrestes nicht unterschreiten. Hat der Verurteilte mindestens ein Jahr seiner Strafe verbüßt, bevor deren Rest zur Bewährung ausgesetzt wird, so unterstellt ihn das Gericht in der Regel für die Dauer der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers. (4) Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung angerechnet, so gelten sie als verbüßte Strafe im Sinne der Absätze 1 bis 3. (5) Das Gericht kann Fristen von höchstens sechs Monaten festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag des Verurteilten, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, unzulässig ist. 1. Die mit § 26 idF des 1. StrRG übereinstimmende Vorschrift steht ähnlich wie die Strafaussetzung unter dem Bestreben, den Vollzug einer Freiheitsstrafe auf das notwendige Mindestmaß zu beschränken. Der Vollzug der Strafe soll so bald wie möglich in eine „ambulante Behandlung" umgewandelt werden. Entsprechende Auflagen und Weisungen, vor allem auf die Bestellung eines Bewährungshelfers (vgl. Abs. 3), sollen dem Verurteilten die Rückkehr in die Freiheit und die Resozialisierung erleichtern. Zur Frage, wie es ermöglicht werden kann, auch einem Verurteilten, der seine Strafe voll verbüßt hat, eine wirksame Lebenshilfe zu geben, siehe die in den §§68 ff. geregelte Führungsaufsicht. 2. Die formeilen Voraussetzungen: a^ Der Verurteilte muß zwei Drittel der Freiheitsstrafe (auch Ersatzfreiheitsstrafe, s. u. lit. c), mindestens jedoch 2 Monate, verbüßt haben (Abs. 1 Nr. 1). Bei längerfristigen Freiheitsstrafen kann der Strafrest ausnahmsweise schon nach der Hälfte erlassen werden, sofern der Verurteilte bis dahin bereits mindestens 1 Jahr verbüßt hat (vgl. Abs. 2). Diese 264
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§ 57
weitergehende Regelung kommt also nur bei Freiheitsstrafen von 2 Jahren oder darüber in Betracht (vgl. Dreher 3; a. A. München NJW 1970, 2224; Bockelmann AT 252 ff.; Lackner 3, wonach schon Strafen von mehr als 1 Jahr und 6 Monaten von der Ausnahmeregelung des Abs. 2 erfaßt werden können). Die U-Haft und andere Formen der Freiheitsentziehung (z. B. Unterbringung nach §§ 81, 126 a StPO) gelten, soweit im Urteil auf die erkannte Strafe angerechnet, als Strafverbüßung. Entsprechendes soll nach einer Entscheidung des OLG Hbg für Leistungen gelten, die gemäß § 56 f Abs. 3 S. 2 angerechnet wurden (NJW 1976, 682; zw.). Die formellen Voraussetzungen des § 57 können deshalb schon im Zeitpunkt des Urteils vorliegen. Beispiel: A wird unter Anrechnung von 10 Monaten U-Haft zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr verurteilt. b) Grandlage für die Berechnung des zu verbüßenden Teils der Freiheitsstrafe ist immer die vom Gericht verhängte Strafe, und zwar auch dann, wenn diese im Gnadenweg ermäßigt oder teilweise zur Bewährung ausgesetzt worden ist (vgl. Saarbrücken NJW 1973, 2037; Ddf NJW 1975, 1526; Dreher 4 m. weit. Nachw.). Bei mehreren selbständigen Freiheitsstrafen, die nicht zu einer Gesamtfreiheitsstrafe vereinigt werden können, sind die Voraussetzungen des § 57 gesondert zu prüfen (Bremen NJW 1975, 2031; Krhe Justiz 1975, 396; Dreher 5; a. A. Hamm NJW 1976, 303; D. Meyer MDR 1974, 540 und NJW 1976, 939; Ruß JR 1975, 336; Treptow NJW 1975, 1107 und MDR 1976, 99). § 43 Abs. 2 S. 3 StrVollstrO gibt jedoch die Möglichkeit, die Vollstreckung der ersten Strafe zum 2 / 3 -Zeitpunkt zu unterbrechen und mit dem Anschlußvollzug der weiteren Strafen zu beginnen. Damit wird es der Vollstreckungskammer ermöglicht, mit 2 / 3 -Verbüßung der letzten Strafe über die Anwendung des § 57 für jede der in Betracht kommenden Reststrafen gleichzeitig zu entscheiden (Krhe aaO.; Dreher 5; Lackner 2 a). Eine Zusammenrechnung mehrerer Gesamtstrafen ist ausnahmsweise nur dann zulässig, wenn sie auf ein und demselben Urteil oder Gesamtstrafenbeschluß beruhen (Ffm NJW 1976,1464; a.A. Koblenz NJW 1977,1301). c) Nach inzwischen ganz überwiegender Ansicht ist auch die Ersatzfreiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe i.S. der Vorschrift (vgl. Zweibrücken NJW 1976, 155 m. zust. Anm. Preisendanz JR 1976, 467; Ddf NJW 1977, 308; Koblenz MDR 1977, 423; Doller NJW 1977, 288; a.A. Celle NJW 1977, 308 m. abl. Anm. Zipf JR 1977, 122; München NJW 1977, 309; Hamm MDR 1977,422). „Verhängte Strafe" ist dabei nur die effektiv zu vollstreckende Ersatzfreiheitsstrafe, nicht etwa eine an der insgesamt ausgesprochenen Geldstrafe ausgerichtete Ersatzfreiheitsstrafe. Wird die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt, so kann dem Verurteilten gemäß § 56 b Abs. 2 Nr. 2 zur Auflage gemacht werden, die noch nicht erledigte Restgeldstrafe innerhalb der Bewährungszeit zu zahlen (a.A. AG Berlin-Tiergarten NJW 1972, 457; Zipf aaO. 123). Es wird von ihm - ähnlich wie bei der Auflage, den Schaden wiedergutzumachen - nur das verlangt, was er ohnehin zu leisten verpflichtet ist. Auch Beitreibungsversuche während der Bewährungszeit sind nicht schlechthin unzulässig, wenngleich entbehrlich, wenn eine entsprechende Auflage nach § 56 b Abs. 2 Nr. 2 erteilt wurde (übereinstimmend Zweibrücken aaO.; Blei JA 1972, 310; a.A. Dreher 2; Zipf aaO.). Nach erfolgreichem Ablauf der Bewährungsfrist ist die Strafe zu erlassen, wobei der Straferlaß auch eine noch offenstehende Restgeldstrafe mitumfaßt (praktisch nur von Bedeutung, wenn die Zahlung der Restgeldstrafe dem Verurteilten nicht zur Bewährungsauflage gemacht worden ist). Durch vorzeitige Zahlung der Restgeldstrafe kann sich der Verurteilte im übrigen allen weiteren Maßnahmen entziehen; der Bewährungsbeschluß und die in ihm enthaltenen Auflagen und Weisungen werden in diesem Fall gegenstandslos (vgl. § 459 e Abs. 4 StPO; übereinstimmend Zweibrücken aaO.; Blei aaO.; Zipf aaO.). 265
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
d) Bei lebenslanger Freiheitsstrafe kann z. Zt. allenfalls eine Begnadigung zur vorzeitigen Entlassung führen. Auf Grund der Entscheidung des BVerfG vom 21. 6. 1977 zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe ist allerdings mit einer baldigen gesetzlichen Regelung des Problems zu rechnen (vgl. NJW 1977,1525). e) Im Jugendstrafrecht sind für den Bereich der Jugendstrafe die §§ 88, 89 JGG zu beachten, im Wehrstrafrecht § 14 a WStG (Vollstreckung des Strafarrestes). f) Die Aussetzung des Strafrestes darf nur mit Einwilligung des Verurteilten erfolgen. Der Verurteilte hat einen Anspruch darauf, seine Strafe voll zu verbüßen (so schon BGH NJW 1969, 244 zu § 26 aF). Die Zustimmung des Verurteilten muß noch bis zur Rechtskraft des Beschlusses vorliegen. So ist es denkbar, daß der Verurteilte zunächst selbst die Aussetzung des Strafrestes beantragt, dann aber gegen den seine Entlassung aussprechenden Beschluß sofortige Beschwerde (vgl. § 454 Abs. 2 StPO) einlegt mit der Begründung, er wolle lieber die ganze Strafe verbüßen, als sich unter die Aufsicht eines Bewährungshelfers stellen. In diesem Fall hat das Beschwerdegericht die Aussetzung des Strafrestes wieder aufzuheben (vgl. Celle NJW 1956, 1608; Krhe Beschl. vom 16.7. 1963, 2 Ws 139/63). 3. Materielle Voraussetzung a) Eine Aussetzung des Strafrests nach Abs. 1 kommt vor allem bei guter Prognose in Betracht. Aber auch bei unsicherer Prognose ist eine Strafaussetzung nach § 57 nicht ausgeschlossen. Schon nach früherem Recht wurde keine so gute Prognose verlangt, daß jeder Zweifel an dem künftigen Wohlverhalten des Verurteilten ausgeschlossen war (vgl. BGH 7, 6, 10). Das mit jeder vorzeitigen Entlassung verbundene Wagnis ist durch die Neufassung des § 57 lediglich größer geworden. Der Gesetzgeber hat es bewußt auf sich genommen, der Gesellschaft mit der Entscheidung nach § 57 ein gewisses Risiko zuzumuten. Der Strafrest muß schon dann zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn es „verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird" (vgl. Abs. 1 Nr. 2). Wie sich aus der Aufzählung der für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte in Abs. 1 Satz 2 ergibt, können nur spezialpräventive Kriterien einer Aussetzung der Reststrafe entgegenstehen, wenn die formellen Voraussetzungen des § 57 vorliegen. Der Sühnegedanke oder generalpräventive Erwägungen dürfen bei der Entscheidung keine Rolle spielen (vgl. Ber. S. 13 BT-Drucksache V/4094; Hamm NJW 1972,1583). b) Nicht zu verantworten ist die Aussetzung des Strafrests bei ausgesprochen ungünstiger Prognose. Sind weitere Straftaten mit einiger Sicherheit zu erwarten, so kommt eine Aussetzung nicht in Betracht (vgl. Ber. S. 13 BT-Drucks. V/4094; K. H. Meyer JR 1970, 348; abzulehnen dagegen BGH JR 1970, 347, wonach eine Aussetzung des Strafrests auch dann zulässig sein soll, wenn der Erfolg der Aussetzung „nicht eben wahrscheinlich erscheint"). Daß bei unsicherer Prognose eine Aussetzung des Strafrests nicht schlechthin ausgeschlossen ist, wurde bereits unter a) dargelegt. Eine Strafaussetzung ist jedoch nicht zu verantworten - und damit unzulässig - , wenn die Gefahr besteht, daß der Täter nach der Entlassung möglicherweise erneut schwere Rechtsbrüche begehen wird (vgl. K. H. Meyer JR 1970, 348; Dreher 6). Das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit hat in diesem Fall den Vorrang vor dem Freiheitsinteresse des Verurteilten.
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Vierter Titel: Strafaussetzung zur Bewährung
§ 57
4. Nach Abs. 2 steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, ob es - ausnahmsweise - schon nach Verbüßung der Hälfte die Reststrafe zur Bewährung aussetzt. Bei Abs. 2 können alle Strafzwecke berücksichtigt werden (Begründung des Sonderausschusses, S. 14 aaO.). Im Gegensatz zur Entscheidung nach Abs. 1 können deshalb auch der Sühnegedanke und der Gesichtspunkt der Verteidigung der Rechtsordnung die Entscheidung maßgeblich beeinflussen (Krhe MDR 1975, 160 m. krit. Bespr. Blei JA 1975, StR 67). Die schon im Urteil eingeschlagene kriminalpolitische Linie ist nach Möglichkeit beizubehalten. Zur Möglichkeit, auch bei NS-Gewaltverbrechen „besondere Umstände" i.S. von Abs. 2 anzunehmen, siehe Hbg JR 1977, 167 m. zust. Anm. Schreiber. Bei gleichzeitig angeordneter Sicherungsverwahrung kommt eine Aussetzung des Strafrests nur in Betracht, wenn die Prognose so günstig ist, daß auch die Unterbringung in der SV gemäß § 67 c ausgesetzt werden kann (Stgt Justiz 1975,108). 5. Abs. 3 verweist auf die §§ 56 a - 5 6 g. Hat sich der Verurteilte längere Zeit (mindestens 1 Jahr) nicht mehr in Freiheit befunden, so ist die Bestellung eines Bewährungshelfers zwingend. In den übrigen Fällen steht sie im Ermessen des Gerichts. Erscheint der Widerruf der bedingten Entlassung im Einzelfall als zu hart, so kann an seine Stelle die Auferlegung einer Geldbuße treten (vgl. Ffm NJW 1971,720). 6. Abs. 5, der dem § 88 Abs. 4 JGG nachgebildet ist, will verhindern, daß Gericht und Vollstreckungsbehörden durch ständige Wiederholung offensichtlich aussichtsloser Anträge mit unfruchtbarer Mehrarbeit überlastet werden. Maßgebend für den Beginn der Sperrfrist, innerhalb der kein neuer Antrag zulässig ist, ist der Zeitpunkt der Entscheidung, nicht deren Rechtskraft (Hamm NJW 1971,949; Braunschweig NJW 1975,1847). 7. Das Verfahren ist in § 454 StPO geregelt. Die Aussetzung des Strafrests ist von Amts wegen zu prüfen, setzt also keinen Antrag des Verurteilten voraus. Entgegen der früher üblichen Praxis ist ein förmlicher, dem Verurteilten zuzustellender Beschluß nicht nur dann erforderlich, wenn das Gericht den Strafrest zur Bewährung aussetzen will oder ein dahingehender Antrag vorliegt, sondern auch in den Fällen, in denen die Prüfung von Amts wegen erfolgt und eine Aussetzung des Strafrests nach Sachlage nicht in Betracht kommt (vgl. KG JR 1973, 120 m. insoweit zust. Anm. Peters; Hamm NJW 1973, 337 m. zust. Anm. Blei JA 1973, StR 63). Die Aussetzung des Strafrests zur Bewährung ist nicht Gnade oder Belohnung für Wohlverhalten im Strafvollzug, sondern ein Mittel zur Resozialisierung, dessen Anwendung nicht davon abhängig sein darf, ob der Verurteilte sie selbst begehrt (vgl. Blei aaO.). § 454 Abs. 1 S. 2 StPO stellt weiter klar, daß der Verurteüte vor der Entscheidung zu hören ist, und zwar grundsätzlich mündlich (§ 454 Abs. 1 S. 3 StPO). Von einer Anhörung kann jedoch abgesehen werden, wenn der Verurteilte seine Zustimmung zur bedingten Entlassung bereits verweigert hat, wenn er nicht bereit ist, sich zwecks Anhörung vorführen zu lassen, oder wenn über die bedingte Entlassung nach Verbüßung der Hälfte der Strafe zu entscheiden ist und das zugrundeliegende Urteil keine Anhaltspunkte dafür ergibt, daß besondere Umstände in der Tat vorliegen (Krhe NJW 1976, 302 m. abl. Anm. Kuckuk NJW 1976, 815; a. A. Hamm NJW 1976, 1907). Auch im Beschwerdeverfahren ist eine mündliche Anhörung nicht erforderlich (Hamm NJW 1975, 701, 1135; Dreher 11; Kleinknecht Anm. 3 C zu § 454 StPO). Zuständig für das Verfahren nach § 454 StPO ist die Strafvollstreckungskammer, in deren Bezirk die Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel vollzogen wird (§ 78 a GVG). Die mündliche Anhörung darf nicht einem ersuchten Richter übertragen werden, desgleichen
267
§ 58
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
nicht einem beauftragten Richter, der an der Entscheidung selbst nicht mitwirkt (h. A.; a. A. Ddf NJW 1976, 256). In Fällen, die zur Zuständigkeit der Großen Strafvollstrekkungskammer gehören, ist jedoch nicht erforderlich, daß alle Richter an der Anhörung mitwirken; es genügt vielmehr, daß die Anhörung durch ein an der Entscheidung mitwirkendes Kammermitglied vorgenommen wird (Krhe MDR 1976, 512; München NJW 1976, 254; Hbg NJW 1977, 1071; Kleinknecht 3 D zu § 454 StPO; sehr Str.; a.A. Koblenz NJW 1977,1071; Stgt NJW 1976, 2274 m. weit. Nachw.). Die Stellungnahme der Vollzugsanstalt ist dem Verurteilten nur dann mitzuteilen, wenn er selbst Antrag auf Aussetzung des Strafrests gestellt hat und die (nachteilige) Stellungnahme für den Beschluß von Bedeutung sein kann oder wenn er gegen einen ablehnenden Beschluß des Gerichts Beschwerde einlegt und der Beschluß sich - ohne Einzelheiten wiederzugeben - auf die Stellungnahme der Anstalt stützt. In diesem Fall hat der Verurteilte Anspruch darauf, die Tatsachen zu erfahren, mit denen die Anstalt ihre ablehnende Stellungnahme begründet hat (vgl. BVerfG MDR 1964, 293; Krhe Justiz 1968, 146; Hamm GA 1970,221; kritisch Dreher l i m . weit. Nachw.). Wirksam wird die bedingte Entlassung erst mit der eindeutigen Entschließung der StA, von ihrem Beschwerderecht keinen Gebrauch zu machen, andernfalls mit Eintritt der Rechtskraft (Krhe NJW 1976, 814). 8. Rechtsmittel: sofortige Beschwerde (§ 454 Abs. 2 StPO). Diese hat nur dann aufschiebende Wirkung, wenn sie von der Staatsanwaltschaft gegen einen die Aussetzung des Strafrestes aussprechenden Beschluß eingelegt wird. Hat die Strafvollstreckungskammer den Verurteilten nicht mündlich gehört, obwohl dies erforderlich war, so stellt dies einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, den das Beschwerdegericht nicht selbst beheben kann (Krhe Justiz 1975, 477).
§ 58
Gesamtstrafe und Strafaussetzung
(1) Hat jemand mehrere Straftaten begangen, so ist für die Strafaussetzung nach § 5 6 die H ö h e der Gesamtstrafe maßgebend. (2) Ist in den Fällen des § 5 5 Abs. 1 die Vollstreckung der in der früheren Entscheidung verhängten Freiheitsstrafe ganz oder für den Strafrest zur Bewährung ausgesetzt und wird auch die Gesamtstrafe zur Bewährung ausgesetzt, so verkürzt sich das Mindestmaß der neuen Bewährungszeit um die bereits abgelaufene Bewährungszeit, jedoch nicht auf weniger als ein Jahr. Wird die Gesamtstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt, so gilt § 5 6 f Abs. 3 entsprechend. 1. Abs. 1 stellt klar, daß es hinsichtlich der formellen Voraussetzungen einer Strafaussetzung zur Bewährung im Falle einer Gesamtstrafenbildung (§ 54) nicht auf die Höhe der Einzelstrafen, sondern nur auf die Höhe der Gesamtstrafe ankommt. So kann z. B. eine Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Monaten auch dann nur unter den erschwerten Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn alle ihr zugrunde liegenden Einzelstrafen unter der Jahresgrenze des § 56 Abs. 1 liegen. 268
Fünfter Titel: Verwarnung mit Strafvorbehalt, Absehen von Strafe
§ 59
2. Der Grundsatz des Abs. 1 gilt auch für die nachträgliche Gesamtstrafenbfldung nach § 55. Das mit der nachträglichen Gesamtstrafenbildung befaßte Gericht ist bei der Entscheidung über die Strafaussetzung nicht an die Auffassung des Gerichts gebunden, dessen Urteil in die neuzubildende Gesamtstrafe einbezogen wird. So kann z. B. die Gesamtstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden, obwohl die einbezogene Strafe ursprünglich nicht zur Bewährung ausgesetzt war. Umgekehrt kann die frühere Strafaussetzung infolge der nachträglichen Gesamtstrafenbildung auch gegenstandslos werden. Letzteres kommt insbesondere in Betracht, wenn durch die nachträgliche Gesamtstrafenbildung die Jahresgrenze des § 56 Abs. 1 überschritten wird. In diesem Fall können Leistungen, die der Verurteilte zur Erfüllung von Auflagen oder entsprechenden Anerbieten erbracht hat, auf die Strafe angerechnet werden (Abs. 2 S. 2 i. V. mit § 56 f Abs. 3 S. 2). 3. Abs. 2 S. 1 will gewährleisten, daß die bereits abgelaufene Bewährungszeit bei Festsetzung der neuen Bewährungszeit angemessen berücksichtigt wird. Die neue Bewährungszeit muß aber mindestens noch 1 Jahr betragen.
Fünfter Titel: Verwarnung mit Strafvorbehalt, Absehen von Strafe § 59
Voraussetzungen der Verwarnung mit Strafvorbehalt
(1) Hat jemand Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen verwirkt, so kann das Gericht ihn neben dem Schuldspruch verwarnen, die Strafe bestimmen und die Verurteilung zu dieser Strafe vorbehalten, wenn 1. zu erwarten ist, daß der Täter künftig auch ohne Verurteilung zu Strafe keine Straftaten mehr begehen wird, 2. es im Hinblick auf besondere Umstände, die in der Tat und der Persönlichkeit des Täters liegen, angezeigt ist, ihn von der Verurteilung zu Strafe zu verschonen und 3. die Verteidigung der Rechtsordnung die Verurteilung zu Strafe nicht gebietet. § 56 Abs. 1 Satz 2 gilt entsprechend. (2) D i e Verwarnung mit Strafvorbehalt ist in der Regel ausgeschlossen, wenn der Täter während der letzten drei Jahre vor der Tat mit Strafvorbehalt verwarnt oder zu Strafe verurteilt worden ist. (3) Neben der Verwarnung kann auf Verfall, Einziehung oder Unbrauchbarmachung erkannt werden. Neben Maßregeln der Besserung und Sicherung ist die Verwarnung mit Strafvorbehalt nicht zulässig. 1. Das durch das 2. StrRG in Anlehnung an § 57 AE neu eingeführte Rechtsinstitut der Verwarnung mit Strafvorbehalt stellt innerhalb des neuen Strafsystems die wohl wesentlichste Neuerung dar und hat in seiner praktischen Anwendung noch größere Anlaufschwierigkeiten bereitet als das neue Tagessatzsystem bei Bemessung der Geldstrafe. 269
§ 59
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
a) Materiellrechtlich ist die Verwarnung mit Strafvorbehalt mit der in den § 56 ff. geregelten Strafaussetzung zur Bewährung verwandt, auf deren Bestimmungen bei der Ausgestaltung des neuen Rechtsinstituts auch verschiedentlich verwiesen wird (vgl. §§ 59 a Abs. 2, 59 b Abs. 1, 59 c Abs. 2). Der entscheidende Unterschied gegenüber der Strafaussetzung zur Bewährung besteht darin, daß nach Feststellung der Schuld des Täters die nach allgemeinen Strafzumessungskriterien (vgl. § 46) festzusetzende Strafe nach Anzahl und Höhe der Tagessätze zwar ausgesprochen, aber nicht verhängt wird. Verhängt wird die Strafe erst, wenn der Täter sich während der festzusetzenden Bewährungszeit (§ 59 a Abs. 1) nicht bewährt hat. Erst dann wird die eigentliche Verurteilung ausgesprochen. Bis dahin gilt der Täter auch nicht als vorbestraft. Die Verwarnung wird zwar gemäß § 4 Nr. 3 BZRG im BZR vermerkt, erscheint aber nicht im Führungszeugnis (§ 30 Abs. 2 Nr. 1 BZRG). Dadurch, daß der Verurteilte vom „Makel" der Strafe verschont bleibt, stellt sich die Verwarnung mit Strafvorbehalt innerhalb des neuen Strafensystems als das mildeste staatliche Reaktionsmittel dar. Im Gegensatz zum Rechtsinstitut der Strafaussetzung zur Bewährung, das bei Verhängung kurzfristiger Freiheitsstrafen den Regelfall darstellt und nach der Gesamtkonzeption der Strafrechtsreform auch bei mittelfristigen Freiheitsstrafen im Vordergrund stehen soll, hat das neue Rechtsinstitut der Verwarnung mit Strafvorbehalt nur Ausnahmecharakter (vgl. Hamm NJW 1976, 1221; BayObLG JR 1976, 511 m. zust. Anm. Zipf; Dreher 2 vor § 59 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien; Lackner 1 vor § 59). Dies ergibt sich nicht nur aus § 59 Abs. 2 (grundsätzliche Beschränkung auf Ersttäter) und aus § 59 Abs. 3 (keine Zulässigkeit neben Maßregeln der Besserung und Sicherung), sondern vor allem auch aus der in § 59 Abs. 1 Nr. 2 geforderten Voraussetzung, daß „besondere Umstände" in der Tat und in der Person des Täters vorliegen müssen, die es angezeigt erscheinen lassen, ihm von der Verurteilung zu Strafe zu verschonen (Einzelheiten s. u. 3 b). Eine zu weitgehende Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Vorschrift stünde in unvereinbarem Widerspruch zum Schuldprinzip, das eine schuldangemessene Strafe gebietet und durch das Institut der Verwarnung mit Strafvorbehalt zugunsten der Interessen des Täters ohnehin stark eingeschränkt wird (vgl. Bockelmann AT 255 und Dreher, Maurach-Festschr. S. 275, 283, die zu Recht darauf hinweisen, daß die Verwarnung mit Strafvorbehalt die bedeutendste Konzession an die Spezialprävention auf Kosten des Schuldprinzips darstellt, die das Gesetz zuläßt). Jede zu weitgehende Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Vorschrift würde außerdem den von der Strafrechtsreform angestrebten hohen kriminalpolitischen Stellenwert der Geldstrafe und der von ihr ausgehenden Wirkung in bedenklicher Weise beeinträchtigen (vgl. Zipf JuS 1974, 146). Die Vorschrift kann deshalb - selbst bei günstiger Täterprognose und Fehlen von Vorstrafen - nur bei solchen Verfehlungen in Betracht kommen, die sich durch besondere tatbezogene Umstände in mindestens einer Beziehung aus dem Kreis vergleichbarer Durchschnittsfälle so deutlich hervorheben, daß Verschonung von Strafe angezeigt ist (BayObLG JR 1976, 511 m. Anm. Zipf sowie Blei JA 1977, 94, der empfiehlt, die Vorschrift so bald wie möglich ersatzlos zu streichen). b) Prozessual wirkt sich die Verwarnung mit Strafvorbehalt als Prozeßhindernis aus (vgl. Maurach AT 876; Zipf JuS 1974, 145): Solange der Täter sich nach dem Urteil bewährt, darf das Verfahren gegen ihn nicht weiter betrieben werden; nach Ablauf der Bewährungszeit ist jede weitere gerichtliche Maßnahme ausgeschlossen. c) Schrifttum: Dreher, Die Verwarnung mit Strafvorbehalt, Maurach-Festschr. S. 275; Rezbach, Die Verwarnung mit Strafvorbehalt, 1970.
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Fünfter Titel: Verwarnung mit Strafvorbehalt, Absehen von Strafe
§ 59
2. Formell setzt § 59 voraus, daß der Täter Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen verwirkt hat (die Hälfte der nach § 40 Abs. 2 maximal zulässigen Geldstrafe). Abweichend von dem Vorschlag des AE (vgl. § 57 AE) hat das 2. StrRG bewußt davon Abstand genommen, die Verwarnung mit Strafvorbehalt auch auf kurzfristige Freiheitsstrafen und das Fahrverbot zu erstrecken. Hierzu bestand schon deshalb kein Anlaß, weil kurzfristige Freiheitsstrafen nach § 47 ohnehin nur dann in Betracht kommen, wenn dies „unerläßlich" ist, weil eine Geldstrafe nicht ausreicht, den Schuldgehalt der Tat angemessen zu erfassen und allen Strafzwecken gerecht zu werden. Derartige Fälle sind dann aber zur Anwendung noch geringerer Sanktionen, die noch unterhalb der Geldstrafe liegen, schlechthin ungeeignet (vgl. Ber. S. 24 f. BT-Drucks. V/4095; Maurach AT 876). Für das Fahrverbot gilt entsprechendes (vgl. Dreher 2; Lackner 3). Deshalb ist es nicht zulässig, die Verwarnung mit Strafvorbehalt auch auf das Fahrverbot zu erstrecken (BayObLG NJW 1976, 301 = MDR 1976, 332 m. Anm. Berz). Für den Bereich des OWiG findet § 59 keine Anwendung. Hier hilft jedoch in einschlägigen Fällen die Möglichkeit, nach § 47 Abs. 2 OWiG das Verfahren einzustellen, wenn eine Ahndung der OWi „nicht geboten" ist. 3. Die materiellen Voraussetzungen ergeben sich aus § 59 Abs. 1. a) Erste Voraussetzung ist eine günstige Prognose (Nr. 1). Die Ausführungen zu § 56 (siehe dort Anm. 3) gelten insoweit entsprechend. b) Besondere Umstände in der Tat und in der Person des Täters, die es angezeigt erscheinen lassen, den Täter von der Verurteilung zu Strafe zu verschonen, liegen nicht schon dann vor, wenn die soziale Prognose günstig ist; ähnlich wie bei der entsprechenden Regelung in § 56 Abs. 2, auf die in der Begründung des Sonderausschusses Bezug genommen wird (vgl. S. 25 BT-Drucks. V/4095), ist vielmehr zusätzlich eine besondere Privilegierungsbedürftigkeit erforderlich. Außerdem ist zu beachten, daß - ebenfalls wie in § 56 Abs. 2 - „besondere Umstände" in der Tat oder in der Person des Täters nicht genügen; die besonderen Umstände müssen vielmehr nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift sowohl in der Tat als auch in der Person des Täters vorliegen. Durchschnittstaten unterliegen nicht dem Anwendungsbereich der Vorschrift, auch das Vorliegen eines minder schweren Falles oder geringes Verschulden genügen für sich allein noch nicht. Dagegen wäre bei vorsätzlichen Delikten eine Anwendung der Vorschrift in Betracht zu ziehen, wenn der Täter aus einer Konfliktssituation heraus gehandelt hat, die seine Tat zwar nicht zu entschuldigen vermag, jedoch eine müdere Beurteilung gebietet, z. B. wenn der Täter sich in einem vermeidbaren Irrtum über einen Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgrund befunden hat oder wenn er in einer Notwehrsituation schuldhaft über die Grenzen der zulässigen Verteidigung hinausgegangen ist und hierbei einen Menschen leicht verletzt oder eine fremde Sache beschädigt oder zerstört hat. Auch im Rahmen der Eigentums- und Vermögensdelikte lassen sich derartige schuldmindernde Konfliktssituationen denken, z. B. wenn eine Hausfrau, deren Ehemann sich nicht um die Kinder kümmert, in einem Kaufhaus Diebstähle begeht, um sich und ihre Kinder wenigstens notdürftig mit Nahrung und Kleidung versorgen zu können. Die Möglichkeit, in solchen Fällen auf eine Verwarnung mit Strafvorbehalt zurückgreifen zu können, enthebt das Gericht in dem letztgenannten Fall auch vor der schwierigen Frage, wie hoch bei einer Vermögens- und einkommenslosen Hausfrau der jeweilige Tagessatz der Geldstrafe zu bemessen ist. Der Anwendungsbereich der Vorschrift darf jedoch, sofern die Vorschrift überhaupt praktische Bedeutung gewinnen soll, nicht auf solche Konfliktssituationen und 271
§ 59
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
ähnliche Situationen beschränkt werden. So kann z. B. eine Besonderheit in der Tat auch darin gesehen werden, daß die Tathandlung in Umfang und Intensität sich durch ungewöhnlich geringes Gewicht auszeichnet (BGH bei Dallinger MDR 1976, 14 zu § 176 Abs. 1). Nicht hierher gehört dagegen der „Durchschnittsfall", z. B. wenn eine Hausfrau oder eine Studentin bei ihrem Einkaufsbummel durch das Kaufhaus der lockenden Versuchung des „billigen Einkaufens" im Wege unzulässiger Selbstbedienung nicht widerstehen kann. Hier muß Strafe nicht nur festgesetzt, sondern auch verhängt werden. Besonders privilegierungsbedürftige Fälle können über die §§ 153, 153 a StPO befriedigend gelöst werden. Auch bei fahrlässigen Delikten, insbesondere auf dem Gebiet des Verkehisrechts, ist bei der Anwendung des § 59 äußerste Zurückhaltung geboten (vgl. Dreher 5; Lackner 4 b). In Fällen der Straßenverkehrsgefährdung, der Trunkenheit im Verkehr und der Unfallflucht, in denen neben der Strafe auf Entziehung der Fahrerlaubnis zu erkennen ist, kommt eine Verwarnung mit Strafvorbehalt schon wegen § 59 Abs. 3 nicht in Betracht. Bei fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Tötung scheiden zunächst alle Durchschnittsfälle aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift aus, da es hier an den vom Gesetz vorausgesetzten „besonderen Umständen" fehlt. In Betracht kommen jedoch solche Fälle, bei denen die Tatschuld im unteren Bereich liegt (etwa bei erheblichem mitwirkenden Verschulden des Verletzten oder eines anderen Verkehrsteilnehmers) und bei denen zusätzlich besondere Umstände in der Person des Täters vorliegen, z. B. wenn der Täter bei dem Unfall selbst nicht unerheblich verletzt wurde, so daß man ihn als hinreichend gewarnt ansehen kann, ohne daß andererseits die Verhängung einer Strafe „offensichtlich verfehlt" wäre (sonst müßte nach § 60 von Strafe abgesehen werden). Auch bei Ärzten, Soldaten, Polizeibeamten und Angehörigen von Notdiensten (Feuerwehr, DRK usw.), die im Bestreben, möglichst bald ihren Einsatzort erreichen zu können, einen Unfall verschulden, kann eine Entscheidung nach § 59 angebracht sein. c) Die Verteidigung der Rechtsordnung steht einer Vergünstigung nach § 59 insbesondere dann entgegen, wenn es sich, wie schon unter b) ausgeführt, um einen sog. Durchschnittsfall handelt, bei dem der Bürger erwarten darf, daß der Täter schuldangemessen bestraft wird. Es wäre gefährlich, wenn sich durch eine zu großzügige Auslegung des § 59 in der Bevölkerung das Bewußtsein festsetzen könnte, daß der erste Rechtsbruch grundsätzlich straflos bleibt. Die Rechtstreue der Bevölkerung geriete ernsthaft in Gefahr, wenn sich durch eine entsprechende Spruchpraxis der Gerichte die Mentalität des „Einmal ist keinmal" festsetzen würde. 4. Ähnlich wie die Strafaussetzung zur Bewährung ist auch die Privilegierung nach § 59 von der Höhe der verwirkten Strafe und der Ausschlußklausel des Abs. 3 S. 2 abgesehen - an keine weiteren formellen Voraussetzungen gebunden. Nach Abs. 2 ist sie jedoch „in der Regel" ausgeschlossen, wenn der Täter während der letzten drei Jahre vor der Tat schon einmal mit Strafvorbehalt verwarnt oder zu Strafe verurteilt worden ist. Ausnahmen von dieser Regel sind vor allem dann denkbar, wenn die frühere Tat in keinem inneren kriminologischen Zusammenhang mit der neuen Tat steht, z. B. wenn es sich bei der früheren Tat um eine fahrlässige Körperverletzung und bei der neuen Tat um einen Diebstahl handelt. 5. Da Maßregeln der Besserung und Sicherung nur bei ungünstiger Prognose in Betracht kommen, ist in diesen Fällen eine Verwarnung mit Strafvorbehalt nach Abs. 3 unzulässig, 272
Fünfter Titel: Verwarnung mit Strafvorbehalt, Absehen von Strafe
§ 59a
während die Vergünstigung des § 59 nicht schon dadurch ausgeschlossen wird, daß das Gericht auf Verfall, Einziehung oder Unbrauchbarmachung oder auf ein Fahrverbot erkennt. Diese Regelung ist insoweit nicht ganz konsequent, als nach der Rechtsprechung selbst die noch weitergehende Privilegierung des § 60 nicht dadurch ausgeschlossen wird, daß das Gericht auf eine Maßregel erkennt (vgl. BayObLG VM 1972 Nr. 41). 6. Prozessual ist folgendes zu beachten: a) Die Verwarnung mit Strafvorbehalt ist im Urteilstenor zum Ausdruck zu bringen (vgl. § 260 Abs. 4 StPO), wobei etwa folgende Formulierung zu empfehlen wäre: „Der Angeklagte A aus X ist des Diebstahls schuldig. Es wird deshalb eine Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je 30,- DM festgesetzt. Die Verurteüung zu dieser Strafe wird für den Fall vorbehalten, daß der Angeklagte innerhalb der Bewährungszeit weitere Straftaten begeht oder gegen die ihm erteilten Auflagen gröblich oder beharrlich verstößt." b) Bewährungszeit und Auflagen (§ 59 a) werden durch einen mit dem Urteil zu verkündenden Beschluß festgesetzt (vgl. § 268 a Abs. 1 StPO), wobei der Vorsitzende den Angeklagten über die Bedeutung der Verwarnung mit Strafvorbehalt und die Möglichkeit der Verurteilung zu der vorbehaltenen Strafe zu belehren hat (§ 268 a Abs. 3 S. 1 StPO). c) Die Verwarnung mit Strafvorbehalt kann auch im Strafbefehlsverfahren ausgesprochen werden (vgl. § 407 Abs. 2 Nr. 1 StPO). d) Die Verwarnung mit Strafvorbehalt unterliegt nach §§ 331 Abs. 1, 358 Abs. 2 StPO dem Verbot der reformatio in peius, d. h. die unter Strafvorbehalt ausgesprochene Verwarnung darf nicht in eine Verurteilung zu Strafe umgewandelt werden, wenn nur der Angeklagte, sein gesetzlicher Vertreter oder die StA zu seinen Gunsten das Rechtsmittel eingelegt hat. e) Die Verurteilung zu der vorbehaltenen Strafe (vgl. § 59 b i. V. mit § 56 f) erfolgt nach vorheriger Anhörung der StA und des Angeklagten durch Beschluß und ist mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar (vgl. § 453 Abs. 1, Abs. 2 StPO). f) Die Verwarnung mit Strafvorbehalt wird zwar nach § 4 Nr. 3 BZRG im Bundeszentralregister vermerkt, erscheint aber nicht im Führungszeugnis (§ 30 Abs. 2 Nr. 1 BZRG).
§ 59 a Bewährungszeit und Auflagen (1) Das Gericht bestimmt die Dauer der Bewährungszeit. Sie darf drei Jahre nicht überschreiten und ein Jahr nicht unterschreiten. (2) Für die Erteilung von Auflagen gelten die §§ 56 b und 56 e entsprechend. 1. Höchst- und Mindestdauer der Bewährungszeit liegen deutlich unter den entsprechenden Grenzwerten bei der Strafaussetzung zur Bewährung. Da eine dem § 56 a Abs. 2 entsprechende Vorschrift fehlt, kann die Bewährungszeit grundsätzlich weder verlängert noch verkürzt werden; jedoch besteht die Möglichkeit, die Bewährungszeit dann auf ihr Höchstmaß zu verlängern, wenn die Voraussetzungen für die Verurteilung zu der
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§ 59b
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
vorbehaltenen Strafe vorliegen, das Gericht aber mildere Maßnahmen als ausreichend ansieht (vgl. § 59 b Abs. 1 i. V. mit § 56 f Abs. 2). 2. Nach Abs. 2 besteht die Möglichkeit, die Verwarnung mit Auflagen zu verbinden, wobei die Vorschriften über die Erteilung von Auflagen bei Aussetzung einer Freiheitsstrafe (§§ 56 b und 56 e) entsprechende Anwendung finden. Weisungen i. S. des § 56 c können dagegen nicht erteilt werden; auch die Unterstellung unter Bewährungsaufsicht ist unzulässig (vgl. Ber. S. 25 BT-Drucks. V/4095). 3. Bewährungszeit und Auflagen werden durch einen mit dem Urteil zu verkündenden bzw. gleichzeitig mit dem Strafbefehl zu erlassenden Beschluß festgelegt (§ 268 a Abs. 1 StPO). Wegen der Belehrung siehe §§ 268 a Abs. 3,409 Abs. 1S. 2 StPO.
§ 59 b
Verurteilung zu der vorbehaltenen Strafe
(1) Für die Verurteilung zu der vorbehaltenen Strafe gilt § 56 f entsprechend. (2) Wird der Verwarnte nicht zu der vorbehaltenen Strafe verurteilt, so stellt das Gericht nach Ablauf der Bewährungszeit fest, daß es bei der Verwarnung sein Bewenden hat. 1. Die Verurteilung zu der vorbehaltenen Strafe (Abs. 1) entspricht dem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung, so daß § 56 f entsprechende Anwendung findet. Sowohl hinsichtlich der Zahl als auch hinsichtlich der Höhe der Tagessätze ist das die Verurteilung aussprechende Gericht an seine frühere Entscheidung im Verwarnungsurteil gebunden, was hinsichtlich der Höhe der Tagessätze eine gesetzgeberisch verfehlte Regelung darstellt, da die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sich zwischenzeitlich verändert haben können. Bei einer Verschlechterung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse können etwaige Härten nur gemäß § 459 a und § 459 f StPO vermieden werden. Reichen mildere Maßnahmen aus, so kann das Gericht nach § 56 f Abs. 2 die Bewährungszeit bis zu ihrem Höchstmaß von 3 Jahren verlängern oder weitere Auflagen erteilen. Weisungen und Bewährungsaufsicht sind jedoch unzulässig, da diese Maßnahmen dem Rechtsinstitut der Verwarnung mit Strafvorbehalt fremd sind. 2. Die Entscheidung nach Abs. 2 entspricht dem Straferlaß nach § 56 g Abs. 1, ist aber, da § 59 b Abs. 2 nicht auf § 56 g Abs. 2 verweist, unwiderruflich. Der Beschluß entspricht einem Einstellungsbeschluß nach § 206 a StPO (vgl. Maurach AT 877; Zipf JuS 1974,146). 3. Das Verfahren richtet sich nach § 453 StPO (siehe auch § 59 Anm. 6 e). Wegen der Zuständigkeit siehe § 462 a Abs. 2 StPO. 4. Ergeht eine Entscheidung nach Abs. 1, so ist die Verurteilung zu der vorbehaltenen Strafe gemäß § 14 Abs. 2 BZRG im Bundeszentralregister einzutragen. Im Falle des Abs. 2 wird die Eintragung über die Verwarnung mit Strafvorbehalt aus dem Register entfernt. 274
Fünfter Titel: Verwarnung mit Strafvorbehalt, Absehen von Strafe § 59 c
§§ 59c, 60
Gesamtstrafe und Verwarnung mit Strafvorbehalt
(1) Hat jemand mehrere Straftaten begangen, so sind bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt für die Bestimmung der Strafe die § 5 3 bis 5 5 entsprechend anzuwenden. (2) Wird der Verwarnte wegen einer vor der Verwarnung begangenen Straftat nachträglich zu Strafe verurteilt, so sind die Vorschriften über die Bildung einer Gesamtstrafe (§§ 5 3 bis 55, 58) mit der Maßgabe anzuwenden, daß die vorbehaltene Strafe in den Fällen des § 5 5 einer erkannten Strafe gleichsteht. 1. Abs. 1 verweist auf die Vorschriften über die Tatmehrheit (§ 53), die Gesamtstrafenbildung bei Tatmehrheit (§ 54) und die nachträgliche Gesamtstrafenbildung (§ 55). Hierbei ist zu beachten, daß die Frage, ob § 59 anwendbar ist, immer erst nach der Gesamtstrafenbildung entschieden werden kann. Es ist also nicht möglich, bei mehreren in Tatmehrheit zusammentreffenden Taten hinsichtlich einzelner Taten nach § 59 nur eine Verwarnung mit Strafvorbehalt auszusprechen, hinsichtlich der übrigen Taten jedoch Strafe zu verhängen (vgl. Lackner 4). 2. Da über die Anwendbarkeit des § 59 auch im Falle der Tatmehrheit nur einheitlich entschieden werden kann, ist nach Abs. 2 - entsprechend der Regelung bei der Strafaussetzung zur Bewährung (vgl. § 58 Abs. 2) - bei der nachträglichen Gesamtstrafenbüdung nochmals abschließend zu prüfen, ob hinsichtlich der verwirkten Gesamtstrafe eine Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen werden kann oder ob der Rahmen des § 59 durch die nachträglich einzubeziehende, nicht unter Vorbehalt ausgesprochene Strafe gesprengt worden ist.
§ 60
Absehen von Strafe
Das Gericht sieht von Strafe ab, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, daß die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre. Dies gilt nicht, wenn der Täter für die Tat eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verwirkt hat. 1. Die Vorschrift ermöglicht einen Schuldspruch ohne gleichzeitigen Strafausspruch in Fällen, bei denen der Täter durch die Folgen seiner Tat selbst so schwer getroffen worden ist, daß die Verhängung einer Strafe „offensichtlich verfehlt", d. h. weder zur Sühne (Schuldausgleich) noch unter spezial- oder generalpräventiven Gesichtspunkten erforderlich erscheint, sondern nur noch den Eindruck „mißbilligenswerter Prinzipienreiterei" (Bockelmann AT 256) erwecken könnte. Weitere Vorschriften, nach denen das Gericht teils wegen des Bagatellcharakters der Tat, teüs zur Belohnung für die Rückkehr auf den Boden des Rechts, teils mit Rücksicht auf notstandsähnliche Situationen von Strafe absehen kann, finden sich in den §§ 23 Abs. 3, 30 Abs. 1 S. 3, 83 a, 84 Abs. 4, 85 Abs. 3, 86 Abs. 4, 86 a Abs. 3, 87 Abs. 3, 89 Abs. 3, 98 Abs. 2, 99 Abs. 3, 113 Abs. 4, 129 Abs. 6, 139 Abs. 1, 157, 158 Abs. 1, 174 Abs. 4, 175 Abs. 2,182 Abs. 3,199, 233, 315 Abs. 6, 315 b Abs. 6 und 316 a Abs. 2. 275
§ 60
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Schrifttum: Eser, Absehen von Strafe, Maurach-Festschr. S. 257; - Maiwald, Das Absehen von Strafe nach § 16 StGB, ZStW 83, 663; - Müller-Dietz, Absehen von Strafe (§ 60 StGB nF), Lange-Festschr. S. 303; - H. Wagner, Die selbständige Bedeutung des Schuldspruchs usw., GA 1972, 33. 2. Auszugehen ist von den Folgen der Tat, soweit sie den Täter selbst getroffen haben. Entscheidend sind dabei ausschließlich die objektiven Folgen; innerer Wandel und Reue oder ernsthafte Gewissensbisse fallen für sich allein nicht unter den Anwendungsbereich der Vorschrift (vgl. Ber. S. 7 BT-Drucks. V/4094). Der strafähnliche Charakter der Folgen für den Täter kann sich ergeben a) aus der Täter-Opfer-Beziehung, z. B. wenn eine Mutter durch Fahrlässigkeit den Tod ihres Kindes verursacht oder wenn die Ehefrau das einzige Opfer eines von ihrem Mann fahrlässig verschuldeten Verkehrsunfalls ist, b) aus einem schweren Schaden, den die Tat für den Täter selbst mit sich bringt, so z. B. erhebliche eigene Verletzungen oder Invalidität des Täters. Bei finanziellem Schaden wird darauf zu achten sein, daß ihn der Täter als solchen selbst verspürt, z. B. bei Totalschaden des eigenen, nicht vollkasko-versicherten Fahrzeuges infolge eines geringfügigen Verkehrsverstoßes. 3. Offensichtlich verfehlt ist die Verhängung der Strafe, wenn die Tatfolge so stark und intensiv sind, daß eine Strafe daneben keine eigene Wirkung mehr hätte. Dieses Urteil muß sich aber unmittelbar aufdrängen; es darf sich nicht erst aufgrund eines minutiösen Abwägens ergeben (vgl. Ber. S. 7 BT-Drucks. V/4094). Die Vorschrift kommt deshalb nur in extremen Ausnahmefällen zur Anwendung (vgl. Bockelmann AT 256). Es genügt nicht, daß die nach dem Schuldgehalt der Tat in Betracht kommende Strafe gegenüber dem wirtschaftlichen Schaden, der den Täter trifft, nicht ins Gewicht fällt (Stgt Justiz 1970, 423). Dies ist vor allem bei fahrlässigen Brandstiftungen und Verkehrsunfällen zu beachten, bei denen § 60 im Regelfall nicht schon deshalb zur Anwendung kommt, weil der Täter selbst wirtschaftlichen Schaden erlitten hat (Stgt aaO. betr. einen Dachstuhlbrand mit einem Schaden von 25 000 DM). Andererseits wird § 60 nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß durch die Tat auch andere schwer geschädigt wurden. So hat das OLG Celle zu Recht eine Entscheidung nach § 60 in einem Fall bestätigt, bei dem es durch geringes Verschulden des Angeklagten zu einem folgenschweren Frontalzusammenstoß zweier Fahrzeuge gekommen war: im Pkw des Angeklagten wurden die Ehefrau des Angeklagten getötet, seine drei Kinder schwer verletzt; in dem mitbeteiligten Pkw wurde der Fahrer verletzt, seine Ehefrau getötet (vgl. NJW 1972,575). Ähnlich Ffm NJW 1971, 767: Sind die eigenen Verletzungen des Angeklagten so schwer, daß selbst eine Strafe von einigen tausend DM keine größere Abschreckung erzielen könnte als die Tatsache des Unfalls mit seinen Folgen, so wird § 60 nicht dadurch ausgeschlossen, daß eine Beifahrerin des Angeklagten getötet und in einem anderen Fahrzeug zwei weitere Personen verletzt wurden. Selbst bei fahrlässiger Tötung i. V. mit Trunkenheit am Steuer ist eine Anwendung von § 60 nicht schlechthin ausgeschlossen (vgl. Köln NJW 1971, 2036; Krhe NJW 1974,1006). 4. Nach Satz 2 kann die Vorschrift nur angewandt werden, soweit für die Tat, aus der sich die schweren Folgen ergeben, Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr zu erwarten wäre. Bei mehreren rechtlich selbständigen Handlungen ist vor der Gesamtstrafenbildung
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Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
Vor § 61
zu prüfen, ob hinsichtlich der Einzelstrafen die Voraussetzungen des § 60 vorliegen (vgl. Lackner 3 b). Liegen die Voraussetzungen des § 60 nur hinsichtlich einer von mehreren rechtlich selbständigen Handlungen vor, so kann hinsichtlich einer anderen rechtlich selbständigen Handlung auch dann von Strafe abgesehen werden, wenn ein enger äußerer und innerer Zusammenhang zwischen beiden Taten besteht, z. B. zwischen einem Unfall, bei dem ein Angehöriger getötet wurde, und einer sich hieran anschließenden Unfallflucht. Bei Tateinheit können die Voraussetzungen des § 60 nur einheitlich bejaht oder verneint werden (BayObLG NJW 1972, 696; Dreher 5; Lackner 3 b). 5. Die Vorschrift ist auf alle Arten von Straftaten anwendbar (Krhe NJW 1974, 1006; h. L.). Entgegen dem Vorschlag des Altemativentwurfs (§ 58 Abs. 2 AE) hat der Gesetzgeber selbst bei vollendeten vorsätzlichen Straftaten gegen das Leben die Anwendung dieser Vorschrift nicht ausgeschlossen, weil sich möglicherweise auch hier in besonderen Ausnahmefällen, so z. B. bei der Tötung auf Verlangen (§ 216), ein Bedürfnis für ein Absehen von Strafe ergeben könnte. 6. Wegen der Behandlung im Prozeß siehe D 5d vor § 1. Ergänzend ist folgendes zu beachten: Satz 2 zwingt den Richter nicht, die an sich verwirkte Strafe auszuwerfen, sondern läßt die Feststellung genügen, daß eine Strafe von mehr als einem Jahr für diese Tat jedenfalls nicht in Betracht kommt. 7. Sieht das Gericht von Strafe ab, so bleiben etwa erforderliche Maßregeln (z. B. §§ 69, 70) hiervon unberührt (vgl. BayObLG VM 1972 Nr. 41). Ein Eintrag im BZR erfolgt nicht.
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung Vorbemerkungen 1. Die durch das sog. GewohnheitsverbrecherG v. 24. 11. 1933 (RGBl. I 995) erstmals eingeführten Maßregeln der Besserung und Sicherung treten als mögliche Rechtsfolgen einer rechtswidrigen Tat ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 5) flankierend neben das klassische System der Strafen (sog. zweispuriges System, vgl. I vor § 38). Ihr Anwendungsbereich liegt im wesentlichen dort, wo der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten mit dem Mittel der dem Schuldprinzip unterliegenden Strafe (vgl. § 46 Abs. 1 S. 1) entweder überhaupt nicht oder nicht ausreichend gewährleistet werden kann. So versagt z. B. das Mittel der Strafe bei einem Schuldunfähigen, dem die von ihm begangene rechtswidrige Tat nicht vorgeworfen werden kann (vgl. § 20). Aber auch bei einem strafrechtlich voll verantwortlichen Hangtäter kann selbst eine längerfristige Freiheitsstrafe keinen ausreichenden Schutz bieten, wenn aufgrund der Persönlichkeit des Täters zu befürchten ist, daß er nach Verbüßung der Strafe erneut rückfällig wird. Diese Mängel zu beheben, ist der Zweck der Maßregeln. Während die Strafe den Schutz der Gesellschaft mit den Mitteln der Repression anstrebt, geht es bei den Maßregeln ausschließlich um die Prävention, d. h. um die Verhinderung weiterer rechtswidriger Taten, durch die die Allgemeinheit gefährdet werden könnte. Für die Maßregeln ist die Begehung einer rechtswidrigen Tat somit nicht Rechtsgrund, sondern lediglich Anlaß. Durch die Verhängung der Maßregeln wird auch grundsätzlich kein
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Vor § 61
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
sozialethisches Unwerturteil zum Ausdruck gebracht; ihre Verhängung erstrebt vielmehr ausschließlich Sicherung durch Besserung. Aus diesem unterschiedlichen Anliegen ergibt sich zunächst, daß die Anordnung von Maßregeln auch gegen Schuldunfähige zulässig ist und der Grad der Schuld für Anordnung und Dauer einer Maßregel ohne jede Bedeutung ist. So kann z. B. die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für Suchtkranke bei Feststellung eines suchtbedingten Hangs zur Begehung erheblicher rechtswidriger Taten auch dann angeordnet werden, wenn der Süchtige ohne eigenes Verschulden süchtig wurde. 2. Da sich Strafen und Maßregeln gegenseitig ergänzen sollen, können bei einem schuldfähigen Täter alle Maßregeln kumulativ neben der Strafe verhängt werden (sog. Kumulationsprinzip). Strafe und Maßregel sind dabei möglichst so aufeinander abzustimmen, daß ihre Kombination der Gefahr des Rückfalls optimal entgegenwirkt (vgl. Hamm NJW 1973, 719; Lang-Hinrichsen LK 38 vor § 42 a aF; Maurach AT 884; Zipf JuS 1974, 274, 279). Zu beachten ist allerdings, daß das Kumulationsprinzip bei einigen Maßregeln im Rahmen der Vollstreckung erheblich modifiziert wird (vgl. § 67). Eine isolierte Anordnung von Maßregeln kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn nämlich bei einem schuldunfähigen Täter die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63), in einer Entziehungsanstalt (§ 64) oder in einer sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65)* geboten ist. Von den Maßregeln ohne Freiheitsentzug können nur die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69) und das Berufsverbot (§ 70) isoliert angeordnet werden. Über die Kombination mehrerer Maßregeln untereinander siehe § 72 nebst Anmerkungen. 3. Alle Maßregeln der Besserung und Sicherung unterliegen nach § 62 dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ihre Anordnung ist für den Betroffenen durchweg so einschneidend, daß sie nur aus schwerwiegendem Anlaß getroffen werden darf. Das Übermaßverbot übernimmt im Rahmen der Maßregelanordnung die Funktion, die bei der Strafzumessung dem Schuldprinzip zukommt. Einzelheiten siehe § 62 nebst Anmerkungen. 4. Die Besserung des Betroffenen darf nicht zum Selbstzweck werden, sondern setzt schon wegen ihrer einschneidenden Wirkung ein Sicherangsbedürfnis seitens der Allgemeinheit voraus. So wäre es z. B. unzulässig, einen Täter, der seinen Lebensunterhalt jahrelang durch Begehung von Einbrüchen bestritten, sich aber bei seiner letzten Tat durch einen schweren Sturz eine Querschnittslähmung zugezogen hat, in die Sicherungsverwahrung einzuweisen oder einem erblindeten Verkehrssünder die Fahrerlaubnis zu entziehen. 5. Entscheidender Zeitpunkt für die durch das Übermaßverbot des § 62 gebotene Gefährlichkeitsprognose ist die Hauptverhandlung. Um der Gefahr einer Benachteiligung des Betroffenen durch Fehlprognosen vorzubeugen, sieht das Gesetz verschiedene Möglichkeiten vor, auch nach Rechtskraft des Urteils die zunächst getroffene Prognose als überholt zu revidieren. So besteht z. B. bei freiheitsentziehenden Maßregeln nach § 67 a die Möglichkeit der Überweisung in eine andere, weniger einschneidendere, aber hinsichtlich der erstrebten Resozialisierung effektivere Maßregel. Vor allem aber hat das Gericht in den Fällen, in denen die Freiheitsstrafe vor der Maßregel vollzogen wird, nach § 67 c vor dem Ende des Vollzugs zu prüfen, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert. Schließlich ist das Gericht nach § 67 e jederzeit berechtigt, nach Ablauf bestimmter Fristen sogar verpflichtet zu prüfen, ob die weitere Vollstreckung der * Siehe § 65 Anm. I.
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Sechster Titel: Maßregeta der Besserung und Sicherung
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Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Bei den nicht mit einem Freiheitsentzug verbundenen Maßregeln (Führungsaufsicht, Entziehung der Fahrerlaubnis, Berufsverbot) sind die sich aus §§ 68 c ff., 69 a Abs. 7 und 70 a ergebenden Beschränkungen zu beachten. 6. Die umstrittene Frage, ob der Grundsatz des „in dubio pro reo" auch im Bereich des Maßregelrechts gilt, ist im Anschluß an die heute h. L. wie folgt zu entscheiden (vgl. Bruns JZ 1958, 647; Geppert NJW 1972, 2154, 2156; Lackner § 63 Anm. 2 c, ee; LangHinrichsen LK 23 ff. vor § 42 a aF; Stree, In dubio pro reo, 1962, S. 96 ff.): Materiellrechtlich genügt zur Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung nach den §§ 61 ff. nicht schon die Möglichkeit der Wiederholungsgefahr; andererseits kann aber keine Sicherheit des Rückfalls verlangt werden. Einerseits erforderlich, andererseits aber ausreichend ist vielmehr ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit, daß der Betroffene auch in Zukunft weitere erhebliche Straftaten begehen wird. Von dieser materiell-rechtlichen Betrachtung ist die prozessuale Seite streng zu trennen: Die Maßregel darf nur angeordnet werden, wenn der Richter von der Wahrscheinlichkeit des Rückfalls in dem soeben beschriebenen Sinn überzeugt ist. Hat er Zweifel, so darf er die Maßregel nicht anordnen. Die vielfach zu findende Formulierung, der Grundsatz „in dubio pro reo" gelte auf dem Gebiet des Maßregelrechts nicht (vgl. z. B. Bockelmann AT 263; Dreher 3 vor § 61), ist deshalb in dieser allgemeinen Form nicht richtig. 7. Wegen der Möglichkeit einer sog. selbständigen (isolierten) Anordnung freiheitsentziehender Maßregeln im sog. Sicherungsverfahren siehe § 71 sowie §§ 413 ff. StPO. 8. Wegen der Verjährung siehe §§ 78ff. (Verfolgungsverjährung) und §§ 79ff. (Vollstreckungsverjährung). 9. Im Verfahren gegen Jugendliche können nur die in § 61 Nr. 1, 2, 5 und 6 aufgeführten Maßregeln angeordnet werden (vgl. § 7 JGG). 10. Ebenso wie die Strafen werden auch alle Maßregeln im Bundeszentralregister eingetragen (§ 4 Nr. 1 BZRG). 11. Wegen der Vollstreckung und ihrer Modalitäten (Reihenfolge und Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel usw.) siehe §§ 67 ff. sowie § 72. Vollstreckungsbehörde ist nach § 451 StPO die StA (siehe jedoch Art. 315 EGStGB: Ermächtigung der Landesregierung, bis zum 31. 12. 1979 durch RechtsVO die Strafvollstreckung dem Richter beim Amtsgericht zu übertragen, soweit er im ersten Rechtszug entschieden und nicht auf Freiheitsstrafe erkannt hat). 12. Die Durchführung der Maßregeln ist strafrechtlich geschützt durch §§ 120, 121, 145 a, 258, 258 a und 330 b. 13. Schrifttum: Baumann, Unterbringungsrecht, 1966; -ders., Resozialisierungsgedanke und Rechtsgüterschutz im 1. und 2. StrRG, DRiZ 1970, 2; - Bruns, Richterliche Überzeugung bei Prognosenentscheidungen über Sicherungsmaßregeln, JZ 1958, 647; - ders., Die Maßregeln der Sicherung und Besserung im E 1962, ZStW 71, 210;-Gribbohm, Der 279
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei den mit Freiheitsentzug verbundenen Maßregeln usw., JuS 1967, 349; - R. v. Hippel, Maßregeln der Besserung und Sicherung, 1976; Horstkotte, Die Vorschriften des 1. StrRG über den Rückfall und die Maßregeln der Sicherung und Besserung, JZ 1970, 152; - Kaiser, Zur kriminalpolitischen Konzeption der Strafrechtsreform, ZStW 70, 100; - ders., Die Fortentwicklung der Methoden und Mittel des Strafrechts, ZStW 86, 349; - Lang-Hinrichsen, Die kriminalpolitischen Aufgaben der Strafrechtsreform, Gutachten zum 43. Dt. Juristentag, 1960; - ders., Zum gegenwärtigen Stand der Strafrechtsreform in der Bundesrepublik Deutschland, JR 1965, 201; - Leferenz, Der Entwurf eines Allgemeinen Teils eines Strafgesetzbuchs in kriminologischer Sicht, ZStW 70, 25; - Maurach, Die kriminalpolitischen Aufgaben der Strafrechtsreform, Gutachten zum 43. Dt. Juristentag, 1960; -Melzer, Die neue Sozialverteidigung - Ein neuer Begriff in der deutschen Strafrechtsreformdiskussion, JZ 1970, 764; - Eb. Schmidt, Kriminalpolitische und strafrechtsdogmatische Probleme der deutschen Strafrechtsreform, ZStW 69, 349; - Schröder, Die kriminalpolitischen Aufgaben der Strafrechtsreform, Referat zum 43. Dt. Juristentag, 1960; - Schwalm, Kriminalpolitik im Strafgesetzentwurf 1960, DRiZ 1960, 277; - Spendel, Die kriminalpolitischen Aufgaben der Strafrechtsreform, NJW 1960,1700; - Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, 1 9 6 0 ; ders., In dubio pro reo, 1962; - Zipf, Die Rechtsfolgen der Tat im neuen Strafgesetzbuch, JuS 1974, 274. - Weitere Hinweise bei den einzelnen Vorschriften.
§ 61
Übersicht
Maßregeln der Besserung und Sicherung sind 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die Führungsaufsicht, die Entziehung der Fahrerlaubnis, das Berufsverbot.
1. Die insgesamt sieben im Katalog des § 61 aufgeführten Maßregeln enthalten vier freiheitsentziehende Maßregeln (Nr. l ^ t ) und drei Maßregeln, die nicht mit einem Freiheitsentzug verbunden sind (Nr. 5-7). Durch das 2. StrRG in diesem Katalog neu aufgenommen wurden die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (Nr. 3) und die Führungsaufsicht (Nr. 5). Die Vorschriften über die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt und die Überweisung in den Vollzug dieser Maßregel treten allerdings erst am 1. 1. 1978 in Kraft (vgl. Art. 7 des Ges. v. 4. 7. 1969 idF des Gesetzes v. 30. 7. 1973, BGBl. 1909). 2. Maßregelähnlichen Charakter haben die in § 11 Abs. 1 Nr. 8 gemeinsam mit den Maßregeln der Besserung und Sicherung unter dem Oberbegriff der „Maßnahmen" zusammengefaßten Rechtsinstitute des Verfalls, der Einziehung und der Unbrauchbarmachung, soweit sich die Maßnahmen gegen schuldunfähige Tatbeteiligte oder gegen dritte Personen richten. 280
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 62
§ 62
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht. 1. Das in § 62 deklarierte Obermaßverbot übernimmt im Rahmen des Maßregelrechts die Funktionen, die bei der Bemessung der Strafe dem Schuldprinzip zukommen, das im Maßregelrecht ohne Bedeutung ist (vgl. 1 vor § 61). Seine Aufgabe besteht somit darin, die ausschließlich präventionsorientierte Maßregel im Einzelfall auf das rechtsstaatlich erträgliche Maß zu begrenzen (vgl. Zipf JuS 1974, 274, 278). Alle nach dem Gesetz zulässigen Maßregeln sind für den Betroffenen so einschneidend, daß sie nach Abwägung aller widerstreitenden Interessen des betroffenen Täters einerseits und der zu schützenden Allgemeinheit andererseits nur als „ultima ratio" angeordnet und vollstreckt werden dürfen. Dieser Grundsatz gilt auch - trotz § 69 Abs. 1 S. 2 - bei der Entziehung der Fahrerlaubnis. Durch § 69 Abs. 1 S. 2 wird lediglich zum Ausdruck gebracht, daß das Übermaßverbot in § 69 Abs. 1 S. 1 bereits berücksichtigt worden ist (vgl. Zipf JuS 1974, 278). 2. Im einzelnen wirkt sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wie folgt aus: a) Bei der „Anlaßtat" darf es sich um kein Bagatelldelikt handeln. Insbesondere bei der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt* und in der Sicherungsverwahrung sind an den Schweregrad der Anlaßtat strenge Anforderungen zu stellen (Einzelheiten siehe § 65 Anm. III 2 b, § 66 Anm. III, IV). b) Bei allen freiheitsentziehenden Maßregeln muß die Gefährlichkeitsprognose (5 vor § 61) zu dem Ergebnis führen, daß der Täter mit großer Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, falls er nicht einer „stationären Behandlung" unterzogen wird (vgl. §§ 63 Abs. 1, 64 Abs. 1, 65 Abs. 1, 66 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2). Aber auch bei den übrigen Maßregeln kann auf dieses Kriterium nicht verzichtet werden (vgl. § 70 Abs. 1 für das Berufsverbot). Das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit entfällt insbesondere dann, wenn der Täter infolge körperlicher Defekte (z. B. Lähmung, Siechtum, Erblindung, aber auch aus Altersgründen) physisch nicht mehr in der Lage ist, weitere Straftaten zu begehen (vgl. 4 vor § 61; Bockelmann AT 258). c) Nach dem Subsidiaritätsprinzip (vgl. Lang-Hinrichsen LK 32 ff. vor § 32 a aF) darf eine Maßregel nur dann vollstreckt werden, wenn andere, weniger einschneidende Möglichkeiten (z. B. Überwachung durch Angehörige, Bestellung eines Pflegers, freiwillige Entziehungskuren) den Schutz der Allgemeinheit nicht auf gleiche (und gleich sichere) Weise erreichen können. d) Kommen nach Lage des Einzelfalls gleichzeitig mehrere Maßregeln in Betracht, so ist, wenn der erstrebte Zweck bereits durch einzelne von ihnen erreicht werden kann, nur auf diese Maßregeln zu erkennen (§ 72 Abs. 1 S. 1). Dabei ist unter mehreren geeigneten Maßregeln der jeweils schonendsten der Vorzug zu geben (§ 72 Abs. 1 S. 2). * Siehe § 65 Anm. I. 281
§ 63
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
e) Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt darf nur angeordnet werden, wenn die Entziehungskur nicht von vornherein aussichtslos erscheint (§ 64 Abs. 2). Auch die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt* muß zur Resozialisierung „angezeigt" sein (§ 65 Abs. 1 S. 2). f) Nicht nur die Anordnung, sondern auch die Vollstreckung der Maßregel und deren Dauer unterliegen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie sich bei den freiheitsentziehenden Maßregeln aus den §§ 67-67 e, bei der Entziehung der Fahrerlaubnis aus § 69 a Abs. 7, beim Berufsverbot aus § 70 a und bei der Führungsaufsicht aus §§ 68 c-68 e ergibt.
- Freiheitsentziehende Maßregeln § 63
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
(1) Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. (2) D a s Gericht ordnet jedoch die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt* an, wenn die Voraussetzungen des § 6 5 A b s . 3 vorliegen. 1. Die durch das 2. StrRG neu gefaßte Vorschrift tritt an die Stelle des früheren § 42 b. Ihr Anliegen ist die Heilung des behandlungsbedürftigen Täters mit den spezifischen Mitteln der Psychiatrie, um auf diese Weise die gebotene Sicherung der Allgemeinheit vor weiterer Gefährdung zu erreichen. Ist eine Besserung durch Heilung nicht möglich, so steht der Sicherungszweck der Vorschrift im Vordergrund. Die Grundstruktur des früheren § 42 b blieb erhalten, hinsichtlich der Ausgestaltung sind jedoch verschiedene Änderungen zu beachten. So wird z. B. in Übereinstimmung mit der Rspr. seit Inkrafttreten des 1. StrRG (vgl. BGH 24, 134) klargestellt, daß die Unterbringung nur zulässig ist, wenn „erhebliche" rechtswidrige Taten zu erwarten sind; das frühere Kriterium des „öffentlichen Interesses" wurde durch die Gefährlichkeitsprognose ersetzt. Von besonderer Bedeutung ist auch die Subsidiaritätsklausel des Abs. 2, die allerdings erst nach dem 1. 1. 1978 von Bedeutung wird*. Schrifttum: Geilen, Sukzessive Zurechnungsunfähigkeit, Unterbringung und Rücktritt, JuS 1972, 73; - Haisch, § 42 b - Erfahrungen aus der Sicht des Krankenhauspsychiaters, NJW 1965, 330; - Hanack, Sozialtherapie und Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, JR 1975, 441; - Koch, Wann ist die Unterbringung eines Geisteskranken erforderlich?, MDR 1961, 651; - Last, Zur Anwendung des § 42 b StGB, NJW 1969,1558; Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit, in Göppinger-Witter, Handbuch der foren-
* Siehe § 65 Anm. I. 282
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 63
sischen Psychiatrie, S. 187 ff.; - Schmitz, Die Unterbringung minderjähriger Rechtsbrecher nach § 42 b StGB, MSchrKrim 1964, 152; - siehe auch die Hinweise unter 13 vor §61.
2. Die auslösende Tat (Anlaßtat) muß eine rechtswidrige Tat (§11 Abs. 1 Nr. 5) sein, die der Täter im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen hat. a) Ergibt sich die Sdiuldunfähigkeit (§ 20) erst während des Verfahrens (und liegt auch kein Fall des § 330 a vor), so ist der Angeklagte von dem Vorwurf der ihm zur Last gelegten Tat freizusprechen. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erfolgt in diesem Fall, wenn alle übrigen Voraussetzungen des § 63 vorliegen, isoliert, d. h. nicht in Verbindung mit einer Strafe. Steht die Schuldunfähigkeit bereits nach Abschluß des Ermittlungsverfahrens fest, so erfolgt die Anordnung der Unterbringung im sog. Sicherungsverfahren nach §§ 413 ff. StPO (siehe auch 7 vor § 61). b) Bei vermindert schuldfähigen Tätern (§ 21) tritt die Maßregel der Unterbringung grundsätzlich neben die Strafe. Eine isolierte Anordnung kommt in diesem Fall nur in Betracht, wenn das Strafverfahren wegen Verhandlungsunfähigkeit des Täters nicht durchgeführt werden kann (vgl. § 413 StPO i. V. mit § 71 Abs. 1). c) Die Unterbringung ist auch dann zulässig, wenn sich nicht mit Sicherheit feststellen läßt, ob der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen hat (BGH 18, 167). Eine Bestrafung kann in diesem Fall allerdings - wenn kein Fall der a. 1. i. c. oder des § 330 a vorliegt nicht erfolgen. Läßt sich nicht klären, ob die Voraussetzungen des § 21 überhaupt vorlagen, so ist zwar bei der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten davon auszugehen, daß seine Schuldfähigkeit vermindert war; seine Unterbringung ist jedoch unzulässig, da § 63 mindestens verminderte Schuldfähigkeit voraussetzt (vgl. BGH 14, 68, 71; GA 1965,250; h. L.). d) Uber rechtswidrige Tat siehe § 11 Abs. 1 Nr. 5. Erforderlich ist demnach, daß eine Handlung vorliegt, die alle objektiven und subjektiven Merkmale eines gesetzlichen Tb. verwirklicht (Versuch und Teilnahme genügen), ohne daß der Täter sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann. Zum subj. Tb. gehört auch der Vorsatz. Ähnlich wie bei § 330 a ist auch bei der Entscheidung über die Zulässigkeit einer Unterbringung umstritten, ob ein auf dem psychischen Defekt des Täters beruhender Tatbestandsirrtum sich zugunsten des Täters auswirken kann. Die Ausführungen zu § 330 a (Anm. 3 b, aa) gelten hier entsprechend, d. h. die Zulässigkeit der Unterbringung nach § 63 muß entgegen der bisherigen Rspr. des Bundesgerichtshofs (BGH 3, 287) und einem Teil der Lehre (vgl. Bockelmann AT 262; Lackner 2 a; Lang-Hinrichsen LK 14 ff. vor § 42 b aF m. weit. Nachw.) entschieden verneint werden, da eine vorsatzlos begangene Handlung keine tatbestandsmäßige Handlung darstellt, und zwar ohne Rücksicht darauf, aus welchem Grund der Vorsatz entfällt (übereinstimmend Bruns JZ 1964, 473; Blei AT 385; Dreher 2; Jescheck AT 609; Maurach AT 888; Welzel 254). Wenn z. B. ein Geisteskranker aufgrund seiner Geisteskrankheit gar nicht erkennt, daß er die von ihm bei Abschluß eines Vertrags eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllen kann, so liegt schon tatbe-
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
standsmäßig kein Betrug vor. Für eine Unterbringung nach § 63 ist kein Raum. In Betracht kommt lediglich die Unterbringung nach den landesrechtlichen Unterbringungsgesetzen, soweit deren Voraussetzungen im Einzelfall vorliegen. Anders zu beurteilen sind dagegen die Fälle, in denen ein Schuldunfähiger aufgrund seines pathologischen Zustands irrig Tatumstände annimmt, bei deren Vorliegen er gerechtfertigt wäre (z. B. Fall der Putativnotwehr). In diesen Fällen fehlt es nach der hier vertretenen Ansicht nicht am Vorsatz, sondern nur an der Schuld (vgl. § 16 Anm. 3 e), so daß einer Unterbringung nach § 63 nichts entgegensteht (übereinstimmend BGH 10, 355 und die h. L.). e) Bagatelldelikte wie Zechprellereien scheiden als Anlaßtaten zumindest dann aus, wenn sie bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere des Vorlebens, keine weiteren erheblichen Straftaten befürchten lassen (vgl. Ber. S. 17 BT-Drucks. V/4094; BGH 24, 134; h. L.). Andererseits kann auch eine verhältnismäßig geringfügige Tat (z. B. ein Einbruch, bei dem nur 100,- DM aus einem Büroschrank erbeutet wurden) zur Anordnung von Unterbringung führen, wenn sie für eine erhebliche Gefährlichkeit des Täters symptomatisch sind (vgl. BGH 24, 134, 136; Baumann, Unterbringungsrecht S. 40; Jescheck AT 609). 3. Aufgrund des pathologischen Zustands müssen auch in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sein, die den Täter als gefährlich erscheinen lassen. a) Der Begriff der erheblichen Tat, der bereits im früheren Recht als Voraussetzung für die Anordnung der Sicherungsverwahrung verwendet wurde, findet sich als entscheidendes Kriterium bei allen freiheitsentziehenden Maßregeln (vgl. §§ 64, 65, 66), außerdem bei der Maßregel des Berufsverbots (vgl. § 70 Abs. 1). Er ist damit zu einem Zentralbegriff des Maßregelrechts geworden (Zipf JuS 1974, 274). Hierbei erscheint es geboten, bei den freiheitsentziehenden Maßregeln strengere Anforderungen zu stellen als bei der Maßregel des Berufsverbots. Auch innerhalb der freiheitsentziehenden Maßregeln ist eine Differenzierung unabweislich. Die strengsten Anforderungen sind bei der Sicherungsverwahrung zu stellen, die sich nach wie vor als die schwerwiegendste Maßregel darstellt (vgl. BGH 25, 38). Aus dem Gesagten folgt, daß eine Straftat zumindest dann „erheblich" ist, wenn die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 3 vorliegen (siehe hierzu § 66 Anm. IV 1). Diese „Höhenmarke" muß jedoch bei den übrigen Maßregeln nicht unbedingt erreicht werden. „Erheblich" ist aber auch bei den übrigen Maßregeln mehr als „nicht unerheblich". Die Erheblichkeitsklausel in § 63 sollte vor allem verhindern, daß die schwerwiegende Maßregel auch zur Abwehr nur „lästiger" Taten eingesetzt wird (Hanack JR 1977, 170 m. Nachw.). Erforderlich sind deshalb mindestens Taten der mittleren Kriminalität, z. B. Diebstähle und Betrügereien mittleren Ausmaßes, Gewalttätigkeiten, aber auch Verstöße gegen das BTMG (vgl. Dreher 8). Entscheidend sind dabei immer die Umstände des Einzelfalls, namentlich Art und Gefährlichkeit der konkret drohenden Taten, aber auch ihre vermutliche Häufigkeit. Eigentumsdelikte sind deshalb zumindest dann „erheblich" i. S. der Vorschrift, wenn sie serienmäßig begangen werden (BGH bei Daliinger MDR 1975,724; JR 1977,169 m. Anm. Hanack). b) Eine Gefahr für die Allgemeinheit liegt auch dann vor, wenn „nur" eine Gefahr für einzelne vorliegt, z. B. für die Ehefrau (BGH NJW 1976,1159 m. Nachw.). Entscheidender Zeitpunkt für die Gefährlichkeitsprognose ist die Hauptverhandlung (Einzelheiten 5 vor § 61). Über die Bedeutung des Grundsatzes in dubio pro reo in diesem Zusammenhang siehe 6 vor § 61. 284
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 64
4. Die Subsidiaritätsklausel des Abs. 2 gibt ab 1. 1. 1978* die Möglichkeit, die psychiatrischen Krankenhäuser von solchen Fällen zu entlasten, die sich besser für die sozialtherapeutischen Anstalten und den dort zur Verfügung stehenden spezifischen Mitteln der Resozialisierung eignen (vgl. § 65 Abs. 3). In Betracht kommen vor allem solche Täter, die weniger einer psychiatrischen als vielmehr einer psychologischen und sozialpädagogischen Behandlung bedürfen. 5. Abgesehen von den unter 4. erörterten Fällen des Abs. 2 ist die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zwingend, wenn alle Voraussetzungen des § 63 vorliegen. Insbesondere wäre es unzulässig, bei einem vermindert Schuldfähigen die Anordnung der Unterbringung durch eine unangemessene Erhöhung der Freiheitsstrafe zu ersetzen (BGH 20, 264). Auf die Anordnung der Unterbringung darf auch nicht mit Rücksicht auf die Möglichkeit der Unterbringung nach landesrechtlichen Unterbringungsgesetzen verzichtet werden (BGH 24, 98). Dies gilt selbst dann, wenn der Betroffene sich auf Grund derartiger Gesetze bereits in einem Krankenhaus befindet (BGH aaO.). 6. Beachte ferner § 67 (Reihenfolge der Vollstreckung), § 67 a (Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel), § 67 b (Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung), § 67 c (späterer Beginn der Unterbringung), § 67 d (Dauer der Unterbringung), § 67 e (Überprüfung der weiteren Erforderlichkeit der Unterbringung), § 67 g (Widerruf der Aussetzung), § 71 (selbständige Anordnung) sowie § 72 (Verbindung von Maßregeln). 7. Die Befreiung eines Untergebrachten ist nach § 120 strafbar. Siehe ferner §§ 258, 258 a (Vollstreckungsvereitelung) und § 330 b (Gefährdung einer Entziehungskur). 8. Prozessual beachte §§ 80 ff., 126 a, 246 a StPO. Wegen „in dubio pro reo" siehe 6 vor §61.
§ 64
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
(1) Hat jemand den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird er wegen einer rechtswidrigen Tat, die er im Rausch begangen hat oder die auf seinen Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an, wenn die Gefahr besteht, daß er infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. (2) D i e Anordnung unterbleibt, wenn eine Entziehungskur von vornherein aussichtslos erscheint. 1. Die durch das 2. StrRG in Anlehnung an § 83 E 1962 neu gefaßte Vorschrift tritt an die Stelle des früheren § 42 c. Ihr Anliegen geht dahin, suchtkranke Delinquenten durch * Siehe § 65 Anm. I. 285
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
stationäre Behandlung von ihrer Sucht zu befreien und auf diese Weise von weiteren suchtbedingten Taten abzuhalten. Im Vordergrund steht somit eindeutig die Resozialisierung, nicht die Sicherung (vgl. Ber. S. 26 BT-Drucks. V/4095). In Übereinstimmung mit der früheren Rspr. (vgl. z. B. Neustadt NJW 1964, 2435) stellt Abs. 2 jetzt auch klar, daß die Anordnung der Unterbringung unterbleibt, wenn eine Entziehungskur von vornherein aussichtslos erscheint. Schrifttum: Hermann, Der Drogenmißbrauch und seine Bekämpfung, ZStW 86, 423; Kreuzer, Der Drogenmißbrauch und seine Bekämpfung, ZStW 86, 379; - Kulimann, Entziehung der Freiheit von Geisteskranken und Suchtkranken, 1971. - Weitere Nachweise unter 13 vor § 61 und § 63 Anm. 1. 2. Ein Hang, alkoholische Getränke (§ 330 a Anm. 2 a) oder andere berauschende Mittel (§ 330 a Anm. 2 b) zu nehmen, liegt vor, wenn der Täter aufgrund längerer Gewöhnung ständig oder in bestimmten Abständen den unwiderstehlichen Drang verspürt, zu solchen Getränken oder Mitteln zu greifen (BGH 3, 339). Von strafrechtlicher Bedeutung wird dieser Hang allerdings erst, wenn der Täter aufgrund seines Hangs alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß, d. h. in solchen Mengen zu sich nimmt, daß er in einen Rauschzustand gerät oder daß seine Arbeits- und Leistungsfähigkeit nicht unerheblich beeinträchtigt wird (BGH aaO.). Keine „Trunksucht" in diesem Sinn liegt vor, wenn jemand zwar regelmäßig, aber nie mehr trinkt, als er ohne Schaden für seine Gesundheit und seine Leistungsfähigkeit vertragen kann. 3. Die auslösende Tat (Anlaßtat) muß eine rechtswidrige Tat sein, die der Täter im Rausch begangen hat oder die auf seinen Hang zurückgeht. a) Über rechtswidrige Tat siehe § 11 Abs. 1 Nr. 5 sowie § 63 Anm. 2 d. Ein Rausch kann auch dann vorliegen, wenn die Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit noch nicht so erheblich ist, daß sie in den Bereich des § 21 führt (vgl. BGH JR 1957, 225). b) Ob der Rausch die Schuldfähigkeit nur beeinträchtigt oder ganz ausschließt, ist seit der Neufassung der Vorschrift durch das 2. StrRG unerheblich, da die Maßregel jetzt nicht nur neben der Strafe, sondern auch isoliert angeordnet werden kann (vgl. § 71). c) Hangbedingt ist die Tat, wenn sie mit der Trunk- oder Rauschmittelsucht in innerem Zusammenhang steht, d. h. ihre Wurzel im übermäßigen Genuß von Alkohol oder Rauschmitteln oder in der Gewöhnung daran hat (vgl. Celle NJW 1958, 270; h. L.) und für die Trunk- bzw. Rauschmittelsucht symptomatisch ist (vgl. BGH bei Daliinger MDR 1971, 894). Als derartige Symptomtaten kommen Straftaten aller Art in Betracht, insbesondere Verstöße gegen das BTMG, Diebstähle, Betrügereien und Urkundenfälschungen, um sich in den Besitz von Alkohol oder Rauschmitteln zu bringen (sog. Beschaffungskriminalität), aber auch Verletzung der Unterhaltspflicht (§ 170 b) sowie Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht (§ 170 d). 4. Uber die Gefahr weiterer erheblicher Taten siehe zunächst § 63 Anm. 3 a. Da die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt keinen Sicherungscharakter hat, sondern ausschließlich der Resozialisierung des Süchtigen dient, und nicht erforderlich ist, daß der Täter eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, sind an die Voraussetzungen der „Erheblichkeit" geringere Anforderungen zu stellen als bei den übrigen freiheitsentziehenden Maßregeln (die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gilt auch wegen ihrer begrenzten Dauer als die mildeste aller freiheitsentziehenden Maßregeln). Straftaten aus 286
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 65
dem Bereich der Bagatellkriminalität scheiden andererseits mangels Erheblichkeit grundsätzlich aus, jedoch können auch Zechprellereien, Warenhausdiebstähle und ähnliche Delikte aus dem Bereich der leichteren Kriminalität dadurch „erheblich" werden, daß sie serienweise begangen wurden (sog. additive Erheblichkeit, vgl. Zipf JuS 1974, 275; zum Ganzen siehe auch Greiser NJW 1971, 789). Besteht bei einer Alkohol- oder Drogenabhängigkeit lediglich die Gefahr einer Seibstgefähidung, so führt dies nicht zu einer Unterbringung mit den Mitteln des Straf rechts; in diesen Fällen kommt vielmehr nur eine Unterbringung auf Grund der landesrechtlichen Unterbringungsgesetze in Betracht (vgl. Hamm NJW 1974, 614). 5. Uber die Bedeutung der Rückiallprognose und den für sie maßgeblichen Zeitpunkt siehe 5 vor § 61, über die Bedeutung des Grundsatzes in dubio pro reo in diesem Zusammenhang 6 vor § 61. 6. Die Unterbringung muß erforderlich sein, um den Täter von seiner Sucht zu befreien. Die Notwendigkeit ihrer Anordnung entfällt jedoch nicht schon dadurch, daß der Täter bereit ist, sich einer freiwilligen Entziehungskur zu unterziehen oder einem Enthaltsamkeitsverein anzuschließen. In diesem Fall hat das Gericht jedoch die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen, wenn der Zweck der Unterbringung auch durch eine freiwillige Kur usw. erreicht werden kann (vgl. Begr. zu § 83 E 1962). Einzelheiten siehe § 67 b. 7. Abs. 2 will verhindern, daß ein Suchtkranker in einer Entziehungsanstalt nur verwahrt wird, ohne daß Aussicht besteht, ihn von seiner Sucht zu befreien und auf diese Weise zu resozialisieren. Steht zweifelsfrei fest, daß eine Resozialisierung nicht möglich ist (z. B. nach wiederholter, ergebnisloser Unterbringung), so ist eine Anordnung nach § 64 unzulässig, jedoch sollte jede Möglichkeit einer Heilung wahrgenommen werden (vgl. Neustadt NJW 1964, 2435). Für offensichtlich und zweifelsfrei unverbesserliche Suchtkranke kommt eine Unterbringung nach §§ 63, 65 oder 66 in Betracht, wenn auch die Voraussetzung dieser Maßregeln vorliegen.
§ 65
Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt
(1) Das Gericht ordnet die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt neben der Strafe an, wenn 1. der Täter eine schwere Persönlichkeitsstörung aufweist und wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt wird, nachdem er wegen vorsätzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist und wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens einem Jahr Strafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat, und die Gefahr besteht, daß er weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, oder 287
§ 65
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
2. der Täter wegen einer vorsätzlichen Straftat, die auf seinen Geschlechtstrieb zurückzuführen ist, zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wird und die Gefahr besteht, daß er im Zusammenhang mit seinem Geschlechtstrieb weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Unterbringung wird nur dann angeordnet, wenn nach dem Zustand des Täters die besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen einer ärztlich geleiteten sozialtherapeutischen Anstalt zu seiner Resozialisierung angezeigt sind. (2) Wird jemand wegen einer vor Vollendung des siebenundzwanzigsten Lebensjahres begangenen vorsätzlichen Straftat zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt an, wenn 1. der Täter vor dieser Tat, aber nach Vollendung des sechzehnten Lebensjahres, zwei vorsätzliche, erhebliche Straftaten begangen hat, derentwegen Fürsorgeerziehung angeordnet oder Freiheitsstrafe verhängt worden ist, 2. vor der letzten Tat mindestens für die Zeit von einem Jahr Fürsorgeerziehung in einem Heim durchgeführt oder Freiheitsstrafe vollzogen worden ist und 3. die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten die Gefahr erkennen läßt, daß er sich zum Hangtäter entwickeln wird. (3) Liegen bei einem Täter die Voraussetzungen des § 63 Abs. 1 vor, so ordnet das Gericht statt der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt an, wenn nach dem Zustand des Täters die besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen dieser Anstalt zu seiner Resozialisierung besser geeignet sind als die Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus. (4) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 und des Absatzes 2 gilt § 48 Abs. 3, 4 sinngemäß. In den Fällen des Absatzes 2 bleibt die Durchführung der Fürsorgeerziehung außer Betracht, wenn zwischen ihrer Aufhebung und der folgenden Tat mehr als zwei Jahre verstrichen sind; in die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. (5) Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine vorsätzliche Tat wäre. I. Die durch das 2. StrRG neu eingeführten Vorschriften über die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt treten erst am 1. 1. 1978 in Kraft (vgl. § 1 des Gesetzes v. 30. 7. 1973, BGBl. 1909). Das ursprünglich bereits zum 1. 10. 1973 vorgesehene Inkrafttreten (vgl. Art. 7 des 2. StrRG) mußte hinausgeschoben werden, da die für die Einrichtung der Anstalten zuständigen Bundesländer nicht in der Lage sind, vor 1978 die finan-
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ziellen Mittel und das erforderliche Fachpersonal bereitzustellen. Bis dahin hofft man jedoch, leistungsfähige Anstalten geschaffen zu haben, wobei die Möglichkeit besteht, auf die Erfahrungen zurückzugreifen, die in den letzten Jahren im Vollzugskrankenhaus Hohenasperg, in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Abteilung der Vollzugsanstalt Kassel und in der Sonderanstalt Hamburg-Bergedorf gesammelt werden konnten. Obwohl Maßregeln der Besserung und Sicherung nach § 2 Abs. 6 dem Rückwirkungsverbot grundsätzlich nicht unterliegen, darf die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt wegen einer Tat, die vor dem 1.1. 1978 begangen worden ist, nicht angeordnet werden (vgl. Art. 301 EGStGB i. V. mit dem in § 2 Abs. 6 enthaltenen Gesetzesvorbehalt). Anliegen der neuen Einrichtung ist es, bestimmte Tätergruppen, von denen auf Grund ihrer besonderen Persönlichkeitsstruktur (insbesondere auf Grund schwerer Persönlichkeitsstörungen auf dem Gebiet des Gefühls- und Trieblebens, Einzelheiten s. u. III) auch in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten erwartet werden müssen, in einer ärztlich geleiteten Anstalt durch spezifische Therapie und soziale Hilfe der Resozialisierung zuzuführen und auf diese Weise vor der Gefahr des Rückfalls zu bewahren. Um zu vermeiden, daß die psychotherapeutischen Anstalten zum Abstellgleis für Störer und im Vollzug schwierige Gefangene werden, sieht die sog. Eignungsklausel des Abs. 1 S. 2 vor, daß die Unterbringung nur bei solchen Tätern angeordnet wird, nach deren Zustand die spezifischen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen „angezeigt" sind. Einzuweisen sind also nur solche Täter, die nicht nur behandlungsbedürftig, sondern auch behandlungsfähig sind. Als Vorbilder der sozialtherapeutischen Anstalten haben im europäischen Ausland die Anstalt in Herstedvester (Dänemark), die „Van-der-Houven-Klinik" in Utrecht und die „Maxwell-Jones-Clinic" in London zu gelten. In der Bundesrepublik Deutschland konnten schon in der psychiatrischen Abteilung des Vollzugskrankenhauses Hohenasperg (Baden-Württemberg), in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Abteilung der Vollzugsanstalt Kassel und in der Sonderanstalt Hamburg-Bergedorf Erfahrungen gesammelt werden (vgl. Ber. S. 27 BT-Drucks. V/4095). Auch in Berlin-Tegel, Düren, Ludwigshafen und Gandersheim wurde schon wertvolle Vorarbeit geleistet. Schrifttum: Brauneck, Die sozialtherapeutische Anstalt, in: Programm für ein neues Strafgesetzbuch, 1968, S. 140; - Dilger, Das Wesen der Sozialtherapie und ihre Bedeutung in der Strafrechtsreform, MSchrKrim. 1969, 255; - Eisenberg, Zum Behandlungskonzept der sozialtherapeutischen Anstalten, NJW 1969, 1553; - Grosbüsch, Die sozialtherapeutische Anstalt, JA 1977, 279, 327; - Gummel, Jungtäterverwahrung, 1972; - Hanack, Individuum und Gesellschaft, 1972; - G. und R. Mauch, Sozialtherapie und sozialtherapeutische Anstalt, 1971; - Stürup, Einige wesentliche Elemente für Einrichtung und Betrieb einer sozial therapeutischen Anstalt, Heinitz-Festschr. S. 533. II. Die spezifischen Wirkungsmöglichkeiten der sozialtherapeutischen Anstalten ergeben sich daraus, daß die unter ärztlicher Leitung stehenden Anstalten durch den Einsatz besonders geschulter Fachkräfte (Psychiater, Psychotherapeuten, Psychologen, Sozialarbeiter) und spezifischer therapeutischer Behandlungsmethoden die angestrebte Resozialisierung effektiver gestalten können als im Regelvollzug. Als spezifische Behandlungsmethoden kommen insbesondere Einzel- und Gruppentherapie sowie Gruppenpädagogik in Betracht, außerdem progressive Formen des Vollzugs (z. B. Vollzug in offenen und halboffenen Anstalten), selbstverantwortliche Mitwirkung des Untergebrachten in der Selbstverwaltung der Anstalt, Kontaktpflege mit der Außenwelt, Anleitung zu sinnvoller Arbeit sowie - bei Triebtätern - gezielte medikamentöse Behandlung sowie die Möglichkeit einer freiwilligen Kastration (vgl. Ber. S. 30 BT-Drucks. V/4095). Behandlungsziel 10
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sollte es sein, den Untergebrachten so in die Gesellschaft zu integrieren, daß er in der Lage ist, in der Freiheit sozial angepaßt zu leben, d.h. seine Lebensbedürfnisse eigenverantwortlich zu befriedigen und auftretende Interessenkonflikte im Einklang mit den allgemein anerkannten „Spielregeln" der Gesellschaft zu lösen. III. Die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt ist für insgesamt vier Tätergruppen vorgesehen. 1. Die erste Gruppe umfaßt Rückfalltäter, die eine schwere Persönlichkeitsstörung aufweisen, wegen einer Vorsatztat zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens 2 Jahren verurteilt wurden und weitere erhebliche rechtswidrige Taten befürchten lassen (Abs. 1 Nr. 1). a) Der Begriff der schweren Persönlichkeitsstörung ist im Gesetz nicht definiert. Auch den Gesetzesmaterialien kann eine präzise Definition oder authentische Interpretation nicht entnommen werden. Der Sonderausschuß hat es bewußt vermieden, eine Formulierung zu wählen, die sich an die in § 20 verwendeten Begriffe „seelische Störung" und „seelische Abartigkeit" anlehnt (vgl. S. 28 BT-Drucks. V/4095). Auch der nicht eindeutig bestimmbare Begriff der „Psychopathie" wurde bewußt vermieden. Dessen ungeachtet wird man gerade in seelischen Störungen und Abartigkeiten (siehe hierzu § 20 Anm. 3), die zu psychopathischen Persönlichkeitsveränderungen führen, häufig die biologischen Elemente der „schweren Persönlichkeitsstörung" zu sehen haben. Nicht erforderlich ist, daß diese Elemente Krankheitswert haben und die strafrechtliche Verantwortlichkeit beeinträchtigen. Es genügt vielmehr jede erheblich von der Norm abweichende Persönlichkeitsstruktur, die im sozialen Leben zu Verhaltens- und Einordnungsschwierigkeiten führt (vgl. Hanack aaO. 28). b) Die formellen Voraussetzungen (Verurteilung wegen einer Vorsatztat zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens 2 Jahren, zwei Vorverurteilungen zu mindestens 1 Jahr Freiheitsstrafe, Vorverbüßung oder Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel in Höhe von mindestens 1 Jahr) zeigen, daß nur wirklich ernste Fälle der spezifischen Behandlung in einer sozialtherapeutischen Anstalt zugeführt werden sollen. c) Zu den materiellen Voraussetzungen gehört neben der Feststellung der schweren Persönlichkeitsstörung (s. o. lit. a) die Gefahr, daß der Täter auch weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten (siehe hierzu § 63 Anm. 3 a) begehen wird. Wegen der Gefährlichkeitsprognose siehe 5 vor § 61, wegen der Bedeutung des Grundsatzes in „dubio pro reo" 6 vor § 61. Ein Kausalzusammenhang zwischen der Persönlichlichkeitsstörung einerseits und den begangenen Taten bzw. den für die Zukunft befürchteten Straftaten andererseits muß weder nachgewiesen noch dargetan werden (vgl. Ber. S. 28 BT-Drucks. V/4095). Das Gesetz geht offenbar davon aus, daß ein solcher Zusammenhang immer zu vermuten ist (Bockelmann AT 269). d) Weitere materielle Voraussetzung ist auf Grund der Eignungs- oder Indikationsklausel des Abs. 1 Nr. 1 S. 2 neben der Resozialisierungsbedürftigkeit die Resozialisierungsfähigkeit. „Angezeigt" ist die Unterbringung des Resozialisierungsbedürftigen nur, wenn er für die spezifischen Behandlungsmethoden der sozialtherapeutischen Anstalt (s. o. II) empfänglich ist. Täter, die aus mangelndem Interesse an ihrer Resozialisierung oder aus sonstigen Gründen offensichtlich ungeeignet für einen Resozialisierungsversuch mit den spezifischen Mitteln der Sozialtherapie sind, gehören in keine sozialtherapeutische
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Anstalt, sondern - je nach den Umständen des Einzelfalls - in ein psychiatrisches Krankenhaus oder in die Sicherungsverwahrung, deren formelle Voraussetzungen sich mit denen des § 65 Abs. 1 Nr. 1 weitgehend decken. Der ganz auf Resozialisierung ausgerichtete Betrieb der sozialtherapeutischen Anstalten darf durch solche Täter nicht gestört und belastet werden. Zeigt sich die mangelnde Resozialisierungsfähigkeit des Untergebrachten erst während der Vollstreckung der Maßregel, so kommt nach § 67 a Abs. 1 die Überweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus o d « eine Entziehungsanstalt in Betracht; eine Überweisung in die Sicherungsverwahrung ist allerdings unzulässig (§ 67 a Abs. 2). 2. Die zweite Gruppe umfaßt Triebtäter, die wegen einer auf ihrem Geschlechtstrieb beruhenden Vorsatztat zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr verurteilt wurden und weitere erhebliche rechtswidrige Taten, die mit ihrem Geschlechtstrieb in Zusammenhang stehen, befürchten lassen (Abs. 1 Nr. 2). a) Die formellen Voraussetzungen der Nr. 2 sind wesentlich weniger streng als im Falle der Nr. 1, um gefährliche Triebtäter möglichst rechtzeitig einer sozialtherapeutischen Behandlung zuführen zu können. Es genügt daher die Verurteilung wegen einer Vorsatztat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr. Vorstrafen sind nicht erforderlich. b) Materielle Voraussetzung ist zunächst, daß die Anlaßtat auf den Geschlechtstrieb zurückzuführen ist, d. h. mit diesem in innerem Zusammenhang steht. In Betracht kommen insbesondere Straftaten nach den §§ 175-179, aber auch sexuell motivierte Körperverletzungen. Exhibitionistische Handlungen nach § 183 kommen dagegen als Anlaßtat nur dann in Betracht, wenn der Täter zur gesetzlich zulässigen Höchststrafe von einem Jahr verurteilt wird. Auch die weiterhin zu erwartenden erheblichen rechtswidrigen Taten (siehe hierzu § 63 Anm. 3 a) müssen mit dem Geschlechtstrieb des Täters in einem inneren Zusammenhang stehen. Wegen der Rückfallprognose siehe 5 vor § 61, wegen der Bedeutung des Grundsatzes „in dubio pro reo" 6 vor § 61. c) Auch bei den Fällen der Nr. 2 ist die Eignungs- oder Indikationsklausel des Abs. 1 S. 2 zu beachten (s. o. 1 d). 3. Die dritte Gruppe umfaßt Jungtäter, d. h. Personen, die vor Vollendung ihres 27. Lebensjahres bereits wiederholt wegen erheblicher Taten in Erscheinung getreten sind, schon mindestens 1 Jahr im Strafvollzug oder in Heimerziehung gewesen sind und die Gefahr einer Entwicklung zum Hangtäter erkennen lassen. a) Anlaßtat kann nach Abs. 2 nur eine Vorsatztat sein, deretwegen der Täter zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr verurteilt wird. Außerdem muß der Täter schon vor dieser Tat, aber nach Vollendung seines 16. Lebensjahres, als Vortat mindestens zwei weitere erhebliche Vorsatztaten begangen haben, derentwegen Freiheitsstrafe verhängt oder Fürsorgeerziehung angeordnet worden ist (Abs. 2 Nr. 1). Nicht erforderlich sind auch zwei Vorverurteilungen. Es genügt, daß die beiden Vorsatztaten in einem Verfahren abgeurteilt wurden. Wegen der Vorverbüßung (mindestens 1 Jahr Freiheitsstrafe oder Fürsorgeerziehung in einem Heim) siehe Abs. 2 Nr. 2. Zu beachten ist, daß die Fürsorgeerziehung den Täter nicht nur dann belastet, wenn sie wegen einer strafbaren Handlung angeordnet worden ist (Ber. S. 29 BT-Drucks. V/4095). Wegen der Rückfallverjährung siehe Abs. 4. 10'
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
b) Materielle Voraussetzung ist die Gefahr, daß der Jungtäter sich auf Grund seiner Persönlichkeit und der Art seiner Taten zu einem Hangtäter entwickelt (siehe hierzu § 66 Anm. IV 1). c) Eine besondere Eignungs- oder Indikationsklausel ist bei Jungtätern - anders als bei den persönlichkeitsgestörten Rückfalltätern (s. o. 1) und den Triebtätern (s. o. 2) - nicht vorgesehen. Das Gesetz geht vielmehr davon aus, daß bei jungen Menschen, deren Entwicklung eine gefährliche Ricfitung nimmt, die sozialtherapeutische Behandlung immer „angezeigt" ist (Ber. S. 29 BT-Drucks. V/4095). 4. Die vierte Gruppe umfaßt schuldunfähige und vermindert schuldfähige Täter, bei denen an sich die formellen und materiellen Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 63 in einem psychiatrischen Krankenhaus vorliegen, die jedoch in einer sozialtherapeutischen Behandlung erfolgversprechender behandelt werden können als in einem psychiatrischen Krankenhaus (Abs. 3 i. V. mit § 63 Abs. 2). IV. Abs. 4 und Abs. 5 sind nur für die Fälle von Bedeutung, in denen bestimmte Vorverurteilungen zu den formellen Voraussetzungen der Unterbringung gehören. Während Abs. 4 insbesondere den Komplex der Rückfallverjährung behandelt, bestimmt Abs. 5, daß - abweichend von der in § 48 Abs. 1 Nr. 1 für die Rückfallschärfung getroffenen Regelung - auch Auslandstaten als Vorverurteilungen in Betracht kommen, sofern sie nicht rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechen (vgl. Ber. S. 30 BT-Drucks. V/4095). V. Wegen ergänzender und prozessualer Vorschriften siehe § 63 Anm. 6 - 8 .
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Unterbringung in der Sicherungsverwahrung*
(1) Wird jemand wegen einer nach Vollendung seines fünfundzwanzigsten Lebensjahres begangenen vorsätzlichen Straftat zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn 1. der Täter wegen vorsätzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, 2. er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und 3. die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, daß er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch * Die Altersbeschränkung in Abs. 1 und Abs. 2 sowie der Hinweis auf § 65 Abs. 5 in Abs. 3 treten nach Art. 18 Abs. IV EGStGB erst am 1. 1. 1978 in Kraft. Abs. 3 S. 3 entfällt nach dem 1.1. 1978.
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welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist ( H a n g t ä t e r ) . (2) Hat jemand drei vorsätzliche Straftaten, davon wenigstens eine nach Vollendung des fünfundzwanzigsten Lebensjahres, begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der im Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Nr. 1, 2) anordnen. (3) § 48 Abs. 3, 4 gilt sinngemäß. § 65 Abs. 5 ist anzuwenden. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine vorsätzliche Tat wäre. I. Die Sicherungsverwahrung (SV) wurde bereits durch das 1. StrRG mit Wirkung vom 1. 4. 1970 grundlegend umgestaltet. Die Zulässigkeit der Vollstreckung einer schon vor dem 1. 4. 1970 rechtskräftig angeordneten Sicherungsverwahrung wird durch die Neufassung nicht berührt (Celle NJW 1970,1199; Stgt Justiz 1971, 61; Ffm NJW 1971, 903). Die Neufassung wirkt sich auf solche Fälle nach h. A. nur im Rahmen der bedingten Entlassung aus (weitergehend Köhler NJW 1975, 1150). Das 2. StrRG hat die durch das 1. StrRG geschaffene Rechtslage in § 66 fast unverändert übernommen. Neu ist jedoch die Regelung, daß die SV gegenüber Tätern, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, unzulässig ist. Diese Beschränkung, die erst am 1.1. 1978 in Kraft tritt, ergab sich einmal aus der praktischen Erfahrung, daß die SV auch früher gegenüber frühkriminellen Hangtätern fast nie angeordnet wurde, um diesen die Zukunft nicht endgültig zu verbauen. Hinzu kommt, daß das 2. StrRG gerade für diese Tätergruppe in § 65 Abs. 2 die Möglichkeit der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt vorsieht (vgl. Ber. S. 30 BT-Drucks. V/4095). Bis zum Inkrafttreten des § 65 kann allerdings auch bei dieser Tätergruppe in Fällen besonderer Gefährlichkeit auf die Unterbringung in der SV nicht verzichtet werden (BGH NJW 1976, 300). Nach Inkrafttreten des § 65 ermöglicht § 67 a Abs. 2 die Uberweisung in eine sozialtherapeutische Anstalt (BGH aaO.). Von großer kriminalpolitischer Bedeutung ist auch die zeitliche Begrenzung der ersten Unterbringung auf die Dauer von 10 Jahren (§ 67 d Abs. 1). Anders als bei der sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65) steht bei der SV nicht die Besserung des Täters, sondern die Sicherung der Allgemeinheit im Vordergrund. Die SV ist eine letzte Notmaßnahme („ultima ratio") der Kriminalpolitik gegen schwerkriminelle und gefährliche Hangtäter, vor denen die Allgemeinheit nicht mehr durch Resozialisierung des Täters, sondern nur noch durch seine langfristige Verwahrung geschützt werden kann. Das Sicherungsbedürfnis der Bevölkerung rechtfertigt die Unterbringung in der SV allerdings nur, wenn es sich um einen Täter handelt, der die Allgemeinheit schon wiederholt durch erhebliche Straftaten beunruhigt hat und von dem auf Grund seines kriminellen Hangs weitere erhebliche Taten befürchtet werden müssen. Straftaten aus dem Bereich der unteren und mittleren Kriminalität reichen deshalb zur Anordnung der SV grundsätzlich nicht aus (vgl. BGH 24,153 ff.; 160 ff.). Einzelheiten s. u. IV 1. 293
§ 66
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Schrifttum: Blei, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Maßregeln der Sicherung und Besserung, JA 1971, StR 55; - ders., Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung, JA 1971, StR 118; - Greiser, Die Serientäter und der schwere wirtschaftliche Schaden im neuen Recht der Sicherungsverwahrung, NJW 1971, 789; - Horstkotte, Die Vorschriften des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts über den Rückfall und die Maßregeln der Sicherung und Besserung, J Z 1970, 152; - Jescheck, Die kriminalpolitische Konzeption des Alternativentwurfs usw., ZStW 80, 54; - Lang-Hinrichsen, Probleme der Sicherungsverwahrung usw., Maurach-Festschr. S. 197; - Maetzel, Überleitungsprobleme der „alten" Sicherungsverwahrung, MDR 1971, 85; - Martin, Anm. zu B G H 24, 153 in LM Nr. 1 zu § 42 e 1969; - ders., Anm. zu B G H 24, 160 in LM Nr. 2 zu § 42 e 1969; Schröder, Die „Erforderlichkeit" von Sicherungsmaßregeln, J Z 1970, 92; - Steinhilper, Sexualtäter und Sicherungsverwahrung, Diss. Heidelberg 1970; - S v e r i , Die Behandlung der gefährlichen Gewohnheitsverbrecher in den nordischen Ländern, ZStW 80, 176; Weihrauch, Der gefährliche Gewohnheitsverbrecher, Diss. Heidelberg, 1968; - ders., Die materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung, NJW 1970,1897; - Willms, Anm. zu B G H 24,243 in LM Nr. 3 zu § 42 e 1969. - Weitere Nachweise 13 vor § 61. II. Die formellen Voraussetzungen des Abs. 1 (Unterbringung gefährlicher Rückfalltäter) 1. Die auslösende Tat (Anlaßtat) muß eine nach Vollendung des 25. Lebensjahres* begangene Vorsatztat sein, deretwegen der Täter zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens 2 Jahren verurteilt wird. Neben lebenslanger Freiheitsstrafe kommt die SV nicht in Betracht. Stehen mehrere Taten zur Aburteilung, für die eine Gesamtstrafe zu bilden ist, so ist nicht die Höhe der Gesamtstrafe entscheidend. Vielmehr ist erforderlich, daß mindestens eine der Einzelstrafen, aus denen die Gesamtstrafe zu bilden ist, die Höhe von mindestens 2 Jahren Freiheitsstrafe erreicht (vgl. B G H NJW 1972, 834; Horstkotte J Z 1970, 152,155). 2. Die nach Abs. 1 Nr. 1 erforderlichen Vorverurteilungen müssen Vorsatztaten zum Gegenstand haben, derentwegen der Täter jeweils zu einer Freiheitsstrafe (auch Jugendstrafe, vgl. Ber. S. 19 BT-Drucks. V/4094) von mindestens 1 Jahr verurteilt worden ist. Die Verurteilung zu einer Gesamtstrafe gilt nach Abs. 3 i. V. mit § 48 Abs. 3 nur als eine einzige Verurteilung. Die Voraussetzungen des Abs. 1 Nr. 1 sind also nicht gegeben, wenn zwar zwei Vorverurteilungen vorliegen, diese aber nachträglich gemäß § 55 StGB oder § 460 StPO auf eine Gesamtstrafe zurückgeführt wurden. Die zweite der beiden Vorverurteilungen muß also auf jeden Fall nach Rechtskraft der ersten Vorverurteilung begangen worden sein (vgl. Horstkotte, J Z 1970, 152, 155; Lackner 3 b, bb). Die Verurteilung zu einer Gesamtstrafe erfüllt nur dann die formellen Voraussetzungen des Abs. 1, wenn in der Gesamtstrafe mindestens eine Einzelstrafe in Höhe von mindestens 1 Jahr enthalten ist (vgl. B G H 24, 243, 345; h. L.). Dies ergibt sich zwar nicht eindeutig aus dem Wortlaut, wohl aber aus der Erwägung, daß nur schwerwiegende Taten ein ausreichendes symptomatisches Gewicht für die Anordnung der SV haben können. Eine einheitliche Jugendstrafe nach § 31 J G G erfüllt die Voraussetzungen des Abs. 1 Nr. 1 nur, wenn sie erkennen läßt, daß der Täter wenigstens bei einer der ihr zugrunde liegenden Taten eine Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hätte (BGH J Z 1975,493).
* Diese zeitliche Beschränkung tritt am 1 . 1 . 1 9 7 8 in Kraft.
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Abweichend von der in § 48 Abs. 1 Nr. 1 für die Rückfallschärfung getroffenen Regelung kommen auch Auslandsverurteilungen als Vorverurteilungen in Betracht (vgl. Abs. 3 S. 2), sofern sie nicht rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechen (vgl. Ber. S. 30 BTDrucks. V/4095). Wegen der Rückfall Verjährung siehe Abs. 3 S. I i . V. mit § 48 Abs. 4. 3. Nach Abs. 1 Nr. 2 ist weiter erforderlich, daß der Täter vor Begehung der neuen Tat wegen der in Abs. 1 Nr. 1 bezeichneten Taten für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel befunden hat. Er muß also die Schärfe des Gesetzes bereits in erheblicher Form verspürt haben, so daß man sagen kann, daß er sich von der neuen Tat nicht hat abhalten lassen, obwohl er bereits hinreichend gewarnt war. Unerheblich ist dabei, ob die Vollzugsdauer von insgesamt mindestens 2 Jahren auf eine, zwei oder mehrere Verurteilungen zurückgeht. Es kann aber nur auf Verurteilungen zu Freiheitsstrafen von mindestens 1 Jahr zurückgegriffen werden. So genügt es z. B., wenn A wie folgt vorbestraft ist: 1. Verurteilung wegen Betrugs mit 1 Jahr Freiheitsstrafe, hiervon verbüßt eine Teilstrafe von 8 Monaten; 2. Verurteilung wegen Einbruchsdiebstahls mit 1 Jahr Freiheitsstrafe, Strafe voll verbüßt; 3. Verurteilung wegen Raubs zu 2 Jahren Freiheitsstrafe, Teilstrafe von 10 Monaten verbüßt, dann Strafunterbrechung. Die Voraussetzungen des Abs. 1 würden dagegen nicht vorliegen, wenn die 1. Verurteilung nur in Höhe der verbüßten 8 Monate erfolgt wäre. In diesem Fall dürfte nämlich auf die 1. Vorstrafe nicht zurückgegriffen werden, und die Strafverbüßung aufgrund der 2. und 3. Verurteilung hätte die Mindestdauer von 2 Jahren nicht erreicht. III. Die formellen Voraussetzungen des Abs. 2 (Unterbringung gefährlicher Serientäter) 1. Ausnahmsweise kann die öffentliche Sicherheit die SV auch für solche Personen erfordern, die bisher überhaupt nicht oder nur geringfügig vorbestraft sind. Hierher gehören insbesondere solche Fälle, in denen es einem Gewaltverbrecher oder Serientäter gelungen ist, sich jahrelang seiner Verantwortung zu entziehen. 2. Es ergibt sich aus der Natur der SV als letzter Notmaßnahme der Kriminalpolitik (s. o. I 2), daß hinsichtlich der einzelnen, zur Aburteilung stehenden Taten noch strengere Anforderungen zu stellen sind als im Falle des Abs. 1. Im einzelnen sind erforderlich: a) mindestens drei vorsätzliche Straftaten; diese dürfen untereinander nicht in Fortsetzungszusammenhang stehen, sondern müssen rechtlich selbständig sein; b) Straftaten, die noch nicht abgeurteilt sind, dürfen nur dann der SV zugrunde gelegt werden, wenn sie Gegenstand der Anklage und des Eröffnungsbeschlusses sind und gleichzeitig abgeurteilt werden (BGH 25,44); c) alle drei Straftaten müssen so erheblich sein, daß der Täter für jede von ihnen eine Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr verwirkt hat; d) der Täter muß zu einer Gesamtstrafe von mindestens 3 Jahren verurteilt werden. 3. Im Gegensatz zur Rechtslage in Abs. 1 ist bei Vorliegen der Voraussetzungen des Abs. 2 die Anordnung der SV nicht zwingend; es handelt sich vielmehr um eine Kann-
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Vorschrift. Der Richter soll die Möglichkeit haben, sich auf die Verhängung einer hohen Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, der Täter werde sich die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lassen.
IV. Die materiellen Voraussetzungen 1. Der Täter muß einen Hang zu erheblichen Straftaten besitzen. a) Die Ursache des Hangs ist unerheblich. Insbesondere wird die Anordnung der SV nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Täter sich aus Willensschwäche zu seinen Taten hat hinreißen lassen (BGH 24, 160 f.). Aber auch verminderte Schuldfähigkeit steht der Anordnung der SV nicht entgegen (BGH aaO.). b) Der Begriff der erheblichen Straftat ist enger auszulegen als bei den übrigen freiheitsentziehenden Maßregeln (vgl. § 63 Anm. 3 a). Erheblich sind nach der beispielhaften Erwähnung in Abs. 1 Nr. 3 vor allem solche Straftaten, durch die das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt wird (z. B. durch Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Vornahme sexueller Handlungen an Kindern) oder durch die schwerer wirtschaftlicher Schaden entsteht. Hierbei ist nicht erforderlich, daß das Opfer aus wirtschaftlichen Gründen besonders schadensempfindlich ist (BGH 24, 160, 162). Auch Bankeinbrüche, Raubüberfälle auf Geldinstitute jeder Art oder die Erpressung von Großunternehmern kann zur Anordnung der SV führen. Ein „schwerer wirtschaftlicher Schaden" kann aber auch dann vorliegen, wenn der Täter eine große Betrugskampagne inszeniert, bei der die einzelnen Betroffenen nur einen verhältnismäßig geringen Schaden erleiden, der Gesamtschaden aber beträchtlich ist (vgl. Ber. S. 20 BT-Drucks. V/4094; BGH 24, 153 ff. betr. 22 Betrugstaten mit einem Gesamtschaden von 9000,- DM). Abgesehen von den beiden im Gesetz besonders hervorgehobenen Fallgruppen gehören hierher alle Straftaten, durch die die Bevölkerung besonders beunruhigt wird, z. B. nächtliche Überfälle auf Passanten, auch wenn diese nicht seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden und die Beute nicht als schwerer wirtschaftlicher Schaden angesehen werden kann. Straftaten von geringem Schweregrad reichen zur Anordnung der SV grundsätzlich nicht aus. Andererseits ist es nicht erforderlich, daß ein Verbrechen oder ein besonders schwerer Fall eines Vergehens den Gegenstand des Verfahrens bildet; auch Taten der mittleren Kriminalität können zur Anordnung der SV führen, wenn sie einen hohen Schweregrad aufweisen und der Rechtsfriede empfindlich gestört worden ist (vgl. BGH 24,153). Bei sog. Serientätern kommt es für die Beurteilung des Schweregrads nicht auf die Einzeltat, sondern auf die Gesamtwürdigung an (BGH 24, 153, 155; CeUe NJW 1970, 1199; Greiser NJW 1971, 789; Stree in Schönke-Schröder 40; kritisch hierzu Blei JA 1971, StR 118; Bockelmann AT 271; Lackner 5 a, bb). Bei bloßer Kleinkriminalität kommt eine SV allerdings auch dann nicht in Betracht, wenn der zu erwartende Schaden in der Addition erheblich wäre (vgl. Dreher 14 m. Nachw.). Zum Ganzen siehe auch Lang-Hinrichsen, MaurachFestschr. S. 311 ff. sowie Weihrauch NJW 1970,1897). 2. Der Täter muß für die Allgemeinheit gefährlich sein. a) Wegen des Zeitpunkts der Gefährlichkeitsprognose 5 vor § 61. b) Eine Gefahr für die Allgemeinheit liegt auch dann vor, wenn die Gefahr nur für einzelne Personen besteht und nur durch die Anordnung der SV abgewendet werden
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kann, z. B. wenn jemand ständig seine Angehörigen, seine Arbeitskollegen oder Nachbarn tätlich angreift, um ihnen nach dem Leben zu trachten. Von der SV kann in solchen Fällen nur dann abgesehen werden, wenn die Möglichkeit besteht, die Beziehungen zwischen dem Verurteilten und seinen Opfern so zu ändern, daß keine Gefahr mehr für diese besteht. Die Gefahr einer wirtschaftlichen Schädigung einer bestimmten Einzelperson wird deshalb die SV grundsätzlich nicht rechtfertigen (vgl. Ber. S..20 BT-Drucks. V/4094). Bei Vermögens- und Eigentumsdelikten kommt es entscheidend auf die Häufigkeit der begangenen und der zu erwartenden Tat an, wobei Zechprellereien und ähnliche Bagatelldelikte mangels Erheblichkeit auszuscheiden sind (vgl. BGH 24, 153 ff., 160 ff.; Stgt Justiz 1971, 61; Krhe NJW 1971, 204; siehe auch oben 1 b). 3. Die Beurteilung als gefährlicher Hangtäter muß auf einer Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten beruhen. Sowohl die früheren Taten als auch die neu abzuurteilende Tat müssen „symptomatisch" sein für den Hang des Täters zu erheblichen Straftaten und die sich hieraus ergebende Gefährlichkeit für die Allgemeinheit (sog. Symptomtaten, vgl. BGH 24, 153, 156 f.). Handelt es sich bei der Vorverarteilung um eine Gesamtstrafe, so kann sie nur dann als Grundlage für die Anordnung der SV herangezogen werden, wenn sie eine Symptomtat enthält, für die eine Einzelstrafe von mindestens 1 Jahr ausgesprochen wurde (BGH 24, 243). V. Der in Abs. 3 enthaltene Hinweis auf § 48 Abs. 3 bezieht sich teils auf die Einordnung einer Gesamtstrafe (s. o. II 2), teils auf die Anrechnung der U-Haft und anderer Formen der Freiheitsentziehung. Die Verweisung auf § 48 Abs. 4 bezieht sich auf die Ausscheidung von Taten, die länger als 5 Jahre zurückliegen. VI. Wegen ergänzender und prozessualer Vorschriften siehe § 63 Anm. 6-8.
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Reihenfolge der Vollstreckung*
(1) Wird die Unterbringung in einer Anstalt nach den §§ 6 3 bis 6 5 neben einer Freiheitsstrafe angeordnet, so wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen. (2) Das Gericht bestimmt jedoch, daß die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn der Zweck der Maßregel dadurch leichter erreicht wird. (3) Das Gericht kann eine Anordnung nach Absatz 2 nachträglich treffen, ändern oder aufheben, wenn Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen. (4) Wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen, so wird die Zeit des Vollzuges der Maßregel auf die Strafe angerechnet. (5) Wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen, so kann das Gericht die Vollstreckung des Strafrestes auch dann nach § 5 7 Abs. 1 zur Bewährung aussetzen, wenn noch nicht zwei Drittel der verhängten Strafe durch die Anrechnung
* Siehe § 65 Anm. I. 297
§ 67
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erledigt sind. Wird der Strafrest nicht ausgesetzt, so wird der Vollzug der Maßregel fortgesetzt; das Gericht kann jedoch den Vollzug der Strafe anordnen, wenn Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen. 1. Das System der Zweispurigkeit von Strafe und Maßregel (vgl. 1 vor § 61), und das auf ihm beruhende Kumulationsprinzip (2 vor § 61) werden bei der Vollstreckung erheblich modifiziert. a) Der Grundsatz des früheren § 456 b StPO, demzufolge eine freiheitsentziehende Maßregel grundsätzlich erst vollzogen wird, wenn eine gleichzeitig angeordnete Freiheitsstrafe verbüßt, bedingt ausgesetzt oder erlassen ist, gilt jetzt nur noch für die Sicherungsverwahrung. Es wäre verfehlt, auch auf diesem Bereich den Vorwegvollzug in Frage zu stellen. Im Gegensatz zu den anderen freiheitsentziehenden Maßregeln (§§ 63-65) wird nämlich durch den Vollzug der SV primär nicht die Resozialisierung des Täters, sondern die Sicherung der Allgemeinheit bezweckt (vgl. § 66 Anm. I). Da aber bei einem gefährlichen Hangtäter auch die Strafe primär den Sicherungszweck verfolgt, besteht kein sachliches Bedürfnis, an der überkommenen Reihenfolge des Vollzugs etwas zu ändern. Vor allem würde der Vorwegvollzug der SV zu dem unbilligen Ergebnis führen, daß solche Täter, gegen die wegen ihrer erheblichen kriminellen Gefährlichkeit nicht nur eine längere Freiheitsstrafe, sondern auch die SV angeordnet worden ist, einen wesentlich milderen Vollzug erlangen würden als diejenigen, die ungefährlicher sind und die das Gericht deshalb lediglich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt hat (Ber. S. 31 BT-Drucks. V/4095). Allerdings gilt auch bei der SV das Kumulationsprinzip nicht uneingeschränkt. Nach § 67 c hat nämlich das Vollstreckungsgericht vor dem Ende des Strafvollzugs zu prüfen, ob der Zweck der SV nicht schon durch den Vollzug der Strafe erreicht ist. Gegebenenfalls ist die Vollstreckung der SV dann zur Bewährung auszusetzen. b) Bei den übrigen freiheitsentziehenden Maßregeln (§§ 63-65) gilt seit der Neuregelung des Maßregelrechts durch das 2. StrRG das Vikariationsprinzip, d. h. die Vollstrekkung von Strafe und Maßregel sind „austauschbar". Nach § 67 Abs. 1 ist dabei die Maßregel grundsätzlich vor der Strafe zu vollziehen. Dieser Grundsatz beruht auf der Erwägung, daß die Behandlung des Täters im Vordergrund stehen muß und durch den Vorwegvollzug der Strafe möglicherweise wertvolle Jahre ungenutzt verstreichen (Ber. S. 31 BT-Drucks. V/4095). Nach Abs. 2 bestimmt das Gericht jedoch, daß die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, „wenn der Zweck der Maßregel dadurch leichter erreicht wird". Diese Voraussetzungen können nach den Vorstellungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (vgl. S. 31 BT-Drucks. V/4095) z. B. dann vorliegen, wenn es nach der Überzeugung des Gerichts angezeigt ist, den Verurteilten erst im Anschluß an den Strafvollzug in der Entziehungsanstalt unterzubringen, damit er unmittelbar von dort in die Freiheit entlassen werden kann. Ferner ist an den Fall zu denken, daß dem Täter zunächst einmal die Schwere seiner Tat durch den Vollzug der Strafe vor Augen zu führen ist. Ein solcher Vorwegvollzug der Strafe kann eine Art „Leidensdruck" erzeugen, der sich nach Ansicht von Sachverständigen bei der anschließenden Behandlung in einer sozialtherapeutischen Anstalt als nützlich erweisen kann (Ber. S. 31 BT-Drucks. V/4095). Mangelnde Platzkapazität im psychiatrischen Krankenhaus kann den Vorwegvollzug der Strafe dagegen nicht rechtfertigen (LG Dortmund NJW 1975, 2251).
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2. Nach Abs. 3 kann der nur ausnahmsweise indizierte Vorwegvollzug der Strafe durch das Gericht (vgl. § 462 a Abs. 1 StPO i. V. mit §§ 463 Abs. 5 und 462 Abs. 1 StPO) auch nachträglich getroffen, geändert oder aufgehoben werden. So kann z. B. der Vorwegvollzug der Strafe bei einem nach § 65 Untergebrachten angeordnet werden, wenn sich während des Maßregelvollzugs zeigt, daß er für eine gezielte resozialisierende Behandlung in der sozialtherapeutischen Anstalt noch nicht „reif" ist. Jedoch darf diese Möglichkeit nicht dazu mißbraucht werden, einen im Maßregelvollzug Untergebrachten, der dort Schwierigkeiten bereitet, einfach nur deshalb in den Strafvollzug abzuschieben (Ber. S. 31 BT-Drucks. V/4095). 3. Abs. 4 führt zu einer weiteren Durchlöcherung des Kumulationsprinzips. Die Anrechnung des Maßregelvollzugs auf die zugleich mit der Maßregel ausgesprochene, aber auf Grund der Regelung des Abs. 1 noch nicht vollstreckte Strafe führt nämlich, vor allem bei kürzeren Strafen, in vielen Fällen dazu, daß es zu einer Vollstreckung der Strafe überhaupt nicht mehr kommt. Durch diese Regelung soll vermieden werden, daß der Erfolg des Maßregelvollzugs durch ungünstige Einflüsse im Strafvollzug wieder in Frage gestellt wird. Zu beachten ist allerdings, daß sich nach § 67 d Abs. 1 S. 2 die Höchstfrist der Maßregel um die angerechnete Dauer der Freiheitsstrafe verlängert (Einzelheiten u. Beispiele s. § 67 d Anm. 2 c). Die Anrechnung ist zwingend und tritt kraft Gesetzes ein, so daß es insoweit keiner Entscheidung des Gerichts bedarf (vgl. Ber. S. 32 BT-Drucks. V/4095; Maurach AT 898). 4. Verbleibt nach Anrechnung des Maßregelvollzugs noch ein zu verbüßender Strafrest, so kann dieser nach Abs. 5 S. 1 auch dann zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn noch nicht zwei Drittel der verhängten Strafe durch die Anrechnung „erledigt" sind. Durch diese Regelung soll verhindert werden, daß der erfolgreich Resozialisierte ohne vernünftigen Grund davon abgehalten wird, sich wieder in Freiheit zu bewähren, und der Erfolg der Behandlung durch den Strafvollzug möglicherweise sogar beeinträchtigt wird. Zuständig für die bedingte Aussetzung ist die Strafvollstreckungskammer (vgl. § 462 a Abs. 1 StPO). Macht das Gericht von der sich aus Abs. 5 S. 1 ergebenden Möglichkeit keinen Gebrauch, so wird der Maßregelvollzug fortgesetzt (Abs. 5 S. 2). Die. Höchstfrist des Maßregelvollzugs verlängert sich in diesem Fall nach Maßgabe des § 67 d Abs. 1 S. 3. Eine Vollstreckung der Reststrafe kommt nur ausnahmsweise in Betracht, nämlich dann, wenn die materiellen Voraussetzungen einer Aussetzung zur Bewährung nicht vorliegen und eine Fortsetzung des Maßregelvollzugs zur Erreichung des Strafzwecks nicht angezeigt erscheint (z. B. wenn der zunächst in einer Entziehungsanstalt Untergebrachte wegen schwerwiegender Straftaten noch eine langjährige Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, vgl. Ber. S. 32 BT-Drucks. V/4095). Zuständig für die Entscheidungen nach Abs. 5 S. 2 ist die Strafvollstreckungskammer (§ 462 a Abs. 1 StPO i. V. mit §§ 463 Abs. 5, 462 StPO).
5. Für die Übergangszeit beachte Art. 302 EGStGB: Ist vor dem 1. 1. 1975 die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, in einer Trinkerheilanstalt oder in einer Entziehungsanstalt nach § 456 b Satz 2 StPO aF vor der Freiheitsstrafe vollzogen worden, so wird die Zeit des Vollzugs der Maßregel auf die Strafe angerechnet.
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Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel*
(1) Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder einer sozialtherapeutischen Anstalt angeordnet worden, so kann das Gericht nachträglich den Täter in den Vollzug einer der beiden anderen Maßregeln überweisen, wenn die Resozialisierung des Täters dadurch besser gefördert werden kann. (2) Unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 kann das Gericht nachträglich auch einen Täter, gegen den Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist, in den Vollzug einer der in Absatz 1 genannten Maßregeln überweisen. (3) D a s Gericht kann eine Entscheidung nach den Absätzen 1 und 2 ändern oder aufheben, wenn sich nachträglich ergibt, daß die Resozialisierung des Täters dadurch besser gefördert werden kann. Eine Entscheidung nach Abs. 2 kann das Gericht ferner aufheben, wenn sich nachträglich ergibt, daß mit dem Vollzug der in Absatz 1 genannten Maßregeln kein Erfolg erzielt werden kann. (4) D i e Fristen für die Dauer der Unterbringung und die Überprüfung richten sich nach den Vorschriften, die für die im Urteil angeordnete Unterbringung gelten. 1. Abs. 1 gibt die Möglichkeit, noch während des Vollzugs die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder sozialtherapeutischen Anstalt gegen den Vollzug einer der beiden anderen, zunächst nicht angeordneten Maßregeln auszutauschen, wenn dies im Interesse der Resozialisierung geboten erscheint. Die Überstellung in den Vollzug einer anderen, für die Resozialisierung geeigneten Maßregel kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen dieser Maßregel schon im Zeitpunkt des Urteils vorlagen, das Gericht aber der Überzeugung war, daß bereits die angeordnete, schonendere Maßnahme (z. B. eine Unterbringung nach § 64) genügt, um den erstrebten Zweck zu erreichen (vgl. § 72 Abs. 1). Ein Austausch der Maßregeln ist aber auch dann zulässig, wenn die formellen und materiellen Voraussetzungen der Maßregel, in deren Vollzug der Untergebrachte überwiesen werden soll, im Zeitpunkt des Urteils noch nicht vorgelegen haben. Die Interessen des Untergebrachten werden durch diese Entscheidung nicht verletzt, da die Überstellung ausschließlich seiner Resozialisierung dient und er hinsichtlich der Dauer seiner Unterbringung und hinsichtlich der Überprüfungsfrist durch die in Abs. 4 getroffene Regelung hinreichend geschützt ist. Wird ein Untergebrachter z. B. von der Entziehungsanstalt in eine sozialtherapeutische Anstalt überwiesen, so beträgt die Höchstdauer seiner Unterbringung nach wie vor 2 Jahre (vgl. § 67 d Abs. 1). 2. Nach Abs. 2 kann auch ein Sicherungsverwahrter in eine andere Maßregel überwiesen werden, wenn sich durch diesen Wechsel die Möglichkeit einer Resozialisierung abzeichnet. Die Überweisung eines nach §§ 63-65 Untergebrachten in die SV ist dagegen unzulässig (Ausnahme: die SV war bereits neben einer zuerst zu vollstreckenden Maßregel nach §§ 63, 64 angeordnet, vgl. § 72 Abs. 2 und 3). * Siehe § 65 Anm. I. 300
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3. Abs. 3 gibt der Strafvollstreckungskammer die Möglichkeit, die nach Abs. 1 und Abs. 2 unternommenen Resozialisierungsversuche zu ändern oder aufzuheben, wenn das mit ihnen eingegangene Experiment sich als untauglich erweisen sollte. 4. Anliegen des Abs. 4 ist es zu verhindern, daß die Höchstdauer und die Überprüfungsfristen der ursprünglich angeordneten Maßregel sich zum Nachteil des Untergebrachten verändern. Umgekehrt kann ein von der Sicherungsverwahrung in die sozialtherapeutische Anstalt überwiesener Hangtäter dort bis zu der für die SV vorgesehenen Höchstdauer von 10 Jahren untergebracht werden (vgl. Maurach AT 899). 5. Zuständig für die nach § 67 a zu treffenden Entscheidungen ist die Strafvollstrekkungskammer (vgl. § 463 Abs. 5, 462, 462 a StPO). Wegen des Verfahrens siehe § 462 StPO. 6. Siehe ergänzend § 9 StVollzG: Verlegung eines Strafgefangenen in eine sozialtherapeutische Anstalt, wenn dies zu seiner Resozialisierung angezeigt ist.
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Aussetzung zugleich mit der Anordnung*
(1) Ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder einer sozialtherapeutischen Anstalt an, so setzt es zugleich deren Vollstreckung zur Bewährung aus, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, daß der Zweck der Maßregel auch dadurch erreicht werden kann. D i e Aussetzung unterbleibt, wenn der Täter noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, die gleichzeitig mit der Maßregel verhängt und nicht zur Bewährung ausgesetzt wird. (2) Mit der Aussetzung tritt Führungsaufsicht ein. 1. Die durch das 2. StrRG neu geschaffene Regelung beruht auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem damit in Zusammenhang stehenden Subsidiaritätsprinzip (vgl. 3 vor § 61, § 62 Anm. 2 c). Sie gilt nur für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder einer sozialtherapeutischen Anstalt, nicht auch für die SV (vor deren Vollstreckung jedoch § 67 c zu beachten ist). 2. Besondere Umstände, die eine Aussetzung zur Bewährung rechtfertigen, liegen z. B. dann vor, wenn ein Suchtkranker bereit ist, sich einer privaten - ambulanten oder stationären - Entziehungskur zu unterziehen oder einem Enthaltsamkeitsverein anzuschließen oder wenn sich ein Triebverbrecher freiwillig entmannen läßt (vgl. Maurach AT 900). Bei einem Geisteskranken können u. U. die Bestellung eines Pflegers oder besondere Zusagen seiner Angehörigen die Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus entbehrlich werden lassen. 3. Abs. 1 S. 2 will vermeiden, daß der Zweck , der mit der Aussetzung der Maßregel angestrebt wird (z. B. dem Verurteüten die Möglichkeit zu geben, sich in einer privaten * Siehe § 65 Anm. I. 301
§ 67c
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Anstalt behandeln zu lassen), durch den Vollzug einer neben der Maßregel verhängten Strafe vereitelt wird (vgl. Ber. S. 33 BT-Drucks. V/4095). Eine Aussetzung nach § 67 b kommt also nur in Betracht, wenn neben der Maßregel lediglich eine Geldstrafe verhängt wird (nur denkbar in den Fällen der §§ 63, 64 und 65 Abs. 3), wenn eine gleichzeitig verhängte Freiheitsstrafe nach § 56 zur Bewährung ausgesetzt wird oder wenn die Unterbringung nach § 71 selbständig (isoliert) angeordnet wird. Ist es geboten, neben der Unterbringung eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe zu verhängen, so kann das Gericht gegebenenfalls nach § 67 c i. V. mit § 67 Abs. 2 verfahren. 4. Die Aussetzung ist zwingend, wenn die Täterprognose auf Grund der „besonderen Umstände" (s. o. 2) günstig ist und die Voraussetzungen des Abs. 1 S. 2 (Erforderlichkeit der Vollstreckung einer gleichzeitig verhängten Freiheitsstrafe, s. o. 3) nicht vorliegen. 5. Die Aussetzung erfolgt im Urteilstenor (§ 260 Abs. 4 S. 4 StPO). Wegen der Belehrung über die Bedeutung der Aussetzung und der mit ihr nach Abs. 2 kraft Gesetzes verbundenen Führungsaufsicht sowie über die Möglichkeit des Widerrufs der Aussetzung siehe § 268 a Abs. 3 StPO. 6. Durch die nach Abs. 2 kraft Gesetzes eingetretene Führungsaufsicht sollen die mit der Aussetzung verbundenen Sicherheitsrisiken eingeschränkt werden. Wegen der Führungsaufsicht im einzelnen siehe § 6 8 - 6 8 g, wegen der Belehrung hierüber § 268 a Abs. 3 StPO. 7. Die Voraussetzungen des Widerrufs der Aussetzung sind in § 67 g geregelt.
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Späterer Beginn der Unterbringung*
(1) Wird eine Freiheitsstrafe vor einer zugleich angeordneten Unterbringung vollzogen, so prüft das Gericht vor dem Ende des Vollzugs der Strafe, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert. Ist das nicht der Fall, so setzt es die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aus; mit der Aussetzung tritt Führungsaufsicht ein. (2) Hat der Vollzug der Unterbringung drei Jahre nach Rechtskraft ihrer Anordnung noch nicht begonnen und liegt ein Fall des Absatzes 1 oder des § 67 b nicht vor, so darf die Unterbringung nur noch vollzogen werden, wenn das Gericht es anordnet. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Das Gericht ordnet den Vollzug an, wenn der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert. Ist der Zweck der Maßregel nicht erreicht, rechtfertigen aber besondere Umstände die Erwartung, daß er auch durch die * Siehe § 65 Anm. I.
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Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 67 c
Aussetzung erreicht werden kann, so setzt das Gericht die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aus; mit der Aussetzung tritt Führungsaufsicht ein. Ist der Zweck der Maßregel erreicht, so erklärt das Gericht sie für erledigt. 1. Die durch das 2. StrRG neu gefaßte Vorschrift gibt die Möglichkeit, die im Zeitpunkt des Urteils getroffene Gefährlichkeitsprognose (siehe hierzu 5 vor § 61) nachträglich zu revidieren und die Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung auszusetzen, wenn der Zweck der Maßregel deren Vollstreckung nicht mehr erfordert. Zuständig ist sowohl für die Entscheidung nach Abs. 1 als auch nach Abs. 2 die Strafvollstreckungskammer (vgl. § 463 Abs. 3 bzw. Abs. 5 StPO i. V. mit §§ 462,462 a StPO). 2. Abs. 1 bezieht sich hauptsächlich auf die Sicherungsverwahrung, die ausnahmslos erst nach der Strafe vollstreckt wird. Für die übrigen freiheitsentziehenden Maßregeln ist die Vorschrift nur dann von Bedeutung, wenn die Strafe nach § 67 Abs. 2 ausnahmsweise vor der Maßregel vollstreckt worden ist. Ergibt die Prüfung des Vollstreckungsgerichts, daß der Zweck der Maßregel durch den Vorwegvollzug der Strafe bereits erreicht ist oder die Unterbringung des Täters aus anderen in seiner Person begründeten Umstände nicht mehr erforderlich ist (z. B. bei Wegfall der Gefährlichkeit infolge fortgeschrittenen Alters oder körperlicher Gebrechen, aber auch bei einer Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57, vgl. Stgt MDR 1975, 241), so ist die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen. Das Verfahren richtet sich gemäß § 463 Abs. 3 StPO nach § 454 StPO (Entscheidung der Strafvollstreckungskammer nach vorheriger Anhörung der StA, des Verurteilten und der Vollzugsanstalt). 3. Die Situation des Abs. 2 (Verzögerung des Beginns der Unterbringung, ohne daß die Voraussetzungen des Abs. 1 oder die des § 67 b vorliegen) kann z. B. dadurch eintreten, daß sich der Verurteilte durch Flucht der Vollstreckung entzogen hat oder die Unterbringung infolge Krankheit des Verurteilten nicht vollstreckt werden konnte. In diesen Fällen setzt die Vollstreckung der Unterbringung eine ausdrückliche Anordnung des Gerichts voraus, wenn seit Rechtskraft der Anordnung durch das erkennende Gericht 3 Jahre verstrichen sind (wegen der Fristberechnung siehe Abs. 2 S. 2). Diese Anordnung darf nur getroffen werden, wenn der Zweck der Maßregel deren Vollstreckung nach wie vor erfordert und noch keine Vollstreckungsverjährung eingetreten ist (siehe hierzu § 79 Abs. 4). Kann der Zweck der Maßregel auf Grund „besonderer Umstände" (siehe hierzu § 67 Anm. 2) auch durch die Aussetzung erreicht werden, so ist die Vollstreckung zur Bewährung auszusetzen. Das Verfahren richtet sich gemäß § 463 Abs. 5 StPO nach § 462 StPO (Entscheidung durch Beschluß nach vorheriger Anhörung der StA und des Verurteilten). 4. Sowohl in den Fällen des Abs. 1 als auch in denen des Abs. 2 tritt bei einer Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung zur Einschränkung des mit dem Verzicht auf die Vollstreckung verbundenen Risikos kraft Gesetzes (also ohne besondere Anordnung) Führungsaufsicht ein (siehe hierzu §§ 68-68 g). 5. Die Voraussetzungen des Widerrufs der Aussetzung (über die der Betroffene zu belehren ist, § 268 a Abs. 3 StPO) sind in § 67 g geregelt. 303
§ 67d
§ 67 d
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Dauer der Unterbringung*
(1) Es dürfen nicht übersteigen die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zwei Jahre, die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt nach § 65 Abs. 1, 2 fünf Jahre und die erste Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zehn Jahre. Die Fristen laufen vom Beginn der Unterbringung an. Wird vor einer Freiheitsstrafe eine daneben angeordnete freiheitsentziehende Maßregel vollzogen, so verlängert sich die Höchstfrist um die Dauer der Freiheitsstrafe, soweit die Zeit des Vollzuges der Maßregel auf die Strafe angerechnet wird. (2) Ist keine Höchstfrist vorgesehen oder ist die Frist noch nicht abgelaufen, so setzt das Gericht die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aus, sobald verantwortet werden kann zu erproben, ob der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Mit der Aussetzung tritt Führungsaufsicht ein. (3) Ist die Höchstfrist abgelaufen, so wird der Untergebrachte entlassen. Die Maßregel ist damit erledigt. (4) Wird der Untergebrachte wegen Ablaufs der Höchstfrist für die erste Unterbringung in der Sicherungsverwahrung entlassen, so tritt Führungsaufsicht ein. 1. In weitgehender Übereinstimmung mit dem früheren Recht (§ 42 f Abs. 1 idF des 1. StrRG) unterscheidet das Gesetz in Abs. 1 zwischen zeitlich befristeten und unbefristeten Maßregeln. a) Zeitlich befristet ist die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Höchstdauer 2 Jahre auch im Falle wiederholter Unterbringung), in einer sozialtherapeutischen Anstalt allerdings nur, soweit es sich um Rückfall-, Trieb- und Jungtäter handelt, bei denen die Höchstdauer der Unterbringung auf 5 Jahre festgesetzt wurde) sowie die erste Unterbringung in Sicherungsverwahrung (Höchstdauer 10 Jahre). b) Unbefristet sind die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die Unterbringung schuldunfähiger oder vermindert schuldfähiger Täter in einer sozialtherapeutischen Anstalt unter den Voraussetzungen der § § 6 3 Abs. 2, 65 Abs. 3 sowie die wiederholt angeordnete Sicherungsverwahrung. In diesen Fällen dauert die Unterbringung so lange, wie ihr Zweck es erfordert. Diese Regelung kann u. U. (bei unheilbar Geisteskranken) zu lebenslangem Freiheitsentzug führen (siehe jedoch Abs. 2). 2. Die in Abs. 1 S. 1 festgesetzten Höchstfristen laufen nach Abs. 1 S. 2 vom Beginn der Unterbringung an. a) Eine dem § 51 entsprechende Vorschrift fehlt. Die Zeit der vorläufigen Unterbringung
* Siehe § 65 Anm. I.
304
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 67 d
nach § 126 a StPO wird deshalb nicht angerechnet, kann sich jedoch materiell dahingehend auswirken, daß der Zweck der Unterbringung früher erreicht wird. b) Die Überweisung in den Vollzug einer anderen als der ursprünglich angeordneten Maßregel ist auf die Berechnung der Höchstfrist ohne Einfluß (§ 67 a Abs. 4). c) Abs. 1 S. 3 bezieht sich auf § 67 Abs. 4, wonach bei Vorwegvollzug der Maßregel die Vollzugsdauer auf die Strafe angerechnet wird. Ohne die Verlängerung der Höchstfristen würde die Anrechnung der Maßregel auf die Strafe dazu führen, daß die Höchstdauer der gesamten Freiheitsentziehung (Maßregel + Strafe) sich insgesamt um die Dauer der angerechneten Verwahrungszeit verkürzen würde, was jedoch nicht im Sinne der Anrechnung ist (vgl. Begr. zu § 89 Abs. 5 E 1962). § 67 Abs. 4 will dem Verurteilten lediglich den besonderen Vollzug der Strafe ersparen, da der Strafvollzug den bereits erreichten Zweck der Maßregel möglicherweise gefährden könnte. Beispiel: Ein frühkrimineller Hangtäter wird wegen schwerwiegender Straftaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren verurteilt. Außerdem wird seine Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt angeordnet. Ohne die Möglichkeit einer Fristenverlängerung nach § 67 d Abs. 1 S. 3 müßte der Verurteilte nach § 67 d Abs. 3 selbst bei schlechtester Prognose nach 5 Jahren in die Freiheit entlassen werden. So aber besteht die Möglichkeit, ihn insgesamt 10 Jahre lang (abzüglich etwa erlittener U-Haft, vgl. § 51) in der sozialtherapeutischen Anstalt zu verwahren. Bei günstiger Entwicklung des Verurteilten während des Vollzugs der Maßregel könnte der Verurteilte jedoch in dem soeben gebrachten Beispiel u. U. sogar bereits nach 2 Jahren und 6 Monaten entlassen werden (vgl. § 67 d Abs. 2 i. V. mit §§ 67 d Abs. 3,57 Abs. 2). 3. Abs. 2 entspricht im wesentlichen der für den Bereich der Strafe in § 57 getroffenen Regelung hinsichtlich der Aussetzung des Strafrests. Wie dort ist die Entscheidung über die Entlassung in Freiheit mit einem Risiko verbunden, das jedoch im Interesse der Resozialisierung des Untergebrachten vom Gesetzgeber bewußt in Kauf genommen wurde. Die Grenzen dieses Risikos sind relativ und hängen von den Umständen des Einzelfalls ab. Handelt es sich um einen Verurteilten, bei dem ein gefährlicher Hang zu Straftaten gegen Leib oder Leben festgestellt wurde, so darf die Aussetzung der Maßregel nur dann angeordnet werden, wenn ein verhältnismäßig hoher Grad an Wahrscheinlichkeit besteht, daß er sich in Zukunft, nach seiner Entlassung, straffrei führen wird. Dasselbe gilt bei gefährlichen Sittlichkeitsverbrechern, die sich vorwiegend an Kindern und Jugendlichen vergangen haben (vgl. KG JR 1970, 428). Bei Dieben und Betrügern wird dagegen das mit der Aussetzung der Maßregel verbundene Risiko etwas großzügiger in Kauf genommen werden können. Im übrigen richtet sich die „Erheblichkeit" der möglicherweise noch zu befürchtenden Straftaten nach den Maßstäben, die auch bei der Anordnung der jeweiligen Maßregel gefordert werden (vgl. § 63 Anm. 3 a). Aus dem Bereich der Sicherungsverwahrung siehe in diesem Zusammenhang insbesondere KG JR 1970,428; Hbg JR 1970, 349; Krhe NJW 1971, 204; Justiz 1971,358; Stgt Justiz 1971,61. 4. Wegen Führungsaufsicht siehe Abs. 2 S. 2, Abs. 4 sowie §§ 68-68 g. 5. Abs. 3 dient der Klarstellung, daß der Staat keinen Rechtstitel mehr für irgendwelche Einwirkungen auf den Betroffenen besitzt, sobald die Höchstfrist abgelaufen ist (vgl. Ber. S. 34 BT-Drucks. V/4095). Eine Ausnahme hiervon ist lediglich bei der Sicherungsverwahrung zu beachten (vgl. Abs. 4). 305
§ 67e
§ 67 e
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Überprüfung*
(1) Das Gericht kann jederzeit prüfen, ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen ist. Es muß dies vor Ablauf bestimmter Fristen prüfen. (2) Die Fristen betragen bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sechs Monate, in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer sozialtherapeutischen Anstalt ein Jahr, in der Sicherungsverwahrung zwei Jahre. (3) Das Gericht kann die Fristen kürzen. Es kann im Rahmen der gesetzlichen Prüfungsfristen auch Fristen festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag auf Prüfung unzulässig ist. (4) Die Fristen laufen vom Beginn der Unterbringung an. Lehnt das Gericht die Aussetzung ab, so beginnen die Fristen mit der Entscheidung von neuem. 1. § 67 e Abs. 1 S. 1 gibt dem Gericht die Möglichkeit, jederzeit zu prüfen, ob die weitere Vollstreckung der Maßregel noch erforderlich ist oder ob die Vollstreckung nach § 67 d Abs. 2 zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Vor Ablauf bestimmter Fristen muß diese Prüfung vorgenommen werden (Abs. 1 S. 2). 2. Die Prüfungsfristen des Abs. 2 sind verhältnismäßig kurz bemessen. Die hiermit verbundene Mehrbelastung von Anstalt, Staatsanwaltschaft und Gericht wurde vom Gesetzgeber bewußt in Kauf genommen, damit die mit der Unterbringung befaßten Stellen sich möglichst oft über die Erfolge der Behandlung und die Fortdauer des gefährlichen Zustands Rechenschaft geben (vgl. Ber. S. 22 BT-Drucks. V/4094). 3. Wegen der Berechnung der Fristen und der Möglichkeit ihrer Modifizierung siehe Abs. 3 und 4. Die neue Frist beginnt jeweils mit dem Erlaß, nicht mit der Rechtskraft der früheren Entscheidung (Hamm NJW1971,949; Lackner 1; a. A. Dreher 2). 4. Anders als in § 57 wird die Einwilligung des Untergebrachten in seine Entlassung nicht vorausgesetzt. Er ist aber vor jeder Entscheidung zu hören (§ 454 Abs. 1 StPO i. V. mit § 463 Abs. 2 StPO). Er muß insbesondere auch Gelegenheit haben, zu der über ihn abgegebenen Beurteilung der Anstaltsverwaltung Stellung zu nehmen. Eine Ausnahme kann hiervon nur dann anerkannt werden, wenn durch die Bekanntgabe des vollen Wortlauts oder des wesentlichen Inhalts der Stellungnahme der Zweck der Unterbringung vereitelt oder eine Gefahr für Leib oder Leben des Anstaltspersonals hervorgerufen würde. Siehe auch § 57 Anm. 7. 5. Gegen alle im Prüfungsverfahren ergehenden Entscheidungen ist die sofortige Beschwerde gegeben (vgl. § 454 Abs. 2 StPO i. V. mit § 463 Abs. 3 StPO).
* Siehe § 65 Anm. I.
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Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§§ 67f, 67g
§ 67 £ Mehrfache Anordnung der gleichen Maßregel* Ordnet das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt oder in einer sozialtherapeutischen Anstalt nach § 65 Abs. 1, 2 an, so ist eine frühere Anordnung der gleichen Maßregel erledigt. Die in § 67 f getroffene Regelung, die dem früheren § 42 f Abs. 6 idF des 1. StrRG entspricht, hat zur Folge, daß nur die Höchstdauer der neu angeordneten Unterbringung zu beachten ist. Eine Zusammenrechnung der noch zur Verfügung stehenden Frist für die alte Maßregel mit der Höchstfrist der neuen Maßregel findet also nicht statt. Der Vollzug einer früher angeordneten Maßregel wird auch nicht auf die Höchstdauer der neuen Maßregel angerechnet. Befindet sich der Täter zur Zeit der neuen Anordnung im Vollzug der früher angeordneten Maßregel, so wird die Behandlung ohne Unterbrechung aufgrund der neuen Anordnung fortgesetzt. War er aus dem Vollzug der früheren Maßregel auf Bewährung entlassen worden, so bedarf es keines Widerrufs mehr, da nur noch die neu angeordnete Maßregel zu vollziehen ist. Besonderheiten gelten, wenn die Voraussetzungen einer nachträglichen Gesamtstrafe vorliegen (vgl. § 55 Abs. 2). In diesem Fall findet § 67 f keine Anwendung. Ist die spätere Anwendung wegen einer Tat erfolgt, die der Täter vor der früheren Anordnung einer Maßregel nach § 67 f begangen hat, so ist nur eine einzige Unterbringungsanordnung zu treffen. In diesem Fall wird der bisherige Vollzug der Maßregel auf die Höchstdauer des Abs. 1 angerechnet. Zum Ganzen siehe auch Ber. S. 22 f. BT-Drucks. V/4094 sowie Pohlmann RPfleger 1970, 233.
§ 67 g Widerruf der Aussetzung* (1) Das Gericht widerruft die Aussetzung einer Unterbringung, wenn der Verurteilte 1. während der Dauer der Führungsaufsicht eine rechtswidrige Tat begeht, 2. gegen Weisungen gröblich oder beharrlich verstößt oder 3. sich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers oder der Aufsichtsstelle beharrlich entzieht und sich daraus ergibt, daß der Zweck der Maßregel seine Unterbringung erfordert. (2) Das Gericht widerruft die Aussetzung einer Unterbringung nach den §§ 63, 64 und 65 Abs. 3 auch dann, wenn sich während der Dauer der Führungsaufsicht ergibt, daß von dem Verurteilten infolge seines Zustandes rechtswidrige Taten zu erwarten sind und deshalb der Zweck der Maßregel seine Unterbringung erfordert. * Siehe § 65 Anm. I.
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§ 67g
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
( 3 ) D a s Gericht widerruft die A u s s e t z u n g ferner, w e n n U m s t ä n d e , die i h m w ä h r e n d der D a u e r der Führungsaufsicht bekannt w e r d e n u n d zur V e r s a g u n g der A u s s e t z u n g geführt hätten, zeigen, daß der Z w e c k der M a ß r e g e l d i e U n t e r bringung d e s Verurteilten erfordert. ( 4 ) D i e D a u e r der Unterbringung vor u n d nach d e m Widerruf darf insgesamt die gesetzliche Höchstfrist der Maßregel nicht übersteigen. ( 5 ) Widerruft das Gericht die A u s s e t z u n g der Unterbringung nicht, s o ist die M a ß r e g e l mit d e m E n d e der Führungsaufsicht erledigt. ( 6 ) Leistungen, die der Verurteilte zur Erfüllung v o n W e i s u n g e n erbracht hat, w e r d e n nicht erstattet. 1. Der Anwendungsbereich der Vorschrift erfaßt sowohl die zugleich mit der Anordnung der Maßregel erfolgte Aussetzung zur Bewährung (§ 67 b) als auch die Fälle nachträglicher Aussetzung (vgl. §§ 67 c Abs. 1 und 2, 67 d Abs. 2). 2. Die Widerrufsgründe des Abs. 1 entsprechen im wesentlichen den Widerrufsgründen bei der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 f). a) Eine rechtswidrige Tat (Nr. 1), die nicht zugleich auch schuldhaft begangen wurde, kann nur bei schuldunfähigen Tätern, deren Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt zur Bewährung ausgesetzt wurde, Anlaß zum Widerruf der Aussetzung geben. In den übrigen Fällen ist eine schuldhaft begangene Tat erforderlich. Die Art der rechtswidrigen Tat ist unerheblich, sofern sich aus ihrer Begehung ergibt, daß die Aussetzung zur Bewährung nicht gerechtfertigt war, der Zweck der Maßregel vielmehr die Unterbringung erfordert. Bagatelldelikte reichen zum Widerruf keinesfalls aus, Delikte aus dem Bereich der mittleren Kriminalität nur dann, wenn sie weitere erhebliche rechtswidrige Taten erwarten lassen, wobei der Begriff der „erheblichen" Tat bei den einzelnen Maßregeln - je nach ihrem Anliegen - unterschiedlich auszulegen ist (vgl. § 63 Anm. 3 a). Über die Dauer der Führungsaufsicht, die bei jeder Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel kraft Gesetzes eintritt (vgl. §§ 67 b Abs. 2, 67 c Abs. 1 und 2, 67 d Abs. 2) siehe § 68 c Abs. 1. b) Verstöße gegen Weisungen (siehe hierzu § 68 b) rechtfertigen nach Abs. 1 Nr. 2 nur dann den Widerruf, wenn sie „gröblich" oder „beharrlich" erfolgen. Dies setzt in der Regel voraus, daß der Proband sich bewußt und trotz Abmahnung über die ihm erteilten Weisungen hinwegsetzt. Dem gleich steht der Fall, daß sich der Proband der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers oder der Aufsichtsstelle (§ 68 a) „beharrlich" entzieht (Abs. 1 Nr. 3). c) Der Zweck der Maßregel erfordert die Unterbringung dann, wenn die während der Führungsaufsicht (§ 68 c Abs. 1) zutage getretenen Regelwidrigkeiten so schwerwiegend sind, daß sie für die Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten (vgl. § 63 Anm. 3 a) erwarten lassen und es deshalb nicht verantwortet werden kann, den Probanden weiter vom Vollzug der Maßregel zu verschonen. Siehe auch oben 2 a (a. E.). 3. Der Widerrufsgrund des Abs. 2 bezieht sich nur auf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt oder in einer sozialtherapeuti308
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 68
sehen Anstalt, nicht auch in der Sicherungsverwahrung. Unter „Zustand" ist dabei lediglich der körperliche und seelische Zustand des Probanden zu verstehen, nicht etwa eine Veränderung seiner häuslichen Verhältnisse (vgl. Ber. S. 34 BT-Drucks. V/4095). So kann es z. B. erforderlich werden, die Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu widerrufen, wenn sich der Krankheitszustand eines seelisch Gestörten so stark verschlechtert, daß weitere erhebliche Taten von ihm zu erwarten sind. 4. Nachträgliche Umstände i. S. des Abs. 3 sind solche, die zwar bereits im Zeitpunkt der Entscheidung nach §§ 67 b, 67 c Abs. 1 und 2 oder 67 d Abs. 2 vorlagen, dem Gericht aber erst während der Dauer der Führungsaufsicht (vgl. § 68 c) bekannt wurden. Beispiel: Erst nach Rechtskraft der Entscheidung über die Aussetzung wird bekannt, daß die zur Anordnung der Unterbringung nach § 63 führende Tat kein Einzelfall war, sondern der Proband schon des öfteren bei Auftreten schizophrener Schübe Familienmitglieder und Nachbarn in ernst zu nehmender Weise bedroht hatte. Weitere Voraussetzung zur Anordnung des Widerrufs ist, daß der Zweck der Maßregel die Unterbringung auf Grund der neu bekannt gewordenen Umstände erfordert, d. h. weitere erhebliche rechtswidrige Taten zu befürchten sind, wenn der Proband nicht untergebracht wird. Umstände, die erst nach Beendigung der Führungsaufsicht bekannt werden, rechtfertigen den Widerruf der Aussetzung nicht (Ber. S. 34 BT-Drucks. V/4095). 5. Durch den Widerruf der Aussetzung darf keine Verlängerung der gesetzlichen Höchstfrist für die jeweilige Maßregel eintreten (Abs. 4). Wegen der Höchstfristen siehe § 67 d. 6. Wegen der Beendigung der Führungsaufsicht, auf die Abs. 5 hinsichtlich der „Erledigung der Maßregel" abstellt, siehe §§ 68 c, 68 e und 79 Abs. 4 S. 2. 7. Abs. 6 entspricht der in § 56 f Abs. 3 S. 1 für den Widerruf der Strafaussetzung getroffenen Regelung. 8. Das Verfahren zur Anordnung des Widerrufs ist in § 462 Abs. 1 und 2 StPO geregelt (vgl. § 463 Abs. 5 StPO). Rechtsmittel: sofortige Beschwerde (§ 462 Abs. 3 StPO).
- Führungsaufsicht § 68
Voraussetzungen der Führungsaufsicht
(1) Hat jemand 1. unter den Voraussetzungen des § 4 8 zeitige Freiheitsstrafe verwirkt oder 2. wegen einer Straftat, bei der das Gesetz Führungsaufsicht besonders vorsieht, zeitige Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verwirkt, so kann das Gericht neben der Strafe Führungsaufsicht anordnen, wenn die Gefahr besteht, daß er weitere Straftaten begehen wird. (2) D i e Vorschriften über die Führungsaufsicht kraft Gesetzes (§§ 6 7 b, 6 7 c, 6 7 d A b s . 2 , 4 , § 6 8 f) bleiben unberührt. 309
§ 68
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
1. Die durch das 2. StrRG neu eingeführte Maßregel tritt an die Stelle der ehemaligen Polizeiaufsicht, unterscheidet sich von dieser jedoch in wesentlichen Punkten. a) Während bei der ehemaligen Polizeiaufsicht (§ 38, 39 aF) ebenso wie bei der in den §§ 91 ff. E 1962 vorgesehenen „Sicherungsaufsicht" die Überwachung des Täters eindeutig im Vordergrund stand, verfolgt die Führungsaufsicht (FA) neben dem Sicherungszweck zugleich auch die Resozialisierung des Täters. Die während der Dauer der Führungsaufsicht (§ 68 c) von der Aufsichtsstelle und dem Bewährungshelfer (§ 68 a) im Einvernehmen mit dem Gericht getroffenen Maßnahmen, insbesondere die Weisungen (§ 68 b), die zu einer einschneidenden Reglementierung der Lebensführung führen können, dienen nicht nur der Überwachung des Verurteilten, sondern sollen ihm gleichzeitig eine positive Lebenshilfe bei der sozialen Integration bieten. Durch die Bestellung eines Bewährungshelfers (§ 68 a) und die Möglichkeit der Erteilung von Weisungen (§ 68 b) weist die F A ähnliche Züge auf wie die Strafaussetzung zur Bewährung (vgl. §§ 56 c, 56 d). Sie unterscheidet sich von dieser jedoch im angesprochenen Personenkreis; auch sind die Maßnahmen, die gegen den Probanden ergriffen werden können, wesentlich einschneidender als bei der Strafaussetzung zur Bewährung. b) Aufbau der §§ 6 8 - 6 8 g: § 68 enthält die formellen und materiellen Voraussetzungen der FA, die teils kraft Gesetzes (Abs. 2), teils auf richterliche Anordnung (Abs. 1) eintritt; § 68 a regelt das Zusammenwirken von Gericht, Aufsichtsstelle und Bewährungshelfer, während die folgenden Vorschriften sich mit den Einzelheiten des Vollzugs der FA, insbesondere mit deren Dauer (§ 68 c) und den zulässigen Weisungen (§ 68 b) befassen. c) Sanktionen: Versagt der Proband während der FA, so droht ihm nicht nur der Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Maßregel (vgl. § 67 g), sondern auch Bestrafung nach § 145 a. d) Schrifttum: Grünwald, Sicherungsverwahrung, vorbeugende Verwarnung und Sicherungsaufsicht im E 62, ZStW 76, 633; - Preiser, Bewährungs- und Sicherungsaufsicht, ZStW 81, 249; - ders., Die Führungsaufsicht, ZStW 81, 912; - Stockei, Das Institut der Führungsaufsicht, BayVerwBl. 1975,5. 2. Führungsaufsicht kraft besonderer richterlicher Anordnung (Abs. 1) a) Abs. 1 Nr. 1 erfaßt die Gruppe der Rückfalltäter, die nach § 48 eine zeitige Freiheitsstrafe verwirkt haben und bei denen die Gefahr eines erneuten Rückfalls auf Grund ihrer ungünstigen sozialen Prognose besonders groß ist. b) Nach dem Gesetz besonders vorgesehen i. S. von Abs. 1 Nr. 2 ist die F A bei bestimmten Sexualdelikten (vgl. § 181 b), bei ungerechtfertigtem Schwangerschaftsabbruch (§ 218 Abs. 2 S. 2), bei vorsätzlicher Körperverletzung und Beteiligung an einer Schlägerei (vgl. § 228), bei erpresserischem Menschenraub und Geiselnahme (vgl. § 239 c), bei Diebstahl, Hehlerei, Raub und raubähnlichen Sonderdelikten (vgl. §§ 245, 256, 262) sowie bei einigen gemeingefährlichen Straftaten (vgl. § 325), sofern im Einzelfall eine Freiheitsstrafe von mindestens 6 Monaten verwirkt ist. Bei einer Gesamtstrafe kommt es auf die Höhe der jeweiligen:Einzelstrafe an (Lackner 2 b, bb; Str.). c) „Verwirkt" ist eine Freiheitsstrafe auch dann, wenn sie zur Bewährung ausgesetzt wird. Über das - äußerst seltene - Zusammentreffen von F A und Strafaussetzung zur Bewährung siehe § 68 g.
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Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 68 a
d) Materielle Voraussetzung für die Anordnung der F A ist die Gefahr weiterer Straftaten. Nicht erforderlich ist, daß „erhebliche" Taten drohen (Bockelmann A T 2 7 8 ; Dreher 5; Lackner 2 c; a. A . Horn SK 12). Andererseits genügt nicht, daß der Täter „gemeinlästig" ist und einen „Hang zu unstetem oder ungeordnetem Leben" hat. Nur bei einem „wirklich gefährlichen" Täter ist die F A indiziert (Ber. S. 35 BT-Drucks. V/4095). e) Auch wenn alle formellen und materiellen Voraussetzungen des Abs. 1 vorliegen, steht die Anordnung der F A im Ermessen des Gerichts. 3. Kraft Gesetzes, d. h. ohne besondere richterliche Anordnung, tritt die F A unter den Voraussetzungen des Abs. 2 ein. Hierher gehören zunächst die Fälle, in denen eine freiheitsentziehende Maßregel entweder bereits bei ihrer Anordnung (§ 67 b), vor Beginn ihres Vollzugs (§ 67 c) oder vor Ablauf der Höchstfrist (§ 67 d Abs. 2) zur Bewährung ausgesetzt wurde und in denen das Gesetz davon ausgeht, daß der Verurteilte zur sozialen Wiedereingliederung einer Lebenshilfe bedarf. In diesen Fällen steht die Resozialisierungsfunktion der F A im Vordergrund (vgl. Zipf JuS 1973, 277). Die beiden restlichen Fälle, in denen die F A kraft Gesetzes eintritt - § 67 d Abs. 4 und § 68 f dienen demgegenüber primär der Überwachung des Täters und damit der Sicherung der Allgemeinheit. Es handelt sich hierbei um die Fälle, in denen der Täter auf Grund seiner ungünstigen sozialen Prognose bis zur Ausschöpfung der Höchstfrist in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden bzw. seine langfristige Freiheitsstrafe bis zum letzten Tag verbüßen mußte (Gruppe der Vollverbüßer). 4. Für die Übergangszeit ist zu beachten, daß nach Art. 303 E G S t G B wegen einer Tat, die vor dem 1 . 1 . 1975 begangen wurde, F A nicht angeordnet werden darf. Eine vor dem 1. 1. 1975 zulässig erkannte Polizeiaufsicht geht nicht in F A über, sondern erlischt nach § 304 E G S t G B .
§ 68 a
Aufsichtsstelle, Bewährungshelfer
(1) Der Verurteilte untersteht einer Aufsichtsstelle; das Gericht bestellt ihm für die Dauer der Führungsaufsicht einen Bewährungshelfer. (2) Bewährungshelfer und Aufsichtsstelle stehen im Einvernehmen miteinander dem Verurteilten helfend und betreuend zur Seite. (3) Die Aufsichtsstelle überwacht im Einvernehmen mit dem Gericht und mit Unterstützung des Bewährungshelfers das Verhalten des Verurteilten und die Erfüllung der Weisungen. (4) Besteht zwischen der Aufsichtsstelle und dem Bewährungshelfer in Fragen, welche die Hilfe für den Verurteilten und seine Betreuung berühren, kein Einvernehmen, so entscheidet das Gericht. (5) Das Gericht kann der Aufsichtsstelle und dem Bewährungshelfer für ihre Tätigkeit Anweisungen erteilen. (6) Vor Stellung eines Antrages nach § 145 a Satz 2 hört die Aufsichtsstelle den Bewährungshelfer; Absatz 4 findet keine Anwendung. 311
§ 68a
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
1. Aufsichtsstelle und Bewährungshelfer sind die tragenden Pfeiler im Vollzug der FA. Anliegen der durch das EGStGB neu gefaßten Vorschrift ist es, die Kompetenzen zwischen beiden Institutionen möglichst klar abzugrenzen. a) Die Aufsichtsstellen gehören nach Art. 295 Abs. 1 E G S t G B zum Geschäftsbereich der Landesjustizverwaltung (vgl. z.B. für Bad.-Wttbg die AV d. JM v. 29. 11. 1974, Justiz 1975 S. 41). Ihre Aufgaben werden nach Abs. 2 aaO. von Beamten des höheren Dienstes, von staatlich anerkannten Sozialarbeitern oder Soziologen oder von Beamten des gehobenen Dienstes wahrgenommen. Der Leiter der Aufsichtsstelle muß die Befähigung zum Richteramt besitzen oder Beamter des höheren Dienstes sein. Die Aufsichtsstelle hat nicht nur die sich aus Abs. 2 ergebende Aufgabe, dem Verurteilten helfend und betreuend zur Seite zu stehen, sondern auch typisch repressive Funktionen. So hat sie insbesondere die Pflicht, das Verhalten des Verurteilten und die Erfüllung der ihm nach § 68 b erteilten Weisungen zu überwachen. Hierbei kann sie sich gegebenenfalls auch der Amtshilfe der Polizei (vgl. § 463 a Abs. 1 StPO) bedienen, was zwar insoweit de facto wieder auf eine Polizeiaufsicht im weitesten Sinn hinausläuft, in Konfliktsfällen jedoch unumgänglich sein wird. Der Aufsichtsstelle obliegt auch die Pflicht, gegebenenfalls Strafantrag nach § 145 a S. 2 zu stellen (vgl. Abs. 6). b) Der Bewährungshelfer, dessen Bestellung (anders als bei der Strafaussetzung zur Bewährung) vom Gericht obligatorisch angeordnet wird, übernimmt die persönliche Betreuung des Verurteilten. Er hat ausschließlich helfende und betreuende Funktionen (Abs. 2); hinsichtlich der Überwachung durch die Aufsichtsstelle wird er nur unterstützend tätig (Abs. 3). 2. Das Gericht (wegen der Zuständigkeit siehe §§ 4 5 3 , 4 6 2 a StPO i. V. mit § 463 Abs. 2 StPO) hat hauptsächlich koordinierende Aufgaben. Es bestellt den Bewährungshelfer (Abs. 1), schaltet sich in die Überwachung ein (Abs. 3), entscheidet Meinungsverschiedenheiten zwischen Aufsichtsstelle und Bewährungshelfer (Abs. 4) und kann Aufsichtsstelle und Bewährungshelfer Anweisungen erteilen (Abs. 5). 3. Prozessual beachte §§ 463, 462 a StPO i. V. mit § 463 Abs. 2 StPO (Verfahren, Zuständigkeit des Gerichts), § 463 a Abs. 1 StPO (Recht der Aufsichtsstellen auf Amtshilfe und Vornahme eigener Ermittlungen) sowie § 463 a Abs. 2 StPO (Zuständigkeit der Aufsichtsstelle).
§ 68 b
Weisungen
(1) Das Gericht kann den Verurteilten für die Dauer der Führungsaufsicht oder für eine kürzere Zeit anweisen, 1. den Wohn- oder Aufenthaltsort oder einen bestimmten Bereich nicht ohne Erlaubnis der Aufsichtsstelle zu verlassen, 2. sich nicht an bestimmten Orten aufzuhalten, die ihm Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, 3. bestimmte Personen oder Personen einer bestimmten Gruppe, die ihm Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, nicht zu beschäftigen, auszubilden oder zu beherbergen, 312
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 68 b
4. bestimmte Tätigkeiten nicht auszuüben, die er nach den Umständen zu Straftaten mißbrauchen kann, 5. bestimmte Gegenstände, die ihm Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, nicht zu besitzen, bei sich zu führen oder verwahren zu lassen, 6. Kraftfahrzeuge oder bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen oder von anderen Fahrzeugen nicht zu halten oder zu führen, die er nach den Umständen zu Straftaten mißbrauchen kann, 7. sich zu bestimmten Zeiten bei der Aufsichtsstelle oder einer bestimmten Dienststelle zu melden, 8. jeden Wechsel des Wohnorts oder des Arbeitsplatzes unverzüglich der Aufsichtsstelle zu melden oder 9. sich im Falle der Erwerbslosigkeit bei dem zuständigen Arbeitsamt oder einer anderen zur Arbeitsvermittlung zugelassenen Stelle zu melden. Das Gericht hat in seiner Weisung das verbotene oder verlangte Verhalten genau zu bestimmen. (2) Das Gericht kann dem Verurteilten für die Dauer der Führungsaufsicht oder für eine kürzere Zeit weitere Weisungen erteilen, namentlich solche, die sich auf Ausbildung, Arbeit, Freizeit, die Ordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse oder die Erfüllung von Unterhaltspflichten beziehen. § 56 c Abs. 3 ist anzuwenden. (3) Bei den Weisungen dürfen an die Lebensführung des Verurteilten keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden. 1. Der Katalog des Abs. 1 geht weit über die bei der Strafaussetzung zur Bewährung üblichen Weisungen (vgl. § 5 6 c Abs. 2) hinaus. Die zulässigen Weisungen können — sofern die Überwachung des Verurteilten und seine soziale Wiedereingliederung dies erfordern - eine einschneidende Reglementierung der Lebensführung zur Folge haben. Da sich aus der Nichtbefolgung der Weisungen für den Betroffenen nachteilige Konsequenzen ergeben können (Widerruf der Aussetzung nach § 67 g, Bestrafung nach § 145 a), hat das Gericht in seiner Weisung das verbotene oder verlangte Verhalten genau zu bestimmen (Abs. 1 S. 2). 2. Der Katalog des Abs. 1 enthält keine ausschließliche Aufzählung der möglichen Weisungen. Nach Abs. 2 besteht vielmehr die Möglichkeit weiterer Weisungen. Auch diese müssen - schon mit Rücksicht auf die möglichen Folgen ihrer Nichtbefolgung (Widerruf der Aussetzung einer Unterbringung nach § 67 g, nicht jedoch Bestrafung nach § 145 a) - genau bestimmt werden. Die Weisung, sich einer Heilbehandlung oder einer Entziehungskur zu unterziehen, sowie die Weisung, in einem geeigneten Heim oder einer geeigneten Anstalt Aufenthalt zu nehmen, dürfen nur mit Einwilligung des Verurteilten erteilt werden (vgl. Abs. 2 S. 2 i. V. mit § 56 c Abs. 3). 3. Unzumutbare Anforderungen, insbesondere solche, die durch den Zweck der F A nicht geboten sind und gegen elementare Verfassungsgrundsätze verstoßen, dürfen nicht angeordnet werden (Abs. 3). Weisungen, die in ein unter einem Gesetzesvorbehalt stehendes
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§ 68 c
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Grundrecht eingreifen, sind deshalb nur zulässig, soweit sie in Abs. 1 oder 2 ausdrücklich genannt sind (vgl. Stree in Schönke-Schröder 8 zu § 56 c sowie in Deliktsfolgen und Grundgesetz, 1960, S. 142 ff.). So wäre es z. B. unzulässig, einen Verurteilten anzuweisen, regelmäßig die Kirche zu besuchen, die eheliche Lebensgemeinschaft wiederherzustellen oder eine bestimmte Person zu heiraten. Auch die Anordnung einer Postzensur wäre unzulässig. Weiter ist zu beachten, daß das sich aus § 68 b ergebende Weisungsrecht nicht dazu mißbraucht werden darf, die gesetzlich festgelegten Voraussetzungen für die Fahrerlaubnisentziehung oder die Anordnung eines Berufsverbots zu umgehen (vgl. Ber. S. 36 BT-Drucks. V/4095). So wäre es z. B. unzulässig, einem Verurteilten die Weisung zu erteilen, keinen Antrag auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis zu stellen, obwohl die bei der Verurteilung ausgesprochene Sperrfrist nach § 69 a bereits abgelaufen ist. Auch das Berufsverbot des § 70 darf nicht durch Weisungen nach § 68 b umgangen werden. Dagegen bestünden keine durchgreifenden Bedenken, dem Verurteilten die Weisung zu erteilen, die Lehrstelle zu wechseln oder einem Sportverein beizutreten (vgl. Abs. 2). Zum Ganzen siehe auch § 56 c Anm. 2. 3. Zuständig zur Erteilung von Weisungen ist das erkennende Gericht, wenn die FA gemäß § 68 Abs. 1 oder gemäß § 67 b Abs. 2 bereits mit dem Urteil eintritt, während in den erst während des Vollstreckungsverfahrens eintretenden Fällen der FA (§§ 67 c, 67 d Abs. 2, 4 und 68 f) sowie für nachträgliche Entscheidungen gemäß § 68 d die Strafvollstreckungskammer zuständig ist. 4. Die Erfüllung der Weisungen wird von der Aufsichtsstelle überwacht (§ 68 a Abs. 3), die sich hierzu der Amtshilfe anderer öffentlicher Behörden, insbesondere der Polizei, bedienen kann (vgl. § 463 a Abs. 1 StPO; Maurach AT 904). Bei Nichterfüllung der Weisungen drohen dem Verurteilten der Widerruf der Vollstreckungsaussetzung (§ 67 g) sowie Strafverfolgung nach § 145 a. Die „Ungehorsamsstrafe" (Maurach AT 905) des § 145 a, die nur für Verstöße gegen Weisungen gemäß Abs. 1 vorgesehen ist und über deren Möglichkeit der Verurteilte ausdrücklich zu belehren ist (§ 268 a Abs. 3 StPO), kommt vor allem bei solchen Verurteilten in Betracht, bei denen Sanktionen nach § 67 g nicht möglich sind, weil sie ihre Strafe voll verbüßt haben und auch keine Maßregel mehr vollstreckt werden kann.
§ 68 c Dauer der Führungsaufsicht (1) Die Führungsaulsicht dauert mindestens zwei und höchstens fünf Jahre. Das Gericht kann die Höchstdauer abkürzen. (2) Die Führungsaufsicht beginnt mit der Rechtskraft der Anordnung. In ihre Dauer wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Verurteilte flüchtig ist, sich verborgen hält oder auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird. 1. Anders als bei der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 a Abs. 1 S. 1) wird die Dauer der FA nicht vom Gericht bestimmt. Es handelt sich vielmehr um eine gesetzliche Frist, die mindestens 2 Jahre und höchstens 5 Jahre beträgt (Abs. 1 S. 1). Das Gericht hat auf 314
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§§ 68d, 68 e
die Dauer der FA nur insoweit Einfluß, als es nach Abs. 1 S. 2 die Höchstdauer abkürzen kann. Es dürfte empfehlenswert sein, von der Möglichkeit des Abs. 1 S. 2 erst im Rahmen einer nachträglichen Entscheidung nach § 68 d Gebrauch zu machen (vgl. Dreher 3). Die Frist einer nach Art. 314 Abs. 2 EGStGB eingetretenen FA ist von dem Zeitpunkt an zu berechnen, in dem die nach altem Recht angeordnete bedingte Entlassung aus der Unterbringung erfolgte, wobei der Zeitraum zwischen der bedingten Entlassung und dem 1. 1. 1975 auf die FA anzurechnen ist (Krhe Justiz 1975, 477; a. A. Koblenz GA 1976, 85; KG NJW 1977,1786; zw.). 2. Abs. 2 S. 1 entspricht der für die Strafaussetzung zur Bewährung in § 56 a Abs. 2 S. 2 getroffenen Regelung. Abs. 2 S. 2 beruht auf der Erwägung, daß die mit der FA durch deren spezifische Mittel (Bewährungshilfe, Weisungen) angestrebte Resozialisierung des in Freiheit befindlichen Verurteilten nicht erreicht werden kann, solange der Verurteilte sich entweder jeder Kontrolle entzieht oder in einer Anstalt verwahrt wird. Die Art der Anstalt ist unerheblich. Auch die Verwahrung in einer Anstalt außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des StGB hemmt den Beginn bzw. Ablauf der Frist. 3. Beachte ergänzend §§ 68 d-68 g (nachträgliche Entscheidungen, Beendigung der FA usw.) sowie §§ 453,462 a, 463 Abs. 2 StPO (Verfahren).
§ 68 d
Nachträgliche Entscheidungen
Das Gericht kann Entscheidungen nach § 6 8 a A b s . 1, 5, den §§ 6 8 b und 6 8 c Abs. 1 Satz 2 auch nachträglich treffen, ändern oder aufheben. 1. Die Vorschrift entspricht der in § 56 a Abs. 2 S. 2 und in § 56 e für den Bereich der Strafaussetzung zur Bewährung getroffenen Regelung. Sie bezieht sich auf die Bestellung des Bewährungshelfers (§ 68 a Abs. 1), die Erteilung von Anweisungen des Gerichts an die Aufsichtsstelle und den Bewährungshelfer (§ 68 a Abs. 5), die Erteilung von Weisungen nach § 68 b und die Abkürzung der Höchstfrist (§ 68 c Abs. 1 S. 2). Die Aufhebung einer Entscheidung nach § 68 c Abs. 1 S. 2 (Abkürzung der Höchstfrist) ist allerdings nur solange möglich, als die (abgekürzte) Höchstfrist noch nicht abgelaufen und die FA damit beendigt ist. 2. Wegen des Verfahrens siehe §§ 453,462 a StPO i. V. mit § 463 Abs. 2 StPO.
§ 68 e
Beendigung der Führungsaufsicht*
(1) D a s Gericht hebt die Führungsaufsicht auf, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte auch ohne sie keine Straftaten mehr begehen wird. D i e Aufhebung ist frühestens nach Ablauf der gesetzlichen Mindestdauer zulässig. * Siehe § 65 Anm. I. 315
§ 68f
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
(2) D a s Gericht kann Fristen von höchstens sechs Monaten festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag auf Aufhebung der Führungsaufsicht unzulässig ist. (3) D i e Führungsaufsicht endet, wenn die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt oder in der Sicherungsverwahrung angeordnet ist und deren Vollzug beginnt. 1. Die Aufhebung der FA nach Abs. 1 setzt nicht voraus, daß der Verurteilte in Zukunft ein „geordnetes" Leben führen wird (vgl. Begr. zu § 96 E 1962); es genügt vielmehr die Erwartung, daß er keine weiteren Straftaten mehr begehen wird. Abs. 1 beruht damit auf dem allgemeinen Grundsatz, daß eine Maßregel nur so lange dauern soll, wie ihr Zweck es erfordert. Die Aufhebung der FA kommt nicht nur dann in Betracht, wenn die Sozialprognose sich seit der Anordnung der FA gebessert hat, sondern auch dann, wenn sich die ursprüngliche Prognose nachträglich als falsch erweisen sollte. Vor Ablauf der Mindestdauer von 2 Jahren (vgl. § 68 c Abs. 1) ist die Aufhebung der FA allerdings unzulässig (Abs. 1 S. 2). Dadurch soll verhindert werden, daß die Resozialisierung des Verurteilten zu voreilig als abgeschlossen betrachtet wird. 2. Abs. 2 will verhindern, daß das Gericht ständig mit offensichtlich unbegründeten Anträgen überhäuft und hierdurch in der Erfüllung seiner eigentlichen Aufgaben gehemmt wird (Begr. zu § 96 E 1962). Eine entsprechende Regelung findet sich in § 67 e Abs. 3 S. 2 hinsichtlich der Prüfungsfristen bei der Vollstreckung freiheitsentziehender Maßregeln. Auf die Ausführungen zu § 67 e (Anm. 2 und 3) kann deshalb verwiesen werden. 3. Nach Abs. 3 tritt eine Beendigung der FA kraft Gesetzes ein, wenn die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65) oder in der SV (§ 66) angeordnet ist und deren Vollzug beginnt. In diesen Fällen wird die FA gegenstandslos. Sie erhält jedoch dann wieder - kraft Gesetzes - neue Bedeutung, wenn die Vollstreckung der genannten Maßregel vor Ablauf der zulässigen Höchstfrist zur Bewährung ausgesetzt wird (vgl. § 67 d Abs. 2 S. 2) oder wenn der Untergebrachte wegen Ablaufs der Höchstfrist für die erste Unterbringung in der SV entlassen wird (vgl § 67 d Abs. 4). Entgültig erledigt ist die FA erst nach Ablauf ihrer (möglicherweise nach § 68c Abs. 1 S. 2 gekürzten) Höchstfrist. 4. Prozessual beachte §§ 454,462 a StPO i. V. mit § 463 Abs. 3 StPO. § 68 f
Führungsaufsicht bei Nichtaussetzung des Strafrestes
(1) Ist eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat vollständig vollstreckt worden, so tritt mit der Entlassung des Verurteilten aus dem Strafvollzug Führungsaufsicht ein. Dies gUt nicht, wenn im Anschluß an die Strafverbüßung eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird. (2) Ist zu erwarten, daß der Verurteilte auch ohne die Führungsaufsicht keine Straftaten mehr begehen wird, so ordnet das Gericht an, daß die Maßregel entfällt. 316
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 68g
1. Die FA bei sog. Vollverbüßern nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe von mindestens 2 Jahren tritt nicht auf besondere richterliche Anordnung, sondern kraft Gesetzes ein (vgl. § 68 Abs. 2). Ähnlich wie im Falle des § 67 d Abs. 4 (Entlassung aus der SV wegen Ablaufs der Höchstfrist für die erste Unterbringung) geht das Gesetz bei den Vollverbüßern davon aus, daß ihre soziale Prognose ausgesprochen ungünstig ist, da ihnen andernfalls wenigstens ein Teil der Strafe nach § 57 oder im Gnadenwege zur Bewährung ausgesetzt worden wäre. Es besteht daher ein kriminalpolitisches Bedürfnis, den Verurteilten auch nach seiner Entlassung zu betreuen und zu überwachen (vgl. Ber. S. 36 f. BTDrucks. V/4095 in Anlehnung an § 97 E 1962, kritisch hierzu Grünwald ZStW 76, 662; Jescheck ZStW 80, 76, 86; Preiser ZStW 81; 913 f.; Schultz JZ 1966,123). 2. Entscheidend ist die Höhe der im Urteil verhängten Freiheitsstrafe, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob auf diese Strafe nach § 51 die Dauer einer U-Haft oder sonstigen Freiheitsentziehung anzurechnen ist (vgl. Dreher 2; Lackner 1 a). Bei einer Gesamtstrafe kommt es auf deren Höhe, nicht auf die Höhe der Einzelstrafen an (Dreher 2; a. A. Horn SK 5; Stree in Schönke-Schröder 4). 3. Anliegen des Abs. 2 ist es, unbillige Härten zu vermeiden. Hat das Gericht keine Anhaltspunkte dafür, daß der Verurteilte, obwohl (oder weil) er seine Strafe voll verbüßt hat, keine weiteren Straftaten mehr begehen wird, so ordnet es an, daß die Maßregel entfällt. Eine Entscheidung nach Abs. 2 bietet sich insbesondere dann an, wenn der Strafrest nur deshalb nicht zur Bewährung ausgesetzt werden konnte, weil der Verurteilte ausnahmsweise - gleich aus welchen Gründen - mit seiner vorzeitigen Entlassung nicht einverstanden war (vgl. § 57 Abs. 1 Nr. 3) und auch einen Gnadenerweis abgelehnt hat. Die Entscheidung ist vor der Entlassung aus dem Strafvollzug zu treffen. Wird dies versäumt, so kann die Entscheidung jederzeit nachgeholt werden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 schon im Zeitpunkt der Entlassung vorlagen. In allen Fällen bestimmt sich die Beendigung der FA nach § 68 e (Lackner 2; siehe auch Maier NJW 1977, 371; a. A. nur Horn SK 16-18 zu § 68). 4. Für den Fall, daß der Verurteilte während der FA gegen eine ihm nach § 68 b Abs. 1 erteilte Weisung verstößt und dadurch den Zweck der Maßregel gefährdet, droht Bestrafung nach § 145 a. Hierüber ist der Verurteilte ausdrücklich zu belehren (vgl. § 268 a Abs. 3 StPO). 5. Prozessual beachte §§ 454,462 a StPO i. V. mit § 463 Abs. 3 StPO. 6. Für die Übergangszeit siehe Art. 303 Abs. 2 EGStGB: Nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe wegen einer Tat, die vor dem 1.1. 1975 begangen worden ist, tritt FA nicht ein.
§ 68 g Führungsaufsicht und Aussetzung zur Bewährung (1) Ist die Strafaussetzung oder Aussetzung des Strafrestes angeordnet oder das Berufsverbot zur Bewährung ausgesetzt und steht der Verurteilte wegen derselben oder einer anderen Tat zugleich unter Führungsaufsicht, so gelten für 317
§ 68g
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
die Aufsicht und die Erteilung von Weisungen nur die §§ 6 8 a und 6 8 b. Die Führungsaufsicht endet nicht vor Ablauf der Bewährungszeit. (2) Sind die Aussetzung zur Bewährung und die Führungsaufsicht auf Grund derselben Tat angeordnet, so kann das Gericht jedoch bestimmen, daß die Führungsaufsicht bis zum Ablauf der Bewährungszeit ruht. D i e Bewährungszeit wird dann in die Dauer der Führungsaufsicht nicht eingerechnet. (3) Wird nach Ablauf der Bewährungszeit die Strafe oder der Strafrest erlassen oder das Berufsverbot für erledigt erklärt, so endet damit auch eine wegen derselben Tat angeordnete Führungsaufsicht. 1. Die Vorschrift enthält eine der umstrittensten, vor allem aber kompliziertesten Regelungen innerhalb des neuen Rechts. Sie ist deshalb schon verschiedentlich auf harte Kritik gestoßen (vgl. Maurach AT 905; Preiser ZStW 81, 271 f., 915 f.). Vorab ist festzustellen, daß ein Zusammentreffen von Strafaussetzung zur Bewährung und Führungsaufsicht nur ganz ausnahmsweise in Betracht kommt. Insbesondere dann, wenn die FA auf einer richterlichen Anordnung nach § 68 Abs. 1 beruht, ist ein Zusammentreffen mit Strafaussetzung zur Bewährung kaum denkbar. Während letztere nämlich eine gute Prognose voraussetzt, darf erstere nur bei schlechter Prognose angeordnet werden (vgl. Preiser ZStW 81, 912, 916; siehe auch Begr. zu § 98 E 1962). Praktisch bedeutsam sind deshalb nur die Fälle des § 67 Abs. 5 (Aussetzung eines Strafrests nach Vorwegvollzug der Maßregel, die ihrerseits aber ebenfalls nicht bis zur Höchstfrist vollstreckt wurde, so daß nach § 67 d Abs. 2 FA eintritt) und die Fälle des § 67 b (Aussetzung der Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Maßregel zugleich mit der Anordnung, was neben einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe nicht zulässig ist). 2. Abs. 1 S. 1 begründet den grundsätzlichen Vorrang der FA in der Weise, daß hinsichtlich der Aufsicht über den Verurteilten und der Erteilung der Weisungen ausschließlich die Vorschriften über die FA (§§ 68 a, 68 b) zur Anwendung kommen. Die Zweckmäßigkeit dieser Lösung wird aus der Erwägung abgeleitet, daß die FA als die für den Betroffenen einschneidendere Maßnahme die Aufgaben der Bewährungsaufsicht mit übernehmen kann, während dies umgekehrt im allgemeinen nicht zutrifft (vgl. Begr. zu § 98 e 1962). Die sonstigen Vorschriften der Strafaussetzung zur Bewährung, insbesondere die §§ 56 a, 56 b, 56 f und 56 g, bleiben durch die Regelung des § 68 g unberührt. Abs. 1 S. 2, der eine Beendigung der FA vor Ablauf der Bewährungszeit ausschließt, will die Einheitlichkeit der Aufsicht für die ganze Dauer der Bewährungszeit sicherstellen und dadurch vermeiden, daß eine Veränderung der Rechtsnatur und damit zugleich der Erfolg der Aussetzung zur Bewährung gefährdet wird. 3. Nach Abs. 2 kann das Ruhen der FA angeordnet werden, wenn die Aussetzung zur Bewährung und die FA wegen der gleichen Tat angeordnet sind. Eine solche Anordnung, durch die der Verurteilte weniger einschneidend betroffen wird als durch die Regelung des Abs. 1, empfiehlt sich nur dann, wenn eine günstige Entwicklung des Verurteilten auch ohne die einschneidenden Maßnahmen der FA erwartet werden kann. Bewährt sich der Verurteilte, so erledigt sich nach Abs. 3 auch die für ruhend erklärte Führungsaufsicht. Muß die Strafaussetzung widerrufen werden, weil der Verurteilte sich nicht bewährt hat, so bekommt die für ruhend erklärte FA nach dem Vollzug der Strafe aufgrund der in Abs. 2 S. 2 getroffenen Regelung neue selbständige Bedeutung. 318
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 69
- Entziehung der Fahrerlaubnis § 69
Entziehung der Fahrerlaubnis
(1) Wird jemand wegen einer rechtswidrigen Tat, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so entzieht ihm das Gericht die Fahrerlaubnis, wenn sich aus der Tat ergibt, daß er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Einer weiteren Prüfung nach § 62 bedarf es nicht. (2) Ist die rechtswidrige Handlung in den Fällen des Absatzes 1 ein Vergehen 1. der Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315 c), 2. der Trunkenheit im Verkehr (§ 316), 3. des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142), obwohl der Täter weiß oder wissen kann, daß bei dem Unfall ein Mensch getötet oder nicht unerheblich verletzt worden oder an fremden Sachen bedeutender Schaden entstanden ist, oder 4. des Vollrausches (§ 330 a), der sich auf eine der Taten nach den Nummern 1 bis 3 bezieht, so ist der Täter in der Regel als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen. (3) Die Fahrerlaubnis erlischt mit der Rechtskraft des Urteils. Ein von einer deutschen Behörde erteilter Führerschein wird im Urteil eingezogen. I. Die Vorschriften über die Fahrerlaubnisentziehung ( F E ) wurden durch das 2 . VerkSichG vom 26. 11. 1964 neu gefaßt. Sie blieben durch die Reformgesetze der letzten Jahre unberührt, so daß bei der Auslegung auf die frühere Rspr. und das Schrifttum zu den § § 4 2 m - 4 2 o (aF) zurückgegriffen werden kann. Über das Verhältnis zum Fahrverbot siehe § 44 Anm. I. - Schrifttum: Beine, Zur Problematik der Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Gerichte und der Wiedererteilung der Fahrerlaubnis durch die Verwaltungsbehörden, Lange-Festschr. S. 8 3 9 ; - Cramer, Die Austauschbarkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis gegen ein Fahrverbot, NJW 1968, 1764; - Geppert, Totale und teilweise Entziehung der Fahrerlaubnis, N J W 1971, 1857; - Härtung, Das zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs, NJW 1965, 86; - Hentschel, Schwächen und Unklarheiten der strafgesetzlichen Regelung der Fahrerlaubnisentziehung, D A R 1976, 2 8 9 ; Himmelreich/Hentschel, Fahrverbot und Fahrerlaubnisentziehung, 1975; - Nüse, Zu den neuen Vorschriften zur Sicherung des Straßenverkehrs, J R 1965, 4 1 ; - Portrykus, Die Entziehung der Fahrerlaubnis gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden, M D R 1955,72. II. Die Voraussetzungen der Fahrerlaubnisentziehung ( F E ) : 1. Der Angeklagte muß sich durch die Tat als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen haben.
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§ 69
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
a) Die Vorschrift ist nicht nur bei eigentlichen Verkehrsverstößen, sondern auch bei sonstigen rechtswidrigen Taten anwendbar, sofern diese im Zusammenhang mit der Führung eines Kraftfahrzeugs stehen oder sonst unter Verletzung der Pflichten eines KfzFührers begangen wurden und auf einen allgemeinen Charaktermangel schließen lassen. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn jemand ein Kraftfahrzeug zur Begehung vorsätzlicher Straftaten wie Diebstahl, Zollvergehen oder Sittlichkeitsdelikten benutzt. Ein nur äußerer - örtlicher oder zeitlicher - Zusammenhang zwischen Tat und Fahrt genügt allerdings nicht; erforderlich ist vielmehr, daß das Führen des Kraftfahrzeugs dem Täter für die Vorbereitung oder Durchführung der Straftat oder anschließend für ihre Ausnutzung oder Verdeckung dienlich sein soll (BGH 22, 328). So fehlt es z. B. an einem für die Fahrerlaubnisentziehung erheblichen Zusammenhang, wenn der Täter sich erst nach Beendigung der Fahrt zur Vergewaltigung entschließt und das Fahrzeug dann anschließend auch nicht zur Flucht benutzt (BGH aaO.). Selbst bei Betrügereien kann der Besitz eines Kraftfahrzeugs von entscheidender Bedeutung sein, z. B. wenn der Täter das Fahrzeug benutzt, um sich den Anschein von Kreditwürdigkeit zu verschaffen, oder wenn er sich durch Betrug in den Besitz eines Mietwagens setzt, um dann auf Kosten anderer seiner Fahrleidenschaft frönen (BGH 5, 179) oder Diebesgut abtransportieren zu können (Köln VM 1971 Nr. 93). Eine FE kommt schließlich auch dann in Betracht, wenn ein Kraftfahrer, der wegen seiner verkehrswidrigen Fahrweise von anderen Verkehrsteilnehmern zur Rede gestellt wird, gegen diese tätlich wird (Köln NJW 1963,2379). Wegen weiterer Einzelheiten siehe Anm. II 2 zu § 44. b) Die Entscheidung, ob sich der Angeklagte durch die Tat als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat, setzt eine sorgfältige Abwägung der Gesamtumstände voraus (BGH 5, 168). Regelmäßig kommt es dabei nicht nur auf die Tat selbst an, sondern auch auf die Persönlichkeit des Täters und sonstige Umstände, die einen Schluß auf sein Verantwortungsbewußtsein im Verkehr zulassen. Erstmalige Verfehlungen können die Entziehung der Fahrerlaubnis daher nur danii rechtfertigen, wenn sie besonders schwerwiegend sind (BGH 7, 165, 176). Diese Voraussetzungen sind i. d. R. dann zu bejahen, wenn der Täter ein im Katalog des Abs. 2 aufgeführtes Delikt begangen hat. Das Gesetz geht davon aus, daß die Verantwortungslosigkeit in diesen Fällen so schwerwiegend ist, daß der Eignungsmangel keiner weiteren Begründung mehr bedarf. Andererseits wäre es verfehlt, ausnahmslos einen zum Entzug der Fahrerlaubnis führenden Eignungsmangel anzunehmen. Selbst bei Trunkenheit im Verkehr lassen sich Fälle denken, bei denen man nicht von einem offensichtlichen Eignungsmangel sprechen kann (Ffm VM 1977 Nr. 39). Beispiele: A erkennt, daß er selbst nicht mehr fahrtüchtig ist. Er überläßt daher seiner Ehefrau das Steuer. Da diese jedoch mangels ausreichender Fahrpraxis nicht in der Lage ist, den kalten Motor zu starten, startet A den Wagen selbst, überläßt dann aber das Steuer sofort wieder seiner Frau. - Oder: Die Ehefrau des A hat den Familienwagen gut nach Hause gebracht, scheut sich aber, den Wagen in die enge Garage zu fahren. Da A den Wagen nicht auf der stark belebten Straße stehen lassen will und sich ungeachtet seines Alkoholgenusses noch sicherer fühlt als seine nüchterne Ehefrau, übernimmt er es selbst, den Wagen ohne Gefahr oder Behinderung anderer in die Garage zu fahren. In diesen Fällen dürfte ein Fahrverbot nach § 44 Abs. 1 S. 2 i. V. mit einer angemessenen Geldstrafe ausreichen, um A auf seine Verkehrspflichten hinzuweisen. c) Bei Unfallflucht ist es im Einzelfall oft schwierig, die Feststellung zu treffen, ob an fremden Sachen ein „bedeutender Schaden" entstanden ist. Mit Rücksicht auf die sehr einschneidende Wirkung der FE sollte man hier verhältnismäßig strenge Anforderungen stellen. So kann die Flucht nach Verursachung eines Parkschadens von 20,- DM zwar den 320
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 69
Tb. des § 142 erfüllen; ein „bedeutender Schaden" liegt damit aber noch nicht vor. Andererseits wird ein bedeutender Schaden in der Regel dann vorliegen, wenn die voraussichtlichen Reparaturkosten die 500,-DM-Grenze deutlich überschreiten. Neuerdings geht die Tendenz sogar dahin, einen „bedeutenden Schaden" erst ab 1000,- D M anzunehmen (Ffm VRS 52 [1977] 116; Dreher 13). Im übrigen sind die für die Feststellung eines „bedeutenden Werts" i. S. der §§ 315, 315 c entwickelten Grundsätze (siehe hierzu § 315 Anm. 4) entsprechend anzuwenden (vgl. H a m m D A R 1974, 21). 2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Eignung oder Nichteignung ist der Zeitpunkt der Urteilsfindung ( B G H 7, 165, 175). Entscheidend ist, ob nach der Überzeugung des Gerichts auch f ü r die Zukunft zu befürchten ist, daß der Täter, wenn man ihm die Fahrerlaubnis nicht entzieht, noch weitere erhebliche Verkehrsdelikte begehen wird. Der oben erörterte Katalog erleichtert zwar die Beweisführung in der Richtung, enthebt das Gericht aber nicht der Pflicht, die Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere auch die Persönlichkeit des Täters, zu berücksichtigen (vgl. Lackner J Z 1965, 121; Stree in Schönke-Schröder 31). Von Bedeutung kann auch die Frage sein, wie lange dem Täter im Ermittlungsverfahren die Fahrerlaubnis gemäß § 111 a StPO entzogen war. Kann z. B. die Hauptverhandlung erst 1 Jahr nach der Tat durchgeführt werden, weil der Angeklagte durch den Unfall selbst schwer verletzt worden war und monatelang im Krankenhaus lag, so kann man bei Fehlen erschwerender Umstände ohne weiteres den Standpunkt vertreten, daß der Angeklagte durch die Zeit der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung und die eigenen Verletzungen so nachhaltig gewarnt ist, daß von ihm in Zukunft keine weitere Gefahr mehr ausgeht (BayObLG NJW 1971, 206; Weigelt D A R 1965, 16; Stree in Schönke-Schröder 52). Nach der zuletzt zitierten Entscheidung soll ein Verzicht auf eine Fahrerlaubnisentziehung sogar dann in Betracht kommen, wenn die vorläufige Entziehung noch nicht die Dauer der gesetzlichen Mindestsperrfrist erreicht hat. Dies erscheint jedoch zumindest dann zweifelhaft, wenn - wie in dem vom BayObLG entschiedenen Fall - die Voraussetzungen des § 69 a Abs. 3 vorliegen, der Angeklagte sich also bereits wiederholt als unzuverlässig erwiesen hat. Die in einem Regelfall nach Abs. 2 indizierte Ungeeignetheit entfällt normalerweise auch nicht schon deshalb, weil der Täter zwischen der Tat und ihrer Aburteilung einige Monate unbeanstandet Kraftfahrzeuge geführt hat (Stgt VRS 46 [1974], 103). 3. Körperliche Mängel, die der Angeklagte erst durch die Tat selbst oder später erlitten hat, z. B. Erblindung, müssen außer Betracht bleiben. Sie dürfen weder die Entziehung der Fahrerlaubnis als solche noch die Dauer der Entziehung beeinflussen ( B G H 7, 165, 174; 15, 393). Hier einzuschreiten ist nicht Aufgabe der Justiz, sondern der Verwaltung (vgl. §§ 3 , 4 StVG, §§ 2 , 3 StVZO).
III. Als Maßregel der Besserung und Sicherung wird die Entziehung der Fahrerlaubnis grundsätzlich neben der Strafe ausgesprochen. Sie ist aber auch dann zulässig, wenn das Gericht gem. § 60 von Strafe absieht (vgl. BayObLG VM 1972 Nr. 41; h. L.) oder wenn der Angeklagte nur wegen erwiesener oder möglicher Schuldunfähigkeit freigesprochen werden muß, andererseits aber feststeht, daß er auf jeden Fall ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist (Hamm NJW 1959, 2318; B G H 14, 68). Bei Schuldunfähigkeit kann die Fahrerlaubnis auch im Sicherungsverfahren gemäß §§ 413 ff. StPO entzogen werden ( B G H 13, 91). Zuständig hierfür ist das SchöffG (vgl. § 24 Abs. 1 G V G , Kleinknecht 3 zu § 4 1 4 StPO). 11
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
IV. Im Jugendstrafrecht kann die FE nicht nur neben einer Jugendstrafe, sondern auch neben Zuchtmitteln oder Erziehungsmaßregeln angeordnet werden. V. Die FE kann auch im Strafbefehlsverfahren erfolgen, sofern die Sperrfrist die Dauer von 2 Jahren nicht überschreitet (§ 407 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Eine Beschränkung des Einspruchs auf die Frage der FE ist unzulässig. Unzulässig ist die Anordnung einer FE im Privatklageverfahren sowie im Bußgeldverfahren.
VI. Wirkung der FE: Mit Rechtskraft des Urteils bzw. Strafbefehls erlischt die Fahrerlaubnis (Abs. 3 Satz 1). Der Täter darf kein führerscheinpflichtiges Fahrzeug führen, bevor er eine neue Fahrerlaubnis erworben hat. Hat der Täter als Deutscher seinen Wohnsitz im Inland, so kann er sich dieser Rechtsfolge nicht dadurch entziehen, daß er im Ausland eine ausländische Fahrerlaubnis oder einen internationalen Führerschein erwirbt (Celle VM 1976 Nr. 104). War der Führerschein von einer deutschen Behörde ausgestellt worden (Normalfall), so ist er einzuziehen (Abs. 3 S. 2). Wird dem Verurteilten später, nach Ablauf der Sperrfrist des § 69 a, eine neue Fahrerlaubnis erteilt, so erhält er einen neuen Führerschein. In diesem Punkt unterscheiden sich die Folgen der Fahrerlaubnisentziehung wesentlich von denen des Fahrverbots. Beim Fahrverbot muß der Beschuldigte seinen Führerschein nur hinterlegen. Nach Ablauf der Verbotsfrist erhält er ihn wieder zurück. Über die Regelung bei Führerscheinen, die von einer ausländischen Behörde ausgestellt worden sind, siehe § 69 b.
VII. Prozessual ist folgendes zu beachten: 1. Die vorläufige FE: Gemäß § 111 a StPO kann dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis schon im Ermittlungsverfahren vorläufig entzogen werden, wenn dringende Gründe für die Annahme bestehen, daß die Voraussetzungen einer endgültigen Entziehung gemäß § 69 vorliegen. Die vorläufige FE ist vor allem dann geboten, wenn ein Delikt aus dem Katalog des § 69 Abs. 2 vorliegt. Dabei können gemäß § 111 a Abs. 1 S. 2 StPO entsprechend der Rechtslage in § 69 a Abs. 2 - bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen (z. B. landwirtschaftliche Fahrzeuge) vom vorläufigen Entzug der Fahrerlaubnis ausgenommen werden. Auf diese Möglichkeit sollte der Polizeibeamte, der den Führerschein sicherstellt, den Beschuldigten in geeigneten Fällen hinweisen. Nimmt das Gericht antragsgemäß (oder von Amts wegen) eine bestimmte Fahrzeugklasse vom vorläufigen Entzug aus, so muß der Beschuldigte für diese Klasse bei der Verwaltungsbehörde einen neuen Führerschein beantragen. 2. Der Entzug der Fahrerlaubnis erfolgt, wie bereits unter V dargelegt, durch Urteil oder Strafbefehl. 3. Rechtsmittelbeschränkung auf die Frage der FE und die Dauer der Sperrfrist ist grundsätzlich zulässig (vgl. Ffm NJW 1973, 815; Köln VM 1977 Nr. 3), es sei denn, daß im Einzelfall ein untrennbarer Zusammenhang mit der Strafzumessung besteht (vgl. Köln VM 1971 Nr. 94; Ffm VM 1977 Nr. 39). 322
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 69a
4. Als Maßregel der Besserung und Sicherung unterliegt die FE gemäß §§ 331, 358 II StPO dem Verbot der reformatio in peius (sog. Verschlechterungsverbot). Eine Verlängerung der Sperrfrist in der Berufungsinstanz ist selbst dann unzulässig, wenn gleichzeitig die in erster Instanz ausgesprochene Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird (Oldenburg MDR1976,162). VIII. Führt der Täter trotz entzogener Fahrerlaubnis ein führerscheinpflichtiges Fahrzeug, so macht er sich eines Vergehens gemäß § 21 StVG schuldig. Als Nebenfolge droht die Einziehung des Fahrzeugs.
§ 69 a
Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis
(1) Entzieht das Gericht die Fahrerlaubnis, so bestimmt es zugleich, daß für die Dauer von sechs Monaten bis zu fünf Jahren keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden darf (Sperre). Die Sperre kann für immer angeordnet werden, wenn zu erwarten ist, daß die gesetzliche Höchstfrist zur Abwehr der von dem Täter drohenden Gefahr nicht ausreicht. Hat der Täter keine Fahrerlaubnis, so wird nur die Sperre angeordnet. (2) Das Gericht kann von der Sperre bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen ausnehmen, wenn besondere Umstände die Annahme rechtfertigen, daß der Zweck der Maßregel dadurch nicht gefährdet wird. (3) Das Mindestmaß der Sperre beträgt ein Jahr, wenn gegen den Täter in den letzten drei Jahren vor der Tat bereits einmal eine Sperre angeordnet worden ist. (4) War dem Täter die Fahrerlaubnis wegen der Tat vorläufig entzogen (§ 111 a der Strafprozeßordnung), so verkürzt sich das Mindestmaß der Sperre um die Zeit, in der die vorläufige Entziehung wirksam war. Es darf jedoch drei Monate nicht unterschreiten. (5) Die Sperre beginnt mit der Rechtskraft des Urteüs. In die Frist wird die Zeit einer wegen der Tat angeordneten vorläufigen Entziehung eingerechnet, soweit sie nach Verkündung des Urteils verstrichen ist, in dem die der Maßregel zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten. (6) Im Sinne der Absätze 4 und 5 steht der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis die Verwahrung, Sicherstellung oder Beschlagnahme des Führerscheins (§ 94 der Strafprozeßordnung) gleich. (7) Ergibt sich Grund zu der Annahme, daß der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht mehr ungeeignet ist, so kann das Gericht die Sperre vorzeitig aufheben. Die Aufhebung ist frühestens zulässig, wenn die Sperre sechs li*
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Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Monate, in den Fällen des Absatzes 3 ein Jahr gedauert hat; Absatz 5 Satz 2 und Absatz 6 gelten entsprechend. Schrifttum: Bieler, Zur vorzeitigen Aufhebung der Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis, B A 1970, 112; - Geppert, Bemessung der Sperrfrist bei der strafgerichtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis, 1968; - ders., Auswirkungen einer früheren strafrechtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis usw., M D R 1972, 2 8 0 ; - Hentschel, Fahrerlaubnisentziehung als Strafe für Prozeßverschleppung?, D A R 1976, 150; - Möhl, Anrechnung einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis auf die endgültige Sperre, D A R 1965, 4 5 ; - Mollenkott, Bemessung der Führerscheinsperrfrist in der Berufungsinstanz, N J W 1977, 4 2 5 ; - Orlich, Ausnahmen von der Sperrfrist zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis, N J W 1977, 1179; - Oske, Zur Frage der Zulässigkeit der Anschlußsperrfrist usw., M D R 1967, 4 4 9 ; - Rieger, Sonderbehandlung bestimmter Fahrzeugarten usw., D A R 1967, 43; - Seib, Vorzeitige Aufhebung der Sperrfrist usw., D A R 1965, 2 0 9 ; ders., Beginn der Sperrfrist im Strafbefehlsverfahren, D A R 1965, 292; - Seiler, Erwerb der Fahrerlaubnis auf Weisung des Richters?, D A R 1974, 2 6 0 ; - Weihrauch, Die Ausnahmen bei der Entziehung der Fahrerlaubnis, NJW 1971, 829. 1. Wird die Fahrerlaubnis entzogen, so muß das Gericht gleichzeitig eine Sperrfrist aussprechen, innerhalb der dem Angeklagten von der Verwaltungsbehörde keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden darf. Diese Frist beträgt nach Abs. 1 Satz 1 mindestens 6 Monate, höchstens 5 Jahre. Die Höchstdauer von 5 Jahren darf auch im Falle einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung nicht überschritten werden (vgl. B G H 24, 205). In besonders schweren Fällen, bei denen eine Besserung des Angeklagten nicht mehr zu erwarten ist (siehe hierzu Köln V M 1971 Nr. 94), kann die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis auch für immer untersagt werden. Hatte der Angeklagte noch keine Fahrerlaubnis besessen oder wurde ihm die Fahrerlaubnis bereits in einem früheren Verfahren entzogen, so kommt eine Entziehung der Fahrerlaubnis nicht in Betracht. Das Gericht hat in diesen Fällen jedoch die Möglichkeit, eine selbständige („isolierte") Sperrfrist anzuordnen, innerhalb deren dem Angeklagten keine Fahrerlaubnis erteilt werden darf (Abs. 1 Satz 3). Für die Berechnung der isolierten Sperrfrist gelten die Absätze 3 - 6 entsprechend (vgl. L G Dortmund N J W 1973, 1336). Spricht das Gericht in Unkenntnis des Umstands, daß der Angeklagte im Besitz einer Fahrerlaubnis ist, nur eine isolierte Sperrfrist aus (z. B . wenn der Angeklagte als Führer eines nicht führerscheinpflichtigen Mofas in fahruntüchtigem Zustand am Verkehr teilgenommen hatte), so kann der Verurteilte weiterhin von seiner Fahrerlaubnis Gebrauch machen. Die Verwaltungsbehörde ist lediglich gehindert, ihm eine neue, weitergehende Fahrerlaubnis zu erteilen (vgl. Rüth L K 4 8 zu § 4 2 maF). Die Verwaltungsbehörde ist an die vom Gericht bestimmte Sperrfrist gebunden. Sie darf dem Verurteilten vor Ablauf der Sperrfrist keine Fahrerlaubnis erteilen. Andererseits ist sie nach Ablauf der Sperrfrist zur Erteilung bzw. Wiedererteilung der Fahrerlaubnis nicht verpflichtet (vgl. B V e r w G N J W 1964, 608). 2. Abs. 2 gibt die Möglichkeit, bestimmte Fahrzeugarten von der Sperre auszunehmen. Die Rechtslage entspricht der Rechtslage beim Fahrverbot, von dem ebenfalls bestimmte Fahrzeugarten ausgenommen werden können (vgl. § 4 4 Anm. V ) . Eine Ausnahmeregelung nach Abs. 2 kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn der Sicherungszweck der Maßregel hierdurch nicht beeinträchtigt wird. Wird die Fahrerlaubnis wegen eines allge-
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meinen Charaktermangels entzogen, z. B. wegen Trunkenheit am Steuer oder Unfallflucht, so ist es grundsätzlich unbeachtlich, welche Art von Kraftfahrzeug der Täter jeweils führt (Saarbrücken NJW 1970, 1053; Hamm DAR 1971, 330; Ffm VM 1977 Nr. 39; Dreher 3; Orlich NJW 1977, 1179). Auch wirtschaftliche Interessen haben regelmäßig außer Betracht zu bleiben. Entscheidend ist allein die geringere Gefährlichkeit (vgl. Stgt VM 1973 Nr. 60). Von der Sperre können nur solche „Fahrzeugarten" ausgenommen werden, auf die eine Fahrerlaubnis nach § 5 Abs. 1 S. 2 StVZO beschränkt werden kann, z. B. maschinell angetriebene Krankenfahrstühle sowie Fahrzeuge mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 25 km/h (wichtig für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge und Baumaschinen). Unzulässig ist es dagegen, Fahrzeuge eines bestimmten Halters (etwa des Arbeitgebers) von der Sperre auszunehmen oder die Sperre auf bestimmte Gebiete oder Zeiten (z.B. das Wochenende) zu beschränken. Kommt eine Ausnahmeregelung nach Abs. 2 in Betracht, so können gemäß § 111 a Abs. 1 S. 2 StPO bereits bei der vorläufigen FE zur Vermeidung unbilliger Härten bestimmte Fahrzeugarten vom vorläufigen Entzug ausgenommen werden. 3. Bei Wiederholungstätern, gegen die in den letzten 3 Jahren vor der Tat schon einmal eine Sperrfrist festgesetzt wurde, sieht Abs. 3 eine Mindestsperrfrist von 1 Jahr vor. Diese kann nur unter den Voraussetzungen des Abs. 4 unterschritten werden. In Fällen chronischer Trunkenheitsdelinquenz ist im allgemeinen eine Fahrerlaubnisentziehung auf Lebenszeit angebracht (Hamm VM 1971 Nr. 4). 4. Die in Abs. 1 und Abs. 3 festgesetzten Mindestsperrfristen von 6 Monaten bzw. 1 Jahr können nach Abs. 4 verkürzt werden, wenn der Täter bereits vor der Entscheidung gemäß § 69 auf Grund vorläufiger Maßnahmen nicht mehr in der Lage war, von seiner Fahrerlaubnis Gebrauch zu machen. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob das Gericht gemäß § 111 a StPO eine förmliche Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis getroffen hatte (so die Situation des Abs. 4) oder ob lediglich der Führerschein sichergestellt, beschlagnahmt oder sonst verwahrt worden war (so die Situation des Abs. 6). In sämtlichen Fällen war der Täter bereits vor der endgültigen Entscheidung durch amtliche Maßnahmen vorläufig aus dem Verkehr gezogen. Da es entscheidend auf die rechtliche Wirksamkeit der vorläufigen Maßnahmen ankommt, kann die Sperrfrist auch dann verkürzt werden, wenn die Fahrerlaubnis zwar gemäß § 111 a StPO vorläufig entzogen wurde, der Führerschein aber nicht sichergestellt werden konnte (Köln VM 1977 Nr. 3). 5. Die Mindestsperrfrist beträgt gemäß Abs. 4 S. 2 auch unter Berücksichtigung der Zeit der vorläufigen FE 3 Monate. Beispiele: a) Der Amtsrichter hält bei dem Angeklagten X eine Sperrfrist von 8 Monaten für angemessen. War X infolge der vorläufigen FE bereits 4 Monate ohne Führerschein, so wird der Richter im Urteil eine Sperrfrist von 4 Monaten festsetzen. b) Abwandlung: War X infolge der vorläufigen FE bereits 6 Monate ohne Führerschein, so kann diese Zeit nicht voll angerechnet werden. Der Richter muß in diesem Fall auf die gesetzliche Mindestsperrfrist von 3 Monaten erkennen. c) Weitere Abwandlung: War X bereits 8 Monate oder länger infolge einer vorläufig gegen ihn ergriffenen Maßnahme ohne Führerschein, so liegt es nahe, daß der Richter einen weiteren Entzug der Fahrerlaubnis nicht mehr für erforderlich hält. Er kann und 325
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muß in diesem Fall von einer Entziehung der Fahrerlaubnis absehen und dem Angeklagten unter Aufhebung der vorläufig gegen ihn ergriffenen Maßnahmen den Führerschein zurückgeben. Dies gilt auch dann, wenn es sich bei der Tat um einen sog. Regelfall gemäß § 69 Abs. 2 handelt (siehe auch oben § 69 Anm. II 2). Ein Vergleich der soeben dargelegten drei Beispiele zeigt, daß bei gleicher Tat und gleicher rechtlicher Beurteilung der Angeklagte im Falle c) am besten gestellt ist. In diesem Fall entfällt nämlich nicht nur der Ausspruch der FE und- die damit automatisch verbundene Kostenfolge, sondern zugleich auch die Notwendigkeit, bei der Verwaltungsbehörde eine neue Fahrerlaubnis zu beantragen. Auch im Bundeszentralregister erscheint die FE nicht. Diese Gesichtspunkte bedeuten für den Angeklagten im Falle c) erhebliche Vorteile. Andererseits muß vermieden werden, ihn nur deshalb schlechter zu stellen als in den beiden anderen Fällen, weil es - gleich aus welchen Gründen - nicht möglich war, seine Sache früher zu verhandeln. Einen gewissermaßen optischen Ausgleich könnte der Richter im Falle c) dadurch bewirken, daß er ein dreimonatiges Fahrverbot ausspricht, das aber gemäß § 51 Abs. 5 durch die Zeit der vorläufigen FE als verbüßt gilt (Ffm VM 1976 Nr. 40; VM 1977 Nr. 40). Der Angeklagte im Falle b), der ganz offensichtlich am schlechtesten gestellt ist - er ist am längsten ohne Führerschein, muß die Kosten der FE tragen und außerdem bei der Verwaltungsbehörde eine neue Fahrerlaubnis beantragen, was erfahrungsgemäß mit weiterem Zeitverlust, auf jeden Fall aber mit neuen Kosten verbunden ist, kann nach h. A. den Effekt der Lösung zu c) dadurch erreichen, daß er Berufung einlegt. In diesem Falle müßte der Berufungsrichter in der Berufungshauptverhandlung erneut die Frage prüfen, ob die Entziehung der Fahrerlaubnis weiterhin erforderlich ist, um den durch die Tat zutage getretenen Eignungsmangel zu beseitigen. Dies wird man nach Ablauf der vom Amtsrichter für erforderlich gehaltenen 8-Monatsfrist nicht mehr sagen können, sofern der Angeklagte in der Zwischenzeit nicht erneut nachteilig in Erscheinung getreten ist (vgl. Werner NJW 1974, 484). Da der Angeklagte nicht deshalb schlechter gestellt werden darf, weil er von seinem Recht auf Rechtsmittel Gebrauch gemacht hat, wird das Berufungsgericht nicht umhin können, die in 1. Instanz ausgesprochene FE wegfallen zu lassen (st. Rspr., vgl. Ffm VM 1977 Nr. 40 m. Nachw.). Damit wäre auch im Falle b) die gleiche Rechtslage wie im Falle c) hergestellt (vgl. Köln VM 1966 Nr. 138). Kostenrechtlich ist die Berufung in diesem Fall jedoch als erfolglos zu behandeln (KG JR 1976, 33; Kleinknecht 3 B zu § 473 StPO; a.A. Celle JR 1975, 251 m. Anm. Tröndle). Zu grundsätzlich anderen Ergebnissen kommt man nur dann, wenn man im Anschluß an einen Beschluß des VGH Mannheim v. 5. 10. 1976 (X 1833/76) die Ansicht vertritt, daß das Berufungsgericht nach Ablauf der vom Amtsrichter ausgesprochenen Sperrfrist die Berufung lediglich mit der Maßgabe verwirft, daß die Sperrfrist entfällt. Dies hätte zur Folge, daß der Angeklagte sich bei der Verwaltungsbehörde um eine neue Fahrerlaubnis bemühen muß und es dann im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde steht, ob sie dem Antrag sofort stattgibt. Für die Ansicht des VGH Mannheim sprechen vor allem folgende Gesichtspunkte: Erklärt das Berufungsgericht nach Ablauf der Sperrfrist nicht nur die Sperrfrist für erledigt, sondern wird gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, daß auch die vom Amtsgericht (zu Recht) ausgesprochene Fahrerlaubnisentziehung durch Fristablauf gegenstandslos geworden ist und deshalb in Wegfall kommt, so sind auch der Verwaltungsbehörde die Hände gebunden. Mit Rücksicht auf die Bindungswirkung des § 4 Abs. 3 StVG kann sie dem Angeklagten die Fahrerlaubnis selbst dann nicht mehr entziehen, wenn sein Punktekonto beim KBA in Flensburg eine solche Maßnahme geboten erscheinen läßt. Die Aufhebung der in erster Instanz ausgesprochenen Fahrerlaubnisentziehung durch das Berufungsgericht stellt sich daher materiell als Wiederer326
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teilung der Fahrerlaubnis und damit als eine Maßnahme dar, die dem Strafrichter nicht zusteht. Zum Ganzen siehe auch Hentschel DAR 1976,150 und Mollenkott NJW 1977,425. 6. Die Berechnung der Sperrfrist richtet sich nach Abs. 5. Nach Abs. 5 S. 1 beginnt die Sperrfrist mit der Rechtskraft des Urteils. Dies gilt jedoch nur, wenn dem Angeklagten die Fahrerlaubnis nicht vorläufig entzogen war, was nur ausnahmsweise der Fall sein dürfte. War dem Angeklagten dagegen die Fahrerlaubnis im Zeitpunkt der Entscheidung vorläufig entzogen oder war sein Führerschein verwahrt, sichergestellt oder beschlagnahmt (Normalfall), so wird die Zeit zwischen der Verkiindung des Urteils in der letzten Tatsacheninstanz und der Rechtskraft voll angerechnet (Abs. 5 S. 2). Im Strafbefehlsverfahren kommt es nicht auf die Zustellung, sondern auf den Erlaß des Strafbefehls an, da zu diesem Zeitpunkt die letzte tatrichterliche Prüfung möglich war, während der Tag der Zustellung vom Richter weder bestimmt noch genau vorausberechnet werden kann (LG Freiburg NJW 1968, 1971; h. L.). Nach Rücknahme eines gegen den Strafbefehl eingelegten Einspruchs gilt Abs. 5 S. 2 entsprechend, d. h. die zwischen dem Erlaß des Strafbefehls und der Rücknahme des Einspruchs verstrichene Zeit der vorläufigen FE wird auf die im Strafbefehl ausgesprochene Sperrfrist angerechnet. 7. In der Revisionsinstanz führt die Regelung des Abs. 5 S. 2 bei einem Rechtsmittel des Angeklagten zu folgenden Ergebnissen: a) Läuft die in der letzten Tatsacheninstanz ausgesprochene Sperrfrist bereits vor der Revisionsentscheidung ab, so kann der Angeklagte unabhängig vom weiteren Verlauf des Revisionsverfahrens bei der Verwaltungsbehörde eine neue Fahrerlaubnis beantragen (vgl. Ffm NJW 1973, 1335 im Anschluß an Kaiser NJW 1973, 493). Unabhängig davon hat der Tatrichter den Beschluß über die vorläufige Fahrerlaubnisentziehung aufzuheben, wenn die von ihm ausgesprochene Sperrfrist während des Revisionsverfahrens abgelaufen ist (Krhe NJW 1968, 460 sowie NJW 1975, 455; Kleinknecht 5 zu § l i l a StPO; a. A. Schleswig DAR 1977, 193; Meyer in Löwe-Rosenberg Rn. 32-34 zu § l i l a StPO; Rüth JR 1975, 338; einschränkend auch Krhe Justiz 1976, 523: keine Aufhebung der vorläufigen FE, wenn die Entscheidung in der Hauptsache unmittelbar bevorsteht und dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, daß die im angefochtenen Urteil ausgesprochene FE wirksam wird). Ist die Sache bereits beim Revisionsgericht anhängig, so ist dieses selbst zuständig (Zweibrücken VM 1976 Nr. 111; str., vgl. Celle NJW 1977, 160m. weit. Nachw.). b) Läßt es der Angeklagte in der Hoffnung, einen Freispruch, zumindest aber eine Aufhebung der FE zu erzielen, trotz Ablaufs der Sperrfrist auf die Entscheidung des Revisionsgerichts ankommen und will diese das Urteil bestätigen, so ist die Revision des Angeklagten mit der Maßgabe zu verwerfen, daß die ausgesprochene Sperrfrist gegenstandslos geworden ist (Stree in Schönke-Schröder 17). Die Fahrerlaubnis ist in diesem Fall rechtskräftig entzogen worden. Der Verurteilte erhält also seinen alten Führerschein nicht mehr zurück, sondern muß sich bei der Verwaltungsbehörde um eine neue Fahrerlaubnis bemühen (vgl.FfmNJW 1973,1335; Krhe NJW 1975,455; Werner NJW1974,484). c) Hebt das Revisionsgericht auf die Revision des Angeklagten das Urteil der letzten Tatsacheninstanz auf unter gleichzeitiger Zurückverweisung, so ist nach Ablauf der vom letzten Tatrichter ausgesprochenen Sperrfrist der Beschluß über die vorläufige FE aufzuheben, sofern unter Berücksichtigung der oben unter 5 dargelegten Grundsätze in der erneuten Hauptverhandlung nicht mehr mit einer FE gerechnet werden kann (vgl. Celle VRS 28, 190; str.). Zum Ganzen siehe auch Kaiser NJW 1973,493. 327
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8. Eine vorzeitige Aufhebung der Sperrfrist nach Abs. 7 kommt, wie sich aus Satz 2 ergibt, nur bei längeren Sperrfristen in Betracht. Die Mindestsperrfristen des Abs. 3 (6 Monate bzw. 1 Jahr) dürfen keinesfalls unterschritten werden. Dies gilt auch dann, wenn der Verurteilte die Aufhebung der Sperrfrist nur hinsichtlich bestimmter Arten von Kraftfahrzeugen begehrt (vgl. Dreher 15; a. A. A G Hagen DAR 1975,246 m. abl. Bespr. Hentschel DAR 1975, 297; AG Westerburg DAR 1976, 274; AG Pirmasens DAR 1976, 193; Jagusch 6). Die vorzeitige Aufhebung ist nur zulässig, wenn der Verurteilte neue Tatsachen vorbringt, die eine andere Beurteilung seiner Persönlichkeit rechtfertigen und eine weitere Gefährdung der Allgemeinheit mit Sicherheit ausschließen (vgl. Krhe NJW 1960, 587; Rüth LK 29ff. zu § 42 n aF mit weit. Nachw.; a.A. Köln NJW 1960, 2255). Gute Führung genügt grundsätzlich nicht. Auch wirtschaftliche und berufliche Schwierigkeiten, die bei der Entziehung der Fahrerlaubnis bereits erkennbar waren, sind keine neuen Tatsachen in diesem Sinn. Die Sperrfrist kann jedoch abgekürzt werden, wenn sich die Lebensverhältnisse des Verurteilten durch Eheschließung oder Berufswechsel so grundlegend verändert haben, daß er mit Sicherheit keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstellt. Die Entscheidung über die vorzeitige Aufhebung erfolgt durch Beschluß (vgl. §§ 462,463 Abs. 5 StPO). 9. Bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung ist wie folgt zu verfahren (vgl. Hentschel DAR 1976, 289 m. Nachw.): Eine „Auf rech terhaltung" der im früheren Urteil ausgesprochenen Sperrfrist nach § 55 Abs. 2 kommt nur in Betracht, wenn bei der neuen Tat die Voraussetzungen für eine Maßregel nach § 69 nicht gegeben sind oder wenn bei einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung durch Beschluß gemäß § 460 StPO die Maßregel nur in einem der einbezogenen Urteile ausgesprochen wurde. Hat sich bei einer Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 der Angeklagte auch durch die neue Tat als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen, so ist eine neue einheitliche Sperrfrist auszusprechen, durch die die frühere Sperrfrist gegenstandslos wird, ohne daß die frühere, teilweise bereits abgelaufene Sperrfrist förmlich angerechnet werden müßte. Entscheidender Zeitpunkt für die Bemessung der neuen Sperrfrist ist dabei die Verkündung des Gesamtstrafenurteils, wobei die Wirkungen der bereits abgelaufenen früheren Sperrfrist zu berücksichtigen sind. Entsprechendes gilt für die Situation des § 460 StPO, wenn mehrere der einbezogenen Verurteilungen Maßregeln nach § 69 enthalten. Sind im Zeitpunkt des nach § 460 StPO zu treffenden Beschlusses alle Sperrfristen abgelaufen und damit der Zweck der Maßregel bereits erreicht, so ist diese nicht mehr erneut auszusprechen, sondern wird gegenstandslos. Verbleibt eine Sperrfrist von weniger als drei Monaten, so genügt es auszusprechen, daß die frühere Maßregel aufrechterhalten wird (vgl. § 55 Abs. 2). Es ist also - entgegen Hentschel aaO. - nicht auf eine Sperrfrist von drei Monaten zu erkennen. Der Ablauf der Frist richtet sich nach der Rechtskraft des Urteils, in dem die noch verbleibende Sperrfrist ausgesprochen wurde.
§ 69 b Internationaler Kraftfahrzeugverkehr (1) Darf der Täter nach den für den internationalen Kraftfahrzeugverkehr geltenden Vorschriften im Inland Kraftfahrzeuge führen, ohne daß ihm von einer deutschen Behörde ein Führerschein erteilt worden ist, so ist die Entziehung 328
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der Fahrerlaubnis nur zulässig, wenn die Tat gegen Verkehrsvorschriften verstößt. Die Entziehung hat in diesem Falle die Wirkung eines Verbots, während der Sperre im Inland Kraftfahrzeuge zu führen, soweit es dazu im innerdeutschen Verkehr einer Fahrerlaubnis bedarf. (2) In ausländischen Fahrausweisen werden die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Sperre vermerkt. 1. Die Entziehung einer ausländischen Fahrerlaubnis ist nur bei Verstößen gegen Verkehrsvorschriften zulässig, nicht dagegen bei Straftaten, die jemand nur im Zusammenhang mit dem Führen eines Kfz begangen hat (vgl. BGH bei Martin DAR 1975, 121 betr. räuberischer Erpressung). Diese Privilegierung beruht auf dem Internationalen Abkommen über den Straßenverkehr vom 19. 9. 1949, das zwar von der Bundesrepublik nicht ratifiziert, vom Gesetzgeber aber trotzdem berücksichtigt wurde (vgl. Rüth LK 1). 2. Ähnlich der Regelung beim Fahrverbot (siehe (§ 44 Abs. 3 S. 3) wird in ausländischen Führerscheinen die Entziehung eingetragen. Eine Beschlagnahme und Einziehung des Führerscheins ist nicht zulässig. Die Fahrerlaubnisentziehung gemäß § 69 entspricht somit praktisch einem langfristigen Fahrverbot. 3. Zur Eintragung des Vermerks kann der Führerschein beschlagnahmt werden (§ 463 b Abs. 2 StPO).
- Berufsverbot § 70 Anordnung des Berufsverbots (1) Wird jemand wegen einer rechtswidrigen Tat, die er unter Mißbrauch seines Berufs oder Gewerbes oder unter grober Verletzung der mit ihnen verbundenen Pflichten begangen hat, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so kann ihm das Gericht die Ausübung des Berufs, Berufszweiges, Gewerbes oder Gewerbezweiges für die Dauer von einem Jahr bis zu fünf Jahren verbieten, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und der Tat die Gefahr erkennen läßt, daß er bei weiterer Ausübung des Berufs, Berufszweiges, Gewerbes oder Gewerbezweiges erhebliche rechtswidrige Taten der bezeichneten Art begehen wird. Das Berufsverbot kann für immer angeordnet werden, wenn zu erwarten ist, daß die gesetzliche Höchstfrist zur Abwehr der von dem Täter drohenden Gefahr nicht ausreicht. (2) War dem Täter die Ausübung des Berufs, Berufszweiges, Gewerbes oder Gewerbezweiges vorläufig verboten (§ 132 a der Strafprozeßordnung), so verkürzt sich das Mindestmaß der Verbotsfrist um die Zeit, in der das vorläufige Berufsverbot wirksam war. Es darf jedoch drei Monate nicht unterschreiten. 329
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(3) Solange das Verbot wirksam ist, darf der Täter den Beruf, den Berufszweig, das Gewerbe oder den Gewerbezweig auch nicht für einen anderen ausüben oder durch eine von seinen Weisungen abhängige Person für sich ausüben lassen. (4) D a s Berufsverbot wird mit der Rechtskraft des Urteils wirksam. In die Verbotsfrist wird die Zeit eines wegen der Tat angeordneten vorläufigen Berufsverbots eingerechnet, soweit sie nach Verkündung des Urteils verstrichen ist, in dem die der Maßregel zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten. D i e Zeit, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist, wird nicht eingerechnet. 1. Die durch das 2. StrRG neu gefaßten Vorschriften über das Berufsverbot treten an die Stelle des ehemaligen § 42 1. Ihr Allliegen ist der Schutz der Allgemeinheit gegenüber Personen, die unter Mißbrauch ihres Berufs oder Gewerbes rechtswidrige Taten begangen haben und die Begehung weiterer erheblicher Taten befürchten lassen. Es handelt sich somit um eine echte Sicherungsmaßregel (vgl. BGH MDR 1956, 143), gegen deren Verfassungsmäßigkeit keine Bedenken bestehen, obwohl es sich um eine wesentliche Einschränkung des Grundrechts der in Art. 12 GG garantierten Berufsfreiheit handelt (BVerfGNJW 1969, 742). Die Neuerungen gegenüber der früheren Rechtslage sind teilweise beachtlich. So kann das Berufsverbot nicht nur neben der Strafe, sondern auch isoliert angeordnet werden, wenn der Täter die auslösende Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hat oder seine Schuldunfähigkeit sich nicht ausschließen läßt (§§ 70 Abs. 1, 71 Abs. 2). Auch die nach § 70 Abs. 1 S. 2 zulässige Anordnung des Berufsverbots „für immer" war dem früheren Recht fremd. Zu den wesentlichen Neuerungen gehört schließlich auch die Möglichkeit, das Berufsverbot zur Bewährung auszusetzen (vgl. § 70 a). Aus dem neueren Schrifttum siehe insbesondere Lang-Hinrichsen, Umstrittene Probleme bei der strafrechtlichen Untersagung der Berufsausübung, Heinitz-Festschr. S. 477 ff. 2. Abs. 1 S. 1 sieht ein zeitlich befristetes Berufsverbot (mindestens 1 Jahr, höchstens 5 Jahre) vor, wenn der Täter eine rechtswidrige Tat unter Mißbrauch seines Berufs usw. begangen hat. Im einzelnen: a) Wegen rechtswidriger Tat siehe § 11 Abs. 1 Nr. 5 nebst Anmerkungen. Obwohl dies aus dem Text nicht ausdrücklich hervorgeht, muß es sich bei der auslösenden Tat um eine solche von erheblicher Bedeutung handeln, da sonst schwerlich die Prognose gestellt werden kann, daß der Täter auch in Zukunft „erhebliche" rechtswidrige Taten (siehe hierzu § 63 Anm. 3) begehen wird (vgl. Ber. S. 38 BT-Drucks. V/4095). b) Ein Mißbrauch des Berufs oder Gewerbes liegt vor, wenn der Täter die sich ihm aufgrund seiner beruflichen bzw. gewerblichen Tätigkeiten gegebenen Möglichkeiten zur Begehung von Straftaten bewußt und planmäßig ausnutzt (BGH bei Daliinger MDR 1968, 550), z. B. wenn ein Vertreter seine Tätigkeit zu Betrügereien oder Unterschlagungen mißbraucht oder wenn ein Journalist seine publizistischen Möglichkeiten zu verleumderischen Hetzkampagnen mißbraucht (siehe hierzu, insbesondere wegen der sich aus Art. 5 Abs. 2 und Art. 18 GG ergebenden Problematik, BVerfGE 10, 118,122 f.; 25, 88; 330
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 70
BGH 17, 38; NJW 1965, 1388 mit Anm. Wilke NJW 1965, 2211 sowie Lang-Hinrichsen, Heinitz-Festschr. S. 474). - Für Beamte ist als lex specialis die Sonderregelung des § 358 i. V. mit den §§ 45 ff. zu beachten (vgl. Bockelmann AT 284; str., vgl. Stree in SchönkeSchröder3). c) Die mit der beruflichen bzw. gewerblichen Tätigkeit „verbundene" Pflichtverletzung muß „grob", d. h. erheblich, sein und mit der beruflichen (gewerblichen) Tätigkeit nicht nur in einem äußeren, sondern in innerem Zusammenhang stehen (vgl. BGH bei Daliinger MDR 1952, 146; siehe auch BGH 22, 144). Hierher gehören z. B. illegale Schwangerschaftsabrüche durch Ärzte oder Hebammen; aber auch die Pflicht, Arbeitnehmerbeiträge ordnungsgemäß an die Krankenkasse abzuführen, gehört zu den spezifischen Berufspflichten eines Arbeitgebers (vgl. Dreher 3; Horn SK 5; Lackner 2 b; Lang-Hinrichsen aaO. 491 ff.; Martens NJW 1959, 1289; a. A. BayObLG NJW 1957,958; Stree in Schönke-Schröder 7). Weitere Beispiele, die sich teilweise auch unter die „Mißbrauchsalternative" subsumieren lassen: Verletzung der gesetzlichen Schweigepflicht durch einen Arzt, Rechtsanwalt, Apotheker usw., Verstöße gegen gesundheitspolizeiliche Vorschriften durch einen Gastwirt, Lebensmittelhändler oder Friseur, Verstöße gegen das BTMG durch Ärzte, Apotheker usw., Vertrieb illegaler Schriften durch Verleger, Buchhändler usw., Vornahme sexueller Handlungen an minderjährigen Auszubildenden durch Handwerksmeister oder private Musiklehrer (vgl. BGH bei Herlan MDR 1954, 529 sowie 5 StR 1/53 bei Lang-Hinrichsen aaO. S. 493). d) Art und Höhe der Strafe, neben der die Maßregel verhängt wird, sind abweichend vom früheren Recht, das ein Berufsverbot nur neben einer Freiheitsstrafe von mindestens 3 Monaten vorsah, unerheblich. Die Maßregel kann auch isoliert angeordnet werden, wenn der Täter schuldunfähig war, seine Schuldunfähigkeit sich zumindest nicht ausschließen läßt. e) Das Berufsverbot ist nur zulässig, wenn bei weiterer Ausübung des Berufs, Gewerbes usw. erhebliche Taten (siehe hierzu § 63 Anm. 3) zu befürchten sind. Entscheidender Zeitpunkt hinsichtlich der Gefährlichkeitsprognose ist - wie bei der Fahrerlaubnisentziehung - die Hauptverhandlung, wobei jedoch die Wirkungen der zugleich mit der Maßregel ausgesprochenen Strafe mit zu berücksichtigen sind (vgl. BGH GA 1953, 154; MDR 1956, 143; Bockelmann AT 284; Lackner 2 d, bb; Lang-Hinrichsen LK 13, 18 zu § 42 1 aF; Stree in Schönke-Schröder 13). f) Übereinstimmend mit dem früheren Recht, jedoch abweichend von § 101 E 1962 und § 78 A E ist die Anordnung des Berufsverbots nicht obligatorisch, sondern nur fakultativ (vgl. Ber. S. 38BT-Drucks. V/4095; Bockelmann AT 284; ZipfJuS 1974, 273,277; a. A. Maurach A T 911). So kann z. B. von einer Maßregel nach § 70 abgesehen werden, wenn der Täter im Zeitpunkt der Verurteilung seinen früheren Beruf aufgegeben oder seinen früheren Betrieb verpachtet hat und keine Gefahr mehr besteht, daß er sich erneut seiner früheren Tätigkeit zuwendet. Andererseits stehen derartige Umstände der Anordnung eines Berufsverbots nicht in jedem Fall entgegen (vgl. RG DJ 1939, 520; BGH bei Herlan MDR 1954, 529). Die Erforderlichkeit der strafgerichtlichen Anordnung eines Berufsverbots entfällt auch nicht durch die Möglichkeit, daß der Täter in einem berufsgerichtlichen Disziplinarverfahren oder durch eine Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörde seine Approbation als Arzt, Zahnarzt, Apotheker, Rechtsanwalt usw. verliert (vgl. BGH bei Daliinger MDR 1952, 530; NJW 1975, 2249). Umgekehrt wird das berufsgerichtliche Disziplinarverfahren, das unter anderen Aspekten durchzuführen ist, durch die 331
§ 70a
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
strafgerichtliche Entscheidung weder ausgeschlossen noch präjudiziert (vgl. BGH NJW 1975, 1712 m. Nachw.; Lang-Hinrichsen, Heinitz-Festschr. S. 496 ff.; Lackner 7; einschränkend BVerfGE 15, 282). g) Der Umfang des Berufsverbots ist vom Gericht unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (§ 62) genau zu bestimmen (vgl. § 260 Abs. 2 StPO). So kann z. B. bei einem Handwerksmeister, der sich an minderjährigen Auszubildenden vergriffen hat, das Berufsverbot auf die Ausbildung Minderjähriger beschränkt werden (vgl. BGH bei Herlan MDR 1954, 529; Lang-Hinrichsen LK 18 zu § 42 1 aF; Stree in Schönke-Schröder 15); bei einem Arzt oder Kaufmann kann das Verbot auf die Ausübung selbständiger Tätigkeit beschränkt werden. Unzulässig, da zu weitgehend, wäre es jedoch, dem Täter jede Art von selbständiger Tätigkeit zu verbieten (vgl. BGH MDR 1952, 530; GA 1967, 153; Dreher 16; Lackner 5; Lang-Hinrichsen LK 18 zu § 42 1 aF; Stree in SchönkeSchröder 16). 3. Ein zeitlich unbefristetes Berufsverbot („für immer", Abs. 1 S. 2) kommt nur in extremen Ausnahmefällen in Betracht, z. B. wenn ein früheres, zeitlich befristetes Berufsverbot wirkungslos geblieben ist oder wenn eine Besserung des Täters nicht erwartet werden kann. Härten können durch § 70 a ausgeglichen werden. 4. Die in Abs. 2 geregelte Anrechnung des vorläufigen Berufsverbots (§ 132 a StPO) ist der entsprechenden Regelung bei der Anrechnung der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung auf die Dauer der endgültigen Sperrfrist nachgebildet (vgl. § 69 a Abs. 4). 5. Abs. 3 dehnt zur Vermeidung von Umgehungen des angeordneten Berufsverbots dessen Anwendungsbereich auf solche Fälle aus, in denen der Täter die ihm verbotene Berufstätigkeit durch Angestellte oder sog. Strohmänner ausüben läßt oder umgekehrt für einen Strohmann die ihm untersagte Tätigkeit ausübt. 6. Wegen der Berechnung der Verbotsfrist siehe Abs. 4. Die Vorschrift ist dem § 69 a Abs. 5 nachgebildet, auf dessen Kommentierung deshalb verwiesen werden kann. Die sich aus Abs. 4 S. 3 ergebende Beschränkung, auf die bei der Fahrerlaubnisentziehung verzichtet worden ist, beruht auf dem Kumulationsprinzip von Strafe und Maßregel und berücksichtigt, daß sich jemand nicht bewähren kann, solange er in einer Anstalt verwahrt wird. 7. Beachte ergänzend §§ 70 a (Aussetzung zur Bewährung), 70 b (Widerruf der Aussetzung und Erledigung des Berufsverbots) sowie 132 a StPO (vorläufiges Berufsverbot). Verstöße gegen das (vorläufige oder endgültige) Berufsverbot sind nach § 145 c strafbar.
§ 70 a
Aussetzung des Berufsverbots
(1) Ergibt sich nach Anordnung des Berufsverbots Grund zu der Annahme, daß die Gefahr, der Täter werde erhebliche rechtswidrige Taten der in § 70 Abs. 1 bezeichneten Art begehen, nicht mehr besteht, so kann das Gericht das Verbot zur Bewährung aussetzen. 332
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 70 b
(2) Die Anordnung ist frühestens zulässig, wenn das Verbot ein Jahr gedauert hat. In die Frist wird im Rahmen des § 70 Abs. 4 Satz 2 die Zeit eines vorläufigen Berufsverbots eingerechnet. Die Zeit, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist, wird nicht eingerechnet. (3) Wird das Berufsverbot zur Bewährung ausgesetzt, so gelten die §§ 56a und 56 c bis 56 e entsprechend. Die Bewährungszeit verlängert sich jedoch um die Zeit, in der eine Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel vollzogen wird, die gegen den Verurteilten wegen der Tat verhängt oder angeordnet worden ist. 1. Die Aussetzung des Berufsverbots kann - anders als in den Fällen des § 67 b - nicht schon bei der Anordnung, sondern erst nach der Anordnung des Berufsverbots erfolgen. Sie setzt eine „begründete Annahme" voraus, daß der Verurteilte keine erheblichen rechtswidrigen Taten (§ 63 Anm. 3) mehr begehen wird, z. B. weil er in der Zwischenzeit eine berufliche Ausbildung nachgeholt hat (vgl. Begr. zu § 106 E 1962). 2. Die in Abs. 2 festgelegte Mindestfrist von 1 Jahr soll gewährleisten, daß die von dem Täter ausgehende Gefahr wenigstens für eine gewisse Zeit mit Sicherheit abgewehrt wird (Begr. zu § 106 E 1962). Wegen der Berechnung dieser Frist siehe Abs. 2 S. 2 und 3. 3. Abs. 3 verweist auf die im Bereich der Strafaussetzung zur Bewährung getroffene Regelung betreffend Bewährungszeit (§ 56 a), Weisungen (§ 56 c) und Bewährungshilfe (§ 56 d) sowie die Möglichkeit nachträglicher Entscheidungen in diesem Zusammenhang (§ 56 e). 4. Wegen des Verfahrens siehe § 462 StPO i. V. mit § 463 Abs. 5 StPO sowie § 462 a StPO i. V. mit § 463 Abs. 1 StPO.
§ 70 b Widerruf der Aussetzung und Erledigung des Berufsverbots (1) Das Gericht widerruft die Aussetzung eines Berufsverbots, wenn der Verurteilte 1. während der Bewährungszeit unter Mißbrauch seines Berufs oder Gewerbes oder unter grober Verletzung der mit ihnen verbundenen Pflichten eine rechtswidrige Tat begeht, 2. gegen eine Weisung gröblich oder beharrlich verstößt oder 3. sich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers beharrlich entzieht und sich daraus ergibt, daß der Zweck des Berufsverbots dessen weitere Anwendung erfordert. (2) Das Gericht widerruft die Aussetzung des Berufsverbots auch dann, wenn Umstände, die ihm während der Bewährungszeit bekannt werden und zur 333
§ 71
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Versagung der Aussetzung geführt hätten, zeigen, daß der Zweck der Maßregel die weitere Anwendung des Berufsverbots erfordert. (3) D i e Zeit der Aussetzung des Berufsverbots wird in die Verbotsfrist nicht eingerechnet. (4) Leistungen, die der Verurteilte zur Erfüllung von Weisungen oder Zusagen erbracht hat, werden nicht erstattet. (5) Nach Ablauf der Bewährungszeit erklärt das Gericht das Berufsverbot für erledigt. 1. Die Voraussetzungen des Widerrufs entsprechen im wesentlichen denen des Widerrufs bei der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 f). Auf die Ausführungen zu § 56 f kann deshalb verwiesen werden. 2. Wegen des Verfahrens siehe § 462 a StPO i. V. mit § 463 Abs. 1 StPO sowie § 462 StPO i. V. mit § 463 Abs. 5 StPO.
- Gemeinsame Vorschriften § 71
Selbständige Anordnung*
(1) D i e Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt oder in einer sozialtherapeutischen Anstalt kann das Gericht auch selbständig anordnen, wenn das Strafverfahren wegen Schuldunfähigkeit oder Verhandlungsunfähigkeit des Täters undurchführbar ist. (2) Dasselbe gilt für die Entziehung der Fahrerlaubnis und das Berufsverbot. 1. Ergibt sich im Laufe eines Strafverfahrens, d. h. nach Eröffnung des Hauptverfahrens, daß der Angeklagte die auslösende Tat (Anlaßtat) im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) begangen hat oder seine Schuldunfähigkeit sich zumindest nicht ausschließen läßt, so ist der Angeklagte freizusprechen. Die Maßregel tritt dann nicht neben die Strafe, sondern an ihre Stelle, d. h. sie wird selbständig (isoliert) angeordnet. Zulässig ist dies allerdings nur bei den in § 71 Abs. 1 und 2 ausdrücklich aufgeführten Maßregeln. Ergibt sich die (erwiesene oder nicht auszuschließende) Schuldunfähigkeit bereits während des Ermittlungsverfahrens, so darf ein Strafverfahren schon gar nicht eingeleitet werden. Die StA kann in diesem Fall jedoch das sog. Sicherlingsverfahren betreiben (vgl. §§ 413 ff. StPO sowie unten Anm. 4). 2. Eine isolierte Anordnung der in Abs. 1 und 2 aufgeführten Maßregeln ist auch dann zulässig, wenn der Täter die ihm zur Last gelegte Tat zwar schuldhaft begangen hat, der * Siehe § 65 Anm. I. 334
Sechster Titel: Maßregeln der Besserung und Sicherung
§ 72
Durchführung des Strafverfahrens jedoch seine Verhandlungsunfähigkeit entgegensteht. In diesen Fällen kann sowohl im Interesse seiner Resozialisierung als auch zum Schutz der Allgemeinheit vor weiterer Gefährdung ein dringendes Bedürfnis bestehen, daß die erforderlichen Maßregeln möglichst umgehend angeordnet werden. Die StA kann deshalb auch bei dauernder Verhandlungsunfähigkeit das Sicherungsverfahren nach den §§ 413 ff. StPO betreiben. Ergibt sich die Verhandlungsunfähigkeit erst während des Strafverfahrens, so ist das Verfahren nach § 205 StPO einzustellen und zu prüfen, ob das Resozialisierungs- und Sicherungsbedürfnis die alsbaldige Einleitung eines Sicherungsverfahrens erfordern. Eine Überleitung des Strafverfahrens in das Sicherungsverfahren ist jedenfalls weder gesetzlich vorgesehen noch zulässig. 3. Kann das Strafverfahren lediglich wegen Fehlens des Strafantrags, der Ermächtigung oder des Strafverlangens nicht durchgeführt werden, so kommt (entgegen dem Vorschlag des § 103 E 1962) eine isolierte Maßregelanordnung weder im Strafverfahren noch im Sicherungsverfahren in Betracht. Meist wird hier schon der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62) der Anordnung einer Maßregel entgegenstehen. Im übrigen sind in derartigen Fällen die entsprechenden verwaltungsrechtlichen Maßnahmen (z. B. aufgrund der landesrechtlichen Unterbringungsgesetze, der GewO, des StVG usw.) ausreichend, um den Schutz der Allgemeinheit zu gewährleisten (vgl. Ber. S. 38 BT-Drucks. V/4095). Für die Fälle, in denen ein StraffreiheitsG das Strafverfahren undurchführbar macht, bleibt die betreffende Regelung dem jeweiligen AmnestieG vorbehalten, sofern dafür ein Bedürfnis besteht (vgl. z. B. § 4 StraffreiheitsG 1970). Auch bei verjährten Anlaßtaten kommt eine isolierte Maßregelanordnung nicht in Betracht (vgl. Begr. zu § 103 E 1962). 4. Die Durchführung des Sicherungsverfahrens ist in den §§ 413 ff. StPO geregelt. Sie unterliegt dem Opportunitätsprinzip, d. h. die StA stellt den Antrag nur, wenn nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen das Resozialisierungs- und Sicherungsbedürfnis die Anordnung der Maßregel dringend erfordern. Ein Ubergang vom Sicherungsverfahren zum Strafverfahren ist möglich (vgl. § 416 StPO), nicht jedoch umgekehrt. Die Zuständigkeit des Gerichts richtet sich nach allgemeinen Kriterien, d. h. freiheitsentziehende Maßregeln nach §§ 63, 65 können auch im Sicherungsverfahren nur von den Strafkammern des Landgerichts angeordnet werden (vgl. § 74 Abs. 1 S. 2 GVG), während die übrigen Maßregeln (§§ 64, 69, 70) auch vom Amtsgericht angeordnet werden können, und zwar vom SchöffG (vgl. § 24 Abs. 1 GVG sowie Kleinknecht Anm. 3 zu § 414 StPO). Wird das Sicherungsverfahren nicht wegen Schuldunfähigkeit, sondern nur wegen Verhandlungsunfähigkeit des Täters durchgeführt, so steht die Rechtskraft der im Sicherungsverfahren angeordneten Maßregelanordnung einem späteren Strafverfahren nicht entgegen, falls der Täter später wieder verhandlungsfähig sein sollte. Über die Maßregel darf dann aber nicht erneut entschieden werden.
§ 72
Verbindung von Maßregeln*
(1) Sind die Voraussetzungen für mehrere Maßregeln erfüllt, ist aber der erstrebte Zweck durch einzelne von ihnen zu erreichen, so werden nur sie * Siehe § 6 5 Anm. I. 335
§ 72
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
angeordnet. Dabei ist unter mehreren geeigneten Maßregeln denen der Vorzug zu geben, die den Täter am wenigsten beschweren. (2) Im übrigen werden die Maßregeln nebeneinander angeordnet, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt. (3) Werden mehrere freiheitsentziehende Maßregeln angeordnet, so bestimmt das Gericht die Reihenfolge der Vollstreckung. Vor dem Ende des Vollzugs einer Maßregel ordnet das Gericht jeweils den Vollzug der nächsten an, wenn deren Zweck die Unterbringung noch erfordert. § 67 c Abs. 2 Satz 4, 5 ist anzuwenden. 1. Abs. 1 ist Ausfluß des in § 62 deklarierten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Eine Kombination mehrerer Maßregeln ist nur dort zulässig, wo eine Maßregel allein dem Resozialisierungs- und Sicherungsbedürfnis nicht gerecht wird (Abs. 1 S. 1). So wäre es z. B. unzulässig, bei einem schwerkriminellen Hangtäter, bei dem nach § 66 die SV anzuordnen ist, nur deshalb noch zusätzlich die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen, weil er nur vermindert schuldfähig ist und deshalb auch die Voraussetzungen des § 63 vorliegen (was allerdings eine spätere Überweisung nach § 67 a Abs. 2 nicht ausschließt). Umgekehrt wäre es bei dem soeben erörterten Beispiel verfehlt, auf die Anordnung nach § 66 zu verzichten, nur weil auch die Voraussetzungen des § 63 vorliegen. Die Unterbringung nach § 63 ist zwar weniger beschwerend i. S. von Abs. 1 S. 2, erfüllt aber nicht die offensichtlich gebotene Sicherungsfunktion. Abs. 1 S. 2 findet nur bei Maßregeln mit gleicher Sicherungsfunktion Anwendung, z. B. wenn das Gericht die Möglichkeit hat, den Täter entweder in einer Entziehungsanstalt, in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer sozialtherapeutischen Anstalt unterzubringen. Hier kommt die Unterbringung nach § 63 nur als „ultima ratio" in Betracht, nämlich dann, wenn die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt den Maßregelzweck nicht zu erreichen vermag und auch die Voraussetzungen des § 65 Abs. 3 nicht vorliegen. Auch bei Maßregeln, die nicht mit einer Freiheitsentziehung verbunden sind, ist grundsätzlich nur die schonendste Maßregel anzuordnen. So kann es z. B. bei einem betrügerischen Vertreter zur Vermeidung eines Berufsverbots (§ 70) bereits ausreichend sein, ihm nach § 69 die Fahrerlaubnis zu entziehen. Ebenso läßt sich die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vermeiden, wenn einem trunksüchtigen Verkehrsdelinquenten, der bisher nur im Verkehr, nicht auch sonst durch rechtswidrige Taten in Erscheinung getreten ist, die Fahrerlaubnis entzogen wird (anders natürlich, wenn er auch nach Entziehung der Fahrerlaubnis unter dem Einfluß seiner Trunksucht weiterhin schwerwiegende Verkehrsdelikte begeht oder befürchten läßt). 2. Die Voraussetzungen des Abs. 2 liegen immer dann vor, wenn eine einzelne Maßregel auch in Verbindung mit einer gleichzeitig ausgesprochenen Strafe dem Resozialisierungsoder Sicherungszweck nicht gerecht wird oder wenn ihr Erfolg zweifelhaft erscheint (vgl. Maurach AT 884). 3. Die Reihenfolge bei der Vollstreckung mehrerer freiheitsentziehender Maßregeln wird nach Abs. 3 vom Gericht bestimmt, wobei zunächst das erkennende Gericht und später, bei den nach S. 2 und 3 zu treffenden Entscheidungen, das sich aus § 462 a StPO ergebende Gericht zuständig ist (vgl. § 463 Abs. 3 i. V. mit § 454 StPO).
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Siebenter Titel: Verfall und Einziehung
§ 73
Siebenter Titel: Verfall und Einziehung Vorbemerkungen 1. Auch der Verfall und die Einziehung gehören zu den Rechtsfolgen der Tat. Ihre Rechtsnatur war seit jeher umstritten. Eine einheitliche Zuordnung zu den Nebenstrafen oder zu den Sicherungsmaßregeln ist schon deshalb nicht möglich, weil die Auswirkungen beider Rechtsinstitute verschieden sind, je nachdem, ob sie gegen schuldhaft Tatbeteiligte, gegen nicht schuldhaft Tatbeteiligte oder gegen unbeteiligte Dritte zur Anwendung kommen. Im ersten Fall handelt es sich sowohl beim Verfall als auch bei der Einziehung primär um eine Nebenstrafe im weiteren Sinn (Nebenfolge mit strafähnlichem Charakter); in den beiden letztgenannten Fällen steht bei der Einziehung der Sicherungszweck im Vordergrund, beim Verfall geht es um die Beseitigung einer illegalen Bereicherung, die der Staat nicht dulden kann. 2. Mit Rücksicht auf das unterschiedliche Anliegen von Verfall und Einziehung je nach den Umständen des Einzelfalls wurde bei der Neufassung des Allgemeinen Teils durch das 2. StrRG darauf verzichtet, die beiden Rechtsinstitute entweder den Nebenstrafen oder den Sicherungsmaßregeln zuzuordnen. Die Konzeption der Neufassung geht vielmehr sachlich zutreffend dahin, beide Rechtsinstitute als Sanktionen eigenständiger Art zu behandeln, sie jedoch wegen ihrer Verwandtschaft mit den Maßregeln zusammen mit diesen einem gemeinschaftlichen Oberbegriff der Maßnahmen unterzuordnen (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 8). Die Vorschriften über den Verfall finden sich in den §§ 73-73 d, während die Einziehung und die mit ihr in Zusammenhang stehende Unbrauchbarmachung (ebenfalls eine „Maßnahme" i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 8) in den §§ 74-75 behandelt werden. Die §§ 76 und 76 a enthalten gemeinsame Vorschriften über die nachträgliche und selbständige Anordnung von Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung. 3. Aus dem Schrifttum siehe insbesondere Eser, Die strafrechtlichen Sanktionen gegen das Eigentum, 1969. - Weitere Nachweise bei den einzelnen Vorschriften.
§ 73
Voraussetzungen des Verfalls
(1) Ist eine rechtswidrige Tat begangen worden und hat der Täter oder Teilnehmer für die Tat oder aus ihr einen Vermögensvorteil erlangt, so ordnet das Gericht dessen Verfall an. D i e s gilt nicht, soweit dem Verletzten aus der Tat ein Anspruch erwachsen ist, dessen Erfüllung den aus der Tat erlangten Vermögensvorteil beseitigen oder mindern würde. (2) Die Anordnung des Verfalls erstreckt sich auf die gezogenen Nutzungen. Sie kann sich auch auf die Gegenstände erstrecken, die der Täter oder Teilnehmer durch die Veräußerung eines erlangten Gegenstandes oder als Ersatz für dessen Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung oder auf Grund eines erlangten Rechts erworben hat. 337
§ 73
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
(3) Hat der Täter oder Teilnehmer für einen anderen gehandelt und hat dadurch dieser den Vermögensvorteil erlangt, so richtet sich die Anordnung des Verfalls nach den Absätzen 1 und 2 gegen ihn. (4) Der Verfall eines Gegenstandes wird auch angeordnet, wenn er einem Dritten gehört oder zusteht, der den Vermögensvorteil für die Tat oder sonst in Kenntnis der Tatumstände gewährt hat. 1. Die Neufassung des Allgemeinen Teils durch das 2. StrRG machte es erforderlich, eine allgemeine Vorschrift einzuführen, die es ermöglicht, überall dort den Gewinn abzuschöpfen, wo der Täter für eine Tat oder aus einer Tat einen Vermögensvorteil erlangt hat, der ihm nicht belassen werden darf. Die Notwendigkeit der Neuregelung muß dabei in engem Zusammenhang mit dem neuen Geldstrafensystem gesehen werden. Die Zahl der nach § 40 Abs. 1 zu verhängenden Tagessätze richtet sich gemäß § 46 Abs. 1 primär nach dem Schuldgehalt der Tat und den mit der Strafe allgemein verfolgten Zwecken (Resozialiserung, Spezial- und Generalprävention). Die Gewinnsucht kann nach § 46 Abs. 2 als strafschärfender Beweggrund gewertet werden; eine dem ehemaligen § 27 b entsprechende Vorschrift, die es zuließe, das gesetzlich zulässige Höchstmaß der Geldstrafe zu überschreiten, fehlt jedoch. Insbesondere kann auch bei Festlegung der Höhe der einzelnen Tagessätze kein befriedigender Ausgleich für den aus der Tat gezogenen Gewinn erreicht werden, da die Höhe der Tagessätze grundsätzlich am Nettoeinkommen auszurichten ist (vgl. § 40 Abs. 2 S. 2). § 41 wiederum gibt lediglich die Möglichkeit, überhaupt eine Geldstrafe auszusprechen, wenn wegen der Schwere der Schuld eine Freiheitsstrafe ausgesprochen wird. Unter diesem Gesichtspunkt stellt das Rechtsinstitut des Verfalls eine sachgerechte Ergänzung des Rechtsfolgesystems dar. Die Möglichkeit seiner Anwendung schützt das Gericht vor der sonst naheliegenden Gefahr, zur Erzielung eines optisch befriedigenderen Gesamtergebnisses unangemessen hohe Strafen auszusprechen, die sich weder mit dem Schuldprinzip noch mit den anerkannten Strafzwekken in Einklang bringen lassen. Schrifttum: Brenner, Gewinnverfall, eine vernachlässigte Strafvorschrift, DRiZ 1977, 203. 2. Die Voraussetzungen des Verfalls (Abs. 1) a) Es genügt eine rechtswidrige Tat (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 5), die nicht notwendig auch schuldhaft begangen worden sein muß. Bei einem schuldfähigen Täter, bei dem die Anordnung des Verfalls neben der Strafe ausgesprochen wird, wirkt sich diese Rechtsfolge als Nebenstrafe aus, bei einem schuldunfähigen Täter hat die Maßnahme lediglich den Zweck, die illegale Bereicherung aus Gründen der allgemeinen Gerechtigkeit abzuschöpfen. b) Uber die Begriffe Täter oder Teilnehmer siehe §§ 25 ff. - Auch bei versuchter Täterschaft und versuchter Tatbeteiligung i. S. des § 30 Abs. 1 und Abs. 2 können die Voraussetzungen für die Anordnung des Verfalls gegeben sein. Beispiel: A erhält dafür, daß er sich bereit erklärt, X zu ermorden, eine Prämie. c) Vermögensvorteil ist jede günstigere Gestaltung der Vermögenslage, sofern sie sich nur rechnerisch erfassen läßt. Auf die im E 1962 vorgesehene Differenzierung der Begriffe „Entgelt" und „Gewinn" wurde zu Recht verzichtet (Ber. S. 39 BT-Drucks. V/4095). Für die Annahme eines Vermögensvorteils kommt es vielmehr ausschließlich 338
Siebenter Titel: Verfall und Einziehung
§ 73
auf einen Vergleich zwischen der Vermögenslage vor und nach der Tat an. Der Vermögensvorteil kann auch in einem Nutzungsrecht oder in ersparten Aufwendungen bestehen. d) Ansprüche des Verletzten, die diesem aus der Tat gegen den Täter erwachsen sind, müssen bei der Berechnung mit berücksichtigt werden (Abs. 1 S. 2). Durch diese Regelung wird klargestellt, daß die Schadensersatzansprüche des durch die Tat Verletzten der öffentlich-rechtlichen Restitution vorgehen (vgl. Maurach AT 819). So liegt z. B. kein dem Verfall unterliegender Vermögensvorteil vor, wenn der Dieb dem Bestohlenen die entwendete Sache zurückgegeben und ihm gleichzeitig noch den durch den Besitzverlust entstandenen Schaden ersetzen muß, oder wenn bei einem Betrug der betrügerisch erlangte Vermögensvorteil dem Geschädigten zurückzuerstatten ist. Bei der Berechnung des Vermögensvorteils sind weiter die Kosten des Täters zu berücksichtigen, die dieser für die Vorbereitung und Durchführung der Tat aufwenden mußte. Wenn z. B. der von A für ein Sprengstoffattentat gedungene X 10 000,- DM Prämie erhalten hat, hiervon aber 5000,- DM als „Spesen" für die Beschaffung der erforderlichen Materialien und die Bezahlung seiner Mitarbeiter aufwenden muß, kann die Anordnung des Verfalls nur hinsichtlich der restlichen 5000,- DM ausgesprochen werden. Auch Gegenleistungen des Täters (z.B. ein Gegengeschenk oder Ausgaben für eine Gegeneinladung) sind bei der Berechnung des Vermögensvorteils in Abzug zu bringen (vgl. Eser in Schönke-Schröder 17). e) „Für" die Tat erlangt ist ein Vermögensvorteil insbesondere dann, wenn er sich als Entgelt i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 9 darstellt. Hierher gehören z. B. für die Tat ausgesetzte Prämien und Bestechungsgelder. f) „Aus" der Tat erlangt ist nur der unmittelbar aus der Tat gezogene Vermögensvorteil (vgl. Ber. S. 39 BT-Drucks. V/4095), z. B. der aus einer Geldfälschung gezogene Gewinn. Nicht hierher gehört der mittelbare Gewinn, der z. B. dadurch entsteht, daß jemand mit einer gestohlenen Maschine gewinnbringend arbeitet. 3. Liegen die Voraussetzungen des Abs. 1 vor, so ist die Anordnung des Verfalls zwingend. Zu beachten ist jedoch die Härteklausel des § 73 c. 4. Abs. 2 S. 1 erweitert den Anwendungsbereich der Vorschrift auf die Nutzungen des für die Tat oder aus der Tat erlangten Vermögensvorteils. Erfaßt werden aber nur die unmittelbaren Nutzungen, z. B. die Zinsen aus der bei einem Bankinstitut angelegten Mordprämie oder der rechnerisch feststellbare Nutzungswert, den ein als Bestechungsentgelt kostenlos zur Verfügung gestellter Leihwagen hat. Nicht hierher gehören jedoch die mittelbaren Nutzungen, z. B. die zusätzlichen Einkünfte, die der Täter dadurch hat, daß er durch den betrügerisch erlangten repräsentativen und schnellen Wagen seriöser wirkt und beweglicher geworden ist. Auch der mit dem deliktisch erlangten Geld erzielte Spekulations- oder Lotteriegewinn unterliegt nicht dem Verfall (Dreher 11; weitergehend Schreiber SK 9 unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien). 5. Abs. 2 S. 2, der im Gegensatz zu Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 nur eine fakultative Anordnung des Verfalls vorsieht, erfaßt die Surrogate des ursprünglich für die Tat oder aus der Tat erlangten Vermögensvorteils, z. B. den Erlös aus dem Verkauf eines als Bestechungsentgelt überlassenen Pkw oder die Versicherungssumme, falls der vollkasko versicherte Pkw bei einem Unfall beschädigt oder zerstört wird. Bleiben die dem Verfall unterliegenden Surrogate wertmäßig hinter dem ursprünglich erlangten Vermögensvorteil zurück, so ist ergänzend § 73 a zu beachten. Die letzte Alternative des Abs. 2 erfaßt u. a. auch den 339
§ 73a
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Fall, daß jemand für die Tat oder aus der Tat zunächst nur ein Anwartschaftsrecht erlangt hat, das dann zum Eigentumsrecht erstarkt. 6. Im Falle des Abs. 3 (Handeln für einen anderen) ist es unerheblich, ob der andere, dem der Vermögensvorteil zugeflossen ist, schuldhaft an der Tat mitgewirkt hat. Die Anordnung des Verfalls ist sogar zulässig, wenn der andere von der Tat überhaupt keine Kenntnis gehabt hat (wichtig für die Fälle, in denen der Täter den Vermögensvorteil einer von ihm kontrollierten juristischen Person zufließen läßt). Durch die Verweisung auf die Absätze 1 und 2 wird klargestellt, daß auch Nutzungen und Surrogate dem Verfall unterliegen. 7. Anders als in den Fällen des Abs. 3 hat die Anordnung des Verfalls unter den Voraussetzungen des Abs. 4 wie im Normalfall, wenn sich die Maßnahmen gegen den bereicherten Täter oder Teilnehmer richten, den Charakter einer strafähnlichen Maßnahme. Wenn z. B. A dem B als Belohnung für einen Meineid einen Leihwagen kostenlos zur Verfügung stellt, können sowohl die von B gezogenen, wertmäßig zu berechnenden Nutzungen als auch der Pkw selbst für verfallen erklärt werden. Adressat der Anordnung sind in diesem Fall sowohl A (hinsichtlich des Wagens) als auch B (hinsichtlich der Nutzungen). 8. Prozessual wird die Anordnung des Verfalls durch die §§ 111 b ff. StPO abgesichert. Die nach § 111 b Abs. 1 StPO mögliche Sicherstellung eines Gegenstands erfolgt durch Beschlagnahme (§ 111 b Abs. 2 StPO). Diese hat nach § 111 c Abs. 5 StPO die Wirkung eines Veräußerungsverbots i. S. des § 136 BGB. Ist der aus der Tat gezogene Vermögensvorteil unter den Voraussetzungen des Abs. 1 S. 2 nicht für verfallen zu erklären, sondern dem Geschädigten zurückzuerstatten (z. B. die Diebesbeute), so ist eine zunächst sichergestellte Sache freizugeben, sofern nicht Ansprüche Dritter entgegenstehen und die Sache nicht für die Zwecke des Strafverfahrens (z. B. als Beweismittel) benötigt wird (vgl.§111 k StPO). Für das Verfahren selbst sind die Vorschriften über die Einziehung (§§ 430 ff. StPO) nach § 442 Abs. 1 StPO entsprechend anwendbar. Siehe auch §§ 232 Abs. 1, 233 Abs. 1, 407 Abs. 2 Nr. 1,442 und 459 g Abs. 1 StPO.
§ 73 a
Verfall des Wertersatzes
Soweit der Verfall eines bestimmten Gegenstandes wegen der Beschaffenheit des Erlangten oder aus einem anderen Grunde nicht möglich ist oder von dem Verfall eines Ersatzgegenstandes nach § 7 3 Abs. 2 Satz 2 abgesehen wird, ordnet das Gericht den Verfall eines Geldbetrages an, der dem Wert des Erlangten entspricht. Eine solche Anordnung trifft das Gericht auch neben dem Verfall eines Gegenstandes, soweit dessen Wert hinter dem Wert des zunächst Erlangten zurückbleibt. 1. Die in § 73 a getroffene Regelung nimmt dem Adressaten der Verfallsanordnung den Anreiz, den erlangten Vermögensvorteil zur Vereitelung des Verfalls an unbeteiligte Dritte weiterzugeben. Es handelt sich um eine Sanktion mit strafähnlichem Charakter, die sich jedoch von der Geldstrafe schon dadurch unterscheidet, daß sie nach anderen Kriterien berechnet wird und nicht durch eine Ersatzfreiheitsstrafe abgesichert ist. 340
Siebenter Titel: Verfall und Einziehung
§ 73b
2. Die Unmöglichkeit der VerfaUsanordnung i. S. von Satz 1 kann sich entweder aus der Beschaffenheit des Erlangten ergeben (z. B. wenn einem Beamten als Gegenleistung für eine pflichtwidrige Amtshandlung der unentgeltliche Besuch von Konzerten oder Sportveranstaltungen ermöglicht wurde) oder aus anderen Gründen, z. B. weil die als Belohnung für einen Meineid gestifteten Spirituosen längst verbraucht oder unauffindbar sind oder weil der Adressat der Verfallsanordnung den Gegenstand an Personen veräußert hat, die weder an der Tat beteiligt waren (§ 73 Abs. 1) noch zum Personenkreis des § 73 Abs. 3 oder 4 gehören. In diesen Fällen der Unmöglichkeit wird der Verfall eines Geldbetrags angeordnet, der dem Wert des ursprünglich erlangten Vermögensvorteils entspricht. Nach § 73 b kann dieser Wert geschätzt werden. 3. Der Verfall des Wertersatzes ist auch dann anzuordnen, wenn das Gericht von dem Verfall des Ersatzgegenstands nach § 73 Abs. 2 S. 2 abgesehen hat. Diese Vorschrift wird vor allem dann von Bedeutung, wenn die Realisierung der dem Verfallsadressaten zustehenden Ersatzansprüche nicht ohne weiteres möglich ist, z. B. wenn der dem Verfall unterliegende Pkw bei einem Unfall schwer beschädigt wurde und die Haftpflichtversicherung des Unfallgegners die Ansprüche des Verfallsadressaten dem Grunde oder der Höhe nach bestreitet. In diesem Fall kann das Gericht auf die Verfallsanordnung hinsichtlich der Ersatzansprüche verzichten und anstatt dessen den Verfall des Wertersatzes anordnen. 4. Satz 2 gibt die Möglichkeit, neben dem Verfall eines bestimmten Gegenstands auch den Verfall der Wertdifferenz anzuordnen, wenn der Wert des dem Verfall unterliegenden Gegenstands hinter dem Wert des ursprünglich erlangten Vermögensvorteils zurückbleibt. Beispiel: A erhält als Belohnung für die Mitwirkung an einem Banküberfall einen Pkw im Wert von 10 000,- DM. Wenn der Pkw im Zeitpunkt der Verfallsanordnung nur noch 6000,- DM wert ist, hat das Gericht außer dem Pkw noch einen Geldbetrag von 4000,- DM für verfallen zu erklären. Dasselbe würde gelten, wenn A den Pkw bei einem Gebrauchtwagenhändler gegen einen anderen Pkw im Wert von 6000,- DM eingetauscht hätte. Dann könnte das Gericht nach § 73 Abs. 2 S. 2 den eingetauschten Pkw und nach § 73 a S. 2 den Differenzbetrag von 4000,- DM für verfallen erklären. Es könnte aber auch nach § 73 a S. 1 auf die Verfallserklärung hinsichtlich des eingetauschten Pkw verzichten und anstattdessen den Verfall von 10 000,- DM anordnen. 5. Richtet sich die Verfallsanordnung hinsichtlich des Wertersatzes gegen mehrere Adressaten, so haften diese als Gesamtschuldner (vgl. Begr. zu § 110 Abs. 3 E 1962).
§ 73 b
Schätzung
Der Umfang des Erlangten und dessen Wert sowie die Höhe des Anspruchs, dessen Erfüllung den Vermögensvorteil beseitigen oder mindern würde, können geschätzt werden. 1. Eine Schätzung kommt erst in Betracht, wenn genaue Feststellungen entweder nicht möglich sind oder unverhältnismäßig große Schwierigkeiten bereiten würden (vgl. Ber. S. 41 BT-Drucks. V/4095). 341
§§ 73 c, 73 d
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Schätzung ist der Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung. Zur Schätzung kann sich das Gericht eines Sachverständigen bedienen, ohne an die strenge Regelung des § 244 StPO gebunden zu sein (Dreher 2). Die Schätzungsgrundlagen und ihre Bewertung sind in entsprechender Anwendung der zu § 287 ZPO entwickelten Grundsätze im Urteil darzulegen. 3. Wegen des „Anspruchs, dessen Erfüllung den Vermögensvorteil beseitigen oder mindern würde" siehe § 73 Abs. 1 S. 2.
§ 73 c
Härtevorschrift
(1) Der Verfall wird nicht angeordnet, soweit er für den Betroffenen eine unbillige Härte wäre. D i e Anordnung kann unterbleiben, soweit der Wert des Erlangten zur Zeit der Anordnung in dem Vermögen des Betroffenen nicht mehr vorhanden ist oder wenn das Erlangte nur einen geringen Wert hat. (2) Für die Bewilligung von Zahlungserleichterungen gilt § 4 2 entsprechend. 1. Eine unbillige Härte i. S. von Satz 1 (obligatorischer Wegfall der Verfallsanordnung) kann z. B. vorliegen, wenn der Täter den für die Tat oder aus der Tat erlangten Gegenstand ohne Gegenleistung und ohne zuvor aus seinem Besitz Vorteile gezogen zu haben, einem Dritten übertragen hat, ohne dabei die Absicht zu verfolgen, den Gegenstand dadurch dem Verfall zu entziehen, oder wenn die Anordnung angesichts der geringen Bedeutung der Tat oder der geringen Schuld des Täters unangemessen erscheint (Begr. zu § 111 E 1962). 2. Die Kannvorschrift des S. 2 betrifft die Fälle, in denen durch Wegfall der Bereicherung (z. B. der für die Tat erlangte Pkw wurde wenig später durch einen vom Täter selbst verschuldeten Unfall total beschädigt) oder wegen der Geringwertigkeit des erlangten Vermögensvorteils (z. B. Einladung zu einem Essen oder einer Sportveranstaltung) kein kriminalpolitisches Bedürfnis für eine Verfallsanordnung besteht. Grundsätzlich ohne Bedeutung ist dagegen der Umstand, daß der Täter sich wegen der Tat, die ihm den Vermögensvorteil einbrachte, in U-Haft befand (vgl. Ber. S. 41 BT-Drucks. V/4095; anders noch § 111 Abs. 2 E 1962). 3. Da der Verfall keine Geldstrafe ist, findet § 42 keine unmittelbare Anwendung. Abs. 2 sieht deshalb die entsprechende Anwendung vor und erfüllt damit ein praktisches Bedürfnis (Begr. zu § 111 Abs. 3 E 1962).
§ 73 d
Wirkung des Verfalls
(1) Wird der Verfall eines Gegenstandes angeordnet, so geht das Eigentum an der Sache oder das verfallene Recht mit der Rechtskraft der Entscheidung auf den Staat über, wenn es dem von der Anordnung Betroffenen zu dieser Zeit zusteht. Rechte Dritter an dem Gegenstand bleiben bestehen. 342
Siebenter Titel: Verfall und Einziehung
§ 74
(2) Vor der Rechtskraft wirkt die Anordnung als Veräußerungsverbot im Sinne des § 1 3 6 des Bürgerlichen Gesetzbuches; das Verbot umfaßt auch andere Verfügungen als Veräußerungen. 1. Der Rechtsübergang nach Abs. 1 S. 1 setzt voraus, daß der Gegenstand (Sache oder Recht) im Zeitpunkt der Rechtskraft dem Adressaten der Verfallsanordnung gehört bzw. zusteht. Ist dies nicht der Fall (z. B. weil dem Gericht die tatsächlichen Eigentumsverhältnisse im Zeitpunkt der Verfallsanordnung nicht bekannt waren), so treten trotz Rechtskraft der Verfallsanordnung deren Rechtsfolgen nicht ein. Der tatsächliche Berechtigte (Eigentümer der Sache, Inhaber des Rechts) ist nicht gehindert, seine Rechte an dem Gegenstand im sog. Nachverfahren geltend zu machen (vgl. § 439 StPO sowie Begr. zu § 112Abs. I E 1962). 2. Die in Abs. 1 S. 2 getroffene Regelung, daß Rechte Dritter an dem Gegenstand (Sache oder Recht) bestehen bleiben, bezieht sich auf Eigentumsrechte sowie alle sog. beschränkt dinglichen Rechte, nämlich Nutzungsrechte (z. B. Erbbaurechte, Dienstbarkeiten, Dauerwohnrechte), Verwertungsrechte (z. B. Reallasten, Grundpfandrechte und Pfandrechte) sowie Erwerbsrechte (z. B. Vorkaufsrechte nach §§ 1094 ff. BGB und Aneignungsrechte nach §§ 927 Abs. 2, 928 Abs. 2 BGB). Wegen der Geltendmachung dieser Rechte im sog. Nachverfahren siehe § 439 StPO. 3. Die Regelung des Abs. 2, wonach sich die Verfallsanordnung als Veräußerungsverbot auswirkt, beschränkt die Möglichkeit, daß der Betroffene den Gegenstand nach der Anordnung des Verfalls, aber vor deren Rechtskraft, rechtswirksam veräußert oder belastet und dadurch den Vollzug der Verfallsanordnung verhindert oder beeinträchtigt. Gutgläubige Dritte, die von der Verfallsanordnung keine Kenntnis gehabt haben, sind jedoch nach §§ 135 Abs. 2, 136 BGB geschützt. In diesem Fall kann nach § 76 die Einziehung des Wertersatzes nachträglich angeordnet werden. 4. Prozessuale Möglichkeiten, den nach Abs. 1 vorgesehenen Eigentumsübergang vor einer Veräußerung oder Belastung des dem Verfall unterliegenden Gegenstands (Sache oder Recht) abzusichern, ergeben sich aus den §§ 111 b ff. StPO. Zu beachten ist besonders das Veräußerungsverbot des § 111 c Abs. 5 StPO. Die Vollstreckung der Verfallsanordnung ist in § 459 g StPO geregelt (siehe auch §§ 61, 62 StrVollstrO).
§ 74
Voraussetzungen der Einziehung
(1) Ist eine vorsätzliche Straftat begangen worden, so können Gegenstände, die durch sie hervorgebracht oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind, eingezogen werden. (2) D i e Einziehung ist nur zulässig, wenn 1. die Gegenstände zur Zeit der Entscheidung dem Täter oder Teilnehmer gehören oder zustehen oder 343
§ 74
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
2. die Gegenstände nach ihrer Art und den Umständen die Allgemeinheit gefährden oder die Gefahr besteht, daß sie der Begehung rechtswidriger Taten dienen werden. (3) Unter den Voraussetzungen des Absatzes 2 Nr. 2 ist die Einziehung der Gegenstände auch zulässig, wenn der Täter ohne Schuld gehandelt hat. (4) Wird die Einziehung durch eine besondere Vorschrift über Absatz 1 hinaus vorgeschrieben oder zugelassen, so gelten die Absätze 2 und 3 entsprechend. I. Die Vorschriften über Einziehung und Unbrauchbarmachung wurden im Vorgriff auf die Große Strafrechtsreform durch Art. 1 des EGOWiG vom 24. 5. 1968 neu gefaßt. Sie wurden durch das 2. StrRG im wesentlichen unverändert übernommen. Aus dem Schrifttum siehe besonders Bode NJW 1969, 1052 sowie Eser, Die strafrechtlichen Sanktionen gegen das Eigentum, 1969. 1. Die Rechtsnatur der Einziehung kann, wie bereits unter 1 vor § 73 angedeutet, nicht einheitlich charakterisiert werden. Soweit sich die Einziehung gegen Tatbeteiligte richtet, denen die eingezogenen Gegenstände z. Z. der Entscheidung gehören (§ 74 Abs. 2 Nr. 1), hat sie den Charakter einer Nebenstrafe (BGH 16, 47). Soweit sie sich gegen schuldunfähige Tatbeteiligte oder unbeteiligte Dritte richtet (nur ausnahmsweise zulässig, vgl. § 74 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3), hat sie den Charakter einer Sicherungsmaßregel (BGH 6, 62). In den Fällen des § 74 a schließlich handelt es sich um eine strafähnliche Sanktion. Zum Ganzen siehe auch Hamm NJW 1975,67 und Saarbrücken NJW 1975,65. 2. Der Einziehung unterliegen Gegenstände aller Art, also nicht nur Sachen (körperliche Gegenstände), sondern auch Rechte. Dies ergibt sich zweifelsfrei aus der ausdrücklichen Erwähnung der eingezogenen Rechte in §§ 74 a, 74 e und 74 f. Einziehbar sind demnach auch Forderungen, Bankguthaben und dergleichen, soweit sie durch die Tat hervorgebracht oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht worden sind (vgl. K. Meyer JR 1972, 385 f.), ferner Anwartschaftsrechte des Täters in den Fällen, in denen die Einziehung der Sache selbst nur deshalb nicht möglich ist, weil der Täter die Sache unter Eigentumsvorbehalt gekauft oder nach dem Erwerb einem Dritten zur Sicherung übereignet hat (vgl. BGH 25,10 mit krit. Anm. Eser JZ 1973, 171; K. Meyer JR 1973,337). 3. Wie früher ist die Einziehung nach § 74 nicht obligatorisch, sondern fakultativ. Es steht also im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, ob es die der Einziehung unterliegende Sache tatsächlich einzieht, auf eine mildere Maßnahme erkennt (siehe hierzu § 74 b Abs. 2) oder ganz von der Einziehung absieht. Die Einziehung ist unzulässig, wenn sie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen würde (vgl. § 74 b Abs. 1).
II. Die Voraussetzungen im einzelnen: 1. Der Einziehung unterliegen Gegenstände, die entweder a) durch ein vorsätzliches Verbrechen oder Vergehen hervorgebracht wurden (sog. producta sceleris) oder 344
Siebenter Titel: Verfall und Einziehung
§ 74
b) zur Begehung oder Vorbereitung eines vorsätzlichen Verbrechens oder Vergehens gebraucht oder bestimmt waren (sog. instrumenta sceleris). Zu a): Nur die unmittelbar durch die Tat hervorgebrachten Sachen, z. B. gefälschte Urkunden oder Münzen, unterliegen der Einziehung, nicht auch die durch die strafbare Handlung erworbenen Sachen, z. B. gestohlenes Geld, durch Betrug erlangte Ware oder gewilderte Tiere. Auch der für eine Tat erlangte Vermögensvorteil unterliegt nicht der Einziehung. Hier kommen jedoch die Vorschriften über den Verfall (§ 73 ff.) zur Anwendung. Sonderregelungen sind bei den sog. Beziehungsgegenständen zu beachten (s.u. IV). Zu b): Zu den der Einziehung unterliegenden Tatwerkzeugen gehören z. B. die zur Tat benutzte Waffe (RG 44, 142), das Einbruchswerkzeug sowie die zu seinem Transport benutzte Aktentasche (BGH 13, 312). Gegenstände, die nur dazu verwendet wurden, um die Tat vorzubereiten, unterliegen uneingeschränkt nur dann der Einziehung, wenn es zur Vollendung oder zu einem strafbaren Versuch der Tat gekommen ist. In diesem Fall ist es dann nicht einmal erforderlich, daß der zur Tatbegehung bestimmte Gegenstand (z. B. ein Schweißbrenner) bei der eigentlichen Tatausführung dann auch tatsächlich zum Einsatz gekommen ist (BGH 8, 212; Dreher 7; Horn SK 9; Lackner 2 b, bb; a. A. Eser in Schönke-Schröder 11). Bleibt die Tat dagegen im Vorbereitungsstadium, so unterliegen die zur Vorbereitung benutzten oder zur Tatausführung bestimmten Gegenstände nur dann der Einziehung, wenn auch die Vorbereitung der Tat selbständig strafbar ist. So ist es zulässig, bei einer Verurteilung wegen Verabredung zum Raub (§§ 249, 30 Abs. 2) die zur Tatbegehung bestimmten Waffen einzuziehen (BGH 13, 311). Praktisch bedeutsam ist die Einziehung von Kraftfahrzeugen. Diese ist nur dann zulässig, wenn der Täter das Fahrzeug als Mittel zur Begehung einer über die bloße Benutzung hinausgehenden Straftat benutzt hat, z. B. um die Diebesbeute vom Tatort wegzuschaffen (BGH NJW 1952, 892) oder um das Opfer an einen zur VerÜbung eines Sittlichkeitsdelikts geeigneten Ort zu entführen (BGH NJW 1955, 1327), aber auch zur Begehung von Unfallflucht (BGH 10, 337), nicht dagegen bei Trunkenheit am Steuer, selbst wenn diese vorsätzlich begangen wurde (Hamm BA 1974, 282). Bei Fahren ohne Fahrerlaubnis ist die Sonderregelung des § 21 Abs. 3 StVG zu beachten. 2. Der einzuziehende Gegenstand muß entweder a) im Zeitpunkt der Entscheidung dem Täter oder einem Teilnehmer gehören oder zustehen (Abs. 2 Nr. 1) oder b) nach Art und Umständen die Allgemeinheit gefährden oder die Gefahr begründen, daß er zur Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung benutzt werden könnte (Abs. 2 Nr. 2). Zu a): Bei Gegenständen, die dem Täter oder Teilnehmer gehören oder zustehen (Abs. 2 Nr. 1), kommt es nicht darauf an, ob die Maßnahme zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich ist. Die Eigentumsverhältnisse richten sich nach bürgerlichem Recht (vgl. BGH 24, 222 m. zust. Anm. K. Meyer JR 1972, 385; Jescheck AT 598; Schäfer LK 29 ff. zu § 40 aF; a. A. Dreher 12; Eser aaO. 309 sowie in Schönke-Schröder 24; Lackner 2 c, aa: entscheidend ist nicht die formale Rechtsposition, sondern die wirtschaftliche Vermögenszugehörigkeit). Ein vom Täter unter Eigentumsvorbehalt gekaufter oder zur Sicherung übereigneter Pkw kann deshalb nur unter den engeren Voraussetzungen des Abs. 2 Nr. 2 oder des § 74 a eingezogen werden. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so kann nur die Anwartschaft des Täters auf Erwerb des Eigentums an der Sache eingezo345
§ 74 a
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
gen werden (BGH 25, 10 mit krit. Anm. Eser JZ 1973, 171; Krhe NJW 1974, 709; K. Meyer JR 1973, 337). Die Formulierung „Gegenstände, die dem Täter oder Teilnehmer . . . zustehen" bezieht sich auf einzuziehende Rechte (s. o. I 2). Zu b): Abs. 2 Nr. 2 dient dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten und sonstigen Gefahren, die von den zu einer bereits begangenen Straftat verwendeten oder aus ihr hervorgegangenen Gegenstände drohen. Hierher gehören z. B. gefälschte Urkunden, Diebeswerkzeuge, pornographische Bilder oder Rauschgift. Erfolgt die Einziehung zu dem Zweck, künftige rechtswidrige Taten zu verhindern, so müssen die besonderen Umstände, aus denen sich die Gefahr künftiger rechtswidriger Taten ergibt, aus den Urteilsgründen erkennbar sein (BGH VM 1976 Nr. 11 betr. Einziehung eines zur Tat benutzten Pkw). Die Eigentumsverhältnisse sind grundsätzlich unerheblich. Wegen der Möglichkeit einer Entschädigung siehe unten § 74 f. III. Abs. 3 hat den Charakter einer reinen Sicherungsmaßregel. Die Vorschrift bringt unter den Voraussetzungen des Abs. 2 Nr. 2 (Gefährdung der Allgemeinheit, Gefahr der Begehung von Straftaten) eine Erweiterung für den Fall, daß der Täter nicht schuldhaft gehandelt hat. Hierher gehören die Fälle, in denen der Täter die Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) begangen hat oder sich auf schuldausschließenden Verbotsirrtum (§ 17), Notwehrexzeß (§ 33) oder Notstand (§ 35) berufen kann. Eine Bestrafung scheidet in diesen Fällen aus. Andererseits kann das Bedürfnis auftreten, die Tatwerkzeuge (z. B. das von einem Geisteskranken bei einer Messerstecherei benutzte Messer) im Interesse der Allgemeinheit einzuziehen. Steht bereits nach Abschluß der Ermittlungen fest, daß eine Strafverfolgung des Täters nicht möglich ist, so kann die Einziehung im sog. objektiven Verfahren betrieben werden (siehe unten § 76 a Abs. 2 sowie § 440 StPO). IV. Abs. 4 bezieht sich auf Vorschriften des Besonderen Teils und des Nebenstrafrechts, in denen Sonderregelungen der Einziehung enthalten sind, die über den Anwendungsbereich des Abs. 1 hinausgehen. So gibt es im Besonderen Teil sowie im Nebenstrafrecht eine ganze Reihe von Vorschriften, in denen die Einziehung zwingend vorgeschrieben ist oder in denen sie statt oder neben den „instrumenta et producta sceleris" Gegenstände erfaßt, auf die sich die Tat nur „bezieht" (sog. Beziehungsgegenstände). Hierher gehören z. B. die §§ 92 b, 101 a, 109 k, 132 a Abs. 4, 150, 282, 285 b, 295 und 325 a. - § 74 Abs.4 stellt klar, daß auch in diesen Fällen die Einziehung nur unter den Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 oder 3 zulässig ist, sofern nicht die Voraussetzungen des § 74 a vorliegen. V. Eine Rechtsmittelbeschränkung auf die Frage der Einziehung ist zumindest dann zulässig, wenn aus dem Urteil deutlich hervorgeht, daß der Richter Art und Höhe der erkannten Strafe unabhängig von der daneben ausgesprochenen Einziehung bemessen hat (Hamm NJW 1975, 67).
§ 74 a
Erweiterte Voraussetzungen der Einziehung
Verweist das Gesetz auf diese Vorschrift, so dürfen die Gegenstände abweichend von § 74 Abs. 2 Nr. 1 auch dann eingezogen werden, wenn derjenige, dem sie zur Zeit der Entscheidung gehören oder zustehen, 346
Siebenter Titel: Verfall und Einziehung
§ 74b
1. wenigstens leichtfertig dazu beigetragen hat, daß die Sache oder das Recht Mittel oder Gegenstand der Tat oder ihrer Vorbereitung gewesen ist, oder 2. die Gegenstände in Kenntnis der Umstände, welche die Einziehung zugelassen hätten, in verwerflicher Weise erworben hat. 1. Einziehungsvorschriften, in denen auf § 74 a verwiesen wird, finden sich u. a. bei den Staatsschutzdelikten (vgl. §§ 92 b, 101 a, 109 k), ferner in § 285 b (Einziehung von Spieleinrichtungen usw.), § 295 (Einziehung von Jagd- und Fischereigeräten usw.), § 296 a (Einziehung von Fanggeräten usw.) sowie in verschiedenen Nebengesetzen, z. B. in § 375 Abs. 2 A O 1977 und § 11 Abs. 6 BTMG. 2. Die praktische Bedeutung der Vorschrift besteht darin, daß bei täterfremden Gegenständen eine Einziehung auch dann ausgesprochen werden kann, wenn der Schutz der Allgemeinheit dies an sich nicht erfordert, die Einziehung also nicht auf § 74 Abs. 2 Nr. 2 gestützt werden kann, ihre Anordnung aber gleichwohl kriminalpolitisch geboten erscheint. Im einzelnen ist folgendes zu beachten: a) Im Falle der Nr. 1 genügt es nicht, daß der Eigentümer die Straftat kannte oder hätte kennen können; er muß vielmehr leichtfertig dazu beigetragen haben, daß die ihm gehörende Sache (bzw. das ihm zustehende Recht) Mittel oder Gegenstand der Tat oder ihrer (strafbaren) Vorbereitung gewesen ist. Leichtfertig bedeutet einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit, der vergleichbar ist mit dem Begriff der groben Fahrlässigkeit im Zivilrecht (vgl. BGH 14,240, 255). b) Nr. 2 erfaßt in erster Linie Hehler und solche Personen, die den Täter begünstigt haben. Hierher gehört aber auch der Fall, daß jemand - ohne selbst Hehler oder Täter einer Begünstigung zu sein - ein Tatwerkzeug, z. B. einen bei einer Wilderei verwendeten Pkw, in kollusivem Zusammenwirken mit dem Täter nur deshalb erworben hat, um ihn der drohenden Einziehung zu entziehen. Bedingter Vorsatz hinsichtlich der Umstände, welche die Einziehung zugelassen hätten, genügt (vgl. Dreher 7; Lackner 3; Schäfer LK 17 zu § 40 a aF; a. A. Eserin Schönke-Schröder 9).
§ 74 b
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
(1) Ist die Einziehung nicht vorgeschrieben, so darf sie in den Fällen des § 7 4 Abs. 2 Nr. 1 und des § 7 4 a nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der begangenen Tat und zum Vorwurf, der den von der Einziehung betroffenen Täter oder Teilnehmer oder in den Fällen des § 7 4 a den Dritten trifft, außer Verhältnis steht. (2) D a s Gericht ordnet in den Fällen der §§ 7 4 und 7 4 a an, daß die Einziehung vorbehalten bleibt, und trifft eine weniger einschneidende Maßnahme, wenn der Zweck der Einziehung auch durch sie erreicht werden kann. In Betracht kommt namentlich die Anweisung, 1. die Gegenstände unbrauchbar zu machen, 347
§ 74b
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
2. an den Gegenständen bestimmte Einrichtungen oder Kennzeichen zu beseitigen oder die Gegenstände sonst zu ändern oder 3. über die Gegenstände in bestimmter Weise zu verfügen. Wird die Anweisung befolgt, so wird der Vorbehalt der Einziehung aufgehoben; andernfalls ordnet das Gericht die Einziehung nachträglich an. (3) Ist die Einziehung nicht vorgeschrieben, so kann sie auf einen Teil der Gegenstände beschränkt werden. 1. Abs. 1 bringt für den Anwendungsbereich der §§ 74 Abs. 2 Nr. 1 und 74 a den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die Fälle, in denen die Einziehung nicht zwingend vorgeschrieben ist. § 74 Abs. 2 Nr. 2 (Einziehung zum Schutz der Allgemeinheit) wird durch § 74 b Abs. 1 nicht berührt (siehe jedoch Abs. 2 sowie Saarbrücken NJW 1975,65). Zwingend vorgeschrieben ist die Einziehung z. B. in § 150 (Einziehung von Falschgeld usw.). Es ist jedoch zu beachten, daß auch ihre Anordnung nur unter den Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 zulässig ist (vgl. § 74 Abs. 4). Voraussetzung ist auch hier, daß die Gegenstände entweder im Eigentum des Täters oder Teilnehmers stehen oder ihre Einziehung zum Schutz der Allgemeinheit geboten ist. 2. Abs. 2 dient ebenfalls dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. a) Die Vorschrift will verhindern, daß eine Einziehung auch dort ausgesprochen werden muß, wo sie bei Würdigung aller Umstände für den Betroffenen eine unzumutbare Härte darstellen würde. Bei tätereigenen Gegenständen, bei denen sich die Einziehung, wie dargelegt, als Nebenstrafe auswirkt, wird dies wohl kaum in Betracht kommen. Der eigentliche Anwendungsbereich des § 74 b Abs. 2 dürften die Fälle sein, bei denen die Einziehung täterfremder Gegenstände nach § 74 Abs. 2 Nr. 2 zum Schutz der Allgemeinheit geboten ist. b) Die vom Gesetz erwähnten weniger einschneidenden Maßnahmen (Unbrauchbarmachung usw.), durch welche die Einziehung ersetzt werden kann, sind nur beispielhaft aufgeführt. Weitere, ähnlich wirkende Maßnahmen bleiben der freien Gestaltung des Richters vorbehalten. So kann z. B. einem Angeklagten, der trotz entzogener Fahrerlaubnis mit seinem Fahrzeug am Straßenverkehr teilgenommen hat, anstelle der ihm nach § 2 1 Abs. 3 Nr. 1 StVG drohenden Einziehung zur Auflage gemacht werden, sein Fahrzeug bis zur Wiedererlangung der Fahrerlaubnis bei der Zulassungsbehörde abzumelden. Diese Auflage wäre noch weniger einschneidend als die nach Abs. 2 Nr. 3 mögliche Auflage, das Fahrzeug innerhalb einer bestimmten Frist zu veräußern. c) Form der nach Abs. 2 zu treffenden Entscheidungen: Die Anordnung, daß die Einziehung vorbehalten bleibt, erfolgt durch Urteil (Strafbefehl). Die spätere Entscheidung (Aufhebung des Vorbehalts bzw. nachträgliche Anordnung der Einziehung) ergeht dann im Beschlußverfahren gemäß § 462 Abs. 1 Satz 2 StPO. d) Der nach Abs. 2 ausgesprochene Vorbehalt der Einziehung wirkt als Veräußerungsverbot i. S. von § 136 BGB (vgl. § 74 e Abs. 3 i. V. mit § 73 d Abs. 2). 3. Bei fakultativer Einziehung kann die Einziehung nach Abs. 3 sowohl auf einzelne von mehreren Gegenständen als auch - Trennbarkeit vorausgesetzt - auf einen Teil eines Gegenstands beschränkt werden.
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Siebenter Titel: Verfall und Einziehung § 74 c
§ 74c
Einziehung des Wertersatzes
(1) Hat der Täter oder Teilnehmer den Gegenstand, der ihm zur Zeit der Tat gehörte oder zustand und auf dessen Einziehung hätte erkannt werden können, vor der Entscheidung über die Einziehung verwertet, namentlich veräußert oder verbraucht, oder hat er die Einziehung des Gegenstandes sonst vereitelt, so kann das Gericht die Einziehung eines Geldbetrages gegen den Täter oder Teilnehmer bis zu der H ö h e anordnen, die dem Wert des Gegenstandes entspricht. (2) Eine solche Anordnung kann das Gericht auch neben der Einziehung eines Gegenstandes oder an deren Stelle treffen, wenn ihn der Täter oder Teilnehmer vor der Entscheidung über die Einziehung mit dem Recht eines Dritten belastet hat, dessen Erlöschen ohne Entschädigung nicht angeordnet werden kann oder im Falle der Einziehung nicht angeordnet werden könnte (§ 7 4 e Abs. 2, § 7 4 f); trifft das Gericht die Anordnung neben der Einziehung, so bemißt sich die H ö h e des Wertersatzes nach dem Wert der Belastung des Gegenstandes. (3) Der Wert des Gegenstandes und der Belastung kann geschätzt werden. (4) Für die Bewilligung von Zahlungserleichterungen gilt § 42. 1. Hat der Täter oder Teilnehmer den ihm zur Tatzeit gehörenden oder zustehenden Gegenstand nach der Tat veräußert, verbraucht oder sonst verwertet, so ist eine Einziehung nach § 74 Abs. 2 Nr. 1 nicht mehr möglich. Ob sie nach § 74 Abs. 2 Nr. 2 oder § 74 a zum Schutz der Allgemeinheit möglich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Aufgabe des § 74 c Abs. 1 ist es, die sich hieraus ergebenden Unzuträglichkeiten zu vermeiden, indem er dem Gericht die Möglichkeit gibt, anstelle des an sich der Einziehung unterliegenden Gegenstands die Einziehung eines Geldbetrags anzuordnen, dessen Höhe sich nach dem Wert des Gegenstands richtet. Dieser kann geschätzt werden (Abs. 3). Auf die Ausführungen zur entsprechenden Rechtslage beim Verfall (§§ 73 a, 73 b) kann insoweit verwiesen werden. 2. § 74 c Abs. 1 trifft ferner den Fall, daß der Täter auf andere Weise als durch Veräußerung, Verbrauch oder sonstige Verwertung die Einziehung vereitelt, z. B. dadurch, daß er den der Einziehung unterliegenden Gegenstand zerstört oder beiseiteschafft. Ob der Gegenstand aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht mehr eingezogen werden kann, ist also unerheblich. Es genügt, daß die zur Tatzeit noch möglich gewesene Einziehung im Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr ausgesprochen werden kann. Eine Vereitelungsabsicht ist nicht erforderlich. Es genügt, daß der Täter die Unmöglichkeit der Einziehung in vorwerfbarer Weise herbeigeführt hat, z. B. durch nachlässiges Verkommenlassen (vgl. Eser in Schönke-Schröder 6 m. Nachw.; sehr str.). Von einer „Vereitelung" der Einziehung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn der Besitzverlust unfreiwillig und ohne vorwerfbares Zutun des Täters eingetreten ist, z. B. durch Brand oder Entwendung (vgl. Dreher 3; Horn SK 7). 3. Nach Abs. 2 kommt eine Einziehung des Wertersatzes auch dann in Betracht, wenn der Täter die der Einziehung unterliegende Sache nach der Tat mit dem Recht eines 349
§ 74d
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Dritten belastet hat und dieses Recht im Falle der Einziehung nur gegen Entschädigung oder überhaupt nicht zum Erlöschen gebracht werden kann (vgl. §§ 74 e Abs. 2, 74 f Abs. 1). Die Belastung durch ein Drittrecht kann auch dadurch eintreten, daß der Eigentümer in vorwerfbarer Weise die Zwangsvollstreckung duldet oder eine Lage entstehen läßt, durch die ein gesetzliches Pfandrecht begründet wird (vgl. Eser in Schönke-Schröder 7; Horn SK 7; a. A. Dreher 3). Das Gericht hat dabei die Wahl, ob es die Einziehung des Wertersatzes neben oder anstelle der des Gegenstands anordnen will. Ordnet es die Einziehung des Wertersatzes neben der Einziehung des Gegenstands an, so richtet sich die Höhe des Wertersatzes naturgemäß nach dem Wert der Belastung. In dieser Weise hat das Gericht vor allem in den Fällen zu verfahren, in denen die Einziehung des Gegenstands nach besonderen Vorschriften zwingend vorgeschrieben ist (s. o. § 74 b Anm. 1), oder wenn die Einziehung nach § 74 Abs. 2 Nr. 2 zum Schutze der Allgemeinheit geboten erscheint. In allen übrigen Fällen kann das Gericht dem Täter die belastete Sache belassen und die Einziehung eines Wertersatzes aussprechen, der über den Wert der Belastung hinausgehend dem Gesamtwert des einzuziehenden Gegenstandes entspricht. 4. Da die Einziehung des Wertersatzes keine Geldstrafe i.e. S. ist, findet § 42 nur entsprechende Anwendung.
§ 74 d
Einziehung von Schriften und Unbrauchbarmachung
(1) Schriften (§ 11 Abs. 3), die einen solchen Inhalt haben, daß jede vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis ihres Inhalts den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen würde, werden eingezogen, wenn mindestens ein Stück durch eine rechtswidrige Tat verbreitet oder zur Verbreitung bestimmt worden ist. Zugleich wird angeordnet, daß die zur Herstellung der Schriften gebrauchten oder bestimmten Vorrichtungen, wie Platten, Formen, Drucksätze, Druckstöcke, Negative oder Matrizen, unbrauchbar gemacht werden. (2) Die Einziehung erstreckt sich nur auf die Stücke, die sich im Besitz der bei ihrer Verbreitung oder deren Vorbereitung mitwirkenden Personen befinden oder öffentlich ausgelegt oder beim Verbreiten durch Versenden noch nicht dem Empfänger ausgehändigt worden sind. (3) Absatz 1 gilt entsprechend bei Schriften, die einen solchen Inhalt haben, daß die vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis ihres Inhalts nur bei Hinzutreten weiterer Tatumstände den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen würde. Die Einziehung und Unbrauchbarmachung werden jedoch nur angeordnet, soweit 1. die Stücke und die in Absatz 1 Satz 2 bezeichneten Gegenstände sich im Besitz des Täters, Teilnehmers oder eines anderen befinden, für den der Täter oder TeUnehmer gehandelt hat, oder von diesen Personen zur Verbreitung bestimmt sind und 2. die Maßnahmen erforderlich sind, um ein gesetzwidriges Verbreiten durch diese Personen zu verhindern. 350
Siebenter Titel: Verfall und Einziehung
§ 74d
(4) Dem Verbreiten im Sinne der Absätze 1 bis 3 steht es gleich, wenn mindestens ein Stück durch Ausstellen, Anschlagen, Vorführen oder in anderer Weise öffentlich zugänglich gemacht wird. (5) § 74 b Abs. 2 , 3 gilt entsprechend. 1. Über Schriften und die ihnen nach § 11 Abs. 3 gleichgestellten Ton- und Bildträger, Abbildungen und anderen Darstellungen siehe ausführlich § 11 Anm. XI. Schrifttum: Groß, Beschlagnahme von Druckwerken, NJW 1976,170. a) Der Inhalt der genannten Erzeugnisse muß dergestalt sein, daß jede vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis des Inhalts einen Straftatbestand erfüllen würde. In Betracht kommen vor allem staatsgefährdende, volksverhetzende, gewaltverherrlichende und pornographische Schriften (vgl. §§ 86,130,131,184). b) Es muß wenigstens ein Stück durch eine rechtswidrige Tat (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 5 nebst Anm.) verbreitet oder zur Verbreitung bestimmt gewesen sein. Ein Erzeugnis ist verbreitet, wenn es einem größeren, nicht notwendig unbestimmten Personenkreis zugänglich gemacht wird (BGH 13, 257). Weitergabe an eine Einzelperson genügt, wenn mit einer Weitergabe an weitere Personen gerechnet werden muß (BGH 19, 63, 71). Auch der Verkauf oder Verleih im Rahmen eines gerade zu diesem Zweck gegründeten Vereins ist ein Verbreiten (BGH 13, 257), nicht jedoch das Ausleihen im engeren Familien- oder Freundeskreis. Entscheidend ist immer, ob der Täter den Personenkreis, dem er das Erzeugnis zugänglich macht, kontrollieren kann (BGH aaO.). c) Sind die Voraussetzungen der Einziehung nach Abs. 1 Satz 1 gegeben, so ist neben der Einziehung der Schriften usw. gleichzeitig die Unbrauchbarmachung der zur Herstellung gebrauchten oder bestimmten Vorrichtungen anzuordnen (Abs. 1 Satz 2). 2. Die Vorschrift enthält zwingendes Recht Für eine Ermessensentscheidung des Gerichts ist daher auch dann kein Raum, wenn sie nach anderen, ergänzenden Vorschriften (z. B. § 92 b Abs. 1) möglich wäre (BGH 23, 208). Das Gericht ist jedoch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten (Art. 5 Abs. 1 GG) zur Abwägung verpflichtet, ob der Einziehung ein berechtigtes Informationsbedürfnis des Bürgers entgegensteht (BGH aaO.). 3. Die Einziehung bzw. Unbrauchbarmachung wird durch Urteil angeordnet. Dieses muß nicht notwendig auf Verurteilung lauten. Da Abs. 1 S. 1 nur die Verbreitung durch eine „rechtswidrige Tat" i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 5 verlangt, können die Einziehung bzw. Unbrauchbarmachung z. B. auch neben einem Freispruch aus subjektiven Gründen angeordnet werden. Steht schon nach Abschluß des Ermittlungsverfahrens fest, daß eine Verurteilung wegen Vorliegen eines Schuldausschließungs- oder Strafausschließungsgrunds nicht möglich ist, so ist die Einziehung bzw. Unbrauchbarmachung im sog. selbständigen oder objektiven Verfahren zu betreiben (vgl. § 76 a i. V. mit § 440 StPO). Im vorbereitenden Verfahren beachte §§111 m, l l l n StPO (Beschlagnahme). 4. Abs. 2 schränkt zunächst den Personenkreis ein, in dessen Rechte eingegriffen werden darf. Hierher gehören alle Personen, die an der Verbreitung oder Vorbereitung mitgewirkt haben, z. B. Verfasser, Drucker, Herausgeber, Verleger, Buchhändler, Theaterbesitzer. Nicht erforderlich ist eine strafbare Mitwirkung. Als Besitz gilt auch der mittelbare 351
§ 74 e
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Besitz (BGH 19, 63, 77; Lackner 4 b). Besitzt ein Verfasser, Herausgeber usw. eine Schrift (Tonträger, Bildträger, Abbildung oder Darstellung) privat, so unterliegt diese nicht der Einziehung. Abs. 2 gibt weiter die Möglichkeit, alle öffentlich ausgelegten sowie solche Gegenstände einzuziehen, die sich noch auf dem Versand befinden und dem Empfänger noch nicht ausgehändigt worden sind. 5. Abs. 3 betrifft den Fall, daß die Verbreitung einer Schrift usw. an sich noch nicht strafbar ist, sondern dies nur bei Hinzutreten weiterer Umstände würde. Hier gehört z. B. der Fall, daß eine pornographische oder jugendgefährdende Schrift unter Verstoß gegen § 184 Abs. 1 oder §§ 4, 21 GjS vertrieben wird (vgl. BGH 23, 40). Die Einziehungsmöglichkeiten sind hier enger als in Abs. 1. Die Einziehung bzw. Unbrauchbarmachung darf nur angeordnet werden, wenn sich der fragliche Gegenstand im Besitz des Täters, Teilnehmers oder eines Hintermanns befindet oder von diesen Personen zur Verbreitung bestimmt ist und die Maßnahme zur Verhinderung eines gesetzwidrigen Verbreitens erforderlich ist. Die Gefahr einer gesetzwidrigen Verbreitung durch andere Personen rechtfertigt die Maßnahme dagegen noch nicht. 6. Nach Abs. 4 kann eine Einziehung oder Unbrauchbarmachung von Schriften, Tonträgern usw. auch dann ausgesprochen werden, wenn mindestens ein Stück durch Ausstellen, Anschlagen, Vorführen oder in anderer Weise öffentlich (siehe hierzu § 184 Anm. 4 a, c) zugänglich gemacht wird. Beispiel: Ein Gastwirt führt seinen Stammgästen im Nebenzimmer einen pornographischen Film vor. Nicht ausreichend wäre es dagegen, wenn der Gastwirt den Film nur im engsten Familienkreis vorgeführt hätte. In diesem Fall wäre der Film nicht „öffentlich zugänglich gemacht" worden. Zum Ganzen siehe auch § 184 Anm. 4 c. 7. Durch die in Abs. 5 enthaltene Verweisung auf § 74 b Abs. 2 und 3 wird klargestellt, daß in geeigneten Fällen anstelle der Einziehung auch mildere Maßnahmen angeordnet werden können, z. B. das Herausschneiden einer sadistischen Szene aus einem im übrigen nicht zu beanstandenden Film.
§ 74 e
Wirkung der Einziehung
(1) Wird ein Gegenstand eingezogen, so geht das Eigentum an der Sache oder das eingezogene Recht mit der Rechtskraft der Entscheidung auf den Staat über. (2) Rechte Dritter an dem Gegenstand bleiben bestehen. Das Gericht ordnet jedoch das Erlöschen dieser Rechte an, wenn es die Einziehung darauf stützt, daß die Voraussetzungen des § 7 4 Abs. 2 Nr. 2 vorliegen. Es kann das Erlöschen des Rechtes eines Dritten auch dann anordnen, wenn diesem eine Entschädigung nach § 7 4 f Abs. 2 Nr. 1 oder 2 nicht zu gewähren ist. (3) § 7 3 d Abs. 2 gilt entsprechend für die Anordnung der Einziehung und die Anordnung des Vorbehalts der Einziehung, auch wenn sie noch nicht rechtskräftig ist. 352
Siebenter Titel: Verfall und Einziehung
§ 74f
1. Die Vorschrift befaßt sich mit den Rechtsfolgen der Einziehung. Wird ein Gegenstand (Sache oder Recht) eingezogen, so tritt nach Abs. 1 der Staat an die Stelle des bisherigen Rechtsinhabers. Der Rechtsiibergang tritt auch dann ein, wenn der Täter den Gegenstand nach der Anordnung, aber vor Rechtskraft der Entscheidung an einen Dritten veräußert hat. Hierbei lassen sich jedoch Fälle denken, in denen der Dritte nicht erreichbar ist oder den eingezogenen Gegenstand anderweitig verwertet hat, so daß die Einziehung praktisch nicht mehr realisierbar ist. In diesen Fällen ist dann gemäß § 76 nachträglich (durch Beschluß) die Einziehung des Wertersatzes anzuordnen. Der Rechtsübergang auf den Staat tritt auch dann ein, wenn das Gericht bei der Beurteilung der rechtlichen Voraussetzungen der Einziehung einem Irrtum erlegen ist, z. B. wenn die Einziehung eines Tatwerkzeugs auf § 74 Abs. 2 Nr. 1 gestützt wurde in der irrigen Annahme, der Täter sei selbst Eigentümer des Werkzeugs gewesen. In diesem Fall ist der Dritte, der durch die Einziehung einen sachlich nicht gerechtfertigten Rechtsverlust erleidet, gemäß § 74 f zu entschädigen, sofern keine Ausnahme i. S. von § 74 f Abs. 2 vorliegt. 2. Nach Abs. 2 bleiben Rechte Dritter an dem eingezogenen Gegenstand grundsätzlich unberührt. Eine Entschädigung kommt in diesen Fällen nicht in Betracht. Als Rechte Dritter gelten dabei nach der Begründung des Entwurfs zum EGOWiG 1968 nur die sog. beschränkt dinglichen Rechte, d. h. Nutzungsrechte (z. B. Erbbaurechte, Dienstbarkeiten, Dauerwohnrechte), sog. Verwertungsrechte (z. B. Reallasten, Grundpfandrechte und Pfandrechte) sowie Erwerbsrechte (z.B. Vorkaufsrechte nach §§ 1094 ff., BGB und Aneignungsrechte nach §§ 927 Abs. 2, 928 Abs. 2 BGB). In der täglichen Gerichtspraxis dürften vor allem die Pfandrechte nach §§ 1204 ff. BGB zu beachten sein. Das Erlöschen dieser Rechte kann nur ausnahmsweise angeordnet werden, nämlich einmal dann, wenn die Einziehung gemäß § 74 Abs. 2 Nr. 2 zum Schutz der Allgemeinheit angeordnet wird (§ 74 e Abs. 2 Satz 2) oder wenn den Rechtsinhaber ein Schuldvorwurf trifft, der dem Eigentümer gegenüber die Einziehung rechtfertigen würde (vgl. Abs. 2 Satz 3 i. V. mit § 74 f Abs. 2 Nr. 1 und 2). Der schuldbehaftete Rechtsinhaber wird in diesem Fall dem Eigentümer gleichgestellt. Er geht entschädigungslos seines Rechtes verlustig. 3. Uber die Bedeutung des sich aus § 73 d Abs. 2 ergebenden Veräußerungsverbots, auf das Abs. 3 verweist, siehe § 73 d Anm. 3. 4. Prozessuale Möglichkeiten, den nach Abs. 1 vorgesehenen Rechtsübergang abzusichern, ergeben sich aus den §§ 111 b ff. StPO. Zur Vollstreckung der Einziehungsanordnung siehe § 459 g StPO sowie §§ 61, 62 StrVollstrO.
§ 74 i
Entschädigung
(1) Stand das Eigentum an der Sache oder das eingezogene Recht zur Zeit der Rechtskraft der Entscheidung über die Einziehung oder Unbrauchbarmachung einem Dritten zu oder war der Gegenstand mit dem Recht eines Dritten belastet, das durch die Entscheidung erloschen oder beeinträchtigt ist, so wird der 12
Preisendaiiz, StGB, 30. Aufl.
353
§ 74f
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
Dritte aus der Staatskasse unter Berücksichtigung des Verkehrswertes angemessen in Geld entschädigt. (2) Eine Entschädigung wird nicht gewährt, wenn 1. der Dritte wenigstens leichtfertig dazu beigetragen hat, daß die Sache oder das Recht Mittel oder Gegenstand der Tat oder ihrer Vorbereitung gewesen ist, 2. der Dritte den Gegenstand oder das Recht an dem Gegenstand in Kenntnis der Umstände, welche die Einziehung oder Unbrauchbarmachung zulassen, in verwerflicher Weise erworben hat oder 3. es nach den Umständen, welche die Einziehung oder Unbrauchbarmachung begründet haben, auf Grund von Rechtsvorschriften außerhalb des Strafrechts zulässig wäre, den Gegenstand dem Dritten ohne Entschädigung dauernd zu entziehen. (3) In den Fällen des Absatzes 2 kann eine Entschädigung gewährt werden, soweit es eine unbülige Härte wäre, sie zu versagen. 1. Eine Entschädigung nach Abs. 1 kommt sowohl dann in Betracht, wenn der durch die Einziehung betroffene, an der Tat unbeteiligte Dritte gemäß § 74 e Abs. 1 sein Eigentum verliert, als auch dann, wenn er nach § 74 e Abs. 2 Satz 2 nur eines beschränkt dinglichen Rechtes verlustig geht. 2. Abs. 2 befaßt sich mit bestimmten Ausnahmesituationen, unter denen eine Entschädigung nicht gewährt wird. Die Nummern 1 und 2 entsprechen dabei den Voraussetzungen, unter denen das Gesetz in § 74 a eine erweiterte Einziehungsmöglichkeit bei täterfremden Gegenständen vorsieht. Ergibt sich die Einziehung aus § 74 a, so kommt auch eine Entschädigung grundsätzlich nicht in Betracht. Ausnahmen sind nur in Härtefällen denkbar (vgl. Abs. 3). Nach Abs. 2 Nr. 3 entfällt die Pflicht zur Entschädigung ferner dann, wenn es im konkreten Fall auch aufgrund anderer als strafrechtlicher Vorschriften zulässig gewesen wäre, dem durch die Einziehung betroffenen Dritten den Gegenstand ohne Entschädigung dauernd zu entziehen. Fälle dieser Art finden sich z. B. in den Polizeigesetzen der Länder (vgl. z. B. §§ 6-8,26-28 PolG Bad.-Wttbg). 3. Abs. 3 gibt die Möglichkeit, im Einzelfall unbillige Härten, die durch eine entschädigungslose Einziehung täterfremder Gegenstände eintreten können, zu vermeiden. Die Vorschrift bringt damit eine gewisse Angleichung an § 74 a, wonach die Entscheidung über die Anordnung der Einziehung unter den gleichen Voraussetzungen nicht zwingend vorgeschrieben ist, sondern im pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts steht. Eine ausnahmsweise Entschädigung kommt vor allem dann in Betracht, wenn die Bedeutung der Tat oder die Schuld des Dritten gering ist. In Grenzfällen kann auch auf eine nur teilweise Entschädigung erkannt werden. 4. Der Entschädigungsanspruch ist grundsätzlich nicht im Strafverfahren, sondern im Zivilrechtsweg geltend zu machen (vgl. S. 60 Begr. des Entwurfs zum EGOWiG). Lediglich im Falle des Abs. 3 (Entschädigung in Härtefällen) entscheidet der Strafrichter nicht 354
Siebenter Titel: Verfall und Einziehung
§ 75
nur darüber, ob überhaupt eine Entschädigung gewährt werden soll, sondern auch darüber, in welcher Höhe sie zu gewähren ist (vgl. § 436 Abs. 3 StPO sowie Hamm NJW 1970,1754).
§ 75
Sondervorschrift für Organe und Vertreter
Hat jemand 1. als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person oder als Mitglied eines solchen Organs, 2. als Vorstand eines nicht rechtsfähigen Vereins oder als Mitglied eines solchen Vorstandes oder 3. als vertretungsberechtigter Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft eine Handlung vorgenommen, die ihm gegenüber unter den übrigen Voraussetzungen der §§ 7 4 bis 7 4 c und 7 4 f die Einziehung eines Gegenstandes oder des Wertersatzes zulassen oder den Ausschluß der Entschädigung begründen würde, so wird seine Handlung bei Anwendung dieser Vorschriften dem Vertretenen zugerechnet. § 1 4 Abs. 3 gilt entsprechend. 1. Die Vorschrift entspricht der in § 73 Abs. 3 für den Verfall getroffenen Regelung. Sie will verhindern, daß eine Einziehung oder die Versagung einer Entschädigung nur deshalb entfallen müßte, weil die Person, deren Handeln eine Rechtsfolge nach §§ 74 ff. ausgelöst hat, nicht für sich selbst, sondern als Vertreter einer juristischen Person (Nr. 1), eines nicht rechtsfähigen Vereins (Nr. 2) oder einer Personenhandelsgesellschaft (Nr. 3) gehandelt hat. Die juristische Person bzw. die ihr in Nr. 2 und Nr. 3 gleichgestellte Personengemeinschaft muß in diesem Fall die sich aus § § 7 4 ff. ergebenden Rechtsfolgen gegen sich gelten lassen. 2. Juristische Personen (Nr. 1) sind Organisationen, die von der Rechtsordnung unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen in vermögensrechtlicher Hinsicht wie Einzelpersonen behandelt werden. Solche Organisationen können entweder Personenvereinigungen (Vereine, Körperschaften) oder Vermögensmassen (Anstalten, Stiftungen) sein. Juristische Personen des Privatrechts gibt es nur in den Formen des Vereins (vgl. §§ 21-79 BGB) oder der Stiftung (vgl. §§ 80-88 BGB). Vereine fallen nur dann unter den Begriff der juristischen Person, wenn sie rechtsfähig sind. Hierbei sind die sog. Idealvereine von den sog. wirtschaftlichen Vereinen zu unterscheiden. Zu den Idealvereinen gehören solche Vereine, die nicht auf einen wirtschaftlichen Erwerbsbetrieb gerichtet sind, sondern z. B. wissenschaftlichen, künstlerischen, wohltätigen oder religiösen Zwekken dienen. Hierher gehören auch Sportvereine. Idealvereine erhalten ihre Rechtsfähigkeit gemäß § 21 BGB durch Eintragung in das Vereinsregister. Demgegenüber erhalten die wirtschaftlichen Vereine (Vereine, deren Zweck auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist, vgl. § 22 BGB) ihre Rechtsfähigkeit durch staatliche Verleihung, soweit nicht aufgrund besonderer Vorschriften ebenfalls das Eintragungsprinzip gilt (vgl. § 22 BGB). Zu den letztgenannten gehören die wichtigsten wirtschaftlichen Vereine 12»
355
§ 76
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
außerhalb des BGB, nämlich die im Handels- und Genossenschaftsregister eingetragene Aktiengesellschaft (AG), die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), die eingetragene Genossenschaft (eG) und die Kommanditgesellschaft auf Aktien. Sie alle sind juristische Personen. Zu den juristischen Personen des öffentlichen Rechts zählen alle staatlichen oder staatlich anerkannten Organisationen mit hoheitsrechtlichen oder gemeinwichtigen Aufgaben, deren Rechtsfähigkeit und Organisation durch das öffentliche Recht geregelt sind. Hierunter fallen z. B. Gebietskörperschaften wie Länder, Gemeinden und Kreise, Gemeindeverbände, Religionsgemeinschaften, ferner Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts. 3. Die in Abs. 1 Nr. 2 erwähnten nicht rechtsfähigen Vereine haben zwar wie rechtsfähige Vereine eine körperschaftliche Verfassung, sind aber mangels Eintragung im Vereinsregister nicht rechtsfähig und damit auch keine juristischen Personen. 4. Personenhandelsgesellschaften i. S. von Abs. 1 Nr. 3 sind die offene Handelsgesellschaft (oHG) und die Kommanditgesellschaft (KG). 5. Beispiel für den Anwendungsbereich der Vorschrift: A befaßt sich als vertretungsberechtigter Gesellschafter eines in der Form einer G m b H betriebenen Verlags mit der Herstellung und dem Vertrieb pornographischer Schriften. Wird daraufhin gegen ihn ein Verfahren gemäß § 184 eingeleitet, so scheitern die nach § 74 d zulässigen Maßnahmen (Einziehung und Unbrauchbarmachung) nicht daran, daß nicht A, sondern die von ihm vertretene G m b H Eigentümer der Schriften, Drucksätze, Druckstöcke usw. ist. Nicht hierher gehört dagegen der Fall, daß eine unter § 75 fallende Person, z. B. der Gesellschafter einer GmbH, eine zur Einziehung führende Handlung vornimmt, die er nicht in seiner Eigenschaft als Repräsentant der Gesellschaft begeht. So ist es beispielsweise unzulässig, entschädigungslos einen firmeneigenen Pkw einzuziehen, den ein Gesellschafter am Wochenende beim Wildern benutzt hat. 6. D e r in Satz 2 enthaltene Hinweis auf § 14 Abs. 3 besagt, daß die juristische Person oder die ihr in § 75 gleichgestellte Personengemeinschaft das Verhalten ihres Repräsentanten auch dann gegen sich gelten lassen muß, wenn der Vertrag, auf dem die Vertretungsbefugnis beruht, aus irgendeinem Grund unwirksam gewesen sein sollte.
- Gemeinsame Vorschriften § 76
Nachträgliche Anordnung von Verfall oder Einziehung des Wertersatzes
Ist die Anordnung des Verfalls oder der Einziehung eines Gegenstandes nicht ausführbar oder unzureichend, weil nach der Anordnung eine der in den §§ 73 a oder 74 c bezeichneten Voraussetzungen eingetreten oder bekanntgeworden ist, so kann das Gericht den Verfall oder die Einziehung des Wertersatzes nachträglich anordnen. 1. Die Vorschrift trifft den Fall, daß der Verfall oder die Einziehung zunächst in zulässiger Weise angeordnet wurden, die Ausführung der Anordnung nach Eintritt der
356
Siebenter Titel: Verfall und Einziehung
§ 76a
Rechtskraft jedoch nicht mehr möglich ist, weil nach der Anordnung die Voraussetzungen des § 73 a bzw. 74 c eingetreten sind. Nach § 76 ist insbesondere dann zu verfahren, wenn der Adressat der Anordnung die dem Verfall bzw. der Einziehung unterliegende Sache unter Verletzung des sich aus § 73 d Abs. 2 ergebenden Veräußerungsverbots an einen Dritten veräußert hat, dem gegenüber die Anordnung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht durchsetzbar ist, z. B. weil der Erwerber der einzuziehenden Sache nicht auffindbar ist oder der Erwerber der Sache aufgrund seines guten Glaubens unanfechtbares Eigentum erlangt hat. (Beachte: Bei der Einziehung wäre die Anordnung trotz des Eigentumsübergangs auf den Erwerber durchsetzbar, vgl. § 74 e Anm. 1. Mit Rücksicht auf die sich dann jedoch möglicherweise aus § 74 f Abs. 1 ergebende Entschädigungspflicht dürfte es sich allerdings empfehlen, auch in diesen Fällen auf die Möglichkeit der Einziehung des Wertersatzes zurückzugreifen.) 2. Unerheblich ist, ob die Voraussetzungen des § 73 a oder des § 74 c vor oder nach Rechtskraft der Anordnung eingetreten sind. Entscheidend ist, daß sie nach der Anordnung eingetreten sind und die Anordnung rechtskräftig geworden ist. 3. Die nachträgliche Entscheidung ergeht im Beschlußverfahren (vgl. § 462 Abs. 1 S. 2 StPO). Wegen der Zuständigkeit siehe § 462 a StPO.
§ 76 a
Selbständige Anordnung
(1) Kann wegen der Straftat aus tatsächlichen Gründen keine bestimmte Person verfolgt oder verurteilt werden, so muß oder kann auf Verfall oder Einziehung des Gegenstandes oder des Wertersatzes oder auf Unbrauchbarmachung selbständig erkannt werden, wenn die Voraussetzungen, unter denen die Maßnahme vorgeschrieben oder zugelassen ist, im übrigen vorliegen. (2) In den Fällen des § 7 4 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 und des § 7 4 d ist Absatz 1 auch dann anzuwenden, wenn aus rechtlichen Gründen keine bestimmte Person verfolgt werden kann und das Gesetz nichts anderes bestimmt. Einziehung oder Unbrauchbarmachung dürfen jedoch nicht angeordnet werden, wenn Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen. (3) Absatz 1 ist auch anzuwenden, wenn das Gericht von Strafe absieht oder wenn das Verfahren nach einer Vorschrift eingestellt wird, die dies nach dem Ermessen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts im Einvernehmen beider zuläßt. 1. Die dem früheren § 41 b nachgebildete Vorschrift gibt die Möglichkeit, einen Gegenstand (Sache oder Recht) oder den entsprechenden Wertersatz auch dann einzuziehen, wenn alle materiellen Voraussetzungen für die Anordnung des Verfalls (§§ 73, 73 a) oder der Einziehung (§§ 74, 74 a, 74 c, 74 d) vorliegen, der Täter jedoch aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. 357
§ 76
Dritter Abschnitt: Rechtsfolgen der Tat
2. Unter den Anwendungsbereich des Abs. 1 (tatsächliche Gründe, die der Verfolgung oder Aburteilung entgegenstehen) fallen z. B. die Fälle, in denen der Täter nicht ermittelt werden konnte oder in denen er wegen Abwesenheit (Flucht) oder Krankheit nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Ist der Täter verstorben, so kommt wegen des Rechtsübergangs auf den Erben weder eine Verfallserklärung noch eine auf § 74 Abs. 2 Nr. 1 beruhende Einziehung in Betracht (vgl. Lackner 2; Schäfer LK 9 zu § 41 b aF), es sei denn, daß auch hinsichtlich des Erben die materiellen Voraussetzungen dieser Maßnahmen vorliegen (z. B. unter den Voraussetzungen der §§ 73 Abs. 3 oder 4 bzw. 74 a). 3. Soweit die Einziehung Sicherungscharakter hat, nämlich in den Fällen des § 74 Abs. 2 Nr. 2, des § 74 Abs. 3, des § 74 d und des § 74 Abs. 4 i. V. mit Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3, ist nach Abs. 2 eine selbständige (isolierte) Anordnung der Einziehung auch dann zulässig, wenn die Verfolgung einer bestimmten Person aus rechtlichen Gründen nicht möglich ist. Zu den rechtlichen Gründen, die der Verfolgung entgegenstehen, einer Selbständigen Einziehungsanordnung aber nicht entgegenstehen, gehören insbesondere Schuldausschließungsgründe, persönliche Strafausschließungsgründe und Verfahrenshindernisse, z. B. Immunität, Amnestie und Verjährung (vgl. BGH 23, 64, 67; 25, 347, 354; Stgt Justiz 1975, 315; Dreher 8; Str., vgl. § 78 Anm. 1), aber auch dauernde Verhandlungsunfähigkeit (vgl. Dreher 8; Lackner 3), nicht jedoch die Exterritorialität (vgl. §§ 18, 19 GVG) und die in § 76 a Abs. 2 S. 2 ausdrücklich aufgeführten Fälle, daß die Strafverfolgung nur deshalb nicht durchgeführt werden kann, weil der erforderliche Strafantrag, die Ermächtigung oder das Strafverlangen fehlen. Wenn z. B. A mit einer Brechstange den Pkw des B zertrümmert, so kann die Brechstange - obwohl als Tatwerkzeug verwandt und in der Hand des A möglicherweise auch in Zukunft gefährlich - weder im Strafverfahren noch im sog. objektiven Verfahren eingezogen werden, wenn B keinen Strafantrag stellt. Eine selbständige Anordnung der Einziehung zu Sicherungszwecken ist weiter auch dann zulässig, wenn der Täter verstorben ist oder wenn bereits ein rechtskräftiges - freisprechendes oder einstellendes - Urteil vorliegt, in dem über die Einziehung noch nicht entschieden worden ist (vgl. BGH 6,62, 64; Dreher 7). 4. Nach Abs. 3 ist eine selbständige Anordnung der Einziehung auch dann möglich, wenn das Gericht von Strafe absieht (z. B. auf Grund der §§ 60, 139 Abs. 1, 199, 233, 316 a Abs. 2, aber auch bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt, § 59 Abs. 3), oder wenn das Verfahren vom Gericht oder der Staatsanwaltschaft im Rahmen des sog. Opportunitätsprinzips eingestellt wird (vgl. z. B. §§ 153 ff. StPO, 45,47 JGG). 5. Die selbständige Anordnung kann sowohl im Strafverfahren als auch im sog. objektiven Verfahren ausgesprochen werden. Im Strafverfahren kommt sie neben einem Freispruch, einer Einstellung, einer Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 Abs. 3 S. 1) oder einem Absehen von Strafe in Betracht; das in § 440 StPO geregelte objektive Verfahren, dessen Einleitung im pflichtgemäßen Ermessen der StA steht (Opportunitätsprinzip), ist dann indiziert, wenn bereits nach Abschluß der Ermittlungen feststeht, daß eine Bestrafung des Täters aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht möglich ist (Abs. 1 und 2), oder wenn das Ermittlungsverfahren aufgrund einer dem Opportunitätsprinzip unterliegenden Vorschrift eingestellt wurde (Abs. 3).
358
Vierter Abschnitt: Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen
Vorbemerkungen 1. Obwohl das Antragsrecht im StGB geregelt ist, gehört es nicht zum materiellen Recht, sondern zum Verfahrensrecht. Das Vorliegen eines form- und fristgerecht gestellten Strafantrags ist eine Prozeßvoraussetzung (siehe hierzu allgemein Abschn. F vor § 1), die in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten ist (vgl. RG 75, 306, 311; BGH 6, 155). Da die Öffentlichkeit im allgemeinen ein Interesse daran hat, daß strafbare Handlungen von Amts wegen verfolgt werden (sog. Offizialprinzip), ist der Kreis der Antragsdelikte im wesentlichen auf die Fälle beschränkt, in denen entweder das angegriffene Rechtsgut der freien Disposition des jeweiligen Rechtsgutträgers unterliegt (vgl. z. B. §§ 123, 185 ff., 303) oder in denen eine Verfolgung von Amts wegen den Interessen des Verletzten wegen des damit zwangsläufig verbundenen Eingriffs in die Intimsphäre möglicherweise mehr schaden als nützen würde (vgl. z. B. §§ 182, 201-204, 235-238). Der letztgenannten Gruppe verwandt sind die Fälle, in denen die Durchführung des Strafverfahrens gegen den Willen des Geschädigten den durch die Tat gestörten Familienfrieden noch tiefgreifender gefährden oder gar endgültig zerstören könnte (vgl. z. B. §§ 247, 259 Abs. 2, 263 Abs. 4, 265 a Abs. 3, 266 Abs. 3). Eine Sonderstellung nehmen die Antragsdelikte .ein, die bei Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses auch ohne Strafantrag von Amts wegen verfolgt werden können. Zu dieser Fallgruppe gehörten ursprünglich nur die vorsätzliche Körperverletzung nach § 223 und die fahrlässige Körperverletzung nach § 230 (vgl. § 232 Abs. 1); das 4. StrRG hat diese Regelung auf die Verfolgung exhibitionistischer Handlungen ausgedehnt, seit Inkrafttreten des EGStGB gilt sie auch für Bagatelldelikte aus dem Bereich der Eigentums- und Vermögenskriminalität (vgl. § 248 a, 257 Abs. 4 S. 2, 259 Abs. 2, 263 Abs. 4, 265 a Abs. 3,266 Abs. 3). Zu beachten ist, daß der Kreis der Privatklagedelikte nicht mit dem Kreis der Antragsdelikte identisch ist (vgl. B I 9 vor § 1). 2. Das 2. StrRG hat die früher in den §§ 61-65 geregelte Materie grundlegend umgestaltet. Weitere Änderungen folgten durch das EGStGB. Der Kreis der Antragsberechtigten ergibt sich aus § 77, wobei besonders hervorzuheben ist, daß das Antragsrecht jetzt in einigen besonders geregelten Fällen nach dem Tod des Verletzten nicht erlischt, sondern auf die Hinterbliebenen übergeht. § 77 a regelt das Antragsrecht des Dienstvorgesetzten, § 77 b die Antragsfrist, § 77 c die besondere Situation bei wechselseitig begangenen Taten, § 77 d die Zurücknahme des Strafantrags (jetzt generell bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens zulässig), während nach § 77 e die Vorschriften über den Strafantrag für die Fälle, in denen die Tat nur mit Ermächtigung oder auf Strafverlangen verfolgt wird, entsprechend anzuwenden sind. Die Form des Strafantrags ist wie früher in § 158 StPO geregelt. 3. Schrifttum: Boeckmann, Zur gesetzlichen Vertretung des Kindes im Strafprozeß, NJW 1960, 1938; - Kohlhaas, Antragsdelikte bei Wegfall eines Offizialdelikts, NJW 1954, 1792; - ders., Die Auswirkung der Gleichberechtigung der Geschlechter auf Strafrecht und Strafverfahrensrecht, NJW 1960, 1; - Maiwald, Die Beteiligung des Verletzten am Strafverfahren, GA 1970, 33; - Naucke, „Mißbrauch" des Strafantrags?, H. MayerFestschr. S. 565; - Reiss, Der Strafantrag in unserem Strafrecht, RPfleger 1967, 375; -
359
§ 77
Vierter Abschnitt: Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen
Schlichter, Der Strafantrag, die Strafverfolgungsermächtigung und die Anordnung der Strafverfolgung unter besonderer Berücksichtigung der Staatsschutzdelikte, G A 1966, 353; - Stree, Zur Vertretung beim Strafantrag, NJW 1956, 454; - ders., Zum Strafantrag durch Strafanzeige, M D R 1956, 723; - Zipf, Strafantrag, Privatklage und staatlicher Strafanspruch, G A 1969,234. 4. Prozessual zu beachten sind §§ 127 Abs. 3 und 130 StPO (vorläufige Festnahme und Haftbefehl vor Eingang eines Strafantrags, einer Ermächtigung oder eines Strafverlangens), §§ 206 a und 260 Abs. 3 StPO (Einstellung durch Beschluß bzw. Urteil, wenn der erforderliche Strafantrag usw. fehlt oder zurückgenommen wurde) sowie § 470 StPO (Kosten). 5. Für die Übergangszeit beachte Art. 308 EGStGB: Die Vorschriften des neuen Rechts (§§ 77-77 e, 194) gelten auch für Taten, die vor dem 1. 1. 1975 begangen worden sind, sofern die Abs. 2 - 5 nichts anderes bestimmen (Abs. 1). War nach früherem Recht zur Verfolgung ein Antrag erforderlich, so bleibt es dabei (Abs. 2). Ein vor dem 1. 1. 1975 gestellter Antrag bleibt wirksam, auch wenn die Antragsberechtigung nach neuem Recht einem anderen zusteht (Abs. 3). War am 1. 1. 1975 das Recht, einen Strafantrag zu stellen, nach früherem Recht bereits erloschen, so bleibt es dabei (Abs. 4). Ist die Tat erst durch die Vorschriften des neuen Rechts nur auf Antrag verfolgbar, so endet die Antragsfrist frühestens am 31. 3. 1975 (Abs. 5).
§ 77
Antragsberechtigte
(1) Ist die Tat nur auf Antrag verfolgbar, so kann, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, der Verletzte den Antrag stellen. (2) Stirbt der Verletzte, so geht sein Antragsrecht in den Fällen, die das Gesetz bestimmt, auf den Ehegatten und die Kinder über. Hat der Verletzte weder einen Ehegatten noch Kinder hinterlassen oder sind sie vor Ablauf der Antragsfrist gestorben, so geht das Antragsrecht auf die Eltem und, wenn auch sie vor Ablauf der Antragsfrist gestorben sind, auf die Geschwister und die Enkel über. Ist ein Angehöriger an der Tat beteiligt oder ist seine Verwandtschaft erloschen, so scheidet er bei dem Übergang des Antragsrechts aus. Das Antragsrecht geht nicht über, wenn die Verfolgung dem erklärten Willen des Verletzten widerspricht. (3) Ist der Antragsberechtigte geschäftsunfähig oder beschränkt geschäftsfähig, so können der gesetzliche Vertreter in den persönlichen Angelegenheiten und derjenige, dem die Sorge für die Person des Antragsberechtigten zusteht, den Antrag stellen. Ein beschränkt Geschäftsfähiger, der das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, kann den Antrag auch selbständig stellen. (4) Sind mehrere antragsberechtigt, so kann jeder den Antrag selbständig stellen. 360
Vierter Abschnitt: Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen
§ 77
1. Über Bedeutung und Kreis der Antragsdelikte s. Vorbem. 1. - Die Form des Strafantrags ergibt sich aus § 158 Abs. 2 StPO. Die Schriftform ist auch bei einer Faksimile-Unterschrift gewahrt (RG 62, 53), nicht dagegen bei Verwendung eines Firmenstempels ohne Unterschrift (Celle GA 1971, 378). Nicht erforderlich ist, daß der Strafantrag ausdrücklich als solcher bezeichnet wird. Es genügt, wenn der Antragsberechtigte eindeutig zum Ausdruck bringt, daß er die Verfolgung einer bestimmten Person wegen einer bestimmten strafbaren Handlung wünscht. Daher kann auch eine Strafanzeige, sofern sie den formellen Voraussetzungen des § 158 Abs. 2 StPO genügt, als wirksamer Strafantrag behandelt werden. 2. Antragsberechtigt ist nach Abs. 1 grundsätzlich nur der Verletzte. a) Verletzter ist derjenige, dessen Rechtssphäre durch die Tat unmittelbar beeinträchtigt worden ist (vgl. RG 68, 305). Dies ist in der Regel der Träger des jeweiligen Rechtsguts, z. B. beim Betrug der Geschädigte (nicht auch der Getäuschte, RG 74, 168), beim Hausfriedensbruch der Rauminhaber (nicht auch der Aufforderungsberechtigte), bei der Sachbeschädigung jedoch neben dem Eigentümer auch der Nutzungsberechtigte und der für die Sache Verantwortliche (vgl. RG 63, 76, 78; 65, 357; 71, 137) und beim Diebstahl neben dem Eigentümer auch der rechtmäßige Gewahrsamsinhaber (BGH 10, 400 sowie bei Dallinger MDR 1955,143; h. L., vgl. Maurach AT 95). b) Neben dem Rechtsgutträger können antragsberechtigt sein der Konkursverwalter (RG 35, 149), der Zwangsverwalter (RG 23, 344), der gesetzliche Vertreter in den Fällen des § 77 Abs. 3 S. 2 sowie der Dienstvorgesetzte in den Fällen des § 77 a. Wer bei juristischen Personen des privaten und des öffentlichen Rechts (siehe hierzu § 75 Anm. 2) zur Antragstellung berechtigt ist, muß sich aus der jeweiligen Satzung bzw. gesetzlichen Verfassung ergeben. c) Ein nachträglicher Wechsel der Rechtsstellung, z. B. bei Verkauf der beschädigten Sache, beseitigt das einmal entstandene Antragsrecht nicht (RG 71, 137). Entscheidend sind immer die Rechtsbeziehungen im Zeitpunkt der Tat. d) Eine Vertretung bei Ausübung des Antragsrechts ist, abgesehen von den Fällen der gesetzlichen Vertretung (Abs. 3), nicht nur in der Erklärung, sondern auch im Willen zulässig, letzteres allerdings nur bei Verletzung materieller Rechtsgüter, nicht auch bei immateriellen, insbesondere höchstpersönlichen Rechtsgütern (vgl. RG 19, 8; 21, 231; 35, 267; 68, 263, 265). Ist ein Strafantrag infolge fehlender Vertretungsmacht unwirksam oder eine Vertretung unzulässig, so kann dieser Mangel nur innerhalb der Antragsfrist geheilt werden (Stgt Justiz 1976,437). 3. Das Antragsrecht ist grundsätzlich höchstpersönlich und erlischt deshalb, sofern kein in Abs. 2 geregelter Ausnahmefall vorliegt, mit dem Tode des Berechtigten. a) Ein Übergang des Antragsrechts auf die Hinterbliebenen tritt nach Abs. 2 nur in den Fällen ein, in denen das Gesetz dies ausdrücklich bestimmt. Dies ist der Fall bei den Tatbeständen der Beleidigung (vgl. § 194 Abs. 1), bei der vorsätzlichen und fahrlässigen Körperverletzung (vgl. § 232 Abs. 1) sowie bei den Indiskretionsdelikten (vgl. § 205 Abs. 2). b) In Anlehnung an die in § 393 Abs. 2 StPO für den Tod des Privatklägers getroffene Regelung, die allerdings keine bestimmte Rangfolge vorsieht, sind in erster Linie der
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Ehegatte und die Kinder (auch nichteheliche und adoptierte) antragsberechtigt, und zwar jeweils selbständig (vgl. Abs. 4). Sind Angehörige dieser ersten Gruppe nicht vorhanden oder vor Ablauf der Antragsfrist gestorben, so geht das Antragsrecht nach Abs. 2 S. 2 auf die Eltern über, wobei wiederum Abs. 4 zu beachten ist. Angehörige der dritten Gruppe (Geschwister und Enkel) werden erst dann antragsberechtigt, wenn die Eltern vor Ablauf der Antragsfrist gestorben sind. c) Tatbeteiligte Angehörige werden nach Abs. 2 S. 3 als nicht existent behandelt, so daß das Antragsrecht auf die jeweils nächste Gruppe übergeht, falls weitere Angehörige der gleichen Gruppe nicht vorhanden sind. „Tatbeteiligt" sind Täter und Teilnehmer, nicht auch Begünstiger und Hehler. Durch die 2. Alt. des durch das AdoptionsG v. 2. 7. 1976 neu gefaßten Abs. 2 S. 3 scheiden als Antragsberechtigte weiter aus der geschiedene Ehegatte sowie solche Angehörige, deren Verwandtschaft gemäß §§ 1755, 1756, 1764 Abs. 2 BGB erloschen ist. d) Das Antragsrecht des Verletzten erlischt nach Abs. 2 S. 4, wenn dieser vor seinem Tod - ausdrücklich oder konkludent - zum Ausdruck gebracht hat, daß er eine Strafverfolgung nicht wünscht. Eine dahingehende Erklärung des Verletzten ist an keine bestimmte Form gebunden (vgl. Begr. zu § 121 E 1962). Sie ist nur dann unbeachtlich, wenn sie durch Drohung oder Täuschung veranlaßt wurde.
4. Dem gesetzlichen Vertreter steht nach Abs. 3 die Ausübung des Antragsrechts sowohl dann zu, wenn das Antragsrecht in der Person des Geschäftsunfähigen (vgl. § 104 BGB) oder des beschränkt Geschäftsfähigen (vgl. §§ 106, 114 BGB) unmittelbar entstanden ist (Fälle des Abs. 1), als auch dann, wenn es nach Abs. 2 auf ihn übergegangen ist (Begr. zu § 121 E 1962). a) Wer gesetzlicher Vertreter ist, bestimmt sich nach bürgerlichem Recht. Bei Minderjährigen (auch bei verheirateten Jugendlichen) gilt folgende Regelung: aa) Bei bestehender Ehe steht den Eltern das Antragsrecht grundsätzlich gemeinsam zu (vgl. §§ 1626 Abs. 2, 1627 BGB). Der Antrag muß daher von beiden Elternteilen gestellt werden (vgl. BVerfG NJW 1959, 1483). Es genügt jedoch, wenn ein Elternteil den Antrag mit Einverständnis bzw. nachträglicher Zustimmung des anderen Elternteils stellt (vgl. BayObLG JR 1961, 72). Wegen der Fristberechnung s. u. § 77 b Anm. 4. bb) Ist ein Elternteil tatsächlich verhindert, die elterliche Gewalt auszuüben (z. B. wegen längerer Krankheit oder Abwesenheit), oder ruht die elterliche Gewalt eines Elternteils (z. B. wegen Geschäftsunfähigkeit, § 1673 BGB), so übt der andere Teil die elterliche Gewalt allein aus (§ 1678 Abs. 1 BGB). Einer Pflegerbestellung bedarf es in diesem Fall nicht. Dasselbe gilt, wenn einem Elternteil die gesetzliche Vertretung entzogen wird (§ 1679 Abs. 1 BGB), ferner wenn er selbst als Täter oder Teilnehmer des zum Nachteil des Minderjährigen begangenen Delikts in Betracht kommt und das Vormundschaftsgericht keinen Pfleger bestellt hat. Im Falle der Pflegerbestellung hat der Pfleger auch darüber zu entscheiden, ob der durch die Tat verletzte Minderjährige von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht (vgl. § 52 Abs. 2 S. 2 StPO). Zum Ganzen siehe auch Kohlhaas JR 1972, 326. cc) Bei geschiedener Ehe ist der Elternteil antragsberechtigt, dem die Personensorge zukommt.
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dd) Steht der Minderjährige nicht unter elterlicher Gewalt, so ist der Vormund antragsberechtigt. ee) Ein Pfleger ist nur dann zu bestellen, wenn der gesetzliche Vertreter tatsächlich oder rechtlich verhindert ist, die elterliche Gewalt auszuüben (siehe oben bb), oder wenn nur noch ein Elternteil vorhanden ist und bei diesem die Voraussetzungen von bb) vorliegen. ff) Für nichteheliche Kinder siehe §§ 1705 ff. BGB (grundsätzlich Antragsrecht der Mutter). b) Stirbt der unter gesetzlicher Vertretung stehende Antragsberechtigte, so erlischt die Antragsbefugnis des gesetzlichen Vertreters (sog. Vertretungstheorie, vgl. RG 57, 240; Begr. zu § 121 E 1962), sofern sie im Einzelfall nicht nach Abs. 2 auf ihn übergeht (z. B. wenn ein von seinen Eltem gesetzlich vertretenes Kind stirbt). Die Antragsbefugnis entfällt ferner dann, wenn das Vertretungsverhältnis auf andere Weise beendigt wird, z. B. wenn der Minderjährige volljährig wird oder wenn die Entmündigung aufgehoben wird. In diesem Fall hat der Verletzte selbst.darüber zu entscheiden, ob er einen bereits gestellten Strafantrag aufrecht erhalten oder zurücknehmen will (vgl. RG 22,256). c) Abs. 3 S. 2 bezieht sich nach Herabsetzung des Volljährigkeitsalters durch das G v. 31.7.1974 (BGBl. 11713) nur noch auf die Fälle des § 1 1 4 BGB (beschränkte Geschäftsfähigkeit Entmündigter). 5. Abs. 4 bezieht sich sowohl auf Abs. 1 als auch auf Abs. 2 (Übergang des Antragsrechts auf Hinterbliebene). Bei Antragsdelikten, die zugleich Privatklagedelikte sind, beachte § 375 StPO. 6. Prozessual beachte 4 vor § 77 sowie § 77 b Anm. 8. 7. Wegen der Übergangszeit siehe 5 vor § 77.
§ 77 a
Antrag des Dienstvorgesetzten
(1) Ist die Tat von einem Amtsträger, einem für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten oder einem Soldaten der Bundeswehr oder gegen ihn begangen und auf Antrag des Dienstvorgesetzten verfolgbar, so ist derjenige Dienstvorgesetzte antragsberechtigt, dem der Betreffende zur Zeit der Tat unterstellt war. (2) Bei Berufsrichtem ist an Stelle des Dienstvorgesetzten antragsberechtigt, wer die Dienstaufsicht über den Richter führt. Bei Soldaten ist Dienstvorgesetzter der Disziplinarvorgesetzte. (3) Bei einem Amtsträger oder einem für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten, der keinen Dienstvorgesetzten hat oder gehabt hat, kann die Dienststelle, für die er tätig war, den Antrag stellen. Leitet der Amtsträger oder 363
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der Verpflichtete selbst diese Dienststelle, so ist die staatliche Aufsichtsbehörde antragsberechtigt. (4) Bei Mitgliedern der Bundesregierung ist die Bundesregierung, bei Mitgliedern einer Landesregierung die Landesregierung antragsberechtigt. 1. Die Vorschrift hat Bedeutung sowohl für Taten, die von einem Amtsträger usw. begangen wurden, als auch für Taten, die gegen ihn begangen wurden. a) Uber Amtsträger siehe § 11 Abs. 1 Nr. 2, über für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete § 11 Abs. 1 Nr. 4, über Soldaten § 1 SoldatenG. b) Zur ersten Gruppe (Taten, die von einem Amtsträger usw. begangen wurden) gehört z. Z. innerhalb des S t G B nur die Verletzung des Steuergeheimnisses (§ 355 Abs. 3). Nicht hierher gehört dagegen der Fall, daß ein Amtsträger in Ausübung seines Dienstes vorsätzlich eine Sache beschädigt oder zerstört. Hier richtet sich die Antragsberechtigung nach allgemeinen Grundsätzen (§ 77 Abs. 1 bis 3). c) Zur zweiten Gruppe (Taten, die gegen einen Amtsträger usw. begangen wurden) gehören die Tatbestände der Beleidigung (vgl. § 194 Abs. 3) und der Körperverletzung (vgl. § 2 3 2 Abs. 2). 2. Dienstvorgesetzter i. S. von Abs. 1 ist, wer nach den einschlägigen dienstrechtlichen Vorschriften und dem Behördenaufbau zur Aufsicht über das amtliche Verhalten des Amtsträgers usw. berechtigt und verpflichtet ist. a) Da der Begriff des „Dienstvorgesetzten" nicht an eine bestimmte Person, sondern an eine Institution anknüpft, bedurfte es entgegen dem Vorschlag des E 1962 (§ 122 Abs. 1 S. 2 ) keiner besonderen gesetzlichen Klarstellung, daß beim Ausscheiden des zur Tatzeit zuständigen Dienstvorgesetzten dessen Nachfolger zuständig ist (vgl. Ber. S. 4 2 B T Drucks. V / 4 0 9 5 ) . Bei Verhinderung des Dienstvorgesetzten ist sein Stellvertreter antrags berechtigt. b) Scheidet der Amtsträger usw. nach der Tat aus dem Dienst aus, so bleibt das Antragsrecht des zur Zeit der Tat zuständigen Dienstvorgesetzten (Stellvertreters, Nachfolgers) hiervon unberührt. c) Neben dem unmittelbaren Vorgesetzten hat stets auch der mittelbar höhere Vorgesetzte ein selbständiges Antragsrecht (vgl. Stree in Schönke-Schröder 2; Herdegen L K 11 zu § 196 a F mit Einzelheiten und Nachweisen). 3. Die in Abs. 2 S. 1 für Berufsrichter getroffene Sonderregelung wurde dadurch erforderlich, daß Richter einen Dienstvorgesetzten im beamtenrechtlichen Sinn nicht haben, sondern nur einer Dienstaufsicht unterstehen und auch dies nur, soweit nicht ihre Unabhängigkeit beeinträchtigt wird (vgl. § 26 D R i G ) . 4. Die in Abs. 2 S. 2 für Soldaten getroffene Regelung beruht auf § 1 Abs. 5 SoldatenG. Wegen des Disziplinarvorgesetzten siehe §§ 23 ff. WehrdisziplinarO v. 15. 3. 1957/ 4. 9. 1972 ( B G B l . I 1665). 5. Keinen Dienstvorgesetzten i.S. von Abs. 3 S. 1 haben z. B. die ehrenamtlichen Beisitzer der Gerichte (sog. Laienrichter, vgl. § 11 Anm. III 2) im Rahmen ihrer
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§ 77 b
richterlichen Tätigkeit sowie die von einer Behörde als Gutachter zugezogenen, für den öffentlichen Dienst besonders verpflichteten Sachverständigen ( § 1 1 Anm. IV 4). 6. Staatliche Aufsichtsstelle i. S. von Abs. 3 S. 2 ist z. B. das Regierungspräsidium gegenüber dem Landrat oder der Landrat gegenüber dem Bürgermeister. 7. Die Notwendigkeit des Abs. 4 ergibt sich daraus, daß die Mitglieder der Bundesregierung oder einer Landesregierung in dieser Eigenschaft keinen Dienstvorgesetzten haben. Der Beschluß, Strafantrag zu stellen (oder zurückzunehmen) setzt eine Mehrheit der Stimmen voraus, wobei die allgemeine Regelung für die Beschlußfassung des betreffenden Kabinetts maßgebend ist (vgl. Begr. § 122 Abs. 4 E 1962). 8. Wegen der Übergangszeit siehe 5 vor § 77.
§ 77 b
Antragsfrist
( 1 ) E i n e Tat, die nur auf A n t r a g verfolgbar ist, wird nicht verfolgt, w e n n der Antragsberechtigte e s unterläßt, d e n A n t r a g bis z u m Ablauf einer Frist von drei M o n a t e n zu stellen. Fällt das E n d e der Frist auf e i n e n Sonntag, e i n e n a l l g e m e i n e n Feiertag o d e r e i n e n S o n n a b e n d , s o e n d e t die Frist mit Ablauf d e s nächsten Werktages. ( 2 ) D i e Frist beginnt mit Ablauf d e s T a g e s , a n d e m der Berechtigte v o n der Tat und der P e r s o n d e s Täters Kenntnis erlangt. H ä n g t die Verfolgbarkeit der Tat a u c h v o n einer E n t s c h e i d u n g über die Nichtigkeit o d e r A u f l ö s u n g einer E h e ab, s o beginnt die Frist nicht vor Ablauf d e s Tages, an d e m der Berechtigte v o n der Rechtskraft der E n t s c h e i d u n g Kenntnis erlangt. Für d e n A n t r a g d e s gesetzlic h e n Vertreters und d e s Sorgeberechtigten k o m m t es auf d e s s e n Kenntnis an. ( 3 ) Sind m e h r e r e antragsberechtigt o d e r mehrere an der Tat beteiligt, s o läuft die Frist für und g e g e n j e d e n gesondert. ( 4 ) Ist durch T o d d e s V e r l e t z t e n das Antragsrecht auf A n g e h ö r i g e übergegang e n , s o e n d e t d i e Frist frühestens drei M o n a t e und spätestens sechs M o n a t e nach d e m T o d e d e s Verletzten. 1. D a der Strafantrag nicht notwendig bei einem Gericht zu stellen ist (vgl. § 158 StPO) und in der Praxis die Fälle, in denen der Strafantrag bei den Dienststellen der Polizei oder bei der StA gestellt wird, bei weitem überwiegen, finden bei einer Versäumung der Antragsfrist (drei Monate nach Kenntnis von Tat und Täter) die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§§ 44 ff. StPO) keine Anwendung (vgl. Ddf JMB1NRW 1973, 57; h. L.; Begr. zu § 123 Abs. 1 E 1962). Trotzdem ist die Antragsfrist keine absolute Ausschlußfrist in dem Sinne, daß der Antrag nach Ablauf der Frist schlechthin ausgeschlossen wäre. Der Antragsberechtigte hat es nämlich nicht „unterlassen", rechtzeitig Strafantrag zu stellen, wenn er hierzu gar nicht in der Lage war, z. B. wegen schwerer Erkrankung oder aus anderen tatsächlichen Gründen, aber auch aus rechtlichen Gründen (vgl. B G H 2, 124; Hamm NJW 1970, 578; h. L.; Begr. zu § 123 E 365
§ 77b
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1962). Ist z. B. der gesetzliche Vertreter eines durch die Tat verletzten Minderjährigen selbst an der Tat beteiligt, so ist er rechtlich gehindert, den Strafantrag zu stellen; die Frist für den Pfleger beginnt in diesem Fall erst zu laufen, wenn seine Bestellung rechtswirksam erfolgt ist (vgl. RG 73,114; BGH 6,157; Stree in Schönke-Schröder 19). 2. Die durch das EGStGB in Abs. 1 S. 2 eingefügte Regelung für den Fall, daß die Antragsfrist auf einen Sonntag, allgemeinen Feiertag oder einen Sonnabend (Samstag) fällt, bedeutet eine Klarstellung der früheren Rechtsprechung (vgl. z. B. BayObLG NJW 1971, 108; Stgt NJW 1961, 790). Welche Tage „allgemeine" Feiertage sind, bestimmt sich nach Landesrecht. 3. Abs. 2 S. 2 bezieht sich auf die Tatbestände der §§ 235 bis 237 (vgl. § 238 Abs. 2). 4. Abs. 2 S. 3 bezieht sich auf die Fälle des § 77 Abs. 3 (Antragsrecht des gesetzlichen Vertreters). Richtet sich die Tat gegen einen Minderjährigen, so beginnt die Frist zu laufen, sobald Vater oder Mutter von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt haben (BGH 22, 103; Kohlhaas JR 1972, 326; Maurach AT 943). Abs. 3 findet keine Anwendung, da bei bestehender Ehe das Antragsrecht beiden Elternteilen gemeinsam zusteht. Bei Tatbeteiligung des gesetzlichen Vertreters beachte § 77 Anm. 4a, bb sowie oben Anm. 1 a. E. 5. Die 1. Alt. des Abs. 3 bezieht sich auf alle Fälle des § 77 Abs. 1 und Abs. 2 sowie auf die Fälle des § 77 a (z. B. wenn ein Amtsträger mehrere Vorgesetzte hat, die zu verschiedenen Zeitpunkten von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangen). Sie ist jedoch nicht anwendbar für den Fall, daß ein Minderjähriger unter der gesetzlichen Vertretung seiner Eltern steht (s. o. Anm. 4). Die 2. Alt. des Abs. 3 wird bedeutsam für den Fall, daß von mehreren Tatbeteiligten nicht alle zur gleichen Zeit ermittelt werden können. Sie beruht auf dem Grundsatz der persönlichen Teilbarkeit des Strafantrags. 6. Abs. 4 bringt eine Sonderregelung für die Fälle des § 77 Abs. 2 (Übergang des Antragsrechts auf Hinterbliebene). In Abweichung der in den Absätzen 1 und 2 getroffenen Regelung beginnt die Antragsfrist für den antragsberechtigten Hinterbliebenen frühestens drei Monate nach dem Tod des Verletzten. Dies gilt auch dann, wenn er schon vorher von Tat und Täter Kenntnis erlangt hatte. Andererseits endet die Frist spätestens sechs Monate nach dem Tode des Verletzten, und zwar wiederum ohne Rücksicht darauf, ob und wann die einzelnen Berechtigten von der Tat und Person des Täters Kenntnis erlangt haben. Dies kann für die Hinterbliebenen dann zu unbefriedigenden Ergebnissen führen, wenn sie infolge Krankheit oder längerer Auslandsabwesenheit unverschuldet keine Kenntnis von den ihr Antragsrecht begründenden Vorfällen erlangt haben. Andererseits muß vermieden werden, daß sich die Ungewißheit über die Verfolgbarkeit der Tat unter Umständen jahrelang hinzieht (Begr. zu § 123 Abs. 4 E 1962). 7. Siehe ergänzend § 77 c (Sonderregelung für den Fristablauf bei wechselseitig begangenen Straftaten) und § 77 d (Zurücknahme des Strafantrags). 8. Prozessual ist zu beachten, daß etwaige Zweifel an der Rechtzeitigkeit des Strafantrags sich zu Gunsten des Beschuldigten auswirken (vgl. Hamm VRS 14, 33; h. L.; vgl. Stree in Schönke-Schröder 1). Siehe auch 4 vor § 77.
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Vierter Abschnitt: Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen
§ 77 c
§§ 77 c, 77d
Wechselseitig begangene Taten
Hat bei wechselseitig begangenen Taten, die miteinander zusammenhängen und nur auf Antrag verfolgbar sind, ein Berechtigter die Strafverfolgung des anderen beantragt, so erlischt das Antragsrecht des anderen, wenn er es nicht bis zur Beendigung des letzten Wortes im ersten Rechtszug ausübt. Er kann den Antrag auch dann noch stellen, wenn für ihn die Antragsfrist schon verstrichen ist. 1. Ähnlich der in § 77 b Abs. 4 für die Fälle des § 77 Abs. 2 getroffenen Regelung führt § 77 c teils zu einer Verkürzung, teils zu einer Verlängerung der Dreimonatsfrist des § 77 b Abs. 1. Der Kreis der wechselseitig begangenen Taten beschränkt sich - insoweit abweichend vom früheren Recht - nicht auf die in den §§ 199 und 233 erfaßten Beleidigungen und Körperverletzungen, sondern auf alle wechselseitig begangenen, miteinander in Zusammenhang stehenden Antragsdelikte. Die Vorschrift ist deshalb z. B. auch dann anwendbar, wenn jemand auf eine Sachbeschädigung durch eine Beleidigung oder Körperverletzung reagiert (vgl. Begr. zu § 124 E 1962; Maurach AT 944). Abweichend von §§ 199 und 233 ist auch nicht erforderlich, daß die zuerst begangene Tat „auf der Stelle" erwidert wird. 2. War das Antragsrecht im Zeitpunkt der 2. Tat durch Fristablauf, Verzicht oder Zurücknahme des Strafantrags bereits erloschen, so kann es durch die sich aus § 77 c ergebende Möglichkeit einer Verlängerung der Antragsfrist nicht wieder aufleben. Wenn z. B. A einen beleidigenden Brief des B, den er am 1. März erhalten hat, erst am 1. Juli durch einen ebenso beleidigenden Brief beantwortet und B darauf gegen ihn Strafantrag stellt, so ist das Strafantragsrecht des A zu diesem Zeitpunkt bereits erloschen. Die Frist kann durch § 77 c nicht mehr verlängert werden. 3. Wegen der Ubergangsregelung des Art. 308 EGStGB siehe 5 vor § 77.
§ 77 d
Zurücknahme des Antrags
(1) Der Antrag kann zurückgenommen werden. Die Zurücknahme kann bis zum rechtskräftigen Abschluß des Strafverfahrens erklärt werden. Ein zurückgenommener Antrag kann nicht nochmals gestellt werden. (2) Stirbt der Verletzte oder der im Falle seines Todes Berechtigte, nachdem er den Antrag gestellt hat, so können der Ehegatte, die Kinder, die Eltern, die Geschwister und die Enkel des Verletzten in der Rangfolge des § 77 Abs. 2 den Antrag zurücknehmen. Mehrere Angehörige des gleichen Kanges können das Recht nur gemeinsam ausüben. Wer an der Tat beteiligt ist, kann den Antrag nicht zurücknehmen. 367
§ 77d
Vierter Abschnitt: Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen
1. Die Möglichkeiten, einen ordnungsgemäß gestellten Strafantrag rechtswirksam zurückzunehmen, wurden durch die Strafrechtsreform gegenüber dem früheren Recht (§ 64 aF) wesentlich erweitert. a) Auf Grund der Neufassung der Vorschrift durch das E G S t G B ist die Zurücknahme des Strafantrags jetzt bei allen Antragsdelikten möglich, nicht nur in den vom Gesetz ausdrücklich zugelassenen Fällen. Nach der Übergangsregelung des Art. 308 Abs. 1 EGStGB können auch solche Strafanträge zurückgenommen werden, die vor dem 1.1. 1975 gestellt wurden und nach früherem Recht nicht hätten zurückgenommen werden können. b) Entgegen der früheren Rechtslage unterliegt die Zurücknahme des Strafantrags keiner zeitlichen Beschränkung mehr. Die Zurücknahme ist vielmehr bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens möglich (Abs. 1 S. 2). Der Strafantrag kann deshalb auch noch in der Rechtsmittelinstanz sowie dann zurückgenommen werden, wenn das zunächst ergangene Urteil in der Revisionsinstanz aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen wurde. c) Abs. 1 S. 3 stellt klar, daß durch die Zurücknahme des Strafantrags das Antragsrecht verbraucht ist und infolgedessen (auch innerhalb der Antragsfrist) nicht mehr erneut ausgeübt werden kann. Eine Anfechtung der Zurücknahme wegen Irrtums ist nicht möglich, eine abgenötigte Rücknahmeerklärung jedoch unbeachtlich. 2. Eine teilweise Zurücknahme ist in der Weise möglich, daß ein in sachlicher und persönlicher Hinsicht unbeschränkt gestellter Strafantrag nachträglich in sachlicher oder persönlicher Hinsicht beschränkt wird (vgl. Begr. zu § 125 Abs. 1 E 1962). 3. Abs. 2 entspricht der Regelung des § 77 Abs. 2 (Übergang des Antragsrechts auf die Hinterbliebenen des Verletzten). Die Vorschrift will verhindern, daß der auf Strafverfolgung gerichtete Wille eines nahen Angehörigen durch die Rücknahmeerklärung eines anderen, der einer nachgeordneten Gruppe angehört, unwirksam gemacht wird, oder gar, daß ein ferner Angehöriger den vom Verletzten selbst noch gestellten Antrag gegen den Willen eines näher stehenden Angehörigen zurücknimmt (vgl. Begr. zu § 125 Abs. 2 E 1962). Anders als § 77 Abs. 2 erfaßt § 77 d Abs. 2 alle Antragsdelikte, nicht nur eine gesetzlich bestimmte Gruppe. 4. Die Zurücknahme des Strafantrags wird erst dann wirksam, wenn die diesbezügliche Erklärung der Stelle vorliegt, die zuständigkeitshalber mit der Sache befaßt ist, nach Anklageerhebung demnach das Gericht ( B G H 16, 105). 5. Eine rechtswirksam erklärte Zurücknahme des Strafantrags hat (sofern nicht Strafanträge anderer Antragsberechtigter vorliegen oder die Tat unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt von Amts wegen zu verfolgen ist) die Einstellung des Verfahrens zur Folge. Ist die Sache bereits bei Gericht anhängig, so erfolgt die Einstellung vor der Hauptverhandlung gemäß § 206 a StPO durch Beschluß, nach Beginn der Hauptverhandlung gemäß § 260 Abs. 3 StPO durch Urteil. Wegen der Kosten siehe § 470 StPO. Der Antragsteller kann sich der drohenden Kostenfolge dadurch entziehen, daß er die Zurücknahme seines Strafantrags davon abhängig macht, daß der Angeklagte sich zur Übernahme der Kosten bereit erklärt ( B G H 9, 149 m. Anm. Henkel J Z 1956, 766; Lackner 3; Maurach A T 945).
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Vierter Abschnitt: Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen
§ 77 e
§ 77 e
Ermächtigung und Strafverlangen
Ist eine Tat nur mit Ermächtigung oder auf Strafverlangen verfolgbar, so gelten die § § 7 7 und 77 d entsprechend. 1. Die Ermächtigung ist, ebenso wie der Strafantrag, eine Prozeßvoraussetzung, die in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigen ist. a) Der Kreis der Ermächtigungsdelikte umfaßt ausschließlich Delikte mit politischem Einschlag (vgl. §§ 90, 90 b, 97, 102-104 i. V. m. § 104 a, §§ 185 ff. i. V. mit § 194 Abs. 4 sowie §§ 353 a - 3 5 3 c). b) Im Unterschied zu den Antragsdelikten ist die StA bei den Ermächtigungsdelikten verpflichtet, von Amts wegen zu klären, ob die zur Strafverfolgung erforderliche Ermächtigung erteilt wird. Gleichzeitig sind alle zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlichen Ermittlungen zu tätigen. Lediglich die Anklageerhebung muß bis zum Eingang der das Verfahren legalisierenden Ermächtigung zurückgestellt werden (vgl. Maurach A T 945). 2. Delikte, die nur auf das Strafverlangen einer ausländischen Regierung verfolgbar sind, finden sich im StGB nur in den §§ 102-104, vgl. § 104 a. 3. D a § 77 e nicht auch auf § 77 b verweist, sind die Ermächtigung und das Strafverlangen an keine Frist gebunden (vgl. Maurach A T 946; Begr. zu § 126 E 1962). 4. Abweichend von der Rechtslage vor Inkrafttreten des 2. StrRG sind Ermächtigung und Strafverlangen jederzeit zurücknehmbar, wie sich aus der Verweisung auf § 77 d Abs. 1 ergibt. Die Verweisung auf § 77 d Abs. 2 hat nur für die Fälle der §§ 90 und 90 b Bedeutung, falls der Bundespräsident oder das verunglimpfte Mitglied eines Verfassungsorgans bzw. die nach ihrem Tod Antragsberechtigten sterben sollten, nachdem sie zuvor wegen der Verunglimpfung Strafantrag gestellt hatten.
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Fünfter Abschnitt: Verjährung
Erster Titel: Verfolgungsverjährung Vorbemerkungen 1. Obwohl die Verjährung im StGB geregelt ist, gehört sie trotz gewisser materiell-rechtlicher Aspekte (Schwinden des Strafbedürfnisses) nicht zum materiellen Recht, sondern zum Verfahrensrecht. Der Eintritt der Verfolgungsverjährung ist ein Prozeßhindernis (siehe hierzu allgemein Abschn. F vor § 1), das in jeder Lage des Verfahrens, auch noch in der Revisionsinstanz, von Amts wegen zu berücksichtigen ist (st. Rspr., vgl. RG 68,18; BGH 8, 269 f.). Dies gilt auch dann, wenn der Schuldspruch bereits rechtskräftig geworden und nur noch über die Straffrage insgesamt, über die Strafaussetzung zur Bewährung oder über die Bildung einer Gesamtstrafe zu entscheiden ist (BGH 8, 269; 11, 393). Dagegen kann die Verjährung nicht mehr berücksichtigt werden, wenn das Rechtsmittel gegen ein Urteil, in dem der Eintritt der Verjährung übersehen wurde, nicht fristgerecht eingelegt worden ist oder wenn im Falle der Revision das Rechtsmittel nicht ordnungsgemäß begründet wurde (vgl. BGH 16, 115 unter Aufgabe von BGH 15, 203). Zweifelhaft erscheint auch, ob an der Entscheidung BGH 13, 128 noch festgehalten werden kann, nachdem gemäß § 464 Abs. 3 StPO die Kostenentscheidung bei isolierter Anfechtung nur noch mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden kann (a. A. Dreher § 78 Rn. 2). 2. Das 2. StrRG und das EGStGB haben die früher in den §§ 66-72 geregelte Materie mit Wirkung vom 1. 1. 1975 grundlegend umgestaltet, wobei zu beachten ist, daß die neuen Vorschriften, sofern Art. 309 EGStGB nichts anderes bestimmt, auch für Taten gelten, die vor dem 1. 1. 1975 begangen worden sind (BGH 26, 288). Der 1. Titel des 5. Abschnitts (§§ 78-78 c) behandelt die Verfolgungsverjährung, der 2. Titel die Vollstreckungsverjährung (§§ 79-79 b). Zu den wichtigsten Neuerungen gehören der neue Berechnungsmodus der Verjährungsfristen, demzufolge es nicht mehr auf die Einstufung der Tat als Verbrechen oder Vergehen ankommt, sondern auf die nach dem jeweiligen Regelstrafrahmen zulässige Höchststrafe (vgl. § 78 Abs. 3), die Hemmung des Ablaufs der Verjährungsfrist nach dem Urteil des 1. Rechtszugs (§ 78 b Abs. 3), die Änderung der Voraussetzungen für die Unterbrechung der Verfolgungsverjährung (§ 78 c), der Wegfall der Fristunterbrechung bei der Vollstreckungsverjährung und die Einführung der gerichtlichen Verlängerung der Frist bei der Vollstreckungsverjährung (§ 79 b). 3. Schrifttum: Lorenz, Die Verjährung in der deutschen Strafgesetzgebung, 1955; - ders., Über das Wesen der strafrechtlichen Verjährung, GA 1966, 371; - ders., Strafrechtliche Verjährung und Rückwirkungsverbot, GA 1968, 300; - Moser, Zur Frage der rechtlichen Natur der Strafverfolgungsverjährung, GA 1954, 301; - Pawlowski, Der Stand der rechtlichen Diskussion in der Frage der strafrechtlichen Verjährung, NJW 1969, 594; - Schröder, Probleme strafrechtlicher Verjährung, Gallas-Festschr. S. 329; - Seibert, Sinn und Unsinn der strafrechtlichen Verjährung, NJW 1952, 1361; - Willms, Zur Frage rückwirkender Beseitigung der Verjährung, JZ 1969, 60. 4. Prozessual beachte §§ 206 a und 260 Abs. 3 StPO (Einstellung des Verfahrens außerhalb der Hauptverhandlung durch Beschluß, nach durchgeführter Hauptverhandlung 370
Erster Titel: Verfolgungsverjährung
§ 78
durch Urteil). Bei etwaigen tatsächlichen Zweifeln über den Eintritt der Verjährung gilt der Grundsatz „in dubio pro reo" (BGH 18, 274 m. Anm. Dreher MDR 1963, 857 und Eb. Schmidt JZ 1963, 606; h. L.). Uber die Pflicht, den Eintritt der Verjährung in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigen, s. o. 1.
§ 78
Verjährungsfrist
(1) Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) aus. (2) Verbrechen nach § 220 a (Völkermord) verjähren nicht. (3) Die Verjährungsfrist beträgt 1. dreißig Jahre bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, 2. zwanzig Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahren bedroht sind, 3. zehn Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren bis zu zehn Jahren bedroht sind, 4. fünf Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind, 5. drei Jahre bei den übrigen Taten. (4) Die Frist richtet sich nach der Strafdrohung des Gesetzes, dessen Tatbestand die Tat verwirklicht, ohne Rücksicht auf Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind. 1. Das Prozeßhindernis der Verfolgungsverjährung (siehe hierzu Vorbem. 1) schließt nach Abs. 1 nicht nur jede Bestrafung, sondern auch die Anordnung von Maßnahmen ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 8) aus. Entgegen dem Wortlaut der Vorschrift und der Begr. zu § 127 E 1962 ist es jedoch zulässig, unter den Voraussetzungen des § 76 a Abs. 2 die selbständige Einziehung eines Gegenstands zu Sicherungszwecken auch dann anzuordnen, wenn die dem Verfahren zugrundeliegende Tat bereits verjährt ist. Auch wenn das Strafbedürfnis gegenüber dem Täter durch Zeitablauf entfällt, besteht das sich aus der Natur des Gegenstands ergebende Sicherungsinteresse fort. § 76 a Abs. 2 geht deshalb dem § 78 Abs. 1 vor (vgl. BGH 23, 64, 67; 25, 347, 354; Stgt Justiz 1975, 315; Dreher § 76 a Rn. 8; Schäfer LK 10 zu § 41 b aF; a. A. Stree in Schönke-Schröder 6; Lackner 1; Rudolphi SK 1). 2. Die durch Abs. 2 festgesetzte Unverjährbarkeit des Völkermords (§ 220 a), die in § 127 E 1962 noch nicht vorgesehen war, geht auf den Vorschlag des A E zurück und war bereits durch das 9. StrÄndG der Gesamtreform des A T vorgezogen worden (vgl. § 66 Abs. 2 aF). 371
§ 78a
Fünfter Abschnitt: Verjährung
3. Die Einteilung der Verjährungsfristen erfolgt nach Abs. 3 in insgesamt fünf Stufen, wobei es seit Inkrafttreten des 2. StrRG nicht mehr auf die Qualifizierung der Tat als Verbrechen oder Vergehen, sondern ausschließlich auf die zulässige Höchststrafe des jeweiligen Regelstrafrahmens ankommt. Besonders schwere Fälle bleiben bei der Qualifizierung ebenso außer Betracht wie minder schwere Fälle (sog. abstrakte Betrachtungsweise, vgl. Abs. 4). So verjährt z. B. die Verfolgung eines Totschlags gemäß Abs. 3 Nr. 2 auch dann nach 20 Jahren, wenn ein besonders schwerer Fall i. S. von § 212 Abs. 2 vorliegt. Umgekehrt verjährt auch die Verfolgung eines schweren Raubs erst nach 20 Jahren, wenn ein minder schwerer Fall i. S. von § 250 Abs. 2 vorliegt. Anders ist die Rechtslage jedoch, wenn ein sog. benannter Strafänderungsgrund vorliegt (vgl. z. B. §§ 216, 217 als benannte Strafmilderungsgründe und §§ 244, 250 als benannte Strafschärfungsgründe) . 4. Aufgrund der sich aus Abs. 4 ergebenden abstrakten Betrachtungsweise sind auch die Strafmilderungen des Allgemeinen Teils, insbesondere § 49 Abs. 1, auf die Berechnung der Verjährungsfristen ohne jeden Einfluß. So verjährt z. B. auch die Beihilfe zum Mord erst nach 30 Jahren, obwohl die Strafe nach § 27 Abs. 2 S. 2 dem ermäßigten Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 zu entnehmen ist. 5. Da die Neueinteilung der Verjährungsfristen gegenüber der früheren Rechtslage teils zu kürzeren, teils zu längeren Verjährungsfristen geführt hat (vgl. z. B. einerseits § 330 c, andererseits § 244), ist für die Übergangszeit hinsichtlich der Rückwirkung Art. 309 EGStGB zu beachten, wonach die Vorschriften des neuen Rechts grundsätzlich auch für die Taten gelten, die vor dem 1.1. 1975 begangen wurden (Abs. 1); soweit allerdings die Verjährungsfristen des früheren Rechts kürzer sind als die des neuen Rechts (z. B. bei § 244), gelten die kürzeren Fristen des früheren Rechts weiter (Abs. 3).
§ 78 a
Beginn
Die Verjährung beginnt, sobald die Tat beendet ist. Tritt ein zum Tatbestand gehörender Erfolg erst später ein, so beginnt die Verjährung mit diesem Zeitpunkt. 1. Beendet ist die Tat, wenn die Tathandlung abgeschlossen ist (Satz 1). Der Begriff „Tat" umfaßt alle Formen strafbaren Verhaltens einschließlich Versuch, Teilnahme, versuchter Beteiligung und solchen Fällen, in denen eine Vorbereitungshandlung selbständig unter Strafe gestellt ist. 2. Bei den Erfolgsdelikten (B I 4 vor § 1) beginnt der Lauf der Verjährungsfrist erst mit dem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs (Satz 2). Beispiele: Bei einem von A verschuldeten Verkehrsunfall wird X schwer verletzt, stirbt aber erst 10 Monate später. Hier beginnt die Verjährungsfrist nicht schon am Tag des Unfalls, sondern erst mit dem Tod des X. - Oder: Ein Ofensetzer schließt einen Ofen falsch an. Wenn der Fehler sechs Jahre später zu einem Brand führt, so ist das Vergehen der fahrlässigen Brandstiftung (§ 309) zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt. Andererseits wird der Lauf der Verjährungsfrist nicht dadurch gehemmt, daß die Auswirkungen der Tatbestandsverwirklichung erst später 372
Erster Titel: Verfolgungsverjährung
§ 78 a
eintreten, ohne daß der Täter hierbei in strafrechtlich relevanter Weise weiter tätig wird. So beginnt z. B. die Verjährung eines Anstellungsbetrugs bereits mit dem Abschluß des Anstellungsvertrags; die späteren Gehaltszahlungen sind lediglich Nachwirkungen des mit der Anstellung vollendeten Betrugs und daher ohne Einfluß auf den Lauf der Verjährung (BGH 22, 38; a. A. Lackner LK § 263 Rn. 281 m. Nachw.). 3. Besonderheiten: a) Bei den erfolgsqualifizierten Delikten (B I 5 vor § 1) beginnt der Lauf der Verjährungsfrist nicht bereits mit dem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs, sondern erst mit dem Eintritt des qualifizierten Erfolgs (a. A. noch die Voraufl.). Entsprechendes gilt, wenn die Strafbarkeit vom Eintritt sog. objektiver Strafbarkeitsbedingungen (E vor § 1) abhängig ist (vgl. Dreher 3; Lackner 2; Maurach AT 953). b) Bei zeitlichem Auseinanderfalten von rechtlicher Vollendung und tatsächlicher Beendigung des strafbaren Verhaltens kommt es entscheidend auf die tatsächliche Beendigung an. Dies ist u. a. von Bedeutung für die fortgesetzte Tat und das Dauerdelikt. So beginnt bei der Fortsetzungstat (vgl. IV vor § 52) die Verjährung erst mit Beendigung des letzten Teilakts (BGH 1, 84; GA 1972, 125; Begr. zu § 128 E 1962; h. L.; a. A. Schröder, Gallas-Festschr. S. 329, 331); bei Dauerdelikten (z. B. Freiheitsberaubung, Fahnenflucht, vgl. V vor § 52) beginnt die Verjährungsfrist mit Beendigung des rechtswidrigen Zustands (RG 44, 42; Hbg MDR 1970, 441; Begr. zu § 128 E 1962). Dies gilt auch für Teilnehmer, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie an der späteren Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands noch mitgewirkt haben oder nicht. Erforderlich ist lediglich, daß sich ihr Vorsatz im Zeitpunkt ihres Tatbeitrags auf die gesamte Dauer der Tat erstreckt hat (BGH 20, 227). c) Bei den Unterlassungsdelikten beginnt die Verjährungsfrist mit dem Wegfall der Pflicht zum Handeln. Kommt es zu einem tatbestandsmäßigen Erfolg, so bestimmt dieser den Beginn der Verjährungsfrist. d) Beim Versuch ist der für den Beginn der Verjährungsfrist entscheidende Zeitpunkt die letzte zur Tatausführung bestimmte Handlung des Täters (vgl. RG 72, 150; Begr. zu § 128 E 1962); bei der versuchten Anstiftung ist die Einwirkung auf den in Aussicht genommenen Täter entscheidend. e) Bei Anstiftung und Beihilfe beginnt die Verjährungsfrist erst mit dem Abschluß der jeweils veranlaßten bzw. geförderten Haupttat (Begr. zu § 128 E 1962), es sei denn, daß sich die Teilnahme nur auf einen einzelnen Teilakt einer fortgesetzten Tat bezieht (vgl. BGH 20, 227). f) Gesetzliche Sonderregelungen finden sich u. a. in § 145 Abs. 2 GewO sowie im Presserecht, vgl. § 15 des bayerischen PresseG, § 12 des hessischen PresseG und § 24 des bad.-württ. PresseG (Verjährungsfrist jeweils sechs Monate, wobei bei sukzessiver Verbreitung eines Druckwerks die Verjährungsfrist bereits mit dem ersten Verbreitungsakt beginnt, vgl. BGH 25, 347 für § 25 PresseG für NRW). Stellen sich mehrere Presseinhaltsdelikte als Teilakte einer fortgesetzten Tat dar, so beginnt die Verjährung ungeachtet der dogmatischen Einheit der fortgesetzten Tat für jedes Druckwerk gesondert mit dem ersten Verbreitungsakt (BGH 27, 18 zu § 15 BayPresseG). Kein Presseinhaltsdelikt i. S. der presserechtlichen Verjährungsvorschriften ist die Verbreitung jugendgefährdender Schriften nach dem GjS (BGH NJW 1975, 1039). Zu weiteren presserechtlichen Besonderheiten siehe Schröder, Gallas-Festschr. S. 329,334. 373
§ 78 b
Fünfter Abschnitt: Verjährung
§ 78 b
Ruhen
(1) D i e Verjährung ruht, solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann. Dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen. (2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem 1. die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder 2. eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 1 5 8 der Strafprozeßordnung). (3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. 1. Solange die Verjährung ruht, wird der Ablauf der Verjährungsfrist gehemmt. Hatte die Frist vor dem Ruhen bereits begonnen, so beginnt sie (anders als bei der Unterbrechung nach § 78 c) nicht wieder von neuem, sondern läuft einfach weiter, d. h. die vor dem Ruhen verstrichene Zeit wird mitgerechnet. 2. „Nach dem Gesetz" ruht die Verjährung a) in den Fällen der Immunität (vgl. Art. 46 Abs. 2 GG betr. BT-Abgeordnete, § 152 a StPO betr. Abgeordnete eines Gesetzgebungsorgans eines Landes und Art. 60 Abs. 4 GG betr. BPräs.), wobei allerdings die sich bei den Abgeordneten aus Abs. 2 ergebenden Beschränkungen zu beachten sind; b) bei Verfahren gegen Angehörige der ausländischen Stationierungskräfte, die dem NATO-Truppenstatut unterliegen, soweit es sich um Fälle der sog. konkurrierenden Gerichtsbarkeit handelt. Hier ruht die Verjährung infolge des generellen Verzichts der Bundesrepublik auf die ihr zustehenden Rechte solange, bis die deutschen Behörden entweder den generellen Verzicht widerrufen haben oder bis seitens der Stationierungskräfte ein Übernahmeersuchen eingeht. Keine Besonderheiten ergeben sich, wenn die Tat ausschließlich der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegt. Einzelheiten siehe Celle NJW 1965, 1673; LG Krefeld NJW 1965, 310; LG Duisburg NJW 1965, 643; Marenbach, Aktuelle Probleme des NATO-Truppenstatuts, NJW 1974, 1598; B. Maier NJW 1974, 1935; Schwenk NJW 1965, 2242; c) für Taten aus der NS-Zeit, die damals aus politischen Gründen nicht verfolgt werden konnten (vgl. BGH 18, 367; 23, 137). In diesen Fällen war die Strafverfolgung bis zum 8. 5. 1945 gehemmt (BGH aaO.). Darüber hinaus wurde durch das sog. BerechnungsG v. 13. 4. 1965 (BGBl. I 315) bestimmt, daß bei Verbrechen, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, die Zeit bis zum 31. 12. 1949 bei der Berechnung der Verjährungsfrist außer Betracht zu bleiben hat. Die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes wurde inzwischen vom BVerfG bestätigt (vgl. NJW 1969, 1059). Zum Ganzen s. auch Kirn ZRP 374
Erster Titel: Verfolgungsverj ährung
§ 78 b
1968, 3; Mischnik ZRP 1968, 63; Lorenz GA 1968, 300; Schultz MDR 1969, 18; Willms JZ1969, 60; Naucke ZRP 1969, 8; d) während des Laufs einer nach § 153 a StPO für die Erfüllung der Auflagen und Weisungen gesetzten Frist (vgl. § 153 a Abs. 3 StPO); e) wenn der Beginn oder die Fortsetzung eines Verfahrens von einer Vortlage abhängig ist, deren Entscheidung in einem anderen Verfahren erfolgen muß, z. B. in den Fällen des § 154 e Abs. 3 StPO, wonach die Verjährung der Verfolgung einer falschen Verdächtigung oder Beleidigung bis zum Abschluß des Straf- oder Disziplinarverfahrens ruht, auf das sich die Anzeige wegen falscher Verdächtigung oder Beleidigung bezieht. Dem gleich steht der Fall, daß das Strafverfahren zwecks Einleitung eines Normenkontrollverfahrens nach Art. 100, 126 GG ausgesetzt wird. Der Lauf der Frist wird jedoch nicht dadurch gehemmt, daß das Gericht aus Zweckmäßigkeitsgründen das Verfahren aussetzt, um die Entscheidung des BVerfG in einer ähnlichen Sache abzuwarten (BGH 24, 6; Ddf NJW 1968,117). Auch die Aussetzung nach § 262 Abs. 2 StPO hat auf den Ablauf der Verjährungsfrist keinen Einfluß (vgl. Dreher 4; Lackner 1 b, bb); f) bei einer rechtskräftig ausgesprochenen Verwarnung mit Strafvorbehalt (vgl. Dreher 5). 3. Satz 2 enthält eine Ausnahme von dem Grundsatz des S. 1, indem das Fehlen eines Strafantrags (§ 77), einer Ermächtigung oder eines Strafverlangens (§ 77 e) den Ablauf der Verjährungsfrist nicht hemmt. Es ist daher durchaus denkbar, daß die Tat schon verjährt ist, bevor die Antragsfrist des § 77 b zu laufen begonnen hat, z. B. wenn der Antragsberechtigte erst nach Ablauf der Verjährungsfrist Kenntnis von der Tat erlangt. 4. Tatsächliche Hinderungsgründe, z. B. Erkrankung oder Abwesenheit des Beschuldigten, hinderii den Ablauf der Verjährungsfrist nicht. Hier können nur Unterbrechungshandlungen nach § 78 c den drohenden Eintritt der Verjährung vermeiden. 5. Die sich aus Abs. 2 ergebenden Beschränkungen für Abgeordnete sollen verhindern, daß ein Abgeordneter noch Jahre nach Ablauf seines Mandats in ein Verfahren wegen einer Tat verwickelt wird, die er während seiner Abgeordnetenzeit begangen haben soll und von der weder die Strafverfolgungsbehörden noch er selbst während der Mandatszeit Kenntnis erlangt haben, so daß keine Möglichkeit bestand, rechtzeitig die erforderlichen Beweismittel zu sammeln und zu sichern (vgl. Ber. S. 44 BT-Drucks. V/4095 unter Bezugnahme auf BGH 20,248). 6. Die Notwendigkeit des Abs. 3 ergibt sich daraus, daß im Rechtsmittelverfahren nur ausnahmsweise richterliche Handlungen vorzunehmen sind, die nach § 78 c geeignet sind, die Verjährung zu unterbrechen. Die Vorschrift, die auch für solche Urteile gilt, die vor dem 1. 1. 1975 erlassen worden sind (BGH 26, 288), will verhindern, daß das Verfahren seitens des im ersten Rechtszug verurteilten Angeklagten durch unbegründete Rechtsmittel, durch sachfremde oder offensichtlich aussichtslose Anträge oder andere auf Verschleppung gerichtete Machenschaften verzögert wird, nur um eine Verjährung zu erreichen (vgl. Begr. zu § 129 E 1962). 7. Das Ruhen der Verjährung ist ohne zeitliche Beschränkung. § 78 c Abs. 3 S. 2 findet weder direkte noch analoge Anwendung (vgl. § 78 c Abs. 3 S. 3). 375
§ 78c
Fünfter Abschnitt: Verjährung
§ 78 c
Unterbrechung
(1) Die Verjährung wird unterbrochen durch 1. die erste Vernehmung des Beschuldigten, die Bekanntgabe, daß gegen ihn das Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, oder die Anordnung dieser Vernehmung oder Bekanntgabe, 2. jede richterliche Vernehmung des Beschuldigten oder deren Anordnung, 3. jede Beauftragung eines Sachverständigen durch den Richter oder Staatsanwalt, wenn vorher der Beschuldigte vernommen oder ihm die Einleitung des Ermittlungsverfahrens bekanntgegeben worden ist, 4. jede richterliche Beschlagnahme oder Durchsuchungsanordnung und richterliche Entscheidungen, welche diese aufrechterhalten, 5. den Haftbefehl, den Unterbringungsbefehl, den Vorführungsbefehl und richterliche Entscheidungen, welche diese aufrechterhalten, 6. die Erhebung der öffentlichen Klage oder die Stellung des ihr entsprechenden Antrags im Sicherungsverfahren oder im selbständigen Verfahren, 7. die Eröffnung des Hauptverfahrens, 8. jede Anberaumung einer Hauptverhandlung, 9. den Strafbefehl oder eine andere dem Urteil entsprechende Entscheidung, 10. die vorläufige gerichtliche Einstellung des Verfahrens wegen Abwesenheit des Angeschuldigten sowie jede Anordnung des Richters oder Staatsanwalts, die nach einer solchen Einstellung des Verfahrens oder im Verfahren gegen Abwesende zur Ermittlung des Aufenthalts oder zur Sicherung von Beweisen ergeht, 11. die vorläufige gerichtliche Einstellung des Verfahrens wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeschuldigten sowie jede Anordnung des Richters oder Staatsanwalts, die nach einer solchen Einstellung des Verfahrens zur Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit des Angeschuldigten ergeht, oder 12. jedes richterliche Ersuchen, eine Untersuchungshandlung im Ausland vorzunehmen. (2) Die Verjährung ist bei einer schriftlichen Anordnung oder Entscheidung in dem Zeitpunkt unterbrochen, in dem die Anordnung oder Entscheidung unterzeichnet wird. Ist das Schriftstück nicht alsbald nach der Unterzeichnung in den Geschäftsgang gelangt, so ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem es tatsächlich in den Geschäftsgang gegeben worden ist. (3) Nach jeder Unterbrechung beginnt die Verjährung von neuem. Die Verfolgung ist jedoch spätestens verjährt, wenn seit dem in § 78 a bezeichneten Zeitpunkt das Doppelte der gesetzlichen Verjährungsfrist und, wenn die Verjährungsfrist nach besonderen Gesetzen kürzer ist als drei Jahre, mindestens drei Jahre verstrichen sind. § 78 b bleibt unberührt. (4) Die Unterbrechung wirkt nur gegenüber demjenigen, auf den sich die Handlung bezieht. 376
Erster Titel: Verfolgungsverjährung
§ 78c
(5) Wird ein Gesetz, das bei der Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert und verkürzt sich hierdurch die Frist der Verjährung, so bleiben Unterbrechungshandlungen, die vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts vorgenommen worden sind, wirksam, auch wenn im Zeitpunkt der Unterbrechung die Verfolgung nach dem neuen Recht bereits verjährt gewesen wäre. 1. Die Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährung wurden durch das 2. StrRG und das EGStGB grundlegend umgestaltet. Die frühere Generalklausel, wonach die Verjährung nur durch richterliche Handlungen, die wegen der begangenen Tat gegen den Täter gerichtet sind (§ 68 Abs. 1 aF), unterbrochen werden kann, wurde in Anlehnung an die Regelung des OWiG durch einen klaren Katalog von Unterbrechungshandlungen ersetzt, in dem teilweise auch Strafverfolgungsmaßnahmen der StA einbezogen worden sind. Nach h. A. können dabei auch Handlungen des unzuständigen Richters oder Staatsanwalts die Verjährung unterbrechen (vgl. Stree in Schönke-Schröder 3 m. Nachw.). a) Nr. 1 bezieht sich auf Vernehmungen des Beschuldigten durch StA und Polizei (vgl. § 163 a Abs. 1, 3 und 4 StPO). Geht der ersten Vernehmung oder der Bekanntgabe, daß gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist, eine entsprechende Anordnung voraus, so ist die Anordnung der maßgebliche Zeitpunkt für die Unterbrechung der Verjährung (vgl. RegE S. 215 BT-Drucks. 7/550; BGH 25, 6; Göhler 2 A zu § 33 OWiG). Die anschließende Vernehmung unterbricht die Verjährung nicht noch einmal (Stree in Schönke-Schröder 4 m. Nachw.). b) Nr. 2 gibt allen richterlichen Vernehmungen (also nicht nur der ersten Vernehmung wie im Falle der Nr. 1) bzw. der entsprechenden Anordnung (s. o. lit. a) verjährungsunterbrechende Wirkung. Anders als bei Nr. 1 wird die Verjährung durch jede richterliche Vernehmung des Beschuldigten oder durch ihre Anordnung unterbrochen, so daß bei mehrfacher Anordnung die Unterbrechungswirkung mehrfach eintritt. Hieraus folgt weiter, daß bei der Vernehmung des Beschuldigten durch einen ersuchten Richter (vgl. z.B. § 233 Abs. 2 StPO) nicht nur die dahingehende Anordnung des erkennenden Gerichts, sondern auch die Ladungsverfügung des ersuchten Richters die Verjährung unterbricht (BGH 27, 110 zu § 33 Abs. 1 Nr. 2 OWiG; sehr str.). Da allerdings Anordnung und Durchführung der Vernehmung eine Einheit bilden, unterbricht die eigentliche Vernehmung den Verlauf der Verjährungsfrist dann nicht nochmals (BGH aaO.). c) Die Beauftragung eines Sachverständigen (Nr. 3) unterbricht die Verjährung ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Richter oder von der StA veranlaßt wurde. Ist das Verfahren bereits bei Gericht anhängig, so liegt die „Beauftragung" des Sachverständigen bereits in der Anordnung, das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen, nicht erst in der mit der Aktenübersendung verbundenen Auftragserteilung (BGH 27, 76 m. Nachw.; zw., vgl. Rebmann/Roth/Herrmann Rn. 24 zu § 33 OWiG). d) Uber Beschlagnahme und Durchsuchung (Nr. 4) siehe §§ 94 ff. StPO, insbesondere §§ 98,100, 105,111 a, 111 e StPO. e) Zu Nr. 5: Uber Haftbefehl siehe §§112 ff., 230 Abs. 2 StPO, über Unterbringungsbefehl § 126 a StPO, über Vorführungsbefehl §§ 133 Abs. 2, 134 StPO. f) Zu Nr. 6: Die Erhebung der öffentlichen Klage erfolgt gemäß § 170 Abs. 1 StPO durch Einreichung einer Anklageschrift (§ 200 StPO). Dem gleich stehen der Antrag auf 377
§ 78c
Fünfter Abschnitt: Verjährung
Erlaß eines Strafbefehls (§ 408 StPO), der Antrag im Sicherungsverfahren (§§ 413 ff. StPO) und der Antrag auf Eröffnung des objektiven Verfahrens (§ 440 StPO), nicht jedoch die Erhebung einer Privatklage. Entscheidender Zeitpunkt für die Unterbrechung der Verjährung ist in konsequenter Fortführung der Rechtsprechung zu § 33 Nr. 10 OWiG (vgl. BGH 26, 384) der Eingang der Akten bei Gericht (vgl. BayOblG VRS 50, 210, 212; Köln VRS 51, 129). g) Über Eröffnung des Hauptverfahrens (Nr. 7) siehe § 203 StPO. h) Über Anberaumung einer Hauptverhandlung (Nr. 8) siehe § 212 a StPO (beschleunigtes Verfahren) und § 213 StPO (Normalverfahren). Anberaumung ist auch die Terminsverlegung, nicht jedoch die Aufhebung eines Termins ohne gleichzeitige Anordnung eines neuen Termins. i) Über Strafbefehl (Nr. 9) siehe § 407 StPO. Das Urteil selbst unterbricht nicht die Verjährung, hemmt aber den weiteren Ablauf der Frist (§ 78 b Abs. 3). k) Über vorläufige Einstellung wegen Abwesenheit (Nr. 10) siehe § 205 StPO. Als verjährungsunterbrechende Fahndungsmaßnahmen kommen in Betracht die Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung und zur Festnahme (vgl. § 131 StPO), außerdem die Anordnung einer örtlichen Fahndung, nicht jedoch diese selbst. Wegen Beweissicherung siehe §§ 285,289 StPO. 1) Die Verhandlungsunfähigkeit und die zu ihrer Überprüfung angeordneten Maßnahmen stehen nach Nr. 11 den Entscheidungen für den Fall der Abwesenheit (Nr. 10) hinsichtlich der Verjährungsunterbrechenden Wirkung gleich. m) Nr. 12 bezieht sich auf richterliche Rechtshilfeersuchen. Siehe hierzu die einschlägigen Vorschriften der RiVASt. 2. Entscheidender Zeitpunkt hinsichtlich der Verjährungsunterbrechenden Wirkung ist bei schriftlichen Anordnungen oder Entscheidungen nach Abs. 2 bereits die Unterzeichnung des Schriftstücks, nicht erst dessen Eingang bei der Geschäftsstelle oder die Absendung an den Adressaten (RegE S. 216 BT-Drucks. 7/550). Die in S. 2 vorgenommene Einschränkung bezieht sich auf Entwürfe oder solche Schriftstücke, die wie ein Entwurf behandelt und als solcher z. B. zu den Handakten genommen, zerrissen oder weggeworfen werden (RegE aaO.). In den Geschäftsgang gelangt ist ein Schriftstück nicht erst dann, wenn es unmittelbar zur Zustellung an den Adressaten gegeben worden ist. Unter „Geschäftsgang" sind vielmehr alle Stationen innerhalb eines Gerichts oder einer Behörde zu verstehen, die das Schriftstück bis zur Absendung durchlaufen muß (Stgt Justiz 1976, 524; Hamm NJW 1977, 690). Die fristunterbrechende Wirkung einer Verfügung wird deshalb nicht dadurch berührt, daß das Schriftstück nach seiner Unterzeichnung auf der Kanzlei, der Geschäftsstelle, der Stadtkämmerei, der EDVErfassungsstelle oder schließlich auf der Postabgangstelle verzögerlich behandelt wird (Stgt aaO.; Hamm aaO.). 3. Abs. 3 S. 1 regelt die Folgen der Unterbrechung (die Frist beginnt erneut zu laufen). Satz 2 will verhindern, daß die Verjährung „endlos" unterbrochen und damit der Zweck der Verjährung vereitelt wird. Diese Vorschrift gilt allerdings noch nicht für Unterbre378
Zweiter Titel: Vollstreckungsverjährung
§ 79
chungshandlungen, die vor dem 1.1. 1975 vorgenommen wurden. In diesen Fällen verjährt die Verfolgung frühestens mit Ablauf der von der letzten Unterbrechungshandlung an zu berechnenden Verjährung (Art. 309 Abs. 4 EGStGB). Wegen der Fristberechnung während der Ubergangszeit siehe § 78 Anm. 5. Auf die Fälle des § 78 b (Ruhen der Verjährung) ist Abs. 3 S. 2 ohne Einfluß. 4. Abs. 4 entspricht dem ehemaligen § 68 Abs. 2. Nicht erforderlich ist, daß die Person, auf die sich die Unterbrechungshandlung bezieht, jeweils genau bezeichnet wird. Es genügt, daß sich die Maßnahme erkennbar - nicht notwendig ausschließlich - auf sie bezieht. 5. Abs. 5 will für künftige Reformgesetze, durch die Verjährungsfristen wegen Ermäßigung des Strafrahmens verkürzt werden, spezielle Ubergangsregelungen, wie sie sich z. B. in Art. 94 des 1. StrRG finden, entbehrlich machen. Nach Art. 309 Abs. 1 EGStGB gilt Abs. 5 auch bereits für die Änderungen, die durch das 2. StrRG und das EGStGB mit Wirkung vom 1. 1. 1975 eingetreten sind. Zu beachten ist weiter Art. 309 Abs. 2 EGStGB, wonach für Unterbrechungshandlungen, die vor dem 1. 1. 1975 vorgenommen wurden, das bis dahin geltende Recht (§ 68 aF) anzuwenden ist.
Zweiter Titel: Vollstreckungsverjährung § 79
Verjährungsfrist
(1) Eine rechtskräftig verhängte Strafe oder Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) darf nach Ablauf der Verjährungsfrist nicht mehr vollstreckt werden. (2) Die Vollstreckung von Strafen wegen Völkermords (§ 220 a) und von lebenslangen Freiheitsstrafen verjährt nicht. (3) Die Verjährungsfrist beträgt 1. fünfundzwanzig Jahre bei Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahren, 2. zwanzig Jahre bei Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren bis zu zehn Jahren, 3. zehn Jahre bei Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren, 4. fünf Jahre bei Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr und bei Geldstrafe von mehr als dreißig Tagessätzen, 5. drei Jahre bei Geldstrafe bis zu dreißig Tagessätzen. (4) Die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung verjährt nicht. Bei den übrigen Maßnahmen beträgt die Verjährungsfrist zehn Jahre. Ist jedoch die Führungsaufsicht oder die erste Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet, so beträgt die Frist fünf Jahre. 379
§ 79a
Fünfter Abschnitt: Verjährung
(5) Ist auf Freiheitsstrafe und Geldstrafe zugleich oder ist neben einer Strafe auf eine freiheitsentziehende Maßregel, auf Verfall, Einziehung oder Unbrauchbarmachung erkannt, so verjährt die Vollstreckung der einen Strafe oder Maßnahme nicht früher als die der anderen. Jedoch hindert eine zugleich angeordnete Sicherungsverwahrung die Verjährung der Vollstreckung von Strafen oder anderen Maßnahmen nicht. (6) Die Verjährung beginnt mit der Rechtskraft der Entscheidung. 1. Die Vollstreckungsverjährung bezieht sich sowohl auf Strafen als auch auf Maßnahmen i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 8 (vgl. Abs. 1). Unverjährbar sind lediglich die Vollstrekkung von Strafen wegen Völkermords (§ 220 a) und von lebenslangen Freiheitsstrafen (Abs. 2), außerdem die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung (Abs. 4 S. 1). 2. Die in insgesamt fünf Stufen eingeteilten Fristen knüpfen in Anlehnung an das frühere Recht (§ 70 aF) nicht an die angedrohte, sondern an die im Einzelfall ausgesprochene Strafe an (konkrete Betrachtungsweise, vgl. Abs. 3). Nachträgliche Abkürzungen der ausgesprochenen Strafe nach § 57 oder im Gnadenweg bleiben bei der Fristberechnung außer Betracht. 3. Die in Abs. 4 getroffene Regelung für die Vollstreckungsverjährung von Maßnahmen bezieht sich nicht auf solche Maßnahmen, die keiner Vollstreckung bedürfen (vgl. § 69 betr. Entziehung der Fahrerlaubnis und § 70 betr. Anordnung eines Berufsverbots). 4. Abs. 5 bewirkt, daß gleichzeitig ausgesprochene Strafen und Maßregeln einheitlich behandelt werden. Eine Ausnahme ist nach S. 2 lediglich für die SV zu beachten, da deren Vollstreckung nicht verjähren kann (Abs. 4S. 1). 5. D e r Beginn der Vollstreckungsverjährung wird durch die Rechtskraft des Urteils bestimmt. Richtet sich das Urteil gegen mehrere Angeklagte, so ist der Beginn der Frist für jeden Verurteilten gesondert zu berechnen, falls die Rechtskraft nicht hinsichtlich aller Verurteilten zur gleichen Zeit eingetreten ist. 6. D a die Verjährungsfristen durch die Neuregelung mit Wirkung vom 1. 1. 1975 teils verlängert, teils verkürzt sind, ist für die vor dem 1. 1. 1975 ausgesprochenen Strafen die in Art. 309 EGStGB getroffene Ubergangsregelung zu beachten. Hiernach gilt grundsätzlich bereits das neue Recht (Abs. 1). Soweit die Verjährungsfristen des früheren Rechts jedoch kürzer sind als die des neuen Rechts (z. B. bei Verurteilungen wegen Völkermords und bei lebenslanger Freiheitsstrafe), gelten die Fristen des früheren Rechts (Abs. 3).
§ 79 a
Ruhen
Die Verjährung ruht, 1. solange nach dem Gesetz die Vollstreckung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann, 380
Zweiter Titel: Vollstreckungsverjährung
§ 79b
2. solange dem Verurteilten a) Aufschub oder Unterbrechung der Vollstreckung, b) Aussetzung zur Bewährung durch richterliche Entscheidung oder im Gnadenwege oder c) Zahlungserleichterung bei Geldstrafe, Verfall oder Einziehung bewilligt ist, 3. solange der Verurteilte im In- oder Ausland auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird. 1. Das Ruhen der VollstreckungsVerjährung löst die gleichen Wirkungen aus wie das Ruhen der Verfolgungsverjährung (vgl. § 78 b Anm. 1). 2. Der Katalog der Nr. 1 bis 3 geht über den ehemaligen § 71 (a. F.) weit hinaus, was im wesentlichen darauf beruht, daß eine Unterbrechung der Vollstreckungsverjährung durch Maßnahmen der Vollstreckungsbehörde, wie sie früher in § 72 (a. F.) geregelt war, nicht mehr möglich ist, wenn man von der Sonderregelung des § 79 b absieht. a) Die Nr. 1 entspricht der in § 78 b für den Bereich der Verfolgungsverjährung getroffenen Regelung (siehe dort insbesondere Anm. 2 a), findet aber auch auf die Fälle des § 455 Abs. 1 und 2 StPO Anwendung, während für die sonstigen Fälle der Haftunfähigkeit (§ 455 Abs. 3) Nr. 2 zur Anwendung kommt. b) Die Nr. 2 dürfte in der Praxis die größte Bedeutung haben. Die Vorschrift will verhindern, daß die dem Verurteilten eingeräumten Vergünstigungen schließlich dazu führen, daß die Strafe oder Maßregel überhaupt nicht mehr vollstreckt werden kann. c) Im Falle der Nr. 3 ist es unerheblich, welcher Art die auf Grund behördlicher Anordnung erfolgte Unterbringung in einer Anstalt ist.
§ 79 b
Verlängerung
D a s Gericht kann die Verjährungsfrist vor ihrem Ablauf auf Antrag der Vollstreckungsbehörde einmal um die Hälfte der gesetzlichen Verjährungsfrist verlängern, wenn der Verurteilte sich in einem Gebiet aufhält, aus dem seine Auslieferung oder Überstellung nicht erreicht werden kann. 1. Die Vorschrift ist ein Rudiment der früher in § 72 (aF) geregelten Möglichkeit, die Vollstreckungsverjährung durch Fahndungsmaßnahmen zu unterbrechen. Sie bezieht sich sowohl auf die gesetzliche als auch auf die durch Ruhen verlängerte Frist. Auch letztere kann jedoch nur um die Hälfte der gesetzlichen Frist verlängert werden (Begr. zu § 133 B 1962). 2. Die vor dem 1.1. 1975 vorgenommenen Unterbrechungshandlungen nach früherem Recht bleiben nach Art. 309 Abs. 2 EGStGB auch nach dem 1. 1. 1975 wirksam. Die Vollstreckung verjährt in diesem Fall frühestens mit dem Ablauf der von der letzten Unterbrechungshandlung an zu berechnenden Verjährungsfrist (Art. 309 Abs. 4 EGStGB). Wegen der Berechnung dieser Frist siehe § 79 Anm. 6. 381
Besonderer Teil Vorbemerkungen zu den Abschnitten Friedensverrat (§§ 80, 80 a), Hochverrat (§§ 81-83 a) und Gelährdung des demokratischen Rechtsstaats (§§ 84-92 b) sowie Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 93-101 a) 1. Die sog. Staatsschutzdelikte gehen in ihrer heutigen Form im wesentlichen auf das 8. StrRÄndG vom 25. 6. 1968 (BGBl. I 741) zurück, das die lange geforderte, umfassende Reform der gesamten Materie brachte. Einige Vorschriften wurden dann nochmals durch das 1. StrRG und das EGStGB einer redaktionellen Änderung unterzogen. 2. Die Staatsschutzdelikte sind in zwei Abschnitte gegliedert. Der 1. Abschnitt enthält in seinem 1. Titel den Tatbestand des Friedensverrats (§§ 80, 80 a), während der 2. Titel sich mit der klassischen Materie des Hochverrats befaßt (§§ 81-83 a); die im 3. Titel unter der Überschrift Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats (§§ 84-92 b) zusammengefaßten Tatbestände entsprechen im wesentlichen den früheren Tatbeständen der Staatsgefährdung, in denen bestimmte Formen des gewaltlosen Umsturzes (sog. kalte Revolution) unter Strafe gestellt waren. Der 2. Abschnitt enthält in den §§ 93-101 a mit dem Landesverrat eine weitere klassische Form des Angriffs gegen den Staat. Anliegen dieser Bestimmungen ist es, die Schwächung der äußeren Sicherheit gegenüber anderen Staaten durch Verrat von Staatsgeheimnissen und ähnliche Straftaten zu verhindern. 3. Der Schutzbereich der Staatsschutzdelikte erstreckt sich nicht nur auf die Bundesrepublik als ganze, sondern auch auf die einzelnen Länder. Darüber hinaus sind die Vorschriften über den Landesverrat und eine Reihe weiterer Vorschriften aus dem Bereich der Staatsschutzdelikte und der Delikte gegen die Landesverteidigung entsprechend anwendbar zum Schutz der NATO-Partner und ihrer in der Bundesrepublik stationierten Truppen, außerdem zum Schutz der in Berlin anwesenden Truppen der Drei Westmächte. Wegen der Einzelheiten wird insoweit auf Art. 5 des 8. StrRÄndG Bezug genommen. 4. In Berlin gelten die Staatsschutzbestimmungen nur mit Einschränkungen (vgl. Art. 324 EGStGB). Nicht anwendbar sind insbesondere die §§ 84, 85 Abs. 1 Nr. 1, 86 Abs. 1 Nr. 1 sowie die Vorschriften zum Schutz von NATO und Bundeswehr. Bei Auslandstaten sind § 5 Nr. 1-4 sowie § 91 zu beachten. 5. Wegen der Zuständigkeit zur Aburteilung der Staatsschutzdelikte siehe §§ 74 a, 120 GVG. 6. Prozessual ist zu beachten, daß der Verfolgungszwang (sog. Legalitätsprinzip) durch das 8. StrRÄndG wesentlich gelockert worden ist. Siehe hierzu §§ 153 c, 153 d und § 153 e StPO. 7. Aus dem Schrifttum zur Reform der Staatsschutzdelikte siehe Jescheck, Zur Reform des politischen Strafrechts, JZ 1968, 6; - Krauth/Kurfess/Wulf, Zur Reform des Staatsschutzstrafrechts, JZ 1968, 577, 609, 731; - Lüttger, Staatsschutzstrafrecht gestern und heute, JR 1969, 121; - Müller-Emmert, Die Reform des politischen Strafrechts, NJW 1968, 2134; - Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung, 1970; - Träger/Mayer/Krauth, Das neue Staatsschutzstrafrecht in der Praxis, BGH-Festschr., 1975, S. 227; - Woesner, Reform des Staatsschutzstrafrechts, NJW 1967, 753; - ders., Das neue Staatsschutzstrafrecht, NJW 1968,2129. 383
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates
Erster Titel: Friedensverrat § 80
Vorbereitung eines Angriffskrieges
Wer einen Angriffskrieg (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), an dem die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein soll, vorbereitet und dadurch die Gefahr eines Krieges für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft. 1. Die Vorschrift erfüllt den Verfassungsauftrag des Art. 26 Abs. 1 S. 2 G G . Was ein Angriffskrieg ist, wird allerdings weder im Grundgesetz noch in § 8 0 definiert. Einer Klärung bedürfte insbesondere die Frage, wieweit ein sog. Präventivkrieg als Angriffskrieg zu gelten hat (vgl. Nahostkrise 1967 zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten). Dasselbe gilt für kriegerische Konflikte, die dadurch entstehen, daß eine nationale Minderheit oder bestimmte politische Gruppen eines Staates eine andere Macht um bewaffnete Hilfe ersuchen. Rein praktisch gesehen dürfte die Frage, wann ein Angriffskrieg vorliegt, mehr politischer als rechtlicher Natur sein und letzten Endes von dem entschieden werden, der den Krieg siegreich beendet hat. Aus dem Schrifttum siehe insbesondere Wengler, Das völkerrechtliche Gewaltverbot (1967) sowie Schroeder J Z 1969,41. 2. Rechtssystematisch gesehen enthält § 80 ein sog. Vorbereitungsdelikt, d. h. nicht erst die Durchführung, sondern bereits die Vorbereitung des Angriffskriegs ist selbständig unter Strafe gestellt. Als Vorbereitung hat hierbei jede Handlung zu gelten, die nach der Vorstellung des Täters geeignet ist, den geplanten Krieg unter Einbeziehung der B R D zu fördern. 3. Nicht erforderlich ist, daß der geplante Krieg zum Ausbruch kommt. Es genügt vielmehr bereits der Eintritt einer Kriegsgefahr. Diese ist keine objektive Strafbarkeitsbedingung, sondern ein echtes Tatbestandsmerkmal, auf das sich der Vorsatz des Täters beziehen muß. Wann man im Einzelfall schon von einer echten Gefahr eines Krieges sprechen kann, ist Tatfrage und wird nicht einfach zu entscheiden sein. Nicht ausreichend ist jedenfalls die abstrakte Möglichkeit eines Krieges. Die Gefahr muß so konkret sein, daß man nach allgemeiner Lebenserfahrung jederzeit mit dem Ausbruch eines Krieges rechnen muß. Hat die Vorbereitungshandlung nicht zu einer solchen Folge geführt, so liegt strafbarer Versuch vor (vgl. Stree in Schönke-Schröder 7, 9; a. A. Dreher 5, wonach in diesem Fall nur § 80 a in Betracht kommen soll). 4. Die Auslösung des Krieges selbst wird vom Gesetz nicht ausdrücklich erwähnt, muß aber als intensivste Form der Vorbereitung ebenfalls unter den Tatbestand des § 80 subsumiert werden.
384
Erster Titel: Friedensverrat
§ 80a
5. Täter kann auch ein Ausländer, Tatort auch das Ausland sein (vgl. §§ 3, 5 Nr. 1). 6. Der subjektive Tatbestand erfordert Vorsatz. Dieser muß sich auf alle Tb.-Merkmale erstrecken, insbesondere auf den Eintritt einer Kriegsgefahr (s. o. 3). 7. IdK ist möglich mit §§ 94,99,100 a; §§ 30, 80 a, 100 sind subsidiär.
§ 80 a
Aufstacheln zum Angriffskrieg
Wer im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) zum Angriffskrieg (§ 80) aufstachelt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. 1. § 80 a bringt einen wegen seiner Gefährlichkeit selbständig unter Strafe gestellten Sonderfall der erfolglosen Anstiftung, durch den § 80 ergänzt wird. 2. Als Aufstacheln gilt jeder propagandistische Versuch, die öffentliche Meinung für einen Angriffskrieg zu gewinnen, sofern dieser Versuch öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften, Ton- oder Bildträgern, Abbildungen oder Darstellungen erfolgt. a) öffentlich ist die Tat, wenn sie von einem nach Herkunft und Zahl unbestimmten Personenkreis wahrgenommen werden kann, z. B. bei einer lauten Unterhaltung in einem Zug, Gasthaus oder Theater, vor allem aber auch bei Demonstrationen auf offener Straße. b) Als Versammlung gilt jedes räumliche Zusammentreffen einer Mehrzahl von Personen zur Erörterung oder Verfolgung bestimmter Zwecke. Nicht hierher gehören Familientreffen und ähnliche rein private Veranstaltungen. Im übrigen jedoch ist nicht erforderlich, daß die Versammlung öffentlich ist; die Alternative dient vielmehr gerade der Erfassung solcher Äußerungen, die mangels Öffentlichkeit sonst nicht tatbestandsmäßig wären. Der Begriff Versammlung ist hier enger als im VersammlG (vgl. Dreher 2 m. weit. Nachweisen). c) Über Verbreiten von Schriften siehe § 74 d Anm. 1 b. 3. Gegenüber § 80 ist § 80a subsidiär; IdK. ist möglich mit §§ 89, 90, 90a, 100,110, 111. 4. Wegen Nebenfolgen und Einziehung siehe §§ 92 a, b.
13
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
385
§ 81
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaats
Zweiter Titel: Hochverrat § 81
Hochverrat gegen den Bund
(1) Wer es unternimmt, mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt 1. den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen oder 2. die auf dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beruhende verfassungsmäßige Ordnung zu ändern, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. 1. Über den Begriff des Unternehmens siehe § 11 Abs. 1 Nr. 6. 2. § 81 Nr. 1 behandelt den sog. Bestandshochverrat, Nr. 2 den sog. Verfassungshochverrat. a) Im Falle des Bestandshochverrats (Nr. 1) geht das Ziel des Täters dahin, die bestehende Ordnung in gebietsmäßiger Hinsicht zu verändern. Hierher gehört vor allem das Ziel, die Bundesrepublik unter Verlust ihrer eigenen Souveränität unter fremde Botmäßigkeit zu bringen. Tatbestandsmäßig wäre aber auch das Ziel, einzelne Teile der Bundesrepublik abzutrennen und einem fremden Staatswesen einzuverleiben oder auch zu verselbständigen. Nach h. A. gehört zum Gebiet der Bundesrepublik auch Berlin (vgl. Dreher 5; Lackner 1 a, cc zu § 92). Zum Ganzen siehe auch § 92 Anm. 2. b) Im Falle des Verfassungshochverrats (Nr. 2) geht das Ziel des Täters dahin, die durch das Grundgesetz normierten Grundlagen des politischen Lebens in der Bundesrepublik einer Änderung zu unterziehen. Geschützt sind insbesondere das durch die Verfassung festgelegte Spannungsverhältais zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, die Rechtsstellung der politischen Parteien und das föderalistische Prinzip, das die Rechtsstellung der Länder garantiert. Geschützt sind ferner alle in § 92 Abs. 2 aufgeführten Verfassungsgrundsätze. Die Beispiele lassen sich daher beliebig vermehren, zumal der Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung in § 81 weiter greift als der Begriff der Verfassungsgrundsätze in § 92 Abs. 2. Er umfaßt z. B. auch sämtliche Grundrechte (vgl. BGH bei Wagner GA 1960,5; Dreher 6). Als Änderung der verfassungsmäßigen Ordnung gilt nicht schon eine Störung oder Beeinträchtigung im Einzelfall. Erforderlich ist vielmehr, daß grundlegende, durch die Verfassung garantierte Institutionen entweder überhaupt beseitigt oder auf nicht nur vorübergehende Dauer in ihrer Funktion wesentlich beeinträchtigt werden. Hierher würde z. B. der gewaltsame Sturz der Bundesregierung gehören, ferner die Beseitigung von Bundestag und Bundesrat, die Besetzung von Rundfunk- und Fernsehstationen oder die Besetzung der Gerichtsgebäude, um die Ausübung einer ordnungsmäßigen Gerichtsbarkeit zu verhindern. Die Besetzung eines einzelnen Gerichtsgebäudes wäre dagegen nur eine Störung der verfassungsmäßigen Ordnung, noch keine Änderung. 3. Gewalt ist nicht nur die körperliche Kraftentfaltung, sondern jeder körperlich wirkende Zwang. Tatbestandsmäßig können daher auch Massendemonstrationen und Gene386
Zweiter Titel: Hochverrat
§§ 82,83
ralstreiks sein. Problematisch bleibt allerdings, unter welchen Voraussetzungen ein an sich zulässiger Streik oder eine Demonstration zu rechtswidriger Gewalt werden. Es handelt sich immerhin um Rechte mit Verfassungsrang. Andererseits dürfen Streik und Demonstration in einem demokratischen Rechtsstaat nicht zu Umsturz und Anarchie führen. Leider hat der Gesetzgeber auf eine gesetzliche Regelung dieser Konfliktslage bewußt verzichtet und es der Rechtsprechung überlassen, die Grenzen zwischen zulässigen und mißbräuchlichen Formen von Streik und Demonstration zu ziehen (vgl. Woesner NJW 1968, 2130 f.). Rechtsmißbräuchlich und damit rechtswidrige Gewalt sind jedoch zumindest solche Methoden des politischen Kampfs, die zu einer Lähmung des gesamten öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens und dadurch zu chaotischen Zuständen führen. Dies kann z. B. der Fall sein bei Ausfall von Strom, Gas, Wasser oder durch eine Störung der Lebensmittelversorgung (vgl. BGH 8,102; LM Nr. 6; Dreher 8 m. weit. Nachw.). 4. Tätige Reue führt nur unter den Voraussetzungen des § 83 a zu Straflosigkeit. 5. Bei Auslandstaten beachte § 5 Nr. 2.
§ 82
Hochverrat gegen ein Land
(1) Wer es unternimmt, mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt 1. das Gebiet eines Landes ganz oder zum Teil einem anderen Land der Bundesrepublik Deutschland einzuverleiben oder einen Teil eines Landes von diesem abzutrennen oder 2. die auf der Verfassung eines Landes beruhende verfassungsmäßige Ordnung zu ändern, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Die Vorschrift dient dem verfassungsmäßig garantierten Schutz der einzelnen Bundesländer. Die Ausführungen zu § 81 gelten entsprechend.
§ 83
Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens
(1) Wer ein bestimmtes hochverräterisches Unternehmen gegen den Bund vorbereitet, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Wer ein bestimmtes hochverräterisches Unternehmen gegen ein Land vorbereitet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. 1. Hier wird bereits die Vorbereitung eines bestimmten hochverräterischen Unternehmens i. S. der §§ 81,82 selbständig unter Strafe gestellt. 13'
387
§ 83a
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaats
a) Vorbereitung ist jede Tätigkeit, die nach der Vorstellung des Täters geeignet ist, das geplante Unternehmen zu fördern, z. B. die Abfassung und Herstellung von Druckschriften. Eine konkrete Gefahr für den Staat muß noch nicht eingetreten sein. b) Nur die Vorbereitung eines bestimmten hochven-äterischen Unternehmens erfüllt den Tatbestand, d. h. das geplante Unternehmen muß nach Angriffsgegenstand und Angriffsziel bereits feststehen (z. B. gewaltsamer Sturz der Regierung). Auch hinsichtlich Ort, Zeit und Art der Durchführung des Unternehmens müssen schon konkrete Vorstellungen bestehen. Beispiele siehe Wagner GA 1960,9 f. 2. Tätige Reue führt nur unter den Voraussetzungen des § 83 a zu Straflosigkeit. 3. Für Auslandstaten beachte § 5 Nr. 2. 4. Wegen Nebenstrafen und Nebenfolgen siehe §§ 92 a, b. 5. IdK ist möglich mit §§ 84-89 und 129; § 30 i. V. mit §§ 81 und 82 ist subsidiär (Köln NJW 1954,1259; Willms LK 16; str.).
§ 83 a
Tätige R e u e
(1) In den Fällen der §§ 8 1 und 8 2 kann das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 4 9 Abs. 2) oder von einer Bestrafung nach diesen Vorschriften absehen, wenn der Täter freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt und eine von ihm erkannte Gefahr, daß andere das Unternehmen weiter ausführen, abwendet oder wesentlich mindert oder wenn er freiwillig die Vollendung der Tat verhindert. (2) In den Fällen des § 8 3 kann das Gericht nach Absatz 1 verfahren, wenn der Täter freiwillig sein Vorhaben aufgibt und eine von ihm verursachte und erkannte Gefahr, daß andere das Unternehmen weiter vorbereiten oder es ausführen, abwendet oder wesentlich mindert oder wenn er freiwillig die Vollendung der Tat verhindert. (3) Wird ohne Zutun des Täters die bezeichnete Gefahr abgewendet oder wesentlich gemindert oder die Vollendung der Tat verhindert, so genügt sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, dieses Ziel zu erreichen. 1. Die Vorschrift enthält Sonderfälle der tätigen Reue, wobei sich Abs. 1 auf die Unternehmenstatbestände der §§ 81, 82 und Abs. 2 auf die in § 83 selbständig unter Strafe gestellte Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens bezieht. Die Notwendigkeit der Sonderregelung des § 83 a ergibt sich daraus, daß sowohl bei den Unternehmensdelikten als auch bei den selbständig unter Strafe gestellten Vorbereitungshandlungen die allgemeinen Vorschriften über Rücktritt und tätige Reue keine Anwendung finden können. Bei einem Rücktritt unter den Voraussetzungen des Abs. 1 bleibt die Strafbarkeit nach § 83 unberührt, sofern nicht zugleich auch die Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen (vgl. Dreher 3 sowie die entsprechende Rechtslage in § 149 Abs. 2). 388
Dritter Titel: Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates
§ 84
2. Im Gegensatz zur Regelung des § 24 steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, ob es von der Möglichkeit einer Strafmilderung Gebrauch machen oder von Strafe absehen will. Abs. 3 entspricht der Regelung in § 31 Abs. 2. 3. Prozessual beachte § 153 b StPO (Opportunitätsprinzip) und § 465 Abs. 1 S. 2 StPO (Kosten).
Dritter Titel: Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates § 84
Fortführung einer für verfassungswidrig erklärten Partei
(1) Wer als Rädelsführer oder Hintermann im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes den organisatorischen Zusammenhalt 1. einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Partei oder 2. einer Partei, von der das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, daß sie Ersatzorganisation einer verbotenen Partei ist, aufrechterhält, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Der Versuch ist strafbar. (2) Wer sich in einer Partei der in Absatz 1 bezeichneten Art als Mitglied betätigt oder wer ihren organisatorischen Zusammenhalt unterstützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (3) Wer einer anderen Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die im Verfahren nach Artikel 21 Abs. 2 des Grundgesetzes oder im Verfahren nach § 33 Abs. 2 des Parteiengesetzes erlassen ist, oder einer vollziehbaren Maßnahme zuwiderhandelt, die im Vollzug einer in einem solchen Verfahren ergangenen Sachentscheidung getroffen ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Den in Satz 1 bezeichneten Verfahren steht ein Verfahren nach Artikel 18 des Grundgesetzes gleich. (4) In den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 und der Absätze 2 und 3 Satz 1 kann das Gericht bei Beteiligten, deren Schuld gering und deren Mitwirkung von untergeordneter Bedeutung ist, die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder von einer Bestrafung nach diesen Vorschriften absehen. (5) In den Fällen der Absätze 1 bis 3 Satz 1 kann das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder von einer Bestrafung nach diesen Vorschriften absehen, wenn der Täter sich freiwillig und ernsthaft bemüht, das Fortbestehen der Partei zu verhindern; erreicht er dieses Ziel oder wird es ohne sein Bemühen erreicht, so wird der Täter nicht bestraft. 1. Die Vorschrift, die in Berlin nicht gilt (vgl. Art. 324 EGStGB) und für deren örtlichen Geltungsbereich § 91 zu beachten ist, knüpft an die früher in § 90 a getroffene Regelung
389
§ 84
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaats
an, enthält jedoch verschiedene, nicht unwesentliche Änderungen. So ist vor allem die Tätigkeit oder Mitgliedschaft in einer Ersatzorganisation einer verbotenen Partei erst dann strafbar, wenn das Bundesverfassungsgericht den Charakter der Organisation als Ersatzorganisation festgestellt hat. Zu beachten ist auch die Einbeziehung von Verstößen gegen Entscheidungen, die das BVerfG im Feststellungsverfahren nach § 33 Abs. 2 PartG getroffen hat (vgl. Abs. 3). 2. Als Partei i. S. des Abs. 1 und 2 gilt jede Vereinigung i. S. von § 2 PartG. Die Partei muß vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt worden sein. Dieses Schicksal haben bisher nur die SRP und die KPD erlitten (vgl. BVerfGE 2, 1; 5, 85). Wegen des Verfahrens siehe Art. 21 II GG i. V. mit § 46 BVerfGG. 3. Ob eine Partei eine Ersatzorganisation einer verbotenen Partei ist, muß zunächst von zuständiger Stelle festgestellt werden. Erst wenn diese Feststellung getroffen ist, erfüllen die Mitgliedschaft in einer solchen Partei oder ihre Förderung den Tatbestand einer strafbaren Handlung. Das Verfahren über die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit ist in § 33 PartG geregelt. Hierbei ist zu beachten, daß nach § 33 Abs. 2 PartG die Zuständigkeit des BVerfG nur für solche Ersatzorganisationen gegeben ist, die schon vor dem Verbot der als verfassungswidrig festgestellten Partei - natürlich nicht als deren Ersatzorganisationen - bestanden haben und entweder im Bundestag oder in einem Landtag vertreten sind. Für alle übrigen Ersatzorganisationen sind zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit die Verwaltungsbehörden zuständig (vgl. § 33 Abs. 3 PartG i. V. mit § 8 Abs. 2 VereinsG). Die Unterstützung solcher Ersatzorganisationen ist nicht nach § 84, sondern nach § 85 strafbar. Eine Entscheidung des BVerfG im Feststellungsverfahren nach § 33 Abs. 2 PartG ist bisher noch nicht ergangen. 4. Die Tathandlung nach Abs. 1 ist die Aufrechterhaltung des organisatorischen Zusammenhalts der verbotenen Partei oder Ersatzorganisation. Hierher gehört jedes Verhalten, das darauf abzielt, die Partei trotz des Verbots in ihrem Bestand zu erhalten (vgl. BGH 20, 287 zu § 90 a idF des VereinsG). Unerheblich ist, ob dies offen oder geheim in der Form einer Untergrundbewegung geschieht. Unerheblich ist auch, ob die Partei unter ihrem alten Namen oder - zur Verschleierung ihrer Identität - unter einem neuen Namen in Erscheinung tritt. Entscheidend ist allein, daß der organisatorische Apparat der Partei in seinen wesentlichen Funktionen fortgeführt wird. Zum Ganzen siehe auch BGH 26, 258. 5. Täter kann nur ein Rädelsführer oder Hintermann sein. Diese Begriffe begegnen später nochmals in den Tatbeständen der §§ 85, 88, 129 Abs. 4 und § 129 a Abs. 2. a) Rädelsführer sind Mitglieder, die in der verbotenen Partei eine führende Rolle spielen (vgl. BGH 19, 109 ff.; 20, 121 ff.). b) Hintermänner sind Außenstehende, die sich als sog. Drahtzieher beteiligen (vgl. BGH 20,123) und deren Einfluß dem des Rädelsführers gleichkommt. Unerheblich ist, ob der Rädelsführer bzw. Hintermann zu den geistigen Köpfen der Bewegung gehört oder ob er sie wirtschaftlich fördert. Entscheidend sind allein Bedeutung und Ausmaß seines Einflusses auf die Organisation insgesamt. Er muß entweder selbst zu den Führungskräften gehören oder durch sein Tun „gleichsam an der Führung teilhaben" (BGH 19,109).
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Dritter Titel: Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates
§ 84
6. Abs.' 2 erfaßt denjenigen, der sich in einer verbotenen Partei oder Ersatzorganisation als Mitglied betätigt oder ihren organisatorischen Zusammenhang unterstützt. a) Eine Mitgliedschaft i. S. der Vorschrift setzt nicht notwendig voraus, daß der Täter listenmäßig als Mitglied erfaßt ist, regelmäßig bestimmte Mitgliedsbeiträge bezahlt oder eine offizielle Mitgliedskarte (Parteibuch) besitzt. Entscheidend ist vielmehr, daß er in Übereinstimmung mit der Partei nicht nur vorübergehend für diese tätig wird (vgl. BGH 18, 299; NJW 1960, 1772). Der Besuch einzelner Veranstaltungen oder der Bezug von Zeitschriften, ja selbst das Verteilen von Werbematerial oder das Kassieren von Beiträgen reicht für sich allein nicht aus, wenn die übrigen Voraussetzungen fehlen (vgl. BGH 20, 74, 291). Auch die förmliche Mitgliedschaft erfüllt für sich allein noch nicht den Tatbestand (vgl. Woesner NJW 1968, 2129, 2132). Dieser ist vielmehr erst dann erfüllt, wenn das Mitglied sich als solches betätigt, d. h. über die Zahlung der Beiträge hinaus aktiv tätig wird, z. B. durch Vorträge oder Werben von Mitgliedern (Einzelheiten siehe auch Dahs NJW 1976, 2145, 2148). b) Die 2. Alt. des Abs. 2 bezieht sich auf Nichtmitglieder (Außenstehende), die den organisatorischen Zusammenhalt unterstützen. Unterstützung ist zu Täterschaft verselbständigte Beihilfe (BGH 20, 89). Erfaßt werden sollen vor allem die Geldgeber der Organisation, die nach außen nicht in Erscheinung treten wollen, aber auch noch nicht als Drahtzieher angesehen werden können (sonst Abs. 1). Werbung und einfache ideologische Parteinahme genügen für sich allein noch nicht, wohl aber systematische und intensive Propaganda (vgl. Woesner NJW 1968,2129,2132). 7. Abs. 3 schafft eine Strafdrohung für Verstöße a) gegen andere Sachentscheidungen des BVerfG im Verbotsverfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG, im Feststellungsverfahren nach § 33 Abs. 2 PartG sowie im Grundrechtsentziehungsverfahren nach Art. 18 GG; b) gegen vollziehbare Maßnahmen zum Vollzug einer Sachentscheidung im Rahmen eines Verfahrens der in a) erwähnten Art. Unter a) fallen z. B. Verstöße gegen einstweilige Anordnungen gemäß § 32 BVerfGG (nicht jedoch gegen prozessuale Entscheidungen, z. B. gegen Beschlagnahme und Durchsuchungen gemäß § 38 BVerfGG). Unter b) würde z. B. die Beiseiteschaffung von Vermögensgegenständen fallen, die gemäß § 46 BVerfGG eingezogen wurden. 8. Der subj. Tb. erfordert in allen Fällen Vorsatz. Der Täter muß insbesondere wissen, daß die Partei vom BVerfG verboten oder als Ersatzorganisation festgestellt worden ist. Unerheblich ist dagegen, ob er die Entscheidung als richtig anerkennt oder nicht. Unerheblich sind auch die Motive der Tat. Sie können sich allenfalls bei der Strafzumessung auswirken (siehe auch Abs. 4 und 5). 9. Die Abs. 4 (Mitläuferklausel) und 5 (tätige Reue) wurden durch das EGStGB redaktionell an die allgemeine Vorschrift des neuen § 49 Abs. 2 angepaßt. 10. IdK. ist möglich mit §§ 83, 86-89, 129. § 20 Abs. 1 VereinsG tritt als subsidiär zurück. 391
§ 85
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaats
11. Prozessual zu beachten sind die §§ 153 c, d StPO (Opportunitätsprinzip). Wegen der Zuständigkeit siehe §§ 74 a Abs. 1 Nr. 2,120 Abs. 2 GVG. 12. Wegen Nebenstrafen und Nebenfolgen siehe §§ 92 a, b.
§ 85
Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot
(1) Wer als Rädelsführer oder Hintermann im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes den organisatorischen Zusammenhalt 1. einer Partei oder Vereinigung, von der im Verfahren nach § 33 Abs. 3 des Parteiengesetzes unanfechtbar festgestellt ist, daß sie Ersatzorganisation einer verbotenen Partei ist, oder 2. einer Vereinigung, die unanfechtbar verboten ist, weil sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, oder von der unanfechtbar festgestellt ist, daß sie Ersatzorganisation einer solchen verbotenen Vereinigung ist, aufrechterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Der Versuch ist strafbar. (2) Wer sich in einer Partei oder Vereinigung der in Absatz 1 bezeichneten Art als Mitglied betätigt oder wer ihren organisatorischen Zusammenhalt unterstützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (3) § 84 Abs. 4 und 5 gilt entsprechend. 1. Die Vorschrift, für deren Geltungsbereich § 91 zu beachten ist, bringt eine Ergänzung des § 84. In Berlin ist § 85 idF des Art. 324 Abs. 3 Nr. 3 EGStGB anzuwenden. 2. Durch Abs. 1 Nr. 1 werden Parteien und Vereinigungen erfaßt, die im Verfahren nach § 33 Abs. 3 PartG unanfechtbar als Ersatzorganisation einer verbotenen Partei festgestellt worden sind. a) Über Partei siehe § 84 Anm. 2 und 3. b) Vereinigung ist der auf eine gewisse Dauer berechnete organisatorische Zusammenschluß einer Mehrheit von Personen, die bei Unterordnung des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame Zwecke verfolgen und untereinander derart in Beziehung stehen, daß sie sich als einheitlicher Verband fühlen (BGH 10, 16 f.; NJW 1975, 985). c) Die Partei bzw. Vereinigung muß im Verfahren nach § 33 Abs. 3 PartG unanfechtbar als Ersatzorganisation einer verbotenen Partei festgestellt worden sein. Zuständig für dieses Verfahren ist - anders als im Verfahren nach § 33 Abs. 2 PartG - nicht das BVerfG, sondern die Verwaltungsbehörde (vgl. § 33 Abs. 3 PartG i. V. mit §§ 3, 8 VereinsG). 392
Dritter Titel: Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates
§ 86
d) Ist die Entscheidung noch nicht rechtskräftig, liegt aber schon eine vollziehbare Feststellung i. S. von § 2 Abs. 4 VereinsG vor, so richtet sich die Strafbarkeit nicht nach § 85, sondern nach § 20 Abs. 1 VereinsG. 3. Abs. 1 Nr. 2 bezieht sich auf Vereinigungen, die im Verfahren nach §§ 3 ff. VereinsG unanfechtbar verboten worden sind. Zuständig für das Verbotsverfahren ist wiederum die Verwaltungsbehörde (§ 3 Abs. 2 VereinsG). Ist das Verbot bereits vollziehbar (vgl. § 3 Abs. 4 VereinsG), aber noch nicht unanfechtbar, so ergibt sich die Strafbarkeit aus § 20 Abs. 1 VereinsG. 4. Tathandlung und Täterkreis sind die gleichen wie in § 84. Auf die dortigen Ausführungen kann insoweit verwiesen werden (vgl. § 84 Anm. 4-7). 5. Zum Ganzen siehe auch § 84 Anm. 8-12.
§ 86
Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen
(1) Wer Propagandamittel 1. einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Partei oder einer Partei oder Vereinigung, von der unanfechtbar festgestellt ist, daß sie Ersatzorganisation einer solchen Partei ist, 2. einer Vereinigung, die unanfechtbar verboten ist, weil sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, oder von der unanfechtbar festgestellt ist, daß sie Ersatzorganisation einer solchen verbotenen Vereinigung ist, 3. einer Regierung, Vereinigung oder Einrichtung außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes, die für die Zwecke einer der in den Nummern 1 und 2 bezeichneten Parteien oder Vereinigungen tätig ist, oder 4. Propagandamittel, die nach ihrem Inhalt dazu bestimmt sind, Bestrebungen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation fortzusetzen, im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes verbreitet oder zur Verbreitung innerhalb dieses Bereichs herstellt, vorrätig hält oder in diesen Bereich einführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Propagandamittel im Sinne des Absatzes 1 sind nur solche Schriften (§ 11 Abs. 3), deren Inhalt gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist. (3) Absatz 1 gilt nicht, wenn das Propagandamittel oder die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder ähnlichen Zwecken dient. (4) Ist die Schuld gering, so kann das Gericht von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen. 393
§ 86
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaats
1. Die zuletzt durch das 14. StrRÄndG in ihrem Abs. 3 neu gefaßte Vorschrift, deren Abs. 1 Nr. 1 sowie Nr. 3 i. V. mit Nr. 1 in Berlin nicht gelten (vgl. Art. 324 EGStGB), findet keine Anwendung auf Zeitungen und Zeitschriften, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereiches des StGB in ständiger, regelmäßiger Folge erscheinen und dort allgemein und öffentlich vertrieben werden (vgl. Art. 296 EGStGB). Über ihre Vereinbarkeit mit dem GG siehe BGH 23, 64,70. 2. Der Begriff der Propagandamittel ist in Abs. 2 abschließend definiert. a) Die freiheitliche demokratische Grundordnung erfaßt nicht nur die in § 81 Abs. 1 Nr. 2 geschützte verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik und die in § 92 Abs. 2 definierten Verfassungsgrundsätze, sondern schlechthin die tragenden Grundsätze jeder freiheitlichen Demokratie (vgl. Dreher 3; einschränkend BGH 23, 64, 72, wonach der Begriff sich im wesentlichen mit den in § 92 Abs. 2 genannten Verfassungsgrundsätzen decken soll). b) Die Gedanken der Völkerverständigung werden bestimmt durch das Ziel, eine friedliche Koexistenz aller Völker unter Ausschluß jeder Gewalt zu erreichen. c) Unerheblich ist, aus welcher Zeit die staatsgefährdenden Propagandamittel stammen. So können auch aggressive Filme sowie Liedertexte, Reden und Aufsätze aus der NS-Zeit als Propagandamittel i. S. des Abs. 2 angesehen werden (wichtig für § 86 Abs. 1 Nr. 4). 3. Hinsichtlich der Herkunft des Propagandamaterials ist folgendes zu beachten: a) Abs. 1 Nr. 1 und 2 erfassen Propagandamittel von Parteien und Vereinigungen, deren Aufrechterhaltung oder Unterstützung unter den Voraussetzungen der §§ 84, 85 nach diesen Vorschriften strafbar wäre. Liegt eine noch nicht rechtskräftige, aber bereits vollzugsfähige Entscheidung der Verbotsbehörde vor (vgl. § 3 Abs. 4 VereinsG), so kommt eine Strafbarkeit nur unter den Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 VereinsG in Betracht. b) Abs. 1 Nr. 3 erfaßt Propagandamaterial von Regierungen, Vereinigungen und Einrichtungen außerhalb des gesetzlichen Geltungsbereichs (z. B. aus der DDR), soweit diese für die unter Abs. 1 Nr. 1 und 2 fallenden Gruppen tätig wurden. c) Ohne Rücksicht auf die Herkunft unterhegt Propagandamaterial dem Anwendungsbereich der Vorschrift, wenn es seinem Inhalt nach dazu bestimmt ist, Bestrebungen einer ehemaligen NS-Organisation fortzusetzen (Nr. 4). Als NS-Organisation gilt die NSDAP mit sämtlichen ihr ehemals angeschlossenen Verbänden, nicht jedoch die ehemalige Wehrmacht (BGH 23, 64 f.). Tatbestandsmäßig sind vor allem Aufsätze, Reden und Lieder, deren Inhalt nach dem Urteil eines verständigen Beurteilers die Unterdrückung des Judentums oder anderer Volksgruppen verherrlicht. Unerheblich ist, ob die Aufsätze usw. noch aus der NS-Zeit stammen oder erst in jüngerer Zeit gefertigt wurden. Entscheidend ist allein das in ihnen enthaltene aggressive Gedankengut. Nicht untersagt ist andererseits bloße Kritik an den obersten Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats (BGH 23, 64, 72). Das Propagandamittel muß vielmehr eine „aktive kämpferische Tendenz" erkennen lassen (BGH aaO.). 4. Als Tathandlung kommen in Betracht das Verbreiten, Herstellen und Vorrätighalten sowie die Einfuhr. 394
Dritter Titel: Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates
§ 86
a) Verbreiten ist wie in § 184 (siehe dort Anm. 6 d) jede Weitergabe mit dem Ziel, das Material einem größeren Personenkreis zugänglich zu machen. Strafbar ist das Verbreiten nur, wenn es innerhalb des Geltungsbereichs des StGB erfolgt. In Berlin gilt die Vorschrift nur beschränkt (s. o. 1). b) Das Herstellen (zu dem auch das früher in § 93 erwähnte Vervielfältigen gehört) und das Vorrätighalten sind auch dann strafbar, wenn die Handlung außerhalb des Geltungsbereichs des StGB vorgenommen wird, jedoch muß die Absicht der Verbreitung innerhalb des Geltungsbereichs vorliegen. c) Die Einfuhr ist bereits mit dem Überschreiten der Grenze vollendet. Beihilfe ist jedoch noch bis zum Erreichen des Bestimmungsorts möglich (vgl. Dreher 9 m. Nachw.). Zur Einfuhr gehört auch die Durchfuhr (Schleswig NJW 1971, 2319). d) Nicht hierher gehört das früher in § 93 aufgeführte Beziehen von staatsgefährdendem Propagandamaterial. Der Bezug aus dem Ausland ist auch nicht als „Einfuhr" strafbar, wenn er nur der eigenen Information dient. 5. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz hinsichtlich aller Tb.-Merkmale ausreicht (BGH 19, 223 zu § 93 aF). Motive und Ziele des Täters sind unerheblich, sofern kein Fall des Abs. 3 vorliegt. So können sich z. B. ein Druckereibesitzer, der ständig verfassungswidrige Schriften druckt, oder ein Fuhrunternehmer, der solche Schriften tonnenweise einführt, nicht darauf berufen, sie würden den Inhalt der Schriften nicht billigen und die Arbeit ohne Rücksicht auf den Inhalt der Schrift nur ihres Verdienstes wegen ausführen (vgl. BGH aaO.). 6. Die Sozialadäquanzklausel des Abs. 3, die eine Tatbestandseinschränkung enthält (h. L., vgl. Stree NJW 1976, 1178 Fn. 2 m. Nachw.), schüeßt nur solche Verhaltensweisen aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift aus, die deren Schutzzweck offensichtlich nicht zuwiderlaufen. Nicht ausreichend zum Ausschluß der Tatbestandsmäßigkeit ist deshalb die Absicht, anderen dazu zu verhelfen, „sich ein eigenes Bild zu verschaffen" (BGH 19, 221, 225). Die durch das 14. StrRÄndG neu gefaßte Vorschrift, auf die auch in § 86 a und in den neuen Tatbeständen der §§ 88 a und 130 a Bezug genommen wird, will vielmehr nur verhindern, daß auch solche Verhaltensweisen von der Strafdrohung des Abs. 1 erfaßt werden, die von der Allgemeinheit gebilligt und daher in strafrechtlicher Hinsicht im sozialen Leben gänzlich unverdächtig, d. h. sozial adäquat sind (vgl. BGH 23, 226 m. krit. Bespr. Kohlmann JZ 1971, 681). Der Rahmen des sozialadäquaten Verhaltens wird jedoch gesprengt, wenn für die verfassungsfeindliche und aufgelöste Partei geworben werden soll. Es wäre mit Art. 21 Abs. 2 GG unvereinbar, einer Partei, die gerade wegen ihrer Verfassungsfeindlichkeit aus dem politischen Leben ausgeschaltet worden ist, das Recht zuzubilligen, durch eine organisierte Aktion staatsbürgerliche Aufklärung zu betreiben (BGH aaO.). Auch das Verwenden eines NS-Emblems zur „reißerischen" Käuferwerbung ist nicht sozialadäquat (BGH 23, 64,79 betr. Schallplattenhüllen mit dem Hakenkreuzsymbol). 7. Abs. 4 (Absehen von Strafe) wurde durch das EGStGB neu gefaßt. Die Vorschrift enthält einen sog. Strafeinschränkungsgrund (D 3 vor § 1). 8. IdK. ist möglich mit §§ 83-85, 89-90 b. 395
§ 86
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaats
9. Prozessual zu beachten sind: a) das sog. Verbringungsverbots- oder ÜberwachungsG. Siehe hierzu ausführlich Lüttger MDR 1961, 809 und Wagner MDR 1961, 93; b) §§ 74 a Abs. 1 Nr. 2,120 Abs. 2 GVG (Zuständigkeit); c) §§ 153 b-d StPO (Opportunitätsprinzip). 10. Wegen Nebenfolgen siehe §§ 92 a, b.
§ 86 a
Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen
(1) Wer im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes Kennzeichen einer der in § 86 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 bezeichneten Parteien und Vereinigungen öffentlich, in einer Versammlung oder in von ihm verbreiteten Schriften (§ 1 1 Abs. 3) verwendet oder wer solche Kennzeichen in diesem Bereich verbreitet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Kennzeichen im Sinne des Absatzes 1 sind namentlich Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen. (3) § 8 6 Abs. 3 , 4 gilt entsprechend. 1. Anliegen der Vorschrift ist es, den politischen Frieden in der Bundesrepublik Deutschland vor Störungen zu schützen (vgl. BGH 25, 30). Der Eintritt einer konkreten Gefährdung des politischen Friedens oder der naheliegenden Gefahr einer solchen Gefährdung ist nicht erforderlich. Es handelt sich somit um ein abstraktes Gefährdungsdelikt (BGH aaO.). In Berlin ist die Vorschrift nur beschrankt anwendbar. Sie gilt dort nicht, soweit es sich um Kennzeichen von Organisationen handelt, die vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt worden sind (vgl. Art. 324 EGStGB). - Schrifttum: Greiser, Die Sozialadäquanz der Verwendung von NS-Kennzeichen bei Demonstrationen, NJW 1969, 1155; - ders., Verbreitung verfassungsfeindlicher Propaganda, NJW 1972, 1556; - Nöldecke, NS-Symbole im politischen Tageskampf, NJW 1972, 2119. 2. Zu den verbotenen Kennzeichen gehören nicht nur die in Abs. 2 genannten Fahnen, Abzeichen (z. B. Parteiabzeichen der NSDAP), Uniformen, Parolen und Grußformen (z. B. „Heil Hitler" oder „Sieg Heil" unter gleichzeitigem Erheben des rechten Arms, vgl. BGH 25, 30), sondern schlechthin alle sichtbaren und hörbaren Symbole. So können z. B. auch das „Horst-Wessel-Lied" oder das Hitler-Bild Kennzeichencharakter haben (vgl. BGH MDR 1965, 923; BayObLG NJW 1962, 1878; Dreher 3), desgleichen die Grußform „mit deutschem Gruß", wenn Aufmachung und Inhalt des Briefs eindeutig erkennen lassen, daß dies im NS-Sprachgebrauch gemeint ist (BGH 27, 1). Nicht ausreichend sind jedoch die karikaturistisch verzerrte Darstellung eines menschlichen Körpers in Form eines Hakenkreuzes (BGH 25, 128) oder die Abbildung eines JanusKopfes, dessen eine Seite die Gesichtszüge Hitlers erkennen läßt, während die andere 396
Dritter Titel: Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates
§ 86a
Seite einen Politiker der Gegenwart darstellt, um diesen durch die Verbindung mit einem Symbol aus der NS-Zeit zu diffamieren (BGH 25,133). 3. Die Kennzeichen müssen Symbole einer bestimmten verbotenen Partei oder Vereinigung sein. Die Ausführungen in Anm. 3 a) und c) zu § 86 gelten entsprechend. 4. Die Tathandlung besteht im Verwenden der verbotenen Symbole. Dieses muß unter bestimmten qualifizierenden Umständen (öffentlich, in einer Versammlung usw.) erfolgen. Siehe hierzu § 80 a Anm. 2 a. Verwenden bedeutet „irgendeinen Gebrauch machen"; der Verwendungszweck ist nur für die Frage bedeutsam, ob ein Ausnahmefall nach Abs. 3 vorliegt (BGH 23, 267). Tatbestandsmäßig ist deshalb auch das Ausstellen von Parteiabzeichen, Orden, Fahnen usw. in einem Schaufenster oder in einem öffentlichen Ladengeschäft. Vom Schutzzweck der Vorschrift her gesehen macht es dabei keinen Unterschied, ob es sich bei den ausgestellten Stücken um echte Stücke aus der NSZeit oder um Imitationen handelt. Unerheblich ist auch, ob die Kennzeichen nur zur Dekoration oder zur Belebung der Kauflust ausgestellt werden. - Über Verbreiten siehe § 74 d Anm. 1 b. 5. Die Verweisung des Abs. 3 auf die Sozialadäquanzklausel des § 86 Abs. 3 gibt die Möglichkeit, solche Verhaltensweisen aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift auszuklammern, die ihrem Schutzzweck (s. o. 1) offensichtlich nicht zuwiderlaufen (vgl. BGH 25, 30 m. zust. Anm. Blei JA 1973, StR 43). Hierher gehört zunächst die in § 86 Abs. 3 ausdrücklich hervorgehobene Verwendung im Rahmen der staatsbürgerlichen Aufklärung (z. B. im Schulunterricht) sowie zur Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen. Zu den „ähnlichen Fällen" gehören z. B. Faschingsumzüge, Ausstellungen, Theateraufführungen und Filme, in denen die Ziele und Verhältnisse der verbotenen bzw. verfassungswidrigen Organisationen rein historisch dargestellt oder karikiert, nicht aber verherrlicht werden sollen. Auch das Sammeln von Briefmarken mit NS-Symbolen kann unbedenklich als sozialadäquat angesehen werden (nicht dagegen der Handel mit Fahnen, Orden und ähnlichen Kennzeichen aus der NS-Zeit, vgl. Greiser NJW 1972, 1557 f.; Lüttger GA 1960, 129, 144). Der Bereich der tatbestandsausschließenden Sozialadäquanz wird jedoch regelmäßig dann gesprengt, wenn die Kennzeichen als politische Kampfmittel verwendet werden. Da es das Ziel des § 86 a ist, bestimmte Kennzeichen aus dem Bild des politischen Lebens grundsätzlich zu verbannen, kommt es nicht darauf an, ob die Verwendung dieser Kennzeichen mit einer verfassungsfeindlichen Absicht verbunden ist; auch eine bekenntnishafte Verwendung ist nicht erforderlich (BGH aaO.; Blei aaO.; Dreher 8; a. A. Willms LK 5; Stree in Schönke-Schröder 6). Der politische Friede kann vielmehr auch dadurch gefährdet werden, daß die verbotenen Kennzeichen verwendet werden, um dem politischen Gegner eine - tatsächliche oder vermeintliche - Übereinstimmung mit den Zielen einer als verfassungsfeindlich verbotenen Organisation vorzuhalten (BGH aaO.). Deshalb muß auch das Beschmieren von Hausfassaden oder Wahlplakaten mit NS-Symbolen als tatbestandsmäßig angesehen werden. Dasselbe gilt für die bei Demonstrationen häufig zu beobachtende Begrüßung der Polizei mit „Sieg Heil"-Rufen, um auf diese Weise den Beamten vorzuwerfen, sie würden sich bei ihrem Einsatz nazistischer Methoden bedienen. Eine Ausnahme kann hier nur dann gelten, wenn es sich um die einmalige Entgleisung einzelner handelt, die nur kurz in das äußere Erscheinungsbild tritt und keine Nachwirkungen auf Dritte befürchten läßt (BGH aaO.). Nicht tatbestandsmäßig sind auch solche Abbildungen und Darstellungen, bei denen eine Wiederbelebung des NS-Gedankenguts von vornherein ausgeschlossen ist, z. B. wenn die Symbole abwertend verzerrt oder verhöhnt werden (BGH 25,133).
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§ 87
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6. Die in Abs. 3 enthaltene Verweisung auf § 86 Abs. 4 gibt die Möglichkeit, bei geringer Schuld von Strafe abzusehen. 7. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz. Die Ausführungen zu § 86 (Anm. 5) gelten entsprechend. Ergänzend ist zu betonen, daß eine verfassungsfeindliche Absicht, insbesondere eine bekenntnishafte Verwendung des Kennzeichens, nicht erforderlich ist (BGH 25, 30 f.; Str., s. o. 5). 8. IdK. ist möglich mit §§ 84-86, 89-90 b. § 15 Abs. 1 Nr. 4 TitelG (Herstellen von Abzeichen mit NS-Emblemen) ist gemäß § 21 OWiG subsidiär. 9. Prozessual beachte §§ 74 a Abs. 1 Nr. 2, 120 Abs. 2 GVG (Zuständigkeit), §§ 153 b, e, d StPO (Opportunitätsprinzip). 10. Wegen Nebenfolgen siehe §§ 92 a, b.
§ 87
Agententätigkeit zu Sabotagezwecken
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer einen Auftrag einer Regierung, Vereinigung oder Einrichtung außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes zur Vorbereitung von Sabotagehandlungen, die in diesem Geltungsbereich begangen werden sollen, dadurch befolgt, daß er 1. sich bereit hält, auf Weisung einer der bezeichneten Stellen solche Handlungen zu begehen, 2. Sabotageobjekte auskundschaftet, 3. Sabotagenlittel herstellt, sich oder einem anderen verschafft, verwahrt, einem anderen überläßt oder in diesen Bereich einführt, 4. Lager zur Aufnahme von Sabotagemitteln oder Stützpunkte für die Sabotagetätigkeit einrichtet, unterhält oder überprüft, 5. sich zur Begehung von Sabotagehandlungen schulen läßt oder andere dazu schult oder 6. die Verbindung zwischen einem Sabotageagenten (Nummer 1 bis 5) und einer der bezeichneten Stellen herstellt oder aufrechterhält, und sich dadurch absichtlich oder wissentlich für Bestrebungen gegen den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt. (2) Sabotagehandlungen im Sinne des Absatzes 1 sind 1. Handlungen, die den Tatbestand der §§ 109 e, 305, 306, 308, 310 b bis 311 a, 312,313,315, 315 b, 316 b, 316 c Abs. 1 Nr. 2, der §§ 317 oder 321 verwirklichen, und 398
Dritter Titel: Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates
§ 87
2. andere Handlungen, durch die der Betrieb einer für die Landesverteidigung, den Schutz der Zivilbevölkerung gegen Kriegsgeiahren oder für die Gesamtwirtschaft wichtigen Unternehmens dadurch verhindert oder gestört wird, daß eine dem Betrieb dienende Sache zerstört, beschädigt, beseitigt, verändert oder unbrauchbar gemacht oder daß die für den Betrieb bestimmte Energie entzogen wird. (3) Das Gericht kann von einer Bestrafung nach diesen Vorschriften absehen, wenn der Täter freiwillig sein Verhalten aufgibt und sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle offenbart, daß Sabotagehandlungen, deren Planung er kennt, noch verhindert werden können.
1. Die zuletzt durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift erfaßt bestimmte Vorbereitungshandlungen, die darauf abzielen, den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik oder Verfassungsgrundsätze zu beeinträchtigen. In Berlin gilt die Vorschrift nicht, soweit sie sich auf § 109 e und auf Angelegenheiten der Landesverteidigung bezieht (vgl. Art. 324 EGStGB). Wegen des örtlichen Geltungsbereichs siehe auch § 91. 2. Der Täter muß im Auftrag einer Regierung, Vereinigung oder Einrichtung außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des StGB handeln. Die Vorschrift enthält insoweit Elemente des bereits erörterten § 86 Abs. 1 Nr. 3 (Verbreiten von Propagandamitteln von fremden Regierungen usw.). Zu den Einrichtungen gehören z. B. fremde Nachrichtendienste. 3. Die Bestrebungen, die der Täter durch die Befolgung des Auftrags unterstutzt, müssen gegen Bestand oder Sicherheit der Bundesrepublik oder gegen Verfassungsgrundsätze gerichtet sein. Die Vorschrift enthält insoweit Elemente des Hoch- und Landesverrats (vgl. §§ 81 ff., 93 ff.). Wegen Verfassungsgrundsätze siehe § 92 Abs. 2. 4. Die Sabotagehandlungen, zu deren Vorbereitung der Täter mitwirkt, sind in Abs. 2 abschließend aufgeführt. Es handelt sich um typisch gemeingefährliche Delikte. Nicht erforderlich ist, daß die Sabotagehandlung zur Ausführung kommt. 5. Die Tathandlungen sind in Abs. 1 Nr. 1-6 abschließend aufgeführt. Es handelt sich um typische Agententätigkeiten. 6. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz hinsichtlich aller Tatbestandsmerkmale. Der Täter muß also wissen, daß er den Auftrag einer fremden Regierung usw. befolgt und daß seine Tätigkeit der Vorbereitung von Sabotageakten dient. Insoweit genügt bedingter Vorsatz. Er muß sich außerdem bewußt sein, daß er sich für Bestrebungen gegen den Bestand oder die Sicherheit der BRD bzw. gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt. Bedingter Vorsatz genügt insoweit nicht („wissentlich"). Nicht erforderlich ist dagegen, daß es dem Täter darauf ankommt, die staatsgefährdenden Bestrebungen einer fremden Regierung usw. zu unterstützen. Es ist vor allem nicht erforderlich, daß er sich mit den staatsgefährdenden Zielen identifiziert. Der Tb. ist vielmehr auch dann erfüllt, wenn es dem Täter nur um das Geld geht. 399
§ 88
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaats
7. Abs. 3 bringt einen Sonderfall der tätigen Reue. 8. Wegen Nebenfolgen siehe §§ 92 a, 92 b. 9. IdK. ist möglich mit § 83. Gelangen die vorzubereitenden Sabotageakte i. S. von Abs. 2 in das Stadium des § 30 Abs. 2 oder kommt es gar zum Versuch oder zur Vollendung der Sabotageakte, so ist § 87 subsidiär. 10. Prozessual beachte §§ 74 a Abs. 1 Nr. 2, 120 Abs. 2 G V G (Zuständigkeit) sowie §§ 153 b - e StPO (Opportunitätsprinzip).
§ 88
Verfassungsfeindliche Sabotage
(1) Wer als Rädelsführer oder Hintermann einer Gruppe oder, ohne mit einer Gruppe oder für eine solche zu handeln, als einzelner absichtlich bewirkt, daß im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes durch Störhandlungen 1. die Post oder dem öffentlichen Verkehr dienende Unternehmen oder Anlagen, 2. Fernmeldeanlagen, die öffentlichen Zwecken dienen, 3. Unternehmen oder Anlagen, die der öffentlichen Versorgung mit Wasser, Licht, Wärme oder Kraft dienen oder sonst für die Versorgung der Bevölkerung lebenswichtig sind, oder 4. Dienststellen, Anlagen, Einrichtungen oder Gegenstände, die ganz oder überwiegend der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung dienen, ganz oder zum Teil außer Tätigkeit gesetzt oder den bestimmungsmäßigen Zwecken entzogen werden, und sich dadurch absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Die Vorschrift ergänzt die § § 3 1 6 b, 317, mit denen IdK. möglich ist. 2. Täter können sein a) Rädelsführer oder Hintermänner einer Gruppe (siehe hierzu § 8 4 A n m . 5); b) Einzeltäter ohne Gruppenzusammenhang. 3. Als Störhandlung gilt jede Handlung, durch welche die in § 8 8 geschützten Objekte (Post, Bahn, Versorgungsbetriebe usw.) ganz oder teilweise lahmgelegt oder ihrem bestimmungsgemäßen Zweck entzogen werden. Hierher gehören zunächst die in den §§ 3 1 6 b, 317 genannten Sabotagehandlungen (Zerstören, Beschädigen usw.), ferner Zwangsmaßnahmen wie illegale Streiks, Aussperrung von arbeitswilligen Betriebsange-
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§ 88 a
hörigen, Betriebsbesetzungen. Aussperrung und Streik waren früher in § 90 aF besonders hervorgehoben. Die Tatsache, daß diese Merkmale in § 88 nicht mehr erwähnt sind, hindert indes nicht, sie gleichwohl als Störhandlungen zu behandeln. Es fehlt jedoch die Rechtswidrigkeit, wenn Aussperrung und Streik arbeitsrechtlich zulässig oder sonst sozialadäquat sind. Strafbar bleibt dann lediglich der Rädelsführer oder Hintermann, sofern er sich von verfassungswidrigen Zielen leiten ließ (RG J W 1924, 1777; Dreher 9). Zum Ganzen siehe auch § 81 Anm. 3. 4. Der subj. Tb. erfordert Absicht, d. h. es muß dem Täter auf die Stillegung oder Zweckentfremdung ankommen (Dreher 8; Lackner 3). Insoweit geht § 88 über § 87 hinaus (Stree in Schönke-Schröder 20). 5. Wegen Nebenfolgen siehe §§ 92 a, b. 6. IdK. ist möglich mit §§ 316 b, 317,321. - §§ 81-83 gehen vor. 7. Siehe auch § 87 Anm. 10.
§ 88 a
Verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten
(1) Wer eine Schrift (§ 11 Abs. 3), die die Befürwortung einer der in § 126 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 genannten rechtswidrigen Taten enthält und bestimmt sowie nach den Umständen geeignet ist, die Bereitschaft anderer zu fördern, sich durch die Begehung solcher Taten für Bestrebungen gegen den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einzusetzen, 1. verbreitet, 2. öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht oder 3. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, in den räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes einzuführen oder daraus auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihr gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 oder 2 zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung die Begehung einer der in § 126 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 genannten rechtswidrigen Taten befürwortet, um die Bereitschaft anderer zu fördern, sich durch die Begehung solcher Taten für Bestrebungen gegen den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einzusetzen. (3) § 86 Abs. 3 güt entsprechend. 1. Die durch das im Bundestag einstimmig verabschiedete 14. StrRÄndG v. 22. 4. 1976 (BGBl. I 1056) neu eingefügte Vorschrift bezweckt den Ausbau des Strafrechtsschutzes
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§ 88a
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaats
im Vorfeld der in § 126 Abs. 1 Nr. 1-6 genannten Gewalttaten. Sie beruht auf der Erkenntnis, daß bereits die Propagierung von Gewalt die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit gefährdet, indem sie die Bereitschaft fördert, Gewalt- und Terrorakte als zulässige Mittel im politischen Kampf gegen tatsächliche oder vermeintliche Mißstände zu betrachten. Es handelt sich somit um ein abstraktes Gefährdungsdelikt, das erst in der Endphase der parlamentarischen Beratungen zu einem Staatsgefährdungsdelikt geworden ist, nachdem sein Anwendungsbereich durch das Erfordernis einer verfassungsfeindlichen Zielsetzung zur Vermeidung einer kriminalpolitisch unerwünschten Ausuferung gegenüber der ursprünglichen Fassung des RegE eingeschränkt worden ist. Ergänzt wird die Vorschrift durch den gleichzeitig eingeführten § 130 a und die Neufassung der §§111 Abs. 2,140,145 d und 241. Gesetzesmaterialien: BT-Drucks. 7/3030 (RegE), BR-Drucks. 791/74, BT-Drucks. 7/3064 (Gegenäußerung der BReg) und BT-Drucks. 7/4549 (Bericht und Antrag des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform). - Schrifttum: Blei, JA 1975, StR S. 1 sowie JA 1976, StR S. 47; - Laufhütte, Das 14. StrRÄndG, MDR 1976, 441; - Stree, Strafschutz im Vorfeld von Gewalttaten, NJW 1976, 1177; - Sturm, Zum 14. StrRÄndG, JZ 1976,347. 2. Abs. 1 erfaßt die Befürwortung von Gewalttaten durch Schriften und den ihnen nach § 11 Abs. 3 gleichgestellten Ton- und Bildträgern, Abbildungen und anderen Darstellungen. a) Befürwortet wird eine Gewalttätigkeit, wenn sie als begrüßungswert oder auch nur als notwendig oder unvermeidbar dargestellt wird (Blei aaO. 5). Eine direkte Form der Befürwortung ist nicht erforderlich; ausreichend ist auch die subtilere Form der indirekten Aufforderung (vgl. Sturm JZ 1976, 348). Unter diesem Gesichtspunkt ist auch der berüchtigte Artikel in der Göttinger AStA-Zeitung v. 25. 4. 1977 zu betrachten, in dem der Verfasser seine „klammheimliche Freude" über den „Abschuß" des von politischen Extremisten ermordeten Generalbundesanwalts Buback zum Ausdruck bringt. b) Unerheblich ist, ob die befürworteten rechtswidrigen Taten (siehe hierzu § 11 Abs. 1 Nr. 5) i. S. des § 126 Abs. 1 Nr. 1-6 in der Gegenwart oder in der Zukunft liegen. Die Befürwortung von Gewalttaten in der Vergangenheit fällt nur dann unter den Anwendungsbereich der Vorschrift, wenn die Darstellung - offen oder unverkennbar zwischen den Zeilen - zum Ausdruck bringt, es sei jetzt wieder an der Zeit, nach dem historischen Vorbild zu handeln (Blei aaO. 6). c) Die Schrift muß geeignet und bestimmt sein, die Bereitschaft anderer zu fördern, sich durch die Begehung tatbestandsrelevanter Gewalttaten für verfassungsfeindliche Tendenzen einzusetzen. aa) Die Eignung der Schrift ist objektiv zu beurteilen, gegebenenfalls durch Beiziehung eines wissenschaftlichen Sachverständigen. Eine Förderung der Bereitschaft zu Gewalttaten setzt nicht voraus, daß eine solche Bereitschaft bereits vorhanden war; es genügt, daß sie durch die Schrift geweckt werden könnte (Blei aaO. S. 6; Stree aaO. 1179). Durch das erst in der Endphase der parlamentarischen Beratungen eingeführte zusätzliche Erfordernis der Eignung zur Förderung verfassungsfeindlicher Tendenzen (sog. Staatsgefährdungsklausel) wurde der Anwendungsbereich der Vorschrift entgegen der ursprünglich vorgesehenen Fassung nicht unerheblich eingeschränkt (vgl. Sturm JZ 1976, 349). Der „Bestand" der Bundesrepublik ist gefährdet, wenn die bestehende Ordnung in gebietsmä-
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§ 88 a
ßiger Hinsicht verändert werden soll (Einzelheiten siehe § 92 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 nebst Anm.). Die „Sicherheit" der Bundesrepublik umfaßt nicht nur den Schutz ihrer Bewohner und Einrichtungen vor Kriegsgefahr und ähnlichen Einflüssen von außen, sondern auch die innere Sicherheit, d. h. den Schutz vor Terroranschlägen und ähnlichen, den inneren Frieden störenden Gewalttaten (vgl. § 92 Abs.' 3 Nr. 2). Über „Bestrebungen gegen Verfassungsgrundsätze" siehe § 92 Abs. 3 Nr. 3. Nicht ausreichend ist die Propagierung von Gewalttaten, durch die lediglich die Sicherheitsinteressen und Verfassungsgrundsätze eines ausländischen Staates berührt werden (Ber. S. 7 BT-Drucks. 7/4549). bb) Die Bestimmung der Schrift zur Förderung verfassungsfeindlicher Tendenzen (aa) muß sich nach der Begründung des RegE (S. 8 BT-Drucks. 7/3030) aus der Schrift selbst ergeben; es genügt nicht, daß sich die verfassungsfeindliche Zielsetzung nur aus dem sonstigen Verhalten des Autors oder desjenigen ergibt, der die Schrift anderen zugänglich macht (a. A. Blei JA 1975, StRS. 6; Stree aaO. 1178 f.). d) Die Tathandlungen des Abs. 1 (Verbreiten usw.) entsprechen im wesentlichen denen des § 131 (siehe dort Anm. 3 m. weit. Nachw.). e) Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz hinsichtlich aller Tb.-Merkmale genügt. Nicht erforderlich ist, daß der Täter den Inhalt der Schrift billigt oder gar deren Ziele verfolgt; es genügt, daß er den Inhalt in seiner gefährlichen Tendenz erkennt (vgl. Stree aaO. 1179 sowie Anm. 5 zu § 86). 3. Die in Abs. 2 erfaßten mündlichen Äußerungen stellen in Anlehnung an § 125 auf den „Anheizer" ab, der absichtlich („um zu") die Bereitschaft fördert, durch die Begehung tatbestandsrelevanter Gewalttaten verfassungsfeindliche Tendenzen zu verfolgen (Blei aaO. 5). a) Über „öffentlich oder in einer Versammlung" siehe § 80 a Anm. 2 a, b. b) Abweichend von Abs. 1 ist eine objektive Eignung der Äußerung zur Förderung der Bereitschaft von Gewalttaten und verfassungsfeindlichen Tendenzen nicht erforderlich. Dieser Verzicht ist durch die Erwägung gerechtfertigt, daß die öffentliche Propagierung von Gewalt bei einer aufgehetzten Menge generell mit der Gefahr akuter Spontanreaktionen verbunden ist. c) Absichtlich („um zu") handelt, wem es darauf ankommt, bei anderen die Bereitschaft zu Gewalttaten und verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu fördern. Bedingter Vorsatz reicht - anders als in Abs. 1 - nicht aus. Die Absicht des Täters kann sich aus dem Inhalt seiner Äußerung, aber auch aus den äußeren Umständen, z. B. aus der Stimmung der Zuhörerschaft, ergeben (vgl. Blei aaO. 5). 4. Die in dem Hinweis auf § 86 Abs. 3 enthaltene Sozialadäquanzklausel des Abs. 3 gilt entgegen dem RegE auch für die mündliche Gewaltpropagierung des Abs. 2, dürfte dort jedoch keine praktische Bedeutung erlangen, da bei Vorliegen einer zielgerichteten Propagierung verfassungsfeindlicher Gewaltverbrechen nicht mehr von sozialadäquatem Verhalten gesprochen werden kann (vgl. Stree aaO. 1179). 5. Tateinheit ist möglich mit §§ 111, 125, 129, 130, 130 a, 131 und 140. - Wegen Nebenfolgen siehe § 92 a. 403
§ 89
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaats
6. Prozessual beachte §§ 94, 98 StPO (Beschlagnahme zur Beweissicherung), §§ 111b, 111c StPO (Beschlagnahme zur Sicherung der nach § 74 d StGB zulässigen Einziehung) sowie § 440 StPO (Einziehung im Sicherungsverfahren). Wegen der Zuständigkeit siehe §§ 74 a Abs. 1 Nr. 2,120 Abs. 2 GVG.
§ 89
Verfassungsfeindliche Einwirkung auf Bundeswehr und öffentliche Sicherheitsorgane
(1) Wer auf Angehörige der Bundeswehr oder eines öffentlichen Sicherheitsorgans planmäßig einwirkt, um deren pflichtmäßige Bereitschaft zum Schutze der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder der verfassungsmäßigen Ordnung zu untergraben, und sich dadurch absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) D e r Versuch ist strafbar. (3) § 8 6 Abs. 4 gilt entsprechend. 1. Geschützt sind Bestand und Sicherheit der BRD sowie die in § 92 Abs. 2 definierten Verfassungsgrundsätze. In Berlin gilt § 89 nicht, soweit es sich um Einwirkung auf Angehörige der Bundeswehr handelt (vgl. Art. 324 EGStGB). Das in Art. 21 GG garantierte Parteienprivileg rechtfertigt nicht die Tätigkeit einzelner Anhänger einer Partei im Rahmen einer von dieser unabhängigen Tam- oder Nebenorganisation, auch wenn sich deren Ziele mit denen der Partei decken (BGH 27, 59). Art. 21 GG schützt nur die Organisation einer Partei, nicht auch deren Ziele. Auch das in § 15 SoldG verankerte Verbot politischer Betätigung von Soldaten in der Truppe wird durch Art. 21 GG nicht berührt; das Parteienprivileg endet vielmehr an den Toren der Kaserne (BGH 27, 59, 64). Bei Auslandstaten beachte § 5 Nr. 3 a. 2. Die Tathandlung besteht in der Einwirkung auf Angehörige der Bundeswehr oder eines öffentlichen Sicherheitsorgans. a) Zu den öffentlichen Sicherheitsorganen gehören vor allem Polizei und Grenzschutz, aber auch Verfassungsschutz und Nachrichtendienste, nicht jedoch Justizorgane (die Entscheidungen BGH 4, 291 und 6, 64 sind insoweit durch die einschränkende Neufassung des Gesetzes gegenstandslos geworden). b) Einwirken ist jede Tätigkeit, die darauf abzielt, den beschriebenen Personenkreis derart zu beeinflussen, daß das Pflichtgefühl des Beamten, Soldaten usw. im allgemeinen erschüttert wird. Das Erstreben eines pflichtwidrigen Handelns im Einzelfall genügt nur dann, wenn der Täter zugleich das Pflichtgefühl des Beamten oder Soldaten schlechthin erschüttern will (vgl. BGH 6, 64). Die Form der Einwirkung ist unerheblich. In Betracht kommen vor allem Drohung und Bestechung. Nicht erforderlich ist, daß die Einwirkung erfolgreich war; es genügt, daß sie dem Soldaten oder Beamten zur Kenntnis gelangte (BGH 4,291 f.; 18,151,156). 404
Dritter Titel: Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates
§ 90
3. Der subj. Tb. erfordert zunächst Vorsatz. Außerdem muß der Täter a) planmäßig handeln. Nicht ausreichend sind daher spontane Aktionen. Die Einwirkung muß vielmehr Bestandteil eines vom Täter oder Dritten aufgestellten Programms sein; b) die Absicht verfolgen, die pflichtgemäße Bereitschaft des Soldaten oder Beamten zum Schutz von Sicherheit und Ordnung zu untergraben, d. h. sein Pflichtgefühl im allgemeinen, schlechthin zu erschüttern (s. o. 2 b sowie BGH 4, 291; 6, 64). Absicht bedeutet den bestimmten Vorsatz in dem Sinn, daß es dem Täter auf die allgemeine Erschütterung des Pflichtgefühls ankommt (BGH 18,151); c) sich absichtlich für Bestrebungen gegen Bestand oder Sicherheit der BRD oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzen. Siehe hierzu § 87 Anm. 6 sowie BGH JR 1977, 28 m. Anm. Schroeder: Die Forderung nach Übernahme der Befehlsgewalt über die Bundeswehr durch die „werktätige Bevölkerung" richtet sich gegen den Verfassungsgrundsatz der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der Volksvertretung. 4. Der in Abs. 3 enthaltene Hinweis auf § 86 Abs. 4 gibt die Möglichkeit, bei geringer Schuld von Strafe abzusehen. 5. Wegen Nebenfolgen siehe §§ 92 a, b. 6. IdK. ist möglich mit §§ 83, 86, 86 a, 90-90 b, 109 d, 332. Gegenüber § 81 ist § 89 subsidiär. 7. Prozessual beachte §§ 74a Abs. 1 Nr. 2, 120 Abs. 2 GVG (Zuständigkeit) und §§ 153 b-e StPO (Opportunitätsprinzip).
§ 90
Verunglimpfung des Bundespräsidenten
(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 1 1 Abs. 3) den Bundespräsidenten verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen kann das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 4 9 Abs. 2), wenn nicht die Voraussetzungen des § 187 a erfüllt sind. (3) Die Strafe ist Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, wenn die Tat eine Verleumdung (§ 187) ist oder wenn der Täter sich durch die Tat absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt. (4) Die Tat wird nur mit Ermächtigung des Bundespräsidenten verfolgt. 1. Geschützt sind Amt und Person des Bundespräsidenten während seiner Amtsperiode (BGH 16, 338, 341). Unerheblich ist, ob der Bundespräsident in seiner amtlichen Eigenschaft oder privat angegriffen wird (BGH 11,13). Bei Auslandstaten beachte § 5 Nr. 3 b. 405
§ 90a
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaats
2. Verunglimpfen ist eine nach Form, Inhalt, Begleitumständen oder Beweggrund erheblichere Ehrenkränkung; geringere, unwesentliche Entgleisungen bleiben außer Betracht (BGH 12, 364; 16, 339). Unerheblich ist, ob die Verunglimpfung in der Form eines Werturteils, einer Tatsachenbehauptung oder auf andere Weise erfolgt, z. B. durch eine besonders verletzende Karikatur. Beispiele aus der Entscheidung BGH 16, 338: Tatbestandsmäßig ist die Äußerung, der Bundespräsident sei gewählt worden wie der Vorsitzende eines Kaninchenzüchtervereins und habe das Amt nur deshalb erhalten, weil er ungefährlich, da schwach, sei. Der BGH weist zu Recht darauf hin, daß im politischen Leben harte Kritik zwar zulässig sein muß. Sie muß jedoch in sachlicher Form geschehen. Es darf sich nicht wiederholen, daß die vom Gesetz besonders geschützten Repräsentanten, Symbole und Einrichtungen des Staates vor Gericht keinen oder nur unzulänglichen Schutz finden, wie dies bei einzelnen Entscheidungen des früheren Reichsgerichts zu beklagen war (vgl. BGH aaO.). 3. Die Tat muß unter bestimmten erschwerenden Umstanden, nämlich öffentlich, in einer Versammlung usw. begangen worden sein. Siehe hierzu § 80 a Anm. 2. Verunglimpfende Äußerungen im privaten Kreis reichen nicht aus. 4. Abs. 3 bringt eine Strafschärfung, wenn die Tat eine Verleumdung (§§ 187, 187 a II) darstellt oder der Täter sich für verfassungsfeindliche Bestrebungen einsetzt (siehe hierzu § 92 Abs. 3 Nr. 1, 3 sowie § 87 Anm. 6). 5. IdK. ist vor allem möglich mit §§ 90 a, 90 b; die allgemeinen Beleidigungstatbestände der §§ 185 ff. sind dagegen subsidiär (BGH 16, 338, 341). 6. Die Ermächtigung des Bundespräsidenten zur Strafverfolgung ist eine Prozeßvoraussetzung (siehe hierzu § 77 e Anm. 1). Beachte weiter §§ 74 a Abs. 1 Nr. 2, 120 Abs. 2 GVG (Zuständigkeit) und §§ 153 b-d StPO (Opportunitätsprinzip). 7. Wegen Nebenfolgen und Einziehung siehe §§ 92 a, b sowie § 200.
§ 90 a
Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole
(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) 1. die Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ihre verfassungsmäßige Ordnung beschimpft oder böswillig verächtlich macht oder 2. die Farben, die Flagge, das Wappen oder die Hymne der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verunglimpt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer eine öffentlich gezeigte Flagge der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ein von einer Behörde öffentlich angebrachtes Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer 406
Dritter Titel: Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates
§ 90a
Länder entfernt, zerstört, beschädigt, unbrauchbar oder unkenntlich macht oder beschimpfenden Unfug daran verübt. Der Versuch ist strafbar. (3) Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe, wenn der Täter sich durch die Tat absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt. 1. Geschützt sind die BRD und ihre Länder sowie die verfassungsmäßige Ordnung in Bund und Ländern (Nr. 1), außerdem die Symbole von Bund und Ländern (Nr. 2). Nach BGH 11, 11 erstreckt sich der Schutz auch auf West-Berlin. Bei Auslandstaten beachte § 5 Nr. 3. 2. Täter kann jeder sein, auch Funktionäre, Mitglieder und Anhänger einer politischen Partei. Das Parteienprivileg des Art. 21 GG bewirkt in diesem Zusammenhang keinen Rechtfertigungsgrund (BGH 19, 311; siehe auch BGH 27, 59 zu § 89). Auch die Wahlwerbung einer Partei darf nur mit allgemein erlaubten Mitteln stattfinden (VGH Mannheim NJW 1976, 2171). 3. Die Tathandlungen des Abs. 1: a) Als Beschimpfung gilt jede durch Form oder Inhalt besonders verletzende Äußerung der Mißachtung (BGH 7, 110). Wann die Äußerung besonders verletzend ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, vor allem nach dem Zusammenhang, in dem die Äußerung gefallen ist. Äußerungen, die aus Unmut, Gedankenlosigkeit oder Oberflächlichkeit gemacht worden sind, können daher nicht ohne weiteres als „beschimpfend" gewertet werden (BGH aaO.). b) Der Begriff des Verächtlichmachens geht weiter als der Begriff des Beschimpfens. Hierher gehört bereits jede wertende Äußerung, durch die die BRD, eines ihrer Länder oder die verfassungsmäßige Ordnung „als der Achtung der Staatsbürger unwert oder unwürdig hingestellt wird" (BGH 3, 346; 7, 111). Böswillig handelt der Täter, wenn er trotz Kenntnis des Unrechts aus bewußt feindlicher Gesinnung handelt (Hbg NJW 1975, 1088; Dreher 5 m. weit. Nachw.). Beispiele aus der Rechtsprechung: Vergleich der BRD mit einer „frischgestrichenen Coca-Cola-Bude" (BGH 3, 346); oder: Bezeichnung der BRD als „Unrechtsstaat" (BGH 7, 111); oder: Bezeichnung der BT-Wahl als Betrugsmanöver (VGH Mannheim NJW 1976, 2177). Zum Ganzen siehe auch Köln GA 1972,214. c) Über Verunglimpfen siehe § 90 Anm. 2. 4. Die Tatbegehung muß - wie in § 90 - unter bestimmten qualifizierenden Umständen, nämlich öffentlich, in einer Versammlung usw. erfolgen. Siehe hierzu § 80 a Anm. 2. 5. Abs. 2 schützt Flaggen und Hoheitszeichen vor Tätlichkeiten. a) Flaggen sind nur dann geschützt, wenn sie öffentlich gezeigt werden; dies kann auch durch einen Privatmann erfolgen (AG Peine NJW 1951, 518). b) Hoheitszeichen sind nur dann geschützt, wenn sie von einer Behörde öffentlich angebracht sind. Hierher gehören z. B. die Bundes- oder Landeswappen an Grenzpfählen,
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§ 90b
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaats
Ministerien und sonstigen Dienstgebäuden, ferner die Kokarden an Dienstmützen (Braunschweig NJW 1953, 875; h.L., vgl. Stree in Schönke-Schröder 15). 6. Als Tathandlung nach Abs. 2 kommen in Betracht: Entfernen (d. h. jede räumliche Trennung, ohne Rücksicht auf eine vorhandene oder fehlende Zueignungsabsicht), Zerstören, Beschädigen, Unbrauchbarmachen und Unkenntlichmachen, außerdem das Verüben beschimpfenden Unfugs. Dem Sinn der Vorschrift entsprechend ist eine weite Auslegung geboten. Beispiele: Anspeien einer Flagge oder eines Hoheitszeichens, Umsägen eines beflaggten Fahnenmastes (BGH bei Wagner GA 1961, 18), verächtliches Antippen an die Dienstkokarde (Braunschweig NJW 1953, 875; zw.), Bemalen der Flagge mit nazistischen oder kommunistischen Emblemen, Anhäufung von Unrat vor einem Fahnenmast, aber auch das Absingen obszöner, nazistischer oder kommunistischer Lieder kann hierher gerechnet werden. 7. IdK. ist möglich mit §§ 90, 90 b, 304. § 303 tritt als subsidiär zurück. 8. Beachte §§ 74 a Abs. 1 Nr. 2, 120 Abs. 2 GVG (Zuständigkeit bei verfassungsgefährdender Absicht des Täters) und §§ 153 c-e StPO (Opportunitätsprinzip). Wegen Nebenfolgen siehe § 92 a, wegen Einziehung § 92 b.
§ 90 b
Verfassungsfeindliche Verunglimpfung von Verfassungsorganen
(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 1 1 Abs. 3) ein Gesetzgebungsorgan, die Regierung oder das Verfassungsgericht des Bundes oder eines Landes oder eines ihrer Mitglieder in dieser Eigenschaft in einer das Ansehen des Staates gefährdenden Weise verunglimpft und sich dadurch absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) D i e Tat wird nur mit Ermächtigung des betroffenen Verfassungsorgans oder Mitglieds verfolgt. 1. Geschützt sind a) die Gesetzgebungsorgane von Bund und Ländern (z. B. Bundestag, Bundesrat, die Landtage der Länder, der Bayerische Senat sowie die Bürgerschaften von Hamburg und Bremen), b) die Regierungen von Bund und Ländern, c) die Verfassungsgerichte von Bund und Ländern, insbesondere das Bundesverfassungsgericht. d) die Mitglieder der genannten Organe, allerdings nicht in ihrer Eigenschaft als Privatpersonen oder Politiker, sondern nur als Angehörige der Organe, in denen sie tätig sind. 2. Die Tathandlung besteht im Verunglimpfen. Siehe hierzu § 90 Anm. 2. 408
Dritter Titel: Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates
§ 91
3. Die Tat muß unter bestimmten qualifizierenden Umständen (öffentlich, in einer Versammlung usw.) begangen worden sein. Siehe hierzu § 80 a Anm. 2. 4. Die Verunglimpfung muß in einer das Ansehen des Staates gefährdenden Weise erfolgen. Der Tb. wird dadurch zu einem konkreten Gefährdungsdelikt. 5. Subjektiv ist neben dem Vorsatz erforderlich, daß sich der Täter für verfassungswidrige Bestrebungen einsetzt. Siehe hierzu § 92 Abs. 3 sowie § 87 Anm. 6. 6. Die Ermächtigung des durch die Tat betroffenen Verfassungsorgans oder Mitglieds ist eine Prozeßvoraussetzung. Siehe hierzu § 77 e Anm. 1. 7. IdK. ist möglich vor allem mit §§ 90, 90 a, ebenso mit §§ 185-187 (BGH 6, 159; 8, 193). 8. Prozessual beachte §§ 74a Abs. 1 Nr. 2, 120 Abs. 2 GVG (Zuständigkeit) und §§ 153 c-e StPO (Opportunitätsprinzip). Siehe auch § 92 a (Nebenfolgen), § 92 b (Einziehung) sowie § 5 Nr. 3 a (Auslandstaten).
§ 91
Anwendungsbereich
Die §§ 84, 85 und 87 gelten nur für Taten, die durch eine im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes ausgeübte Tätigkeit begangen werden. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift bringt eine Einschränkung der allgemeinen Vorschriften der § 3 ff. Sie beseitigt die „unverantwortliche Hybris" des früheren Rechts, jemanden nur deshalb mit Strafe zu bedrohen, weil er in seiner Heimat in Ubereinstimmung mit der Regierung seines Landes sich politisch gegen die BRD betätigt hat (vgl. Müller-Emmert NJW 1968, 2134 f.). Seit der Neufassung durch das EGStGB erstreckt sich der Anwendungsbereich der Vorschrift nur noch auf die §§ 84, 85 und 87. Für die Tatbestände der §§ 86, 86 a und 88 konnte aufgrund der Neufassung der allgemeinen Vorschriften über den Geltungsbereich des StGB auf eine Sonderregelung verzichtet werden: Soweit in den §§ 4 ff. nichts anders bestimmt ist, gilt das deutsche Strafrecht nur für Taten, die im Inland begangen werden. Aus den Grundsätzen des interlokalen Strafrechts ergibt sich die weitere Einschränkung, daß die Strafvorschriften des StGB, soweit außerhalb seines Geltungsbereichs entsprechende Strafbestimmungen fehlen, nur für solche Taten gelten, die im Geltungsbereich des StGB begangen werden. Hieraus folgt z. B. für § 86: wer in der DDR Propagandaschriften der vom BVerfG für verfassungswidrig erklärten KPD herstellt, kann hierfür in der BRD strafrechtlich erst dann verantwortlich gemacht werden, wenn er diese Schriften in die BRD einführt. Da eine dem früheren § 3 Abs. 1 (Personalitätsprinzip) entsprechende Vorschrift im neuen Strafrecht fehlt, gilt dies auch dann, wenn der Hersteller der Propagandaschriften die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Die früher in § 97 Nr. 3 enthaltene Sonderregelung für die §§ 90 a Abs. 1 und 90 b findet sich jetzt in § 5 Nr. 3 a.
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§ 92
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaats
2. Der räumliche Geltungsbereich des StGB umfaßt die in der Präsambel des GG aufgeführten Länder sowie das Saarland (vgl. Ges. v. 30. 6. 1959, BGBl. I 313), Berlin jedoch nur mit Einschränkungen (vgl. Art. 324 Abs. 1 EGStGB). 3. Unter Tätigkeit i. S. der Nr. 1 ist nicht die Tatbestandsverwirklichung als Ganze zu verstehen, sondern nur die vom Täter selbst ausgeführte Handlung. Unerheblich ist daher vor allem, wo der Erfolg eintritt. Nicht hierher gehört z. B. der Fall, daß jemand vom Ausland aus eine verbotene Partei durch Geldspenden unterstützt. Auch Teilnehmer sind nur dann strafbar, wenn sie ihre Tätigkeit im Geltungsbereich des StGB entfalten. Unerheblich ist dabei, ob auch der Haupttäter innerhalb des Geltungsbereichs tätig wurde (vgl. Stree in Schönke-Schröder 6; Str.).
Vierter Titel: Gemeinsame Vorschriften § 92
Begriffsbestimmungen
(1) Im Sinne dieses Gesetzes beeinträchtigt den Bestand der Bundesrepublik Deutschland, wer ihre Freiheit von fremder Botmäßigkeit aufhebt, ihre staatliche Einheit beseitigt oder ein zu ihr gehörendes Gebiet abtrennt. (2) Im Sinne dieses Gesetzes sind Verfassungsgrundsätze 1. das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, 2. die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, 3. das Recht auf die Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, 4. die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, 5. die Unabhängigkeit der Gerichte und 6. der Ausschluß jeder Gewalt- und Willkürherrschaft. (3) Im Sinne dieses Gesetzes sind 1. Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland solche Bestrebungen, deren Träger darauf hinarbeiten, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen (Absatz 1), 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland solche Bestrebungen, deren Träger darauf hinarbeiten, die äußere oder innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen, 3. Bestrebungen gegen Verfassungsgrundsätze solche Bestrebungen, deren Träger darauf hinarbeiten, einen Verfassungsgrundsatz (Absatz 2) zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben. 410
Vierter Titel: Gemeinsame Vorschriften
§ 92a
1. Die Vorschrift ist von Bedeutung für die §§ 81, 83 (Hochverrat) und §§ 87-90 b (Agententätigkeit zu Sabotagezwecken, verfassungsfeindliche Sabotage, verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten, verfassungsfeindliche Einwirkung auf Bundeswehr und öffentliche Sicherheitsorgane, Verunglimpfung des Bundespräsidenten, des Staates und seiner Symbole, Verunglimpfung von Verfassungsorganen). 2. Die Beeinträchtigung des Bestandes der Bundesrepublik (Abs. 1) kann in drei verschiedenen Formen den Tb. verwirklichen, nämlich a) durch Aufheben der Freiheit von fremder Botmäßigkeit, z. B. dadurch, daß die Bundesrepublik in ein Protektorat oder einen Satellitenstaat verwandelt wird oder auf andere Weise ihre völkerrechtliche oder faktische Unabhängigkeit oder Handlungsfreiheit verliert. Nicht hierher gehört der in Art. 24 GG vorgesehene Anschluß an ein kollektives Sicherheitssystem; b) durch Beseitigung der staatlichen Einheit, z. B. durch Verwandlung des derzeitigen Bundesstaats in einen Staatenbund oder durch Herauslösen einzelner Bundesländer aus dem derzeitigen Staatsverband; c) durch Gebietsabtrennung. Zum Gebiet der Bundesrepublik gehören alle in der Präambel des GG aufgeführten Länder und das Saarland, nach h. A. auch Berlin (vgl. Dreher 4; Lackner 1 a, cc). 3. Abs. 2 definiert den Begriff der Veifassungsgrundsätze. Geschützt sind alle wesentlichen Institutionen und Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung. Hierbei ist zu beachten, daß der Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung weiter geht, indem er z. B. auch alle Grundrechte umfaßt. Siehe hierzu vor allem die Ausführungen zu § 81 Abs. 1 Nr. 2 (sog. Verfassungshochverrat). 4. Zu den in Abs. 2 aufgeführten Verfassungsgrundsätzen, die den Kern unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bilden, siehe folgende Artikel des Grundgesetzes: a) Zu Nr. 1: Art. 20 II, 28 I, 38 I, 79 III; b) Zu Nr. 2: Art. 20 III, 79 III; c) Zu Nr. 3: Art. 21; d) Zu Nr. 4: Art. 67; e) Zu Nr. 5: Art. 97; f) Zu Nr. 6: Art. 20111,79111. 5. Die in Abs. 3 definierten staatsgefährdenden Bestrebungen finden sich als Tb.-Merkmale in den §§ 87-90 b.
§ 92 a
Nebenfolgen
Neben einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten wegen einer Straftat nach diesem Abschnitt kann das Gericht die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu 411
§ 92b
Erster Abschnitt: Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des Rechtsstaats
bekleiden, die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, und das Recht, in öffentlichen Angelegenheiten zu wählen oder zu stimmen, aberkennen (§ 4 5 Abs. 2 , 5 ) . Bei Gesamtstrafen kommt es darauf an, daß mindestens eine Einzelstrafe wegen eines Delikts nach diesem Abschnitt die Höhe von 6 Monaten erreicht. Wegen Verlust der Amtsfähigkeit usw. siehe §§ 4 5 ^ 5 b nebst Anm.
§ 92 b
Einziehung
Ist eine Straftat nach diesem Abschnitt begangen worden, so können 1. Gegenstände, die durch die Tat hervorgebracht oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind, und 2. Gegenstände, auf die sich eine Straftat nach den §§ 8 0 a, 86, 8 6 a, 9 0 bis 9 0 b bezieht, eingezogen werden. § 7 4 a ist anzuwenden. 1. Die Vorschrift enthält keine abschließende Sonderregelung für die Einziehung von Gegenständen bei Straftaten nach den §§ 80 ff., sondern bringt lediglich eine Ergänzung der allgemeinen Einziehungsbestimmungen (vgl. BGH 23, 208). Für eine Ermessensentscheidung nach § 92 b Abs. 1 ist deshalb kein Raum, wenn die Voraussetzungen des § 74 d vorliegen. Das Gericht ist jedoch in jedem Fall aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 5 Abs. 1 GG) zur Abwägung verpflichtet, ob der Einziehung ein berechtigtes Informationsbedürfnis des Bürgers entgegensteht (BGH aaO. m. krit. Anm. Willms JZ 1970,514). 2. Nr. 1 enthält gegenüber dem allgemeinen Grundsatz des § 74 Abs. 1 nichts Neues. Der Einziehung unterliegen die Tatmittel und Taterzeugnisse (sog. producta et instrumenta sceleris). 3. Nr. 2 erweitert die Möglichkeit der Einziehung in den Fällen der §§ 80 a (Aufstacheln zum Angriffskrieg), 86, 86 a (Propagandamittel und Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) und 90-90 b (Verunglimpfung des Bundespräsidenten usw.) auf die sog. Beziehungsgegenstände. So könnte man z. B. die Fahne einer verbotenen rechts- oder linksradikalen Vereinigung, die im Rahmen einer öffentlichen Versammlung dieser Vereinigung als „Saalschmuck" dient, zwar nicht ohne weiteres als „instrumentum sceleris" ansehen. Sie ist jedoch ein Gegenstand, auf den sich die Tat des § 86 a bezieht, und unterliegt damit der Einziehung gemäß § 92 b Nr. 2. Infolge der Verweisungsvorschrift des § 74 Abs. 4 sind bei der Anordnung der Einziehung die einschränkenden Bestimmungen des § 74 Abs. 2 zu beachten. Die Einziehung darf also - sofern kein Fall des § 74 a vorliegt - nur ausgesprochen werden, wenn der Beziehungsgegenstand dem Täter oder Teilnehmer gehört oder wenn die Einziehung zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich ist. Die allgemeine Vorschrift des § 74 d ist in diesem Zusammenhang nur dann von Bedeutung, wenn eine bestimmte Schrift usw. bei der konkreten Tat weder die Rolle des Tatmittels oder Taterzeugnisses noch die des Beziehungsgegenstandes gespielt hat, § 92 b 412
Vierter Titel: Gemeinsame Vorschriften
§ 92 b
also nicht einschlägig ist (h. L., vgl. Dreher 3). So können z. B. gemäß § 74 d auch solche verunglimpfenden Schriften eingezogen werden, die zwar noch nicht verbreitet wurden, wohl aber bereits zur Verbreitung bestimmt waren. § 92 b wird also durch § 74 d ergänzt (siehe auch oben Anm. 1). Eine weitere Ergänzung ergibt sich aus der nach § 92 b Satz 2 möglichen Anwendbarkeit des § 74 a. 4. Die früher in Abs. 2 vorgesehene Möglichkeit, dem Täter den aus der Tat gezogenen Gewinn zu entziehen, ist jetzt durch die allgemeine Regelung der Verfallsanordnung (§§ 73-73 d) gegenstandslosgeworden.
413
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
§ 93
Begriff des Staatsgeheimnisses
(1) Staatsgeheimnisse sind Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und vor einer fremden Macht geheimgehalten werden müssen, um die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden. (2) Tatsachen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder unter Geheimhaltung gegenüber den Vertragspartnern der Bundesrepublik Deutschland gegen zwischenstaatlich vereinbarte Rüstungsbeschränkungen verstoßen, sind keine Staatsgeheimnisse. 1. In Abs. 1 wird der Grundbegriff des Staatsgeheimnisses definiert, Abs. 2 befaßt sich mit den sog. illegalen Staatsgeheimnissen. Aus dem Schrifttum siehe Laufhütte, Staatsgeheimnis und Regierungsgeheimnis, GA 1974,52. 2. Der Begriff des Staatsgeheimnisses (Abs. 1) wurde durch das 8. StrRÄndG vom 25. 6. 1968 neu gefaßt und hierbei gegenüber der früheren Rechtslage erheblich eingeschränkt (vgl. BGH 24, 72 ff. sowie Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Drucks. V/2860, S. 15 ff.). Eine wesentliche Änderung gegenüber § 99 a. F. bedeutet zunächst die Beschränkung des Geheimhaltungsbereichs auf Angelegenheiten der äußeren Sicherheit. Hierher gehören jedoch nicht nur rein militärtechnische Belange der Landesverteidigung, sondern auch die der äußeren Sicherheit dienende nachrichtendienstliche Abwehr einschließlich ihrer aktiven Tätigkeit (vgl. BGH aaO.). Grundsätzlich ausgeschieden aus dem Geheimnisbegriff sind andererseits die sog. diplomatischen Geheimnisse. Diese werden nur noch dann durch die § § 9 3 ff. geschützt, wenn sie gerade im Interesse der äußeren Sicherheit geheimgehalten werden müssen (vgl. BGH aaO.). Eine weitere Einengung des Geheimnisbegriffs gegenüber § 99 a. F. ergibt sich aus den verschärften Anforderungen an das Geheimhaltungsgebot. Die §§ 93 ff. kommen nur noch dann zur Anwendung, wenn durch den Verrat die Gefahr eines schweren Nachteils droht (s. unter 2 c, dd). Im einzelnen ist folgendes zu beachten: a) Zu den geschützten Tatsachen, Gegenständen und Erkenntnissen gehören z. B. Waffensysteme aller Art, Zeichnungen, Skizzen und Modelle von militärischen Anlagen, Funkschlüssel usw., aber auch die Bereitschaft einer bestimmten Person zum Landesverrat oder ihre Stellung innerhalb eines Abwehrdienstes. (Siehe hierzu vor allem BGH 20, 342 ff., 374; 24, 72 ff.) Weitere Beispiele s. u. 2 c, cc. b) Die Tatsachen usw. müssen geheim, d. h. nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sein. Wann man noch von einem begrenzten Personenkreis sprechen kann, ist Tatfrage. Der Kreis muß jedenfalls so klein sein, daß er noch übersehbar ist und man andererseits ein allgemeines Bekanntwerden nicht befürchten muß. Ist die Tatsache usw. allgemein zugänglich, z. B. eine für den Verkehr freigegebene Straße oder Brücke, so kann von einem Geheimnis grundsätzlich nicht gesprochen werden. Dasselbe gilt für 414
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
§ 93
offenkundige Tatsachen, die gar nicht geheimhaltungsfähig sind, z. B. ein Bunkerbau mitten in der Stadt (vgl. BGH NJW 1965, 1190). Aus dem gleichen Grund kann auch die bloße Zusammenstellung offenkundiger Einzeltatsachen (z. B. die Einzelheiten eines bestimmten Küsten- oder Straßenabschnitts) nicht als Geheimnis angesehen werden. Die sog. Mosaiktheorie ist durch die Neufassung des Gesetzes insoweit gegenstandslos geworden. Dagegen kann die Bedeutung einer allgemein zugänglichen Tatsache usw. nach wie vor ein Geheimnis sein, wenn sie nur einem bestimmten Personenkreis bekannt ist, z. B. die Bedeutung einer Brücke im Rahmen eines bestimmten strategischen Plans. Dasselbe gilt für neue Erkenntnisse, die aus bekannten Tatsachen gewonnen werden. Aus der Rspr. des BGH zur früheren Rechtslage siehe besonders BGH 7, 234 f. betr. Verlauf einer Straße und BGH 15,17 betr. Rüstungspotential der Bundesrepublik. c) Die Tatsache usw. muß geheimhaltungsbedürftig sein, d. h. ihre Geheimhaltung vor einer fremden Macht muß erforderlich sein, um die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik abzuwenden. aa) Bei der fremden Macht kann es sich auch um eine befreundete oder gar verbündete Macht handeln. Geheimnisse innenpolitischer Natur werden dagegen nur durch die §§ 353 b, 353 c geschützt, die ergänzend zu beachten sind. bb) Die Gefahr eines schweren Nachteils muß dadurch drohen, daß die fremde Macht das Geheimnis nun auch kennt und es gegen die Interessen der Bundesrepublik benützen oder irgendwie auswerten kann. cc) Der äußeren Sicherheit der Bundesrepublik entsteht ein Nachteil, wenn ihre Fähigkeit, sich gegen Angriffe und Störungen von außen zu verteidigen, beeinträchtigt wird. Dies kann nicht nur durch den Verrat von politisch wichtigen Tatsachen erfolgen, sondern auch durch Verrat von wichtigen Tatsachen aus dem Bereich von Wirtschaft und Technik, soweit sich Auswirkungen auf die äußere Sicherheit ergeben können. Hierher gehören vor allem Berichte über militärische Erfindungen (und zwar selbst dann, wenn sie den interessierten Behörden noch gar nicht bekannt sind), über den Stand der Luftfahrtindustrie und -technik, der Raketen- und Strahltriebtechnik, der Fernmeldetechnik und des Schiffbaues. Auch der Verrat eines deutschen Agentennetzes kann die äußere Sicherheit gefährden (vgl. Woesner NJW 1968, 2129, 2133). dd) Ob der drohende Nachteil schwer wiegt, ist im einzelnen nicht leicht zu entscheiden. In Betracht kommen nur Nachteile von „wirklich gewichtiger Bedeutung" für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik (BGH 24, 72, 78; Krauth JZ 1968, 610; Dreher 8), z. B. durch fortgesetzte Lieferung von geheimen Lageberichten des BND, deren Auswertung es einem fremden Nachrichtendienst ermöglicht, die geheimen Quellen des BND in bestimmten Zielgebieten einzukreisen und zu enttarnen (vgl. BGH aaO. im Fall Sütterlin). Als nicht ausreichend angesehen wurde andererseits die Ausspähung einer Referentenvorlage über den Plan einer Konferenz der deutschen Botschafter in Afrika, obwohl auch hierdurch nachrichtendienstliche Belange berührt wurden (BGH aaO. 78). 3. Abs. 2 befaßt sich mit den sog. illegalen Staatsgeheimnissen, mit denen sich unter der früheren Rechtslage vor allem die bereits oben erwähnte Entscheidung BGH 20, 342 ff. befaßt hat. Die Vorschrift stellt klar, daß bestimmte verfassungsfeindliche Vorgänge schon tatbestandsmäßig nicht zu den geschützten Staatsgeheimnissen gehören. Auszuscheiden sind: 415
§ 94
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
a) Tatsachen (Sachverhalte, Vorgänge usw.), die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verstoßen. Die Vorschrift nimmt damit Bezug auf die in Art. 18, 21 GG garantierten höchsten Grundwerte, die dem demokratischen Verfassungsstaat im Gegensatz zu dem als Gewalt- und Willkürherrschaft gekennzeichneten totalitären Staat eigen sind, z. B. die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit und Ablösbarkeit der Regierung, das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Gerichte und das Mehrparteienprinzip mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition (vgl. BGH 20, 342, 365 m. weit. Nachw.). b) Tatsachen, die gegen zwischenstaatlich vereinbarte Rüstungsbeschränkungen verstoßen. Hierher gehört vor allem der innerhalb der NATO-Vereinbarungen erfolgte Verzicht der Bundesrepublik auf Herstellung von ABC-Waffen sowie auf Herstellung weittragender Geschosse (Raketen), größerer Kriegsschiffe und bestimmter Flugzeuge. 4. Ungeachtet des Umstands, daß illegale Staatsgeheimnisse nach Abs. 2 keine Staatsgeheimnisse im Rechtssinn darstellen, kann ihr Verrat unter gewissen Voraussetzungen doch strafbar sein. Siehe hierzu § 97 a nebst Anmerkungen. 5. Nimmt der Täter nur irrig an, ein Staatsgeheimnis sei illegal, so ist § 97 b zu beachten.
§ 94
Landesverrat
(1) Wer ein Staatsgeheimnis 1. einer fremden Macht oder einem ihrer Mittelsmänner mitteilt oder 2. sonst an einen Unbefugten gelangen läßt oder öffentlich bekanntmacht, um die Bundesrepublik Deutschland zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen, und dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. eine verantwortliche Stellung mißbraucht, die ihn zur Wahrung von Staatsgeheimnissen besonders verpflichtet, oder 2. durch die Tat die Gefahr eines besonders schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt. 1. Die Vorschrift enthält ein konkretes Gefährdungsdelikt. Über den Begriff „schwerer Nachteil für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik " siehe § 93 Anm. 2 c. 2. Die Tathandlung des Abs. 1 Nr. 1 besteht darin, daß der Täter ein Staatsgeheimnis (siehe hierzu § 93) einer fremden Macht oder einem ihrer Mittelsleute mitteilt. Über „fremde Macht" siehe § 93 Anm. 2 c, aa. Mittelsmann ist jeder, der bereit ist, die ihm zugänglich gemachte Mitteilung an eine fremde Macht weiterzugeben. Hierher gehören 416
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
§ 95
insbesondere Angehörige fremder Nachrichtendienste und sonstige Agenten. Die Form der Mitteilung (mündlich, schriftlich, durch Boten oder Funk) ist unerheblich. Bei Verrat von illegalen Geheimnissen i. S. von § 93 Abs. 2 beachte § 97 a. 3. Die Tathandlung des Abs. 1 Nr. 2 erfaßt jede Mitteilung eines Staatsgeheimnisses an sonstige Unbefugte sowie die öffentliche Bekanntmachung. Unbefugter ist jeder, der kein Recht auf die Mitteilung hat. Ein Auskunftsrecht haben insbesondere die Untersuchungsausschüsse des Bundestags, nicht jedoch jeder einzelne Abgeordnete (vgl. Dreher 15 zu § 93; Stree in Schönke-Schröder 10; str.). Als öffentliche Bekanntmachung gilt insbesondere die Verbreitung durch Presse, Rundfunk und Fernsehen. Illegale Geheimnisse i. S. von § 93 Abs. 2 werden durch Abs. 1 Nr. 2 nicht erfaßt (vgl. 97 a, der sich nur auf § 94 Abs. 1 Nr. 1 bezieht). 4. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, in den Fällen der Ziff. 2 außerdem die Absicht, entweder die Bundesrepublik zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen, d. h. ihr irgendeinen Vorteil zukommen zu lassen. Als Absicht genügt der bestimmte Vorsatz. Der Täter muß also entweder den Nachteil bzw. Vorteil als sichere Folge seines Verhaltens voraussehen, oder es muß ihm auf die Erreichung des Nachteils bzw. Vorteils ankommen. Das Motiv ist unerheblich. Die tatbestandsmäßige Absicht wird insbesondere nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Täter sich von irgendeinem eigenen Vorteil leiten ließ. Fehlt die tatbestandsmäßige Absicht, so kommt nur Strafbarkeit gemäß § 95 in Betracht. 5. Der Versuch ist strafbar (Verbrechen), beginnt aber erst mit dem unmittelbaren Ansetzen zur Mitteilungshandlung (vgl. BGH 24, 72, 78; Dreher 6). Das Fotografieren der geheimen Unterlagen und das Bereitlegen des Materials zur Weiterleitung an den Mittelsmann eines fremden Geheimnisses stellt noch keinen versuchten Landesverrat dar, sondern erfüllt lediglich den Tb. des § 96 (vgl. BGH aaO. im Fall Sütterlin). 6. Bei Auslandstaten beachte § 5 Nr. 4. 7. IdK. ist möglich mit §§ 133, 242, 334, 353 b. Gegenüber §§ 95, 96, 98, 99 und 353 c geht § 94 vor. 8. Prozessual beachte §§ 120 I 3 GVG (Zuständigkeit des OLG), 153 c-e StPO (Opportunitätsprinzip).
§ 95
Offenbaren von Staatsgeheimnissen
(1) Wer ein Staatsgeheimnis, das von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung geheimgehalten wird, an einen Unbefugten gelangen läßt oder öffentlich bekanntmacht und dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, wenn die Tat nicht in § 9 4 mit Strafe bedroht ist. (2) Der Versuch ist strafbar. 14
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
417
§ 96
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
(3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. § 9 4 Abs. 2 Satz 2 ist anzuwenden. 1. Die durch das EGStGB redaktionell neu gefaßte Vorschrift bringt eine Ergänzung des in § 94 geregelten Landesverrats. Die Tathandlungen entsprechen denen des § 94 Abs. 1 Nr. 2, jedoch ohne die dort geforderte Absicht, die Bundesrepublik zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen. Erfaßt werden soll vor allem der sog. publizistische Verrat, dem nicht zugleich das Odium des Landesverrats anhaftet. Illegale Geheimnisse i. S. von § 93 Abs. 2 werden nicht erfaßt (vgl. § 97 a). 2. Der Begriff des Staatsgeheimnisses entspricht dem des § 93 Abs. 1, jedoch mit der Einschränkung, daß das Geheimnis von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung geheimgehalten wird. Zu den amtlichen Stellen zählen alle Stellen, die staatliche Aufgaben zu erfüllen haben, ohne Rücksicht darauf, ob sie zur Exekutive, zur Legislative oder in den Bereich der Rechtsprechung gehören. Zu erwähnen sind vor allem militärische Dienststellen sowie Institutionen des Verfassungsschutzes und des Bundesnachrichtendienstes. Aber auch die Untersuchungsausschüsse des Bundestags können hierher gerechnet werden. Eine Geheimhaltung i. S. der Vorschrift setzt voraus, daß irgendeine Vorsorge getroffen wurde, um ein allgemeines Bekanntwerden zu verhindern, z. B. durch Verschluß oder Absperrung, durch besonders erlassene Geheimhaltungsvorschriften oder durch Verpflichtung aller mit dem Geheimnis vertrauten Personen zur Geheimhaltung. Nicht hierher gehören Geheimnisse, die den zuständigen Stellen noch gar nicht bekannt waren, z. B. Erfindungen, von denen nur der Erfinder selbst und seine Mitarbeiter wissen. 3. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. Der Vorsatz muß sich auch auf die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik erstrecken. Eine darüber hinausgehende besondere Absicht wie in § 94 Abs. 1 Nr. 2 ist nicht erforderlich. 4. Gegenüber § 94 ist § 95 subsidiär. Die Ausführungen unter § 94 Anm. 6-8 gelten im übrigen entsprechend.
§ 96
Landesverräterische Ausspähung; Auskundschaften von Staatsgeheimnissen
(1) Wer sich ein Staatsgeheimnis verschafft, um es zu verraten (§ 94), wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. (2) Wer sich ein Staatsgeheimnis, das von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung geheimgehalten wird, verschafft, um es zu offenbaren (§ 95), wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. D e r Versuch ist strafbar. 1. Sowohl in Abs. 1 als auch in Abs. 2 werden Vorfoereitungshandlungen selbständig unter Strafe gestellt. § 96 tritt demzufolge als subsidiär zurück, wenn es zu einem vollendeten oder versuchten Verbrechen oder Vergehen gemäß §§ 94 f. kommt. Auch 418
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
§ 97
gegenüber einer nach § 30 strafbaren versuchten Beteiligung ist § 96 subsidiär (BGH 6, 385; Lackner § 94 Anm. 8; str.). 2. Die Tathandlung besteht in beiden Tatbeständen (Abs. 1 und Abs. 2) darin, daß sich der Täter ein Staatsgeheimnis verschafft. Über Staatsgeheimnis siehe § 93. Auf illegale Geheimnisse findet die Vorschrift entsprechende Anwendung, wenn der Täter sich ein Geheimnis verschafft, um es in landesverräterischer Absicht an eine fremde Macht oder einen ihrer Mittelsmänner zu verraten (vgl. § 97 a Satz 2). 3. Der subj. Tb. erfordert neben dem Vorsatz die Absicht, ein Verbrechen oder Vergehen gemäß §§ 94 f. zu begehen. Beide Merkmale müssen bereits zu dem Zeitpunkt vorliegen, zu dem der Täter sich das Staatsgeheimnis verschafft. Nicht hierher gehört der Fall, daß sich der Täter zunächst nur aus purer Neugierde ein Staatsgeheimnis verschafft und dann erst den Plan faßt, es zu verraten (§ 94) oder sonst Unbefugten mitzuteilen (§ 95). Nicht hierher gehört auch der Fall, daß der Täter durch Zufall, ohne sein Zutun, von einem Staatsgeheimnis Kenntnis erlangt. 4. Der Versuch ist sowohl bei Abs. 1 als auch bei Abs. 2 strafbar. Als Versuch genügt z. B. schon die Kontaktaufnahme mit einem Geheimnisträger (vgl. BGH 6, 385 sowie bei Wagner GA 1961,143 C Nr. 1). 5. Konkurrenzen: Gegenüber §§ 94, 95 ist § 96 subsidiär (s. o. 1). Die Ausführungen unter § 94 Anm. 6-8 gelten im übrigen entsprechend.
§ 97
Preisgabe von Staatsgeheimnissen
(1) Wer ein Staatsgeheimnis, das von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung geheimgehalten wird, an einen Unbefugten gelangen läßt oder öffentlich bekanntmacht und dadurch fahrlässig die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Wer ein Staatsgeheimnis, das von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung geheimgehalten wird und das ihm kraft seines Amtes, seiner Dienststellung oder eines von einer amtlichen Stelle erteilten Auftrages zugänglich war, leichtfertig an einen Unbefugten gelangen läßt und dadurch fahrlässig die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (3) D i e Tat wird nur mit Ermächtigung der Bundesregierung verfolgt. 1. Das objektive Tatbild des Abs. 1 entspricht dem des § 95. Auch subjektiv besteht mit § 95 insoweit Übereinstimmung, als die Preisgabe vorsätzlich erfolgen muß. Im Unterschied zu § 95 führt der Täter aber die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik nicht vorsätzlich, sondern nur fahrlässig herbei. Es handelt 14'
419
§§ 97 a, 97 b
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
sich somit um eine Vorsatz/Fahrlässigkeits-Kombination i. S. von § 11 Abs. 2 (wichtig für Teilnahme und Rückfall). 2. Abs. 2 enthält ein Sonderdelikt, das nach Art der Amtsdelikte nur von bestimmten Personen begangen werden kann. Hinsichtlich der Preisgabe an Unbefugte genügt Leichtfertigkeit, d. h. grobe Fahrlässigkeit (vgl. C 1 c vor § 1). Hinsichtlich der aus der leichtfertigen Preisgabe entstehenden Gefahr eines schweren Nachteils i. S. von § 93 Abs. 1 genügt Fahrlässigkeit. Bei vorsätzlicher Preisgabe ergibt sich die Strafbarkeit aus dem schwereren Tatbestand des § 97 Abs. 1, bei vorsätzlicher Herbeiführung der Gefahr sogar aus § 95. 3. Die fahrlässige Preisgabe ist weder nach Abs. 1 noch nach Abs. 2 strafbar. 4. Über die Bedeutung der Ermächtigung als Prozeßvoraussetzung siehe § 77 e Anm. 1. Die Ausführungen unter § 94 Anm. 6-8 gelten im übrigen entsprechend.
§ 97 a
Verrat illegaler Geheimnisse
Wer ein Geheimnis, das wegen eines der in § 93 Abs. 2 bezeichneten Verstöße kein Staatsgeheimnis ist, einer fremden Macht oder einem ihrer Mittelsmänner mitteilt und dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt, wird wie ein Landesverräter (§ 94) bestraft. § 96 Abs. 1 in Verbindung mit § 9 4 Abs. 1 Nr. 1 ist auf Geheimnisse der in Satz 1 bezeichneten Art entsprechend anzuwenden. 1. Auch wenn die illegalen Geheimnisse nach § 93 Abs. 2 keine Staatsgeheimnisse i. e. S. sind, so besteht doch ein Bedürfnis dahingehend, daß sie nicht zum Nachteil für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik einer fremden Macht in die Hände gespielt werden. Erfaßt werden soll in erster Linie der Agent, der für einen fremden Nachrichtendienst arbeitet, nicht dagegen der Journalist, der einen Mißstand öffentlich rügt. Ein neuer Fall Ossietzky kann sich nicht mehr ereignen (vgl. WoesnerNJW 1968, 2129, 2133). 2. Die Vorschrift kommt auch dann zur Anwendung, wenn der Täter den illegalen Charakter des Geheimnisses nicht erkannt hat. 3. Aus dem Schrifttum zum illegalen Staatsgeheimnis siehe besonders Breithaupt NJW 1968, 1712 und Hirsch NJW 1968, 2330.
§ 97 b
Verrat in irriger Annahme eines illegalen Geheimnisses
(1) Handelt der Täter in den Fällen der §§ 9 4 bis 97 in der irrigen Annahme, das Staatsgeheimnis sei ein Geheimnis der in § 97 a bezeichneten Art, so wird er, wenn 420
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
§ 97 b
1. dieser Irrtum ihm vorzuwerfen ist, 2. er nicht in der Absicht handelt, dem vermeintlichen Verstoß entgegenzuwirken, oder 3. die Tat nach den Umständen kein angemessenes Mittel zu diesem Zweck ist, nach den bezeichneten Vorschriften bestraft. D i e Tat ist in der Regel kein angemessenes Mittel, wenn der Täter nicht zuvor ein Mitglied des Bundestages um Abhilfe angerufen hat. (2) War dem Täter als Amtsträger oder als Soldat der Bundeswehr das Staatsgeheimnis dienstlich anvertraut oder zugänglich, so wird er auch dann bestraft, wenn nicht zuvor der Amtsträger einen Dienstvorgesetzten, der Soldat einen Disziplinarvorgesetzten um Abhilfe angerufen hat. Dies gilt für die für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten und für Personen, die im Sinne des § 3 5 3 c Abs. 2 verpflichtet worden sind, sinngemäß.
1. Die Vorschrift regelt einen Sonderfall des Tatbestandsirrtums. Sie geht davon aus, daß alle obj. und subj. Merkmale der §§ 94-97 verwirklicht sind, dem Täter jedoch nicht widerlegt werden kann, daß er das verratene, offenbarte, verschaffte oder preisgegebene Staatsgeheimnis für ein illegales Geheimnis i. S. von § 93 Abs. 2 gehalten hat. Nach allgemeinen Grundsätzen (vgl. § 16) würde ein solcher Irrtum den Vorsatz entfallen lassen und damit die Möglichkeit einer Bestrafung nach den §§ 94-97 ausschließen. In Betracht käme nur eine Bestrafung wegen fahrlässiger Begehungsweise, sofern der Irrtum im Einzelfall auf Fahrlässigkeit beruht und das Gesetz für diesen Fall eine besondere Strafdrohung schafft. Anstatt dessen wird in § 97 b eine Sonderregelung getroffen, die zwar politisch praktikabel sein mag, rechtssystematisch jedoch völlig aus dem Rahmen fällt und auch rechtsstaatlich nicht ganz unbedenklich ist (vgl. Dreher 2; Lackner 4; Stree in Schönke-Schröder 1). Die Möglichkeit, sich auf einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum zu berufen, wird jedenfalls durch § 97 b weitgehend eingeschränkt. 2. Aufgrund der Sonderregelung des § 97 b bleibt der Täter nur dann straflos, wenn a) der Irrtum für ihn unvermeidbar war, d. h. wenn er alle möglichen und zumutbaren Erkenntnisquellen ausgeschöpft hat, b) er unwiderlegbar in der Absicht gehandelt hat, den vermeintlich drohenden Verstoß gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder gegen zwischenstaatlich vereinbarte Rüstungsbeschränkungen entgegenzuwirken, c) die tatbestandsmäßige Handlung ein angemessenes Mittel zur Erreichung des erstrebten Zwecks darstellt. Straffreiheit tritt nur dann ein, wenn alle unter a) bis c) genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Vor allem an der letzten Anforderung dürften in der Praxis die meisten Versuche scheitern, sich auf einen schuldausschließenden Irrtum zu berufen. Mit Rücksicht auf die berechtigten Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik hat der Täter grundsätzlich das Mittel zu wählen, das am wenigsten gefährlich ist. Eine tatbestandsmäßige Handlung nach §§ 94-97 dürfte daher nur ganz ausnahmsweise das angemessene Mittel darstellen. Auf jeden Fall sollte sich der Täter vorher an ein Mitglied des BT gewandt haben (vgl. Abs. 1 Satz 2). 421
§ 98
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
3. Für Amtsträger und Soldaten, denen das Geheimnis dienstlich anvertraut oder zugänglich ist, stellt Abs. 2 die zusätzliche Pflicht auf, daß sie vor einer tatbestandsmäßigen Handlung nach §§ 94-97 zunächst an einen Dienst- bzw. Disziplinarvorgesetzten herantreten. Nur wenn auch dieser Schritt erfolglos geblieben ist und die übrigen, oben unter 2 a) bis c) dargelegten Voraussetzungen erfüllt sind, bleibt der Amtsträger bzw. Soldat straflos. 4. Im Ergebnis unproblematisch sind die Fälle, in denen auch der Verrat illegaler Geheimnisse nach § 97 a mit gleicher Strafe bedroht ist wie der Verrat eines echten Staatsgeheimnisses. Der (bedenklichen) Systematik des § 97 b entspricht es, den Täter nur dann nach § 97 a „wie" einen Landesverräter zu bestrafen, wenn die oben unter 2 a) bis c) dargelegten Voraussetzungen vorliegen. Nach der allgemeinen Regelung des § 16 dagegen müßte die Bestrafung bei jedem Irrtum über die Legalität nach den Grundsätzen des § 97 a erfolgen, womit dem Täter allerdings im Ergebnis nicht viel geholfen wäre.
§ 98
Landesverräterische Agententätigkeit
(1) Wer 1. für eine fremde Macht eine Tätigkeit ausübt, die auf die Erlangung oder Mitteilung von Staatsgeheimnissen gerichtet ist, oder 2. gegenüber einer fremden Macht oder einem ihrer Mittelsmänner sich zu einer solchen Tätigkeit bereit erklärt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in den §§ 94, 96 Abs. 1 mit Strafe bedroht ist. In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren; § 9 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 gUt entsprechend. (2) D a s Gericht kann die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 4 9 Abs. 2) oder von einer Bestrafung nach diesen Vorschriften absehen, wenn der Täter freiwillig sein Verhalten aufgibt und sein Wissen einer Dienststelle offenbart. Ist der Täter in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 von der fremden Macht oder einem ihrer Mittelsmänner zu seinem Verhalten gedrängt worden, so wird er nach dieser Vorschrift nicht bestraft, wenn er freiwillig sein Verhalten aufgibt und sein Wissen unverzüglich einer Dienststelle offenbart. 1. Anliegen der Vorschrift ist es, über die in § 96 unter Strafe gestellte Ausspähung von Staatsgeheimnissen hinaus weitere Handlungen im Vorfeld des Landesverrats zu erfassen, die auf die Vorbereitung eines Landesverrats hinzielen. 2. Zu Abs. 1 Nr. 1: a) Die Tätigkeit muß für eine fremde Macht ausgeübt werden. Uber „fremde Macht" siehe § 93 Anm. 2 c, aa. „Für" eine fremde Macht wird die Tätigkeit auch dann ausgeübt, wenn der Täter zwar keinen Auftrag dieser Macht hat, aber in deren Interessen handelt und beabsichtigt, ihr das Staatsgeheimnis irgendwie zukommen zu lassen. Tätigkeiten in 422
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
§ 99
diesem Sinn sind vor allem die Aufnahme von Kontakten zu Personen oder Dienststellen, bei denen man das Staatsgeheimnis vermutet, oder die Errichtung von Funkanlagen zur Durchgabe der eingehenden Nachrichten. b) Gegenstand der Tätigkeit muß die Erlangung oder Mitteilung von Staatsgeheimnissen sein. Über „Staatsgeheimnis" siehe § 93 Abs. 1. Illegale Geheimnisse i. S. von § 93 Abs. 2 gehören nicht hierher (siehe jedoch § 97 a Satz 2, wonach auch der strafbar ist, der sich ein illegales Geheimnis zum Verrat an eine fremde Macht verschafft, und § 99, der ebenfalls illegale Geheimnisse einbezieht). 3. Zu Abs. 1 Nr. 2: Die Vorschrift stellt - ähnlich wie die allgemeine Vorschrift des § 30 Abs. 2, die jedoch nur bei Verbrechen gilt - mit dem Sich-bereit-Erklären eine bestimmte Vorbereitungshandlung selbständig unter Strafe. Bezieht sich die Erklärung nicht nur auf eine allgemeine „Tätigkeit" i. S. der Nr. 1, sondern auf ein bereits konkret in Aussicht genommenes Verbrechen nach § 94 oder § 96 Abs. 1, so kommt nicht § 98, sondern § 30 Abs. 2 i. V. mit §§ 94, 96 Abs. 1 zur Anwendung. 4. D e r subj. Tb. erfordert Vorsatz. Der Täter muß vor allem wissen, daß es sich um ein Staatsgeheimnis i. S. von § 93 handelt und daß seine Tätigkeit einer fremden Macht dient. Bedingter Vorsatz genügt. 5. Abs. 2 befaßt sich mit Sonderfällen tätiger Reue. Die Vorschrift fordert nicht nur ein freiwilliges Aufgeben des strafbaren Verhaltens und ein umfassendes Offenbaren des Täters, sondern setzt weiter voraus, daß dieser sein Wissen auch freiwillig offenbart ( B G H 27, 120). Der persönliche Strafaufhebungsgrund des S. 2 setzt voraus, daß der Täter sein Wissen „unverzüglich", d. h. unmittelbar nach Wegfall der psychischen Zwangslage, einer Dienststelle offenbart. 6 . Bei Auslandstaten beachte § 5 Nr. 4. 7. IdK. ist vor allem möglich mit §§ 99, 133, 242, 267, 275, 334, 353 b. Gegenüber §§ 94, 9 6 Abs. 1 ist § 98 als sog. Vorfeldschutzvorschrift subsidiär (vgl. B G H 24, 80). Dies gilt auch dann, wenn diese Tatbestände nur i. V. mit § 3 0 gegeben sind. 8. Prozessual beachte §§ 120 I 3 G V G (Zuständigkeit des O L G ) , 153 d - e StPO (Opportunitätsprinzip). Siehe auch § 101 (Nebenfolgen) und § 101 a (Einziehung).
§ 99
Geheimdienstliche Agententätigkeit
(1) Wer 1. für den Geheimdienst einer fremden Macht eine geheimdienstliche Tätigkeit gegen die Bundesrepublik Deutschland ausübt, die auf die Mitteilung oder Lieferung von Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen gerichtet ist, oder 2. gegenüber dem Geheimdienst einer fremden Macht oder einem seiner Mittelsmänner sich zu seiner solchen Tätigkeit bereit erklärt, 423
§ 99
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in den §§ 94, 96 Abs. 1, in § 97 a oder in § 97 b in Verbindung mit den §§ 94,96 Abs. 1 mit Strafe bedroht ist. (2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung geheimgehalten werden, mitteilt oder liefert und wenn er 1. eine verantwortliche Stellung mißbraucht, die ihn zur Wahrung solcher Geheimnisse besonders verpflichtet, oder 2. durch die Tat die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführt. (3) § 98 Abs. 2 gilt entsprechend. 1. Die ebenso wie § 98 im Vorfeld des Landesverrats liegende Vorschrift erfaßt als allgemeiner Spionagetatbestand jede gegen die Bundesrepublik gerichtete geheimdienstliche Tätigkeit. Während Abs. 1 Nr. 1 ein Tätigkeitsdelikt enthält, erfaßt Abs. 1 Nr. 2 ein Sich-bereit-Erklären zu geheimdienstlicher Tätigkeit. 2. Zu Abs. 1 Nr. 1: Die Tätigkeit muß für den Geheimdienst einer fremden Macht ausgeübt werden und auf die Mitteilung und Lieferung von Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen beliebiger A r t gerichtet sein. Nicht erforderlich ist, daß der Täter sich vorher dazu ausdrücklich bereit erklärt hat (vgl. B G H 25, 145). a) Über fremde Macht siehe § 93 Anm. 2 c, aa. b) Als Geheimdienst gilt jede staatlich beherrschte oder gelenkte Institution, die für die politische Führung des eigenen Staates Nachrichten und sonstige Erkenntnisse über die politische, militärische und wirtschaftliche Lage eines fremden Staates unter Einsatz von Agenten systematisch sammelt und auswertet. Die Rechtsform einer solchen Institution ist unerheblich. Nicht hierher gehören private Pressedienste, soweit sie nicht nur die äußere Form eines geheimen Nachrichtendienstes darstellen. c) D e r Begriff der Tätigkeit ist weit auszulegen. Erfaßt werden alle Personen, die an der Aktivität des geheimdienstlichen Apparats teilnehmen. Eine Eingliederung in die Organisation des Geheimdienstes (z. B. als Agent oder Kurier) ist nicht erforderlich ( B G H 24, 369). Täter kann deshalb auch eine Person sein, die - freiwillig oder unfreiwillig - in den Einflußbereich eines fremden Geheimdienstes geraten ist und im Rahmen der nun einsetzenden Vernehmungen bereitwillig auf alle Fragen Auskunft gibt (vgl B G H aaO.). Die Frage, ob die betreffende Person lediglich ein Ausforschungsobjekt ist oder ob sie aus der Sicht eines objektiven Betrachters aktiv an der Tätigkeit des Geheimdienstes mitwirkt, dürfte allerdings im Einzelfall nur sehr schwer zu entscheiden sein. Tatbestandsmäßig ist jedes Verhalten, das darauf abzielt, dem fremden Geheimdienst brauchbares Material zu liefern, und zwar unabhängig davon, ob das Material den fremden Geheimdienst erreicht oder nicht ( B G H 25, 145). Unerheblich ist, ob sich das Material auf militärische, politische oder wirtschaftliche Objekte bezieht. Wie bei § 98 (siehe dort Anm. 2) ist nicht
424
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
§ 100
erforderlich, daß der Täter einen ausdrücklichen Auftrag des fremden Geheimdienstes hat. Er muß nur „für" ihn, d. h. zu seinen Gunsten tätig werden. Hierher gehört vor allem die Aufnahme von Verbindungen zu Kontaktpersonen und Geheimnisträgern, der Versuch, letztere durch Bestechung zur Lieferung von Nachrichten zu gewinnen, die Einrichtung von Funkanlagen und sog. toten Briefkästen und ähnliche, typische Agententätigkeiten. Nicht ausreichend ist eine Kontaktaufnahme zu verfassungsfeindlichen oder nachrichtendienstlichen Organisationen außerhalb des Bundesgebiets, die nicht auf die Lieferung von Material abzielt. Die Unterhaltung von „Beziehungen" ist noch keine „Tätigkeit" i. S. von § 99 (vgl. Müller-Emmert NJW 1968, 2134 f.). d) Die Tätigkeit muß gegen die Bundesrepublik, d. h. gegen deren Interessen gerichtet sein. Diese Voraussetzungen können auch dann vorliegen, wenn sich die Tätigkeit unmittelbar gegen ein anderes Land richtet, die Interessen der Bundesrepublik hierdurch jedoch zumindest mittelbar berührt werden, z. B. bei Spionage zum Nachteil eines NATO-Partners. e) Das dem fremden Geheimdienst zu liefernde Material (Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse) muß nicht geheim sein. Der Tb. ist in dieser Richtung sehr weit gefaßt. Der Unrechtsgehalt der Tat besteht schlechthin in der konspirativen Tätigkeit für fremde Mächte, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob im Einzelfall eine Gefahr für die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik zu befürchten ist oder nicht. Handelt es sich um Staatsgeheimnisse i. S. von § 93 Abs. 1, so kommt infolge der Subsidiaritätsklausel nicht § 99, sondern Bestrafung nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 oder § 96 Abs. 1 in Betracht. 3. Zu Abs. 1 Nr. 2 siehe die Ausführungen zu § 98 (Anm. 3). 4. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. 5. Abs. 2 verweist auf die in § 98 Abs. 2 enthaltene Sonderregelung der tätigen Reue. Siehe hierzu § 98 Anm. 5. 6. Tateinheit ist möglich mit § 98, außerdem mit § 109 g (BGH NJW 1977, 1300; Str.). Die Ausführungen unter § 98 Anm. 6-8 gelten im übrigen entsprechend.
§ 100
Friedensgefährdende Beziehungen
(1) Wer als Deutscher, der seine Lebensgrundlage im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes hat, in der Absicht, einen Krieg oder ein bewaffnetes Unternehmen gegen die Bundesrepublik Deutschland herbeizuführen, zu einer Regierung, Vereinigung oder Einrichtung außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes oder zu einem ihrer Mittelsmänner Beziehungen aufnimmt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter durch die Tat eine schwere Gefahr für den Bestand der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt. 425
§ 100 a
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
(3) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren. L Täter kann nur ein Deutscher sein, der seine Lebensgrundlage in der Bundesrepublik hat. Unerheblich ist dagegen, ob er die Tat im Inland oder im Ausland begeht (vgl. § 5 Nr. 4). 2. Die Tathandlung besteht in der Aufnahme oder Unterhaltung von Beziehungen zu einer Regierung, Vereinigung oder Einrichtung außerhalb der Bundesrepublik. Kontakte zu Mittelsmännern (§ 94 Anm. 2) genügen bereits. a) Als Beziehung gilt jede in Übereinstimmung mit dem Partner eingegangene, auf gewisse Dauer angelegte Verbindung. Unerheblich ist, von wem die Initiative zu dieser Verbindung ausgegangen ist. b) Als Regierung gilt nur die legitime Regierung eines anderen Staates. Zu den im Tatbestand genannten Vereinigungen und Einrichtungen müssen jedoch neben offiziellen Institutionen (z. B. Nachrichtendiensten) auch fremde Untergrundorganisationen gerechnet werden. 3. Der subj. Tb. erfordert neben dem Vorsatz die Absicht, einen Krieg oder ein bewaffnetes Unternehmen gegen die Bundesrepublik herbeizuführen. a) Eine Absicht in diesem Sinn liegt dann vor, wenn es dem Täter - gleich aus welchem Grund - auf den Krieg bzw. das bewaffnete Unternehmen ankommt. b) Als bewaffnetes Unternehmen gilt jedes bewaffnete Vorgehen, z. B. in der Form von sog. Kommandounternehmen, wie sie nach dem Waffenstillstand im Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten an der Tagesordnung waren. 4. Der Versuch ist strafbar (Verbrechen). Beachte auch § 30. 5. IdK. ist möglich mit §§ 83, 84 ff., 87 ff., 98 f., 109 f. Die Ausführungen unter § 98 Anm. 8 gelten im übrigen entsprechend.
§ 100 a
Landesverräterische Fälschung
(1) Wer wider besseres Wissen gefälschte oder verfälschte Gegenstände, Nachrichten darüber oder unwahre Behauptungen tatsächlicher Art, die im Falle ihrer Echtheit oder Wahrheit für die äußere Sicherheit oder die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu einer fremden Macht von Bedeutung wären, an einen anderen gelangen läßt oder öffentlich bekanntmacht, um einer fremden Macht vorzutäuschen, daß es sich um echte Gegenstände oder um Tatsachen handele, und dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit oder die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu einer fremden Macht herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. 426
ZweiterAbschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
§§101,101a
(2) Ebenso wird bestraft, wer solche Gegenstände durch Fälschung oder Verfälschung herstellt oder sie sich verschafft, um sie in der in Abs. 1 bezeichneten Weise zur Täuschung einer fremden Macht an einen anderen gelangen zu lassen oder öffentlich bekanntzumachen und dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit oder die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu einer fremden Macht herbeizuführen. (3) Der Versuch ist strafbar. (4) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter durch die Tat einen besonders schweren NachteU für die äußere Sicherheit oder die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu einer fremden Macht herbeiführt. 1. Die Vorschrift beruht auf der Erwägung, daß auch die Weitergabe von Falschmeldungen usw. die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik bewirken kann. Ebenso besteht die Gefahr folgenschwerer Verstimmungen in den Beziehungen zum Ausland. 2. In Abs. 2 werden bestimmte Vorbereitungshandlungen selbständig unter Strafe gestellt. Der Tb. ist bereits mit der Herstellung bzw. dem Sich-Verschaffen erfüllt, so daß mangels einer Sondervorschrift strafbefreiende tätige Reue dann nicht mehr möglich ist. 3. IdK. ist möglich mit §§ 83 ff., 99, 267. 4. Bei Auslandstaten beachte § 5 Nr. 4.
§ 101 Nebenfolgen Neben einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten wegen einer vorsätzlichen Straftat nach diesem Abschnitt kann das Gericht die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, und das Recht, in öffentlichen Angelegenheiten zu wählen oder zu stimmen, aberkennen (§ 45 Abs. 2,5). Die Vorschrift entspricht der in § 92 a für den 1. Abschnitt des Besonderen Teils getroffenen Regelung. Wegen Amtsunfähigkeit u. a. siehe § 45 nebst Anm.
§ 101 a
Einziehung
Ist eine Straftat nach diesem Abschnitt begangen worden, so können 1. Gegenstände, die durch die Tat hervorgebracht oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind, und 427
§ 101 a
Zweiter Abschnitt: Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit
2. Gegenstände, die Staatsgeheimnisse sind, und Gegenstände der in § 100 a bezeichneten Art, auf die sich die Tat bezieht, eingezogen werden. § 74 a ist anzuwenden. Gegenstände der in Satz 1 Nr. 2 bezeichneten Art werden auch ohne die Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 eingezogen, wenn dies erforderlich ist, um die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden; dies gilt auch dann, wenn der Täter ohne Schuld gehandelt hat. Die Vorschrift bringt - ähnlich wie § 92 b für die Tatbestände der § § 8 0 ff. - eine Erweiterung der allgemeinen Einziehungsvorschriften. Auf die Ausführungen zu § 92 b kann deshalb verwiesen werden.
428
Dritter Abschnitt: Straftaten gegen ausländische Staaten (§§ 102-104 b) Vorbemerkung Grundgedanke der durch das EGStGB neu gefaßten Bestimmungen ist es, jede Störung der guten Beziehungen zum Ausland und damit diplomatische oder gar kriegerische Verwicklungen zu verhindern. Die einzelnen Tatbestände sind in den §§ 102-104 enthalten. § 104 a enthält je zwei Strafbarkeitsbedingungen und Prozeßvoraussetzungen, die vom Vorsatz des Täters nicht umfaßt sein müssen. Wegen der gerichtlichen Zuständigkeit siehe § 120 Abs. 1 Nr. 4 und 5 GVG (Zuständigkeit der Oberlandesgerichte für die Fälle des § 102). Innerdienstlich ist für die StA Nr. 210 RiStBV zu beachten (beschleunigte Beweissicherung, Berichtspflichten usw.). Schrifttum: Jescheck, Straftaten gegen das Ausland, Rittler-Festschr., 1958, S. 275.
§ 102
Angriff auf Organe und Vertreter ausländischer Staaten
(1) Wer einen Angriff auf Leib oder Leben eines ausländischen Staatsoberhauptes, eines Mitgliedes einer ausländischen Regierung oder eines im Bundesgebiet beglaubigten Leiters einer ausländischen diplomatischen Vertretung begeht, während sich der Angegriffene in amtlicher Eigenschaft im Inland aufhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe, in besonders schweren Fällen mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (2) Neben einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten kann das Gericht die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, und das Recht, in öffentlichen Angelegenheiten zu wählen oder zu stimmen, aberkennen (§ 45 Abs. 2,5).
§ 103
Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten
(1) Wer ein ausländisches Staatsoberhaupt oder wer mit Beziehung auf ihre Stellung ein Mitglied einer ausländischen Regierung, das sich in amtlicher Eigenschaft im Inland aufhält, oder einen im Bundesgebiet beglaubigten Leiter einer ausländischen diplomatischen Vertretung beleidigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe, im Falle der verleumderischen Beleidigung mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Ist die Tat öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreitung von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen, so ist § 200 anzuwenden. Den Antrag auf Bekanntgabe der Verurteilung kann auch der Staatsanwalt stellen. 429
§§ 1 0 4 , 1 0 4 a
§ 104
Dritter Abschnitt: Straftaten gegen ausländische Staaten
Verletzung von Flaggen und Hoheitszeichen ausländischer Staaten
(1) Wer eine auf Grund von Rechtsvorschriften oder nach anerkanntem Brauch öffentlich gezeigte Flagge eines ausländischen Staates oder wer ein Hoheitszeichen eines solchen Staates, das von einer anerkannten Vertretung dieses Staates öffentlich angebracht worden ist, entfernt, zerstört, beschädigt oder unkenntlich macht oder wer beschimpfenden Unfug daran verübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. § 104 a
Voraussetzungen der Strafverfolgung
Straftaten nach diesem Abschnitt werden nur verfolgt, wenn die Bundesrepublik zu dem anderen Staat diplomatische Beziehungen unterhält, die Gegenseitigkeit verbürgt ist und auch zur Zeit der Tat verbürgt war, ein Strafverlangen der ausländischen Regierung vorliegt und die Bundesregierung die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt.
430
Vierter Abschnitt: Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen und Abstimmungen (§§ 105-108 d) Vorbemerkung Die derzeitige Fassung des Abschnitts (§§ 105-108 d) geht im wesentlichen auf das 3. StrRÄndG vom 4. 8. 1953 zurück. Die §§ 105, 106, 108 wurden jedoch durch das 8. StrRÄndG und die §§ 106 a, 106 b, 108 b-d durch das EGStGB neu gefaßt. Anliegen der §§ 105-106 b ist es, die reibungslose Tätigkeit der Verfassungsorgane zu gewährleisten. Die folgenden Bestimmungen schützen den Wählerwillen. Der Begriff der Wahl ist in § 108 d gesetzlich definiert.
§ 105
Nötigung von Verfassungsorganen
(1) Wer 1. ein Gesetzgebungsorgan des Bundes oder eines Landes oder einen seiner Ausschüsse, 2. die Bundesversammlung oder einen ihrer Ausschüsse oder 3. die Regierung oder das Verfassungsgericht des Bundes, oder eines Landes rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt nötigt, ihre Befugnisse nicht oder in einem bestimmten Sinne auszuüben, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. 1. Die durch das 8. StrRÄndG neugefaßte Vorschrift enthält einen Sondertatbestand der Nötigung. Geschützt sind die wichtigsten Verfassungsorgane des Bundes und der Länder. Schrifttum: Geilen, Der Tatbestand der Parlamentsnötigung, 1957; - Niese, Streik und Strafrecht, 1954; - Sax, Parlamentsnötigung durch Streik, NJW 1953, 368; - Wolf, Straftaten bei Wahlen und Abstimmungen, 1961. 2. Täter kann auch ein Mitglied der geschützten Verfassungsorgane sein. 3. Die Tathandlung besteht darin, daß die geschützten Organe genötigt werden, ihre Befugnisse nicht oder in einem bestimmten Sinn auszuüben. Entsprechend der Rechtslage bei § 240 (siehe dort Anm. 3) müssen sich die Nötigungsmittel nicht unmittelbar gegen das betroffene Verfassungsorgan richten. Beispiel: Geiselnahme mit dem Ziel, die Regierung zur Freilassung eines inhaftierten Terroristen zu nötigen. 4. Im Gegensatz zur Nötigung des § 240 enthält § 105 keinen sog. offenen oder ergänzungsbedürftigen Tatbestand, bei dem die Verbotsmaterie nicht erschöpfend beschrieben ist, so daß der Unrechtsgehalt der Tat erst durch Rückgriff auf die dem Tatbestand zugrundeliegende Norm ermittelt werden kann (vgl. B VI 2 vor § 1). Zur Bestimmung der Rechtswidrigkeit bedarf es daher auch keines Rückgriffs auf § 240 Abs. 2 (a. A. die 431
§ 106
Vierter Abschnitt: Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen
h. L., vgl. Dreher 3; Lackner 3; Schwalm L K 16 f.; Woesner NJW 1968, 2 1 2 9 , 2131, wonach § 2 4 0 Abs. 2 entsprechend anwendbar sein soll, was jedoch bedenklich erscheint, weil § 2 4 0 Abs. 2 einen besonders groben Angriff auf die Entschlußfreiheit und einen erhöhten Grad sittlicher Mißbilligung erfordert, vgl. § 240 Anm. 5). Die besondere Erwähnung der Rechtswidrigkeit in § 105 kann ähnlich wie bei anderen Tatbeständen (z. B. in § 3 0 3 ) nur als Hinweis dahin verstanden werden, daß es auch bei § 105 Fälle geben kann, bei denen eine tatbestandsmäßige Nötigung von Verfassungsorganen ausnahmsweise nicht rechtswidrig ist. Hierbei ist zu beachten, daß die Rechtswidrigkeit nicht schon deshalb entfällt, weil der durch die Nötigung erstrebte Zweck als solcher nicht rechtswidrig ist. Nur wenn auch das zur Erreichung eines rechtmäßigen Zwecks eingesetzte Mittel rechtmäßig, d. h. rechtsstaatlich legitim ist, kann die Rechtswidrigkeit entfallen. Bei Gewalt und Drohung mit Gewalt als tatbestandsmäßigen Mitteln lassen sich Situationen, bei denen die Rechtswidrigkeit verneint werden könnte, jedoch praktisch kaum denken. Dies gilt auch für Streiks und Demonstrationen, soweit diese in Gewalt ausarten. Rechtmäßig wäre jedoch die Anwendung des in Art. 37 G G vorgesehenen Bundeszwangs gegenüber einem Bundesland (eine Konfliktsituation, die bisher noch nicht eingetreten ist). 4 . IdK. ist möglich mit §§ 81 f., 106, 2 3 9 a, 2 3 9 b und 3 1 6 c. Gegenüber § 2 4 0 geht § 105 als das speziellere Delikt vor. 5. Prozessual beachte §§ 153 d, 153 e StPO (Absehen von Strafe) und § 120 Abs. 1 Nr. 5 G V G (Zuständigkeit des O L G ) .
§ 106
Nötigung des Bundespräsidenten und von Mitgliedern eines Verfassungsorgans
(1) Wer 1. den Bundespräsidenten oder 2. ein Mitglied a) eines Gesetzgebungsorgans des Bundes oder eines Landes, b) der Bundesversammlung oder c) der Regierung oder des Verfassungsgerichts des Bundes oder eines Landes rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel nötigt, seine Befugnisse nicht oder in einem bestimmten Sinne auszuüben, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Neufassung durch das 8. StrRÄndG. Im Gegensatz zur früheren Fassung wird jetzt auch der Fall erfaßt, daß ein Parlamentsmitglied oder ein sonstiges Mitglied der in §§ 105, 106 geschützten Verfassungsorgane genötigt wird, seine Stimme in bestimmter Richtung abzugeben. Nicht erfaßt wird dagegen der Fall, daß ein Parlamentsmitglied durch Täu-
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Vierter Abschnitt: Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen
§§ 106a, 106b
schung oder Bestechung in seiner Entscheidung beeinflußt wird. Die Ausführungen zu § 105 gelten im übrigen entsprechend.
§ 106 a
Bannkreisverletzung
(1) Wer innerhalb des befriedeten Bannkreises um das Gebäude eines Gesetzgebungsorgans des Bundes oder eines Landes sowie des Bundesverfassungsgerichts an öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel oder Aufzügen teilnimmt und dadurch Vorschriften verletzt, die über den Bannkreis erlassen worden sind, wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen bestraft. (2) Wer zu Versammlungen oder Aufzügen auffordert, die unter Verletzung der in Absatz 1 genannten Vorschriften innerhalb eines befriedeten Bannkreises stattfinden sollen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Beachte hierzu § 16 VersG und die Bannmeilengesetze von Bund und Ländern. Das BundesbannmeilenG vom 6. 8. 1955 (BGBl. I 504) wurde zuletzt durch Ges. vom 28. 5. 1969 (BGBl. I 449) geändert. 2. Abs. 2 enthält einen mit § 111 vergleichbaren Sonderfall versuchter
§ 106 b
Anstiftung.
Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorgans
(1) Wer gegen Anordnungen verstößt, die ein Gesetzgebungsorgan des Bundes oder eines Landes oder sein Präsident über die Sicherheit und Ordnung im Gebäude des Gesetzgebungsorgans oder auf dem dazugehörenden Grundstück allgemein oder im Einzelfall erläßt, und dadurch die Tätigkeit des Gesetzgebungsorgans hindert oder stört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Die Strafvorschrift des Absatzes 1 gilt bei Anordnungen eines Gesetzgebungsorgans des Bundes oder seines Präsidenten weder für die Mitglieder des Bundestages noch für die Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung sowie ihre Beauftragten, bei Anordnungen eines Gesetzgebungsorgans eines Landes oder seines Präsidenten weder für die Mitglieder der Gesetzgebungsorgane dieses Landes noch für die Mitglieder der Landesregierung und ihre Beauftragten. 1. Die Neufassung der Vorschrift durch das E G S t G B beschränkt sich auf die strafrechtliche Erfassung von Störungen, durch die das betroffene Gesetzgebungsorgan (siehe hierzu § 90 b Anm. 1) unter Verstoß gegen die zur Erhaltung von Sicherheit und Ordnung erlassenen Anordnungen in seiner Tätigkeit beeinträchtigt wird. Der Schutzbereich der Vorschrift erfaßt auch solche Gebäude, in denen das Gesetzgebungsorgan aus besonderem Anlaß tagt (vgl. Sturm J Z 1975, 8).
433
§§ 107,107a
Vierter Abschnitt: Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen
2. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz (vgl. § 15). Dieser muß sich auch auf das Bestehen der zur Erhaltung von Sicherheit und Ordnung erlassenen Anordnungen erstrecken. 3. Tateinheit ist möglich mit §§ 105-106 a. Gegenüber § 123 geht § 106 b als die speziellere Vorschrift vor (Dreher 1; Stree in Schönke-Schröder 6; a. A. hier die Voraufl.). Ergänzend beachte § 112 OWiG (Verletzung der Hausordnung eines Gesetzgebungsorgans, vgl. Anh. 4). 4. Abweichend von der früheren Fassung ist eine besondere Ermächtigung zur Strafverfolgung nicht mehr erforderlich.
§ 107
Wahlbehinderung
(1) Wer mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt eine Wahl oder die Feststellung ihres Ergebnisses verhindert oder stört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe, in besonders schweren Fällen mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Geschützt ist der Wahlvorgang als solcher. Der einzelne Wähler wird durch § 108 geschützt. 2. Über Wahl siehe § 108 d. Verhindert ist die Wahl, wenn sie zum vorgesehenen Zeitpunkt überhaupt nicht stattfinden kann. Störung ist jede Erschwerung der Verzögerung. 3. § 240 tritt als subsidiär zurück, mit § 108 ist jedoch IdK. mögüch. Wegen Nebenfolgen siehe § 108 c. 4. Beispiel: Aus Protest gegen die angeblich verfehlte Gebietsreform einer Landesregierung blockieren bei einer Landtagswahl radikale Gruppen den Zugang zu bestimmten Wahllokalen, so daß eine größere Anzahl Bürger ihr Wahlrecht nicht ausüben kann. Hier kommt neben § 107 in Tateinheit § 108 in Betracht.
§ 107 a
Wahlfälschung
(1) Wer unbefugt wählt oder sonst ein unrichtiges Ergebnis einer Wahl herbeiführt oder das Ergebnis verfälscht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer das Ergebnis einer Wahl unrichtig verkündet oder verkünden läßt. (3) Der Versuch ist strafbar. 434
Vierter Abschnitt: Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen
§ 107b
1. Unbefugt wählt, wer kein Wahlrecht hat oder doppelt wählt. Auch die Wahl unter falschem Namen oder aufgrund irrtümlicher Aufnahme in die Wählerliste gehören hierher. 2. Ein unrichtiges Ergebnis führt herbei, wer einen Unbefugten (s. o. 1) zur Wahl zuläßt, falsche Wahllisten aufstellt oder ähnliche Handlungen vornimmt, durch die das Wahlergebnis beeinflußt wird. 3. Das Ergebnis verfälscht, wer nach Abschluß der Wahl unbefugt Stimmzettel entfernt oder hinzufügt. Auch die falsche Auszählung und Auswertung der Stimmen gehört hierher (vgl. RG 20,420; 56, 389; h. L.). 4. Täter nach Abs. 2 kann nur sein, wer die öffentliche Aufgabe hat, das Wahlergebnis zu verkünden bzw. verkünden zu lassen, oder wer sich eine derartige Aufgabe anmaßt (in diesem Fall ist IdK. mit § 132 möglich). 5. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz (bedingter Vorsatz genügt) muß sich insbesondere auf die mangelnde Befugnis zum Wählen bzw. darauf erstrecken, daß das herbeigeführte oder verkündete Ergebnis unrichtig ist (vgl. Dreher 2; Lackner 1; Schröder JZ 1957, 584; a. A. Hamm NJW 1957, 638). 6. Tateinheit ist möglich mit §§ 107,267, 271,274, 348. Gegenüber § 107 b geht § 107 a vor. § 111 OWiG (falsche Namensangabe) ist ebenfalls subsidiär.
§ 107 b
Fälschung von Wahlunterlagen
(1) Wer 1. seine Eintragung in die Wählerliste (Wahlkartei) durch falsche Angaben erwirkt, 2. einen anderen als Wähler einträgt, von dem er weiß, daß er keinen Anspruch auf Eintragung hat, 3. die Eintragung eines Wahlberechtigten als Wähler verhindert, obwohl er dessen Wahlberechtigung kennt, 4. sich als Bewerber für eine Wahl aufstellen läßt, obwohl er nicht wählbar ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist. (2) Der Eintragung in die Wählerliste als Wähler entspricht die Ausstellung eines Wahlausweises für Urwahlen in der Sozialversicherung. Hier werden bestimmte Vorbereitungshandlungen zu dem Vergehen des § 107 a unter Strafe gestellt. Abs. 2 wurde durch Art. 11 des Sozialgesetzbuchs eingefügt und ist am 1. 7. 1977 in Kraft getreten. Zu beachten ist die Subsidiaritätsklausel, die sich auch gegenüber den §§ 271, 274 Nr. 1 und 348 auswirkt. 435
§§ 107c, 108,108a, b
§ 107 c
Vierter Abschnitt: Straftaten gegen Verfassungsorgane
Verletzung des Wahlgeheimnisses
Wer einer dem Schutz des Wahlgeheimnisses dienenden Vorschrift in der Absicht zuwiderhandelt, sich oder einem anderen Kenntnis davon zu verschaffen, wie jemand gewählt hat, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Die als Blankett-Tb. gefaßte Vorschrift schützt das Wahlgeheimnis. Nicht hierher gehört die Erkundung, ob jemand überhaupt gewählt hat. Nicht erforderlich ist, daß der Täter seine tatbestandsrelevante Absicht verwirklicht; die Verletzung einer Schutzvorschrift mit entsprechender Absicht genügt zur Tatbestandsverwirklichung.
§ 108
Wählemötigung
(1) Wer rechtswidrig mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel, durch Mißbrauch eines beruflichen oder wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses oder durch sonstigen wirtschaftlichen Druck einen anderen nötigt oder hindert, zu wählen oder sein Wahlrecht in einem bestimmten Sinne auszuüben, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe, in besonders schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Die Vorschrift will die absolute Freiheit des Wählers, ob und wie er wählen will, sicherstellen. Nicht hierher gehören Überredung und Täuschung. Siehe jedoch § 108 a. 2. IdK. ist möglich mit §§ 107, 107 a. Gegenüber § 240 geht § 108 vor.
§ 108 a
Wählertäuschung
(1) Wer durch Täuschung bewirkt, daß jemand bei der Stimmabgabe über den Inhalt seiner Erklärung irrt oder gegen seinen Willen nicht oder ungültig wählt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. Gegenüber § 107 a geht § 108 a als die speziellere Regelung vor.
§ 108 b
Wählerbestechung
(1) Wer einem anderen dafür, daß er nicht oder in einem bestimmten Sinne wähle, Geschenke oder andere Vorteile anbietet, verspricht oder gewährt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 436
Vierter Abschnitt: Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen
§§ 108c, 108d
(2) Ebenso wird bestraft, wer dafür, daß er nicht oder in einem bestimmten Sinne wähle, Geschenke oder andere Vorteile fordert, sich versprechen läßt oder annimmt. 1. Die Strafdrohung richtet sich - ähnlich wie bei der Beamtenbestechung gemäß §§ 332, 333 - sowohl gegen den Stimmenkäufer als auch gegen den Stimmenverkäufer. Sollen die beiderseitigen Versprechungen innerem Vorbehalt entsprechend nicht eingehalten werden, so ist Tateinheit mit Betrug (§ 263) möglich. 2. Nicht hierher gehört die Bestechung eines Abgeordneten mit dem Ziel, ihn bei der Ausübung seines Stimmrechts innerhalb eines bestimmten parlamentarischen Gremiums zu beeinflussen (vgl. § 108 d Anm. 2). Nicht tatbestandsmäßig, da sozialadäquat, sind die üblichen allgemeinen Wahlversprechungen der Parteien an die Wähler. 3. Beachte §§ 73 ff. (Verfallsanordnuiig hinsichtlich des aus der Tat erlangten Vermögensvorteils.)
§ 108 c
Nebenfolgen
Neben einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten wegen einer Straftat nach den §§ 107, 107 a, 1 0 8 und 1 0 8 b kann das Gericht die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, und das Recht, in öffentlichen Angelegenheiten zu wählen oder zu stimmen, aberkennen (§ 4 5 Abs. 2 , 5 ) . Neufassung des EGStGB. Wegen Verlust der Wählbarkeit usw. siehe §§ 45-45 b.
§ 108 d
Geltungsbereich
Die §§ 1 0 7 bis 108 c gelten für Wahlen zu den Volksvertretungen und für sonstige Wahlen und Abstimmungen des Volkes im Bund, in den Ländern, Gemeinden und Gemeindeverbänden sowie für Urwahlen in der Sozialversicherung. Einer Wahl oder Abstimmung steht das Unterschreiben eines Wahlvorschlages oder das Unterschreiben für ein Volksbegehren gleich. 1. Die Legaldefinition erfaßt a) Wahlen zu den Volksvertretungen; hierher gehören insbesondere Bundestags-, Landtags-, Bürgerschafts-, Kreistags- und Gemeinderatswahlen; b) Sonstige Wahlen und Abstimmungen des Volkes im Bund, in den Ländern, Gemeinden und Gemeindeverbänden; hierher gehören insbesondere Volksbegehren und Volksbefragungen, wie sie auf Bundesebene z. B. in Art. 29, 118 GG vorgesehen sind. Erfaßt werden außerdem die Urwahlen in der Sozialversicherung (neu eingefügt durch Art. 11 des Sozialgesetzbuchs); c) das Unterschreiben eines Wahlvorschlags oder für ein Volksbegehren (Satz 2). 437
§ 108d
Vierter Abschnitt: Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen
2. Entgegen dem ursprünglich weiter gefaßten RegE nicht erfaßt werden Wahlen und Abstimmungen innerhalb der Volksvertretungen sowie andere Wahlen in öffentlichen Angelegenheiten, z. B. innerhalb der Berufsorganisationen oder kirchliche Wahlen. Für Betriebsratswahlen siehe § 119 BetriebsVerfG. 3. Schrifttum: Dreher JZ 1953, 427; Schulze, Zur Frage der Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung, JR 1973, 485; Wolf, Straftaten bei Wahlen und Abstimmungen, Bonn 1961.
438
Fünfter Abschnitt: Straftaten gegen die Landesverteidigung (§§ 109-109 k) Vorbemerkung Die Vorschriften dieses Abschnitts gehen auf das 4. StrRÄndG vom 11. 6. 1957 zurück und ergänzen das WStG vom 30. 3. 1957. Teilweise handelt es sich um Tatbestände, die für den Fall, daß sie von einem Soldaten erfüllt werden, unter die Sonderbestimmungen des WStG fallen. Siehe dort insbesondere §§ 16-20. Gemäß Art. 7 des 4. StrRÄndG dienen die §§ 109 ff. mit gewissen Einschränkungen auch dem Schutz der nichtdeutschen NATO-Vertragsstaaten. In Berlin gelten die Vorschriften dieses Abschnitts jedoch nicht. Bei Auslandstaten beachte § 5 Nr. 5. Aus dem Schrifttum siehe insbesondere Lackner JZ 1957,401; Kohlhaas NJW 1957, 932.
§ 109
Wehrpflichtentziehung durch Verstümmelung
(1) Wer sich oder einen anderen mit dessen Einwilligung durch Verstümmelung oder auf andere Weise zur Erfüllung der Wehrpflicht untauglich macht oder machen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Führt der Täter die Untauglichkeit nur für eine gewisse Zeit oder für eine einzelne Art der Verwendung herbei, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. (3) Der Versuch ist strafbar. 1. Die Wehrpflicht ergibt sich aus §§ 1-3 WehrpflG. Wehrpflichtig ist auch der Kriegsdienstverweigerer, der zivilen Ersatzdienst zu leisten hat ( § § 3 Abs. 1, 25 WehrpflG). Wehruntauglich ist, wer in einen Zustand versetzt wird, in dem er infolge körperlicher oder geistiger Mängel nicht mehr in der Art oder dem Umfang wehrtauglich ist wie vor der Tat (RG 44, 264, 267). 2. Verstümmelung ist die unmittelbare mechanische Einwirkung auf den Körper, die zum Verlust oder zur Funktionsunfähigkeit eines Körperglieds oder Organs führt. Ein Untauglichmachen auf andere Weise liegt z. B. auch dann vor, wenn ein Wehrpflichtiger, um sich einer Wehrübung zu entziehen, den Termin einer medizinisch nicht gebotenen Schönheitsoperation vorverlegen läßt (vgl. BayObLG NJW 1973, 2257). 3. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Bedingter Vorsatz genügt. 4. Wird die Tat von einem Soldaten an sich ausschließlich § 17 WStG in Betracht. Die Vergehen nach § 17 WStG ist, soweit sich § § 28 Abs. 2 nach § 109 strafbar (h. L., vgl. Schönke-Schröder 17).
oder einem anderen begangen, so kommt Teilnahme eines Nichtsoldaten an einem 109 mit § 17 WStG überschneidet, gemäß Rudolphi SK 21 m. Nachw.; a.A. Eser in 439
§§ 109a-d
Fünfter Abschnitt: Straftaten gegen die Landesverteidigung
5. IdK. ist mit §§ 223 ff. möglich (die Einwilligung rechtfertigt nicht, vgl. § 226 a). 6. Bei Auslandstaten beachte § 5 Nr. 5 a.
§ 109 a
Wehrpflichtentziehung durch Täuschung
(1) Wer sich oder einen anderen durch arglistige, auf Täuschung berechnete Machenschaften der Erfüllung der Wehrpflicht dauernd oder für eine gewisse Zeit, ganz oder für eine einzelne Art der Verwendung entzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Art und Umfang der Wehrpflicht ergeben sich aus dem WehrpflichtG (vgl. § 109 Anm. 1). 2. Als Tathandlung kommen nur arglistige, auf Täuschung berechnete Machenschaften in Betracht, z. B. Vorspiegeln nicht vorhandener Krankheiten, Vorlage falscher oder gefälschter Gesundheitszeugnisse. Nicht ausreichend ist die bloße Lüge. Auch die Ausnutzung eines vom Täter nicht hervorgerufenen Irrtums ist noch keine „Machenschaft", wohl aber die Scheinverlegung des Wohnsitzes in ein Gebiet außerhalb des Geltungsbereichs des WehrpflG (Celle NJW 1965, 1675; Hbg NJW 1965, 1674). 3. Subjektiv ist Korsatt erforderlich; bedingter Vorsatz genügt. 4. Wird die Tat von einem Soldaten begangen, der entweder sich oder einen anderen Soldaten der Wehrpflicht entziehen möchte, so kommt nur § 18 WStG in Betracht. 5. IdK. kommt in Betracht mit §§ 267, 277, 279. 6. Bei Auslandstaten beachte § 5 Nr. 5b.
§§ 109 b, 109 c [aufgehoben durch Art. 19 Nr. 36 EGStGB; siehe jetzt §§ 1 Abs. 3, 16 Abs. 4, 19 Abs. 4 WStG]
§ 109 d
Störpropaganda gegen die Bundeswehr
(1) Wer unwahre oder gröblich entstellte Behauptungen tatsächlicher Art, deren Verbreitung geeignet ist, die Tätigkeit der Bundeswehr zu stören, wider 440
Fünfter Abschnitt: Straftaten gegen die Landesverteidigung
§ 109 e
besseres Wissen zum Zwecke der Verbreitung aulstellt oder solche Behauptungen in Kenntnis ihrer Unwahrheit verbreitet, um die Bundeswehr in der Erfüllung ihrer Aufgabe der Landesverteidigung zu behindern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Anliegen der Vorschrift ist es zu verhindern, daß die Moral der Truppe durch Lügenpropaganda zersetzt wird. Erfaßt werden jedoch nur unwahre oder gröblich entstellte Behauptungen tatsächlicher Art, nicht auch diskriminierende Werturteile und Meinungsäußerungen, z. B. der Vorwurf des Faschismus oder des Militarismus. Die Vorschrift hat deshalb in der Praxis keine große Bedeutung erlangt (vgl. Greiser NJW 1973, 231). 2. Die Tathandlung besteht im Aufstellen und Verbreiten unwahrer oder grob entstellter Tatsachenbehauptungen. Diese müssen geeignet sein, die Tätigkeit der Bundeswehr zu stören. Eine derartige Störung liegt z. B. dann vor, wenn ganze Truppenteile in Unruhe oder in eine Stimmung versetzt werden, aus der heraus sich Panik, Aufruhr oder allgemeine Fahnenflucht ergeben können. Daß eine Störung dieser Art tatsächlich eintritt, ist nicht erforderlich. Es genügt bereits die konkrete Gefahr einer Störung. Die Vorschrift wird dadurch zu einem konkreten Gefährdungsdelikt. 3. Der subj. Tb. erfordert zunächst Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz nicht ausreicht (vgl. die Formulierungen „wider besseres Wissen" und „in Kenntnis ihrer Unwahrheit"). Der Ausschluß des bedingten Vorsatzes hat sich jedoch als Mangel erwiesen, da im Rahmen der zuweilen erbittert geführten Angriffe gegen die Bundeswehr häufig Halbwahrheiten und Vermutungen bewußt ungeprüft übernommen werden (vgl. Greiser NJW 1973, 231). Der Täter muß weiter die Absicht haben, die Bundeswehr in der Erfüllung ihrer Aufgabe der Landesverteidigung zu behindern. Der Tatbestand ist daher nicht erfüllt, wenn der Täter sich nur wichtig machen will. 4. IdK. ist möglich mit §§ 91,100 a, 164, 186,187,187 a. 5. Beachte § 5 Nr. 5 b (Auslandstaten), § 109 k (Einziehung) sowie §§ 153 d, 153 e StPO (Absehen von Strafe) und §§ 74 a Abs. 1 Nr. 3, 120 Abs. 2, 142a GVG (Zuständigkeit).
§ 109 e
Sabotagehandlungen an Verteidigungsmitteln
(1) Wer ein Wehrmittel oder eine Einrichtung oder Anlage, die ganz oder vorwiegend der Landesverteidigung oder dem Schutz der Zivilbevölkerung gegen Kriegsgefahren dient, unbefugt zerstört, beschädigt, verändert, unbrauchbar macht oder beseitigt und dadurch die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, die Schlagkraft der Truppe oder Menschenleben gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. 441
§ 109 e
Fünfter Abschnitt: Straftaten gegen die Landesverteidigung
(2) Ebenso wird bestraft, wer wissentlich einen solchen Gegenstand oder den dafür bestimmten Werkstoff fehlerhaft herstellt oder liefert und dadurch wissentlich die in Absatz 1 bezeichnete Gefahr herbeiführt. (3) D e r Versuch ist strafbar. (4) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. (5) Wer die Gefahr in den Fällen des Absatzes 1 fahrlässig, in den Fällen des Absatzes 2 nicht wissentlich, aber vorsätzlich oder fahrlässig herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.
1. Zu Abs. 1: a) Wehrmittel sind Gegenstände, die nach ihrer Natur oder auf Grund besonderer Zweckbestimmung für den bewaffneten Einsatz der Truppe geeignet und bestimmt sind, z. B. Waffen aller Art, Munition, Gasmasken, Militärfahrzeuge (auch requirierte Privatfahrzeuge), technische Instrumente wie Radaranlagen, aber auch Tiere, die zum Transport von Kriegsmaterial bestimmt sind. b) Geschützt sind femer Einrichtungen und Anlagen, die ganz oder vorwiegend der Landesverteidigung oder dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen. Hierher gehören Bunker, Munitionslager, Militärflugplätze, femer Luftschutzanlagen (öffentliche Keller, Stollen, Sirenen). c) Die Tathandlung besteht im Zerstören, Beschädigen usw. Siehe hierzu § 3 1 6 b Anm. 2 b. d) Als Tatfolge verlangt der Tatbestand eine Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik , der Schlagkraft der Truppe oder von Menschenleben. e) Subjektiv ist Vorsatz erforderlich; bedingter Vorsatz genügt. Siehe jedoch Abs. 5. 2. Abs. 2 wendet sich gegen den Hersteller und Lieferanten der in Abs. 1 geschützten Wehrmittel, Anlagen und Einrichtungen sowie der dafür bestimmten Werkstoffe. Hier ist hinsichtlich der in Abs. 1 als Tatfolge bezeichneten Gefahr der bestimmte Vorsatz erforderlich. Siehe jedoch Abs. 5. 3. Der Versuch ist sowohl bei Abs. 1 als auch bei Abs. 2 strafbar. 4. Wegen Nebenfolgen siehe §§ 109 i, k. 5. Tateinheit ist möglich mit §§ 242, 246. Gegenüber§ 315 und § 316 b g e h t § 109 e vor. 6. Prozessual beachte §§ 153 d, 153 e StPO (Absehen von Strafe) sowie §§ 74 a Abs. 1 Nr. 3, 120 Abs. 2, 142aGVG (Zuständigkeit). 7. Bei Auslandstaten beachte § 5 Nr. 5 a. 442
Fünfter Abschnitt: Straftaten gegen die Landesverteidigung § 109 i
§ 109f
Sicherheitsgefährdender Nachrichtendienst
(1) Wer für eine Dienststelle, eine Partei oder eine andere Vereinigung außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes, für eine verbotene Vereinigung oder für einen ihrer Mittelsmänner 1. Nachrichten über Angelegenheiten der Landesverteidigung sammelt, 2. einen Nachrichtendienst betreibt, der Angelegenheiten der Landesverteidigung zum Gegenstand hat, oder 3. für eine dieser Tätigkeiten anwirbt oder sie unterstützt und dadurch Bestrebungen dient, die gegen die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder die Schlagkraft der Truppe gerichtet sind, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren öder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist. Ausgenommen ist eine zur Unterrichtung der Öffentlichkeit im Rahmen der üblichen Presse- oder Funkberichterstattung ausgeübte Tätigkeit. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Die auf das 8. StrRÄndG zurückgehende, durch das EGStGB nur redaktionell geänderte Vorschrift liegt im Vorfeld des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit. Geschützt sind die Aufgaben und Interessen der Landesverteidigung, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Angelegenheit geheimhaltungsbedürftig ist und ob ihre Kenntnis der fremden Dienststelle usw., für die der Täter tätig wird, nützt (BGH 15, 161). Es ist auch nicht erforderlich, daß die Angelegenheit der Landesverteidigung, auf die sich der Nachrichtendienst usw. bezieht, z. B. eine strategisch wichtige Straße oder ein Marine- oder Luftstützpunkt, sich im räumlichen Geltungsbereich des StGB befindet. 2. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich, wobei bedingter Vorsatz genügt. Der Täter muß insbesondere wissen (oder billigend in Kauf nehmen), daß die von ihm gesammelten Nachrichten usw. für eine ausländische Dienststelle, Partei usw. bestimmt sind und daß er sich durch seine Tätigkeit in den Dienst von Bestrebungen stellt, die der Sicherheit des Landes oder der Schlagkraft der Truppe schaden könnten. Eine darüber hinausgehende staatsgefährdende Absicht ist nicht erforderlich. 3. Das Presseprivileg des Abs. 1 Satz 2 schließt bereits den Tatbestand aus, ist also nicht nur ein Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgrund. Als nicht üblich dürfte eine Berichterstattung dann zu gelten haben, wenn sie sich in Detailschilderungen verliert, an deren Kenntnisnahme das breite Publikum kein Interesse hat. In einem solchen Fall besteht zum mindesten der dringende Verdacht, daß mit solchen Schilderungen ein ausländischer Nachrichtendienst bedient werden soll. 4. Zu beachten ist die Subsidiaritätsklausel. § 109 f ist insbesondere subsidiär hinter §§ 94-96,98,99. Tateinheit ist dagegen möglich mit § 109 g (Dreher 4). 5. Nebenfolgen siehe §§ 109 i, k. 6. Prozessual beachte §§ 153 c-e StPO (Absehen von Strafe) sowie §§ 74 a Abs. 1 Nr. 3, 120 Abs. 2,142 a GVG (Zuständigkeit). 443
§ 109 g
Fünfter Abschnitt: Straftaten gegen die Landesverteidigung
§ 109 g Sicherheitsgefährdendes Abbilden (1) Wer von einem Wehmlittel, einer militärischen Einrichtung oder Anlage oder einem militärischen Vorgang eine Abbildung oder Beschreibung anfertigt oder eine solche Abbildung oder Beschreibung an einen anderen gelangen läßt und dadurch wissentlich die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder die Schlagkraft der Truppe gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Wer von einem Luftfahrzeug aus eine Lichtbildaufnahme von einem Gebiet oder Gegenstand im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes anfertigt oder eine solche Aufnahme oder eine danach hergestellte Abbildung an einen anderen gelangen läßt und dadurch wissentlich die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder die Schlagkraft der Truppe gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in Absatz 1 mit Strafe bedroht ist. (3) Der Versuch ist strafbar. (4) Wer in den Fällen des Absatzes 1 die Abbildung oder Beschreibung an einen anderen gelangen läßt und dadurch die Gefahr nicht wissentlich, aber vorsätzlich oder leichtfertig herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Die Tat ist jedoch nicht strafbar, wenn der Täter mit Erlaubnis der zuständigen Dienststelle gehandelt hat. 1. Die Tatobjekte sind die gleichen wie bei der Wehnnittelsabotage in § 109 e. Auch der Zweck der Vorschrift ist derselbe: Es soll verhindert werden, daß die Sicherheit des Landes oder die Schlagkraft der Truppe gefährdet werden. 2. Subjektiv ist in Abs. 1 und Abs. 2 Vorsatz erforderlich, wobei bedingter Vorsatz nicht genügt. Siehe jedoch Abs. 4, der dem § 109 e Abs. 5 entspricht. 3. Die in Abs. 4 genannte Erlaubnis der zuständigen Behörde ist ein Strafausschließungsgrund, auf den sich der Vorsatz nicht erstrecken muß (vgl. Lackner 3 m. Nachw.). 4. Tateinheit ist insbesondere möglich mit §§ 98, 99, 109 f., außerdem mit § 99 (BGH NJW 1977, 1300; Str.). Zu beachten ist ferner das LuftverkehrsG, wonach außerhalb des Fluglinienverkehrs Luftbilder nur mit behördlicher Erlaubnis gefertigt und in Verkehr gebracht werden dürfen. Verstöße hiergegen werden als Ordnungswidrigkeiten mit Geldbuße geahndet (vgl. § 61 aaO.). Gegenüber §§ 94-96 ist § 109 g subsidiär. 5. Beachte §§ 5 Nr. 5 a (Auslandstaten), 109 k (Einziehung), 153 c-153 d StPO (Absehen von Strafe) und § 74 a Abs. 1 Nr. 3, 120 Abs. 2, 142 a GVG (Zuständigkeit).
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Fünfter Abschnitt: Straftaten gegen die Landesverteidigung
§ 109 h
§§ 109h-k
Anwerben für fremden Wehrdienst
(1) Wer zugunsten einer ausländischen Macht einen Deutschen zum Wehrdienst in einer militärischen oder militärähnlichen Einrichtung anwirbt oder ihren Werbern oder dem Wehrdienst einer solchen Einrichtung zuführt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift dient vor allem der Erhaltung der deutschen Wehrkraft.
2. Bei Auslandstaten siehe § 5 Nr. 5b. 3. IdK. ist möglich mit §§ 144, 234. Ergänzend beachte §§ 23, 46 AuswandG idF des EGStGB (BGBl. 1974 I, S. 556).
§ 109 i
Nebenfolgen
Neben einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer Straftat nach den §§ 109 e und 109 f kann das Gericht die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, und das Recht, in öffentlichen Angelegenheiten zu wählen oder zu stimmen, aberkennen (§ 45 Abs. 2,5). Die Vorschrift entspricht der in § 92 a für die Tatbestände des 1. Abschnitts getroffenen Regelung. Ihre derzeitige Fassung geht auf das EGStGB zurück.
§ 109 k
Einziehung
Ist eine Straftat nach den §§ 109 d bis 109 g begangen worden, so können 1. Gegenstände, die durch die Tat hervorgebracht oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind, und 2. Abbildungen, Beschreibungen und Aufnahmen, auf die sich eine Straftat nach § 109 g bezieht, eingezogen werden. § 74 a ist anzuwenden. Gegenstände der in Satz 1 Nr. 2 bezeichneten Art werden auch ohne die Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 eingezogen, wenn das Interesse der Landesverteidigung es erfordert; dies gilt auch dann, wenn der Täter ohne Schuld gehandelt hat. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift entspricht der in § 92 b für die Tatbestände des 1. Abschnitts getroffenen Regelung.
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Sechster Abschnitt: Widerstand gegen die Staatsgewalt (§§ 111-121) Vorbemerkungen L Die Widerstandsdelikte wurden durch das 3. StrRG vom 20. 5. 1970 (BGBl. I 505) grundlegend umgestaltet. Im Vordergrund der Reform stand das Bemühen, das noch aus dem Jahr 1871 stammende sog. Demonstiationsstratrecht, das durch die Unruhen der vorausgegangenen Jahre aus seinem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf gerissen wurde und zunehmend öffentlicher Kritik ausgesetzt war, zu „demokratisieren" und so zu gestalten, daß „friedliches Demonstrieren kein Risiko mehr darstellt" (Abg. de With in der BTSitzung vom 18. 3. 1970, S. 1947 des stenographischen Berichts). Andererseits mußte der Schutz der Allgemeinheit vor Ausschreitungen im Zusammenhang mit Demonstrationen nach wie vor gewährleistet bleiben. Nach monatelangen Beratungen der parlamentarischen Gremien hat der BT-Sonderausschuß für die Strafrechtsreform eine Lösung gefunden, die nach Ansicht seines Berichterstatters de With (aaO. S. 1947) „verfassungskonform und auf der Höhe unserer Zeit" ist und vom Bundestag in seiner Sitzung vom 18. 3. 1970 gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion verabschiedet wurde. Die früheren Vorschriften über Aufruhr (§ 115) und Landfriedensbruch (§ 125) wurden in den §§ 125, 125 a neu zusammengefaßt und so gestaltet, daß sich nur noch die eigentlichen Gewalttäter, ihre Teilnehmer und ihre Hintermänner strafbar machen. Der frühere in § 116 als Vergehen strafbare sog. Auflauf wurde durch Art. 2 des 3. StrRG zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft und durch das EGStGB als § 113 in das OWiG aufgenommen (abgedruckt in Anhang 2); die §§ 23, 29 Abs. 4 des Versammlungsgesetzes wurden ersatzlos gestrichen. 2. Die übrigen Vorschriften des 3. StrRG betrafen im wesentlichen wettere Tatbestände des 6. Abschnitts des Strafgesetzbuchs. a) § 110 (öffentliche Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze, Verordnungen usw.) wurde als „Relikt obrigkeitlichen Denkens" (vgl. Bericht des Sonderausschusses, S. 2 der BT-Drucksache VI/502) ersatzlos gestrichen. Zur Begründung wurde u. a. darauf hingewiesen, daß alle wirklich strafwürdigen Fälle durch § 111 erfaßt werden könnten und außerdem sowohl das Zivilrecht als auch das öffentliche Recht, vor allem das Polizeirecht und das Disziplinarrecht der öffentlichen Lehranstalten, ausreichend Möglichkeiten zu Gegenmaßnahmen bieten würden. b) § 111 blieb in geänderter Form erhalten (inzwischen durch das EGStGB und das 14. StrRÄndG erneut geändert). c) In § 113 wurde Abs. 1 redaktionell geändert, in Abs. 2 wurde eine Strafdrohung für besonders schwere Fälle aufgenommen, in Abs. 3 wurde klargestellt, daß der Widerstand gegen eine nicht rechtmäßige Amtshandlung auch dann nicht strafbar ist, wenn der Täter sie irrig für rechtmäßig hält, während umgekehrt Abs. 4 die Möglichkeit bietet, bei einem Täter, der schuldhaft annimmt, die objektiv rechtmäßige Amtshandlung sei rechtswidrig, die Strafe zu mildem oder ganz von Strafe abzusehen. Der schuldlos irrende Täter, dem auch nicht zuzumuten ist, sich mit Rechtsmitteln gegen die vermeintlich rechtswidrige Amtshandlung zu wehren, bleibt immer straflos.
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Sechster Abschnitt: Widerstand gegen die Staatsgewalt
§ 111
d) § 114 aF (Beamtennötigung) wurde ersatzlos gestrichen. Die früher unter die Vorschrift fallenden Nötigungen werden jetzt durch den allgemeinen Tatbestand des § 240 erfaßt. e) § 114 nF erweitert den Anwendungsbereich des § 113 auf Personen, die zwar keine Amtsträger sind, dessen ungeachtet jedoch hoheitsrechtliche Aufgaben erfüllen oder zur Unterstützung bei Vollstreckungshandlungen herangezogen werden und deshalb gesteigerten Gefahren ausgesetzt sind. Die Vorschrift bildet einen gewissen Ersatz dafür, daß der früher in § 117 enthaltene Tatbestand des Forstwiderstands aufgehoben wurde. f) Uber die Aufhebung der §§115,116 (Aufruhr und Auflauf) s. o. Vorbem. 1. g) Die Strafvorschriften über den Forstwiderstand (§§ 117, 118) wurden aufgehoben. Die im Interesse des Forst- und Jagdschutzes tätigen Personen sind hierdurch jedoch nicht schutzlos den Angriffen der Wilderer preisgegeben. Soweit es sich um Beamte handelt, fallen Widerstandshandlungen gegen Vollstreckungsmaßnahmen sowie tätliche Angriffe unter § 113; soweit der Forst- und Jagdschutz durch Privatpersonen versehen wird, kann Abs. 1 des neuen § 114 eingreifen. 3. Aus dem Schrifttum zu den vorausgegangenen Entwürfen sind folgende Veröffentlichungen hervorzuheben: Müller-Emmert ZRP 1970, 1; Eb. Schmidt ZStW Bd. 82, 1; Baumann und Frosch JZ 1970, 113 (zum SPD/FDP-Entwurf) sowie Frosch ZRP 1970, 53 und Baumann ZRP 1970, 56 (zum CDU/CSU-Entwurf). Zum Ganzen siehe auch Blei JA 1969, StR S. 65, 85, 207; 1970 StR S. 83; ferner Tiedemann JZ 1969, 717 sowie Strafrechtspolitik und Dogmatik in den Entwürfen zu einem dritten Strafrechtsreformgesetz, 1970. Zum 3. StrRG selbst siehe vor allem Dreher NJW 1970,1153.
§ 110
[Aufgehoben durch das 3. StrRG, s. o. Vorbem. 2]
§ 111
öffentliche Aufforderung zu Straftaten
(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) zu einer rechtswidrigen Tat auffordert, wird wie ein Anstifter (§ 26) bestraft. (2) Bleibt die Aufforderung ohne Erfolg, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Die Strafe darf nicht schwerer sein als die, die für den Fall angedroht ist, daß die Aufforderung Erfolg hat (Absatz 1); § 49 Abs. 1 Nr. 2 ist anzuwenden. 1. Anliegen der zuletzt durch das 14. StrRÄndG neu gefaßten Vorschrift ist es, drohenden Eskalationen möglichst frühzeitig mit den Mitteln des Strafrechts begegnen zu können. Von der Anstiftung unterscheidet sich § 111 dadurch, daß die Aufforderung nicht gegenüber einer bestimmten Person erfolgt, sondern öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften usw. Erfaßt werden soll vor allem derjenige, der in Krisenzeiten vor Demonstrationen und ähnlichen Aktionen die Menge „aufheizt" und hierdurch rational nicht mehr kontrollierbare Instinkte weckt. - Schrifttum: Dreher, Der 447
§ 111
Sechster Abschnitt: Widerstand gegen die Staatsgewalt
Paragraph mit dem Januskopf, Gallas-Festschrift, 1973, S. 307. Uber Gesetzesmaterialien und Schrifttum zum 14. StrRÄndG siehe § 88 a Anm. 1. 2. Öffentlich ist die Aufforderung, wenn sie von einem größeren, nach Herkunft und Zahl unbestimmten Personenkreis wahrgenommen werden kann, z.B. im Rahmen einer öffentlichen Diskussion, bei einer Wahlversammlung oder bei einem sog. Teach-in, aber auch bei einer laut geführten Unterhaltung in einem Gasthaus oder in einer Schule sowie auf offener Straße. Öffentlichkeit des Orts ist nicht erforderlich, in der Regel aber ausreichend (vgl. R G 63,431; 73, 90; Dreher 5). 3. Über Versammlung siehe § 80 a Anm. 2 b sowie Frohwein NJW 1969, 1081. 4. Uber das Verbreiten von Schriften usw. siehe § 11 Abs. 3 nebst Anm. XI. Zu den Schriften gehören vor allem auch Flugblätter. Eine Schrift ist verbreitet, wenn sie einem größeren, für den Täter nicht mehr kontrollierbaren Personenkreis zugänglich gemacht worden ist ( B G H 13, 257). Z u m Ganzen siehe auch § 74 d Anm. 1 b. 5. Aufforderung ist jede Einwirkung auf andere mit dem Ziel, diese zur Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung zu veranlassen. Dies kann auch in verklausulierter, für jeden Eingeweihten jedoch eindeutig verständlicher Form erfolgen, wie dies in letzter Zeit verschiedentlich in sog. Aufheizflugblättern geschehen ist (vgl. Bericht des Berliner Polizeipräsidenten Hübner vor dem Strafrechts-Sonderausschuß, S. 39 des Protokolls vom 12. 1. 1970). Im Unterschied zur Anstiftung ist nicht erforderlich, daß sich die Aufforderung an eine bestimmte Person oder Personengruppe richtet. Entscheidend ist allein, daß sie öffentlich, in einer Versammlung usw. erfolgt (s. o. Anm. 1-4). Wird die Aufforderung von dem Adressaten nicht verstanden, wird sie von ihm nicht befolgt oder bleibt sie aus einem sonstigen Grund ohne Erfolg, so ergibt sich die Strafbarkeit aus Abs. 2. 6. Durch die Formulierung rechtswidrige Tat (Fassung der EGStGB) wird klargestellt, daß die Tat, zu der aufgefordert wird, nicht schuldhaft begangen sein muß. Es genügt vielmehr eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Tat, deren rechtliches Wesen als Brandstiftung, Mord usw. für den Eingeweihten eindeutig verständlich und bestimmbar ist, ohne daß sie andererseits bereits in ihren Einzelheiten konkretisiert sein muß. So genügt es z. B., wenn eine Menschenmenge durch Flugblätter ohne nähere Bezeichnung von Zeit, Ort und Objekt aufgefordert wird, die Kaufhäuser anzuzünden und die Banken zu plündern (vgl. R G 65, 202; Dreher 4; Lackner 3). Die öffentliche Aufforderung zu einer Ordnungswidrigkeit wird von § 116 OWiG erfaßt (vgl. Anhang 2). 7. D e r subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz ausreicht. Nicht erforderlich ist, daß der Täter die Begehung der Tat, zu der er auffordert, tatsächlich will; es genügt, wenn er billigend in Kauf nimmt, daß seine Aufforderung ernst genommen wird (vgl. Dreher 8). Ein Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Tat, zu der aufgefordert wird, berührt nicht den Vorsatz, sondern lediglich das Unrechtsbewußtsein (Verbotsirrtum, vgl. Braunschweig NJW 1953, 714; Dreher 8 sowie in Gallas-Festschr. S. 307, 327; Lackner 4; a. A. E s e r i n Schönke-Schröder 16). 8. Die in Abs. 2 getroffene Sonderregelung für die erfolglose Aufforderung ist vergleichbar mit der in § 30 getroffenen Regelung für die versuchte Anstiftung. Abweichend von
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Sechster Abschnitt: Widerstand gegen die Staatsgewalt
§ 113
§ 30 bleibt die Tat aber seit der Neufassung der Vorschrift durch das 14. StrRÄndG auch dann ein Vergehen, wenn sich die Aufforderung auf ein Verbrechen bezieht. Durch die Ermäßigung des Strafrahmens soll den Organen der Strafrechtspflege die Anwendung der Vorschrift erleichtert und dieser damit größere Wirksamkeit verschafft werden (vgl. Stree NJW 1976,1177, 1179 m. Nachw.jzw.). 9. IdK. ist möglich mit §§ 80 a, 89, 125, 130. Gegenüber der Anstiftung des § 26 ist § 1 1 1 subsidiär (h. L.: für Tateinheit jedoch neuerdings Dreher aaO. 324 unter Aufgabe der noch in NJW 1970,1156 vertretenen Ansicht).
§ 112
[aufgehoben durch das 3. StrRG, s. Vorbem. 2]
§ 113 Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (1) Wer einem Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr, der zur Vollstrekkung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen ist, bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt Widerstand leistet oder ihn dabei tätlich angreift, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn 1. der Täter oder ein anderer Beteiligter eine Waffe bei sich führt, um diese bei der Tat zu verwenden, oder 2. der Täter durch eine Gewalttätigkeit den Angegriffenen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Körperverletzung (§ 224) bringt. (3) Die Tat ist nicht nach dieser Vorschrift strafbar, wenn die Diensthandlung nicht rechtmäßig ist. Dies gilt auch dann, wenn der Täter irrig annimmt, die Diensthandlung sei rechtmäßig. (4) Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig an, die Diensthandlung sei nicht rechtmäßig, und konnte er den Irrtum vermeiden, so kann das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder bei geringer Schuld von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen. Konnte der Täter den Irrtum nicht vermeiden und war ihm nach den ihm bekannten Umständen auch nicht zuzumuten, sich mit Rechtsbehelfen gegen die vermeintlich rechtswidrige Diensthandlung zu wehren, so ist die Tat nicht nach dieser Vorschrift strafbar; war ihm dies zuzumuten, so kann das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen. 15
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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Sechster Abschnitt: Widerstand gegen die Staatsgewalt
I. Die zuletzt durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift enthält einen Sondertatbestand der Nötigung und unterscheidet sich von dieser zunächst dadurch, daß zur Beurteilung der Rechtswidrigkeit ein Rückgriff auf § 240 Abs. 2 nicht erforderlich ist: Widerstand gegen eine rechtmäßige Vollstreckungshandlung ist schlechthin rechtswidrig, ohne daß es besonderer Umstände bedarf. Andererseits wird bei einem Widerstand gemäß § 113 der Täter dadurch privilegiert, daß § 113 gegenüber der allgemeinen Regelung des § 240 den niedrigeren Grundstrafrahmen sowie in Abs. 4 eine täterfreundlichere Irrtumsregelung enthält (beides gerechtfertigt durch die besondere psychische Ausnahmesituation, in der sich der durch eine Vollstreckungshandlung Betroffene befindet). - Schrifttum: Clauß, Der spezifisch strafrechtliche Begriff der Rechtmäßigkeit der Amtshandlung in § 113 Abs. 3 StGB, Diss. Tübingen 1973; - Rostek, Der unkritische Befehlsempfänger, NJW 1975, 862; - Thiele, Die Rechtmäßigkeit von Vollstreckungshandlungen, Diss. Köln 1974; - ders., Zum Rechtmäßigkeitsbegriff bei § 113 Abs. 3 StGB, JR 1975, 353; weitere Nachweise im Text. 1. Der durch das Fehlen einer dem § 240 Abs. 2 entsprechenden Regelung begründete erhöhte strafrechtliche Schutz der Vorschrift beschränkt sich auf zivile und militärische Vollstreckungsbeamte. Der besondere Schutz von Personen, die zu ihrer Unterstützung zugezogen werden sowie solcher Privatpersonen, deren sich der Staat sonst zur Erfüllung seiner Aufgaben bedient, wird durch die Neufassung des § 114 gewährleistet. Die Pläne der CDU/CSU-Fraktion, den erhöhten strafrechtlichen Schutz allgemein auf Behörden, Beamte und Soldaten auszudehnen, und zwar auch hinsichtlich solcher Amts- und Diensthandlungen, die sich nicht als typische Vollstreckungs- und Vollzugshandlungen darstellen, fanden keine Mehrheit. 2. Der Begriff Amtsträger (Fassung des EGStGB in Anlehnung an § 11 Abs. 1 Nr. 2) stellt klar, daß nicht nur Beamte im staatsrechtlichen Sinn, die ihnen beamtenrechtlich gleichgestellten Richter sowie Angestellte des öffentlichen Dienstes zu dem geschützten Personenkreis gehören. Geschützt sind vielmehr alle Personen, die dazu bestellt sind, bei einer Behörde, bei einer sonstigen Stelle oder in deren Auftrag Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 2 c). In Betracht kommen insbesondere Polizei- und Zollbeamte, Gerichtsvollzieher, Feldhüter, Vollstreckungsbeamte der Finanz-, Post- und Bahnverwaltung (vgl. Hamm JMB1NRW 1960, 192; Stgt VM 1973 Nr. 92) sowie der gesetzlichen Versicherungsanstalten (Ffm NJW 1972, 268), aber auch Richter in Ausübung der Sitzungspolizei (RG 15, 227). 3. Der Begriff Diensthandlung umfaßt alle Handlungen, die ein Amtsträger (s. o. 2) oder Soldat (s. u. 4) zur Erfüllung von Aufgaben des öffentlichen Dienstes wahrnimmt. Dem besonderen Schutz der Vorschrift unterliegen allerdings nur, wie die amtliche Überschrift klarstellt, typische Vollstreckungshandlungen (s. o. 1). Hierher gehören nur solche Handlungen, die auch gegen den Willen des durch sie Betroffenen erzwungen werden können, z. B. Beschlagnahmen, Durchsuchungen, die Entnahme von Blutproben und Pfändungen, nicht dagegen die polizeiliche Vernehmung von Beschuldigten und Zeugen (BayObLG NJW 1962, 2072 = JR 1963, 68 m. zust. Anm. Dünnebier) und sonstige Ermittlungstätigkeiten, z. B. die Durchführung einer Dirnenkontrolle (vgl. Zweibrücken NJW 1966, 1086) oder die Überprüfung der Bereifung eines geparkten Pkw (Ffm NJW 1973, 1806). Auch die Dienstfahrt eines Polizeistreifenwagens ist für sich allein keine Vollstreckungshandlung (Hamm JMB1NRW 1965,44), wohl aber
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das anläßlich einer Verkehrskontrolle gegebene Stoppzeichen (BGH 25, 313 m. Anm. Ehlen und Meurer NJW 1974, 1254 sowie Krause JR 1975, 118; Celle NJW 1973, 2215; Dreher 4 m. weit. Nachw.), die Entfernung einer Minderjährigen aus einer Gaststätte oder das Einschreiten gegen einen offensichtlich angetrunkenen Kraftfahrer (vgl. Ffm NJW 1974, 572), ferner die gewaltsame Entfernung einer Person aus der Polizeiwache oder aus einem Wartesaal zur Verhinderung der Fortsetzung eines Hausfriedensbruchs (BayObLG JR 1957,148; Hamm NJW 1974,1831; Dreher 9). 4. Soldaten der Bundeswehr genießen den erhöhten strafrechtlichen Schutz ebenfalls nur, soweit sie zu Vollstreckungshandlungen berufen sind. In Betracht kommen vor allem Feldjäger und militärische Wachen zur Sicherung militärischer Anlagen. Soldaten der in der Bundesrepublik stationierten Truppen der nichtdeutschen NATO-Vertragsstaaten sind nach Art. 7 II Nr. 5 des 4. StrRÄndG den deutschen Soldaten gleichgestellt. Wird die Widerstandshandlung nicht von einem Zivilisten, sondern einem Soldaten begangen, so gehen die spezielleren §§ 24, 25 WStG dem § 113 vor (vgl. Dreher 7, 8 m. weit. Nachw.). 5. Über den erhöhten strafrechtlichen Schutz nichtbeamteter Hilfspersonen siehe § 114. II. Die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung ist, wie sich aus der speziellen Irrtumsregelung in Abs. 2 S. 2 und Abs. 4 ergibt, kein Tatbestandsmerkmal, sondern eine Voraussetzung der Rechtswidrigkeit, auf die sich der Vorsatz des Täters nicht beziehen muß (vgl. KG NJW 1972, 781 f.; Dreher 10, 13; NJW 1970, 1153, 1158; Heimann-Trosien LK 33 ff.; Lackner 7, 8; Maurach-Zipf AT I 554). Insoweit hat sich an der früheren Rechtslage (siehe hierzu vor allem BGH 4,161 ff.; 21,334, 364 f.) nichts geändert. Auch die sachlichen Voraussetzungen, unter denen eine Diensthandlung rechtmäßig ist, sind die gleichen geblieben (vgl. Dreher NJW 1970, 1153, 1158). Insbesondere wäre es verfehlt, nur nichtige Vollstreckungshandlungen als nicht rechtmäßig zu behandeln (vgl. Günther, NJW 1973, 309). Nach dem für die Auslegung des § 113 maßgeblichen strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff ist eine Vollstreckungshandlung rechtmäßig, wenn der Amtsträger sie im Rahmen seiner Zuständigkeit vornimmt, die wesentlichen Förmlichkeiten beachtet und das ihm eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausübt (KG NJW 1975, 887 betr. Rechtmäßigkeit einer polizeilichen Razzia, bei der auch die Personalien von Nichtverdächtigen und Nichtstörern festgestellt wurden). Im einzelnen: 1. Zu den wesentlichen Voraussetzungen einer rechtmäßigen Diensthandlung gehören: a) die örtliche Zuständigkeit (BGH 4, 110; Hamm NJW 1954, 206; Dreher 12). So hat z. B. die Bahnpolizei polizeiliche Befugnisse nur auf dem Bahngebiet (vgl. BGH aaO. 112). Zum Bahngebiet gehören auch die Ladestraßen eines Güterbahnhofs, der Bahnhofsvorplatz jedoch nur dann, wenn auf ihm ein Verladebetrieb der Bundesbahn stattfindet (Stgt VM 1973 Nr. 92). Andererseits ist die polizeiliche Aufgabe, Verbrechen zu verhüten, allgemeiner Art. Ein Polizeibeamter handelt daher auch dann rechtmäßig, wenn er außerhalb seines eigentlichen Amtsbezirks gegen eine strafbare Handlung einschreitet. Über die Landesgrenzen hinaus darf er jedoch nur unter den Voraussetzungen des § 167 GVG einschreiten, d. h. wenn es darum geht, die Verfolgung eines Flüchtigen auf das Gebiet eines anderen Bundeslandes fortzusetzen und den Flüchtigen dort zu ergreifen. Weitere Ausnahmen können nur durch Landesgesetze oder Staatsverträge zwischen den einzelnen Bundesländern geschaffen werden (Hamm aaO.); 15'
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b) die sachliche Zuständigkeit, d. h. die Diensthandlung muB in den Kreis der Amtsgeschäfte des Beamten gehören. Diese Voraussetzungen fehlen z. B. bei einem Polizeibeamten, der sich in rein privatrechtliche Auseinandersetzungen einmischt, ebenso bei einem Richter, der selbst einmal eine Pfändung vornehmen möchte. Andererseits wird die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung nicht dadurch beeinträchtigt, daß der Beamte gerade nicht im Dienst ist und daher auch keine Dienstkleidung trägt (vgl. BGH 4, 110, 111; Neustadt JR 1959,28); c) die Beachtung der wesentlichen Förmlichkeiten, z. B. die Einhaltung von § 759 ZPO, wonach der Gerichtsvollzieher, wenn er auf Widerstand trifft oder weder den Schuldner noch ein Familienmitglied vorfindet, zwei erwachsene Personen oder einen Gemeindeoder Polizeibeamten als Zeugen hinzuzuziehen hat (vgl. BGH 5, 93); oder: das Vorzeigen des Haftbefehls gem. § 909 S. 2 ZPO bei Verhaftung des Schuldners zur Erzwingung einer eidesstattl. Versicherung (Ddf JMB1NRW 1965, 271); oder: Die Zuziehung von Zeugen zur Zwangsvollstreckung, wenn nicht die Gefahr besteht, daß der Schuldner bis zum Eintreffen der Zeugen den Erfolg der Pfändung vereiteln wird (Hbg JR 1955, 272). Entsprechendes gilt für die Zuziehung von Zeugen bei einer Durchsuchung im strafrechtl. Ermittlungsverfahren (Stgt NJW 1971, 629); d) pflichtgemäße Ausübung des Ermessens, wenn die Diensthandlung in das Ermessen des Beamten gestellt ist. So ist die Anordnung einer Blutentnahme auch dann rechtmäßig, wenn sich nachher ergibt, daß der Alkoholgehalt nur unwesentlich war, der durch die Anordnung betroffene Kraftfahrer aber durch seine Fahrweise, durch sein Auftreten oder auf sonstige Weise den Verdacht einer stärkeren Alkoholeinwirkung hat aufkommen lassen. Entscheidend ist allein, ob der Amtsträger im Bewußtsein seiner Verantwortung und unter bestmöglicher pflichtgemäßer Abwägung aller ihm erkennbarer Umstände die Handlung für nötig und sachlich gerechtfertigt halten durfte (BGH VRS 1970, 115; siehe auch Bremen NJW 1977, 158 m. krit. Anm. Thomas NJW 1977, 1072 betr. Festnahme eines Demonstranten, bei dem der Verdacht bestand, daß er bei einem Polizeieinsatz Polizeibeamte ohne deren nach § 22 KunstUrhG erforderliche Zustimmung fotografieren wollte). Hieraus folgt: Irrt sich der Amtsträger über die tatsächlichen Voraussetzungen seines Einschreitens, z. B. nimmt er infolge einer Personenverwechslung oder eines sich später nicht bestätigenden Tatverdachts einen Unschuldigen fest, so wird die Diensthandlung hierdurch grundsätzlich nicht rechtswidrig. Anders nur dann, wenn der Amtsträger sein pflichtgemäßes Ermessen überschreitet, z. B. wenn er eine Person festnimmt, die ein einwandfreies Alibi nachweisen kann und für jeden vernünftigen Betrachter als Täter ausscheiden muß. Liegt dagegen ein Rechtsirrtum vor, d. h. irrt sich der Amtsträger über die rechtlichen Voraussetzungen seiner Amtsbefugnisse, so kann ein solcher Irrtum die fragliche Handlung niemals zu einer rechtmäßigen machen; sie ist vielmehr rechtswidrig, und ein Widerstand gegen sie ist nicht nach § 113 strafbar, sondern wird im allgemeinen durch Notwehr gerechtfertigt (Hamm BA 1964, 558 betr. Widerstand gegen eine dem § 81 a StPO nicht entsprechende Blutentnahme durch einen Medizinalassistenten). e) Führt ein Amtsträger eine für ihn bindende Weisung aus, die der materiellen Rechtslage nicht entspricht, so handelt der Amtsträger stets rechtmäßig, wenn er einen von dem örtlich und sachlich zuständigen Vorgesetzten erteilten, nicht offensichtlich rechtswidrigen Befehl im Vertrauen auf seine Rechtmäßigkeit in gesetzlicher Form vollzieht (KG NJW 1972, 781; Krhe NJW 1974, 2142 m. Anm. Wagner JuS 1975, 224, jeweils m. weit. Nachw.). Im übrigen gelten die unter a) bis d) entwickelten Grundsätze, d. h. die Rechtmäßigkeit der Vollzugshandlung wird nicht dadurch berührt, daß der ihr zugrunde452
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liegende Auftrag (z. B. Haftbefehl, Vorführungsbefehl, Beschlagnahmebeschluß, Pfändungsbefehl) von falschen Voraussetzungen ausging. Wenn z. B. A auf Grund eines Haftbefehls zur Festnahme ausgeschrieben ist, so ist seine Festnahme auch dann rechtmäßig, wenn A unschuldig ist. Der Polizeibeamte, der mit der Festnahme beauftragt wird, ist grundsätzlich weder berechtigt noch verpflichtet, die Rechtmäßigkeit des Haftbefehls zu prüfen. Sollte A allerdings behaupten, der Haftbefehl sei inzwischen aufgehoben worden, so wäre der Polizeibeamte verpflichtet (unbeschadet der Pflicht, den Festgenommenen unverzüglich dem nächsten Amtsrichter vorzuführen), sich so schnell wie möglich (fernschriftlich oder fernmündlich) über die tatsächlichen Verhältnisse zu erkundigen. Noch eindeutiger liegt der Fall, wenn A durch Vorlage einer beglaubigten Abschrift des entsprechenden Gerichtsbeschlusses nachweisen kann, daß der Haftbefehl aufgehoben ist. Hier wäre die Festnahme auf Grund der Ausschreibung eine rechtswidrige Amtshandlung (es sei denn, daß der Verdacht der Fälschung besteht). Grundsätzlich anders ist die Rechtslage, wenn die Weisung nicht nur auf einer Verkennung der Sachlage beruht, sondern bereits formell rechtswidrig ist, insbesondere wenn sie von einer unzuständigen Stelle erlassen ist und die wesentlichen Förmlichkeiten nicht beachtet wurden (siehe oben a bis c). Beispiel: Der Polizeibeamte P erhält von seinem Vorgesetzten den Auftrag, die Wohnung des X zur Nachtzeit zu durchsuchen, obwohl die Voraussetzungen des § 104 StPO offensichtlich nicht vorliegen. Hier ist die Durchsuchung ungeachtet der für P vermeintlich bindenden Wirkung des Auftrags rechtswidrig. Hieraus folgt: Setzt X sich gegen die Durchsuchung zur Wehr, so handelt er nicht rechtswidrig. Eine andere Frage ist, ob P sich seinerseits eines Hausfriedensbruchs schuldig gemacht hat. Hierzu ist folgendes zu sagen: P hat zwar tatbestandsmäßig gehandelt; sein Verhalten ist auch rechtswidrig. Eine Schuld trifft ihn aber nur dann, wenn er die Rechtswidrigkeit seines Auftrags und damit seiner eigenen Tat entweder erkannt hat oder hätte erkennen können. Siehe hierzu auch die für den militärischen Bereich geltende Sondervorschrift des § 5 WStG. 2. Gegen eine rechtswidrige Vollstreckungshandlung gibt es keinen nach § 113 strafbaren Widerstand (vgl. Abs. 3 S. 1). Die Formulierung „nach dieser Vorschrift" in Abs. 3 S. 1 weist jedoch darauf hin, daß der Widerstand nach anderen Vorschriften (in Betracht kommen vor allem die §§ 223 ff.) auch bei Rechtswidrigkeit der Vollstreckungshandlung strafbar sein kann. Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen der Täter die Rechtswidrigkeit der Vollstreckungshandlung nicht erkannt hat, ihm also der Wille fehlte, sich gegen Unrecht zu wehren. Auch der (dogmatisch an sich entbehrliche) Hinweis in Abs. 3 S. 2 will nur die Strafbarkeit nach § 113, nicht aber auch die Strafbarkeit nach anderen Vorschriften ausschließen. Werden durch die Widerstandshandlung andere Tatbestände verwirklicht (z. B. §§ 223 ff.), so kann sich der Täter nur dann auf Notwehr berufen, wenn er die Rechtswidrigkeit der Vollstreckungshandlung erkannt hat und ihm nicht zuzumuten war, sich durch die Einlegung von Rechtsmitteln oder Rechtsbehelfen gegen die Vollstreckungshandlung zu wehren (vgl. Dreher 17 sowie NJW 1970, 1153, 1159 unter Hinweis auf die in Abs. 4 S. 2 getroffene Regelung). Keinesfalls aber darf der Täter bei der Abwehr über das erforderliche Maß der Verteidigung hinausgehen. III. Die Tathandlung besteht entweder im Leisten von Widerstand oder in einem tätlichen Angriff. 1. Widerstand ist jede gegen den Amtsträger gerichtete Tätigkeit, die nach der Vorstellung des Täters geeignet ist, die Durchführung der Vollstreckungshandlung zu verhindern
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oder zu erschweren. Unerheblich ist, ob dieser Erfolg erreicht wird (sog. unechtes Unternehmensdelikt, vgl. Eser in Schönke-Schröder 19). a) Gewalt ist jede von dem Betroffenen als körperlicher oder psychischer Zwang empfundene Kraftentfaltung. Rein passiver Widerstand genügt nicht. Andererseits ist nicht erforderlich, daß die gegen den Amtsträger gerichtete Handlung unmittelbar gegen dessen Person gerichtet ist, z.B. daß der Täter gegen den Amtsträger schlägt oder tritt oder sich loszureißen versucht. Auch eine nur mittelbar gegen die Person des Amtsträgers gerichtete Einwirkung kann den Tatbestand verwirklichen (BGH 18, 133; Dreher 18 m. weit. Nachw.). Entscheidend ist allein (wie bei § 240) der Nötigungseffekt. Beispiele: Schuldner A verbarrikadiert die Tür, um den Gerichtsvollzieher am Betreten der Wohnung zu hindern (vgl. BGH aaO.). - Oder: A fährt mit seinem Pkw in schneller Fahrt durch die Stadt, um auf diese Weise den auf das Trittbrett seines Wagens gesprungenen Polizeibeamten abzuschütteln (vgl. BGH VRS 19, 188). - Oder: A fährt bei einer Verkehrskontrolle in voller Fahrt auf einen Beamten zu, so daß dieser sich nur durch einen Sprung zur Seite retten kann (vgl. BGH 14, 395; 15, 138, 145; 26, 176 sowie in DAR 1976, 85; Hamm NJW 1973, 1240). - Oder: A klammert sich an seinem Wagen fest, so daß er nur mit Gewalt zwecks Entnahme einer Blutprobe zur Wache gebracht werden kann. - Oder: Abgabe eines Schreckschusses (BGH 23, 126). - Oder: Blockade einer Polizeiwache, um die Beamten am Einsatz zu hindern. - Oder: Beschädigung eines Einsatzfahrzeugs, um die Verfolgung eines Flüchtigen unmöglich zu machen. b) Bedrohung mit Gewalt erfüllt nur dann den Tatbestand, wenn sie nach dem Vorsatz des Täters von dem Beamten ernst genommen werden soll. 2. Tätlicher Angriff ist jede unmittelbar gegen den Körper des Amtsträgers gerichtete Kraftentfaltung, wobei es auf den Erfolg nicht ankommt. Beispiele: A hetzt seinen Hund auf den sich seinem Haus nähernden Polizeibeamten oder Gerichtsvollzieher. - Oder: A wirft einen Stein gegen den sich ihm nähernden Vollzugsbeamten. In vielen Fällen wird dieselbe Handlung sowohl die Voraussetzungen des gewaltsamen Widerstands als auch die des tätlichen Angriffs erfüllen. IV. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich, wobei bedingter Vorsatz genügt. Der Täter muß insbesondere wissen, daß er es mit einem Vollstreckungsbeamten zu tun hat und daß dieser eine Vollstreckungshandlung vornimmt. Auf die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung muß sich der Vorsatz dagegen nicht erstrecken. Die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung ist, wie bereits oben (Anm. II) erwähnt, kein Tatbestandsmerkmal. Im einzelnen: 1. Der über die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung irrende Täter kann sich niemals auf einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum berufen, wobei es keinen Unterschied macht, ob sich der Irrtum auf die tatsächlichen Voraussetzungen der Vollstreckungshandlung oder auf ihre rechtliche Zulässigkeit bezieht. In beiden Fällen handelt es sich um einen Verbotsirrtum (Krhe NJW 1974, 2142 m. Anm. Wagner JuS 1975, 224). Nach der hier im Anschluß an die Rspr. und die h. L. im Schrifttum vertretenen eingeschränkten Schuldtheorie wäre der Täter jedoch bei Anwendung der allgemeinen Irrtumsgrundsätze (vgl. § 16 Anm. 3) dann einem vorsatzlos handelnden Täter gleichzustellen, wenn er bei seinem Widerstand irrig Tatumstände annahm, bei deren Vorliegen die Vollstreckungshandlung rechtswidrig gewesen wäre. Zu einer so weitgehend täterfreundlichen Irrtumsregelung wollte und konnte der Gesetzgeber sich jedoch mit 454
Sechster Abschnitt: Widerstand gegen die Staatsgewalt
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Rücksicht auf das berechtigte Schutzbedürfnis des rechtmäßig handelnden Vollstrekkungsorgans nicht entschließen. Es wurde deshalb in Abs. 4 eine äußerst differenzierte Irrtumsregelung geschaffen, durch die einerseits das Schuldprinzip gewahrt, andererseits durch die sog. Rechtsbehelfsklausel der Schutz der Vollstreckungsorgane hinreichend gewährleistet ist. 2. Im einzelnen sieht Abs. 4 folgende besondere Irrtumsregelung vor: a) War der Irrtum über die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung vermeidbar, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 2 gemildert werden. Bei geringer Schuld kann sogar ganz von Strafe abgesehen werden (fakultativer persönlicher Strafausschließungsgrund). Prozessual sind im letztgenannten Fall vor allem die §§ 153 b, 465 Abs. 1 S. 2 StPO zu beachten. War der Irrtum unvermeidbar, so entfällt die Schuld, wenn dem Täter bei Würdigung aller Umstände nicht zugemutet werden konnte, sich mit Rechtsbehelfen gegen die vermeintlich rechtswidrige Vollstreckungshandlung zu wehren (sog. Rechtsbehelfsklausel, vgl. Abs. 4 S. 2). Solange Rechtsbehelfe möglich und zumutbar sind, darf der durch eine vermeintlich rechtswidrige Amtshandlung Betroffene grundsätzlich nicht zur gewaltsamen Selbsthilfe greifen (vgl. Dreher NJW 1970, 1153, 1159). Ein Rechtsbehelf ist dem Täter insbesondere dann zuzumuten, wenn ihm oder einem nahen Angehörigen aus der Vollstreckungshandlung kein irreparabler Nachteil droht oder wenn der Schaden, den er dem Amtsträger bei erfolgreichem Widerstand zufügen müßte, außer Verhältnis zu dem ihm selbst drohenden Nachteil steht (vgl. BGH 21, 334, 336; Dreher aaO; Lackner 7 c). c) War der Irrtum zwar unvermeidbar, das Ergreifen von Rechtsmitteln jedoch zumutbar, so bleibt die Schuld bestehen; das Gericht kann jedoch - wie bei einem vermeidbaren Irrtum über die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungshandlung - die Strafe nach seinem Ermessen mildern oder ganz von Strafe absehen. Ein Irrtum über die Zumutbarkeit ist nicht schlechthin unbeachtlich, sondern führt nach allgemeinen Grundsätzen (vgl. § 16 Anm. 4) dann zum Schuldausschluß, wenn er bei Würdigung aller Umstände für den Täter unvermeidbar war. d) Kein rechtlich relevanter Irrtum liegt vor, wenn der Täter die Rechtslage zwar richtig einschätzt, sie jedoch für falsch hält (Krhe NJW 1974, 2144; Dreher 23 sowie NJW 1970, 1153, 1159). Dies gilt insbesondere dann, wenn er der bestehenden Rechtsordnung mit einer feindseligen Haltung gegenübertritt. e) Verwirklicht der Täter bei seinem Widerstand in Tateinheit noch weitere Tatbestände (in Betracht kommen vor allem die §§ 223 ff.), so gelten die allgemeinen zur Putativnotwehr entwickelten Grundsätze (vgl. § 32 Anm. IV). V. Absatz 2 bringt eine Strafschärfung für besonders schwere Fälle, wobei zwei Regelbeispiele ausdrücklich hervorgehoben werden: 1. Zu den Waffen i. S. von Abs. 2 Nr. 1 gehören nicht nur Schußwaffen, sondern Waffen aller Art, auch Waffen im nichttechnischen Sinn, z. B. Messer, Stöcke, Steine, aber auch Kraftfahrzeuge (BGH 26, 176). Subjektiv ist die Absicht erforderlich, die Waffe bei der Tat zu verwenden. Diese Zweckbestimmungsklausel gilt auch - anders als in § 244 Abs. 1 Nr. 1 - für Schußwaffen. Maßgeblich für diese Regelung war die Überlegung, daß Fälle 455
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denkbar sind, in denen jemand, der in durchaus rechtmäßiger Weise eine Schußwaffe mit sich führt, z. B. ein Jäger, unerwartet in eine Konfrontation mit einem Vollstreckungsbeamten gerät und im Falle eines Widerstands ohne die Zweckbestimmungsklausel nur deshalb mit einer Freiheitsstrafe nicht unter 6 Monaten bestraft werden müßte, weil er zufällig eine Schußwaffe mit sich geführt hat (vgl. Begründung des Sonderausschusses, S. 5 BT-Drucksache VI/502). 2. Der in Abs. 2 Nr. 2 enthaltene Begriff der Gewalttätigkeit ist wesentlich enger als der Gewaltbegriff in Abs. 1 (BGH 23, 46 ff.; Stgt NJW 1969, 1776; Dreher 29). Gewalttätig handelt nur, wer aggressiv gegen Personen oder Sachen vorgeht und dadurch den Beamten, gegen den sich der Widerstand richtet, in die (konkrete) Gefahr des Todes oder einer schweren Körperverletzung i. S. von § 224 bringt (z. B. durch Schüsse, Stiche oder Steinwürfe oder durch Zufahren auf einen Polizeibeamten, um die Freigabe der Fahrbahn zu erzwingen, vgl. BGH 26, 176). Subjektiv ist erforderlich, daß der Täter sich dieser Gefahr bewußt ist (BGH aaO.; im Ergebnis übereinstimmend auch Küper NJW 1976, 543 m. weit. Nachw.). Bedingter Vorsatz genügt. VI. Tateinheit ist möglich mit den §§ 123, 142, 185, 223 ff., 303, ebenso mit § 125 (Heimann-Trosien LK 59; Lackner § 125 Anm. 8; a. A. Dreher 31). Gegenüber §§ 24 f. WStG tritt § 113 zurück. Mit § 240 ist IdK. nur ausnahmsweise möglich, z. B. wenn der Widerstand gegen eine bereits eingeleitete Vollstreckungshandlung zugleich der Verhinderung zukünftiger Diensthandlungen dient (vgl. Lackner 10). Im übrigen jedoch geht § 113 als lex specialis vor.
§ 114
Widerstand gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen
(1) Der Diensthandlung eines Amtsträgers im Sinne des § 113 stehen Vollstreckungshandlungen von Personen gleich, die die Rechte und Pflichten eines Polizeibeamten haben oder Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sind, ohne Amtsträger zu sein. (2) § 113 gilt entsprechend zum Schutz von Personen, die zur Unterstützung bei der Diensthandlung zugezogen sind. 1. Zweck der durch das 3. StrRG neu gefaßten Vorschrift ist es, auch solchen Personen, die zwar keine Amtsträger sind, deren sich der Staat jedoch zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben bedient und die er dadurch einer erhöhten Gefahr aussetzt, den gleichen strafrechtlichen Schutz zukommen zu lassen wie Beamten (vgl. Begründung des Sonderausschusses, S. 6 BT-Drucksache VI/502). 2. Die geschützten Personengruppen im einzelnen: a) Die Bedeutung des Abs. 1 ergibt sich in erster Linie aus der Streichung der früher in den §§ 117, 118 enthaltenen Vorschriften über den Forstwiderstand, für die § 114 einen gewissen Ersatz darstellt. So haben nach § 25 Abs. 2 Bundesjagdgesetz neben den zuständigen öffentlichen Stellen die von der zuständigen Behörde bestätigten Jagdaufseher, sofern sie Berufsjäger oder forstlich ausgebildet sind, innerhalb ihres Dienstbezirks in
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Sechster Abschnitt: Widerstand gegen die Staatsgewalt
§ 120
Angelegenheiten des Jagdschutzes die Rechte und Pflichten von Polizeibeamten und sind in dieser Eigenschaft Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft. Nehmen sie in Ausübung ihrer Rechte und Pflichten Vollstreckungshandlungen vor, so sind diese im Falle eines Widerstands oder tätlichen Angriffs den Diensthandlungen eines Amtsträgers i. S. von § 113 gleichgestellt. Entsprechendes gilt für Vollstreckungsmaßnahmen von Personen, die aufgrund besonderer Vorschriften über den Forst-, Feld- oder Fischereischutz zur Verhütung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten tätig werden, ohne Amtsträger zu sein. Sind sie Amtsträger, so greift unmittelbar § 113 ein. Widerstand gegen den Jagdausübungsberechtigten selbst fällt nicht unter § 113, sondern unterliegt dem allgemeinen Tatbestand der Nötigung, so daß zur Beurteilung der Rechtswidrigkeit auf § 240 Abs. 2 zurückgegriffen werden muß. b) Unter den besonderen Schutz des Abs. 2 fallen Personen aller Art, insbesondere auch Privatpersonen, die von einem Vollstreckungs- oder Vollzugsbeamten i. S. von § 113 oder einer in § 114 Abs. 1 aufgeführten Person zur Unterstützung bei einer Vollstrekkungshandlung zugezogen worden sind. Nicht „zugezogen" ist eine Person, die sich unaufgefordert einmischt (Heimann-Trosien LK 8; Lackner 3). 3. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. Der Täter muß insbesondere die spezifische Funktion der Hilfsperson erkannt haben.
§§ 1 1 5 - 1 1 9
§ 120
[aufgehoben durch das 3. StrRG, vgl. Vorbem. 2]
Gefangenenbefreiung
(1) Wer einen Gefangenen befreit, ihn zum Entweichen verleitet oder dabei fördert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ist der Täter als Amtsträger oder als für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter gehalten, das Entweichen des Gefangenen zu verhindern, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. (3) Der Versuch ist strafbar. (4) Einem Gefangenen im Sinne der Absätze 1 und 2 steht gleich, wer sonst auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift dient der Sicherung des besonderen öffentlichen Gewaltverhältnisses, in dem sich der Gefangene gegenüber den deutschen (nicht auch ausländischen) Behörden befindet (Vogler NJW 1977, 1866). Geschütztes Rechtsgut ist die staatliche Verwahrungsgewalt, nicht die staatliche Rechtspflege (vgl. BGH 9, 94). Aus dem Schrifttum zur Reform der Tatbestände siehe Siegert JZ 1973,308. 2. Abs. 1 regelt den Grundtatbestand der Gefangenenbefreiung, wobei die erste Begehungsform dem früheren § 120 entspricht; bei den beiden anderen Begehungsformen handelt es sich um zu selbständigen Tatbeständen erhobenen Teilnahmehandlungen an der - wie bisher straflosen - Selbstbefreiung des Gefangenen. 457
§ 120
Sechster Abschnitt: Widerstand gegen die Staatsgewalt
a) Gefangener ist, wer in Ausübung von Polizei- oder Strafgewalt in zulässiger Form in staatlichem Gewahrsam gehalten wird (vgl. RG 39, 8; 48, 227; 73, 347; Dreher 2; Lackner 3). Hierher gehören insbesondere Strafgefangene, und zwar ohne Rücksicht auf die Art der zu verbüßenden Strafe (also auch Ersatzfreiheitsstrafe, Jugendstrafe gemäß § 17 JGG, militärischer Strafarrest gemäß § 9 WStG sowie prozessuale Ordnungs- und Erzwingungshaft), Untersuchungsgefangene, und zwar auch dann, wenn sie unter Aufrechterhaltung der Haft im Interesse ihrer Gesundheit oder zur Vorbereitung eines Gutachtens (siehe hierzu § 81 StPO) vorübergehend in ein Krankenhaus verlegt werden (vgl. RG 19, 330; BGH GA 1965, 205; Hübner LK 15), Arrestanten im Jugendarrest sowie im Disziplinararrest nach der Wehrdisziplinarordnung (nicht dagegen im Schularrest, vgl. RG 39, 7). Weiter gehören hierher die Fälle der vorläufigen Festnahme gemäß §§127 Abs. 2 StPO, 54 OWiG und 21 DAG (nicht jedoch die vorläufige Festnahme durch eine Privatperson gemäß § 127 Abs. 1 StPO, vgl. RG 67, 293), die Fälle der zwangsweisen Vorführung aufgrund prozessualer Vorschriften (vgl. z. B. §§ 51, 134, 230, 329 StPO) sowie die Fälle der Auslieferungshaft. Nicht hierher gehören die bereits erwähnten Schularrestanten (vgl. RG 39, 7) sowie die von einer Privatperson gemäß § 127 Abs. 1 StPO vorläufig Festgenommenen. Kein „Gefangener" ist schließlich auch ein Strafgefangener, dem zur Regelung persönlicher Angelegenheiten Strafunterbrechüng oder Urlaub gewährt wird, sowie der Freigänger während des Freigangs (Dreher 4; Lackner 4 a). Wird dieser dazu verleitet, nicht mehr in die Vollzugsanstalt zurückzukehren und sich dem weiteren Strafvollzug zu entziehen, so kommt nicht § 120, sondern § 258 Abs. 2 in Betracht. b) Unerheblich ist, ob die Beeinträchtigung der Freiheit des Gefangenen sachlich begründet war. Auch der zu Unrecht Inhaftierte darf nicht aus dem staatlichen Gewahrsam befreit werden (vgl. RG 39, 189; BGH GA 1965,205; h. L.). Entscheidend ist allein, daß der staatliche Gewahrsam in zulässiger Weise begründet worden ist. c) Befreit ist der Gefangene, wenn er dem staatlichen Gewahrsam entzogen ist, so daß dieser nicht mehr ausgeübt werden kann. Der Ort der Befreiung ist unerheblich. Tatbestandsmäßig ist auch die Befreiung aus einem Krankenhaus, in das der Gefangene zur Beobachtung (siehe hierzu § 81 StPO) oder zur Behandlung verlegt worden ist. Unerheblich ist weiter das Mittel zur Befreiung. In Betracht kommen insbesondere Gewalt, Drohung, List und Täuschung (z. B. Weglocken der Aufsichtspersonen während einer Außenarbeit). Unerheblich ist schließlich auch, ob der Gefangene von einem Amtsträger oder einer Privatperson beaufsichtigt wird (z. B. einem Krankenpfleger, der den Gefangenen während eines Krankenhausaufenthalts zu beaufsichtigen hat). d) Die 2. Begehungsform des Abs. 1, die das Verleiten zum Entweichen unter Strafe stellt, beseitigt die unbefriedigende Differenzierung des früheren Rechts, wonach zwar die Beihilfe zur Selbstbefreiung, nicht auch die Anstiftung hierzu unter Strafe gestellt war. Verleiten bedeutet Hervorrufen des Tatentschlusses. Vollendet ist der Tatbestand erst, wenn es dem Gefangenen gelingt, sich dem staatlichen Gewahrsam zu entziehen. Über Versuch s. u. Anm. 5. e) Die 3. Begehungsform des Abs. 1, die unter Strafe stellt, wer einen Gefangenen beim Entweichen fördert, enthält einen selbständig unter Strafe gestellten Fall der Beihilfe zur Selbstbefreiung, die als solche für den Gefangenen selbst straflos ist. Die Tat kann sowohl durch aktives Tun (z. B. durch Einschmuggeln von Sägeblättern oder Ablenken einer Aufsichtsperson) als auch durch pflichtwidriges Unterlassen begangen werden. Bei Tat-
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Sechster Abschnitt: Widerstand gegen die Staatsgewalt
§ 120
begehung durch pflichtwidriges Unterlassen (siehe hierzu § 13 nebst Anm.) kommen, da Amtsträger und für den öffentlichen Dienst Verpflichtete unter Abs. 2 fallen, hauptsächlich private Unternehmer, Werkmeister und Vorarbeiter in Betracht, denen der Gefangene zur Arbeit zugewiesen ist (vgl. RG 36, 402; 53, 292), außerdem Pfleger in einem Krankenhaus, in dem sich der Gefangene zur Beobachtung oder Behandlung befindet (vgl. RG 19, 331). Vollendet ist die Tat erst, wenn es dem Gefangenen gelingt, sich dem staatlichen Gewahrsam zu entziehen und die Förderungshandlung für die geglückte Flucht mitursächlich, d. h. nicht ohne jeden Einfluß war. 3. Abs. 2 bringt eine erhöhte Strafdrohung für Amtsträger (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 2) und solche Personen, die für den öffentlichen Dienst besonders verpflichtet sind (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 4). Als Täter kommen insbesondere Polizeibeamte und Bedienstete der Vollzugsanstalten in Betracht. Aber auch Richter und Staatsanwälte, die sich einen Gefangenen vorführen lassen, sind „gehalten", dessen Entweichen zu verhindern. Auch der Amtsträger, der den Gefangenen selbst in Gewahrsam genommen hat, kann Täter sein, wenn er ihm anschließend wieder pflichtwidrig zur Freiheit verhilft. Die Tathandlung entspricht der des Abs. 1. Bei Tatbegehung durch pflichtwidriges Unterlassen ist die sich aus § 13 Abs. 2 ergebende Möglichkeit der Strafmilderung zu beachten (abzulehnen dagegen Siegert JZ 1973, 308, 310, der hier nur den Strafrahmen des Abs. 1 zur Anwendung bringen will). Nicht hierher gehört der Fall, daß ein Gefangener vorzeitig entlassen wird; die Entlassung ist kein „Befreien". Dasselbe gilt für die rechtswidrige Aufhebung eines Haftbefehls (Eser in Schönke-Schröder 19 a). 4. Die Gleichstellungsldausel des Abs. 4 tritt an die Stelle der früheren §§ 122 a und 122 b. Sie vermeidet es, die auf behördliche Anordnung in einer Anstalt Untergebrachten unmittelbar als Gefangene zu bezeichnen. Dies gilt auch für die Fälle der Sicherungsverwahrung, die noch in § 423 Abs. 3 E 1962 terminologisch nicht nur wie, sondern als Gefangene behandelt wurden. Als Folge der Gleichstellungsklausel sind die Absätze 1 und 2 auch auf Personen, die gemäß §§ 63-65 in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt oder - erst ab 1. 1. 1978 von Bedeutung - in einer sozialtherapeutischen Anstalt untergebracht sind, zu beziehen. Sie erstreckt sich weiterhin auf die Fälle der Fürsorgeerziehung und die Unterbringung aufgrund landesrechtlicher Unterbringungsgesetze. 5. Vollendet ist die Tat erst, wenn die Befreiung gelungen ist, d. h. wenn der staatliche Gewahrsam so weit aufgehoben ist, daß eine ordnungsmäßige Überwachung des Gefangenen nicht mehr gewährleistet ist. Ob eine nur vorübergehende Lockerung des Gewahrsams (z. B. bei Außenarbeiten) hierzu schon ausreicht, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. RG 26, 52; Köln JMB1NRW 1958,178). Der Versuch ist gemäß Abs. 3 bei allen Begehungsformen des Abs. 1 strafbar. Bei der 2. und 3. Begehungsform des Abs. 1 führt dies dazu, daß abweichend von der allgemeinen Regelung des § 30 Abs. 1 auch Sonderfälle der versuchten Anstiftung bzw. Beihilfe zu einem Vergehen unter Strafe gestellt sind. Ein versuchtes Verleiten zum Entweichen liegt nicht nur vor, wenn der Gefangene sich weigert, einen Fluchtversuch zu unternehmen, sondern auch dann, wenn er einen erfolglosen Fluchtversuch unternimmt (Schluß a maiori ad minus). Entsprechend ist die Rechtslage beim versuchten Fördern des Entweichens: Wenn A dem Gefangenen G zur Verwirklichung seines Fluchtplans ein Sägeblatt zukommen läßt, liegt ein strafbarer Versuch nicht nur dann vor, wenn G seinen Fluchtplan 459
§ 121
Sechster Abschnitt: Widerstand gegen die Staatsgewalt
aufgibt oder ohne Benutzung der Säge flieht, sondern auch dann, wenn er vergeblich versucht, die Säge zu Fluchtzwecken zu benutzen. 6. Die Strafbarkeit der Teilnahme eines Außenstehenden richtet sich nach allgemeinen Grundsätzen, wobei im Falle des Abs. 2 (unechtes Amtsdelikt) § 28 Abs. 2 zu beachten ist. Nach Auffassung der Rspr. soll auch Teilnahme des Gefangenen an seiner Befreiung nach allgemeinen Grundsätzen strafbar sein (vgl. BGH 4, 396,400 f. sowie B G H 17, 369, 373). Diese Auffassung führt jedoch zu unbefriedigenden Ergebnissen und wird im Schrifttum zu Recht überwiegend abgelehnt (vgl. Herzberg JuS 1975, 794; a. A. Dreher 9). Materiell gesehen kann es nämlich keinen Unterschied machen, ob der Gefangene sich selbst befreit oder ob er sich hierzu der Hilfe eines Dritten bedient, und zwar auch dann, wenn dieser ein Amtsträger i. S. des Abs. 2 ist (sehr Str.; Einzelheiten siehe 5 vor § 25). Aus den gleichen Erwägungen bleiben Gefangene auch dann straflos, wenn sie gemeinschaftlich fliehen und sich hierbei gegenseitig Hilfe leisten (vgl. B G H 17, 369). 7. IdK. ist möglich mit §§ 113, 114, 223 ff., 258, 258 a, ferner mit Anstiftung und Beihilfe zu d e n § § 121,303. § 115 OWiG ist subsidiär.
§ 121
Gefangenenmeuterei*
(1) Gefangene, die sich zusammenrotten und mit vereinten Kräften 1. einen Anstaltsbeamten, einen anderen Amtsträger oder einen mit ihrer Beaufsichtigung, Betreuung oder Untersuchung Beauftragten nötigen (§ 240) oder tätlich angreifen, 2. gewaltsam ausbrechen oder 3. gewaltsam einem von ihnen oder einem anderen Gefangenen zum Ausbruch verhelfen, werden mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) In besonders schweren Fällen wird die Meuterei mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter oder ein anderer Beteiligter 1. eine Schußwaffe bei sich führt, 2. eine andere Waffe bei sich führt, um diese bei der Tat zu verwenden, oder 3. durch eine Gewalttätigkeit einen anderen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Körperverletzung (§ 224) bringt. (4) Gefangener im Sinne der Absätze 1 bis 3 ist auch, wer in einer sozialtherapeutischen Anstalt oder in Sicherungsverwahrung untergebracht ist. * Siehe § 65 Anm. I.
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Sechster Abschnitt: Widerstand gegen die Staatsgewalt
§ 121
1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift entspricht im wesentlichen dem früheren § 122, erweitert jedoch in Anlehnung an § 423 E 1962 den Anwendungsbereich insofern, als der geschützte Personenkreis weiter gefaßt ist und in Abs. 1 Nr. 3 mit der Ausbruchshilfe für Meuterer und andere Gefangene eine neue Tatbestandsalternative hinzukommt. Andererseits wurde auf die frühere Struktur des Tb. als sog. Unternehmensdelikt verzichtet. Der Versuch ist zwar nach wie vor strafbar (vgl. Abs. 2), jedoch besteht nunmehr in den Fällen des Versuchs die Möglichkeit der Strafmilderung gemäß §§ 23 Abs. 3,49 Abs. 2. Völlig neu gefaßt wurde auch Abs. 3. Geschützt werden in erster Linie das für die staatliche Verwahrungsgewalt zuständige Personal, außerdem die Verwahrungseinrichtungen selbst (vgl. Hübner LK 1). Aus dem Schrifttum zur Reform des Tb. siehe Schomaker, Der Tatbestand der Gefangenenmeuterei unter Berücksichtigung des Entwurfs eines StGB E 1962, Diss. Berlin 1967. 2. Täter einer Meuterei können nur Gefangene sein (siehe hierzu § 120 Anm. 2 a). Aufgrund der Sonderregelung des Abs. 4 gelten als Gefangene i. S. der Vorschrift auch Personen, die in einer sozialtherapeutischen Anstalt (vgl. § 65) oder in Sicherungsverwahrung (vgl. § 66) untergebracht sind. Die übrigen Unterbringungsfälle gehören jedoch - abweichend von der Regelung des § 120 Abs. 4 - nicht hierher. 3. Ein Zusammenrotten liegt vor, wenn mindestens zwei Gefangene (BGH 20, 305, 307; h. L.) in der Absicht zusammentreten, durch ihr geschlossenes Vorgehen gegen das Personal oder die Einrichtungen der Anstalt ein gemeinsames Ziel auf unfriedliche Weise zu erreichen. Nicht erforderlich ist, daß sie bereits im Zeitpunkt ihres Zusammenschlusses die Absicht haben, eine der in Abs. 1 unter Strafe gestellten Gewalthandlungen vorzunehmen (vgl. Hübner LK 6). Von der Mittäterschaft unterscheidet sich die Zusammenrottung dadurch, daß zwischen den beteiligten Gefangenen ein unmittelbarer räumlicher Zusammenhang bestehen muß. Erst durch ihr „räumliches Zusammentreten oder Zusammenhalten" (vgl. RG 50, 85 f.; BGH 20, 305, 307) entsteht eine für das Personal und die Einrichtungen der Anstalt typische Gefahrenlage, aus der heraus die in § 121 unter Strafe gestellten Gewalthandlungen bevorzugt begangen werden. Nicht ausreichend ist deshalb das konspirative Zusammenwirken mehrerer Gefangener, die von ihren Einzelzellen aus durch Kassiber, Klopfzeichen usw. miteinander Verbindung aufnehmen (vgl. RG 50, 86; Hübner LK 7). Das Zusammenrotten muß ernstlich gewollt sein; beteiligt sich von zwei Gefangenen einer an den Ausbruchsplänen nur zum Schein, so kann von einer Zusammenrottung nicht gesprochen werden (vgl. Hamm JZ 1953, 342 m. zust. Anm. Maurach; h. L.). 4. Ein Vorgehen mit vereinten Kräften setzt nicht voraus, daß mehrere oder gar alle an der Zusammenrottung Beteiligten gewalttätig werden. Siehe hierzu § 125 Anm. 2 b, cc. 5. Die eigentliche Meuterei des Abs. 1 Nr. 1 entspricht im wesentlichen dem früheren § 122, erweitert jedoch in Anlehnung an § 423 Abs. 1 E 1962 den geschützten Personenkreis. a) Geschützt sind Anstaltsbeamte und andere Amtsträger (z. B. Haftrichter, Staatsanwälte oder Polizeibeamte, die in der Vollzugsanstalt Vernehmungen durchführen), außerdem alle mit der Beaufsichtigung, Betreuung oder Untersuchung Beauftragten, auch wenn sie weder Aufsichtsbeamte noch sonstige Amtsträger sind (z. B. Sozialarbeiter und ärztliches Pflegepersonal).
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§ 121
Sechster Abschnitt: Widerstand gegen die Staatsgewalt
b) Die Tathandlung besteht entweder in einer Nötigung oder in einem tätlichen Angriff. Die Verweisung auf § 240 stellt klar, daß tatbestandsmäßig jedes Vorgehen ist, durch das ein Anstaltsbeamter usw. durch Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel rechtswidrig (vgl. § 240 Abs. 2) zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt wird. Insbesondere besteht keine Veranlassung, den Gewaltbegriff in § 121 enger auszulegen als in § 240 (siehe dort Anm. 3 a). Ein Sitzstreik in den Gängen der Anstalt kann deshalb ebenso als Gewalt angesehen werden wie eine durch Sitzstreik verursachte Verkehrsblockade (vgl. Hübner LK 16). Richtet sich die Meuterei gegen eine rechtswidrige Amtshandlung oder erstrebt sie die Beseitigung eines rechtswidrigen Zustands (z. B. ungesetzlichen Essensentzug), so sind bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit gemäß § 240 Abs. 2 alle Umstände des Einzelfalls zu würdigen (siehe hierzu § 240 Anm. 4-5 a). Bei Gewaltanwendung wird die Meuterei allerdings in aller Regel als rechtswidrig anzusehen sein (vgl. BGH 23, 46, 54 f. zu § 240). - Über tätlichen Angriff siehe § 113 Anm. III 2. c) Tatort muß nicht die Anstalt selbst sein. Die Meuterei kann auch bei Außenarbeiten oder im Gerichtssaal während der Verhandlung ausbrechen. d) Vollendet ist die Tat erst, wenn es zu der von den Meuterern angestrebten Handlung, Duldung oder Unterlassung gekommen ist. Im Falle des tätlichen Angriffs wird der Tb. allerdings bereits durch die Vornahme der Handlung verwirklicht. Zur Strafbarkeit des Versuchs siehe Abs. 2. 6. Ein gewaltsamer Ausbruch i. S. von Abs. 1 Nr. 2 liegt nicht nur vor, wenn die Gefangenen die ihrer Flucht entgegenstehenden sachlichen Verwahrungsmittel gewaltsam beseitigen, z. B. durch Zersägen der Gitter oder Beschädigung des Mauerwerks (nicht ausreichend ist dagegen die Öffnung der Zellentür mit einem Dietrich, vgl. BGH 16, 36); der Tb. ist vielmehr auch dann verwirklicht, wenn Gefangene sich der Verwahrung dadurch entziehen, daß sie Gewalt gegen Aufsichtsbeamte verüben (vgl. BGH 16, 34; Hübner LK 21). Die Nr. 2 ist in diesem Fall gegenüber der Nr. 1 die speziellere Regelung (vgl. Hübner LK 43). Vollendet ist der Tb. erst mit dem Gelingen des Ausbruchs. Der Versuch ist strafbar (Abs. 2). 7. In Abs. 1 Nr. 3 wird die sog. Ausbruchshilfe selbständig unter Strafe gestellt. Die 1. Alt. des Tb. erfaßt solche Beteiligten der Zusammenrottung, die selbst nicht fliehen, sondern nur die Flucht anderer Beteiligten fördern, also ohne eigenes Tatinteresse handeln. Die 2. Alt. enthält einen unter erhöhte Strafdrohung gestellten Sonderfall des § 120. 8. In Abs. 2 wird der Versuch unter Strafe gestellt. Die Regelung wurde dadurch erforderlich, daß die Neufassung durch das EGStGB auf die früheren Unternehmenstatbestände verzichtet hat. Die neue Regelung ist gegenüber der früheren insofern täterfreundlicher, als jetzt die früher nicht gegebene Möglichkeit des strafbefreienden Rücktritts vom Versuch besteht. Außerdem kann die Strafe im Falle des Versuchs gemäß § 23 Abs. 2 gemildert werden. 9. Teilnahme Außenstehender richtet sich nach allgemeinen Grundsätzen. Da die Eigenschaft als Gefangener nur die Positionsnähe zum Rechtsgut charakterisiert, findet § 28 Abs. 1 keine Anwendung (vgl. Blauth, Handeln für einen anderen nach geltendem und kommendem Strafrecht, 1968, S. 77,107; Eser in Schönke-Schröder 16; Lackner 2; a. A. Dreher 18).
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Sechster Abschnitt: Widerstand gegen die Staatsgewalt
§ 121
10. Die in Abs. 3 getroffene Regelung für besonders schwere Fälle entspricht der in § 125 a Nr. 1 - 3 für den Landfriedensbruch getroffenen Regelung (Einzelheiten siehe § 125 a Anm. 1-3). 11. Abs. 4 entspricht der in § 120 Abs. 4 getroffenen Regelung, weicht von dieser aber insoweit ab, als die in Sicherungsverwahrung bzw. in einer sozialtherapeutischen Anstalt Untergebrachten den Gefangenen nicht nur „gleichgestellt", sondern unmittelbar in den Gefangenenbegriff einbezogen werden. Außerdem ist der Personenkreis enger gefaßt. So können z. B. die in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt Untergebrachten (da weder „Gefangene" noch in Abs. 4 erfaßt) nicht wegen Meuterei bestraft werden. Die Möglichkeit einer Bestrafung wegen Nötigung, Freiheitsberaubung, Sachbeschädigung usw. bleibt hiervon allerdings unberührt. 12. IdK. ist möglich mit §§ 123, 125,211 ff., 223 ff., 249 ff., 303. Gegenüber den §§ 113, 240 geht § 121 vor. Innerhalb der einzelnen Tatbestandsalternativen des § 121 ist eine Tateinheit nicht möglich; alle drei Tatbestandsalternativen stellen sich vielmehr nur als verschiedene Begehungsformen desselben Delikts dar (vgl. Eser in Schönke-Schröder 24; Lackner 8; a. A. Dreher 20; hier die Vorauf!.).
§ 122-122 b
[aufgehoben]
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Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung (§§ 1 2 3 - 1 4 5 d )
§ 123
Hausfriedensbruch
(1) Wer in die Wohnung, in die Geschäftsräume oder in das befriedete Besitztum eines anderen oder in abgeschlossene Räume, welche zum öffentlichen Dienst oder Verkehr bestimmt sind, widerrechtlich eindringt, oder wer, wenn er ohne Befugnis darin verweilt, auf die Aufforderung des Berechtigten sich nicht entfernt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift schützt das Hausrecht, d. h. das Recht, in bestimmten Örtlichkeiten frei schalten und walten zu können. Zur Wahrung des Hausrechts kann auch ein minderjähriger Familienangehöriger berechtigt sein, und zwar selbst dann, wenn er hierzu keine ausdrückliche Vollmacht besitzt (BGH 21, 224). Die Anhebung der Strafobergrenze von drei Monaten auf ein Jahr Freiheitsstrafe durch das EGStGB machte es möglich, auf die früheren Tatbestände des erschwerten Hausfriedensbruchs (§ 123 Abs. 2 aF) und des Hausfriedensbruchs im Amt (§ 342) ersatzlos zu verzichten. 2. Zu den geschützten Räumlichkeiten gehören: a) die Wohnung, d. h. alle Räumlichkeiten, die einer Einzelperson oder einer Personengruppe zum Aufenthalt dienen oder zur Benutzung freistehen (vgl. RG 12, 132; h. L.), und zwar auch dann, wenn sie zur Tatzeit nicht benutzt werden, z. B. Wochenendhäuser, Sommerhäuser, Jagdhütten, nicht jedoch Rohbauten, Häuser oder Wohnwagen, die noch nicht bezogen sind oder durch den Auszug der Mieter leer stehen. Die letztgenannten Räumlichkeiten fallen jedoch in der Regel unter den Begriff des ebenfalls durch § 123 geschützten Besitztums (vgl. Schäfer LK 9). Nicht erforderlich ist, daß die Räumlichkeit ihren Benutzern zum ständigen Aufenthalt, insbesondere zum Übernachten dient. Als „Wohnung" geschützt sind deshalb auch Hotelzimmer, Obdachlosenunterkünfte, Schlafstätten und Campingzelte (vgl. Schäfer LK 8 f.; Maurach BT 181). Unerheblich ist weiter, ob die „Wohnung" fest mit dem Boden verbunden oder beweglich ist. Geschützt sind deshalb auch Wohnwagen, Zirkuswagen, Wohnschiffe, Camping-Busse und Campingzelte, nicht jedoch Kraftfahrzeuge, die keine besonderen Vorrichtungen zum „Wohnen" haben. Zur Wohnung gehören schließlich auch Nebenräume wie Treppenhäuser, Keller, Flure, Toiletten usw., aber auch Hausgärten und Höfe (vgl. BayObLG JR 1965, 265; Schäfer LK 7); b) Geschäftsräume, z. B. Läden, Verkaufsstände, Verkaufswagen (vgl. RG 13, 315), Tankstellen, Büros, Fabrikhallen, Zirkuszelte, Festzelte, Baubuden; c) das befriedete Besitztum, z. B. leerstehende Häuser und Wohnungen, Rohbauten, Ställe und Scheunen, Sportplätze, Kirchhöfe, Friedhöfe, eingezäunte Lagerplätze und Gärten, nicht jedoch Äcker, Wiesen, Weinberge, Weiden, Schonungen usw. „Befriedet" 464
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 123
ist ein Besitztum zunächst dann, wenn es von seinem berechtigten Inhaber in äußerlich erkennbarer Weise durch zusammenhängende Schutzwehren gegen das willkürliche Betreten durch andere gesichert worden ist (vgl. BayObLG JR 1970, 466 m. weit. Nachw.). Solche zusammenhängenden Schutzwehren sind jedoch entbehrlich, wenn das Besitztum für jedermann erkennbar zu einer Wohnung oder einem Geschäftsraum gehört, z. B. der zu einem Geschäftshaus gehörende Hofraum (vgl. BayObLG aaO. mit zust. Anm. Schröder). d) abgeschlossene Räume, die zum öffentlichen Dienst oder Verkehr bestimmt sind. aa) Abgeschlossen ist ein Raum, wenn er eine dem befriedeten Besitztum entsprechende bauliche Begrenzung aufweist, die das beliebige Betreten durch Außenstehende verhindern soll (vgl. Schäfer LK 16; Dreher 6). Nicht hierher gehört deshalb der Fall, daß ein „Interner" Räume betritt, zu denen ihm der Zugang aufgrund einer dienstlichen Anordnung verboten ist, z. B. wenn ein Angestellter der Staatsanwaltschaft in den Asservatenraum eindringt, um sich Pornohefte „auszuleihen", oder wenn ein Reisender der 2. Klasse unbefugt ein Abteil der 1. Wagenklasse benutzt oder wenn ein Gefangener sich nach dem Hofgang unbefugt in die Zelle eines anderen Gefangenen begibt (vgl. RG 28, 192; Schäfer LK 16; Dreher 6). bb) Zum öffentlichen Dienst bestimmt sind alle Räume, deren Zweck darin besteht, daß in ihnen nach den Vorschriften des öffentlichen Rechts öffentliche Angelegenheiten verrichtet werden. Hierher gehören insbesondere Behörden- und Parlamentsgebäude (RG 47, 278), Strafvollzugsanstalten (RG 28, 193), Wahllokale (RG 46, 406), Verwaltungsgebäude, Institute und Hörsäle der Universitäten, Schulhäuser (RG GA Bd. 49, 121) sowie Kirchen der öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften. cc) Zum öffentlichen Verkehr bestimmt sind alle Betriebsgebäude und Beförderungsmittel der öffentlichen Verkehrsbetriebe, öffentlich ist der Verkehr, wenn er der Allgemeinheit zugänglich ist, d. h. von jedermann in Anspruch genommen werden kann. Unerheblich ist, ob Träger des Verkehrsbetriebs die öffentliche Hand (z. B. Bundesbahn, Bundespost, Gemeinde usw.) oder ein privater Unternehmer ist. Geschützt sind insbesondere Betriebsgebäude einschließlich der Nebengebäude von Post, Bahn und öffentlichen Nahverkehrsbetrieben, Eisenbahn- und Straßenbahnwagen (RG 75, 357), Linienomnibusse sowie Schiffe und Fähren des öffentlichen Linienverkehrs (nicht jedoch, wenn die letztgenannten Verkehrsmittel zur Tatzeit von privaten Gesellschaften zu privaten Zwecken gemietet sind). Zur Problematik des Bahnhofsverbots siehe BayObLG NJW 1977, 261 m. Anm. Stürmer JZ 1977, 312: Die öffentlich-rechtlichen Befugnisse der Bahnverwaltung werden durch das aus dem Zivilrecht abgeleitete Hausrecht ergänzt. Dieses beruht, auch soweit es sich um Gebäude oder Anlagen mit öffentlich-rechtlicher Zweckbestimmung handelt, auf dem Eigentum (BayObLG aaO. unter Bezugnahme auf BGH NJW 1961,308 und DVB1. 1968, 145; BVerwGE 35, 103; Str.). Hieraus folgt, daß alle in Ausübung des Hausrechts erlassenen Anordnungen, zu denen auch das Bahnhofsverbot gehört, wegen ihrer privatrechtlichen Grundlage keine Verwaltungsakte darstellen (übereinstimmend Bremen NJW 1962, 1453; a.A. Celle MDR 1965, 595; 1966, 944). Die Grenzen des Hausrechts werden lediglich durch die öffentlich-rechtliche Zweckbindung gezogen. Das Hausverbot ist deshalb so zu formulieren, daß der von ihm Betroffene die Möglichkeit hat, die Beförderungseinrichtungen (aber nur diese, nicht auch die Bahnhofsgaststätten und sonstige Nebenbetriebe) in Anspruch zu nehmen. Die vom BayObLG entwickelten Grundsätze gelten entsprechend auch für Universitäts-, Schul- und Justizgebäude. So ist
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§ 123
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
es z. B. zulässig, einen Studenten, der entgegen einem Verbot der zuständigen Verwaltung in einem Universitätsgebäude Flugblätter verteilt und Unterschriftssammlungen veranstaltet, des Hauses zu verweisen und ihm ein Hausverbot zu erteilen. Der von dem Verbot Betroffene muß jedoch die Möglichkeit haben, weiterhin die für ihn bestimmten Vorlesungen, Übungen und Seminare zu besuchen, sofern ihm dies nicht auf Grund eines auf öffentlich-rechtlichen Grundsätzen beruhenden Ordnungsverfahrens verboten wird. Andererseits kann eine allgemeine, das auf privatrechtlicher Grundlage beruhende Hausrecht beschränkende Befugnis zum Verweilen an sonst allgemein zugänglichen Orten nicht auf Art. 5 und Art. 8 GG gestützt werden (vgl. Lackner 4; weitgehend a. A. Maul JR 1970, 81, 85; zum Ganzen siehe auch Schäfer LK 29 ff., der mit der hier vertretenen Auffassung im wesentlichen übereinstimmt vgl. Rn. 35). 3. Die Tathandlung der 1. Alternative des Tatbestands besteht im widerrechtlichen Eindringen. a) Eindringen ist jedes Betreten der geschützten Räumlichkeiten gegen den ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen des Berechtigten. Gewaltsames Vorgehen ist nicht erforderlich; es genügt vielmehr die Überwindung „geistiger Barrieren" (vgl. Maurach BT 182; Schäfer LK 21; Dreher 10). Hausfriedensbruch begeht deshalb auch, wer sich den Zugang in ein befriedetes Besitztum durch Täuschung verschafft, obwohl er weiß, daß der Berechtigte ihm in Kenntnis der tatsächlich verfolgten Absichten den Zutritt verweigern würde (vgl. RG GA Bd. 49, 287; München NJW 1972, 2275 m. abl. Anm. Otto NJW 1973, 688 und zust. Besprechung Amelung/Schall JuS 1975, 565), oder wer auf der Suche nach einem Parkplatz seinen Wagen einfach im Hofraum eines fremden Gebäudes abstellt, obwohl er dort keine Geschäfte zu erledigen hat und deshalb damit rechnen muß, daß der Berechtigte mit dem Abstellen des Pkw nicht einverstanden ist (vgl. BayObLG JR 1970, 467 m. zust. Anm. Schröder). Auch das Kaufhaus öffnet seine Tore nur für Personen, die Waren kaufen oder sich über das Angebot informieren wollen, nicht jedoch für Diebe. Hausfriedensbruch begeht daher, wer das Kaufhaus in der Absicht des Diebstahls betritt (vgl. Maurach BT 182; Schäfer LK 25; a. A. die h. L., vgl. Cramer in Schönke-Schröder 15 b; Lackner 3; Rudolphi SK 26; Welzel 333: Hausfriedensbruch nur dann, wenn schon das äußere Erscheinungsbild von dem generell gestatteten Verhalten abweicht, z. B. wenn ein maskierter Bankräuber mit vorgehaltener Pistole die Schalterhalle einer Bank betritt). Nach der hier vertretenen Ansicht liegt Hausfriedensbruch weiter dann vor, wenn jemand ein öffentliches Verkehrsmittel in der Absicht betritt, den üblichen Fahrpreis nicht zu entrichten (wichtig für die Fälle, in denen der Täter sich etwa aus politischen Gründen, um für den „Nulltarif" zu demonstrieren - offen weigert, den Fahrpreis zu entrichten, § 265 a also nicht in Betracht kommt; vgl. § 265 a Anm. 3). - In allen Fällen ist nicht erforderlich, daß der Täter mit seinem ganzen Körper eindringt. So genügt es beispielsweise, wenn ein Bettler seinen Fuß zwischen die Tür stellt (vgl. BGH bei Daliinger MDR 1955,144). b) Widerrechtlich bedeutet soviel wie rechtswidrig. Die Rechtswidrigkeit ist ausgeschlossen, wenn das Hausrecht einem stärkeren Recht weichen muß. So handelt ein Gerichtsvollzieher, der in eine Wohnung eindringt, um zu pfänden, zwar tatbestandsmäßig, aber nicht rechtswidrig (vgl. §§ 758 ff. ZPO). Dasselbe gilt für einen Polizeibeamten, der in eine Wohnung eindringt, um eine Beschlagnahme vorzunehmen (§§ 94, 98 StPO). Das Recht, gegen den ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen des Hausrechtsinhabers dessen Räume zu betreten, kann sich auch aus dem Privatrecht ergeben, z. B. wenn ein Einzelhändler sich seinem Lieferanten gegenüber vertraglich verpflichtet, die kartell466
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rechtlich zulässigen Preisbindungsabsprachen einzuhalten, d. h. die preisgebundenen Artikel nicht unter Preis zu verkaufen. Er ist in diesem Fall verpflichtet, sogenannten Testkäufem (Personen, die sich durch Probekäufe von der Einhaltung der Absprachen überzeugen wollen) den Zutritt zu gestatten (vgl. LG Frankfurt NJW 1963, 1022 m. Anm. Hanack JuS 1964, 355; im Ergebnis übereinstimmend auch Rudolphi SK 26 sowie Cramer in Schönke-Schröder 15 c). Für Pressevertreter beachte § 6 Abs. 2 VersammlG. - Die Rechtswidrigkeit kann schließlich auch durch rechtfertigenden Notstand ausgeschlossen werden (München NJW 1972, 2275 m. krit. Anm. Otto NJW 1973, 668 und Amelung/Schall JuS 1975, 565 betr. Kontaktpersonen der Polizei, die sich zwecks Vornahme von Testkäufen Zutritt in die Unterkünfte von Rauschgifthändlern verschafft hatten). Zur Rechtswidrigkeit von Verstößen gegen ein Hausverbot in Bahnhofs-, Justiz- und Universitätsgebäuden s. o. Anm. 2 d, cc sowie Krhe JZ 1977,478. c) Tatbestandsverwirklichung durch Unterlassen kommt in Betracht, wenn das widerrechtliche Eindringen als solches aus irgendeinem Grund nicht strafbar war, z. B. weil es ohne Vorsatz erfolgte, der Täter sich dann aber nach Wegfall der die Strafbarkeit ausschließenden Umstände pflichtwidrig nicht unverzüglich wieder entfernt (vgl. BGH 21, 224; Schäfer LK23; Schröder JR 1967,304; JR 1970,467 f.). d) Beruht das Hausverbot auf einem Verwaltungsakt, so ist nicht dessen materiell-rechtliche Rechtmäßigkeit, sondern seine Wirksamkeit entscheidend. Deshalb begeht Hausfriedensbruch, wer einem durch Verwaltungsakt erlassenen Hausverbot zuwiderhandelt, das nicht wegen offensichtlicher Mängel nichtig oder mit aufschiebender Wirkung angefochten worden ist (Hbg MDR 1968, 1027; Krhe JZ 1977, 478; Rudolphi SK 35; Cramer in Schönke-Schröder 15 a). Zur Problematik des Bahnhofsverbots und der Hausverbote in Universitäten, Justizgebäuden usw. s. o. Anm. 2 d, cc. 4. Die 2. Alternative des Tatbestands, die gegenüber der 1. Alt. des Tb. nur subsidiäre Bedeutung hat (vgl. BGH 21, 224; Schäfer LK 51), stellt das unbefugte Verweilen in einer Wohnung usw. unter Strafe. a) Auch hier ist der entgegenstehende Wille des Berechtigten (ungeschriebenes) Tatbestandsmerkmal. Er muß hier allerdings in einer (ausdrücklichen oder schlüssigen) Erklärung des Berechtigten (z. B. Aufforderung, das Lokal zu verlassen) seinen Niederschlag finden. b) Unbefugt ist das Verweilen dann, wenn der Täter kein besonderes Recht zum Verweilen hat, hinter dem das Hausrecht zurücktreten muß (s. o. Anm. 3 b). So können z. B. Pressevertreter, die sich durch ihren Presseausweis ordnungsgemäß ausweisen, nicht von einer öffentlichen Versammlung ausgeschlossen werden (vgl. § 6 Abs. 2 VersammlG). c) Beispiele: A weist den Malergesellen M aus dem Haus, da dieser seine Hausangestellte belästigt. Kommt M der Aufforderung nicht nach, so begeht er Hausfriedensbruch. Er kann sich insbesondere nicht darauf berufen, er habe von seinem Meister den Auftrag erhalten, die Wohnung zu tünchen. - Oder: A weist seine Hausangestellte H wegen ständiger Herrenbesuche oder Diebereien aus dem Haus. In diesem Fall macht sich die H eines Hausfriedensbruchs schuldig, wenn sie das Haus nicht unverzüglich verläßt. A muß allerdings dulden, daß die H ihre Sachen in aller Ruhe packt und notfalls noch eine Nacht bleibt, bis sie eine andere Unterkunft gefunden hat. - Oder: Ein Gastwirt ist berechtigt, einen Gast, der sich ungebührlich benimmt, auch dann aus dem Lokal zu weisen, wenn er die bestellten Speisen und Getränke noch nicht verzehrt hat. Er ist ferner berechtigt, 467
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bestimmten, ihm unerwünschten Personen von vornherein das Lokal zu verbieten. Die betreffenden Personen können sich in diesem Fall nicht darauf berufen, das Lokal sei doch öffentlich. d) Schwierigkeiten können sich ergeben, wenn das Hausrecht mehreren Personen zusteht, die sich über die Geltendmachung nicht einigen können. Beispiel: Ehemann A bringt seinen Freund F mit nach Hause in die eheliche Wohnung. Als F im Laufe des Abends immer lauter wird und anfängt, obszöne Reden zu führen, weist ihn Frau A aus dem Haus. F bleibt jedoch unter Berufung auf die von A ausgesprochene Einladung. A selbst hat nichts dagegen, daß F bleibt. Hier ist zunächst festzustellen, daß das Hausrecht beiden Ehegatten zusteht (vgl. Hamm NJW 1955, 761; 1965, 2067), und zwar auch dann, wenn der Mietvertrag nur mit einem Ehegatten abgeschlossen wurde (vgl. Stgt Justiz 1972, 156). Das bedeutet aber nicht, daß beide Ehegatten das Hausrecht nur gemeinsam ausüben könnten. Vielmehr ist jeder berechtigt, unerwünschte Gäste aus dem Haus zu weisen. Gegen den Willen des Mitberechtigten kann er dies allerdings nur, wenn sich die Geltendmachung nicht als Rechtsmißbrauch darstellt (vgl. Stgt aaO.). Da hiervon nach Sachlagè keine Rede sein kann, hat F sich durch sein weiteres Verweilen eines Hausfriedensbruchs schuldig gemacht. Siehe hierzu auch BGH NJW 1952, 975 und unten Anm. 6. e) Sehr umstritten ist die Frage, ob sich jemand dadurch eines Hausfriedensbruchs schuldig machen kann, daß er sich zwar mit Billigung des Mieters, aber gegen den Willen des Vermieters in einer Mietwohnung aufhält. Die Frage wird von einigen Oberlandesgerichten (vgl. Köln MDR 1954, 359; NJW 1966, 265; Braunschweig NJW 1966, 263 m. abl. Anm. Schröder) für den Fall bejaht, daß der Vermieter von seinem Mieter verlangen kann, daß die ihm unerwünschten Besuche unterbleiben. Ähnlich Weimar JR 1970, 58, der dem Hauseigentümer das Recht zuspricht, gegenüber dem Besucher eines Mieters dann ein rechtsverbindliches Hausverbot auszusprechen, wenn der Mieter durch den Empfang des Besuchers gegen seine vertraglichen Pflichten verstößt, z. B. wenn er seinen Kindern in der Zeit von 14-16 Uhr in der Mietwohnung durch einen Musiklehrer Klavierunterricht erteilen läßt, obwohl nach der Hausordnung während dieser Zeit jedes Klavierspielen untersagt ist. Dies erscheint jedoch bedenklich. Der Mieter muß das Recht haben zu bestimmen, wen er bei sich in der Wohnung haben will oder nicht. Fühlt sich der Vermieter hierdurch in seinen Interessen verletzt, so kann er gegen den Mieter auf Unterlassung klagen (vgl. § 550 BGB) oder ihm kündigen (vgl. Schröder aaO.; Welzel 333). Zum Ganzen siehe auch Lau ZMR 1977,194. f) Strafbar wird das unbefugte Verweilen erst, wenn der Täter die geschützten Räumlichkeiten trotz Aufforderung nicht verläßt. Einmalige Aufforderung genügt. Nicht erforderlich ist, daß die Aufforderung in ausdrücklicher Form erfolgt. Es genügt, daß der Täter aus dem schlüssigen Verhalten des Berechtigten die Rechtswidrigkeit seines weiteren Verweilens erkennen kann (z. B. durch ein Glockenzeichen am Ende der Öffnungszeit eines Museums, Friedhofs usw., vgl. Dreher 15; Lackner 4; Schäfer LK53). 5. Störungen des Hausfriedens, die weder als widerrechtliches Eindringen noch als unbefugtes Verweilen angesehen werden können, z. B. nächtliche Anrufe, lautes Poltern gegen Tür oder Fensterläden, Steinwürfe usw., fallen nicht unter den Anwendungsbereich der Vorschrift, können jedoch u. U. durch andere Straftatbestände erfaßt werden. In Betracht kommen hier vor allem Beleidigung, Körperverletzung, außerdem die Bußgeldtatbestände des §§ 117 OWiG (unzulässiger Lärm) und 118 OWiG (Belästigung der Allgemeinheit).
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6. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Der Täter muß insbesondere wissen (oder billigend in Kauf nehmen), daß er gegen den erklärten Willen des Berechtigten in dessen Wohnung usw. eindringt oder darin verweilt. Im Falle des Verweilens muß der Täter außerdem wissen, daß er aufgefordert wurde, das Lokal zu verlassen. Der Vorsatz bleibt dagegen bestehen, wenn der Täter in Kenntnis aller Tatumstände nur irrig glaubt, er habe ein besonderes Recht zum Eindringen oder Verweilen. Ein derartiger Irrtum ist nach den Grundsätzen des Verbotsirrtums zu beurteilen (vgl. Abschn. B VII 2 c vor § 1 sowie Hbg NJW 1977, 1831; Str.). So könnte sich in dem oben unter 4 d gebrachten Beispiel F nicht auf fehlenden Vorsatz berufen, wenn er zu seiner Verteidigung vorbringt, er habe geglaubt, Frau A sei nicht berechtigt gewesen, ihn aus dem Haus zu weisen. 7. Konkurrenzen. a) § 123 tritt zurück hinter §§ 124, 243 Abs. 1 Nr. 1 sowie hinter § 106 b (siehe dort Anm. 3). b) Delikte, die gelegentlich eines Hausfriedensbruchs begangen werden, z. B. ein Diebstahl oder eine Körperverletzung, treten zum Hausfriedensbruch grundsätzlich in Realkonkurrenz. Dies gilt nach B G H 18, 29 auch dann, wenn der Hausfriedensbruch zum Zweck einer anderen Straftat, z. B. einer Vergewaltigung oder eines Diebstahls, begangen wird. Siehe hierzu V vor § 52. 8. Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt. Beachte ferner § 374 StPO (Privatklagedelikt).
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Schwerer Hausfriedensbruch
W e n n sich eine M e n s c h e n m e n g e öffentlich zusammenrottet und in der Absicht, Gewalttätigkeiten g e g e n P e r s o n e n oder Sachen mit vereinten Kräften zu begehen, in die W o h n u n g , in die Geschäftsräume oder in das befriedete Besitztum eines anderen oder in abgeschlossene R ä u m e , welche zum öffentlichen Dienst bestimmt sind, widerrechtlich eindringt, so wird jeder, welcher an diesen Handlungen teilnimmt, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die durch das 3. StrRG und das EGStGB nicht berührte Vorschrift enthält einen qualifizierten Fall des Hausfriedensbruchs. 2. Über Menschenmenge siehe § 125 Anm. 2 b, über Zusammenrotten § 121 Anm. 3. Ergänzend ist hervorzuheben, daß eine friedliche Versammlung nicht schon dadurch zu einer „zusammengerotteten Menschenmenge" wird, daß einzelne Teilnehmer Gewalttätigkeiten begehen, ohne daß die übrigen Teilnehmer sich hiermit solidarisch erweisen (Dreher 3 m. Nachw.). - Über öffentlich siehe § 111 Anm. 2. 3. Das Eindringen (siehe hierzu § 123 Anm. 3) muß in der Absicht erfolgen, mit vereinten Kräften Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen zu begehen. Gewalttätigkeit ist enger als Gewalt. Siehe hierzu sowie über das Tb.-Merkmal mit vereinten Kräften § 125 Anm. 2 a. 469
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4. Die Tathandlung besteht in der Teilnahme an den vorstehend beschriebenen Handlungen, und zwar sowohl an der Zusammenrottung als auch am Eindringen. Persönliches Eindringen ist nicht erforderlich, sofern die Voraussetzungen der Mittäterschaft vorliegen, der Täter sich also das Eindringen der anderen als eigenes Verhalten zurechnen lassen muß (RG 55,35; h. L.), z. B. wenn er vor dem Gebäude „Schmiere" steht oder das Gebäude gegen anrückende Polizeikräfte verteidigt. Auch Mitläufer, die sich nur als Neugierige an der Zusammenrottung und dem Eindringen beteiligen, handeln tatbestandsmäßig, nicht jedoch Ärzte, Sanitäter oder sog. Abwiegler (BGH NJW 1954,1694), ferner nicht Journalisten, die sich rein aus beruflichen Gründen in der Menge aufhalten, ohne dabei selbst in die geschützten Räumlichkeiten einzudringen (vgl. Dreher 8; Janknecht GA 1969,38). 5. Der Vorsatz erfordert das Bewußtsein, an einer unfriedlichen Menschenmenge teilzunehmen, die mit vereinten Kräften in eine der geschützten Räumlichkeiten eindringt. Der Täter muß auch erkennen (bedingter Vorsatz genügt), daß die Menge die Absicht verfolgt, Gewalttätigkeiten zu begehen. Nicht erforderlich ist dagegen, daß auch er selbst diese Absicht verfolgt (wichtig für Mitläufer). 6. IdK. ist möglich mit §§ 125, 223 ff., 239,250, 255,303.
§ 1 2 5 Landfriedensbruch (1) Wer sich an 1. Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen oder 2. Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden, als Täter oder Teilnehmer beteiligt oder wer auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist. (2) Soweit die in Absatz 1 Nr. 1, 2 bezeichneten Handlungen in § 1 1 3 mit Strafe bedroht sind, gilt § 1 1 3 Abs. 3 , 4 sinngemäß. 1. Die Neufassung der Vorschrift über den Landfriedensbruch bildet das Kernstück des 3. StrRG, stellt aber gleichzeitig dessen umstrittenste Vorschrift dar. Sowohl in den parlamentarischen Gremien als auch unter den vom Sonderausschuß gehörten Sachverständigen und Auskunftspersonen in dem am 12./13. 1. 1970 durchgeführten öffentlichen Hearing fehlte es nicht an warnenden Stimmen, die sich mit ernst zu nehmenden Argumenten dafür einsetzten, in weitgehender Übereinstimmung mit dem früheren Recht bereits das bloße Verbleiben in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Menschenmenge, aus der heraus erkennbar Gewalttätigkeiten begangen werden, unter strafrechtliche Sanktion zu stellen. Gegen die ursprünglich im SPD/FDP-Entwurf (BT-Drucks. VI/139) vorgesehene Beschränkung der Strafbarkeit auf Personen, die unmittelbar als Täter oder Teilnehmer an Gewalttätigkeiten in Erscheinung treten, wurde insbesondere 470
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geltend gemacht, bei einer solchen Beschränkung werde der Tatbestand praktisch bedeutungslos, da Gewalttätigkeiten gegen Personen und Sachen bereits nach den allgemeinen Vorschriften des Strafrechts als Tötung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung oder Sachbeschädigung bestraft werden könnten (vgl. z. B. Bockelmann und Lackner in der Sitzung des Sonderausschusses am 12./13. 1. 1970, S. 171, 203 der stenographischen Niederschriften). Eine solche Beschränkung wäre vor allem aber auch nicht in der Lage gewesen, die nach den Theorien der Massenpsychologie und den Erfahrungen der letzten Jahre hinreichend bekannte Sog- und Schutzwirkung der hinter den eigentlichen Gewalttätern stehenden Masse in befriedigender Weise strafrechtlich zu erfassen: Die angeheizte Masse vergrößert die Bereitschaft zu Gewaltakten, ihre Anonymität fördert die potentielle Täterschaft; die Verfolgung des radikalen Kerns, der die eigentlichen Gewalttätigkeiten verübt, wird erschwert. Hinzu kommt, daß selbst offensichtliche Agitatoren, die die Masse durch Sprechchöre oder auf ähnliche Weise anheizen, nur in den seltensten Fällen als Täter und meist auch nicht als Gehilfen erfaßt werden können, da es für die Annahme von Beihilfe nicht ausreicht, daß die Unzufriedenheit der Menge gesteigert wird. Für die Annahme von Beihilfe ist vielmehr erforderlich, daß die Voraussetzungen für ganz konkrete Gewalttätigkeiten nachweisbar verbessert werden (vgl. Lackner aaO.). Andererseits mußte eine Lösung gefunden werden, die verhindert, daß die Demonstranten, die ihre Demonstration fortführen wollen, ohne selbst an Gewalttätigkeiten beteiligt zu sein, sowie unbeteiligte Passanten, Presseleute, Neugierige, vor allem aber auch Ärzte, Sanitäter und sog. Abwiegler ebenfalls in Gefahr geraten, allein wegen ihrer Anwesenheit in der Menge wegen Landfriedensbruchs in ein Strafverfahren gezogen zu werden. Unter Abwägung dieser Gesichtspunkte wurde dann schließlich die vom Bundestag am 18. 3. 1970 verabschiedete Fassung des Sonderausschusses herausgearbeitet, wonach neben Tätern und Teilnehmern auch die sog. Anheizer bestraft werden, d. h. solche Personen, die auf die Menschenmenge einwirken, um ihre Bereitschaft zu Gewalttätigkeiten und Bedrohungen zu fördern. Friedliches Demonstrieren ist dagegen nicht mehr mit der Gefahr einer Strafverfolgung verbunden. Selbst bei einer polizeilichen Auflösung einer Demonstration kann deren Fortsetzung nach § 113 OWiG (abgedruckt in Anh. 2) nur noch als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Versuche der Opposition, den Tb. des § 125 wieder in der Weise zu erweitern, daß jeder mit Strafe bedroht wird, der sich einer unfriedlichen Menschenmenge anschließt oder sich nicht aus ihr entfernt (vgl. BT-Drucks. 7/2772 und 7/2854), konnten sich bei der Verabschiedung des 14. StrRÄndG nicht durchsetzen (vgl. BT-Drucks. 7/4549), obwohl seit der Verabschiedung des 3. StrRG bis Ende 1976 im Bundesgebiet mehr als 1000 unfriedliche Demonstrationen registriert werden mußten (vgl. Polizeispiegel 1977,193).
2. Die Tathandlung des Abs. 1 Ziff. 1 besteht entweder in der VerÜbung von Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen oder in der Teilnahme an solchen Gewalttätigkeiten oder in der Einwirkung auf eine Menschenmenge mit dem Ziel, deren Bereitschaft zu solchen Gewalttätigkeiten zu fördern. Im einzelnen: a) Der Begriff der Gewalttätigkeit ist wesentlich enger als der Gewaltbegriff bei Nötigung und Raub. Tatbestandsmäßig sind nur solche Handlungen, durch die der Täter aggressiv gegen Personen oder Sachen vorgeht, vor allem, wenn strafbare Handlungen wie Mord und Totschlag, Körperverletzung und Sachbeschädigung begangen werden. Aber auch die Errichtung von Straßensperren zur Lahmlegung des Verkehrs oder eines bestimmten Betriebs muß nach inzwischen gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung
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als Gewalttätigkeit beurteilt werden (BayObLG NJW 1969, 63; Stgt NJW 1969, 1543; Celle NJW 1970, 206; Köln NJW 1970, 260; Dreher 7 zu § 124; a. A. Cramer in Schönke-Schröder 5; Lackner 2 b; Rudolphi SK 5). Nach BGH 23, 46, 53 genügt sogar schon das Wegdrängen eines Polizeibeamten oder das Umwerfen eines Gegenstands. Folgt man dieser sehr weitgehenden Rechtsprechung, so muß man konsequent auch das Werfen von Eiern, Farbbeuteln oder Tomaten als Gewalttätigkeit beurteilen (vgl. BGH 5 StR 329/68 v. 10. 9. 1968). Keinesfalls ausreichend ist jedoch ein rein passives Verhalten, z. B. ein Sitzstreik auf den Schienen einer Straßenbahn, auch wenn dieser nach BGH 23, 46 ff. eine mit den Mitteln der Gewalt begangene rechtswidrige Nötigung darstellt. Auch das gewaltlose Besetzen einer Dienststelle durch Demonstranten wird nicht dadurch zur Gewalttätigkeit, daß der Dienstbetrieb durch die mit der großen Zahl der Demonstranten verbundenen Störungen zum Erliegen kommt (vgl. Stgt NJW 1969, 1776). Zum Ganzen siehe auch Ott NJW 1969, 454, 2023 und Kreuzer NJW 1970, 670 (Anmerkung zu Celle NJW 1970, 206). b) Die Gewalttätigkeit muß aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen worden sein. aa) Menschenmenge ist eine größere Ansammlung von Personen, die man nicht auf den ersten Blick zählen kann. Nach einer Entscheidung des BGH vom 13. 7. 1960 (2 StR 291/60) kann bereits eine Ansammlung von 11 Jugendlichen eine solche Menschenmenge darstellen. bb) Die Gewalttätigkeiten müssen „aus" der Menschenmenge begangen werden. Nicht erforderlich ist, daß die Menge als ganze sich mit den Ausschreitungen identifiziert oder solidarisch fühlt (übereinstimmend Dreher 4; Hübner LK12; str.). cc) Die Gewalttätigkeiten müssen mit vereinten Kräften begangen werden. Mittäterschaft i. S. von § 25 Abs. 2 ist ebensowenig erforderlich wie eine vorherige Absprache. Es genügt, daß die Gewalttätigkeiten von einzelnen Teilnehmern verübt werden, die Ausschreitungen aber der psychischen Grundhaltung der versammelten Menge entsprechen (Cramer in Schönke-Schröder 11). Selbst die Ausschreitungen eines einzelnen können den Tatbestand verwirklichen, wenn die anderen billigend zu ihm stehen (vgl. RG JW 1933, 429; BayObLG NJW 1955, 1806; Hübner LK 14). - Beispiel: A schlägt bei einer Demonstration die Scheiben eines Gebäudes ein. Eine Gruppe von 10 bis 15 weiteren Demonstranten sichert ihn gegen Identifizierung und Festnahme in der Weise ab, daß sie sich mit Fahnen und Transparenten schützend hinter ihn stellt. Nicht ausreichend sind andererseits Aktionen einzelner, die vom Willen der übrigen Teilnehmer nicht getragen werden. dd) Die öffentliche Sicherheit ist gefährdet, wenn die Ausschreitungen geeignet sind, in der Bevölkerung das Bewußtsein aufkommen zu lassen, daß Ruhe und Friede nicht mehr gewährleistet sind. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn sich die Aktion nur gegen bestimmte Personen, Personengruppen oder Objekte richtet. Ist die öffentliche Sicherheit in dieser Weise gefährdet, so ist die Friedlichkeitsschranke des Art. 8 Abs. 1 GG überschritten; die versammelte Menge kann sich im Falle einer polizeilichen Auflösung nicht mehr auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit berufen. c) Täter ist zunächst jeder, der selbst oder durch einen anderen (mittelbare Täterschaft) Gewalttätigkeiten verübt. Ein Fall der Täterschaft liegt aber auch für den vor, der sich an den Gewalttätigkeiten nur als Teilnehmer beteiligt. Durch die besondere Struktur des
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Tatbestands werden Anstiftung und Beihilfe zu einem besonderen Fall der Täterschaft erhoben. Beihilfe ist - wie auch sonst - jede vorsätzliche Unterstützung fremder Tat. Sie kann nach allgemeinen Grundsätzen entweder durch Verbesserung der äußeren Bedingungen geleistet werden (sog. physische oder technische Beihilfe) oder dadurch, daß der eigentliche Täter durch Ratschläge oder auf sonstige Weise in seinem Tatentschluß bestärkt wird (sog. psychische oder intellektuelle Beihilfe). - Beispiele für physische Beihilfe: Anfertigung sog. Molotow-Cocktails, Verteilung von Eiern, Farbbeuteln und ähnlichen Wurfgeschossen; - oder: Abschirmen eines gewalttätigen Demonstranten, um ihn vor Identifizierung und Festnahme zu sichern und ihm die ungestörte Fortsetzung seines Treibens zu ermöglichen. - Beispiele für psychische Beihilfe: Erteilen von Ratschlägen, wie man Molotow-Cocktails herstellt und verwendet; - oder: Zurufe an den radikalen Kern der Menge, um die dort agierenden Täter zur Fortsetzung bereits begonnener Gewaltakte zu ermuntern. d) In allen Erscheinungsformen setzt die Beihilfe, wie bereits oben unter Anm. 1 dargelegt, wesensmäßig voraus, daß die Gewalttätigkeiten durch den als Beihilfe zu wertenden Tatbeitrag nachweisbar gefördert werden und der Gehilfe einen solchen Erfolg nachweisbar gewollt, zumindest aber billigend in seine Vorstellung einbezogen hat. Ein derartiger Nachweis ist in der Praxis erfahrungsgemäß nur schwer zu führen. Dies gilt vor allem für den Nachweis des Vorsatzes. Andererseits besteht ein erhebliches öffentliches Interesse daran, auch diejenigen strafrechtlich verfolgen zu können, die durch Sprechchöre, Zurufe und Gesten oder durch ähnliche Agitationen in gefährlicher Weise die Menge aufheizen. Diese Erwägungen führten schließlich dazu (s. o. Anm. 1), daß der Bundestag sich entschloß, über den ursprünglichen SPD/FDP-Entwurf hinausgehend auch den als Täter eines Landfriedensbruchs zu behandeln, der - ohne selbst nachweisbar als Täter oder Teilnehmer an Gewalttätigkeiten beteiligt zu sein - auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu Gewalttätigkeiten zu fördern. Einwirken in diesem Sinn ist jede Beeinflussung von Teilnehmern der versammelten Menge, mit dem Ziel, diese „aufzuheizen", z. B. durch Mitführen von aggressiven, zu Gewalttaten auffordernden Spruchbändern, durch Verteilen von entsprechend aggressiven Hetzflugblättern, vor allem aber durch Anstimmen von Sprechchören, in denen zu Gewaltakten aufgefordert wird. Die bloße Anwesenheit in der Menge reicht dagegen nicht mehr aus, um den Tatbestand des Landfriedensbruchs zu verwirklichen. Wer sich nur als Neugieriger in der Menge aufhält oder lediglich die friedlich begonnene Demonstration friedlich fortführen möchte, kann nicht wegen Landfriedensbruch bestraft werden, sondern begeht allenfalls eine Ordnungswidrigkeit nach § 113 OWiG (Anh. 2). Andererseits setzt das Tatbestandsmerkmal „einwirken" nicht voraus, daß der Täter sich selbst in der Menge aufhält. Die Einwirkung kann auch von außen erfolgen, z. B. in der Weise, daß die eigentlichen Agitatoren sich im Hintergrund halten und von dort aus die Aktionen durch ihre Mittelsmänner steuern. e) Der subj. Tb. erfordert bei allen Tatbestandsalternativen Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz grundsätzlich ausreicht. Lediglich bei der letzten Tb.-Alternative ist die Absicht des Täters erforderlich, die Bereitschaft der Menge zu unfriedlichem Verhalten zu fördern, d. h. es muß dem Täter auf diesen Erfolg ankommen. Bei einem bestreitenden oder die Aussage verweigernden Beschuldigten kann das Vorliegen der aufwieglerischen Absicht auch aus den äußeren Umständen geschlossen werden. 3. In Abs. 1 Nr. 2 wird die Bedrohung mit einer Gewalttätigkeit der Verübung von Gewalttätigkeiten gleichgestellt. Die angedrohte Gewalttätigkeit kann sich auch gegen 473
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Sachen richten, z. B. Drohung, die Einsatzfahrzeuge der Polizei in Brand zu setzen. Die Ausführungen unter Anm. 2 gelten im übrigen entsprechend. 4. Teilnahme: Anstiftung und Beihilfe zu Gewalttätigkeiten und Bedrohung mit Gewalttätigkeiten sind aufgrund der besonderen Struktur des Tatbestands zu selbständigen Formen der Täterschaft erhoben (s. o. 2). Dies gilt allerdings nur für Mitglieder der Menschenmenge (h. L., vgl. Rudolphi SK 13; a. A. Dreher 5; Hübner LK 7). Im übrigen richtet sich die Teilnahme nach allgemeinen Grundsätzen. Wenn z. B. A den X dazu anstiftet, bei einer Demonstration aggressive Hetzflugblätter zu verteilen und auf diese Weise die Menge anzuheizen, so liegt hierin eine nach den §§ 125, 26 strafbare Anstiftung zum Landfriedensbruch, falls nicht aufgrund besonderer Umstände nach allgemeinen Grundsätzen ein Fall der Mittäterschaft anzunehmen ist. 5. Abs. 2 bezieht sich auf die Fälle, in denen die nach § 125 Abs. 1 tatbestandsmäßigen Handlungen zugleich Widerstandshandlungen i. S. von § 113 sind. Die Verweisung auf § 113 Abs. 3 stellt klar, daß aus der Menge heraus verübte Gewalttätigkeiten gegen Polizeibeamte und sonstige Vollstreckungsbeamte bzw. deren Bedrohung mit Gewalttätigkeiten nur dann nach § 125 als Landfriedensbruch strafbar sind, wenn die Beamten sich in rechtmäßiger Ausübung ihres Amtes befunden haben. Die Verweisung auf Abs. 4 des § 113 gibt die Möglichkeit, den Intum über die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung des angegriffenen oder bedrohten Beamten als schuldausschließend oder schuldmildemd zu behandeln und gegebenenfalls von Strafe abzusehen. 6. Konkurrenzen: Tateinheit ist vor allem möglich mit §§ 88 a, 113, 223, 303. Im Verhältnis zu den §§ 211, 212, 223 a, 224, 226 wirkt sich dagegen die Subsidiaritätsklausel aus, d. h. § 125 kommt neben diesen Vorschriften nicht zur Anwendung.
§ 125 a
Besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs
In besonders schweren Fällen des § 125 ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. eine Schußwaffe bei sich führt, 2. eine andere Waffe bei sich führt, um diese bei der Tat zu verwenden, 3. durch eine Gewalttätigkeit einen anderen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Körperverletzung (§ 224) bringt oder 4. plündert oder bedeutenden Schaden an fremden Sachen anrichtet. 1. Die Vorschrift bringt - ähnlich wie §§ 113 Abs. 2, 121 Abs. 3 - eine Strafschärfung für besonders schwere Fälle. 2. Zu den vier Regelbeispielen: a) Abweichend von der Regelung des § 113 Abs. 2 (siehe dort Anm. V) genügt bei Schußwaffen das Bewußtsein des Mitsichführens. Eine Gebrauchsabsicht ist nicht erfor474
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 126
derlich. § 125 a Nr. 1 entspricht damit insoweit der Regelung der §§ 244 Abs. 1 Nr. 1 und 250 Abs. 1 Nr. 1 (Einzelheiten siehe § 244 Anm. II 1). Abweichend von der in diesen Vorschriften getroffenen Regelung trifft die Strafschärfung jedoch immer nur den Täter, der selbst die Schußwaffe bei sich geführt hat (vgl. BGH 27, 56). b) Bei sonstigen Waffen (Waffen im technischen Sinn, soweit nicht schon unter Nr. 1 fallend, sowie Waffen im nicht technischen Sinn) ist wie in § 113 Abs. 2 und § 244 Abs. 1 Nr. 2 eine - mindestens bedingte - Gebrauchsabsicht erforderlich. Die Strafschärfung trifft (wie auch in Nr. 1) nur den Täter, der die Waffe selbst mit sich führt, um sie bei der Tat zu verwenden (BGH 27,56). c) Zu Nr. 3 siehe § 113 Anm. V 2. d) Nr. 4 enthält Elemente des früheren § 125 Abs. 2, ohne daß die Tat dadurch jedoch zum Verbrechen wird. Plündern ist die in Zueignungsabsicht erfolgte Wegnahme oder Abnötigung von Sachen unter Ausnutzung der durch die Unruhen entstandenen Verwirrung (vgl. RG 52, 34 f.; Hübner LK 7; Lackner 2). 3. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage (§ 125 Abs. 2 aF) sowie entgegen dem CDU/CSU-Entwurf (BT-Drucksache VI/261) und gegen die Stellungnahme des Richterbundes sowie einiger Landesjustizverwaltungen hat man darauf verzichtet, den Fall des sog. Rädelsführeis in den Katalog des § 125 a aufzunehmen. Dies schließt allerdings nicht aus, die Agitation eines Rädelsführers auch ohne Erwähnung im Katalog des § 125 a als besonders schweren Fall zu werten, wenn sie sich im Einzelfall tatsächlich als besonders strafwürdig erwiesen hat (vgl. Begründung des Sonderausschusses, S. 10 der BT-Drucksache VI/502).
§ 126
Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten
(1) Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. einen der in § 125 a Satz 2 Nr. 1 bis 4 bezeichneten Fälle des Landfriedensbruchs, 2. einen Mord, Totschlag oder Völkermord (§§ 2 1 1 , 2 1 2 , 2 2 0 a), 3. eine Körperverletzung in den Fällen des § 2 2 5 oder eine Vergiftung (§ 229), 4. eine Straftat gegen die persönliche Freiheit in den Fällen der §§ 2 3 4 , 2 3 4 a, 2 3 9 a oder 2 3 9 b, 5. einen Raub oder eine räuberische Erpressung (§§ 2 4 9 bis 2 5 1 , 2 5 5 ) , 6. ein gemeingefährliches Verbrechen in den Fällen der §§ 3 0 6 bis 308, 3 1 0 b Abs. 1 bis 3, des § 3 1 1 Abs. 1 bis 3, des § 3 1 1 a Abs. 1 bis 3, der §§ 3 1 2 , 3 1 3 Abs. 1, des § 3 1 5 Abs. 3, des § 3 1 5 b Abs. 3, des § 3 1 6 a Abs. 1, des § 3 1 6 c Abs. 1 , 2 , des § 3 2 1 Abs. 2, des § 3 2 4 oder 7. ein gemeingefährliches Vergehen in den Fällen des § 3 1 6 b Abs. 1, des § 317 Abs. 1 oder des § 3 2 1 Abs. 1 androht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 475
§ 126
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
(2) Ebenso wird bestraft, wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wider besseres Wissen vortäuscht, die Verwirklichung einer der in Absatz 1 genannten rechtswidrigen Taten stehe bevor. 1. Die durch das 14. StrRÄndG neu gefaßte Vorschrift enthält konkrete Gefährdungsdelikte. Geschütztes Rechtsgut ist der öffentliche Friede, der nicht nur durch die Androhung tatsächlich beabsichtigter Verbrechen, sondern auch dadurch gestört werden kann, daß eine bevorstehende Verbrechensbegehung nur vorgetäuscht wird. Bei der Neufassung wurde berücksichtigt, daß nicht nur die Androhung eines gemeingefährlichen Verbrechens i. S. der §§ 306 ff. geeignet ist, Unruhe in der Bevölkerung hervorzurufen, dieser Effekt vielmehr auch durch die Androhung sonstiger Gewalttaten eintreten kann. Entsprechend der Bedeutung der Vorschrift wurde die Höchststrafe von einem Jahr auf drei Jahre Freiheitsstrafe heraufgesetzt. Für Taten, die vor Inkrafttreten des 14. StrRÄndG begangen worden sind, ist § 2 zu beachten. Gesetzesmaterialien und Schrifttum siehe § 88 aAnm. 1. 2. Der in Abs. 1 Nr. 1 - 7 enthaltene Straftatenkatalog enthält seit der Neufassung der Vorschrift durch das 14. StrRÄndG nicht nur gemeingefährliche Delikte, sondern auch solche Straftaten, die in die Individualsphäre einzelner eingreifen, wegen der durch ihre Begehung drohenden Gefahr schwerer Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität jedoch ebenfalls geeignet sind, den öffentlichen Frieden zu stören. a) Der Katalog, der nicht nur Verbrechen, sondern auch Vergehen enthält (vgl. Abs. 1 Nr. 7) ist abschließend. Andere Delikte, die ebenfalls geeignet sein könnten, den öffentlichen Frieden zu stören (z. B. Sexual- und Geldfälschungsdelikte) reichen zur Tatbestandsverwirklichung nicht aus. b) Ausreichend ist die Androhung (Abs. 1) bzw. Vortauschung (Abs. 2) einer rechtswidrigen Tat i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 5. Für die Fälle des Abs. 2 ergibt sich dies ausdrücklich aus dem Gesetzestext; für Abs. 1 kann nach dem Schutzzweck der Vorschrift nichts anderes gelten (h. L., vgl. Rudolphi SK 6). Tatbestandsmäßig ist deshalb auch der Fall, daß jemand, der sich selbst - zu Recht oder zu Unrecht - als geisteskrank bezeichnet, die Sprengung eines Kaufhauses androht (vgl. Blei JA 1975, StR S. 3). 3. Androhung ist die Ankündigung einer Straftat, deren Begehung vom Willen des Täters abhängig ist. a) Nicht erforderlich ist die Androhung des Täters, er werde die Straftat selbst begehen; es genügt die Ankündigung, die Tat werde von einer Person begangen, die unter dem Einfluß des Täters steht (h. A., vgl. Laufhütte MDR 1976,442 m. Nachw.). b) Die Androhung muß so konkret gefaßt sein, daß sie eines der im Straftatenkatalog erfaßten Delikte in allen wesentlichen Merkmalen klar erkennen läßt. Nicht ausreichend sind deshalb illegale Streikaufrufe unter dem Motto „morgen gibt es kein Wasser mehr" oder „morgen stehen alle Räder still". Sie lassen nicht mit der erforderlichen Sicherheit erkennen, daß das angedrohte Übel auf einer nach § 316 b tatbestandsmäßigen Sabotagehandlung beruht (vgl. Laufhütte MDR 1976, 442). Ausreichend wäre andererseits die Drohung, man werde die Banken „massenhaft besuchen" und sich das Geld holen, das die kapitalistische Gesellschaft der Arbeiterklasse vorenthält. Eine derartig formulierte
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Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 126
Androhung läßt mit der erforderlichen Sicherheit Raub (§§ 249 ff.) und Landfriedensbruch in einem besonders schweren Fall (§ 125 a Nr. 4) erkennen. Wahlfeststellung innerhalb des Katalogs des Abs. 1 ist zulässig. 4. Die Androhung (Abs. 1) bzw. Vortäuschung einer bevorstehenden Straftat (Abs. 2) muß geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören. a) Der öffentliche Friede ist gestört, wenn das Bewußtsein der Bevölkerung, in Ruhe und Frieden leben zu können, erschüttert wird (siehe auch § 130 Anm. 1, § 166 Anm. I). Hierbei genügt nicht, daß nur eine bestimmte Einzelperson oder Personengruppe in ihrem Sicherheitsgefühl beeinträchtigt wird, z. B. wenn ein Ehemann seiner getrennt lebenden Ehefrau eine Morddrohung zukommen läßt. Erforderlich ist vielmehr, daß nicht unerhebliche Teile der Bevölkerung (z. B. die Einwohner einer bestimmten Ortschaft oder die Angestellten und Besucher eines bestimmten Kaufhauses) ernsthaft beunruhigt werden (vgl. Laufhütte MDR 1976, 442; Rudolphi SK 7). Bei Androhung von Straftaten gegen Einzelpersonen liegt eine Friedensstörung grundsätzlich nur vor, wenn das Opfer nicht genau individualisiert wird, die Tat sich also gegen mehrere Personen oder Personengruppen richten kann (z. B. die Drohung, einen Bauernhof in A-Dorf in Flammen aufgehen zu lassen). b) Nicht erforderlich ist, daß der öffentliche Friede tatsächlich gestört wird. Es genügt vielmehr jede Handlung, die sich unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls hierzu eignet. Eine solche Eignung zur Friedensstörung liegt insbesondere dann vor, wenn die Androhung öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften usw. erfolgt. In diesen Fällen ist der Tb. regelmäßig auch dann erfüllt, wenn es den verantwortlichen Sicherheitsorganen gelingt, ein Bekanntwerden der Androhung und damit eine allgemeine Unruhe unter der Bevölkerung zu verhindern (Laufhütte MDR 1976, 442). Umgekehrt können auch Äußerungen gegenüber Einzelpersonen zur Friedensstörung geeignet sein, wenn auf Grund von Abwehrmaßnahmen Unruhe in der Bevölkerung aufkommen kann (vgl. Stree NJW 1976, 1180). Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn die Androhung einer Straftat Anlaß zur Räumung eines Gebäudes gibt. 5. Der Tatbestand des Abs. 2 (Vortäuschen einer Gewalttat) erfaßt die Fälle, in denen der Täter bewußt wahrheitswidrig eine Straftat aus dem Katalog des Abs. 1 ankündigt, ohne gleichzeitig zum Ausdruck zu bringen, daß die Ausführung dieser Tat von seinem Willen abhängig ist (sonst Strafbarkeit nach Abs. 1). Hierher gehören vor allem anonyme Bombendrohungen. a) Vorgetäuscht ist eine Straftat, wenn der Täter auf eine Straftat hinweist, ohne konkrete Anhaltspunkte für ihre bevorstehende Begehung zu haben. Er handelt dabei wider besseres Wissen, wenn er sich bewußt ist, daß die Ankündigung mit seinen Wissensgrundlagen im Widerspruch steht (Blei JA 1975, StR S. 4). Unerheblich ist, ob zufällig tatsächlich von irgendeiner Terroristengruppe ein Anschlag der angekündigten Art vorbereitet wird. b) Über rechtswidrige Tat s. o. Anm. 2 b sowie § 11 Abs. 1 Nr. 5. Bevorstehend ist die vorgetäuschte Straftat nicht erst dann, wenn sie sich nach der Darstellung des Täters bereits im Stadium des Versuchs oder der Ausführung befindet; auch die Ankündigung von Taten, die sich erst in der Vorbereitung oder gar erst in der Planung befinden, kann geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören. Andererseits kann auf eine „gewisse
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§ 127
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
zeitliche Nähe" der angekündigten Tat nicht verzichtet werden (Sturm JZ 1976, 350). Hinweise auf wenig realitätsbezogene Planungen, deren Verwirklichung noch in weiter Ferne liegt, genügen deshalb nicht (Blei JA 1975, StR S. 3; Laufhütte MDR 1976,443). 6. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich vor allem darauf beziehen, daß die Androhung bzw. Vortäuschung der bevorstehenden Straftat geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Bei Äußerungen gegenüber einer Einzelperson muß der Täter wissen, zumindest aber damit rechnen, daß seine Äußerung verbreitet wird und die Gefahr einer Friedensstörung bewirkt (Rudolphi SK 8). Über die Bedeutung des Merkmals „wider besseres Wissen" in Abs. 2 s. o. Anm. 5 a. 7. Tateinheit ist möglich mit §§ 145 Abs. 1,145 d Abs. 1 Nr. 2,240, 241. 8. Beachte ferner §§ 88 a Abs. 2 und 130 a Abs. 1.
§ 127
Bildung bewaffneter Haufen
(1) Wer unbefugterweise einen bewaffneten Haufen bildet oder befehligt oder eine Mannschaft, von der er weiß, daß sie ohne gesetzliche Befugnis gesammelt ist, mit Waffen oder Kriegsbedürfnissen versieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Wer sich einem solchen bewaffneten Haufen anschließt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Geschütztes Rechtsgut ist in erster Linie der innere Friede, zugleich aber auch die Wehrhoheit der verantwortlichen Bundesorgane. Illegale Söldnertruppen gefährden nicht nur die innere Sicherheit, sondern begründen, falls sie im Ausland eingesetzt werden, die Gefahr eines Konflikts mit dem Ausland. 2. Ein „Haufen" ist die räumliche Vereinigung einer größeren Anzahl Menschen. Nach RG JW 1931, 1565 genügt bereits eine Gruppe von mindestens 10 Personen (siehe auch RG GA 46, 35). Bewaffnet ist der Haufen, wenn ein Teil der Leute so mit Waffen ausgestattet ist, daß die Gruppe bei geschlossenem Einsatz eine gefährliche Stoßkraft entfalten könnte (RG JW 1931, 1565; Hübner LK 4). Bei den Waffen muß es sich um Schußwaffen oder sonstige Waffen im technischen Sinn handeln. Ausreichend sind z. B. Säbel, Schlagringe, Gummiknüppel, Ochsenziemer (Farrenschwänze), umgearbeitete Sensen und keulenartige schwere Knüppel (vgl. Hübner LK 4 m. Nachw.). Einen Haufen „bildet", wer die einzelnen Mitglieder zusammenschart; einen Haufen „befehligt", w e r allein oder zusammen mit anderen - die Befehlsgewalt über den gesamten Haufen ausübt. Auf Unterführer ist die Vorschrift nur anwendbar, wenn die ihnen zugeteilten Leute einen selbständigen häufen- oder mannschaftsstarken Trupp bilden (Hübner LK 5; Rudolphi SK 3). 3. Eine Mannschaft ist eine nicht notwendig räumlich vereinte, aber militärähnlich organisierte Formation. Über Waffen s. o. Anm. 2. Zu den Kriegsbedürfnissen gehört Kriegs478
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 129
gerät jeder Art, insbesondere Munition, aber auch Transportmittel, die Kampfausrüstung und der Proviant (Hübner LK 5). 4. Während sich die Strafdrohung des Abs. 1 gegen die Initiatoren und Hintermänner der illegalen Truppe richtet, erfaßt Abs. 2 die einzelnen Mitglieder, die sich dem Haufen (oder der Mannschaft) anschließen, d. h. in die Organisation mitgliedschaftlich einordnen (vgl. R G 30, 392; 59, 282; G A 4 6 , 35; h. L.). 5. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz hinsichtlich aller Tb.-Merkmale genügt. 6. Tateinheit ist möglich mit §§ 53 WaffG und 16 KriegswaffG.
§ 128
[aufgehoben durch das 8. StrRÄndG]
§ 129
Bildung krimineller Vereinigungen
(1) Wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Straftaten zu begehen, oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, für sie wirbt oder sie unterstützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Absatz 1 ist nicht anzuwenden, 1. wenn die Vereinigung eine politische Partei ist, die das Bundesverfassungsgericht nicht für verfassungswidrig erklärt hat, 2. wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist oder 3. soweit die Zwecke oder die Tätigkeit der Vereinigung Straftaten nach den §§ 84 bis 87 betreffen. (3) Der Versuch, eine in Abs. 1 bezeichnete Vereinigung zu gründen, ist strafbar. (4) Gehört der Täter zu den Rädelsführern oder Hintermännern oder liegt sonst ein besonders schwerer Fall vor, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. (5) Das Gericht kann bei Beteiligten, deren Schuld gering und deren Mitwirkung von untergeordneter Bedeutung ist, von einer Bestrafung nach den Absätzen 1 und 3 absehen. (6) Das Gericht kann die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder von einer Bestrafung nach diesen Vorschriften absehen, wenn der Täter 479
§ 129
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
1. sich freiwillig und ernsthaft bemüht, das Fortbestehen der Vereinigung oder die Begehung einer ihren Zielen entsprechenden Straftat zu verhindern, oder 2. freiwillig sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle offenbart, daß Straftaten, deren Planung er kennt, noch verhindert werden können; erreicht der Täter sein Ziel, das Fortbestehen der Vereinigung zu verhindern, oder wird es ohne sein Bemühen erreicht, so wird er nicht bestraft. 1. Die Vorschrift wurde in letzter Zeit wiederholt geändert. Die derzeitige Fassung geht auf das EGStGB zurück, nachdem zuvor durch das 1. StrRG der Strafrahmen des Abs. 4 gemildert und die Absätze 5 und 6 dem damaligen § 15 (jetzt = § 49 Abs. 2) angepaßt wurden. Sachliche Änderungen wurden bereits durch das VereinsG v. 5. 8. 1964 und das 8. StrRÄndG vom 25. 6. 1968 vorgenommen. . 2. Wie bei den §§ 84, 85 handelt es sich bei § 129 um ein sog. Organisationsdelikt. Im Gegensatz zu den Fällen der §§ 84, 85 ist es jedoch bei § 129 nicht erforderlich, daß die Vereinigung von einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde zunächst als verfassungswidrig oder als verboten erklärt werden muß. 3. Über Vereinigung siehe § 85 Anm. 2 b. Zweck der Vereinigung muß die Begehung von Straftaten sein. Dieser Zweck muß jedoch nicht identisch sein mit dem Endziel oder dem hauptsächlichen Zweck der Vereinigung (vgl. BGH 15, 261). Es genügt vielmehr, daß die geplanten Straftaten das Endziel nur vorbereiten sollen oder daß sie nur einen Nebenzweck der Vereinigung bilden (BGH aaO.). Wie bei § 244 (siehe dort Anm. 3 b) genügt es nicht, daß der Zweck der Vereinigung auf die Begehung einer einzelnen fortgesetzten Tat gerichtet ist. Ausreichend ist es jedoch, wenn während eines Dauerdelikts, etwa während einer als Hausfriedensbruch zu beurteilenden, wochenlangen Hausbesetzung, verschiedene untereinander rechtlich selbständige Gewaltdelikte begangen werden sollen (BGH NJW 1975, 985). Die Art der Straftaten ist unerheblich. Auch Straftaten nach den §§ 185-187 können den Gegenstand einer nach § 129 strafbaren Tätigkeit einer Vereinigung bilden (vgl. BGH 20, 88 betr. einer Vereinigung, die eine planmäßige Hetze gegen die Bundesregierung und die Justizorgane betrieben hat). Über wichtige Ausnahmen siehe Abs. 2. 4. Die Tathandlung besteht in der Gründung der Vereinigung. Als Gründung gilt jede Neubildung. Dem gleichgestellt ist der Fall, daß sich jemand in der Vereinigung als Mitglied betätigt. Siehe hierzu ausführlich § 84 Anm. 6 a. Weiterhin gleichgestellt sind Werbung und Unterstützung. Siehe hierzu § 84 Anm. 6 b sowie Dahs NJW 1976, 2145, 2148. 5. Abs. 2 bringt eine Reihe wichtiger Ausnahmen. Politische Parteien können nach Abs. 2 Nr. 1 erst dann unter § 129 fallen, wenn sie das BVerfG für verfassungswidrig erklärt hat. Das sog. Parteienprivileg schützt die Mitgüeder einer Partei jedoch nur insoweit, als sie sich offen im Rahmen der offen verkündeten Ziele ihrer Partei betätigen (vgl. Dahs NJW 1976, 2147). Nach Abs. 2 Nr. 2 scheiden auch die Fälle aus, in denen die Begehung von Straftaten für die Zwecke oder die Tätigkeit der Vereinigung nur von untergeordneter Bedeutung ist. Allerdings können auch verhältnismäßig geringfügige
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Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 129a
Delikte wie Sachbeschädigungen, Beleidigungen usw. dann den Tb. des Abs. 1 verwirklichen, wenn sie fortgesetzt und planmäßig betrieben werden, um bestimmte Personen oder Gruppen zu terrorisieren (s. o. 3 sowie BGH NJW 1975, 985). Nach Abs. 2 Nr. 3 sind weiter ausgenommen die Tatbestände der §§ 84-87, zu denen noch die nur aus technischen Gründen nicht aufgenommenen Verstöße nach § 20 Abs. 1 Nr. 1-4 VereinsG treten (BT-Drucks. IV/2145 [neu]; Dreher 3). 6. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz. Dieser muß sich vor allem auf die kriminellen Zwecke der Vereinigung erstrecken. Bedingter Vorsatz genügt. 7. Der Versuch ist nur bei der Gründung der Vereinigung strafbar (Abs. 3). 8. Abs. 4 bringt eine Strafschärfung für Rädelsführer und Hintermänner sowie für besonders schwere Fälle. Über Rädelsführer und Hintermänner siehe § 84 Anm. 5. 9. Die Mitläuferklausel des Abs. 5 entspricht der in § 84 Abs. 4 getroffenen Regelung. Abs. 6 enthält - ähnlich wie § 84 Abs. 5 - einen Sonderfall der tätigen Reue. 10. Tateinheit ist möglich mit §§ 84, 85 sowie mit allen Straftaten, die dem Zweck der Vereinigung entsprechend begangen werden (BGH NJW 1975, 985 f.). § 129 a geht als die speziellere Vorschrift vor. 11. Prozessual beachte §§ 153 b - e StPO (Opportunitätsprinzip) sowie §§ 74 a, 120 Abs. 2,142 GVG (Zuständigkeit).
§ 129 a
Bildung terroristischer Vereinigungen
(1) Wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, 1. Mord, Totschlag oder Völkermord (§§ 2 1 1 , 2 1 2 , 2 2 0 a), 2. Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 2 3 9 a oder des § 2 3 9 b oder 3. gemeingefährliche Straftaten in den Fällen der §§ 3 0 6 bis 3 0 8 , 3 1 0 b Abs. 1, des § 3 1 1 Abs. 1, des § 3 1 1 a Abs. 1, der §§ 3 1 2 , 3 1 6 c Abs. 1 oder des § 3 2 4 zu begehen, oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, für sie wirbt oder sie unterstützt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Gehört der Täter zu den Rädelsführern oder Hintermännern, so ist auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen. (3) Der Versuch, eine in Absatz 1 bezeichnete Vereinigung zu gründen, ist strafbar. 16
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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§ 129a
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
(4) D a s Gericht kann bei Beteiligten, deren Schuld gering und deren Mitwirkung von untergeordneter Bedeutung ist, in den Fällen des Absatzes 3 von Strafe absehen oder in den Fällen des Absatzes 1 die Strafe nach seinem Ermessen (§ 4 9 Abs. 2) mildem. (5) § 1 2 9 Abs. 6 gilt entsprechend. (6) N e b e n einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten kann das Gericht die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, und die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, aberkennen (§ 4 5 Abs. 2). (7) In den Fällen der Absätze 1 und 2 kann das Gericht Führungsaufsicht anordnen (§ 6 8 Abs. 1 Nr. 2). 1. Die durch Gesetz v. 18. 8. 1976 (BGBl. I 2181) neu eingefügte Vorschrift verfolgt das Ziel, besonders gefährliche kriminelle Vereinigungen wirksamer als bisher zu bekämpfen. Dieses Ziel soll wie bei § 129 durch eine Vorverlagerung der strafrechtlichen Sanktionen in das Vorbereitungsstadium terroristischer Aktionen erreicht werden. Zu beachten ist, daß die in § 129 Abs. 2 enthaltenen Tatbestandsausschließungsgründe, insbesondere das sog. Parteienprivileg, im Rahmen des § 129 a keine Anwendung finden (krit. hierzu Lackner 1 unter Hinweis auf BVerfGE 17, 155; Rudolphi SK 5; Sturm MDR 1977, 6). Ausgelöst wurden die parlamentarischen Initiativen durch die Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz und den Anschlag auf die deutsche Botschaft in Stockholm. - Aus den Gesetzesmaterialien siehe insbesondere BT-Drucks. 7/4005 (RegE). Schrifttum: Dahs, Das „Anti-Terroristengesetz" . . ., NJW 1976, 2145; - Sturm, Zur Bekämpfung terroristischer Vereinigungen, MDR 1977,6. 2. Die Tatfaandlungen des Abs. 1 entsprechen denen des § 129 Abs. 1, so daß auf die Ausführungen zu § 129 (siehe dort Anm. 2-4) insoweit verwiesen werden kann. Der entscheidende Unterschied gegenüber § 129 besteht darin, daß § 129 a eine Gruppe von kriminellen Vereinigungen erfaßt, deren Zwecke oder Tätigkeit auf die Begehung bestimmter Delikte aus dem Bereich der Schwerkriminalität gerichtet ist. Abs. 1 Nr. 1 trägt dem besonderen Schutzbedürfnis des Rechtsguts Leben Rechnung, Abs. 1 Nr. 2 erfaßt Straftaten, die den davon in seiner Freiheit Betroffenen besonderen Gefahren aussetzen, Abs. 1 Nr. 3 will die Bandentätigkeit treffen, die mittels Sprengstoffanschlägen und ähnlichen gemeingefährlichen Terrorakten die Allgemeinheit besonders schwer gefährden und beunruhigen. 3. Für Rädelsführer und Hintermänner (siehe hierzu § 84 Anm. 5) wird die Tat auf Grund der erhöhten Strafdrohung des Abs. 2 zum Verbrechen. 4. Die in Abs. 3 enthaltene Strafdrohung für den Versuch entspricht der in § 129 Abs. 3 getroffenen Regelung. 5. Abs. 4 überträgt die Regelung des § 129 Abs. 5 auch auf terroristische Vereinigungen. Da das Unrecht in diesen Fällen aber höher ist als in den Fällen des § 129 Abs. 1, ist ein völliges Absehen von Strafe nur in den Fällen des mißglückten Gründungsversuchs möglich. In den Fällen des Abs. 1 kommt dagegen nur eine Strafmilderung in Betracht. 482
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 130
6. Abs. 5 berücksichtigt Sonderfälle der tätigen Reue. Ist das Bemühen des reumütigen Täters, das Fortbestehen der Vereinigung zu verhindern, erfolgreich, so bleibt er straflos (persönlicher Strafaufhebungsgrund); bei erfolglosem Bemühen ist das Absehen von Strafe nur fakultativ (Strafeinschränkungsgrund, vgl. D 3 vor § 1). Ein Absehen von Strafe kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der reuige Täter wesentlich dazu beigetragen hat, daß die Tat über seinen eigenen Tatbeitrag hinaus aufgeklärt werden konnte oder Rädelsführer und Hintermänner ergriffen werden konnten, deren Ergreifung ohne seine Mitwirkung wesentlich erschwert gewesen wäre. Dieser Fall sollte ursprünglich als selbständiger Privilegierungsgrund gesetzlich kodifiziert werden (vgl. § 129 a Abs. 5 Nr. 3 idFdes RegE, S. 4 BT-Drucks. 7/4005). 7. Wegen Nebenfolgen und Führungsaufsicht siehe Abs. 6 und 7, wegen der Konkurrenzen § 129 Anm. 10. Siehe ferner § 138 Abs. 2 (Anzeigepflicht). 8. Prozessual beachte § 112 Abs. 2 StPO (Haftbefehl), § 138 a Abs. 5 StPO (Verteidigerausschluß), §§ 148, 148 a StPO (Überwachung des Schriftverkehrs mit dem Verteidiger), §§ 153 b-e (Opportunitätsprinzip) sowie §§ 120 Abs. 1 Nr. 6, 142 a GVG (Zuständigkeit).
§ 130
Volksverhetzung
Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er 1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt, 2. zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder 3. sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. 1. Geschütztes Rechtsgut ist - ebenso wie in den §§ 126, 131 und 166 - der öffentliche Friede, d. h. das Bewußtsein der Bevölkerung, in Ruhe und Frieden leben zu können. Daneben dient die Vorschrift dem Schutz der politischen, sozialen und religiösen Minderheiten, die erfahrungsgemäß immer wieder Angriffen ausgesetzt sind (z. B. Juden, Neger [Hbg NJW 1975, 1088 m. krit. Bespr. Geilen NJW 1976, 279], aber auch Gastarbeiter, vgl. Celle MDR 1970, 940; Schultz MDR 1971, 21; Lohse NJW 1971, 1245 ff. und Römer NJW 1971, 1735). Aber auch Hetzkampagnen gegen Bundeswehr und Polizei können hierher gerechnet werden. 2. Als Tathandlung kommen in Betracht: a) Aufstacheln zum Haß; b) Auffordern zu Gewalt- oder anderen Willkürmaßnahmen; c) Beschimpfen, böswilliges Verächtlichmachen (siehe § 90 Anm. 3). 3. Der Tatbestand ist nur dann erfüllt, wenn durch eine der oben genannten Handlungen die Menschenwürde anderer in besonders schwerwiegender Form angegriffen wird. Belei16»
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§ 130 a
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
digungen geringerer Art genügen nicht, wohl aber Äußerungen wie: „Die Kerle hat man vergessen zu vergasen." Diskriminierende Schilder mit der Aufschrift „Gastarbeiter unerwünscht", wie sie verschiedentlich von Gastwirten an ihren Lokalen angebracht werden, enthalten zwar eine nach § 185 strafbare Kollektivbeleidigung, erfüllen aber noch nicht den Tatbestand der Volksverhetzung (vgl. Römer NJW 1971, 1735 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). 4. Die Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören, kann sowohl darin liegen, daß bei der angegriffenen Gruppe das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttert wird, als auch darin, daß bei der angesprochenen Gruppe die Neigung zu gleichem Tun geweckt wird (Hbg NJW 1975, 1088 m. krit. Bespr. Geilen NJW 1976, 279). Äußerungen im engeren Kreis werden in aller Regel nicht ausreichen, wohl aber öffentlich gemachte Äußerungen, Schriften und Filmvorführungen. Zur Problematik volksverhetzender Leserbriefe siehe Geilen aaO. 5. Aus der Rechtsprechung des BGH siehe vor allem BGH 17, 28 und BGH 19, 63 (NSFilm „Jud Süß" als verfassungsfeindlich und volksverhetzend), femer BGH 21, 371: Wer im Wahlkampf einen jüdischen Bewerber auf einem Plakat durch Hinzufügen des Wortes „Jude" kennzeichnet und damit die Forderung nach Ausschluß der Juden von öffentl. Ämtern zum Ausdruck bringt, erfüllt den Tb. der Volksverhetzung nach § 130 Nr. 1. 6. Tateinheit ist möglich mit §§ 88a, 111,131,140, 185-187 a. § 140 ist subsidiär.
§ 130 a
Anleitung zu Straftaten
(1) Wer eine Schrift (§ 11 Abs. 3), die die Anleitung zu einer der in § 1 2 6 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 genannten rechtswidrigen Taten enthält und bestimmt sowie nach den Umständen geeignet ist, die Bereitschaft anderer zu fördern, solche Taten zu begehen, 1. verbreitet, 2. öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht oder 3. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, in den räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes einzuführen oder daraus auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihr gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 oder 2 zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung zu einer der in § 1 2 6 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 genannten rechtswidrigen Taten eine Anleitung gibt, um die Bereitschaft anderer zu fördern, solche Taten zu begehen. (3) § 8 6 Abs. 3 gilt entsprechend. 1. Die durch das 14. StrRÄndG v. 22. 4. 1976 (BGBl. I 1056) neu eingefügte Vorschrift bezweckt ebenso wie die gleichzeitig verabschiedete Vorschrift des § 88 a (Befürwortung von Straftaten) den Ausbau strafrechtlicher Sanktionen im Vorfeld der in § 126 Abs. 1 484
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
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Nr. 1-6 genannten Gewalttaten. Sie will der Gefahr entgegenwirken, daß durch präzise Anleitungen für Gewalt- und Terrorakte ein geistiges Klima geschaffen wird, in dem schwere Gewalttaten gedeihen und nachgeahmt werden (RegE S. 8 BT-Drucks. 7/3030). Geschütztes Rechtsgut ist - wie in den §§ 88 a und 126 - neben der öffentlichen Sicherheit der öffentliche Friede, d. h. das Bewußtsein der Bevölkerung, in Ruhe und Frieden leben zu können (RegE aaO.; Rudolphi SK 1). Wie bei § 88 a (siehe dort Anm. 1) handelt es sich auch bei § 130 a um ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Über Gesetzesmaterialien und Schrifttum siehe § 88 a Anm. 1. 2. Abs. 1 erfaßt die Anleitung zu Gewalttaten durch Schriften und den ihnen nach § 11 Abs. 3 gleichgestellten Ton- und Bildträgem, Abbildungen und anderen Darstellungen. a) Anleitungen sind Ausführungen, die Kenntnisse über die Möglichkeit zur Begehung von Straftaten vermitteln (vgl. Blei JA 1975, StR S. 5; Laufhütte MDR 1976, 441, 445; Rudolphi SK 5; Stree NJW 1976, 1177, 1180; Sturm JZ 1976, 347, 349). Erfaßt werden sollen vor allem „Kochbücher" für Anarchisten mit Hinweisen technischer Art für Brandstiftung und Sprengstoffattentate, aber auch Instruktionen über die Möglichkeiten zur Ausschaltung von Alarmanlagen und ähnlichen Sicherheitseinrichtungen (Stree aaO.). b) Die Formulierung „zu rechtswidrigen Taten" bringt zum Ausdruck, daß reine Gebrauchsanweisungen über die Funktionsweise von Waffen, aber auch Hinweise für ihre Herstellung für sich allein nicht tatbestandsmäßig sind (Rudolphi SK 5). Erforderlich ist vielmehr eine auf die Tatbegehung zielende Tendenz der Darstellung (Laufhütte aaO. 445; Sturm aaO. 349). Uber „rechtswidrige Tat" siehe § 11 Abs. 1 Nr. 5. Wie bei § 88 a sind nur Verbrechen gemäß § 126 Abs. 1 Nr. 1-6 relevant, nicht dagegen Anleitungen zu Vergehen nach § 126 Abs. 1 Nr. 7. c) Die Schrift oder ihr nach § 11 Abs. 3 gleichgestellte Darstellung muß bestimmt und geeignet sein, die Bereitschaft anderer zur Begehung von rechtswidrigen Taten i. S. des § 126 Abs. 1 Nr. 1-6 zu fördern. aa) Uber Förderung der Bereitschaft anderer zu Gewalttaten siehe § 88 a Anm. 2 c, aa. Abweichend von der in § 88 a getroffenen Regelung ist eine Förderung verfassungsfeindlicher Tendenzen nicht erforderlich. bb) „Bestimmt" zur Förderung der Bereitschaft von Gewalttaten ist eine Schrift usw. nur, wenn sie ihrem gedanklichen (objektiven) Inhalt nach darauf abzielt, andere zur Begehung tatbestandsrelevanter Taten zu veranlassen (Laufhütte aaO. 445); entscheidend ist allein der objektive Aussagegehalt, nicht die Absicht des Verfassers, des Verlegers oder der Person, die eine Tathandlung i. S. des § 130 a vornimmt. Erfaßt werden vor allem Darstellungen, die von ihrer Tendenz her die Gewalttaten, zu denen sie die Anleitung liefern, ausdrücklich oder konkludent propagieren, sei es auch nur als letztes, an sich unerwünschtes Mittel zur Erreichung eines bestimmten Ziels (Rudolphi SK 7). Nicht hierher gehören andererseits rein wissenschaftliche Darstellungen, Kriminalromane und Kriminalfilme, denen eine solche Tendenz offensichtlich fehlt. Auch ältere Literatur, die sich auf eine Situation bezieht, die mit den heutigen Verhältnissen nicht vergleichbar ist, scheidet grundsätzlich aus (RegE S. 8 BT-Drucks. 7/3030). Beim Neuabdruck solcher Schriften kann § 130 a jedoch dann gegeben sein, wenn der sonstige Inhalt der neuen Schrift erkennen läßt, daß ein für eine historische Situation begrüßtes Verhalten auch zur Lösung künftiger Probleme für angemessen gehalten wird (Laufhütte aaO. 446).
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cc) Die Eignung zur Förderung der Bereitschaft anderer, Gewalttaten zu begehen, ist objektiv zu beurteilen. Sie wird bei völlig unrealistischen Schilderungen ebenso zu verneinen sein wie bei Werken der älteren Literatur, die sich nicht auf die Gegenwart übertragen lassen (vgl. RegE S. 8 BT-Drucks. 7/3030; Laufhütte aaO. 446; Rudolphi SK 8). d) Die Tathandlungen des Abs. 1 (Verbreiten usw.) entsprechen denen des § 131 (siehe dort Anm. 3 m. weit. Nachw.). Ähnlich der in den §§ 88 a, 131 und 184 Abs. 3 getroffenen Regelung zielt die Fassung des Tb. auf ein umfassendes Verbreitungsverbot ab. e) Zum subj. Tb. gelten die Ausführungen zu § 88 a (siehe dort Anm. 2 e) entsprechend. 3. Die in Abs. 2 enthaltene Strafdrohung für mündliche Anleitungen zur Begehung von Gewalttaten entspricht der in § 88 a für die Befürwortung von Gewalttaten getroffenen Regelung, jedoch mit dem Unterschied, daß in § 130 a auf die in § 88 a enthaltene Staatsgefährdungsklausel verzichtet wurde. Im übrigen kann auf die Ausführungen zu § 88 a (siehe dort Anm. 3) verwiesen werden. 4. Die in dem Hinweis auf § 86 Abs. 3 enthaltene Sozialadäquanzklausel des Abs. 3 verfolgt das Ziel, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, aber auch das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung und die Pressefreiheit zu gewährleisten. So soll es insbesondere auch künftig möglich sein, wissenschaftliche und historische Abhandlungen über die Rolle der Gewalt in der Geschichte zu veröffentlichen (RegE S. 8 BT-Drucks. 7/3030). Die praktische Bedeutung der Vorschrift dürfte allerdings gering sein, weil solchen Darstellungen, die nach den Vorstellungen des Gesetzgebers durch Abs. 3 aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift ausgeschieden werden sollen, regelmäßig bereits die oben (Anm. 2 b) geforderte tatbestandsrelevante Tendenz fehlen wird. Ist andererseits diese Tendenz zur Propagierung von Gewalttaten vorhanden, so kann die Strafbarkeit nach Abs. 3 nicht bereits deshalb entfallen, weil der Täter zur Förderung der von ihm verfolgten Tendenz auf Formen der Kunst zurückgegriffen hat (vgl. Blei JA 1976, StR 5. 49; Rudolphi SK 13). Eine gewaltpropagierende Anleitung zu terroristischer Aktivität „dient" auch dann nicht der Kunst, wenn sie in Versform oder in eine entsprechende Karikatur gefaßt wird. 5. Tateinheit ist u. a. möglich mit §§ 88 a, 129, 130, 131 und 140, aber auch mit § 111 (übereinstimmend Lackner 5; a.A. Rudolphi SK 15, der § 130 a nur als subsidiär betrachtet, dabei aber wohl nicht ausreichend berücksichtigt, daß die Tathandlungen beider Vorschriften sich nur teilweise decken). Tateinheit ist weiter möglich mit §§ 26, 27 und 30 i. V. mit den in § 126 Abs. 1 Nr. 1-6 genannten Gewalttaten, wenn es dem Täter darum geht, durch die Anleitung eine ganz bestimmte Gewalttat zu fördern. 6. Prozessual siehe § 88 a Anm. 6.
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Verherrlichung von Gewalt; Aufstachelung zum Rassenhaß
(1) Wer Schriften (§ 11 Abs. 3), die Gewalttätigkeiten gegen Menschen in grausamer oder sonst unmenschlicher Weise schildern und dadurch eine Ver486
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herrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrücken oder die zum Rassenhaß aufstacheln, 1. verbreitet, 2. öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht, 3. einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überläßt oder zugänglich macht oder 4. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, in den räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes einzuführen oder daraus auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 bis 3 zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer eine Darbietung des in Absatz 1 bezeichneten Inhalts durch Rundfunk verbreitet. (3) D i e Absätze 1 und 2 gelten nicht, wenn die Handlung der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte dient. (4) Abs. 1 Nr. 3 ist nicht anzuwenden, wenn der zur Sorge für die Person Berechtigte handelt. 1. Die durch das 4. StrRG neu eingeführte Vorschrift tritt an die Stelle des alten § 131 (Staatsverleumdung), der mit Rücksicht auf andere Tatbestände mit gleicher Zielsetzung (z. B. §§ 90 a, 90 b, 109 d, 187 a Abs. 2) entbehrlich erschien (vgl. Ber. BT-Drucks. VI/3521 S. 4). Anliegen der Vorschrift ist es, den einzelnen und die Allgemeinheit vor Gewalttätigkeiten zu schützen, und zwar in der Weise, daß schon dem Aufkommen aggressiver Verhaltensweisen oder Einstellungen entgegengewirkt wird (vgl. Ber. aaO. 5. 6). Geschütztes Rechtsgut ist somit zunächst - ähnlich wie in den §§ 126, 130, 166 der öffentliche Friede (d. h. das Bewußtsein der Bevölkerung, in Ruhe und Frieden leben zu können), außerdem die Erhaltung der Humanität in einer Gesellschaft, in der den Bürgern täglich vor Augen geführt wird, daß die Lösung eines Konflikts letztlich nur durch Rücksichtslosigkeit und Gewalt möglich sein soll (vgl. Eyrich Prot. VII S. 45). Der Nachweis, daß bestimmte Gewalttätigkeiten und rassistische Progrome auf den ungünstigen Einfluß von Gewaltdarstellungen in Schriften, Filmen usw. zurückzuführen sind, wird sich zwar im Einzelfall nur schwer führen lassen. Andererseits dürfte aufgrund der jüngsten Forschungsergebnisse feststehen, daß Gewaltdarstellungen zumindest geeignet sind, eine latent vorhandene Aggressionsbereitschaft zu wecken bzw. zu verstärken und zu aktivieren (vgl. Ber. aaO. S. 6). Die Vorschrift stellt sich somit als abstraktes Gefährdungsdelikt dar. Ergänzend zu beachten ist § 6 GjS i. V. mit der in § 21 GjS enthaltenen Strafdrohung für bestimmte Vertriebs- und Werbeverbote. Aus den Gesetzesmaterialien siehe insbesondere den Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drucks. VI/1552), die schriftlichen Berichte (Ber.) des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BT-Drucks. VI/3521 und 7/514) sowie die Protokolle über die Beratungen des Sonderausschusses während der 6. und 7. Legislaturperiode (Prot. VI und Prot. VII). - Schrifttum: Gerhardt, Gewaltdarstellungsverbot und Grundgesetz, 1974; ders., Die Beschränkung der Gesetzgebung auf das Unerläßliche (dargestellt am Beispiel des § 131 StGB), NJW 1975, 375; - Richard Lange, Ist das Femsehen kriminogen?, 487
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Heinitz-Festschr. 1972, S. 593; - Seetzen, Vorführung und Beschlagnahme pornographischer und gewaltverherrlichender Spielfilme, NJW 1976,497. 2. Tatobjekte sind Schriften usw. (siehe hierzu § 11 Anm. XI), die in grausamer oder sonst unmenschlicher Weise Gewalttätigkeiten gegen Menschen schildern. a) Der Begriff der Gewalttätigkeit, der bereits in den §§ 113 Abs. 2 Nr. 2 und 125 Abs. 1 begegnet, ist enger als der Gewaltbegriff in den §§ 113 Abs. 1, 240, 249. Gewalttätig handelt, wer aggressiv gegen einen anderen vorgeht und diesen dadurch der unmittelbaren Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung seiner körperlichen oder seelischen Integrität aussetzt. Nicht erforderlich ist, daß das Opfer gefoltert oder geschlagen und hierdurch verletzt oder gar getötet wird. Auch das Einsperren in einen überhitzten oder unterkühlten Raum, das Anbinden an einen Baum oder das gewaltsame Teeren und Federn eines Menschen sind Gewalttätigkeiten. Nicht ausreichend sind dagegen pflichtwidriges Unterlassen (z. B. Ertrinken-, Verbrennen- oder Erfrierenlassen, vgl. Blei JA 1973, StR 32 f.) oder Einwirkungen auf das menschliche Gehirn, um die Persönlichkeit zu verändern (vgl. Krüger Prot. VI S. 1870). b) Nur Gewalttätigkeiten gegen Menschen verwirklichen den Tatbestand. Auf die Aufnahme von Gewalttätigkeiten gegen Sachen und Tiere wurde bewußt verzichtet (vgl. Ber. S. 7). c) Der Grund der Gewalttätigkeit ist unerheblich. Auch die Schilderung gerechtfertigter Gewaltanwendung (z. B. bei einem rechtmäßigen oder als rechtmäßig dargestellten Polizeieinsatz) kann den Tb. verwirklichen, sofern dessen übrige Voraussetzungen vorliegen (vgl. Laufhütte Prot. VI S. 1866 f.; Blei JA 1973, StR 38). d) Die Schilderang der Gewalttätigkeit muß „in grausamer oder sonst unmenschlicher Weise" erfolgen. Es genügt also nicht, daß eine grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeit (z. B. eine Bombardierung oder eine Folterszene) überhaupt dargestellt wird. Entscheidend ist somit nicht der Inhalt der Darstellung, sondern deren Form (wenngleich andererseits nicht darauf verzichtet werden kann, daß auch der Inhalt eine grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeit betrifft, vgl. Blei aaO.; unklar Ber. S. 7). e) Grausam oder sonst unmenschlich ist die Schilderung, wenn sie die Gewalttätigkeiten in allen Einzelheiten „genüßlich" darstellt (vgl. Sturm Prot. VI S. 1872), wobei beide Begriffe sich weitgehend decken. „Grausam" ist die Schilderung insbesondere dann, wenn die Leiden des Opfers und die rohe oder rücksichtslose Einstellung des Täters in allen Details dargestellt werden (z. B. genaue Schilderung einer Folter- oder Vergewaltigungsszene). Unter dem Begriff „sonst unmenschlich" fallen Darstellungen, die - auch wenn das Merkmal des Quälens oder Schmerzzufügens fehlt - ebenso bedenklich erscheinen, weil sie eine menschenverachtende und rücksichtslose Tendenz zum Ausdruck bringen (z. B. Filme, in denen jemand aus roher und unbarmherziger Gesinnung oder einfach deshalb, weil es ihm „Spaß" macht, bedenkenlos und kaltblütig Menschen erschießt, vgl. Ber. S. 7; Horstkotte Prot. VI S. 1869). Nicht tatbestandsmäßig ist dagegen die „distanzierte oder verfremdete" Beschreibung eines an sich grausamen und unmenschlichen Vorgangs (vgl. Ber. S. 7). f) Der Anwendungsbereich der Vorschrift wird weiterhin dadurch eingeschränkt, daß durch die Schilderung eine Verherrlichung oder Verharmlosung der Gewalttätigkeit zum Ausdruck kommt.
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aa) Eine „Verherrlichung" liegt insbesondere dann vor, wenn die Schilderung eine offene oder verdeckte Werbung für Gewalthandlungen zum Ausdruck bringt (vgl. Sturm Prot. VI S. 1872), z. B. dadurch, daß diese als reizvoll oder als besonders geeignete Möglichkeit zur Erlangung von Anerkennung und Ruhm oder zur Lösung schwieriger Konfliktsituationen geschildert werden. Teilweise kann insoweit auf die Auslegung des § 1 Abs. 1 S. 2 GjS in den Entscheidungen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften sowie auf Rspr. und Schrifttum zu dieser Vorschrift zurückgegriffen werden. bb) Eine „Verharmlosung" liegt vor, wenn die Gefährlichkeit und die unheilvollen Folgen der Gewalt „heruntergespielt werden", z. B. daß dadurch, die Gewalt als akzeptable, jedenfalls nicht verwerfliche Möglichkeit zur Lösung von Konflikten hingestellt wird (vgl. Ber. S. 7). cc) Nicht erfaßt werden dagegen nüchterne Berichterstattung (besonders klargestellt in Abs. 3) sowie solche Darstellungsformen, denen es darauf ankommt, die unheilvollen Auswirkungen der Gewalt mitsamt den zugrundeliegenden Ursachen dem kritischen Bewußtsein des Betrachters (Lesers, Hörers) näherzubringen. dd) Unerheblich ist, ob der Autor der Darstellung mit dieser eine verherrlichende oder verharmlosende Tendenz verfolgte; es genügt, daß diese Tendenz durch die Darstellung „zum Ausdruck kommt". Unerheblich ist schließlich auch, ob die Darstellung im Einzelfall geeignet war, verrohend zu wirken, zu korrumpieren oder ganz allgemein zu aggressivem Verhalten anzureizen. Der Gesetzgeber wollte bewußt vermeiden, daß der Streit über die Wirkung von Gewaltdarstellung in jedem Einzelfall durch die Anhörung von Sachverständigen in den Gerichtssaal getragen wird (vgl. Ber. S. 7). Die exzessiven Gewaltdarstellungen sind vielmehr schon deshalb unter Strafe gestellt worden, weil man das Risiko einer brutalisierenden oder rassendiskriminierenden Wirkung ausschalten will. g) Den verherrlichenden und verharmlosenden Gewaltdarstellungen gleichgestellt sind solche, die zum Rassenhaß aufstacheln. Die Vorschrift ergänzt insoweit den Tb. des § 130. 3. Der äußerst weit gefaßte Kreis der Tathandlungen (Herstellen, Verbreiten, öffentlich Ausstellen usw.), die auf ein totales Verbreitungsverbot abzielen (vgl. Ostman von der Leye, Prot. VII S. 47), entspricht dem des § 184 Abs. 3. Hinsichtlich der Ein- und Ausfuhr handelt es sich um sog. Untemehmensdelikte, d. h. der Versuch ist der Vollendung gleichgestellt (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 6). Der Einfuhr gleichzustellen ist die Durchfuhr (vgl. Schleswig NJW 1971, 2319). Über „öffentlich" in Abs. 1 Nr. 2 siehe § 80 Anm. 2, § 111 Anm. 2. 4. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich insbesondere auf die als strafbedürftig angesehene Tendenz der Darstellung erstrecken, wobei bedingter Vorsatz genügt. Nicht erforderlich ist dagegen, daß der Täter selbst diese Tendenz verfolgt (vgl. Ber. S. 8). Erkennt der Täter die Tendenz der Darstellung, so kann er sich auch nicht durch „Tricks" entlasten, z. B. dadurch, daß er sich zu Beginn oder am Ende des Werks von den geschilderten Gewalttätigkeiten distanziert oder vor ihnen warnt (vgl. Ber. S. 8). 5. Unter den Begriff Rundfunk in Abs. 2 fallen sowohl der Tonfunk als auch der Bildfunk. Die besondere Hervorhebung des Rundfunks erschien erforderlich, da sich während
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der Beratung Zweifel ergaben, ob auch Live-Sendungen als „Darstellungen" anzusehen sind (was im übrigen zu bejahen ist, vgl. Dreher 8; Rudolphi SK 10). Als Täter kommt grundsätzlich nur in Betracht, wer für die Sendung verantwortlich bzw. mitverantwortlich ist, insbesondere also Autor, Produzent und Regisseur. Personen, die allein mit der technischen Vorbereitung und Durchführung einer Sendung befaßt sind, scheiden als Täter aus (vgl. Ber. S. 8), kommen jedoch u. U. als Gehilfen in Betracht. 6. Das Berichterstatterprivileg des Abs. 3 führt bereits nach den Grundsätzen der Sozialadäquanz zum Tatbestandsausschluß. Im übrigen dürfte es in den Fällen der nüchternen Berichterstattung bereits an der verherrlichenden bzw. verharmlosenden Tendenz der Schilderung fehlen. Das Erzieherprivileg des Abs. 4 entspricht der in den §§ 180 Abs. 1 S. 2,184 Abs. 4 getroffenen Regelung. Einzelheiten s. § 180 Anm. 5. 7. IdK. ist möglich mit § 86, 86 a, 88 a, 130, 130 a, 140, 184 Abs. 3. Die Strafvorschriften des GjS sind demgegenüber subsidiär (Dreher 15; teilweise a. A. Rudolphi SK 24). 8. Prozessual beachte §§ 94, 98 StPO (Beschlagnahme zur Beweissicherung), §§ 111 b, 111c StPO (Beschlagnahme zur Sicherung der Einziehung) und § 440 StPO (Einziehung im Sicherungsverfahren).
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Amtsanmaßung
Wer unbefugt sich mit der Ausübung eines öffentlichen Amtes befaßt oder eine Handlung vornimmt, welche nur kraft eines öffentlichen Amtes vorgenommen werden darf, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. öffentliches Amt ist jede hoheitliche Tätigkeit im unmittelbaren oder mittelbaren Staatsdienst. Nicht hierher gehören Kirchenämter sowie fiskalische Tätigkeiten (vgl. BGH 12, 30 betr. Einkauf von Waren unter der Vorspiegelung, das Geschäft im Auftrag einer bestimmten Strafanstalt zu tätigen). 2. Die 1. Alternative des Tatbestands (unbefugte Ausübung eines öffentlichen Amtes) setzt voraus, daß sich der Täter als Inhaber eines öffentlichen Amts ausgibt, das er in Wirklichkeit nicht bekleidet. Beispiel: A gibt sich als Kriminalbeamter aus und nimmt in Ausnutzung des bei den betroffenen Personen entstehenden Irrtums Handlungen vor, die nur von der Polizei vorgenommen werden dürfen, z. B. Durchsuchungen, Beschlagnahmen, Personenkontrollen. 3. Die 2. Alternative des Tatbestands setzt im Gegensatz zur 1. Alternative nicht voraus, daß der Täter sich wahrheitswidrig als Amtsträger ausgibt. Es genügt, daß er eine Handlung vornimmt, die nur kraft eines öffentlichen Amtes vorgenommen werden darf. Beispiele: Ein Privatdetektiv nimmt eine Personenkontrolle vor. - Oder: Ein Straßenwart kassiert wegen falschen Parkens 5,- DM als Verwarnungsgeld. 4. In beiden Alternativen kann auch ein Amtsträger als Täter in Betracht kommen, nämlich dann, wenn er sich Befugnisse anmaßt, die ihm nicht zustehen.
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5. Nicht hierher gehört der Amtsmißbrauch eines Amtsträgers, d. h. wenn ein Amtsträger im Rahmen seiner Zuständigkeit eine unzulässige oder sachwidrige Entscheidung trifft. 6. Nicht hierher gehört ferner der Fall, daß jemand zwar als Amtsträger auftritt, aber keine Amtshandlung vornimmt, zumindest keine solche hoheitlicher Art (vgl. BGH 12, 30; GA 1967,114). In solchen Fällen kommt lediglich § 132 a in Betracht. 7. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. 8. IdK. kommt in Betracht mit §§ 132 a, 242,253, 263.
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Mißbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen
(1) Wer unbefugt 1. inländische oder ausländische Amts- oder Dienstbezeichnungen, akademische Grade, Titel oder öffentliche Würden führt, 2. die Berufsbezeichnung Arzt, Zahnarzt, Tierarzt, Apotheker, Rechtsanwalt, Patentanwalt, Wirtschaftsprüfer, vereidigter Buchprüfer, Steuerberater oder Steuerbevollmächtigter führt, 3. Die Bezeichnung öffentlich bestellter Sachverständiger führt oder 4. inländische oder ausländische Uniformen, Amtskleidungen oder Amtsabzeichen trägt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Den in Absatz 1 genannten Bezeichnungen, akademischen Graden, Titeln, Würden, Uniformen, Amtskleidungen' oder Amtsabzeichen stehen solche gleich, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind. (3) Die Absätze 1 und 2 gelten auch für Amtsbezeichnungen, Titel, Würden, Amtskleidungen und Amtsabzeichen der Kirchen und anderen Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts. (4) Gegenstände, auf die sich eine Straftat nach Absatz 1 Nr. 4, allein oder in Verbindung mit Absatz 2 oder 3, bezieht, können eingezogen werden. I. Die Neugestaltung der Vorschrift durch das EGStGB unterscheidet sich von der früheren Rechtslage insbesondere dadurch, daß fast alle, früher in den strafrechtlichen Nebengesetzen als Vergehen unter Strafe gestellten Fälle des Mißbrauchs einer Berufsbezeichnung jetzt in Abs. 1 Nr. 2 zusammengefaßt sind. Diese Neuregelung führte nicht nur zu einer einheitlichen Behandlung vergleichbarer Fälle, sondern gleichzeitig zu einer beachtlichen Entlastung des ohnehin nur schwer überschaubaren Nebenstrafrechts. Neu aufgenommen wurde in Abs. 1 Nr. 3 der Schutz der Bezeichnung öffentlich bestellter Sachverständiger. Die frühere Nr. 3 des Abs. 1 (Schutz von Berufstrachten und Berufsabzeichen) wurde andererseits zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft (vgl. § 126 OWiG, abgedruckt in Anh. 2).
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II. Zu den schon nach früherem Recht in Abs. 1 Nr. 1 geschützten (in- oder ausländischen) Amts- oder Dienstbezeichnungen, Titeln und Würden sind seit der Neufassung durch das EGStGB noch die~akademischen Grade getreten. 1. Zu den geschützten Amts- und Dienstbezeichnungen gehören seit der Neufassung durch das EGStGB nur noch die mit einem bestimmten (staatlichen oder kommunalen) Amt verbundenen Bezeichnungen wie Richter am Amts- oder Landgericht, Staatsanwalt, Amtsanwalt, Bürgermeister, Landrat, Regierungsrat, Forstrat, Studienrat usw. sowie militärische Amts- und Dienstbezeichnungen. Nicht erforderlich ist, daß der Täter unter einer speziellen Bezeichnung auftritt; es genügt vielmehr, daß er sich z. B. als Richter oder Polizeibeamter ausgibt (vgl. Mösl LK 3; Cramer in Schönke-Schröder 5; zu eng dagegen BGH 26, 267). Ausreichend sind auch Phantasietitel und -bezeichnungen, sofern diese auf ein bestimmtes Amt oder eine bestimmte Dienststellung hinweisen (vgl. BGH GA 1966, 279; Mösl LK 2). Entgegen der früheren Rechtslage erstreckt sich der Anwendungsbereich der Nr. 1 jedoch nicht mehr auf die Bezeichnung von Berufen, die zwar nicht mit einem Amt verbunden sind, aber nur auf Grund öffentlich-rechtlicher Zulassung ausgeübt werden können. Die Einbeziehung auch dieser Berufsbezeichnungen unter den Anwendungsbereich der Nr. 1 ist, nachdem die besonders schutzbedürftigen Berufsbezeichnungen in Nr. 2 zusammengefaßt wurden, nicht mehr möglich und würde auf eine unzulässige Analogie hinauslaufen (vgl. RegE S. 222 BT-Drucks. 7/550). Der Schutz von Berufsbezeichnungen ist nunmehr ausschließlich in Abs. 1 Nr. 2 und, soweit es sich um Ordnungswidrigkeiten handelt, in den einschlägigen Nebengesetzen geregelt. 2. Akademische Grade sind Grade, die von Universitäten und wissenschaftlichen Hochschulen verliehen werden (z. B. Bezeichnung als Doktor, Diplomvolkswirt und Diplomkaufmann, BGH NJW 1955, 839; OVG Berlin NJW 1967, 1053, nicht dagegen der Titel Professor, vgl. LG Saarbrücken NJW 1976, 1160 m. Nachw.). Entscheidend ist dabei, daß der Grad auch tatsächlich verliehen werden kann (KG JR 1964, 68). Wer sich dagegen eine Bezeichnung zulegt, die einem akademischen Grad zwar ähnelt, aber nirgends als akademischer Grad verliehen wird, kann nicht nach Abs. 2 strafbar sein (KG aaO.). Durch die Aufnahme des Schutzes akademischer Grade (nicht auch Grade anderer staatlicher Lehranstalten) konnte die früher in § 5 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über die Führung akademischer Grade vom 7. 6. 1939 (RGBl. I 985) enthaltene Strafdrohung gestrichen werden. Nach § 5 dieses Gesetzes ist jetzt nur noch strafbar, wer sich anbietet, gegen Vergütung den Erwerb eines ausländischen akademischen Grades zu vermitteln (vgl. Art. 85 EGStGB). 3. Titel sind die ohne Amt als Ehrung verliehenen Bezeichnungen wie Geheimrat, Justizrat, Pharmazierat, Professor (LG Saarbrücken NJW 1976, 1160), Sanitätsrat, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie nach geltendem Recht noch verliehen werden können (vgl. Mösl LK 7). 4. Zu den geschützten öffentlichen Würden gehören z. B. die Würde des Ehrenbürgers einer Gemeinde oder des Ehrensenators einer Universität. III. In Abs. 1 Nr. 2 werden Fälle des Mißbrauchs einer Berufsbezeichnung erfaßt. 1. Die früher einschlägigen Straftatbestände der Nebengesetze konnten durch das EGStGB teils aufgehoben, teils auf andere Sachverhalte beschränkt werden. So wurden durch die Neufassung betroffen: 492
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 132 a
a) für Ärzte § 13 Abs. 1 Nr. 1 BÄO vom 2. 10. 1961 (BGBl. I 1857) idF vom 4. 2. 1970 (BGBl. 1237), vgl. Art. 52 EGS.tGB; b) für Zahnärzte § 18 Nr. 2 d. Ges. üb. d. Ausübung der Zahnheilkunde v. 31. 3. 1952 (BGBl. I 221, 251); die früher in dieser Vorschrift ebenfalls geschützten Berufsbezeichnungen Zahnpraktiker und Zahnheilkundiger wurden, da hierfür kein praktisches Bedürfnis mehr besteht, nicht in 132 a aufgenommen, sind jetzt also nicht mehr geschützt. Strafbar bleibt jedoch die unberechtigte Ausübung der Zahnheilkunde (vgl. § 18 Nr. 1 aaO. idF des Art. 54 EGStGB); c) für Tierärzte § 14 Nr. 1 BTierärzteO vom 17. 5. 1965 (BGBl. I 416), vgl. Art. 209 EGStGB; d) für Apotheker § 13 BApothekerO vom 5. 6. 1968 (BGBl. I 601), vgl. Art. 45 EGStGB; e) für Rechtsanwälte und Patentanwälte die früher vorgenommene, dogmatisch jedoch zweifelhafte Subsumtion dieser Fälle unter Abs. 1 Nr. 1 (vgl. RegE S. 222 BT-Drucks. 7/550); über Rechtsbeistände s. u. 3 g; f) für Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer, Steuerberater und Steuerbevollmächtigte § 133 WirtschaftsprüferO vom 24. 7. 1961 (BGBl. I 1049) sowie § 12 SteuerberatungsG vom 16. 8. 1961 (BGBl. I 1301), vgl. Art. 163, 172 EGStGB. 2. Die Aufnahme der Bezeichnung öffentlich bestellter Sachverständiger in Nr. 3 erfolgte mit Rücksicht darauf, daß diese Gruppe nach ihrer Bedeutung für die Gemeinschaft der Tätigkeit der in Nr. 2 genannten Personen vergleichbar ist. Gleichzeitig wurde diese Materie durch das EGStGB erstmals bundeseinheitlich geregelt, so daß die früheren landesrechtlichen Sonderbestimmungen gegenstandslos geworden sind (vgl. Art. 292 Abs. 2 Nr. 8 EGStGB für Bayern). 3. Unberührt von der Reform des § 132 a bleiben die in bestimmten Nebengesetzen enthaltenen Bußgeldtatbestände, die eine gesetzlich geregelte Ausbildung voraussetzen und deshalb sowohl im Interesse der Allgemeinheit als auch im Interesse der betroffenen Berufsgruppen nicht von jedermann geführt werden dürfen. Hierbei sind insbesondere zu beachten: a) für Handwerksmeister §§51, 117 Abs. 1 Nr. 3 HandwerksO vom 28.12.1965 (BGBl. 1966 I 1), letztes ÄndG v. 18. 3. 1975 (BGBl. I 705, 710); b) für Heilpraktiker § 1 HeilpraktikerG vom 17. 2. 1939 (RGBl. I 251); c) für Krankenpfleger §§ 1, 16KrankenpflG vom 20. 9. 1965 (BGBl. I 1443); d) für Masseure, medizinische Bademeister und Krankengymnasten § 14 Ges. vom 21. 12. 1958 (BGBl. 1985), letztes ÄndG v. 25. 6. 1969 (BGBl. I 645,666); f) für pharmazeutisch-technische Assistenten § 10 Ges. vom 18. 3. 1968 (BGBl. I 228), ÄndG v. 4. 12. 1973 (BGBl. I 1813); g) für Rechtsbeistände § 8 Abs. 1 Nr. 3 RechtsberatungsG vom 13. 12. 1935 (RGBl. I 1478) idF des Art. 97 EGStGB; h) für Wochenpflegerinnen § 7 VO über Wochenpflegerinnen vom 7. 2. 1942 (RGBl. I 87) idF des Art. 56 EGStGB; 493
§ 132a
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
i) für Architekten und Ingenieure landesrechtliche Bestimmungen, z. B. § 2 ArchitektenG für Bad.-Wttbg vom 5. 12. 1955 (GBl. 265) und IngG für Bad.-Wttbg v. 30. 3. 1971 (GBl. 105). 4. Nicht geschützt sind Berufsbezeichnungen, die mit keinerlei öffentlich-rechtlichen Befugnissen oder Funktionen verbunden sind und keine bestimmte Ausbildung voraussetzen, z. B. Direktor, Fabrikant, Gastwirt, Großhändler, Jurist, Privatgelehrter, Schüler, Student usw. IV. Die Tathandlung der Nr. 1 - 3 besteht im unbefugten „Führen" der Amtsbezeichnung usw. Eine Amtsbezeichnung usw. führt, wer sie für sich in Anspruch nimmt. Nicht ausreichend ist eine bloße Duldung der Anrede durch andere (vgl. RG 33, 205). Da die Vorschrift in erster Linie dem Schutz der Allgemeinheit dient (h. L., vgl. Cramer in Schönke-Schröder 3), ist der Gebrauch einer dem Täter nicht zustehenden Amts- oder Dienstbezeichnung im privaten Bereich nur dann tatbestandsmäßig, wenn er in einer Weise erfolgt, die nach Art und Intensität die Interessen der Allgemeinheit berührt (Stgt NJW 1969, 1777; Blei JA 1969 StR S. 231). Einmaliger und vorübergehender Gebrauch genügen deshalb nur dann, wenn dadurch bei einer Mehrzahl von Personen die Vorstellung hervorgerufen werden soll, dem Täter stehe die Dienstbezeichnung zu. Hierzu fehlt es z. B., wenn sich jemand im rein privaten Bereich einer Bekannten, um dieser zu imponieren, als Major der Bundeswehr ausgibt, obwohl er in Wirklichkeit nur Feldwebel ist (vgl. Stgt aaO.; siehe auch BayObLG MDR 1973, 778). V. Abs. 1 Nr. 4 schützt Uniformen, Amtskleidungen und Amtsabzeichen. 1. Zu den Uniformen gehören vor allem die Uniformen der Polizei, der Bundeswehr und des Bundesgrenzschutzes, aber auch die Dienstkleidungen von Zoll, Bundesbahn, Bundespost und Feuerwehr. Einheitliche Berufskleidungen sonstiger Berufe (Taxifahrer, Dienstmänner) sind nur dann geschützt, wenn sie durch polizeiliche Vorschriften geregelt sind. 2. Zu den Amtskleidungen gehören vor allem die Roben und Barette der Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Hochschullehrer. Auch hier ist erforderlich, daß die Kleidung durch öffentlich-rechtliche Bestimmungen geregelt ist. 3. Amtsabzeichen sind Abzeichen, die, ohne zur Uniform oder Amtstracht zu gehören, den Träger als Inhaber eines bestimmten Amts kenntlich machen, z. B. Jagdschutzabzeichen oder die Armbinden von Hilfspolizisten oder Luftschutzwarten. 4. Die Tathandlung besteht im Tragen der Uniform usw. Dem Zweck der Vorschrift entsprechend (Schutz der Allgemeinheit vor Täuschung) ist das Tragen nur dann strafrechtlich relevant, wenn es in der Öffentlichkeit erfolgt. VI. Nach Abs. 2 erstreckt sich das Verbot auch auf solche Bezeichnungen usw. (Nr. 1-3), Uniformen usw. (Nr. 4), die den in Abs. 1 geschützten zum Verwechseln ähnlich sind. Hierbei ist ein objektiver Maßstab anzulegen. So sind eine Skimütze und ein Regenmantel bei objektiver Betrachtungsweise den Uniformen des Zolldienstes auch dann nicht zum Verwechseln ähnlich, wenn sie in der Dunkelheit tatsächlich für Uniformen gehalten werden (vgl. BGH NJW 1953, 753). Andererseits dürfen nicht zu strenge Anforderungen
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Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 133
an die Verwechslungsfähigkeit gestellt werden. Entscheidend ist der Gesamteindruck eines durchschnittlichen, nicht genau prüfenden Beurteilers (KG JR 1964, 68; Dreher 7; Lackner 4; Mösl LK 12). Verwechslungsfähig ist deshalb z. B. die Bezeichnung „Spezialist für Frauenheilkunde" (RegE S. 222 BT-Drucks. 7/550). Aus den Gesetzesmaterialien ist weiter hervorzuheben, daß die Bezeichnungen Wirtschaftsprüfer, vereidigter Buchprüfer, Steuerberater und Steuerbevollmächtigter wegen ihrer spezifischen Bedeutung so klar abgegrenzt sind, daß sie grundsätzlich nicht mit anderen Berufen verwechselt werden können. Abs. 2 darf nicht dazu führen, daß Personen, die einer sonstigen wirtschaftsberatenden Tätigkeit nachgehen, in ihrer Berufsausübung beeinträchtigt werden (vgl. RegE S. 223 aaO.). VII. Nach Abs. 3 erstreckt sich der Schutz der Vorschrift auch auf Amtsbezeichnungen, Titel, Würden, Amtskleidungen und Amtszeichen von Kirchen und Religionsgemeinschaften. Geschützt sind z. B. die Berufsbezeichnung Pfarrer, Priester oder Pastor sowie die Talare der Geistlichen. Ergänzend zu beachten ist § 126 Abs. 1 Nr. 2 OWiG (vgl. Anh. 2). VIII. Rechtswidrig ist die Tat nur, wenn bei einer Mehrzahl von Personen der Anschein erweckt wird, daß der Träger der Dienstkleidung usw. einem bestimmten Beruf usw. angehört (vgl. Stgt NJW 1969, 1777 sowie oben Anm. IV). Hierauf muß sich auch der Vorsatz erstrecken (bedingter Vorsatz genügt, vgl. RG 61, 9; BayObLG GA 1961, 152). Die Rechtswidrigkeit entfällt daher, wenn eine Verwechslungsgefahr nicht besteht, insbesondere wenn der Träger offensichtlich nur einen „Spaß" macht, z. B. als Schauspieler auf der Bühne oder bei Faschingsveranstaltungen (vgl. RG 61,8; Cramer in Schönke-Schröder 19; Welzel 513; teilweise a. A. Mösl LK 16). IX. Abs. 4 gibt die Möglichkeit, die sog. Beziehungsgegenstände (Uniformen, Amtskleidungen, Amtsabzeichen) einzuziehen. Da ein Hinweis auf § 74 a fehlt, ist die Einziehung täterfremder Gegenstände (z. B. Uniformen, die im Eigentum eines Kostümverleihers stehen) nur unter den Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 2 zulässig.
§ 133
Verwahrungsbruch
(1) Wer Schriftstücke oder andere bewegliche Sachen, die sich in dienstlicher Verwahrung befinden oder ihm oder einem anderen dienstlich in Verwahrung gegeben worden sind, zerstört, beschädigt, unbrauchbar macht oder der dienstlichen Verfügung entzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Dasselbe gilt für Schriftstücke oder andere bewegliche Sachen, die sich in amtlicher Verwahrung einer Kirche oder anderen Religionsgesellschaft des öffentlichen Rechts befinden oder von dieser dem Täter oder einem anderen amtlich in Verwahrung gegeben worden sind. (3) Wer die Tat an einer Sache begeht, die ihm als Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten anvertraut worden oder zugäng495
§ 133
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
lieh geworden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift schützt nicht nur die staatliche Verfügungsgewalt über die in dienstlichem Gewahrsam befindlichen Sachen, sondern auch das Vertrauen der Öffentlichkeit in deren zuverlässige Verwahrung (BGH 5,155, 159). 2. Tatobjekt können nicht nur Schriftstücke, sondern alle beweglichen Sachen sein, die sich in dienstlicher Verwahrung befinden oder dem Täter oder einem anderen dienstlich in Verwahrung gegeben worden sind. a) Durch die Verwendung des Ausdrucks dienstlich anstelle des früheren Begriffs „amtlich" wird klargestellt, daß auch Verwahrungsverhältnisse der Bundeswehr erfaßt werden (vgl. RegE S. 224 BT-Drucks. 7/550). b) Der Begriff Verwahrung soll noch deutlicher als der frühere Begriff „Aufbewahrung" zum Ausdruck bringen, daß § 133 nur eingreift, wenn sich in dem Gewahrsam die besondere dienstliche Herrschafts- und Verfügungsgewalt äußert, die den jeweiligen staatlichen Aufgaben der verwahrenden Dienststelle entspringt. Nicht hierher gehören deshalb Gegenstände des allgemeinen Amtsbesitzes, insbesondere Sachen, die einer Behörde zum Gebrauch oder Verbrauch zugewiesen sind, z. B. Brennstoffe, Formulare, Schreibmaterial, aber auch Geld in einer öffentlichen Kasse, das zur Auszahlung bestimmt ist (vgl. BGH 18,312). Hier kommt nur Diebstahl oder Unterschlagung in Betracht. 3. Der Kreis der Tathandlungen wurde durch das EGStGB dem Sprachgebrauch der §§ 87 Abs. 2 Nr. 2, 90 a Abs. 2, 109 e und 316 b Abs. 1 angeglichen. a) Zerstört ist eine Sache, wenn sie aufhört zu bestehen, z. B. Verbrennen von Akten. b) Als Beschädigen genügt jede Handlung, durch die die Brauchbarkeit der Sache beeinträchtigt wird, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob dies mit einer Verletzung oder Veränderung der Substanz verbunden ist. Beispiele: Der Tatbestand ist erfüllt, wenn jemand an einer Urkunde Radierungen oder Streichungen vornimmt und dadurch den Inhalt der Urkunde verändert. - Der Tatbestand ist dagegen nicht erfüllt, wenn jemand in einer Gerichtsakte Notizen macht oder den unbeschriebenen Teil eines Schriftsatzes herausreißt, um diesen zu Notizen oder als Lesezeichen zu verwenden, oder wenn jemand aus alten, abgelegten Akten interessante Briefmarken ablöst. c) Unbrauchbar gemacht ist eine Sache, wenn sie ihre bestimmungsgemäße Funktion auf nicht nur vorübergehende Zeit nicht mehr erfüllen kann; eine Beeinträchtigung ihrer Substanz ist nicht erforderlich. d) Der dienstlichen Verfügung entzogen ist die Sache, wenn sie dem Verfügungsberechtigten im Bedarfsfall nicht sofort zur Verfügung steht, und zwar an dem Ort, an dem sie üblicherweise verwahrt wird. Eine Unterform dieser Tatbestandsalternative ist das früher ausdrücklich hervorgehobene Beiseiteschaffen der Sache. Beiseitegeschafft ist ein Gegenstand, wenn er von der Stelle entfernt wird, an der er sich zur amtlichen Verwahrung befand. Auch eine nur vorübergehende Entfernung kann genügen, z. B. wenn ein Anwalt, dem nach dem Stand des Ermittlungsverfahrens noch keine Akteneinsicht gewährt werden kann, die Akten heimlich für ein paar Stunden entwendet, um sie einzusehen oder zu fotokopieren. Nicht erforderlich ist ferner, daß die Sache aus den Amtsräumen entfernt
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Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 134
wird. Der Tatbestand wäre daher in dem zuletzt gebrachten Beispiel selbst dann erfüllt, wenn der Anwalt die in der Geschäftsstelle der Staatsanwaltschaft verwahrten Akten nur auf das im selben Gebäude gelegene Anwaltszimmer nimmt. Der Tatbestand kann schließlich auch dadurch verwirklicht werden, daß ein Beamter oder Angestellter einen bei seiner Behörde eingehenden Schriftsatz absichtlich falsch einordnet, so daß er nicht mehr rechtzeitig verwertet werden kann. 4. Die Neufassung der Vorschrift durch das EGStGB hat in Übereinstimmung mit der Rspr. zum früheren Recht (vgl. BGH 5, 155) klargestellt, daß Täter auch derjenige sein kann, dem die Sache selbst dienstlich in Verwahrung gegeben worden ist. Ist der Täter ein Amtsträger (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 2) oder ein für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 4) und war ihm die Sache dienstlich anvertraut oder zugänglich, so greift der Erschwerungstatbestand des Abs. 3 ein (ein unechtes Amtsdelikt, das an die Stelle des früheren § 348 Abs. 2 getreten ist und bei dem im Falle der Teilnahme § 28 Abs. 2 zu beachten ist). Ein Amtsträger scheidet jedoch dann als Täter aus, wenn es in seinem Ermessen steht, ob er die Sache weiter in amtlichem Gewahrsam halten oder freigeben soll, und wenn er sie dann - wenngleich pflichtwidrig - an den berechtigten Empfänger freigibt (vgl. BGH aaO. 161). Beispiel: Der Polizeibeamte A beschlagnahmt den Führerschein des Kraftfahrers X unter dem Verdacht der Trunkenheit im Verkehr. Als X jammert, läßt A sich schließlich erweichen und gibt den Führerschein wieder zurück. Hier käme zwar eine Strafbarkeit wegen Strafvereitelung im Amt (§ 258 a), aber kein Verwahrungsbruch in Betracht. Anders wäre nur dann zu entscheiden, wenn bereits ein richterlicher Beschlagnahmebeschluß vorgelegen hätte. In diesem Fall hätte A schon formell keinen Ermessensspielraum gehabt. Durch Abs. 3 erfaßt wird auch der Fall, daß ein Amtsträger eine von ihm im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens gefertigte Meldung, die damit zum Gegenstand und Beweismittel eines dienstlichen Vorgangs geworden war, der üblichen Weiterbearbeitung entzieht (BGH NJW 1975, 2212 betr. einer sog. Anhaltemeldung bezüglich einer Prostituierten). 5. Die in Abs. 2 enthaltene Ausdehnung der Vorschrift auf Sachen, die sich in amtlicher Verwahrung einer Kirche oder anderen Religionsgemeinschaft des öffentlichen Rechts befindet, entspricht der Rspr. zu § 133 aF (vgl. RG 56,399). 6. Tateinheit ist möglich mit §§ 132, 136, 242, 246, 267, 268, 274 Nr. 1, 303. § 354 Abs. 2 Nr. 2 geht gegenüber § 133 Abs. 3 vor (KG JR 1977,426).
§ 134
Verletzung amtlicher Bekanntmachungen
Wer wissentlich ein dienstliches Schriftstück, das zur Bekanntmachung öffentlich angeschlagen oder ausgelegt ist, zerstört, beseitigt, verunstaltet, unkenntlich macht oder in seinem Sinn entstellt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift schützt die Integrität dienstlicher Informationen, sofern diese öffentlich angeschlagen oder ausgelegt sind. Die Neufassung enthält gegenüber dem alten Recht nicht nur verschiedene Verdeutlichungen und
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§ 136
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
Erweiterungen (früher erstreckte sich der Schutz der Vorschrift z. B. nicht auf ausgelegte Bekanntmachungen, vgl. RG 36, 184), sondern auch eine Erhöhung des Strafrahmens. 2. Ein Schriftstück ist dienstlich, wenn es von einer staatlichen oder kommunalen Behörde oder einer Dienststelle der Bundeswehr stammt. Entgegen der früheren Rechtslage (vgl. Mösl LK 1) fallen kirchliche Bekanntmachungen nicht mehr unter den Anwendungsbereich der Vorschrift, was sich aus dem Fehlen einer dem § 133 Abs. 2 entsprechenden Gleichstellungsklausel ergibt (siehe jedoch §§ 267, 274 Nr. 1, 303). Nicht erforderlich ist, daß das Schriftstück eine „Bekanntmachung" i. e. S. enthält. Es genügen Informationen jeder Art, sofern diese „dienstlichen" Charakter haben (z. B. Fahndungsplakate, vgl. Händel, Polizeispiegel 1974, 192). Nicht ausreichend sind dagegen Mitteilungen, die nicht zur Kenntnis der Allgemeinheit bestimmt sind, z. B. die wegen verbotswidrigen Parkens an einem Pkw angebrachte Zahlkarte (vgl. Baumann NJW 1964, 708; Lackner 2 a). 3. öffentlich angeschlagen oder ausgelegt ist ein Schriftstück, wenn es an einer Stelle angebracht oder ausgelegt ist, an der es von einem nach Herkunft und Zahl unbestimmten Personenkreis wahrgenommen werden kann (z. B. auf Straßen und Plätzen, in öffentlichen Gebäuden, Gaststätten, Theatern oder Zügen). 4. Der Kreis der Tathandlungen erfaßt jede Beeinträchtigung ohne Rücksicht darauf, ob diese mit einer Beeinträchtigung der Substanz verbunden ist. 5. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz nicht genügt (vgl. „wissentlich"). 6. IdK. ist möglich mit §§ 267,274 Nr. 1; gegenüber § 303 geht § 134 vor.
§ 135
[aufgehoben]
§ 136
Verstrickungsbruch; Siegelbruch
(1) W e r eine Sache, die gepfändet oder sonst dienstlich in Beschlag genommen ist, zerstört, beschädigt, unbrauchbar macht oder in anderer Weise ganz oder zum Teil der Verstrickung entzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer ein dienstliches Siegel beschädigt, ablöst oder unkenntlich macht, das angelegt ist, um Sachen in Beschlag zu nehmen, dienstlich zu verschließen oder zu bezeichnen, oder wer den durch ein solches Siegel bewirkten Verschluß ganz oder zum Teil unwirksam macht. (3) Die Tat ist nicht nach den Absätzen 1 und 2 strafbar, wenn die Pfändung, die Beschlagnahme oder die Anlegung des Siegels nicht durch eine rechtmäßige 498
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 136
Diensthandlung vorgenommen ist. Dies gilt auch dann, wenn der Täter irrig annimmt, die Diensthandlung sei rechtmäßig. (4) § 113 Abs. 4 gilt sinngemäß. 1. Die durch das EGStGB grundlegend umgestaltete Vorschrift ersetzt die früheren §§ 136 und 137, wobei Abs. 1 dem früheren § 137 und Abs. 2 dem früheren § 136 entspricht. Neu ist die in Abs. 3 und Abs. 4 getroffene Irrtumsregelung, die der Irrtumsregelung in § 113 entspricht. 2. Abs. 1 (Verstrickungsbruch) schützt die durch Pfändung oder Beschlagnahme begründete staatliche Herrschaftsgewalt. a) Tatobjekte können nur Sachen, nicht auch Rechte sein. Nicht hierher gehört deshalb der Fall, daß jemand rechtswidrig über eine gepfändete Forderung verfügt (vgl. RG 24, 49; Celle NdsRpfl. 1958, 163; h. L.; a. A. Cramer in Schönke-Schröder 5). Zu den Sachen gehören auch Bestandteile eines Grundstücks, noch nicht abgeerntete Früchte, Bäume, Maschinen usw. b) Täter kann jeder sein, vor allem der Eigentümer der Sache, aber auch der Beamte, der die gepfändete Sache in Besitz hat (es sei denn, es steht in seinem Ermessen, ob er die Sache wieder freigibt, vgl. BGH 5, 156 ff. sowie § 133 Anm. 4; Dreher 5; Lackner 2). c) Der Kreis der Tathandlungen entspricht dem des § 133 (siehe dort Anm. 3). Eine Verstrickungsentziehung liegt vor, wenn die gepfändete oder beschlagnahmte Sache der Verfügungsgewalt der berechtigten Stelle ganz oder teilweise, dauernd oder vorübergehend entzogen wird, z. B. durch Täuschung über den Verbleib oder durch Austausch mit einer anderen, geringwertigen Sache, nicht dagegen durch Verkauf ohne gleichzeitige Besitzübertragung (vgl. HammNJW 1956,1889). d) Auf der subj. Tatseite ist Vorsatz erforderlich, wobei bedingter Vorsatz genügt. Der Vorsatz muß sich nicht auf die Rechtmäßigkeit der Pfändung bzw. Beschlagnahme erstrecken; diese ist vielmehr eine vom Vorsatz unabhängige Voraussetzung der Rechtswidrigkeit (vgl. Abs. 3). Für die Behandlung der Irrtumsfragen gelten gemäß Abs. 4 die zu § 113 entwickelten Grundsätze entsprechend. e) IdK. ist möglich mit Abs. 2 sowie §§ 133, 242,246, 263, 288 f. 3. Abs. 2 (Siegelbruch) schützt die durch das Siegel manifestierte staatliche Herrschaftsgewalt (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 18). a) Siegel ist jede dienstliche (siehe hierzu § 133 Anm. 2 a) Kennzeichnung mit Beglaubigungscharakter (vgl. Lackner 4 a; Maurach BT 664), und zwar ohne Rücksicht auf die Art des Materials (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 20). In Betracht kommen z. B. Verschlußplomben der Bahn und der städtischen Versorgungsbetriebe, Siegelmarken des Gerichtsvollziehers sowie Stempelabdrucke. b) Das Siegel muß angelegt, d. h. mit der Sache, die beschlagnahmt, dienstlich verschlossen oder bezeichnet werden soll, verbunden sein (vgl. RG 61,101; h. L.). c) Die Tathandlung besteht im Beschädigen (vgl. § 133 Anm. 3 b), Ablösen oder Unkenntlichmachen des Siegels (z. B. Überkleben einer Siegelmarke, vgl. Köln NJW
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§ 136
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
1968, 2116). Dem gleichgestellt ist der Fall, daß der durch das Siegel bewirkte Verschluß „ganz oder zum Teil unwirksam gemacht" wird. Diese Form der Tatbestandsverwirklichung ist an die Stelle der früheren Tb.-Alternative „Aufheben" des Verschlusses getreten. Entsprechend der Rspr. zum „Aufheben" des Verschlusses ist der durch das Siegel bewirkte Verschluß „unwirksam" gemacht, wenn die mit der Siegelung verbundene dienstliche Sperre mißachtet wird, z. B. durch Betreten einer amtlich geschlossenen und mit einem Sperrschild versehenen Trinkhalle (vgl. Ffm. NJW 1959, 1288; Dreher 8; Lackner 4 b; a. A. Cramer in Schönke-Schröder 25; Rudolphi SK 23) oder durch Fortführen von Bauarbeiten, obwohl die Baubehörde die Einstellung der Bauarbeiten verfügt und die Versiegelungsverfügung an der Baubude hat anheften lassen hat (vgl. Köln MDR 1971, 67; Mösl LK 7 zu § 136 aF; a. A. Cramer aaO. 25; Rudolphi SK 23). d) Der Vorsatz (bedingter genügt) muß sich auf die Versiegelung und die durch sie bedingte Beschlagnahme usw. erstrecken, nicht jedoch auf die Rechtmäßigkeit der Versiegelung. Insoweit gelten die Ausführungen unter 2 d entsprechend. e) IdK. ist möglich mit Abs. 1 sowie mit §§ 133, 267, 274 Nr. 1,303. 4. Pfändung, Beschlagnahme und Versiegelung müssen aufgrund einer rechtmäßigen Diensthandlung vorgenommen worden sein. Die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung ist - wie in § 113 (siehe dort Anm. II) - kein Tatbestandsmerkmal, sondern eine Voraussetzung der Rechtswidrigkeit, auf die sich der Vorsatz des Täters nicht beziehen muß. Hiereu im einzelnen: a) Die Diensthandlung muß von einem zuständigen Beamten unter Beachtung der wesentlichen Formvorschriften vorgenommen worden sein. So liegt eine ordnungsgemäße Pfändung nur dann vor, wenn der Gerichtsvollzieher die Sache in Besitz nimmt oder, wenn er sie im Gewahrsam des Schuldners beläßt, mit einem Siegel versieht (vgl. § 808 ZPO). Fällt das Siegel nachträglich ab, so bleibt die Pfändung hierdurch unberührt (vgl. Hamm NJW 1956, 1889). Nicht erforderlich ist, daß das Pfandsiegel sofort ins Auge fällt. Es genügt, wenn es bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt erkannt werden kann, z. B. im Innern eines Pkw neben der Tür (vgl. Oldenburg JR 1954, 33). b) Die öffentlich-rechtliche Verstrickung wird nicht dadurch berührt, daß sie materiellrechtlich nicht gerechtfertigt ist. Es gelten hier dieselben Grundsätze wie für die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung in § 113 (siehe dort Anm. II). Eine ordnungsgemäße Pfändung kann daher auch dann vorliegen, wenn der Gerichtsvollzieher eine gemäß § 811 ZPO unpfändbare Sache pfändet oder wenn er eine Sache pfändet, die dem Schuldner nicht gehört, oder wenn er eine Pfändung vornimmt, obwohl der Schuldner inzwischen die Forderung beglichen hat. Der Schuldner darf in diesen Fällen weder Widerstand leisten noch die Siegelmarke entfernen noch eine der in § 136 unter Strafe gestellten Handlungen vornehmen. Es bleibt ihm oder dem sonst durch die Pfändung zu Unrecht Betroffenen nichts anderes übrig, als die gesetzlich vorgesehenen Rechtsmittel oder Rechtsbehelfe zu ergreifen (vgl. §§ 766, 767, 771 ZPO). 5. Abs. 4 verweist auf die Irrtumsregelung des § 113 (s. o. 2 d sowie § 113 Anm. V).
§ 137 500
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Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 138
§ 138 Nichtanzeige geplanter Straftaten (1) Wer von dem Vorhaben oder der Ausführung 1. einer Vorbereitung eines Angriffskrieges (§ 80), 2. eines Hochverrats in den Fällen der §§ 81 bis 83 Abs. 1, 3. eines Landesverrats oder einer Gefährdung der äußeren Sicherheit in den Fällen der §§ 94 bis 96,97 a oder 100, 4. einer Geld- oder Wertpapierfälschung in den Fällen der §§ 146, 151 oder 152, 5. eines Menschenhandels in den Fällen des § 181 Nr. 2, 6. eines Mordes, Totschlags oder Völkermordes (§§ 211,212,220 a), 7. einer Straftat gegen die persönliche Freiheit in den Fällen der §§ 234,234 a, 239 a oder 239 b, 8. eines Raubes oder einer räuberischen Erpressung (§§ 249 bis 251, 255) oder 9. einer gemeingefährlichen Straftat in den Fällen der §§ 306 bis 308, 310 b Abs. 1 bis 3, des § 311 Abs. 1 bis 3, des § 311 a Abs. 1 bis 3, der §§ 311 b, 312,313,315 Abs. 3, des § 315 b Abs. 3, der §§ 316 a, 316 c oder 324 zu einer Zeit, zu der die Ausführung oder der Erfolg noch abgewendet werden kann, glaubhaft erfährt und es unterläßt, der Behörde oder dem Bedrohten rechtzeitig Anzeige zu machen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer von dem Vorhaben oder der Ausführung einer Straftat nach § 129 a zu einer Zeit, zu der die Ausführung noch abgewendet werden kann, glaubhaft erfährt und es unterläßt, der Behörde unverzüglich Anzeige zu erstatten. (3) Wer die Anzeige leichtfertig unterläßt, obwohl er von dem Vorhaben oder der Ausführung der rechtswidrigen Tat glaubhaft erfahren hat, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die zuletzt durch G v. 18. 8. 1976 (BGBl. I 2181) neu gefaßte Vorschrift dient dem Schutz der Rechtsgüter, die durch die anzeigepflichtigen Verbrechen verletzt werden (vgl. Heimann-Trosien LK 3; Lackner 1; Cramer in Schönke-Schröder 1). 2. Nur bevorstehende Verbrechen unterliegen der Anzeigepflicht des § 138. Unerheblich ist, ob das Verbrechen tatsächlich begangen wird (siehe jedoch § 139 Abs. 1). Die unterlassene Anzeige bereits begangener Verbrechen kann sich unter Umständen als Strafvereitelung gemäß §§ 258, 258 a darstellen. Nicht alle Verbrechen unterhegen der Anzeigepflicht, sondern nur die in § 138 ausdrücklich erwähnten. Der durch G v. 18. 8. 1976 (BGBl. 12181) neu eingefügte Abs. 2 ist insoweit mißglückt, als die Anzeigepflicht endet, sobald die terroristische Vereinigung gegründet, unterstützt oder für sie geworben worden ist. Man hätte auch die Existenz einer bereits gegründeten und noch fortbestehenden Vereinigung anzeigepflichtig machen müssen (vgl. Blei JA 1977,92). 501
§ 139
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
3. Als Täter kommt jeder in Betracht, der glaubhaft von dem geplanten Verbrechen Kenntnis erlangt. Ausgenommen sind Personen, die selbst als Täter oder Teilnehmer der geplanten Tat in Betracht kommen. Es wäre verfehlt, auch diese Personen in den Kreis der Anzeigepflichtigen einzubeziehen. Anzeigepflichtig ist somit nur, wer mit der geplanten Tat selbst nichts zu tun hat (BGH 19,167 m. Anm. Schröder JR 1964,227; Cramer in Schönke-Schröder 14 ff.). Wegen weiterer Ausnahmen siehe § 139 Abs. 2 und 3. 4. Zum Umfang der Anzeigepflicht: a) Die Pflicht zur Anzeige beginnt, sobald jemand glaubhaft von einem geplanten Verbrechen Kenntnis erlangt. Ein Gerücht, an das man selbst nicht glaubt, verpflichtet noch nicht zur Anzeige. Keine Pflicht zur Anzeige besteht auch dann, wenn das geplante Verbrechen überhaupt nicht ausführbar ist. b) Die Pflicht zur Anzeige entfällt, wenn Ausführung oder Erfolg des Verbrechens ohnehin nicht mehr abgewendet werden können. c) Wer rechtzeitig von einem geplanten Verbrechen Kenntnis erlangt, muß so rechtzeitig Anzeige erstatten, daß die drohende Tat noch verhindert werden kann. d) Die Anzeige ist entweder der Behörde oder dem Bedrohten gegenüber zu erstatten. 5. Der subjektive Tatbestand erfordert Vorsatz. Der Anzeigepflichtige muß wissen, mindestens aber für möglich halten, daß ein bestimmtes Verbrechen geplant ist. Er muß weiter wissen, daß er noch die Möglichkeit hat, den Bedrohten oder die Polizei in Kenntnis zu setzen. Ein Irrtum über die Anzeigepflicht ist als sog. Gebotsirrtum nach den Grundsätzen des Verbotsirrtums zu behandeln (vgl. BGH 19,295 f. m. krit. Anm. Geilen JuS 1965,426). 6. Nach Abs. 3 macht sich strafbar, wer die Anzeige leichtfertig, d. h. grob fahrlässig unterläßt, obwohl er von dem Verbrechen glaubhaft erfahren hat. Leichtfertig handelt vor allem, wer ohne vernünftigen Grund zu lange mit der Anzeige zögert oder wer, ohne sich überhaupt zu bemühen, eine Anzeige für zwecklos betrachtet. 7. Vollendet ist die Tat, wenn rechtzeitige Anzeige nicht mehr möglich ist. Bis dahin kann sich der Anzeigepflichtige Zeit lassen. Er geht allerdings das Risiko ein, daß die Tat früher als erwartet zur Ausführung kommt und eine rechtzeitige Anzeige dann nicht mehr möglich ist. Andererseits entfällt seine Anzeigepflicht, wenn die Tat inzwischen von dritter Seite rechtzeitig zur Anzeige gebracht wurde (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 16).
8. Mehrere Anzeigepflichtige sind in ihrem Verhältnis zueinander nicht Mittäter, sondern Nebentäter, da die Pflicht eines jeden selbständig neben der des anderen steht (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 16 a; Heimann-Trosien LK 31; a. A. Kielwein GA 1955, 228).
§ 139
Straflosigkeit der Nichtanzeige geplanter Straftaten
(1) Ist in den Fällen des § 138 die Tat nicht versucht worden, so kann von Strafe abgesehen werden. 502
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 139
(2) Ein Geistlicher ist nicht verpflichtet anzuzeigen, was ihm in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden ist. (3) Wer eine Anzeige unterläßt, die er gegen einen Angehörigen erstatten müßte, ist straffrei, wenn er sich ernsthaft bemüht hat, ihn von der Tat abzuhalten oder den Erfolg abzuwenden, es sei denn, daß es sich um 1. einen Mord oder Totschlag (§§ 2 1 1 , 2 1 2 ) , 2. einen Völkermord in den Fällen des § 2 2 0 a Abs. 1 Nr. 1 oder 3. einen erpresserischen Menschenraub (§ 2 3 9 a Abs. 1), eine Geiselnahme (§ 2 3 9 b Abs. 1) oder einen Angriff auf den Luftverkehr (§ 3 1 6 c Abs. 1) durch eine terroristische Vereinigung (§ 1 2 9 a) handelt. Unter denselben Voraussetzungen ist ein Rechtsanwalt, Verteidiger oder Arzt nicht verpflichtet anzuzeigen, was ihm in dieser Eigenschaft anvertraut worden ist. (4) Straffrei ist, wer die Ausführung oder den Erfolg der Tat anders als durch Anzeige abwendet. Unterbleibt die Ausführung oder der Erfolg der Tat ohne Zutun des zur Anzeige Verpflichteten, so genügt zu seiner Straflosigkeit sein ernsthaftes Bemühen, den Erfolg abzuwenden. 1. Abs. 1 gibt die Möglichkeit, von Strafe abzusehen, wenn die Tat nicht ins Versuchsstadium getreten ist. Es handelt sich hier um einen fakultativen Strafausschließungsgrund, für den prozessual § 153 b StPO zu beachten ist (siehe auch D vor § 1). 2. Keine Anzeigepflicht besteht für Geistliche im Rahmen ihrer seelsorgerischen Tätigkeit (Abs. 2), ferner für Ärzte, Rechtsanwälte und Verteidiger, sofem es sich nicht um Mord, Totschlag, Völkermord oder ein in Abs. 3 S. 1 Nr. 3 aufgeführtes Verbrechen einer terroristischen Vereinigung handelt und sofern sie sich ernstlich bemüht haben, den Täter von der geplanten Tat abzuhalten oder den Erfolg abzuwenden (Abs. 3 Satz 2). Die hier genannten Personen scheiden bereits tatbestandsmäßig aus dem Kreis der Täter aus (vgl. Cramerin Schönke-Schröder 2 f.; str.). 3. Angehörige der Täter und Teilnehmer an der geplanten Tat sind im Gegensatz zu den unter 2) genannten Personen an sich anzeigepflichtig, aber entschuldigt, wenn sie sich ernstlich bemühen, die Tat zu verhindern, und wenn es sich nicht um Mord, Totschlag oder ein anderes ausdrücklich aufgeführtes Kapitalverbrechen handelt (vgl. Abs. 3 S. 1 idF des G v. 18. 8. 1976, BGBl. I 2181). 4. Eine weitere privilegierende Sonderregelung enthält § 139 Abs. 4 für den Fall, daß der Anzeigepflichtige die Tat selbst verhindert. Beispiele: A bittet seinen Freund F um Gift, um damit seine Frau umzubringen. F verhindert die Tat dadurch, daß er A ein absolut harmloses Pulver gibt. - Oder: A erfährt von einem Sprengstoffanschlag. Da er die in Frage kommenden Täter kennt, aber nicht anzeigen will, entfernt oder vernichtet er einfach den Sprengkörper. - Die Rechtsnatur der Vorschrift ist umstritten. Während die h. L. in ihr einen persönlichen Strafaufhebungsgrund sieht (vgl. Dreher 4; Lackner 3 b; Welzel 518), entfällt nach Cramer in Schönke-Schröder (Rn. 6) bereits die Tatbestands503
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Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
mäßigkeit. Dieser Ansicht ist der Vorzug zu geben, da die Abwendung des drohenden Verbrechens als gleichwertige Alternative zur Anzeige behandelt werden muß. Die Bedeutung des Unterschieds zwischen beiden Auffassungen zeigt sich vor allem auf dem Gebiet der Teilnahme. Die in Abs. 4 Satz 2 getroffene Regelung entspricht § 24 Abs. 1 S. 2 sowie einigen Sondervorschriften des Besonderen Teils, z. B. den §§ 83 a Abs. 3, 129 Abs. 6, 239 a Abs. 3 S. 2 und 316 a Abs. 2 S. 2.
§ 140
Belohnung und Billigung von Straftaten
Wer eine der in § 138 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 und in § 126 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 genannten rechtswidrigen Taten, nachdem sie begangen oder in strafbarer Weise versucht worden ist, 1. belohnt oder 2. in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ( § 1 1 Abs. 3) billigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die zuletzt durch das 14. StrRÄndG v. 22. 4. 1976 (BGBl. I 1056) geänderte Vorschrift will verhindern, daß durch die Verherrlichung begangener Straftaten die allgemeine Bereitschaft zur Begehung gleichartiger Taten gefördert wird (Rudolphi SK 2). Geschütztes Rechtsgut ist somit - ähnlich wie in den §§ 88 a, 126, 130 und 130 a - der öffentliche Friede, d. h. das Bewußtsein der Bevölkerung, in Ruhe und Frieden leben zu können (Gefühl der Rechtssicherheit, vgl. BGH 22, 282, 285; h. L.). Hierbei ist zu beachten, daß der Rechtsfriede nicht nur durch Beunruhigung der Mehrheit durch Minderheiten, sondern auch dadurch gefährdet werden kann, daß sich Minderheiten vor aufgeputschten Mehrheiten nicht mehr sicher fühlen (vgl. Blei JA 1976, StR S. 7). Uber die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bis zum 14. StrRÄndG siehe BGH aaO. 2. Der Katalog der in Betracht kommenden Taten wurde durch das 14. StrRÄndG erweitert (Gesetzesmaterialien und Schrifttum siehe § 88 a Anm. 1). Neu aufgenommen wurden die in § 126 Abs. 1 Nr. 1-6 genannten Taten, nicht jedoch die in § 126 Abs. 1 Nr. 7 enthaltenen gemeingefährlichen Sabotagevergehen. a) Über rechtswidrige Tat siehe § 11 Abs. 1 Nr. 5 nebst Anm. Strafbar ist daher auch die Belohnung oder Billigung der Tat eines Geisteskranken, sofern sie unter den Katalog des § 140 fällt. b) Die Tat muß begangen, d. h. vollendet, oder in strafbarer Weise versucht worden sein. Nicht ausreichend ist daher die Belohnung oder Billigung eines versuchten Landfriedensbruchs gemäß § 125 a, da hier der Versuch ungeachtet der erhöhten Strafdrohung nicht mit Strafe bedroht ist. Andererseits ist eine Tat „in strafbarer Weise" auch dann versucht worden, wenn der Täter anschließend freiwillig vom Versuch zurückgetreten ist. Erfaßt wird deshalb auch die Mißbilligung eines strafbefreienden Rücktritts (Cramer in SchönkeSchröder 2; Rudolphi SK 4; Stree NJW 1976,1177,1181).
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§ 140
c) Die Belohnung oder Billigung von Auslandstaten wird vom Anwendungsbereich der Vorschrift nur dann erfaßt, wenn die Tat auch nach deutschem Recht strafbar wäre (vgl. Dreher 3; enger Heimann-Trosien LK 5 und Rudolphi SK 5: Auslandstaten sind nur dann relevant, wenn sie auch im Inland hätten begangen werden können, nicht dagegen solche Taten, die aufgrund ihrer Besonderheiten allein auf das Ausland beschränkt sind). Zum Ganzen siehe auch BGH 22, 282, 286, wo die Frage offen gelassen wurde, sowie Laufhütte MDR 1976,441, 445. 3. Die Tathandlung besteht im Belohnen oder Billigen der Tat. a) Belohnen ist die Zuwendung irgendeines materiellen oder immateriellen Vorteils (h. L., vgl. Sturm JZ 1976, 347, 350). Die Verleihung eines Ordens ist daher ebenso tatbestandsmäßig wie die Zuwendung eines Geldbetrags (Rudolphi SK 6). b) Billigen bedeutet „gutheißen" (BGH 22,282, 286). Um nicht jede entfernte Form des Beifalls bereits als tatbestandsmäßige Handlung erfassen zu müssen, ist eine einschränkende Auslegung erforderlich. Der Tb. ist nur dann erfüllt, wenn der Täter in klarer, eindeutiger Form bestimmte konkrete Straftaten gutheißt, z. B. das Attentat auf einen bestimmten Politiker. Diese Voraussetzungen liegen auch dann vor, wenn jemand seine „klammheimliche Freude" über das Attentat zum Ausdruck bringt. Nicht ausreichend ist andererseits ein allgemeines Bekenntnis zu einem „politischen Widerstandsrecht" und zur angeblichen Rechtmäßigkeit tatsächlich geleisteten Widerstands, sofern nicht gleichzeitig bestimmte Straftaten ausdrücklich gebilligt werden (BGH aaO. 288). Über öffentlich siehe § 111 Anm. 2. Die durch das 14. StrRÄndG vorgenommene Ausdehnung der Vorschrift auf die in einer Versammlung (§ 80 a Anm. 2 b) oder durch Verbreiten von Schriften (vgl. § 11 Abs. 3 nebst Anm. XI) begangenen Taten bezieht Äußerungen ein, die ihrem Unrechtsgehalt nach öffentlich gemachten Äußerungen gleichkommen. Die Erweiterung diente zugleich der Anpassung an die vergleichbaren Tatbestände der §§ 80 a, 90-90 b, 111 und 166. Den öffentlichen Frieden zu stören geeignet ist die Billigung, wenn eine nicht nur fern liegende Gefahr besteht, daß das Bewußtsein der Bevölkerung, in Ruhe und Frieden leben zu können, beeinträchtigt wird. Die Gefahr der Friedensstörung kann auch dadurch begründet werden, daß bei dem angesprochenen Personenkreis die Neigung zu vergleichbaren Taten geweckt wird (vgl. Hbg NJW 1975, 1088 zu § 130 m. krit. Bespr. Geilen NJW 1976, 279). Daß es tatsächlich zu einer Friedensstörung kommt, ist - ebenso wie bei den vergleichbaren Tatbeständen der §§ 126, 130, 130 a und 166 - nicht erforderlich (abstraktes Gefährdungsdelikt). Die Gefahr einer Friedensstörung kann vor allem dann ausgeschlossen werden, wenn sich die Verbrechensbilligung auf ein historisches Ereignis bezieht, ohne daß gleichzeitig eine Beziehung zur Gegenwart hergestellt wird (vgl. Sturm JZ 1976,347,351). 4. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich auf das Vorliegen einer konkreten rechtswidrigen Tat beziehen, im Falle des Billigens auch auf die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens. Hinsichtlich der Rechtswidrigkeit der belohnten oder gebilligten Tat genügt es, daß der Täter die unrechtsbegründenden Tatumstände kennt. Eine falsche rechtliche Wertung berührt nicht den Vorsatz, sondern allenfalls das Unrechts be wußtsein. 5. Nach Wegfall der früheren Subsidiaritätsklausel ist Tateinheit möglich u. a. mit §§ 88 a, 111,130,130 a, 131 und 258.
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§141
[aufgehoben]
§ 142
Unerlaubtes Entfernen vom Uniallort
(1) Ein Unfallbeteiligter, der sich nach einem Unfall im Straßenverkehr vom Unfallort entfernt, bevor er 1. zugunsten der anderen Unfallbeteiligten und der Geschädigten die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung durch seine Anwesenheit und durch die Angabe, daß er an dem Unfall beteiligt ist, ermöglicht hat oder 2. eine nach den Umständen angemessene Zeit gewartet hat, ohne daß jemand bereit war, die Feststellungen zu treffen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Nach Absatz 1 wird auch ein Unfallbeteiligter bestraft, der sich 1. nach Ablauf der Wartezeit (Absatz 1 Nr. 2) oder 2. berechtigt oder entschuldigt vom Unfallort entfernt hat und die Feststellungen nicht unverzüglich nachträglich ermöglicht. (3) Der Verpflichtung, die Feststellungen nachträglich zu ermöglichen, genügt der Unfallbeteiligte, wenn er den Berechtigten (Absatz 1 Nr. 1) oder einer nahe gelegenen Polizeidienststelle mitteilt, daß er an dem Unfall beteUigt gewesen ist, und wenn er seine Anschrift, seinen Aufenthalt sowie das Kennzeichen und den Standort seines Fahrzeugs angibt und dieses zu unverzüglichen Feststellungen für eine ihm zumutbare Zeit zur Verfügung hält. Dies gilt nicht, wenn er durch sein Verhalten die Feststellungen absichtlich vereitelt. (4) Unfallbeteiligter ist jeder, dessen Verhalten nach den Umständen zur Verursachung des Unfalls beigetragen haben kann. 1. Die durch das 13. StrRÄndG v. 13. 6. 1975 (BGBl. I 1349) in Anlehnung an § 347 E 1962 neu gefaßte Vorschrift schützt in erster Linie die zivilrechtlichen Interessen der Unfallbeteiligten und Geschädigten an der Durchsetzung berechtigter eigener und an der Abwehr unbegründeter fremder Schadensersatzansprüche (vgl. RegE S. 4 f. BT-Drucks. 7/2434). Das öffentliche Interesse der Strafverfolgungs- und Verwaltungsbehörden an der Erfassung möglichst aller Verkehrsunfälle und Unfallbeteiligten, um durch Strafen und Maßnahmen ungeeignete Kraftfahrer aus dem Verkehr zu ziehen und dadurch die Verkehrssicherheit zu erhöhen, hat demgegenüber nur nachrangige Bedeutung und würde für sich allein eine vom Grundsatz der Straflosigkeit der Selbstbegünstigung abweichende Strafdrohung nicht rechtfertigen (so schon BVerfG NJW 1963, 1195 und BGH 8, 263; 12, 254; 24, 382 zu § 142 aF, jetzt klargestellt durch die Formulierung „zugunsten der anderen Unfallbeteiligten und der Geschädigten" in Abs. 1 Nr. 1). In Übereinstimmung mit dem früheren Recht geht die Pflicht des Unfallbeteiligten dahin, solange an der Unfallstelle zu verbleiben, bis die erforderlichen Feststellungen zugunsten der übrigen Unfallbeteiligten und Geschädigten getroffen werden konnten (Abs. 1). Diese Warte-
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§ 142
pflicht wird ergänzt durch die in Abs. 2 und 3 festgelegten Nachholpflichten, die subsidiär insbesondere dann Bedeutung erlangen, wenn sich ein Unfallbeteiligter berechtigt oder entschuldigt von der Unfallstelle entfernt hat (zur sog. Rückkehrpflicht nach früherem Recht siehe BGH 18, 114, 118 m. Nachw.). Obwohl die Tat, wie dargelegt, primär nur zivilrechtliche Individualinteressen schützt, wurde entgegen früheren Entwürfen mit Rücksicht auf die häufig durch die Tat in Erscheinung tretende sozialethisch verwerfliche Gesinnung des Täters darauf verzichtet, die Vorschrift als Antragsdelikt zu gestalten (RegE S. 6 BT-Drucks. 7/2434). Andererseits wurde die frühere Strafdrohung für die Fälle des Versuchs ersatzlos aufgehoben. Entfallen ist auch die in § 142 Abs. 3 aF enthaltene erhöhte Strafdrohung für besonders schwere Fälle. Gleichzeitig wurde jedoch die Strafobergrenze des Regelstrafrahmens von früher 2 Jahren auf 3 Jahre angehoben. Gesetzesmaterialien: BT-Drucks. 7/2434 (RegE), BT-Drucks. 7/3503 (Ber. d. BTSonderausschusses für die Strafrechtsreform) sowie die Protokolle des Sonderausschusses (Prot. VII/1933, 2023). - Schrifttum zur Neufassung: Berz, Zur Auslegung des § 142 StGB, DAR 1975, 309; - Blei JA 1976, StR S. 19; - Bringewat, Verdunkelungsverbot, Vorstellungs- und Meldepflicht bei Verkehrsunfällen, JA 1977, 231; - Hahn, Wartepflicht und Wartedauer im neuen § 142 StGB, NJW 1976, 509; - Jagusch, Der neue § 142 StGB, NJW 1976, 1631; - ders., Zum Umfang der Vorstellungspflicht, NJW 1976, 504; - Janiszewski, Zur Neuregelung des § 142 StGB, DAR 1975, 169; - Laubichler, Fahrerflucht im Dämmerzustand, BA 1977, 247; - Bernhard Maier, Die Pflichten des Unfallbeteiligten nach der Neufassung der §§ 142 StGB und 34 StVO, JZ 1975, 721; ders., Vorstellungspflicht gemäß § 142 StGB, NJW 1976, 1190; - Müller-Emmert/Maier, Zur Neufassung des § 142 StGB, DRiZ 1975, 176; - Sturm, Die Neufassung des § 142 StGB durch das 13. StrRÄndG, JZ 1975,406. 2. Der obj. Tb. setzt zunächst einen Unfall im Straßenverkehr voraus. a) Unfall ist jedes plötzlich eintretende Ereignis, durch das ein Mensch getötet oder verletzt wurde oder das zu einer nicht völlig belanglosen Sachbeschädigung geführt hat (BGH 8, 263 f.; 24, 382 f.). Völlig belanglos und damit tatbestandsmäßig irrelevant ist ein Schaden, wenn Schadensersatzansprüche üblicherweise nicht geltend gemacht werden. Diese Grenze dürfte bei etwa 30,- DM angesetzt werden (vgl. Ddf VM 1976 Nr. 46). Frühere Entscheidungen, die von einer niedrigeren Wertgrenze ausgingen, sind durch die fortschreitende Geldentwertung und die sich hieraus ergebende Verteuerung der Kfz-Reparaturen gegenstandslos geworden. Ob der Unfall veischuldet wurde, ist unerheblich. Entgegen der h. L. im Schrifttum liegt nach der Rspr. ein Unfall selbst dann vor, wenn das Schadensereignis von einem der Beteiligten vorsätzlich herbeigeführt wurde, während es für den anderen ungewollt war, z. B. wenn sich jemand in erkennbar selbstmörderischer Absicht vor ein nahendes Fahrzeug wirft (vgl. BGH 12, 253, 255; VRS 36, 24) oder wenn ein wegen anderer Straftaten verfolgter Kraftfahrer das ihn verfolgende Polizeifahrzeug vorsätzlich rammt und dann weiterfährt, um sich auch hinsichtlich dieses Vorfalls den Feststellungen zu entziehen (BGH 24, 382). Ein „Unfall" in diesem Sinn liegt nach dieser Ansicht nur dann nicht vor, wenn das Fahrzeug ausschließlich als Werkzeug zur Erreichung eines außerhalb des Straßenverkehrs liegenden Zwecks benutzt wird, z. B. um den Nebenbuhler zu töten oder das Gartentor des verfeindeten Nachbarn zu zerstören (BGH aaO.; weitgehend übereinstimmend Dreher 12; Geppert GA 1970, 1; Mühlhaus 4; Oppe GA 1970, 368; Rüth LK 17; teilweise a. A. Berz JuS 1973, 558; Cramer 12 sowie in Schönke-Schröder 14; Eich MDR 1973, 814; Jagusch 4; Roxin NJW 1969, 1261 sowie Rudolphi SK 15 mit beachtlichen 507
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Argumenten: von einem Unfall kann nur dort gesprochen werden, wo sich das Schadensereignis als Realisierung einer typischen Gefahr des Straßenverkehrs darstellt). b) Der Unfall muß sich im Straßenverkehr ereignet haben. Nicht erfaßt werden Unfälle im Bahn-, Luft- oder Schiffsverkehr sowie auf Skipisten (siehe jedoch Art. 24 VI Nr. 4 Bayer. Landesstraf- und VerordnungsG idF v. 7. 11. 1974, GVB1.753 sowie § 6 VO über die Sicherung der Seefahrt v. 15. 12. 1956, BGBl. II 1579, zuletzt geändert durch VO v. 7. 2. 1975, BGBl. 1473). c) Nur ein Unfall im öffentlichen Straßenverkehr löst die sich aus § 142 ergebenden Pflichten aus (BGH 8, 264; 12, 255; h. L.). Grundsätzlich nicht erfaßt werden Unfälle, die sich ausschließlich auf privatem Gelände ereignet haben, z. B. Manöverunfälle auf einem Wiesengelände oder Unfälle auf einer Werkstraße. Private Verkehrsflächen können jedoch dadurch zu „öffentlichen" werden, daß sie unter ausdrücklicher oder stillschweigender Duldung des Eigentümers oder sonstigen Berechtigten von der Allgemeinheit oder allgemein bestimmten Gruppen von Benutzern, d. h. einem durch persönliche Beziehungen nicht verbundenen Personenkreis, dauernd oder vorübergehend zur Benutzung zur Verfügung stehen (h. A., vgl. Cramer in Schönke-Schröder 5 m. Nachw.). Erfaßt werden deshalb z. B. auch Unfälle, die sich auf einem allgemein zugänglichen Parkplatz eines Gasthauses (BGH 16, 7), eines Einkaufszentrums (Saarbrücken NJW 1974, 1099; Stgt DAR 1974, 194) oder eines Krankenhauses (Bremen VRS 18, 115), in einem Parkhaus (Ddf VRS 39, 204), in der Tiefgarage eines Kaufhauses, im Bereich einer Tankstelle (BayObLG JR 1963, 192; Hamm NJW 1967, 119), auf Zufahrten zu Betrieben (Krhe NJW 1956, 1649), Kasernen (Ddf NJW 1956, 1651) und Gehöften (BGH VRS 31 [1966], 421) ereignen, nicht dagegen, wenn sich der Unfall in einem Hof abspielt, der ausschließlich Übernachtungsgästen eines Hotels vorbehalten ist (BGH 16, 11). Nichtöffentlich sind auch Verkehrsflächen in Kasernen, Kliniken, Behörden und Betrieben, die ausschließlich von den Bediensteten und ausgewählten Besuchern betreten werden dürfen, desgleichen Tiefgaragen von Wohnblocks, die nur den Bewohnern und ihren Gästen zur Verfügung stehen. d) Nicht erforderlich ist, daß sich der Unfall „auf" einer öffentlichen Verkehrsfläche ereignet. Es genügt, daß er mit dem öffentlichen Straßenverkehr in ursächlichem Zusammenhang steht (BGH 18, 393; VRS 31 [1966] 421; h. L.). Tatbestandserheblich ist deshalb auch der Fall, daß ein Fahrzeug von der Fahrbahn abkommt und einen neben der Fahrbahn auf Privatgelände geparkten Pkw rammt. 3. Täter (auch Mittäter, BGH 15, 4) kann nur ein Unfallbeteiligter sein. Es handelt sich somit um ein sog. Sonderdelikt, das von einem Außenstehenden, der selbst kein Unfallbeteiligter ist, nicht in mittelbarer Täterschaft begangen werden kann (vgl. B 7 vor § 1). Die Strafbarkeit der Teilnehmer richtet sich nach allgemeinen Grundsätzen (§§ 26, 27) und setzt insbesondere eine vorsätzliche Haupttat voraus (siehe hierzu das Beispiel Anm. 2 a zu § 26). Beihilfe durch positives (aktives) Tun kommt insbesondere dann in Betracht, wenn jemand dem unfallbeteiligten Fahrer behilflich ist, sein unfallbeschädigtes Fahrzeug wieder fahrbereit zu machen. Beihilfe durch Unterlassen setzt nach allgemeinen Gesichtspunkten (vgl. § 13) eine Garantenpflicht voraus, die insbesondere beim Fahrzeughalter gegeben sein kann, der verpflichtet ist, die Flucht des von ihm zur Fahrt ermächtigten Fahrers zu verhindern (BayObLG b. Rüth DAR 1976, 174). Dasselbe gilt für Arbeitgeber (BGH VRS 24, 34; Ddf VM 1966 Nr. 76) und Vorgesetzte (RG 69, 349; h. L., vgl.
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Rüth LK 73; a. A. Cramer in Schönke-Schröder 62). § 28 Abs. 1 findet keine Anwendung (vgl. § 28 Anm. 3). 4. Ulifallbeteiligter ist nach der Legaldefinition des Abs. 4 jeder, dessen Verhalten nach den Umständen des Einzelfalls zur Verursachung des Unfalls beigetragen haben kann. a) Die sich aus § 142 ergebenden Pflichten richten sich nicht nur gegen den Führer eines unfallbeteiligten Fahrzeugs, sondern auch gegen Fußgänger. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Fahrzeugführer durch das Fehlverhalten eines Fußgängers zu einem unfallauslösenden Bremsmanöver veranlaßt wurde. Aber auch heftige Zusammenstöße zwischen Fußgängern können zu einem tatbestandserheblichen Unfall führen (vgl. Stgt VRS 18 [1960], 117; h. L.; a. A. Cramer in Schönke-Schröder 13, der mit wenig überzeugender Begründung die Beteiligung wenigstens eines Fahrzeugs verlangt). Unfallbeteiligter kann auch der Führer eines Einkaufswagens sein, der auf dem Parkplatz eines Supermarkts einen Pkw rammt (Stgt DAR 1974, 194), desgleichen der Einweiser eines Fahrzeugs, dessen Fahrer ein- oder ausparkt. b) Der mitfahrende Fahrzeughalter und sonstige Mitinsassen des Fahrzeugs sind dann Unfallbeteiligte i. S. der Vorschrift, wenn sie den Unfall mitverursacht haben, z. B. dadurch, daß sie dem Fahrer ins Steuer gegriffen oder ihn sonst behindert oder abgelenkt haben (vgl. BGH 15, 5). Die Unfallbeteiligung kann auch darin bestehen, daß der Fahrzeughalter sein Fahrzeug einem angetrunkenen oder sonst ungeeigneten Fahrer überlassen hat (vgl. BGH aaO.; BayObLG b. Rüth DAR 1973, 205 und DAR 1976, 174; KG VRS 46, 434; Dreher 13; Lackner 2; Rüth LK 68; a. A. Cramer in Schönke-Schröder 61; Rudolphi SK 16). c) Unerheblich ist, ob die Unfallbeteiligung schuldhaft war. Es ist sogar nicht einmal erforderlich, daß sie eindeutig feststeht. Ausreichend ist vielmehr, daß das Verhalten des Verkehrsteilnehmers den Verdacht rechtfertigt, er habe den Unfall möglicherweise mitverursacht (BGH VRS 19 [1960], 192; siehe auch Krhe Justiz 1974, 133 betr. einen Kraftfahrer, der auf nächtlicher Straße einen infolge eines vorausgegangenen Unfalls auf der Fahrbahn liegenden Menschen überfahren hatte, der zu diesem Zeitpunkt möglicherweise schon tot war). d) Die Pflichten des § 142 treffen nur solche Unfallbeteiligte, die sich während der aktuellen Unfallsituation im Bereich der Unfallstelle aufgehalten haben. Kein Unfallbeteiligter i. S. der Vorschrift ist deshalb der Fahrzeughalter, der sein Fahrzeug einem angetrunkenen Fahrer überlassen, selbst aber nicht an der zum Unfall führenden Fahrt teilgenommen hat, sondern erst später an der Unfallstelle eingetroffen ist (KG VRS 46, 434; Dreher 13; Lackner 2). Entsprechendes gilt für einen Kfz-Mechaniker, der durch unsachgemäße Reparatur zum Unfall beigetragen hat; auch er ist nur dann Unfallbeteiligter, wenn er - als Fahrer oder Beifahrer - am Unfallgeschehen unmittelbar teilgenommen hat (BayObLG VRS 12, 115; Dreher 13; ablehnend selbst für diese Fälle Cramer in Schönke-Schröder 61; Rudolphi SK 16). 5. Die Tathandlung des Abs. 1 besteht im Sichentfernen von der Unfallstelle, bevor die Voraussetzungen der Nr. 1 oder Nr. 2 erfüllt sind. Im einzelnen: a) Ein Sichentfernen liegt vor, wenn der Unfallbeteiligte den räumlichen Bereich der Unfallstelle (siehe hierzu Koblenz DAR 1963, 244) verläßt und sich an einen Ort begibt, an dem er für die übrigen Unfallbeteiligten und die Geschädigten von der Unfallstelle aus
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nicht mehr ohne weiteres erreichbar und als Unfallbeteiligter feststellbar ist (vgl. Ddf VM 1976 Nr. 41; Dreher 23). aa) Tatbestandsmäßig ist jede Ortsveränderung, d. h. die Aufhebung jedes engeren räumlichen Zusammenhangs zwischen Täter und Unfallstelle, ohne daß es auf ihren Zweck ankommt (vgl. Janiszewski DAR 1975, 170, 172). Ein tatbestandsmäßiges Sichentfernen liegt deshalb - unbeschadet der Möglichkeit einer Rechtfertigung durch mutmaßliche Einwilligung oder rechtfertigenden Notstand - auch dann vor, wenn sich ein Unfallbeteiligter von der Unfallstelle entfernt, um von einem nahegelegenen Telefon aus ärztliche Hilfe anzufordern oder den nicht selbst an der Unfallstelle anwesenden Geschädigten zu benachrichtigen (Cramer in Schönke-Schröder 37; Dreher 23; a. A. Lackner 4 a, der in Fällen dieser Art nicht erst die Rechtswidrigkeit, sondern mangels Beeinträchtigung des Feststellungsinteresses bereits die Tatbestandsverwirklichung verneinen möchte). Auch auf die Dauer der Ortsveränderung kommt es nicht an. Vollendet ist die Unfallflucht z. B. schon dann, wenn es einem verfolgenden Polizeibeamten gelingt, einen flüchtenden Unfallbeteiligten bereits nach zwei Straßenecken einzuholen (Ddf VM 1976 Nr. 41). Es genügt, daß er nicht mehr uneingeschränkt zu Feststellungen an Ort und Stelle zur Verfügung steht (Stgt Justiz 1977, 239,240). bb) Ein Sichentfernen ist auch durch rein passives Verhalten möglich, z. B. wenn ein unfallbeteiligter Mitinsasse (s. o. 4 b) den Fahrer pflichtwidrig nicht an der Fortsetzung der Fahrt hindert (Cramer in Schönke-Schröder 39; Dreher 23). cc) Das Sichentfemen fällt nur dann unter die Strafdrohung des Abs. 1, wenn es von der Unfallstelle aus erfolgt. Nicht durch Abs. 1 erfaßt wird deshalb der Fall, daß jemand, der von einer Gaststätte aus erkennt, daß ein anderer Verkehrsteilnehmer auf seinen unbeleuchtet abgestellten Pkw aufgefahren ist, durch eine Hintertür das Lokal verläßt. Da ein im Zeitpunkt des Unfalls nicht an der Unfallstelle anwesender Unfallbeteiligter nicht verpflichtet ist, die Unfallstelle unverzüglich aufzusuchen, kann er sich auch nicht dadurch nach Abs. 1 strafbar machen, wenn er sich zwar zunächst zur Unfallstelle begibt, diese dann aber wieder verläßt, ohne zuvor die Voraussetzungen der Nr. 1 oder Nr. 2 erfüllt zu haben. Hat sich ein Unfallbeteiligter in allseitigem Einverständnis von der Unfallstelle aus an einen anderen Ort begeben, so kommt nicht Abs. 1, sondern Abs. 2 in Betracht, wenn er sich von diesem neuen Ort aus entfernt, ohne den Feststellungsinteressen der Berechtigten genügt zu haben. b) Das in Abs. 1 enthaltene grundsätzliche Verbot jeder Ortsveränderung (s. o. 5 a) dient ausschließlich dem Feststellungsinteresse der anderen Unfallbeteiligten und der Geschädigten, nicht auch dem Interesse der Strafverfolgungs- und Verwaltungsbehörden (s. o. Anm. 1). Im einzelnen: aa) Keine Wartepflicht besteht, wenn ausschließlich der Unfallbeteiligte selbst geschädigt ist und Rechtsbeziehungen zu anderen Unfallbeteiligten nicht in Frage kommen (BGH 8, 263; VRS 24 [1963], 35). Dies ist z. B. dann der Fall, wenn A mit seinem Pkw von der Fahrbahn abkommt und gegen eine Felswand prallt, wobei nur er und sein Pkw zu Schaden kommen. Ein Alleinschaden in diesem Sinn liegt auch dann vor, wenn der Pkw vollkasko versichert ist (BGH 8, 263, 266) oder wenn er im Sicherungs- oder Vorbehaltseigentum eines anderen steht (entscheidend ist hier die wirtschaftliche Stellung, vgl. Dreher 16). Eine die Wartepflicht auslösende Rechtsbeziehung zu anderen Personen muß jedoch grundsätzlich dann angenommen werden, wenn der unfallbeteiligte Pkw geliehen, gemietet oder gestohlen ist (vgl. BGH 9, 267; Celle NJW 1959, 831). In diesen Fällen
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kann von einem Alleinschaden ebensowenig gesprochen werden, wie wenn bei dem Unfall eine dem Unfallbeteiligten nicht gehörende Ladung zu Schaden kommt. Fraglich ist allerdings, ob der Geschädigte in derartigen Fällen ein schutzbedürftiges Interesse daran hat, daß der Unfall an Ort und Stelle geklärt wird (s. u. lit. cc). Keine Wartepflicht besteht schließlich bei Wildunfällen, aus denen sich für den Kraftfahrer weder aus § 823 BGB noch aus § 7 StVG eine Pflicht zum Schadensersatz ergibt (vgl. Jagusch NJW 1976, 583; a. A. AG Öhringen NJW 1976,580). bb) Kein strafrechtlich relevantes Sichentfernen liegt weiter dann vor, wenn alle Feststellungsberechtigten auf sofortige Feststellungen verzichten. Dieser Verzicht, der dogmatisch eine rechtfertigende Einwilligung bedeutet (h. L., vgl. Rudolphi SK 20), kann sowohl ausdrücklich erklärt als auch durch schlüssiges (konkludentes) Verhalten zum Ausdruck gebracht werden. Er ist unbeachtlich, falls er durchTäuschung der Berechtigten erschlichen oder abgenötigt worden ist (KG VRS 10, 453; Dreher 17). Minderjährige können auf sofortige Feststellungen am Unfallort nur dann rechtswirksam verzichten, wenn sie eine genügende Vorstellung von der Bedeutung und Tragweite des Verzichts haben (BayObLG bei Rüth DAR 1970, 261; Hamm VRS 23, 102; Rüth LK 31). Bei Kindern sind diese Voraussetzungen grundsätzlich nicht gegeben (Krhe Urt. v. 22. 6. 1972 - 3 Ss 72/72 für Kinder unter 12 Jahren, Ddf VM 1977 Nr. 17 für Kinder unter 8 Jahren). cc) Auch mutmaßliche Einwilligung der Feststellungsberechtigten kann das Sichentfernen von der Unfallstelle rechtfertigen. Der Verzicht des Feststellungsberechtigten kann insbesondere dann unterstellt werden, wenn dieser als Unfallmitbeteiligter in Kenntnis des Unfalls seinerseits pflichtwidrig die Unfallstelle verlassen hat (BayObLG NJW 1958, 511; Köln VRS 33 [1967], 347; h. L., vgl. Rudolphi SK 22) oder wenn bei dem Unfall ledigüch eine im Eigentum eines an der Unfallstelle nicht anwesenden Angehörigen, Freundes, Nachbarn oder Arbeitgebers stehende Sache beschädigt worden ist und der Schadensverursacher damit rechnen kann, daß der Geschädigte keine sofortigen Feststellungen an Ort und Stelle wünscht, sondern sich mit der späteren Regulierung des Schadens begnügen wird (vgl. Hbg NJW 1960, 1482; Hamm NJW 1971, 1470). Entsprechendes gilt für Bagatellschäden (bis zu ca. 60,- DM), wenn der Geschädigte nicht sofort erreichbar ist und der Unfallverursacher in der ernstlichen Absicht, den Schaden zu regulieren, dem Geschädigten durch eine schriftliche Mitteilung oder durch eine zuverlässige Mittelsperson die zur Aufklärung des Schadens erforderlichen Daten hinterläßt oder ihn wenig später selbst von dem Unfall in Kenntnis setzt (BayObLG NJW 1968, 1896; NJW 1970, 717; Hamm VM 1964 Nr. 88; NJW 1971, 1470; Cramer in Schönke-Schröder 66; einschränkendFfmNJW 1962, 686; 1963, 1215; Dreher 18). dd) Ein schutzbedürftiges Interesse der Berechtigten an sofortigen Feststellungen an Ort und Stelle ist femer dann abzulehnen, wenn die Geltendmachung bestehender Ansprüche ein Verbleiben des Unfallbeteiligten an der Unfallstelle überhaupt nicht erfordert, z. B. bei einem Alleinunfall eines Mietwagenfahrers, den nach dem Mietvertrag die volle Beweislast für das Nichtbestehen eines Ersatzanspruchs des Vermieters trifft (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 19; Rudolphi SK 19; a. A. Bremen DAR 1956, 250), oder bei Wildunfällen, die für den Kraftfahrer überhaupt keine Schadensersatzpflicht auslösen können (s. o. lit. b, aa). Bei Verursachung eines Unfalls mit einem gestohlenen Fahrzeug besteht ein Feststellungsinteresse des Geschädigten jedoch schon deshalb, weil er u. U. beweisen muß, daß der eingetretene Schaden nicht schon vorher bestanden hat (vgl. BGH VRS 11 [1956], 208; Stgt VRS 16 [1959], 190; Cramer 27 sowie in Schönke-Schröder 19; a. A. Rudolphi SK 19). 511
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c) Die Anwesenheitspflicht (Wartepflicht) des Abs. 1 Nr. 1 setzt - abgesehen von einem schutzwürdigen Feststellungsinteresse eines Berechtigten (s. o. lit. b) - das Vorhandensein feststellungsbereiter Personen am Unfallort voraus. Als solche kommen nicht nur die Feststellungsberechtigten (d. h. die anderen Unfallbeteiligten und die Geschädigten), sondern auch sonstige Personen in Betracht, die bereit sind, zugunsten der Berechtigten die erforderlichen Feststellungen zu treffen, z. B. Angehörige der Polizei, aber auch feststellungsbereite Passanten (Krhe VRS 22 [1962], 440; h. L., vgl. Dreher 24; Rudolphi SK 27). d) Die Wartepflicht des Abs. 1 Nr. 1, die der Unfallbeteiligte durch seine Anwesenheit am Unfallort zu erfüllen hat, wird seit der Neufassung der Vorschrift durch das 13. StrRÄndG ergänzt durch die Vorstellungspflicht. Jeder Unfallbeteiligte ist verpflichtet, den anderen Unfallbeteiligten und den Geschädigten sowie sonstigen feststellungsbereiten Personen (insbesondere der Polizei, s. o. lit. c) zu erkennen zu geben, daß sich ein Unfall ereignet hat und das eigene Verhalten nach den Umständen zur Verursachung des Unfalls beigetragen haben kann. Es ist also nicht mehr ausreichend, daß er sich einfach unter die Zuschauer mischt, ohne erkennen zu lassen, daß er am Unfall beteiligt war. Hat der Geschädigte - etwa wegen Ortsabwesenheit - den Unfall noch gar nicht bemerkt, so ist der Unfallbeteiligte bei Eintreffen des Geschädigten an der Unfallstelle verpflichtet, ihn auf den Schaden hinzuweisen (übereinstimmend Cramer in Schönke-Schröder 24; Dreher 28; Müller-Emmert/Maier DRiZ 1975, 177; a. A. Rudolphi SK 29). Keinesfalls darf der Unfallbeteiligte seine Beteiligung an dem Unfall wahrheitswidrig leugnen (Ffm NJW 1977, 1833). Andererseits ist er nicht verpflichtet, nähere Angaben über die Art seiner Unfallbeteiligung zu machen (vgl. Janiszewski DAR 1975, 170, 173). Er muß nur angeben, „daß" er an dem Unfall beteiligt war, nicht dagegen, wie es zum Unfall gekommen ist (vgl. Bringewat JA 1977, 231, 234; Cramer in Schönke-Schröder 24; Dreher 28; Lackner 4 c, bb; weitergehend Jagusch NJW 1976, 504; Rudolphi SK 29). Er ist auch nicht verpflichtet, den anderen Unfallbeteiligten und den Geschädigten nähere Angaben über seine Person und sein Fahrzeug zu machen (vgl. Bernhard Maier NJW 1976, 1190 m. Nachw.). Er muß lediglich so lange an der Unfallstelle verbleiben, bis der geschützte Personenkreis diese wichtigen Feststellungen mit Hilfe der insoweit ausschließlich zuständigen Polizei hat treffen lassen. Ein weiterreichender Sinn der Vorstellungspflicht ergibt sich auch nicht aus Abs. 3, da die Situation dort für den Feststellungsberechtigten eine ungünstigere ist und deshalb weitergehende Pflichten des (nicht mehr an der Unfallstelle anwesenden) Unfallbeteiligten erfordert (vgl. Lackner 4 c, bb; Bernhard Maier aaO.). e) Sowohl die Anwesenheitspflicht (s. o. lit. c) als auch die Vorstellungspflicht (s. o. lit. d) verfolgen das Ziel, dem berechtigten Personenkreis (s. o. lit. d) die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen. Der Unfallbeteiligte ist dabei nicht verpflichtet, aktiv an der Aufklärung des Unfalls mitzuwirken; er hat vielmehr lediglich die Pflicht, bestimmte Feststellungen zu dulden. Der Umfang der Duldungspflicht erstreckt sich auf aa) die Feststellung seiner Person. Hierher gehören alle Daten, die es ermöglichen, den Unfallbeteiligten so zu identifizieren, daß seine Person ohne weitere Ermittlungen eindeutig feststeht (BGH 16, 139, 143). Erforderlich hierzu sind insbesondere Name und Anschrift. Im Regelfall kann und wird der Unfallbeteiligte dieser Feststellungspflicht dadurch nachkommen, daß er sich durch Vorlage seines Personalausweises, seines Führerscheins oder eines vergleichbaren Ausweispapiers den Feststellungsberechtigten gegenüber ausweist. Eine Pflicht hierzu besteht allerdings nicht (vgl. Dreher 25; a. A. Müller-Emmert/Maier DRiZ 1975, 177). Lehnt der Unfallbeteiligte es ab, mit den ande512
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ren Unfallbeteiligten und Geschädigten unmittelbar zu verhandeln, so muß er auf deren Verlangen bis zum Eintreffen der Polizei warten. Dies gilt auch bei Bagatellunfällen (BayObLG JR 1966, 145). Keinesfalls darf der Unfallbeteiligte sich darauf beschränken, die Feststellungsberechtigten und solche Personen, die zu ihren Gunsten die erforderlichen Feststellungen treffen wollen, einfach auf das amtliche Kennzeichen seines Fahrzeugs zu verweisen (so schon BGH 16, 139 zu § 142 aF). Eine Ausnahme hiervon kann nur dann anerkannt werden, wenn es sich bei dem Unfallfahrzeug um ein öffentliches Verkehrsmittel handelt, mit dessen Nummer kraft der inneren Organisation des Betriebs zugleich die Person des Fahrers feststeht (BGH aaO. S. 144; Neustadt NJW 1960, 688; Rudolphi SK 24); bb) die Feststellung seines Fahrzeugs. Dies wird in der Regel dadurch ermöglicht, daß dem Feststellungsinteressenten Gelegenheit gegeben wird, sich das amtliche Kennzeichen bzw. (bei Mopeds und Mofas) das Versicherungskennzeichen zu notieren. Hat der Feststellungsberechtigte oder der für ihn Handelnde Anhaltspunkte dafür, daß das Kennzeichen gefälscht ist oder daß es sich um ein gestohlenes Fahrzeug handelt, so kann er darauf bestehen, daß die erforderlichen Feststellungen durch die Polizei getroffen werden; cc) die Feststellung der Art seiner Beteiligung. Hierher gehört insbesondere die Feststellung einer etwaigen Alkoholbeeinflussung oder eines sonstigen körperlichen oder geistigen Mangels, der für die Unfallverursachung von Bedeutung gewesen sein kann (BGH VRS 39 [1970], 184; Saarbrücken NJW 1968, 459; Koblenz VRS 43 [1972], 181; h. L., vgl. Cramer in Schönke-Schröder 17 m. weit. Nachw.). Zur „Art der Beteiligung" gehört auch die Frage, ob der Unfallbeteiligte Fahrer oder nur Mitinsasse des Fahrzeugs war. f) Da der Feststellungsberechtigte oder die für ihn tätig werdenden Privatpersonen in der Regel nicht in der Lage sind, die erforderlichen Feststellungen selbst zuverlässig zu treffen, ist der Unfallbeteiligte auf Verlangen grundsätzlich verpflichtet, auch bei kleineren Unfällen bis zum Eintreffen der Polizei zu warten, damit diese die Spuren sichern, eine etwaige Blutentnahme und alle sonst zur Klärung des Unfalls wesentlichen Maßnahmen veranlassen kann (Ddf VM 1971 Nr. 18; Hamm NJW 1972, 1383; Krhe NJW 1973, 378; h. L., vgl. Dreher 24). Eine solche Pflicht entfällt ausnahmsweise nur dann, wenn alle im Interesse der Berechtigten erforderlichen Feststellungen bereits vollständig getroffen sind und es den Feststellungsberechtigten offensichtlich nur noch darum geht, den Unfallbeteiligten seiner strafrechtlichen Verantwortung zuzuführen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die zivilrechtlichen Ansprüche der Berechtigten durch Zahlung an Ort und Stelle erfüllt oder durch ein schriftliches Schuldanerkenntnis ausreichend und zweifelsfrei abgesichert sind (vgl. Oldenburg NJW 1968, 2019 m. abl. Bespr. Ulsenheimer JuS 1972, 24; Hamm VRS 40 [1971], 19; BayObLG DAR 1971, 246; Cramer in Schönke-Schröder 17; Dreher 19; Lackner 4 b, bb; Rudolphi SK 26, 27, 30). In diesem Fall würde sich die Ausdehnung der Wartepflicht bis zum Eintreffen der Polizei als ein durch § 142 nicht gedeckter Rechtsmißbrauch darstellen. Von einem solchen kann allerdings noch nicht gesprochen werden, wenn der Unfallbeteiligte nur formlos seine Schuld anerkennt oder an seiner Identität nicht völlig unbegründete Zweifel bestehen. Zum Ganzen siehe auch Neustadt DAR 1958,271; Hamm NJW 1972,1383; Krhe NJW 1973, 378. g) Nicht erfaßt von der Strafdrohung des Abs. 1 Nr. 1 werden aktive Handlungen des Unfallbeteiligten, durch die das Feststellungsinteresse des Berechtigten erschwert wird, ohne daß der Unfallbeteiligte gleichzeitig seine Anwesenheits- oder Vorstellungspflicht verletzt. Selbst absichtliche Vereitelungshandlungen führen nur unter den Voraussetzun17
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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gen des Abs. 2 i. V. mit Abs. 3 zu einer Strafbarkeit nach § 142. Diese unterschiedliche Behandlung beruht auf der Erwägung, daß die Gefahr der Vernichtung von Beweismitteln in den Fällen des Abs. 2 größer und damit die Position des Feststellungsberechtigten schlechter ist als in den Fällen, in denen der Unfall mit allen Unfallbeteiligten an Ort und Stelle geklärt werden kann (vgl. RegE S. 7 BT-Drucks. 7/2434; Bringewat JA 1977, 231, 234; Cramer in Schönke-Schröder 23; Dreher 29; Lackner 4 c, aa; Rudolphi SK 31). In sachlicher Übereinstimmung mit der Rspr. zur früheren Fassung sind deshalb nicht nach § 142 Abs. 1 strafbar die Verwischung von Unfallspuren an den Fahrzeugen und auf der Fahrbahn, falsche Aussagen über die Art der Unfallbeteiligung (z. B. über die Frage, wer Fahrer oder Beifahrer war), das Vorzeigen eines gefälschten oder eines für einen anderen ausgestellten Führerscheins, vor allem aber der Nachtrunk, um über die im Unfallzeitpunkt tatsächlich vorhandene Blutalkoholkonzentration zu täuschen (vgl. Cramer aaO. mit Nachw. der Rspr. zu § 142 aF). Bei der vorsätzlichen oder fahrlässigen Beseitigung von Unfallspuren (nicht auch bei den anderen genannten Verdunkelungshandlungen) kommt lediglich eine nach § 49 Abs. 1 Nr. 29 StVO i. V. mit § 24 StVG zu ahndende Ordnungswidrigkeit in Betracht. Der Nachtrunk ist für sich allein nicht strafbar und wird auch nicht als Ordnungswidrigkeit erfaßt, kann sich jedoch, falls der Unfallbeteiligte sich in einer nach § 142 strafbaren Weise von der Unfallstelle entfernt, bei der Strafzumessung straferschwerend auswirken (BGH 17,143; Mühlhaus 5 a; Str.). 6. Sind feststellungsbereite Personen im Zeitpunkt des Unfalls nicht vorhanden, so hat der Unfallbeteiligte eine „angemessene Zeit" zu warten (Abs. 1 Nr. 2). Die Dauer der Wartepflicht ist gesetzlich nicht festgelegt und richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach Art und Umfang des Schadens (Faustregel: je geringer der Schaden, desto geringer die Anforderungen an die Wartepflicht). So kann man z. B. bei einem geringfügigen Parkschaden, insbesondere zur Nachtzeit in einsamer Gegend, nicht verlangen, daß der Unfallverursacher stundenlang auf das Eintreffen des ihm unbekannten Geschädigten oder der Polizei wartet. In Fällen dieser Art kann der Unfallbeteiligte seine Wartezeit dadurch verkürzen, daß er seine Visitenkarte oder eine ähnliche schriftliche Mitteilung mit seinem Namen, seiner Anschrift und dem Kennzeichen seines Fahrzeugs am Pkw des Geschädigten hinterläßt (vgl. BayObLG NJW 1970, 717; Hamm NJW 1971, 1469; Lackner 4 d unter Hinweis auf § 34 Abs. 1 Nr. 6 b StVO, wonach ordnungswidrig handelt, wer nach Ablauf einer angemessenen Wartezeit die Unfallstelle verläßt, ohne am Unfallort Namen und Anschrift zu hinterlassen). Derartige Maßnahmen zugunsten der Feststellungsberechtigten können die Wartezeit zwar abkürzen, aber grundsätzlich nicht ersetzen (Janiszewski DAR 1975, 170, 173). Sie befreien den Unfallbeteiligten auch nicht von seiner sich aus Abs. 2 ergebenden Pflicht, durch nachträgliche Meldung des Unfalls oder auf sonstige geeignete Weise (s. u. Anm. 8) unverzüglich die erforderlichen Feststellungen nachträglich zu ermöglichen (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 34). Ist mit dem Eintreffen feststellungsbereiter Personen nach Sachlage in absehbarer Zeit überhaupt nicht zu rechnen, so kann eine Wartepflicht selbst bei schweren Unfällen u. U. sogar völlig entfallen, insbesondere wenn es darum geht, Verletzten ärztliche Hilfe zukommen zu lassen (vgl. Janiszewski aaO.). Auch in diesen Fällen wird die Wartepflicht ersetzt durch die sich aus Abs. 2 ergebenden Pflichten. Die abw. Ansicht von Dreher (Rn. 30), wonach der Unfallbeteiligte grundsätzlich auch dann warten muß, wenn nicht mit alsbaldigem Erscheinen von Feststellungsinteressenten zu rechnen ist, kann demgegenüber nicht überzeugen. Im übrigen bestehen keine Bedenken, hinsichtlich der Dauer der Wartepflicht auf die frühere Rspr. (siehe hierzu vor allem Rüth LK 34) zurückzugreifen. Mit Rücksicht auf die seitens des Gesetzgebers in § 34 Abs. 1 Nr. 6 und
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§ 142 Abs. 2 getroffenen zusätzlichen Sicherungen zugunsten des Geschädigten sollten die Anforderungen an die Dauer der Wartepflicht jedoch nicht überspannt werden (vgl. Beiz DAR 1975, 309, 312; Cramer in Schönke-Schröder 33, 34; Lackner 4 d). Entscheidend sind immer die Umstände des Einzelfalls. So genügt z. B. bei einem Wochenendunfall in einem Vorort eine Wartezeit von einer Stunde, wenn der in die Klinik gebrachte verletzte Beifahrer Namen und Anschrift des Fahrers kennt und nicht mehr damit gerechnet werden kann, daß in absehbarer Zeit jemand erscheinen wird, um Feststellungen wegen eines beschädigten Verkehrszeichens zu treffen (Hamm NJW 1977, 207). 7. Die in Abs. 2 festgelegte Pflicht zur unverzüglichen nachträglichen Ermöglichung der Feststellungen i. S. des Abs. 1 (s. o. Anm. 5 c-e) trifft solche Unfallbeteiligte, die sich in nicht strafbarer Weise von der Unfallstelle entfernt haben, bevor die Feststellungsberechtigten die erforderlichen Feststellungen treffen konnten. Die Vorschrift bildet einen Ersatz für die früher von der Rspr. zu § 142 aF entwickelte Rückkehrpflicht (vgl. z. B. BGH 18,114, 118; VRS 36, 20; Koblenz VRS 45, 33). a) Uber die durch Abs. 2 Nr. 1 erfaßten Fälle s. o. Anm. 6. Unter Nr. 2 sind solche Fälle einzuordnen, in denen sich ein Unfallbeteiligter berechtigt oder entschuldigt von der Unfallstelle entfernt hat, obwohl feststellungsberechtigte Personen an der Unfallstelle anwesend waren oder mit ihrem Eintreffen noch innerhalb angemessener Wartefrist gerechnet werden konnte. aa) Berechtigt entfernt sich ein Unfallbeteiligter, wenn alle Unfallbeteiligten und Geschädigten einwilligen, z. B. wenn man sich darauf geeinigt hat, die zur Klärung des Unfalls erforderlichen Feststellungen in einem nahe gelegenen Gasthaus zu treffen. Dem gleich stehen die Fälle der mußmaßlichen Einwilligung, z. B. wenn es sich bei dem Geschädigten um den Arbeitgeber, um einen Angehörigen, Freund oder Nachbarn handelt, u. U. aber auch bei Bagatellschäden (Einzelheiten s. o. Anm. 5 b, cc). Eine Berechtigung zum vorzeitigen Verlassen der Unfallstelle kann sich schließlich auch aus dem rechtfertigenden Notstand des § 34 ergeben, z. B. wenn Verletzte in die Klinik gebracht werden müssen oder wenn Einsatzfahrzeuge der Polizei, der Feuerwehr oder eines Rettungsdienstes bei ihrer Fahrt zum Einsatzort in einen Unfall verwickelt werden. Hier entscheidet immer die Güterabwägung im Einzelfall. Eine Berechtigung zum Sichentfernen kann allerdings nicht schon angenommen werden, wenn ein Unfallbeteiligter sich vorzeitig entfernt, weil er einen dringenden geschäftlichen Termin wahrnehmen muß oder befürchtet, wegen einer anderen Straftat belangt zu werden (vgl. BGH 9, 267; KG VRS 40, 109; Koblenz VRS 45 [1973], 33; Lackner 5 b; Ulsenheimer GA 1972, 1, 13). Nicht hierher, sondern unter den Anwendungsbereich der Nr. 1 gehören schließlich die Fälle, bei denen jemand die Unfallstelle verläßt, weil mit dem Erscheinen feststellungsbereiter Personen nicht gerechnet werden kann (a. A. Lackner 5 b). bb) Entschuldigt entfernt sich ein Unfallbeteiligter nicht nur unter den engeren Voraussetzungen des nach § 35 Abs. 1 schuldausschließenden Notstands (z. B. um einer drohenden körperlichen Mißhandlung zu entgehen, vgl. BGH VRS 30, 282; 36, 23; BayObLG DAR 1956, 15), sondern auch dann, wenn er irrig Umstände angenommen hat, bei deren Vorliegen er zum Verlassen der Unfallstelle berechtigt gewesen wäre. Dasselbe kann auch bei der irrigen Annahme von Umständen in Betracht kommen, die das vorzeitige Verlassen der Unfallstelle entschuldigt hätten (vgl. RegE S. 8 BT-Drucks. 7/2434; Berz DAR 1975, 309, 313; Cramer in Schönke-Schröder 47 a; Rudolphi SK 40). Von praktischer Bedeutung wird Abs. 2 Nr. 2 in diesen Fällen allerdings nur, wenn der Irrtum über 17»
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das Vorliegen einer schuldausschließenden Notstandslage unverschuldet war. Bei einem verschuldeten Irrtum ergibt sich die Strafbarkeit dagegen bereits aus Abs. 1 (vgl. § 35 Abs. 2; übereinstimmend Dreher 42). Dem schuldausschließenden Notstand des § 35 Abs. 1 gleich steht der Fall, daß der Unfallbeteiligte sich von der Unfallstelle im Zustand vorübergehender Schuldunfähigkeit (§ 20) entfernt hat, z. B. weil er angesichts der Unfallfolgen einen schuldausschließenden Schock erlitten hat. Auch in diesem Fall treffen ihn die Pflichten des Abs. 2 (vgl. Dreher 40; a. A. Rudolphi SK 40). Entsprechendes gilt für die Fälle des unverschuldeten Verbotsirrtums und des Handelns auf Befehl i. S. von § 5 WStG (Dreher 40). Weitergehende Vorschläge, einen Schuldausschließungsgrund wegen Unzumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens auch dann anzunehmen, wenn sich der Unfallbeteiligte von der Unfallstelle entfernt, weil er bei Erfüllung seiner sich aus § 142 Abs. 1 ergebenden Pflichten einen wichtigen Termin (etwa den Start eines Flugzeugs) versäumen würde, können aus Gründen der Rechtssicherheit nicht anerkannt werden (a. A. Dreher 4 1 m . Nachw. aus den Gesetzesmaterialien, die in ihrer Entwicklung eindeutig gegen eine so weitgehende Exkulpationsmöglichkeit sprechen). In diesen Fällen kann dem Unfallbeteiligten lediglich über §§ 153, 153a StPO geholfen werden, wenn er nachträglich alles Erforderliche unternimmt, um dem Feststellungsinteresse der Berechtigten zu genügen (vgl. RegE S. 6 BT-Drucks. 7/2434). cc) Gesetzlich nicht ausdrücklich behandelt und im Schrifttum umstritten ist, ob auch ein Tatbestandsirrtum, der die Strafbarkeit nach Abs. 1 gemäß § 16 entfallen läßt, die Nachholpflichten des Abs. 2 entstehen läßt. Die Frage wird für alle Fälle bedeutsam, in denen der Unfallbeteiligte unwiderlegbar vorträgt, er habe den Unfall nicht bereits an Ort und Stelle, sondern erst später angesichts der Schäden am eigenen Fahrzeug in seiner eigentlichen Bedeutung erkannt. Die Anwendbarkeit von Abs. 2 kann für diese Fälle zwanglos bejaht werden, wenn man den vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum als Schuldausschließungsgrund behandelt. Geht man jedoch im Anschluß an die heute h. A. davon aus, daß der Irrtum über den Unrechtstatbestand nicht erst die Schuld, sondern bereits den Tatbestand entfallen läßt (vgl. B V 3 a vor § 1), so findet Abs. 2 seinem Wortlaut nach keine Anwendung. Nach h. L. kann dieser „Konstruktionsfehler" des Gesetzes auch nicht im Wege der Auslegung behoben werden (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 47 a; Dreher 43; Lackner 5 b; Rudolphi SK 40). Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß die Rspr. zu § 142 aF in Fällen dieser Art eine sog. Rückkehrpflicht angenommen hatte, d. h. ein Unfallbeteiligter, der erst später von seiner Unfallbeteiligung Kenntnis erlangt hatte, war nach früherer Rspr. verpflichtet, unverzüglich an die Unfallstelle zurückzukehren und die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen (BGH 18, 114; Koblenz VRS 45 [1973], 33). Anliegen der Neufassung war es, diese in ihrer dogmatischen Grundlage umstrittene Rspr. auf eine sicherere Basis zu stellen (RegE S. 8 BT-Drucks. 7/2434). Keinesfalls sollte der von der Rspr. entwickelte Schutz der Feststellungsberechtigten durch die Neufassung geschmälert werden. Es läßt sich deshalb aus der Gesetzesgeschichte heraus der Standpunkt, daß § 142 Abs. 2 auch auf den vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum anwendbar ist, zumindest vertreten (übereinstimmend Köln DAR 1977, 275; LG Heilbronn Justiz 1977,136; Jagusch Rn. 52; Müller-Emmert/Maier DRiZ 1975,178; wie die h. L. dagegen Stgt Justiz 1977,239). b) Der Unfallbeteiligte hat die nachträglichen Feststellungen unverzüglich, d. h. ohne jedes vorwerfbare Zögern, zu ermöglichen (RegE S. 8 BT-Drucks. 7/2434; h. L. vgl. Janiszewski DAR 1975, 170, 173). Er ist deshalb im Regelfall verpflichtet, nach Ablauf der Wartefrist bzw. nach Wegfall der die Strafbarkeit nach Abs. 1 ausschließenden Situa-
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tion (z. B. nachdem er die Verletzten in ärztliche Behandlung oder sich selbst vor einer aufgebrachten Menschenmenge in Sicherheit gebracht hat) sofort mit den Berechtigten oder der Polizei Kontakt aufzunehmen, um die erforderlichen Feststellungen nachträglich zu ermöglichen. Er darf seine Aktivitäten nicht zurückstellen, bis er sich mit seiner Versicherung oder seinem Anwalt besprochen hat (vgl. Dreher 45). Bei nächtlichen Unfällen darf er grundsätzlich auch nicht einfach den nächsten Morgen abwarten (Rudolphi SK 46; einschränkend Ffm VRS 51 [1976], 283; BayObLG JR 1977, 427 m. Anm. Rudolphi). Kann er den Berechtigten nicht erreichen, so hat er sich an eine nahe gelegene Polizeidienststelle zu wenden (sehr Str.; s. u. 8 b). Ausnahmen von der Verpflichtung zu sofortiger Aktivität bei nächtlichen Unfällen können nur für solche Fälle anerkannt werden, in denen ein dahingehender Verzicht der Berechtigten nach den Grundsätzen der mutmaßlichen Einwilligung unterstellt werden darf, z. B. wenn lediglich eine im Eigentum eines Angehörigen, Freundes, Nachbarn oder des Arbeitgebers stehende Sache beschädigt worden war, ferner bei Bagatellschäden, wenn der Unfallverursacher durch eine schriftliche Mitteilung die zur ersten Information ausreichenden Daten hinterlassen hat (siehe auch Hamm NJW 1977, 207 sowie Bringewat JA 1977, 231, 236: Ein funktionsgerechtes Verständnis des Merkmals unverzüglich führt dazu, daß der Unfallbeteiligte seiner sich aus § 142 Abs. 2 ergebenden Pflicht dann genügt, wenn alle nach § 142 Abs. 1 Nr. 1 gebotenen Feststellungen ohne zusätzlichen Ermittlungsaufwand und ohne Rechtsnachteile für die Berechtigten vollständig und zuverlässig getroffen werden können). Zu weitgehend erscheint jedoch die von Lackner (Anm. 5 c) vertretene Ansicht, der Unfallbeteiligte dürfe bei der letztgenannten Fallgruppe zunächst die Reaktion des Benachrichtigten abwarten und sei erst dann zur Aktivität verpflichtet, wenn sich der Benachrichtigte innerhalb der üblicherweise verstreichenden Zeit nicht gemeldet hat. 8. Der Katalog des Abs. 3 S. 1 enthält die Mindestvoraussetzungen, die ein Unfallbeteiligter, der nach Ablauf der Wartepflicht (Abs. 2 Nr. 1) bzw. berechtigt oder entschuldigt die Unfallstelle verlassen hat, erfüllen muß, um seiner Pflicht zur Ermöglichung nachträglicher Feststellungen zu genügen (RegE S. 8 BT-Drucks. 7/2434; Stgt VM 1976 Nr. 123; Berz DAR 1975, 309, 314; Janiszewski DAR 1975, 169, 175; Lackner 5 d). Ihre Erfüllung schließt ein tatbestandsmäßiges Verhalten in jedem Fall aus. Nicht mehr ausdrücklich erwähnt ist die nach früherem Recht so bedeutsame Rückkehrpflicht (s. o. 7 a, cc); die Rückkehr zur Unfallstelle ist jedoch auch nach neuem Recht geboten, wenn sie der sicherste Weg ist, um unverzüglich Kontakt mit den Berechtigten oder der Polizei aufzunehmen. Die Rückkehr an die Unfallstelle befreit den Unfallbeteiligten andererseits nicht von seinen sonstigen, in Abs. 3 festgelegten Minimalpflichten (vgl. Lackner 5 d; a. A. Cramer in Schönke-Schröder 58 f.; Dreher 46). Im einzelnen: a) Die Pflicht zur Mitteilung der Untallbeteillgung (Anm. 4) umfaßt nicht auch die Verpflichtung, Einzelheiten über die Art der Unfallbeteiligung und über den Unfallhergang zu machen (h. L., vgl. Lackner 5 d, aa; a. A. Jagusch NJW 1975, 1631, 1633). Die Ausführungen zur Vorstellungspflicht des Abs. 1 (s. o. Anm. 5 d) gelten insoweit entsprechend. Anschrift und Aufenthalt des Unfallbeteiligten müssen durch Angabe von Ort, Straße und Hausnummer so genau bezeichnet sein, daß die Feststellungsberechtigten zwecks Regelung der Ersatzansprüche ohne weitere Ermittlungen mit dem Unfallbeteiligten Kontakt aufnehmen können. Die Art der Mitteilung ist unerheblich. Sie kann persönlich oder durch einen zuverlässigen Boten (siehe hierzu Stgt VM 1976 Nr. 123), aber auch fernmündlich oder telegraphisch erfolgen. Das Zurücklassen einer schriftlichen Mittei517
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lung an dem beschädigten Gegenstand, z. B. an dem nach einem Parkunfall beschädigten Pkw, reicht nur dann aus, wenn die Mitteilung den Mindestanforderungen des Abs. 3 entspricht (Dreher 47; Rudolphi SK 43). Keinesfalls genügt nur die Hinterlassung der Anschrift oder des Kennzeichens. Außerdem ist der Unfallbeteiligte verpflichtet, sich nach angemessener Zeit zu vergewissern, ob der Geschädigte die Mitteilung erhalten hat (vgl. Dreher 47). Enthält die zurückgelassene Mitteilung nicht alle Angaben (Anschrift und Aufenthalt des Unfallbeteiligten, Kennzeichen und Standort des Fahrzeugs), so besteht die Pflicht zu unverzüglicher Kontaktaufnahme (s. o. Anm. 7). b) Adressat der Mitteilung können sowohl die Berechtigten als auch die Polizei sein. Der Unfallbeteiligte hat dabei grundsätzlich die freie Wahl, welchen Weg er beschreitet. Dieses Wahlrecht ist jedoch nicht unbeschränkt. Ist der Unfallbeteiligte nicht in der Lage, die Feststellungsberechtigten in angemessener Zeit zu ermitteln, so ist er verpflichtet, der Polizei die erforderliche Mitteilung zukommen zu lassen (Stgt VM 1976 Nr. 121; BayObLG VM 1977 Nr. 47; Lackner 5 c; Janiszewski DAR 1975, 170, 174; Sturm JZ 1975,406,408; a.A. Ffm VM 1976 Nr. 122; Ddf DAR 1977,245; Bringewat JA 1977, 231, 236; Berz DAR 1975, 309, 314; Cramer in Schönke-Schröder 56; Dreher 47; Rudolphi SK 47: Pflicht zur Mitteilung an die Polizei nur dann, wenn die Ermittlung der Berechtigten von vorneherein als aussichtslos oder so zeitraubend erscheint, daß nachträgliche Feststellungen gar nicht mehr möglich sind). Hierbei ist zu beachten, daß die Geschädigten, vor allem bei schweren Unfällen, ein berechtigtes Interesse haben, möglichst umgehend, nicht erst nach Tagen oder gar Wochen, Klarheit über den Unfall zu gewinnen. Der Unfallbeteiligte ist deshalb grundsätzlich verpflichtet, den Weg zu wählen, der die Feststellungen zugunsten der Berechtigten erkennbar am schnellsten ermöglicht (Hamm NJW 1977, 207). Daß dies vielfach zu einer Selbstanzeige führt, kann und muß im wohlverstandenen Interesse der Feststellungsberechtigten hingenommen werden. Andererseits löst bei einer funktionsgerechten, am Rechtsgut der Vorschrift ausgerichteten Betrachtung nicht jede geringe Verzögerung, die mit der Verständigung des Geschädigten verbunden ist, die Pflicht zur Einschaltung der Polizei aus (BayObLG VM 1977 Nr. 47; Bringewat JA 1977, 231, 236). Da die Benachrichtigung der Polizei, insbesondere bei nächtlichen Unfällen, in der Regel schneller erfolgen kann als die des an der Unfallstelle nicht anwesenden Geschädigten, würde durch eine zu strenge Auslegung das in Abs. 3 enthaltene Wahlrecht des Unfallbeteiligten nahezu völlig ausgehöhlt (BayObLG aaO.). Welche mit der Benachrichtigung des Geschädigten verbundene zeitliche Verzögerung in Kauf genommen werden kann, hängt - ähnlich wie die Dauer der angemessenen Wartepflicht - von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von der Art und Schwere des Unfalls sowie der Tageszeit. So liegt noch kein Verstoß gegen Abs. 2 Nr. 1 vor, wenn jemand dem zuständigen Straßenbauamt erst am Montag morgen mitteilt, daß er in der Nacht zum Sonntag einen Fahrbahnbegrenzungspfosten beschädigt hat (BayObLG aaO.; im Ergebnis übereinstimmend auch Ddf DAR 1977, 245). Die Beschädigung eines geparkten PKW oder einer Grundstückseinfriedung hätte dagegen noch in der gleichen Nacht, spätestens aber am frühen Sonntag morgen gemeldet werden müssen. c) Bei mehreren Berechtigten hat der Unfallbeteiligte dafür zu sorgen, daß alle die erforderlichen Informationen erhalten (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 50; Dreher 47; Müller-Emmert/Maier DRiZ 1975, 178; a. A. trotz des eindeutigen Gesetzeswortlauts Rudolphi SK 43). Die Mitteilung an einen von mehreren Berechtigten genügt nur, wenn die Gewähr dafür besteht, daß dieser auch die übrigen Berechtigten informiert. Kann oder will sich der Unfallbeteiligte nicht der Mühe unterziehen, alle Berechtigten zu ermit-
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teln, so kann er seine sich aus Abs. 2 und Abs. 3 ergebenden Pflichten durch Mitteilung an die Polizei erfüllen. d) Ob eine Polizeidienststelle „nahe gelegen" ist, richtet sich grundsätzlich nach der Entfernung zum Unfallort, nicht nach der Entfernung zum Wohn- oder Aufenthaltsort des Unfallbeteiligten (Dreher 48 m. Nachw.). In Ausnahmefällen (z. B. wenn sich der Unfallbeteiligte in ärztliche Behandlung begeben mußte) genügt auch die Mitteilung an eine in der Nähe des Aufenthaltsorts gelegene Dienststelle. Nicht erforderlich ist die Mitteilung an die „nächste" Dienststelle (so noch RegE BT-Drucks. 7/2434). e) Der Unfallbeteiligte hat „sein", d. h. das von ihm benutzte Fahrzeug den Berechtigten zu unverzüglichen Feststellungen zur Verfügung zu stellen. Er hat insbesondere die Besichtigung durch die Polizei und die Untersuchung durch einen Sachverständigen zu ermöglichen. Ist er nicht selbst Eigentümer (Halter) des Fahrzeugs, so erfüllt er seine Bereitstellungspflicht dadurch, daß er im Rahmen seiner Möglichkeiten auf den Eigentümer (Halter) einwirkt mit dem Ziel, daß dieser das Fahrzeug den Feststellungsberechtigten zur Verfügung stellt (vgl. Lackner 5 d, aa). Der nicht unfallbeteiligte Eigentümer oder Halter des Fahrzeugs selbst hat nach h. A. (a. A. Jagusch NJW 1975, 1631, 1633) keine Bereitstellungspflicht, kann sich aber, falls er in Kenntnis aller Tatumstände Unfallspuren beseitigt, der versuchten oder vollendeten Strafvereitelung schuldig machen. Daß das unfallbeteiligte Fahrzeug in unverändertem Zustand bereitzuhalten ist, bis die Berechtigten ihre Feststellungen getroffen haben, ergibt sich sowohl aus Abs. 3 S. 2 als auch aus § 34 Abs. 3 StVO. Insbesondere dürfen keine Reparaturen vorgenommen werden. Umgekehrt sind die Berechtigten verpflichtet, ihrerseits alle Feststellungen unverzüglich, d. h. ohne vorwerfbares Zögern, zu treffen. Verzögerungen von einigen Tagen, die sich bei der Untersuchung durch einen Sachverständigen ergeben können, müssen - vor allem bei schwereren Unfällen - hingenommen werden. Die Bereitstellungspflicht endet, wenn die Berechtigten die erforderlichen Feststellungen getroffen oder es in vorwerfbarer Weise versäumt haben, innerhalb angemessener Zeit die erforderlichen Maßnahmen zu veranlassen. Ihre Einhaltung ist unzumutbar, wenn von dem Unfallbeteiligten unter Berücksichtigung aller Umstände nicht erwartet werden kann, das Fahrzeug weiter unbenutzt und unrepariert zur Verfügung zu stellen. Entscheidend hierbei sind einerseits die Interessen der Berechtigten an der Schadensregulierung, andererseits das Interesse des Unfallbeteiligten, möglichst bald wieder über sein Fahrzeug verfügen zu können (Faustregel: je schwerer der Schaden, desto länger die zumutbare Wartezeit). Regelmäßig zumutbar ist die Einhaltung einer vereinbarten Wartezeit. 9. Trotz Einhaltung der sich aus Abs. 3 S. 1 ergebenden Pflichten macht sich der Unfallbeteiligte, der die Unfallstelle unter den privilegierenden Voraussetzungen des Abs. 2 verlassen hat, dann strafbar, wenn er nachträglich die Feststellungen absichtlich vereitelt (Abs. 3 S. 2). a) Die Feststellungen sind vereitelt, wenn sie in einem für die Aufklärung des Unfalls wesentlichen Punkt überhaupt nicht mehr oder erst nach geraumer Zeit getroffen werden können, z. B. wenn durch eine Fahrzeugreparatur die Anstoßstelle nicht mehr erkannt und für die technische Untersuchung ausgewertet werden kann, oder wenn durch einen Nachtrank die für die Art der Unfallbeteiligung wesentliche Alkoholbeeinflussung des Fahrers nicht mehr festgestellt werden kann (vgl. Dreher 50; Sturm JZ 1975, 406, 408). Weitere Beispiele: Beseitigung von Unfallspuren oder Vortäuschung von ursprünglich nicht vorhandenen Spuren auf der Fahrbahn oder im Gelände; - oder: Verleitung von
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Zeugen zu falschen Aussagen gegenüber der Polizei; - oder: Vorschieben eines anderen (nüchternen) durch den tatsächlichen (angetrunkenen) Fahrer (vgl. Janiszewski DAR 1975,169,175; Lackner 5 d, cc). - Für sich allein nicht ausreichend sind Schweigen sowie Leugnen einer schuldhaften Unfallbeteiligung. b) Absicht setzt zielgerichtetes Wollen voraus, d. h. es muß dem Unfallbeteiligten auf die Vereitelung der Feststellungen ankommen. Nicht ausreichend ist das sichere Wissen um den Vereitelungseffekt (h. A., vgl. Cramer in Schönke-Schröder 60). Andererseits reicht das Vorliegen dieser Absicht nicht aus, wenn der erstrebte Effekt nicht eingetreten ist (Dreher 50). 10. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz des Abs. 1 erfordert zunächst das Bewußtsein, möglicherweise an einem Unfall beteiligt gewesen zu sein. Bedingter Vorsatz genügt. Der Täter muß weiter das Bewußtsein haben, durch das Verlassen der Unfallstelle die Feststellungsinteressen der übrigen Unfallbeteiligten oder eines Geschädigten zu beeinträchtigen. Auch insoweit genügt bedingter Vorsatz; eine Vereitelungsabsicht ist nicht erforderlich. Der Vorsatz entfällt u. a., a) wenn der Täter den Unfall nicht bemerkt hat (eine in der Praxis häufige Einlassung, der man allerdings mit äußerster Skepsis begegnen sollte, da erfahrungsgemäß selbst leichtere Aufprallgeräusche durch die Fahrgeräusche eines Pkw und das zur Entlastung herangezogene Autoradio nicht überdeckt werden); b) wenn der Täter zwar den Unfall als solchen bemerkt hat, aber irrig annimmt, es sei kein Fremdschaden oder nur ein völlig belangloser Bagatellschaden entstanden (auch hier ist entsprechenden Schutzbehauptungen mit äußerster Vorsicht zu begegnen). Beruht der Irrtum auf Fahrlässigkeit, so liegt eine nach § 34 Abs. 1 Nr. 2 StVO i.-V. mit §§ 49 Abs. 1 Nr. 29 StVO, 24 StVG zu ahndende OWi vor; c) wenn der Täter infolge eines durch den Unfall erlittenen Schocks die Situation nicht richtig zu beurteilen vermag und kopflos flüchtet. Hierbei ist allerdings zu beachten, daß nicht jeder Schrecken einem echten, die Schuldfähigkeit oder den Vorsatz berührenden Schock gleichgestellt werden darf (siehe hierzu Köln NJW 1967, 1521; Hamm VRS 42 [1972], 24 sowie Spiegel DAR 1972, 291, 294). Insbesondere stellt die plötzlich aufkommende Furcht vor den strafrechtlichen Folgen des Unfalls keinen „Schock" in diesem Sinne dar. Schließlich ist zu beachten, daß nach Abklingen des Schocks die sich aus Abs. 2 und Abs. 3 ergebenden Pflichten beginnen; d) wenn der Täter irrig annimmt, die erforderlichen Feststellungen seien bereits getroffen oder die Feststellungsberechtigten hätten auf weitere Feststellungen verzichtet oder wollten nur noch Feststellungen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit getroffen haben (bei fahrlässigem Irrtum siehe § 34 Abs. 1 Nr. 6 StVO i. V. mit §§ 49 Abs. 1 Nr. 29 StVO, 24 StVG). e) Kein Tatbestandsirrtum, sondern ein den Vorsatz nicht berührender Verbotsirrtum liegt vor, wenn der Täter irrig annimmt, er erfülle seine Pflichten als Unfallbeteiligter schon dadurch, daß er die Feststellungsberechtigten auf das amtliche Kennzeichen seines Fahrzeugs verweist oder ihnen lediglich seine Visitenkarte hinterläßt. Auch der Irrtum über die Dauer der Wartepflicht ist nur ein Verbotsirrtum, desgleichen der Irrtum, ein Schaden von 50,- oder 100,- DM löse noch keine Wartepflicht aus, sowie der Irrtum, auch ein Kind oder ein Jugendlicher, dem die erforderliche Einsichtsfähigkeit offensichtlich fehlt, könne rechtswirksam auf Feststellungen an Ort und Stelle verzichten. 520
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11. Der Vorsatz des Abs. 2 muß sich zunächst - wie auch im Falle des Abs. 1 - auf die Unfallbeteiligung erstrecken. Weiterhin erforderlich ist das Bewußtsein, daß die in der Situation des Abs. 2 gebotenen Handlungen (Mitteilung an die Berechtigten oder die Polizei, Bereitstellung des Fahrzeugs) nicht vorgenommen werden. Nicht den Vorsatz, sondern lediglich das Unrechtsbewußtsein berührt dagegen der Irrtum, zu den in der Situation des Abs. 2 gebotenen Handlungen nicht verpflichtet zu sein, z. B. der Irrtum, es bestehe keine Pflicht zu unverzüglicher Mitteilung an die Polizei, wenn keine Möglichkeit besteht, die Feststellungsberechtigten innerhalb angemessener Zeit zu verständigen. Bei einem derartigen Irrtum handelt es sich nicht um einen Tb.-Irrtum i. S. von § 16, sondern um einen der Regelung des § 17 unterliegenden Gebotsirrtum (vgl. Stgt VM 1976 Nr. 121). Dieser Irrtum ist in der Regel vermeidbar, weil von jedem Verkehrsteilnehmer (auch von einem ausländischen) erwartet werden kann, daß er seine Pflichten im Verkehr kennt (Dreher 51). 12. Konkurrenzen: a) Abs. 1 und Abs. 2 schließen sich gegenseitig aus; ist eine Strafbarkeit nach Abs. 1 gegeben, so kommt Abs. 2 nicht mehr in Betracht. Die nach § 24 StVG i. V. mit § 49 Abs. 1 Nr. 29 zu ahndende OWi hat gemäß § 21 OWiG sowohl gegenüber Abs. 1 als auch gegenüber Abs. 2 nur subsidiäre Bedeutung. b) Abs. 1 kann in Tateinheit (§ 52) stehen mit allen Straftaten, die der flüchtige Unfallbeteiligte begeht, um sich den erforderlichen Feststellungen zu entziehen (BGH 22, 67, 76 sowie Urt. v. 7. 11. 1974 - 4 StR 482/74). In Betracht kommen insbesondere die §§ 113 (Stgt Justiz 1975, 153), 211 ff. (BGH 7, 288), 223 ff. (BGH VRS 13, 136), 221, 240, 316 und 330 c. Tatmehrheit (§ 53) ist möglich mit der die Unfallflucht auslösenden Tat, die sich als fahrlässige Tötung (§ 222), als fahrlässige Körperverletzung (§ 230), als Straßenverkehrsgefährdung (§ 315 c) oder auch nur als eine nach § 24 StVG zu ahndende OWi darstellen kann (BGH 24, 185). Unfall und Unfallflucht werden auch dann nicht zu einer Tateinheit i. S. von § 52 zusammengefaßt, wenn beide Delikte in angetrunkenem Zustand oder ohne Fahrerlaubnis begangen wurden. Hierbei macht es nach BGH 21, 203 keinen Unterschied, ob der Täter nach dem Unfall anhält und aussteigt, um sich die Folgen zu betrachten, oder ob er, durch den Unfallablauf nicht zum Halten gezwungen, die Unfallfolgen im Fahren erkennt und in sein Bewußtsein aufnimmt. Entscheidend ist allein seine innere Willensrichtung, die in allen Fällen dadurch gekennzeichnet ist, daß der Täter sich trotz des Unfalls und den erkannten Folgen entschließt, die Fahrt fortzusetzen. Dieser Entschluß ist ein neuer, selbständiger Entschluß (ebenso schon früher Stgt NJW 1964, 1913 und Krüger NJW 1966,489). Dem steht nicht entgegen, daß zwischen dem alkoholbedingten Unfall einerseits und der nachfolgenden Unfallflucht andererseits prozessual Tatidentität i. S. von § 264 StPO besteht (vgl. BGH 23,141, 270; Saarbrücken NJW 1974, 375) und in der HV keine Nachtragsanklage erforderlich ist, sondern ein Hinweis nach § 265 StPO genügt, wenn in der Anklage zunächst nur der Vorwurf der Straßenverkehrsgefährdung erhoben worden war (Saarbrücken aaO.). Die Tatidentität erstreckt sich dann allerdings nicht mehr auf eine nach Beendigung der Unfallflucht während der weiteren Trunkenheitsfahrt begangene neue fahrlässige Straßenverkehrsgefährdung (BGH aaO.). c) Abs. 2 kann in Tateinheit stehen mit §§ 263, 267 und 274, bei Teilnahme eines am Unfall Unbeteiligten auch mit § 258. 521
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13. Aus der prozessualen Tatidentität von Unfall und Unfallflucht (s. o. Anm. 12 b) wurde verschiedentlich der Schluß gezogen, daß eine Rechtsmittelbeschränkung auf die Verurteilung gemäß § 142 unzulässig sei (vgl. Köln NJW 1971, 156; Hamm NJW 1971, 770). Dieser Schluß ist jedoch nicht zwingend, da sich der Unfall und das unerlaubte Entfernen von der Unfallstelle ungeachtet der prozessualen Tatidentität materiellrechtlich als selbständige Handlungen i. S. von § 53 darstellen (vgl. BGH 21, 203) und sich der Verstoß gegen § 142 unabhängig davon beurteilen läßt, ob der Unfall schuldhaft verursacht wurde oder nicht. Eine Rechtsmittelbeschränkung ist daher grundsätzlich zulässig (BGH 24, 185). Eine einheitliche Beurteilung ist nur in den Fällen geboten, in denen der Angeklagte den Unfall in fahruntüchtigem Zustand verschuldet hat und auch der anschließende Verstoß gegen § 142 in Tateinheit mit Trunkenheit am Steuer steht (BGH 25, 72). Ergibt nämlich die emeute Verhandlung, daß ein Verstoß gegen § 142 nicht vorliegt (z. B. aus subjektiven Gründen), so wäre die Weiterfahrt nach dem Unfall gegenüber dem Unfallgeschehen keine rechtlich selbständige Handlung mehr und könnte deshalb im Falle einer wirksam vorgenommenen Rechtsmittelbeschränkung überhaupt nicht mehr berücksichtigt werden. Dies würde vor allem dann zu einer unbilligen Privilegierung des Angeklagten führen, wenn dieser nach dem Unfall noch eine größere Strecke in fahruntüchtigem Zustand zurückgelegt hat (vgl. BGH aaO.).
§ 143
[aufgehoben durch das 4. StrRG]
§ 144
Auswanderungsbetrug
Wer es sich zum Geschäft macht, Deutsche unter Vorspiegelung falscher Tatsachen oder wissentlich mit unbegründeten Angaben oder durch andere auf Täuschung berechnete Mittel zur Auswanderung zu verleiten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Auswandern ist das Verlassen des Bundesgebiets (nebst Westberlin) in der Absicht, den Wohnsitz im Inland nicht nur vorübergehend aufzugeben. Geschützt sind nur Deutsche, nicht auch Staatenlose oder Ausländer im Inland. 2. Verleiten setzt voraus, daß der Täter sein Opfer durch Täuschung zur Auswanderung bestimmt, z. B. indem er ihm Verdienstmöglichkeiten vorspiegelt, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind. Wer zur Auswanderung ohnehin schon fest entschlossen ist, kann nicht mehr verleitet werden. 3. Geschäftsmäßig handelt, wer beabsichtigt, die Tat zu wiederholen und sie zu einem wiederkehrenden Bestandteil seiner Beschäftigung zu machen. Sind subjektiv diese Voraussetzungen gegeben, so genügt objektiv bereits eine einzige Handlung, um den Tatbestand zu erfüllen. 4. Siehe ergänzend § 6 des AuswanderungsschutzG v. 26. 3. 1975 (BGBl. I 774), durch das das AuswanderungsG vom 9. 8. 1897 (RGBl. 463) mit seinen Begleitvorschriften aufgehoben wurde. Tateinheit ist möglich mit §§ 180 a Abs. 3,181 Nr. 2. 522
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung § 145
§ 145
Mißbrauch von Notrufen und Beeinträchtigung von Unfallverhütungsund Nothilfemitteln
(1) Wer absichtlich oder wissentlich 1. Notrufe oder Notzeichen mißbraucht oder 2. vortäuscht, daß wegen eines Unglücksfalles oder wegen gemeiner Gefahr oder Not die Hilfe anderer erforderlich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Wer absichtlich oder wissentlich 1. die zur Verhütung von Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr dienenden Warn- oder Verbotszeichen beseitigt, unkenntlich macht oder in ihrem Sinn entstellt oder 2. die zur Verhütung von Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr dienenden Schutzvorrichtungen oder die.zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr bestimmten Rettungsgeräte oder anderen Sachen beseitigt, verändert oder unbrauchbar macht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in den §§ 3 0 3 oder 3 0 4 mit Strafe bedroht ist. I. Die durch das EGStGB neu eingeführte Vorschrift wurde erforderlich, weil mit dem Inkrafttreten des EGStGB der früher in § 360 Abs. 1 Nr. 11 enthaltene Übertretungstatbestand des groben Unfugs, unter den der Mißbrauch von Notrufen bis dahin subsumiert werden konnte (vgl. BGH 13,241), in Wegfall gekommen ist. Schrifttum: Händel, Mißbrauch von Notrufen und Beeinträchtigung von Unfallverhütungseinrichtungen, DAR 1975, 57. D. Anliegen des Abs. 1 ist es sicherzustellen, daß vor allem in Fällen, in denen eine Pflicht zur Hilfeleistung besteht, Notrufe oder Notzeichen nicht mißbraucht werden und fremde Hilfe nur in echten Notfällen in Anspruch genommen wird. Die Vorschrift ist damit ein notwendiges Gegenstück zu § 330 c (vgl. Begr. zu § 300 E 1962). 1. Notrufe und Notzeichen i. S. der Nr. 1 sind technische Anlagen und Einrichtungen, mit deren Hilfe auf eine Not, eine Gefahr oder auf ein sonstiges Bedürfnis nach fremder Hilfe aufmerksam gemacht werden kann. In Betracht kommen insbesondere Notrufanlagen der Polizei und der Autobahnmeisterei, Feuermelder sowie die in der Schiffahrt und der Luftfahrt gebräuchlichen Notzeichen, aber auch Notbremsanlagen im Bahnverkehr. Nicht hierher gehören unbegründete Hilferufe (die jedoch unter Nr. 2 fallen können). Nicht ausreichend ist auch die zweckwidrige Benutzung des polizeilichen Fernsprechanschlusses 110, der zwar allgemein als „Notruf" bezeichnet wird, dessen Benutzung jedoch nicht schon für sich allein als ein Signal gewertet werden kann, das ohne weitere Erläuterungen des Anrufers auf eine Notlage schließen läßt (Braunschweig NJW 1977, 209). Hier kommt jedoch, falls nicht die Voraussetzungen der Nr. 2 vorliegen, mindestens eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 118 OWiG in Betracht. - Ein Mißbrauch liegt vor, wenn die Notrufe und Notzeichen gebraucht werden, obwohl die nach Gesetz, behördlicher Anordnung, Vereinbarung oder allgemeiner Übung für ihre Benutzung festgelegten Voraussetzungen fehlen, d. h. wenn weder eine Not oder Gefahr besteht noch sonst ein Bedürfnis 523
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nach fremder Hilfe ersichtlich ist. Unerheblich ist, ob der Täter mit der Gefahrenmeldung zugleich eine Gefahr oder Notlage vortäuscht. Strafbar ist bereits der Mißbrauch der Anlage als solcher. 2. Im Falle der Nr. 2 genügt es nicht, daß ein Unglücksfall (§ 330 c Anm. 2 a), eine gemeine Gefahr oder Not (§ 330 c Anm. 2 b) vorgetäuscht wird. Der Täter muß vielmehr weiter vortäuschen, daß aus dem angeblichen Anlaß Hilfe erforderlich ist (siehe hierzu § 330 c Anm. 3). Unerheblich ist, ob sich der Täter für seinen fingierten Hilferuf einer der in Nr. 1 geschützten Anlagen und Einrichtungen bedient oder ob er z. B. grundlos auf der Straße in ernst zu nehmender Weise laut um Hilfe ruft. Weitere Beispiele: A täuscht auf freier Strecke einen Verkehrsunfall vor, um in Erfahrung zu bringen, wie lange es dauert, bis sich jemand um ihn kümmert. - Oder: A hat zwar einen Unfall erlitten, benötigt aber nicht den von ihm gerufenen Rettungswagen, sondern ruft diesen nur, weil er den Fußmarsch in die nächste Stadt scheut. 3. Zum subj. Tb. (absichtlich oder wissentlich) siehe § 15 Anm. 1.
III. Abs. 2, der erst in der Endphase der parlamentarischen Beratungen auf Vorschlag des Bundesrats in die Vorschrift aufgenommen wurde, bringt eine Ergänzung des in Abs. 1 Nr. 1 unter Strafe gestellten Mißbrauchs von Notrufen und Notzeichen. Da der Eintritt einer konkreten Gefahr zur Tatbestandsverwirklichung nicht erforderlich ist, handelt es sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt. 1. Über Unglücksfall und gemeine Gefahr siehe § 330 c Anm. 2 a, b. 2. Zu den in Nr. 1 geschützten Warn- und Verbotszeichen gehören insbesondere Verkehrszeichen zur Erhaltung der Sicherheit des Straßenverkehrs sowie des Bahn-, Schiffsund Luftverkehrs, außerdem Warntafeln, die auf gefährliche Abgründe, Grenzen, Badestellen oder Baustellen oder auf eine besondere Brandgefahr hinweisen. Zu den in Nr. 2 geschützten Schutzvorrichtungen gehören z. B. zur Sicherung von Baustellen, Steinbrüchen, Truppenübungsplätzen oder Unfallstellen angebrachte Schutzgeländer, Abschrankungen usw. Zu den Rettungsgeräten und „anderen Sachen" gehören z. B. Rettungsboote, Schwimmwesten und Schwimmringe, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob diese an Bord eines Schiffes oder an Land aufbewahrt werden, außerdem alle Fahrzeuge und Gerätschaften, die zur Bekämpfung eines Brandes bereitgehalten werden, ferner die nach § 35 h StVZO vorgeschriebenen Verbandskästen sowie die nach § 35 g StVZO vorgeschriebenen Feuerlöschgeräte (vgl. Händel aaO.). Bei allen geschützten Tatobjekten ist es unerheblich, ob sie von einer staatlichen oder kommunalen Institution oder von privater Seite bereitgestellt worden sind. 3. Täter kann auch der Eigentümer der geschützten Vorrichtung sein, sofern er zu deren Bereitstellung oder Anbringung verpflichtet ist (z. B. ein Bauherr oder Bauunternehmer, der die auf Weisung des Bauaufsichtsamts angebrachten Warntafeln und Absperrungen vorzeitig entfernt). 4. Die Tathandlung des Abs. 2 besteht im Beseitigen (Nr. 1 und Nr. 2), Unkenntlichmachen und Sinnentstellen (nur Nr. 1) bzw. Verändern und Unbrauchbarmachen (nur
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§ 145a
Nr. 2). Mit Ausnahme des Merkmals Beseitigen handelt es sich um besondere Erscheinungsformen des Beschädigens, so daß die Subsidiaritätsklausel zu beachten ist. 5. Der subj. Tb. entspricht dem des Abs. 1 (s. o. II 3). Nicht erforderlich ist, daß sich die Absicht bzw. der Vorsatz auch auf den Eintritt eines Unglücksfalls bzw. einer gemeinen Gefahr erstreckt (abstraktes Gefährdungsdelikt). Es genügt, daß der Täter den Zweck der geschützten Einrichtung kennt. 6. Das Beseitigen einer in Abs. 2 geschützten Sache kann in IdK. mit §§ 222, 230, 242, 246, 315, 315 b stehen; mit § 303 ist IdK. nur möglich, wenn gleichzeitig eine andere Sache (z. B. der Sockel, auf dem eine Warnvorrichtung befestigt war, beschädigt wird). Bei den übrigen Tatbestandsalternativen, bei denen es sich um besondere Erscheinungsformen des Beschädigens handelt (s. o. III 4), wirkt sich die Subsidiaritätsklausel gegenüber §§ 303, 304 aus, durch die der Anwendungsbereich der Vorschrift erheblich eingeschränkt wird (eine verfehlte, vom Gesetzgeber jedoch ausdrücklich gewollte Folge, vgl. Ber. des Sonderausschusses, S. 12 BT-Drucks. 7/1261). Da die Vorschrift dem Schutz der Öffentlichkeit dient, ist die Subsidiaritätsklausel in den mit § 303 konkurrierenden Fällen dahin auszulegen, daß § 145 Abs. 2 immer dann zur Anwendung kommt, wenn eine Bestrafung nach § 303 nicht möglich ist, z. B. wenn der Eigentümer selbst die Tat begeht (s. o. III 3) oder gegen den Täter keinen Strafantrag stellt (a. A. Lackner 6 b unter Bezugnahme auf den Gesetzeswortlaut „mit Strafe bedroht"; übereinstimmend jedoch Dreher 8; Stree in Schönke-Schröder 22).
§ 145 a
Verstoß gegen Weisungen während der Fiihrungsaufsicht
Wer während der Fiihrungsaufsicht gegen eine bestimmte Weisung der in § 68 b Abs. 1 bezeichneten Art verstößt und dadurch den Zweck der Maßregel gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Die Tat wird nur auf Antrag der Aufsichtsstelle (§ 68 a) verfolgt. 1. Die durch das EGStGB neu eingeführte Vorschrift verfolgt das Anliegen, den vom Gericht gemäß § 68 b Abs. 1 für die Dauer der Führungsaufsicht (oder auch für eine kürzere Zeit) erteilten Weisungen durch eine entsprechende Strafdrohung den erforderlichen Nachdruck zu verleihen. Dies ist insbesondere in den Fällen von Bedeutung, in denen der Verurteilte nicht oder nicht mehr unter Bewährung steht, ihm also nicht der Widerruf der Aussetzung des Strafrests oder der Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Maßregel droht. Steht der Verurteilte unter Bewährung, so tritt die Strafdrohung des § 145 a flankierend neben die Möglichkeit, die Aussetzung des Strafrests oder einer freiheitsentziehenden Maßregel zu widerrufen (siehe hierzu §§ 56 f., 67 g). 2. Unerheblich ist, ob die Führungsaufsicht auf einer Entscheidung gemäß § 68 Abs. 1 beruht (flankierende Maßregel neben einer Freiheitsstrafe bei Rückfalltätern bzw. neben einer längeren Freiheitsstrafe wegen bestimmter Straftaten, z. B. §§ 228, 245, 256, 262), ob sie im Zusammenhang mit einer Entscheidung gemäß §§ 67 b, 67 c bzw. § 67 d steht (Aussetzung der Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Maßregel) oder ob ein Fall 525
§ 145 c
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
des § 68 f vorliegt (Führungsaufsicht bei Nichtaussetzung des Strafrests bei Freiheitsstrafen von mindestens zwei Jahren wegen Begehung einer Vorsatztat). 3. Geschützt sind nur die in § 68 b Abs. 1 erteilten Weisungen, die tatbestandsmäßig hinreichend genau umrissen sind und deshalb Grundlage einer Strafdrohung sein können. Durch eine Strafdrohung nicht abgesichert sind dagegen die aufgrund der allgemeinen Ermächtigung des Abs. 2 erteilten weiteren Weisungen. 4. Tatbestandsmäßig sind nur solche Verstöße gegen Weisungen, durch die der Zweck der Maßregel gefährdet wird. Hierzu bedarf es in der Regel eines groben oder beharrlichen Verstoßes (siehe hierzu § 56 f). Verstöße, die der Verurteilte nur aus Nachlässigkeit oder menschlicher Schwäche begeht, gefährden den Zweck der Maßregel dagegen nur ausnahmsweise. 5. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz (vgl. § 15), wobei bedingter Vorsatz genügt. 6. Die Strafverfolgung tritt gemäß S. 2 nur auf Antrag der Aufsichtsstelle ein, die vor der Antragstellung den Bewährungshelfer zu hören hat (vgl. § 68 a Abs. 6). 7. IdK. ist möglich mit den Tatbeständen, in deren Verwirklichung der Verstoß gegen die Weisungen zu sehen ist. Prozessual ist in diesen Fällen allerdings § 154 a StPO zu beachten.
§ 145 b
[aufgehoben]
§ 145 c
Verstoß gegen das Berufsverbot
Wer einen Beruf, einen Berufszweig, ein Gewerbe oder einen Gewerbezweig für sich oder einen anderen ausübt oder durch einen anderen für sich ausüben läßt, obwohl dies ihm oder dem anderen strafgerichtlich untersagt ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift verfolgt das Anliegen, einem gerichtlich angeordneten Berufsverbot durch eine entsprechende Strafdrohung Nachdruck zu verleihen. Der Täterkreis ist durch die Neufassung erheblich erweitert worden. 2. Strafgerichtlich untersagt ist die Berufsausübung sowohl dann, wenn eine rechtskräftige Entscheidung gemäß § 70 vorliegt, als auch im Falle des § 132 a StPO (vorläufiges Berufsverbot). 3. Abweichend von der früheren Rechtslage kann Täter nicht nur sein, wer für sich selbst einen Beruf usw. ausübt oder durch eine andere, von seinen Weisungen abhängige Person (Begr. zu § 420 E 1962) für sich ausüben läßt, obwohl gegen ihn selbst ein Berufsverbot besteht; tatbestandsmäßig handelt jetzt auch, wer für einen Verurteilten, der unter Berufsverbot steht, auf dem betreffenden Gebiet, auf das sich das Berufsverbot bezieht, 526
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 145 d
Tätigkeiten ausübt, oder wer den Verurteilten für sich solche Tätigkeiten ausüben läßt. „Für" einen anderen wird tätig, wer nach seinen Weisungen tätig wird, z. B. als Angestellter oder sog. Strohmann. 4. Als Tathandlung genügt ein einmaliges Ausüben bzw. Ausübenlassen des Berufs. Eine Wiederholungsabsicht ist nicht erforderlich (vgl. Ddf NJW 1966,410; Lackner 1; Stree in Schönke-Schröder 4). 5. Für Teilnehmer, die selbst keinem Berufsverbot unterliegen und auch nicht als Strohmänner oder Angestellte für eine unter Berufsverbot stehende Person tätig werden, sondern für die nach allgemeinen Teilnahmegrundsätzen nur Anstiftung oder Beihilfe in Betracht kommt, ist § 28 Abs. 1 zu beachten (Dreher 3; a. A. Stree in Schönke-Schröder 6). Nicht strafbar ist jedoch, wer mit dem Täter lediglich ein Geschäft abschließt, z. B. wer einem Handelsvertreter, von dem er weiß, daß er Berufsverbot hat, aus Mitleid Ware liefert oder abkauft (sog. notwendige Teilnahme, vgl. 5 vor § 25 sowie Lackner 2; LangHinrichsen LK 3). 6. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz (vgl. § 15), wobei bedingter Vorsatz genügt. 7. IdK. ist möglich mit § 136, mit § 263 (vgl. BGH bei Dallinger MDR 1973, 370; h. L.) sowie mit Verstößen gegen Entscheidungen der berufsgerichtlichen Gremien, durch die einem Arzt, Zahnarzt usw. die Ausübung seines Berufs untersagt worden ist (vgl. z. B. §§ 13 BÄO, § 18 des Ges. über d. Ausübung der Zahnheilkunde vom 31. 3. 1952). Ergänzend zu beachten sind gewerberechtliche Ordnungswidrigkeiten bei Verstößen gegen Verbote, die von Verwaltungsbehörden aufgrund des Gewerberechts erlassen worden sind (vgl. z. B. § 35,146 Abs. 1 Nr. 6 GewO).
§ 145 d
Vortäuschen einer Straftat
(1) Wer wider besseres Wissen einer Behörde oder einer zur Entgegennahme von Anzeigen zuständigen Stelle vortäuscht, 1. daß eine rechtswidrige Tat begangen worden sei oder 2. daß die Verwirklichung einer der in § 1 2 6 Abs. 1 genannten rechtswidrigen Taten bevorstehe, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in den §§ 1 6 4 , 2 5 8 oder 2 5 8 a mit Strafe bedroht ist. (2) Ebenso wird bestraft, wer wider besseres Wissen eine der in Absatz 1 bezeichneten Stellen über den Beteiligten 1. an einer rechtswidrigen Tat oder 2. an einer bevorstehenden, in § 126 Abs. 1 genannten rechtswidrigen Tat zu täuschen sucht. 1. Die zuletzt durch das 14. StrRÄndG v. 22. 4. 1976 (BGBl. 1 1056) unter Anhebung der Strafobergrenze auf drei Jahre Freiheitsstrafe neu gefaßte Vorschrift verfolgt mit ihren verschiedenen Alternativtatbeständen unterschiedliche Schutzzwecke. Geschütztes 527
§ 145 d
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
Rechtsgut in Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 ist die staatliche Rechtspflege (BGH 6, 251, 255; 19, 305; h. L.). Die genannten Vorschriften wollen verhindern, daß der Strafverfolgungsapparat, insbesondere die Polizei, sinnlos in Anspruch genommen (Abs. 1 Nr. 1) oder in falsche Richtung gelenkt wird (Abs. 2 Nr. 1). Die durch das 14. StrRÄndG neu eingefügten Tatbestände in Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 2 schützen demgegenüber die Polizei in ihrer Funktion als Präventiv- und Sicherheitsorgan. Die genannten Vorschriften wollen sicherstellen, daß die Polizei und die ihr gleichgestellten Sicherheitsorgane (z. B. Bundesgrenzschutz) nicht durch unnütze Präventiveinsätze daran gehindert wird, ihren eigentlichen Aufgaben nachzukommen (RegE S. 9 BT-Drucks. 7/3030; h. L.). Über Gesetzesmaterialien und Schrifttum zum 14. StrRÄndG siehe § 88 a Anm. 1. 2. Uber Behörde siehe § 11 Abs. 1 Nr. 7. - Zur Entgegennahme von Anzeigen zuständig sind die Staatsanwaltschaft, die Behörden und Beamten des Polizeidienstes sowie die Amtsgerichte (vgl. § 158 StPO). 3. Abs. 1 Nr. 1 erfaßt die Vortäuschung einer angeblich begangenen rechtswidrigen Tat. a) Uber rechtswidrige Tat siehe § 11 Abs. 1 Nr. 5. Hierher gehören auch Teilnahme und Versuch. Entscheidend ist allein, daß Tatumstände vorgebracht werden, bei deren Vorliegen eine mit Strafe bedrohte, nicht von einem Rechtfertigungsgrund gedeckte Handlung gegeben wäre. Nicht ausreichend ist deshalb die Vortäuschung einer Notwehrtat (h. L., vgl. Rudolphi SK 6 m. Nachw.; a. A. Oldenburg NJW 1952, 1225), wobei allerdings zu beachten ist, daß in der Regel die angebliche Tat des Angreifers, gegen die sich die Notwehrhandlung gerichtet haben soll, eine rechtswidrige Tat darstellt und die Strafverfolgungsbehörden zur Aufnahme von Ermittlungen veranlassen wird. Beispiel: A rühmt sich der Polizei gegenüber zwecks Erklärung seiner bei einem Einbruch erlittenen Verletzungen, er sei von einem Unbekannten überfallen worden, habe diesen dann aber in Notwehr niedergeschlagen und dabei schwer verletzt. - Nicht hierher gehören weiter aa) die Ankündigung künftiger Straftaten (siehe jedoch Abs. 1 Nr. 2); bb) die Vortäuschung eines Selbstmords, um eine tatsächlich begangene Straftat, z. B. eine fahrlässige Tötung oder eine Körperverletzung mit Todesfolge, zu verdecken. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß der Selbstmord keine Straftat darstellt und daher auch keine weiteren polizeilichen Ermittlungen mit dem Ziel einer Strafverfolgung auslöst. Der Täter will hier gerade verhindern, daß polizeiliche Ermittlungen eingeleitet werden; cc) eine Sachdarstellung, die absolut ungeeignet ist, ein Einschreiten der Strafverfolgungsbehörden nach sich zu ziehen, z. B. wenn jemand anzeigt, er habe vor 15 Jahren, also in längst verjährter Zeit, eine Sachbeschädigung oder einen Diebstahl begangen (siehe auch § 164 Anm. 5 sowie Maurach BT 704 f.); dd) bloße Übertreibungen (z. B. Verdoppelung des Gestohlenen oder Aufbauschung des Schadens beim Betrug) oder die Vortäuschung einer qualifizierten Form einer tatsächlich begangenen Straftat (Hamm NJW 1971, 1324). Der Tb. des § 145 d ist in solchen Fällen nur dann erfüllt, wenn durch Weglassen oder Hinzudichten von Tatumständen die tatsächlich begangene Tat in ihrem Charakter völlig verändert wird, z. B. wenn eine Körperverletzung als schwerer Raub dargestellt wird (vgl. Hamm aaO.); ee) die Vortäuschung einer Ordnungswidrigkeit (Ffm NJW 1975, 1896). 528
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 145 d
b) Vorgetäuscht ist eine Tat, wenn der Anschein ihrer Begehung erregt wird. Unerheblich ist, ob der Täter diesen Anschein durch eine ausdrückliche schriftliche oder mündliche Erklärung oder nur durch schlüssiges Verhalten erregt, z. B. durch Einwerfen von Scheiben und Durchwühlen der Schreibtische, um durch Vortäuschung eines Einbruchs eigene Unterschlagungen zu verdecken (vgl. Willms LK 7; zu eng dagegen BGH 6, 251, 255, wonach im letztgenannten Fall nur Abs. 2 Nr. 1 erfüllt sein soll, wenn dem Plan des Täters entsprechend durch nicht eingeweihte Dritte wegen des angeblichen Diebstahls bei der Polizei Anzeige gegen Unbekannt erstattet wird). c) Vollendet ist die Tat, wenn eine Behörde usw. (s. o. 2) dienstlich mit der angeblich begangenen rechtswidrigen Tat befaßt wird. Nicht erforderlich ist, daß die Täuschung gelingt. Es genügt, daß die Sachdarstellung bei Unterstellung ihrer Richtigkeit geeignet gewesen wäre, Ermittlungen auszulösen. Wird die falsche Sachdarstellung so rechtzeitig berichtigt, daß es zu keiner Ermittlungstätigkeit kommt, kann in analoger Anwendung von § 158 die Strafe gemildert oder von Strafe abgesehen werden (vgl. Stree in SchönkeSchröder 19; Willms LK 17; a. A. Rudolphi SK 18). 4. Abs. 2 Nr. 1 stellt die Täuschung über die Person eines Tatbeteiligten unter Strafe. Während Abs. 1 Nr. 1 jede grundlose Inanspruchnahme der Strafverfolgungsbehörden verhindern will, geht es in Abs. 2 Nr. 1 darum zu verhindern, daß die Ermittlungen in falsche Richtung gelenkt werden. Beispiel: A behauptet bewußt der Wahrheit zuwider, nicht X, sondern eine nach bestimmten, erfundenen Merkmalen beschriebene unbekannte Person komme für einen bestimmten Diebstahl in Betracht. Auch die falsche Selbstbezichtigung gehört hierher, ferner die Anzeige gegen Unbekannt, wenn der Täter tatsächlich bekannt ist. Nicht hierher gehört der Fall, daß jemand lediglich den Verdacht von dem eigentlichen Täter ablenkt, ohne positiv auf andere Fährten hinzuweisen, z. B. durch die bewußt wahrheitswidrige Angabe, von nichts zu wissen oder den Täter nicht zu kennen, oder durch Verschaffen eines falschen Alibis. Hier kommen jedoch die Tatbestände der §§ 257, 258 in Betracht. Auch der Täter der Straftat selbst kann sich nach Abs. 2 Nr. 1 strafbar machen, wenn er die Polizei auf falsche Spuren setzt, z. B. wenn er selbst zur Polizei geht und dort Anzeige gegen Unbekannt erstattet (vgl. BGH 6, 255). Nicht ausreichend ist jedoch, wenn der Täter lediglich die ihm zur Last gelegte Tat bestreitet. In diesem Fall macht er nur von einem prozessualen Recht Gebrauch. Auch die Berufung auf den berühmten „Unbekannten" ist nicht tatbestandsmäßig (vgl. Maurach BT 705 f.). Nicht hierher gehört schließlich der Fall, daß der Täter einer Straftat den Sachverhalt wahrheitswidrig so darstellt, daß der Verdacht auf eine andere Person fällt, für die sich derselbe Sachverhalt aber nicht als strafbare Handlung darstellt (BGH 19, 305; Ffm NJW 1975, 1895). Beispiel: Nach einem unverschuldet erlittenen Verkehrsunfall behauptet A, der keine Fahrerlaubnis besitzt, nicht er, sondern sein Beifahrer B, der im Besitz einer Fahrerlaubnis ist, habe den Wagen geführt. 5. Abs. 1 Nr. 2 (neu eingefügt durch das 14. StrRÄndG) erfaßt die Vortäuschung einer angeblich bevorstehenden rechtswidrigen Tat. a) Abweichend von der in Abs. 1 Nr. 1 getroffenen Regelung erfaßt die Strafdrohung der Nr. 2 nicht die Ankündigung aller Straftaten, sondern nur der in § 126 Abs. 1 unter Strafe gestellten Gewalttaten. Diese Beschränkung beruht auf der Erwägung, daß die Ankündi529
§145d
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gung geringfügiger Delikte ohne praktische Bedeutung ist und - falls dies doch vorkommen sollte - die Polizei zu keinen umfangreichen Präventivmaßnahmen veranlassen würde; aber auch schwerere Delikte, die keine Gewalttaten i. S. von § 126 Abs. 1 sind, spielen in dem hier in Frage kommenden Bereich der „falschen Warnung" nach den bisherigen Erfahrungen kaum eine Rolle (vgl. RegE S. 9 BT-Drucks. 7/3030; Laufhütte MDR 1976,441,444). b) Über rechtswidrige Tat s. o. 3 a, über Vortäuschen s. o. 3 b, zur Frage der Tatvollendung s. o. 3 c. c) Über die Frage, wann die Verwirklichung der Gewalttat bevorsteht, siehe § 126 Anm. 5 b. Wie bei § 126 Abs. 2 und bei § 241 Abs. 2 kann auf eine gewisse zeitliche Nähe der angekündigten Tat nicht verzichtet werden, d. h. die angekündigte Tat steht nur dann bevor, wenn ihre Verwirklichung sofort, alsbald oder jedenfalls in naher Zukunft zu befürchten ist (Sturm JZ 1976, 1177, 1182). Tatbestandsmäßig ist deshalb auch der Fall, daß eine tatsächlich geplante, aber noch in weiter Zukunft liegende Tat wider besseres Wissen als unmittelbar bevorstehend angekündigt wird (Sturm aaO.). d) Überschneidungen mit Abs. 1 Nr. 1 ergeben sich, wenn sich die angeblich bevorstehende Tat nach der Darstellung des Täters bereits im Stadium des strafbaren Versuchs oder der strafbaren Vorbereitung befindet. In diesem Fall sind beide Tatbestände verwirklicht (RegE S. 9 BT-Drucks. 7/3030; Laufhütte MDR 1976, 441, 444; Sturm JZ 1976,1177,1182). 6. Der ebenfalls durch das 14. StrRÄndG neu eingefügte Abs. 2 Nr. 2 erfaßt den Fall, daß die Verwirklichung einer der in § 126 Abs. 1 aufgeführten Gewalttaten tatsächlich bevorsteht, der Täter aber über die Person eines Tatbeteiligten zu täuschen versucht. Die Vorschrift will verhindern, daß die Präventivorgane bei den Bemühungen, eine bevorstehende Tat (s. o. 5 c) zu verhindern, auf falsche Fährten gelenkt werden. Auf die Ausführungen zu Abs. 2 Nr. 1 (s. o. 4) kann im übrigen verwiesen werden. 7. Der subj. Tb. erfordert hinsichtlich der Täuschungshandlung für alle Alternativtatbestände unbedingten Vorsatz („wider besseres Wissen"). Hinsichtlich des Umstands, daß die falschen Angaben einer Behörde usw. zur Kenntnis gebracht werden, genügt dagegen bedingter Vorsatz (vgl. Köln NJW 1953,1843; Braunschweig NJW 1955,1935; h. L., vgl. Rudolphi SK 17). Das Tatmotiv ist unerheblich. Strafbar ist deshalb auch, wer sich z. B. der Teilnahme an einem Landfriedensbruch bezichtigt, um für einen zur gleichen Zeit von ihm an anderer Stelle begangenen Mord ein Alibi zu haben. 8. Konkurrenzen: a) Aufgrund der speziellen Subsidiaritätsklausel, die sich auf alle vier Altemativtatbestände auswirkt, tritt § 145 d gegenüber den §§ 164, 258, 258 a zurück. Trotz der Formulierung „mit Strafe bedroht" verliert die Subsidiaritätsklausel ihre Bedeutung jedoch dann, wenn eine Bestrafung gemäß § 258, 258 a lediglich deshalb entfällt, weil der Täter die Strafvereitelung zu seinen eigenen Gunsten oder zu Gunsten eines Angehörigen begangen hat (vgl. Rudolphi SK 18). Die auftretende Problematik ist die gleiche wie bei der Subsidiaritätsklausel des § 145 (siehe dort Anm. III 6). b) Tateinheit ist möglich zwischen den einzelnen Alternativtatbeständen, wenn diese sich im Einzelfall überschneiden, z. B. wenn die angeblich bevorstehende Tat sich nach der 530
Siebenter Abschnitt: Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
§ 145 d
Darstellung des Täters bereits im Stadium des strafbaren Versuchs befinden soll (s. o. Anm. 5 d). Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 können außerdem in Tateinheit stehen mit §§ 142 (z. B. wenn sich jemand unter Hinterlassung eines fremden Ausweispapiers unerlaubt von der Unfallstelle entfernt), 153 ff., 257, 263, 267 f., 274 Nr.l; bei Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 2 kommt Tateinheit vor allem in Betracht mit Tatbeteiligung an einer der in § 126 Abs. 1 genannten Taten, wenn der Täter durch seinen Fehlalarm die Polizei vom richtigen Tatort ablenkt, um dadurch eine entsprechende Tat an anderer Stelle zu ermöglichen (vgl. Rudolphi SK 29, 33), außerdem mit §§126 Abs. 2 und 241 Abs. 2).
531
Achter Abschnitt: Geld- und Wertzeichenfälschung (§§ 1 4 6 - 1 5 2 ) Vorbemerkungen 1. Der 8. Abschnitt des StGB, der früher die ungenaue Überschrift „Münzverbrechen und Münzvergehen" trug, ist durch das EGStGB grundlegend umgestaltet worden. Anlaß zu dieser Reform war die in § 148 erfolgte Einbeziehung des Tatbestands der Wertzeichenfälschung, durch die vor allem das Nebenstrafrecht entlastet werden sollte. Aus dem Bestreben, die Tathandlungen der Geldfälschung und der Wertzeichenfälschung aufeinander abzustimmen, ergab sich zunächst die Notwendigkeit, die früheren §§146 und 147 neu zu fassen. Im Interesse eines umfassenden Schutzes der amtlichen Wertzeichen, deren Bedeutung mit zunehmender Rationalisierung der öffentlichen Verwaltung wächst, war es weiter folgerichtig, die früher in § 151 enthaltene Vorschrift über die Vorbereitung der Fälschung in § 149 der Neufassung auch auf die Wertzeichen auszudehnen. Der frühere § 148 (Abschieben von Falschgeld nach erkannter Unechtheit) wurde durch die Neufassung des § 147 entbehrlich. Der frühere § 150, in dem das sog. Kippen und Wippen von Münzen unter Strafe gestellt war, wurde als nicht mehr zeitgemäß gestrichen (vgl RegE S. 226 BT-Drucks. 7/550). Aus den Gesetzesmaterialien siehe insbesondere den RegE zum EGStGB (BT-Drucks. 7/550) und den Bericht des BT-Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BT-Drucks. 7/1261). Schrifttum: Hafke, Systemmünzen, MDR 1976, 278; - Prost, Straf- und währungsrechtliche Aspekte des Geldwesens, Lange-Festschr., 1976, S. 4 1 9 ; - SchmiedlNeuburg, Die Falschgelddelikte, 1968; - Gerold Schmidt, Probleme der Wertzeichenfälschung, GA 1966, 326; - Zielinski, Geld- und Wertzeichenfälschung nach dem Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB), JZ 1973,193. 2. Geschütztes Rechtsgut der Tatbestände des 8. Abschnitts ist das öffentliche Interesse an der Sicherheit und Zuverlässigkeit des Verkehrs mit Zahlungsmitteln, Wertzeichen und Wertpapieren. 3. Die Geld- und Wertzeichenfälschung sowie deren Vorbereitung (§§ 146,149, 151 und 152) unterliegen nach § 6 Nr. 7 dem sog. Weltrechtsprinzip. 4. Eine Anzeigepflicht besteht nur in den Fällen der §§ 146, 151 und 152 (vgl § 138 Abs. 1 Nr. 4). 5. Ergänzend zu beachten sind die §§ 127,128 OWiG (abgedruckt in Anh. 2).
§ 146
Geldfälschung
(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren wird bestraft, wer 1. Geld in der Absicht nachmacht, daß es als echt in den Verkehr gebracht oder daß ein solches Inverkehrbringen ermöglicht werde, oder Geld in dieser Absicht so verfälscht, daß der Anschein eines höheren Wertes hervorgerufen wird, 532
Achter Abschnitt: Geld- und Wertzeichenfälschung
§ 146
2. falsches Geld in dieser Absicht sich verschafft oder 3. falsches Geld, das er unter den Voraussetzungen der Nummern 1 und 2 nachgemacht, verfälscht oder sich verschafft hat, als echt in Verkehr bringt. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift tritt an die Stelle der ehemaligen §§ 146 und 147, wobei die einzelnen Tatbestände sprachlich vereinfacht und präziser gefaßt wurden. Anliegen der Vorschrift ist es, einen möglichst umfassenden Schutz von Sicherheit und Zuverlässigkeit des Geldverkehrs zu gewährleisten und zu verhindern, daß illegale Prägungen ohne staatliche Kontrolle, d.h. unter Verstoß gegen das staatliche Geldmonopol, in Umlauf gesetzt werden. Über Gesetzesmaterialien und Schrifttum siehe Vorbem. 1. 2. Geld ist jedes vom Staat oder einer von ihm ermächtigten Stelle als Wertträger beglaubigte und zum Umlauf im öffentlichen Verkehr bestimmte Zahlungsmittel (BGH 23, 231). Außer Kurs gesetztes Geld ist nur geschützt, wenn für die Banken noch eine Einlösepflicht besteht (BGH LM Nr. 2; a. A. Rudolphi SK 3). Ausländisches Geld steht nach § 152 dem inländischen gleich. 3. Der 1. Altemativtatbestand des Abs. 1 Nr. 1 erfaßt die eigentliche Geldfälschung, d. h. das Nachmachen von Geld. a) In Anlehnung an den 1. Alternativtatbestand der Urkundenfälschung erfüllt jede Hersteilling unechten Geldes den Tb. der Geldfälschung. Eine Geldnote oder Münze ist unecht, wenn sie nicht in der vorliegenden Form von dem stammt, der als ihr Aussteller erscheint. „Aussteller" in diesem Sinn ist die Deutsche Bundesbank, in deren Auftrag das Geld in den einzelnen Münzanstalten hergestellt wird. Hieraus folgt, daß illegale Privatprägungen auch dann „nachgemachtes" Geld sind, wenn sie von Angehörigen einer staatlichen Münzanstalt, aber ohne entsprechenden Auftrag der Bundesbank und damit unter Verstoß gegen die staatliche Münzhoheit hergestellt worden sind (a.A. LG Krhe NJW 1977, 1301 m. abl. Anm. Sonnen JA 1977, 481). Tatbestandsmäßig ist ferner die Herstellung von sog. Systemnoten, d. h. von Geldscheinen, die nach einem bestimmten System aus mehreren Teilstücken echter Banknoten gleichen Werts zusammengesetzt sind (vgl. BGH 23,229; Herdegen LK 5; Lackner 3 a; Stree in Schönke-Schröder 5). b) Das nachgemachte Geld muß echtem zum Verwechseln ähnlich sein. Unter Berücksichtigung der Erfahrungstatsache, daß im täglichen Leben kaum jemand das erhaltene Geld näher auf seine Echtheit untersucht, sind an die Verwechslungsfähigkeit keine allzu strengen Anforderungen zu stellen (vgl. BGH NJW 1954, 564 betr. Papiergeldnachahmungen mit gleicher Vorder- und Rückseite). Lediglich plumpe Fälschungen scheiden aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift aus (vgl. BGH MDR 1952, 563 m. Anm. Dreher). Hier kommt jedoch Versuch in Betracht, wenn der Täter möglichst vorbildgetreue Stücke herstellen wollte. Nach h. A. ist ein „Nachmachen" selbst dann gegeben, wenn es an einem echten Vorbild fehlt, z. B. bei einem 25-DM-Schein (vgl. RG 58, 352; Rudolphi SK 6; Stree in Schönke-Schröder 5). Dies erscheint allerdings zweifelhaft, da es sich bei 533
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Achter Abschnitt: Geld- und Wertzeichenfälschung
solchen Fantasieprodukten in der Regel um plumpe, somit nicht tatbestandsmäßige Fälschungen handeln dürfte (ablehnend auch Gerland, Die Geldfälschungsdelikte, 1901, S. 64). c) Der subj. Tb. erfordert neben dem Vorsatz die Absicht, das nachgemachte Geld als echtes in Verkehr zu bringen oder ein solches Inverkehrbringen zu ermöglichen. aa) In Verkehr gebracht ist das Geld, wenn der Täter es derart aus seinem Gewahrsam entläßt, daß ein anderer in die Lage versetzt wird, sich seiner zu bemächtigen und nach seinem Belieben damit umzugehen (RG 67, 167; h. L.). Während die erste Alternative des subj. Tb. den Fall erfaßt, daß der Täter die Absicht hat, das von ihm hergestellte Falschgeld selbst als echtes Geld in Verkehr zu bringen, z. B. durch Ausgabe im täglichen Geschäftsverkehr, aber auch durch Einwurf in einen Automaten (BGH MDR 1952, 563) oder einen Opferstock (vgl. Herdegen LK 11), bezieht sich die zweite Alternative des subj. Tb. vor allem auf die Absicht, das nachgemachte Geld an Wiederverkäufer zu vertreiben, die es nicht „als echtes", sondern als falsches erwerben (vgl. RegE S. 226 BTDrucks. 7/550). Auch die Weitergabe an einen Münzsammler ermöglicht ein Inverkehrbringen des Falsifikats (BGH JR 1976, 294 m. abl. Anm. Dreher; zust. jedoch Blei JA 1976,597 und Sonnen JA 1977,481). bb) Absicht ist der auf den Erfolg gerichtete Wille, d. h. es muß dem Täter darauf ankommen, das nachgemachte Geld als echtes in Verkehr zu bringen oder ein solches Inverkehrbringen zu ermöglichen. Nicht erforderlich ist, daß das nachgemachte Geld dann auch tatsächlich in Verkehr gebracht wird. Auch eine Bereicherungsabsicht ist nicht erforderlich. Tatbestandsmäßig handelt deshalb auch, wer Falschgeld herstellt in der Absicht, es zu verschenken oder einer gemeinnützigen Vereinigung zu spenden. cc) Nicht ausreichend ist die Absicht, zunächst nur einige Probestücke herzustellen, die nicht ausgegeben werden sollen (RG 69, 3; Herdegen LK 11). Hier kommt dann allerdings § 149 in Betracht. Auch wer nur seine Kunst zeigen will, etwa um eine Wette zu gewinnen, handelt nicht mit der in § 146 geforderten Absicht. Entsprechendes gilt für die Absicht, durch Vorzeigen des Falschgelds die eigene Zahlungsfähigkeit oder Kreditwürdigkeit nachweisen zu können. 4. Der 2. Altemativtatbestand des Abs. 1 Nr. 1, der dem 2. Alternativtatbestand der Urkundenfälschung entspricht, erfaßt die Verfälschung echten Geldes. Tatbestandsmäßig ist jede Einwirkung oder Behandlung echten Geldes, durch die der Anschein eines höheren Werts hervorgerufen wird. Der subj. Tb. entspricht dem des ersten Alternativtatbestands (s. o. 3 c). Abweichend von § 146 aF wird nicht mehr ausdrücklich unter Strafe gestellt, daß verrufenem (d. h. echtem, aber ungültig gewordenem) Geld durch entsprechende Veränderungen das Aussehen eines noch geltenden Zahlungsmittels gegeben wird. Dieser Fall wird bereits durch die 1. Alt. des Tb. erfaßt (vgl. RegE S. 226 BT-Drucks. 7/550). Wird verrufenes Geld ohne Veränderung als echtes in den Verkehr gebracht, so liegt Betrug vor. 5. Abs. 1 Nr. 2 erfaßt den früher in § 147 unter Strafe gestellten Fall, daß der Täter sich Falschgeld verschafft, das von dritter Seite hergestellt wurde. Abweichend von der früheren Rechtslage ist zur Tatbestandsverwirklichung nicht erforderlich, daß der Täter das Geld auch in Verkehr bringt. 534
Achter Abschnitt: Geld- und Wertzeichenfälschung
§ 146
a) Sichverschaffen bedeutet die Begründung einer eigenen, selbständigen Verfügungsgewalt (BGH 2, 117; 3, 156), und zwar zu eigenen Zwecken (vgl. § 147 Anm. 1 d). Nicht ausreichend ist deshalb die Entgegennahme als Bote (BGH 3, 154; h. L.). Andererseits ist unerheblich, auf welche Weise der Täter die Verfügungsgewalt über das Falschgeld erlangt hat. Der Tb. ist auch dann erfüllt, wenn der Täter das Falschgeld gefunden oder durch eine Straftat, z. B. durch Diebstahl, Raub oder Betrug, in seine Verfügungsgewalt gebracht hat. Nicht mehr ausdrücklich unter Strafe gestellt ist die Einfuhr von Falschgeld. Der Gesetzgeber glaubte, auf eine selbständige Strafdrohung insoweit verzichten zu können, da der Täter nach § 6 Nr. 7 auch dann dem Anwendungsbereich des StGB unterliegt, wenn er sich das Falschgeld im Ausland zwecks Einfuhr in das Inland verschafft hat (RegE S. 226 BT-Drucks. 7/550). Diese Konstruktion versagt allerdings, wenn der Täter das Falschgeld nur als Bote über die Grenze bringt. In diesem Fall kommt dann nur Beihilfe zu einem Verbrechen nach § 146 Abs. 1 Nr. 3 in Betracht (s. u. 6 a). b) Der subj. Tb. entspricht dem der Nr. 1 (s. o. 3 c). Nicht tatbestandsmäßig handelt deshalb z. B., wer Falschgeld lediglich für seine Münzsammlung erwirbt. In diesem Fall kann jedoch Anstiftung zu einem Verbrechen nach § 146 Nr. 1 in Betracht kommen (s. o. 3 c, aa). 6. Der Tb. des Abs. 1 Nr. 3, der dem 3. Alternativtatbestand des § 267 nachgebildet ist, stellt das Inverkehrbringen von Falschgeld unter Strafe, das der Täter unter den Voraussetzungen der Nr. 1 oder 2 nachgemacht, verfälscht oder sich verschafft hat. a) Die praktische Bedeutung der Vorschrift ist gering, da das Inverkehrbringen für den Täter eines nach Nr. 1 oder Nr. 2 strafbaren Verbrechens als Realisierung seines ursprünglichen Tatplans keine rechtlich selbständige Straftat, sondern zusammen mit der vorausgegangenen, in Nr. 1 und Nr. 2 mit Strafe bedrohten Vorbereitungshandlungen eine deliktische Einheit darstellt (h. L., vgl. Stree in Schönke-Schröder 26 m. Nachw.). Für den Täter selbst kann der Tb. deshalb nur in Ausnahmefällen zu einer Strafbarkeit führen, z. B. wenn er nach Verbüßung seiner wegen eines Verbrechens nach Nr. 1 oder Nr. 2 ausgesprochenen Strafe das noch unentdeckt gebliebene Geld in Verkehr bringt (vgl. Ber. S. 13 BT-Drucks. 7/1261). Von größerer Bedeutung kann die Vorschrift jedoch für Teilnehmer sein, die bei der Herstellung bzw. dem Sichverschaffen des Falschgelds noch nicht beteiligt waren. Hierher gehört insbesondere der Fall des Verteilergehilfen (vgl. Dreher 10; Zielinski aaO. 197; unzutreffend dagegen RegE S. 227 BT-Drucks. 7/550, wonach für den Verteilergehilfen nur § 147 zur Anwendung kommen soll, da er sich das Falschgeld nicht selbst verschafft hat, worauf es aber beim Gehilfen gar nicht ankommt). b) Über „Inverkehrbringen" s. o. 3 c. „Als echt" in Verkehr gebracht ist das Falschgeld, wenn der Täter es - selbst oder durch einen nach seinen Weisungen tätig werdenden Verteilergehilfen - unter Vortäuschen der Echtheit einem anderen zur selbständigen Verfügung überläßt. Die Weitergabe an einen Eingeweihten zu dessen selbständiger Verfügung genügt dagegen nicht. Sie ermöglicht zwar ebenfalls das Inverkehrbringen als echtes Geld. Da diese Tatbestandsalternative jedoch, abweichend von der in § 146 Nr. 1 getroffenen Regelung, in den §§ 146 Nr. 3 und 147 fehlt, kommt in diesen Fällen - unbeschadet einer Strafbarkeit nach § 146 Nr. 1 oder Nr. 2 - nur Teilnahme an der Tat des Empfängers in Betracht (sehr Str.; übereinstimmend Dreher § 147 Rn. 5; Rudolphi SK § 146 Rn. 12, 13; a. A. Lackner 3 d, bb sowie Stree in Schönke-Schröder 22 unter Bezugnahme auf die Gesetzesgeschichte). Der hier vorliegende Konstruktionsfehler kann nicht 535
§ 147
Achter Abschnitt: Geld- und Wertzeichenfälschung
im Wege der Auslegung, sondern nur durch den Gesetzgeber selbst beseitigt werden. Handelte der Täter im Zeitpunkt der in Nr. 1 oder Nr. 2 unter Strafe gestellten Tathandlung ohne Vorsatz oder ohne die dort geforderte Absicht, so ist das Inverkehrbringen nicht nach § 146 Abs. 1 Nr. 3, sondern nach § 147 strafbar. 7. Der Versuch ist in allen Fällen strafbar (Verbrechen). 8. Konkurrenzen: Zwischen den einzelnen Herstellungs-, Erwerbs- und Verbreitungsakten ist i. d. R. Fortsetzungszusammenhang gegeben (BGH Urt. v. 17. 3. 1970 [1 StR 491/69], in BGH 23, 229 nicht mit abgedruckt). Über das Verhältnis von Nr. 3 zu Nr. 1 und Nr. 2 s. o. Anm. 6 a. Eine deliktische Einheit ist dabei auch dann anzunehmen, wenn der Täter nach einer Handlung gemäß Nr. 1 oder Nr. 2 die Absicht des Inverkehrbringens zunächst aufgegeben hatte (Dreher 8; a. A. Lackner 7 a; Stree in Schönke-Schröder 26). Mit § 263 ist Tateinheit möglich (BGH MDR 1952, 563; Herdegen LK 15 m. weit. Nachw.). Gegenüber § 267 geht § 146 vor, da die Vorschrift einen Sonderfall der Urkundenfälschung erfaßt (BGH 22,229, 231; h. L.). 9. Beachte ergänzend § 138 Abs. 1 Nr. 4 (Anzeigepflicht), § 149 (Vorbereitungshandlungen), § 150 (Einziehung) sowie § 127 OWiG (abgedruckt in Anh. 2).
§ 147
Inverkehrbringen von Falschgeld
(1) Wer, abgesehen von den Fällen des § 146, falsches Geld als echt in Verkehr bringt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift (vgl. 1 vor § 146) erfaßt alle Fälle, in denen der Täter Falschgeld als echtes Geld (nicht ausreichend deshalb die Weitergabe an Eingeweihte, vgl. Dreher 2 sowie § 146 Anm. 6 b; sehr str.) in Verkehr bringt, a) das er ohne die Absicht des Inverkehrbringens hergestellt hat. Beispiel: A stellt Falschgeld her, um eine Wette zu gewinnen. Nachdem das Experiment gelungen ist, gibt er das Geld bei Einkäufen aus; b) das er in Kenntnis der Unechtheit, aber ohne die Absicht des Inverkehrbringens sich verschafft hat. Beispiel: A hat für seine Münzsammlung eine gefälschte Münze erworben. Als er später eine echte Münze gleicher Prägung erwerben kann, setzt er die gefälschte wieder in Umlauf; c) das er in Unkenntnis der Unechtheit in seine Verfügungsgewalt gebracht hat. Hierher gehören alle Fälle, die früher von dem durch das EGStGB aufgehobenen Sondertatbestand des Abschiebens von Falschgeld (§ 148 aF) erfaßt waren. Beispiel: Der Einzelhändler A gibt einen gefälschten 20-DM-Schein, der auf ungeklärte Weise in seine Ladenkasse geraten ist, beim nächsten Einkauf bei seinem Großhändler in Zahlung. Da die frühere Strafobergrenze von 3 Monaten weggefallen ist, bedeutet die Neuregelung der Materie für diese Fallgruppe eine nicht unwesentliche Verschärfung, die sich vor allem dann auswirken kann, wenn der Täter das Falschgeld durch strafbare Handlung (z. B.
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Achter Abschnitt: Geld- und Wertzeichenfälschung
§ 147
durch Diebstahl, Betrug oder Raub) in seine Verfügungsgewalt gebracht hat. Eine Strafschärfung in diesen Fällen führt (entgegen Rudolphi SK 4) nicht zu einer unzulässigen Doppelbestrafung, sondern berücksichtigt, daß bei einem deliktischen'Erwerb des Falschgelds dessen Weitergabe mangels privilegierender Motivation strafbedürftiger erscheint als bei einem Täter, der selbst zuvor geschädigt worden ist und lediglich versucht, den Schaden abzuwälzen; d) dessen Unechtheit er zwar kennt, über das ihm aber keine eigene Verfügungsgewalt zusteht oder über das er nicht zu eigenen Zwecken verfügen will. Beispiele: In dem unter lit. c) erörterten Fall übernimmt es die von A gerügte Kassiererin K, den gefälschten Geldschein wieder einem Kunden unterzuschieben. - Oder: S übernimmt es für seine Mutter M, die beim Einkauf mit einem gefälschen 50-DM-Schein geprellt worden ist, diesen Schein wieder unter die Leute zu bringen. Hier wäre es unbillig, S wegen eines Verbrechens nach § 146 Abs. 1 Nr. 2 zu bestrafen. Auf der Grundlage eines subjektiv bestimmten Täterbegriffs ließe sich dieses unbefriedigende Ergebnis dadurch vermeiden, daß man S lediglich wegen Beihilfe zu dem von seiner Mutter in mittelbarer Täterschaft begangenen Vergehen nach § 147 bestraft. Bei Zugrundelegung des hier vertretenen, an der Tatherrschaft ausgerichteten objektiven Täterbegriffs (vgl. Vorbem. 2 b, bb vor § 25) verbietet sich jedoch eine derartige Konstruktion, da man einerseits der M keine Tatherrschaft zusprechen kann und S, der alle Tatbestandsmerkmale in eigener Person vorsätzlich verwirklicht hat, sich andererseits nicht darauf berufen kann, die Tat „als fremde" gewollt zu haben. Eine befriedigende Lösung derartiger Grenzfälle läßt sich nur dadurch erzielen, daß man das Merkmal „Sichverschaffen" in § 146 Abs. 1 Nr. 2 restriktiv auslegt und auf die Fälle beschränkt, in denen der Täter eine selbständige Verfügungsmacht zu eigenen Zwecken anstrebt. Dann ist im vorliegenden Fall der Weg zu § 147 offen. A ist als Täter zu bestrafen, die M wegen Beihilfe (keine Täterschaft, da sie dem S das Falschgeld nicht „als echtes" überlassen hat). Dagegen bestehen keine durchgreifenden Bedenken, S als Täter eines Verbrechens nach § 146 Abs. 1 Nr. 2 zu behandeln, wenn es ihm bei Übernahme des Falschgelds darum ging, einen Gewinn zu erzielen, z. B. wenn er sich vorgefaßtem Tatentschluß entsprechend von der M die Hälfte des Erlöses geben läßt. Für die M müßte es allerdings auch bei dieser Fallkonstellation bei einer Bestrafung aus § 147 verbleiben. Sie darf nicht dadurch schlechter gestellt werden, daß S sich von ihr eine Belohnung geben läßt. Aus dem früheren Schrifttum siehe Doli NJW 1952, 290 sowie Herdegen LK 2 zu § 148 aF m. weit. Nachw. e) Über die rechtliche Beurteilung des dolosen Verteilergehilfen siehe § 146 Anm. 6 a. 2. Auf der subj. Tatseite ist Vorsatz erforderlich. Der Täter muß spätestens beim Inverkehrbringen das Bewußtsein haben, daß das von ihm aus der Hand gegebene Geld unecht ist und nunmehr ein anderer, der das Geld für echt hält, sich seiner bemächtigten und nach seinem Beheben damit umgehen kann (§ 146 Anm. 3 c, 6 b). Bedingter Vorsatz genügt in jeder Hinsicht. Die abw. Entscheidung BGH 2, 118 ist durch die Neufassung des Gesetzes gegenstandslos geworden. 3. Konkurrenzen: Tateinheit ist insbesondere mit § 263 möglich (BGH 3,156; Herdegen LK 4 m. weit. Nachw.). Gegenüber dem letzten Alternativtatbestand des § 267 geht § 147 als das speziellere Gesetz vor. Hat der Täter das Falschgeld durch eine strafbare Handlung erlangt (z. B. durch Diebstahl, Raub oder Betrug), so steht diese zu § 147 in Tatmehrheit.
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§ 148
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§ 148
Wertzeichenfälschung
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. amtliche Wertzeichen in der Absicht nachmacht, daß sie als echt verwendet oder in Verkehr gebracht werden oder daß ein solches Verwenden oder Inverkehrbringen ermöglicht werde, oder amtliche Wertzeichen in dieser Absicht so verfälscht, daß der Anschein eines höheren Wertes hervorgerufen wird, 2. falsche amtliche Wertzeichen in dieser Absicht sich verschafft oder 3. falsche amtliche Wertzeichen als echt verwendet, feilhält oder in Verkehr bringt. (2) Wer bereits verwendete amtliche Wertzeichen, an denen das Entwertungszeichen beseitigt worden ist, als gültig verwendet oder in Verkehr bringt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (3) Der Versuch ist strafbar. 1. Die durch das EGStGB hier eingestellte Vorschrift übernimmt nicht nur die Funktionen der ehemaligen §§ 275 und 276, sondern hat gleichzeitig das immer unübersichtlicher gewordene Nebenstrafrecht bereinigt. So konnten u. a. die ehemaligen §§ 399 RAO, 1432 RVO und 153 AVG ersatzlos aufgehoben werden (vgl. Art. 161 Nr. 5, 252 Nr. 48, 253 Nr. 6 EGStGB). Gleichzeitig wurde der Anwendungsbereich der Vorschrift dadurch, daß unter Verzicht auf eine Einzelaufzählung alle amtlichen Wertzeichen geschützt werden, über den Kreis der aufgehobenen Vorschriften hinaus erheblich erweitert. Geschütztes Rechtsgut ist neben den fiskalischen Interessen vor allem die Sicherheit des Rechtsverkehrs im Umgang mit amtlichen Wertzeichen, die mit zunehmender Rationalisierung der öffentlichen Verwaltung in der Praxis immer mehr an Bedeutung gewinnen. Gesetzesmaterialien siehe 1 vor § 146; - Schrifttum: Kienapfel, Urkunden im Strafrecht, 1967, S. 143 ff.; - Gerold Schmidt, Probleme der Wertzeichenfälschung, GA 1966, 326; - Zielinski, Geld- und Wertzeichenfälschung nach dem Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch, JZ 1973,193. 2. Wertzeichen sind Zahlungsmittel in der Form spezifischer Marken, die üblicherweise gegen Entgelt ausgegeben werden und einen bestimmten Geldwert repräsentieren (vgl. Kienapfel aaO. 144). Von den Urkunden unterscheiden sie sich dadurch, daß sie keinen urkundlichen Gedankeninhalt, sondern als „Gewährschaftsträger" eigener Art einen bestimmten Wert verkörpern (vgl. Kienapfel aaO. 144; Tröndle LK 3 zu § 275 aF). Urkundencharakter ist deshalb abzulehnen (RG 18, 289; 62,203; h. L.). a) Amtlich ist ein Wertzeichen, wenn es von einer Dienststelle des Bundes, des Landes, einer Gebietskörperschaft oder einer sonstigen Körperschaft des öffentlichen Rechts ausgegeben worden ist mit dem Ziel, die Entrichtung bestimmter Abgaben, Steuern und Beiträge zu erleichtem oder zu überwachen (vgl. RG 63, 380; h. L.). Zu den amtlichen Wertzeichen gehören insbesondere Stempelmarken (z. B. Gerichtskostenmarken und Gebührenmarken der kommunalen Verwaltung) sowie Postwertzeichen einschließlich der diesen gleichgestellten Freistempelabdrucke und internationalen Antwortscheine, außerdem Steuermarken sowie Beitragsmarken der Sozialversicherung. Nicht hierher gehören 538
Achter Abschnitt: Geld- und Wertzeichenfälschung
§ 148
dagegen private Wertzeichen, z. B. Beitragsmarken eines Sportvereins und Rabattmarken eines Einkaufszentrums. b) Gemäß § 152 erstreckt sich der Anwendungsbereich der Vorschrift auch auf Wertzeichen fremder Währungsgebiete, z. B. auf ausländische Gebühren- oder Briefmarken. c) Nicht anwendbar ist die Vorschrift auf ungültige, verfallene oder entwertete Wertzeichen (vgl. Begr. zu § 315 E 1962; KG JR 1966, 307; Tröndle LK 6 zu § 275 aF; siehe jedoch Abs. 2 sowie § 25 Abs. 1 Nr. 3 PostG, wonach das Nachmachen und Verfälschen von ungültig erklärten in- und ausländischen Postwertzeichen sowie deren Feilhalten und Inverkehrbringen als OWi geahndet wird). 3. Die Tathandlung der Nr. 1 des Abs. 1 entspricht der Tathandlung des § 146 Abs. 1 Nr. 1, so daß auf die Ausführungen zu § 146 (siehe dort Anm. 3) grundsätzlich verwiesen werden kann. Über § 146 Abs. 1 Nr. 1 hinausgehend wird auch der Fall erfaßt, daß der Täter Wertzeichen in der Absicht nachmacht, sie als echte zu verwenden oder ein solches Verwenden zu ermöglichen. Diese Erweiterung ergibt sich daraus, daß die bestimmungsgemäße Verwendung nicht notwendig mit einem Inverkehrbringen verbunden sein muß. Umgekehrt gibt es Fälle, in denen das Inverkehrbringen nicht der bestimmungsgemäßen Verwendung entspricht, z. B. wenn jemand Briefmarken fälscht, um sie einem Sammler zu verkaufen. Da die Gefahr besteht, daß das in Verkehr gebrachte gefälschte Wertzeichen später nicht nur als Sammelobjekt, sondern seiner eigentlichen Bestimmung gemäß weiterverwendet wird, soll auch dieser Fall durch § 148 erfaßt werden (RegE S. 228 BTDrucks. 7/550). Die Tathandlung der Nr. 2 des Abs. 1 entspricht der des § 146 Abs. 1 Nr. 2 (vgl. § 146 Anm. 5). Die Tathandlung der Nr. 3 des Abs. 1 deckt sich im wesentlichen mit der des § 146 Abs. 1 Nr. 3, jedoch wird neben dem Inverkehrbringen noch zusätzlich das Verwenden und Feilhalten erfaßt. Wegen der zusätzlichen Aufnahme des Merkmals „verwenden" s. o. die Ausführungen zur Tathandlung der Nr. 1. „Als echt" verwendet wird ein Wertzeichen, wenn es bestimmungsgemäß verwendet wird, z. B. zum Frankieren eines Briefs. Das „Feilhalten" wurde in den Tb. aufgenommen, um die Streitfrage auszuschalten, ob das Feilhalten bereits einen nach Abs. 2 strafbaren Versuch des Inverkehrbringens oder nur eine straflose Vorbereitungshandlung darstellt (vgl. RegE S. 228 BT-Drucks. 7/550). 4. Abs. 2 übernimmt die Funktionen des ehemaligen § 276. „Bereits verwendet" ist ein Wertzeichen nur, wenn es ordnungsmäßig entwertet war und das Entwertungszeichen vom Täter oder einem Dritten beseitigt worden ist. Die Art der „Beseitigung" ist unerheblich. Nicht hierher gehört dagegen der Fall, daß ein Wertzeichen verwendet wird, dessen Entwertung versehentlich unterblieben war. Hier kommt jedoch Betrug in Betracht (vgl. Dreher 5). Nicht tatbestandsmäßig ist weiter der Fall, daß ein entwertetes Wertzeichen ohne Entfernung des Entwertungszeichens wiederverwendet wird, z. B. wenn eine nur am äußersten Rand entwertete Briefmarke bei der Wiederverwendung an der entscheidenden Stelle mit einer anderen, zur Ergänzung der Frankatur benötigten Briefmarke überklebt wird, so daß der Stempel nicht mehr sichtbar ist. Auch das Überstempeln der alten Entwertung (etwa durch den an der Wiederverwendung mitbeteiligten Post- oder Gebührenbeamten) ist keine „Beseitigung" (a. A. RG HRR 1937 Nr. 211; h. L., vgl. Rudolphi SK 8 m. weit. Nachw.). 539
§ 149
Achter Abschnitt: Geld- und Wertzeichenfälschung
5. Konkurrenzen: Abs. 1 kann mit § 263 in, Tateinheit treten (vgl. BGH LM § 263 Nr. 10; Tröndle LK 14 zu § 276 aF), Abs. 2 geht jedoch gegenüber § 263 vor, da § 263 insoweit immer notwendige Begleittat ist (vgl. RG 68, 303; Dreher 10; Lackner 5; Stree in Schönke-Schröder 26). Entsprechendes gilt für das Verhältnis zwischen Abs. 2 und § 274 Abs. 1 Nr. 1, falls der Entwertungsstempel Urkundencharakter hat (vgl. RG 59, 321, 325; Kienapfel aaO. 158; Tröndle LK 8 zu § 276 aF). Zwischen Abs. 2 und den Delikten, die zur Beschaffung des Wertzeichens begangen wurden (z. B. §§ 133, 242, 246), ist Tatmehrheit anzunehmen (vgl. RG 68, 208 in Abweichung von RG 59, 321; BGH 3, 289, 292; h. L.). 6. Beachte ergänzend § 149 (Vorbereitungshandlungen), § 150 (Einziehung) sowie § 127 OWiG (abgedruckt in Anh. 2).
§ 149
Vorbereitung der Fälschung von Geld und Wertzeichen
(1) Wer eine Fälschung von Geld oder Wertzeichen vorbereitet, indem er 1. Platten, Formen, Drucksätze, Druckstöcke, Negative, Matrizen oder ähnliche Vorrichtungen, die ihrer Art nach zur Begehung der Tat geeignet sind, oder 2. Papier, das einer solchen Papierart gleicht oder zum Verwechseln ähnlich ist, die zur Herstellung von Geld oder amtlichen Wertzeichen bestimmt und gegen Nachahmung besonders gesichert ist, herstellt, sich oder einem anderen verschafft, feilhält, verwahrt oder einem anderen überläßt, wird, wenn er eine Geldfälschung vorbereitet, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe, sonst mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Nach Absatz 1 wird nicht bestraft, wer freiwillig 1. die Ausführung der vorbereiteten Tat aufgibt und eine von ihm verursachte Gefahr, daß andere die Tat weiter vorbereiten oder sie ausführen, abwendet oder die Vollendung der Tat verhindert und 2. die Fälschungsmittel, soweit sie noch vorhanden und zur Fälschung brauchbar sind, vernichtet, unbrauchbar macht, ihr Vorhandensein einer Behörde anzeigt oder sie dort abliefert. (3) Wird ohne Zutun des Täters die Gefahr, daß andere die Tat weiter vorbereiten oder sie ausführen, abgewendet oder die Vollendung der Tat verhindert, so genügt an Stelle der Voraussetzungen des Absatzes 2 Nr. 1 das freiwillige und ernsthafte Bemühen des Täters, dieses Ziel zu erreichen. 1. Die durch das EGStGB hier eingestellte Vorschrift tritt an die Stelle des ehemaligen § 151, ersetzt aber gleichzeitig die einschlägigen Vorschriften des Nebenstrafrechts. Hierbei ist zu beachten, daß jetzt, abweichend von der früheren Rechtslage, auch die Vor-
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Achter Abschnitt: Geld- und Wertzeichenfälschung
§ 149
bereitung der Wertzeichenfälschung nicht nur bei bestimmten Wertzeichen, sondern allgemein unter Strafe gestellt ist. Hierdurch ist eine gewisse Erweiterung des Strafbarkeitsbereichs eingetreten (kritisch hierzu Zielinski JZ 1973, 193). Zu beachten ist auch die Erhöhung der Strafobergrenze bei der Vorbereitung einer Geldfälschung von zwei auf fünf Jahre Freiheitsstrafe. Ergänzt wird § 149 durch den OWi-Tb. des § 127 OWiG (siehe Anh. 2). 2. Die unter Strafe gestellten Tathandlungen sind (ähnlich wie bei § 311 b) entsprechend der Schutzrichtung der Vorschrift so weit gefaßt, daß sie jede nur denkbare Fälschung von Geld, Wertzeichen und Wertpapieren (vgl. § 151) bereits im Vorbereitungsstadium erfassen. Unerheblich ist, ob der Täter selbst oder ein Dritter die in Aussicht genommene Fälschung vornehmen will oder soll. 3. Zur Tatbegehung geeignet sind die in Nr. 1 neben Platten, Formen usw. genannten „ähnlichen Vorrichtungen" nur dann, wenn ihnen eine spezifische Verwendbarkeit zur Ausführung von Fälschungen zukommt (RegE S. 229 BT-Drucks. 7/550). Hieran fehlt es z. B. bei einem Hammer oder Meißel (RegE aaO.). Die Ausführungen zum Tb.-Merkmal „besondere Vorrichtungen" in § 311 b (siehe dort Anm. 4) gelten insoweit entsprechend. Auch Nr. 2 ist ähnlich restriktiv auszulegen. Nur solche Papiersorten werden vom Anwendungsbereich der Vorschrift erfaßt, die auf Grund ihrer spezifischen Besonderheiten, z. B. durch Wasserzeichen oder Einstreuung von unsichtbaren Fasern, Seidenfäden u. a. m., einer besonders gesicherten Papierart gleichen oder zum Verwechseln ähnlich sind (vgl. RegE S. 229 BT-Drucks. 7/550). „Zum Verwechseln ähnlich" sind solche Produkte, die nach ihrem Gesamtbild oder Gesamteindruck trotz vorhandener Abweichungen geeignet sind, bei einem durchschnittlichen, über besondere Sachkunde nicht verfügenden Betrachter oder Beurteiler, der sie keiner näheren Prüfung unterzieht, die irrige Vorstellung zu erwecken, daß er es mit einem der im Gesetz genannten Gegenstände zu tun hat (RegE aaO.). 4. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz. Nicht erforderlich ist, daß der Täter die Absicht hat, sich selbst an der Fälschungshandlung zu beteiligen. Es genügt, daß er weiß oder damit rechnet, daß eine Fälschung von Geld, Wertzeichen oder Wertpapieren geplant ist und sein Verhalten geeignet ist, die in Aussicht genommene Tat zu fördern. 5. Konkurrenzen: Kommt es unter Verwendung der in § 149 genannten Gegenstände zu einer Fälschung von Geld, Wertzeichen oder Wertpapieren, so ist § 149 gegenüber den §§ 146, 148, 151 subsidiär. Dies gilt auch dann, wenn die Fälschung im Stadium des Versuchs zurückbleibt und der an dem Vergehen Beteiligte wegen seiner Beteiligung an dem Versuch als Täter oder Teilnehmer strafbar ist. Im Falle eines strafbefreienden Rücktritts von diesem Versuch lebt die Strafbarkeit nach § 149 Abs. 1 wieder auf (sog. qualifizierter Versuch, vgl. § 24 Anm. 8), sofern kein Fall des Abs. 2 oder 3 vorliegt (h. L., vgl. Lackner 6). 6. Die Abs. 2 und 3 sind den §§ 24 und 31 nachgebildet und enthalten Sonderfälle strafbefreienden Rücktritts nach vollendetem Delikt. Zu beachten ist, daß Abs. 2 Nr. 2 über die Aufgabe des Tatplans hinaus verlangt, daß der Täter etwa noch vorhandene und zur Fälschung brauchbare Fälschungsmittel vernichtet oder auf sonstige im Gesetz näher beschriebene Weise unschädlich macht (kritisch hierzu Zielinski aaO. 197 f.). 541
§§ 150,151
Achter Abschnitt: Geld- und Wertzeichenfälschung
7. Ergänzend zu beachten ist § 127 OWiG (ein abstraktes Gefährdungsdelikt, das gemäß § 21 OWiG gegenüber § 149 subsidiär ist und nur dann Bedeutung erlangt, wenn der Täter nicht nachweisbar den in § 149 geforderten Vorsatz hat, die Fälschung von Geld, Wertzeichen oder Wertpapieren vorzubereiten, oder wenn er unter den Voraussetzungen des § 149 Abs. 2 oder Abs. 3 mit strafbefreiender Wirkung zurückgetreten ist [Dreher 12; Lackner 6; Stree in Schönke-Schröder 12; a. A. Rudolphi SK 9, der die Rücktrittswirkungen auch auf § 127 OWiG erstrecken möchte]).
§ 150
Einziehung
Ist eine Straftat nach diesem Abschnitt begangen worden, so werden das falsche Geld, die falschen oder entwerteten Wertzeichen und die in § 149 bezeichneten Fälschungsmittel eingezogen. 1. Die durch das EGStGB hier eingestellte Vorschrift tritt an die Stelle des ehemaligen § 152 und bezieht sich auf alle Tatbestände des 8. Abschnitts (§§ 146 bis 149). 2. Die Einziehung ist zwingend vorgeschrieben. Sie umfaßt sowohl die producta sceleris als auch die in § 149 genannten instrumenta sceleris. Bei täterfremden Gegenständen ist die Einziehung nur unter den Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 2 oder des § 74 Abs. 3 zulässig (vgl. § 74 Abs. 4). In der Gerichtspraxis dürfte diese Beschränkung allerdings keine Schwierigkeiten bereiten, da bei den in Frage stehenden Gegenständen grundsätzlich die Gefahr weiterer rechtswidriger Taten besteht. § 74 a ist dagegen nicht anwendbar. 3. Ist der Täter unbekannt, so kann die Einziehung im sog. objektiven Verfahren betrieben werden (vgl. § 76 a i. V. mit § 440 StPO).
§ 151
Wertpapiere
Dem Geld im Sinne der §§ 146, 147, 149 und 150 stehen folgende Wertpapiere gleich, wenn sie durch Druck und Papierart gegen Nachahmung besonders gesichert sind: 1. Inhaber- sowie solche Orderschuldverschreibungen, die Teile einer Gesamtemission sind, wenn in den Schuldverschreibungen die Zahlung einer bestimmten Geldsumme versprochen wird; 2. Aktien; 3. von Kapitalanlagegesellschaften ausgegebene Anteilscheine; 4. Zins-, Gewinnanteil- und Erneuerungsscheine zu Wertpapieren der in den Nummern 1 bis 3 bezeichneten Art sowie Zertifikate über Lieferung solcher Wertpapiere; 5. Reiseschecks, die schon im Wertpapiervordruck auf eine bestimmte Geldsumme lauten. 542
Achter Abschnitt: Geld- und Wertzeichenfälschung
§ 152
1. Die durch das EGStGB neu gefaßte und hier eingestellte Vorschrift übernimmt die Funktion des ehemaligen § 149, über dessen Anwendungsbereich sie jedoch insofern hinausgeht, als nicht nur Inhaberpapiere geschützt werden, sondern auch solche Wertpapiere, die im Geschäftsverkehr wegen ihres massenhaften Vorkommens und ihrer damit zusammenhängenden, dem Papiergeld ähnlichen Ausstattung besonderes Vertrauen genießen und deshalb zu einer gewissen Oberflächlichkeit bei der Echtheitsprüfung verleiten (vgl. RegE S. 229 BT-Drucks. 7/550). 2. Dem Anwendungsbereich der Vorschrift unterliegen a) Inhaberschuldverschreibungen sowie Orderschuldverschreibungen, soweit sie Teile einer Gesamtemission sind und das Versprechen der Zahlung einer bestimmten Geldsumme enthalten (Nr. 1). Siehe hierzu §§ 793 ff. BGB, insbesondere die in den §§ 795 und 808 a geforderte Pflicht staatlicher Genehmigung; b) Aktien (Nr. 2), und zwar - insofern abweichend vom früheren Recht - ohne Rücksicht darauf, ob es sich um Inhaber- oder Namensaktien handelt. Die in § 149 a. F. neben den Aktien aufgeführten Interimsscheine (Zwischenscheine) und Quittungen, die den Aktionären vor der Ausgabe von Aktienurkunden erteilt werden, fallen nicht mehr unter den Anwendungsbereich der Vorschrift, da sie nicht in Massen auftreten und im allgemeinen auch keine dem Papiergeld ähnliche Ausstattung haben (RegE S. 230 BT-Drucks. 7/550). Ihr Rechtsschutz vor Fälschungen ergibt sich nunmehr aus § 267; c) Investmentzertifikate (Nr. 3); d) Zins- und Gewinnanteilscheine (sog. Koupons) sowie Erneuerungsscheine der in den Nr. 1-3 bezeichneten Wertpapiere (Nr. 4). Bei den Zertifikaten über Lieferung solcher Wertpapiere handelt es sich um Schuldverschreibungen, in denen die Lieferung eines Wertpapiers versprochen wird. Sie fallen nicht unter Nr. 1, weil sie nicht auf eine bestimmte Geldsumme lauten. Derartige Zertifikate haben in letzter Zeit dadurch immer größere Bedeutung erlangt, daß sie anstelle der zugrundeliegenden Wertpapiere gehandelt werden; e) Reiseschecks, die schon im Wertpapiervordruck auf eine bestimmte Geldsumme lauten (Nr. 5). Diese Voraussetzungen liegen bei den z. Z. von den Kreditinstituten und Reisebüros ausgegebenen Reiseschecks in aller Regel vor und begründen ihren geldähnlichen Charakter. 3. Gegen Nachahmung besonders gesichert ist ein Wertpapier, wenn bei seiner Herstellung durch die besondere Art des Drucks sowie des Papiers (z. B. durch Wasserzeichen oder Einstreuung von Fasern, Seidenfäden usw.) wirksame Vorkehrungen gegen Fälschung getroffen worden sind. 4. Wegen der Konkurrenzen siehe § 146 Anm. 8.
§ 152
Geld, Wertzeichen und Wertpapiere eines fremden Währungsgebietes
Die §§ 146 bis 151 sind auch auf Geld, Wertzeichen und Wertpapiere eines fremden Währungsgebietes anzuwenden. 543
§ 152
Achter Abschnitt: Geld- und Wertzeichenfälschung
Die durch das EGStGB neu eingefügte Vorschrift stellt klar, daß die Vorschriften des 8. Abschnitts auch auf Geld, Wertzeichen und Wertpapiere eines fremden Währungsgebiets anzuwenden sind. Für Geld ergibt sich die Verpflichtung zu unterschiedslosem Strafschutz aus Art. 5 des Internationalen Abkommens zur Bekämpfung der Falschmünzerei v. 20. 4. 1929 (RGBl. 1933 II S. 913), für Postwertzeichen aus Art. 14 des Weltpostvertrags v. 10. 7. 1964 (BGBl. 1965 II S. 1609). Für eine abweichende Behandlung der übrigen Wertzeichen sowie der Wertpapiere besteht kein begründeter Anlaß.
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Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid (§§ 153-163)
Vorbemerkungen 1. Geschütztes Rechtsgut aller Tatbestände des 9. Abschnitts ist die staatliche Rechtspflege. Dies gilt auch für die eigentlichen Eidesdelikte, nämlich den Meineid (§ 154), die falsche Versicherung an Eides Statt (§§ 156, 163) und den fahrlässigen Falscheid (§ 163). Siehe hierzu vor allem BGH 8, 301, 309. 2. Da die staatliche Rechtspflege nur durch solche Aussagen beeinträchtigt werden kann, die objektiv der Wirklichkeit widersprechen, ist die Frage, ob eine Aussage falsch ist, objektiv zu beurteilen (sog. objektive Theorie, vgl. BGH 7, 148; h. L.; a. A. Gallas GA 1957, 315 m. Nachw.). Auf die innere Einstellung des Täters kommt es für die Frage, ob eine Aussage falsch ist, nur dort an, wo gerade die Überzeugung oder Erinnerung den Gegenstand der Aussage bildet. Hieraus folgt: a) Beschwört jemand eine Aussage, die objektiv falsch ist, die er aber für richtig hält, so kommt zwar kein Meineid gemäß § 154, wohl aber fahrlässiger Falscheid (§ 163) in Betracht, sofern der Irrtum auf Fahrlässigkeit beruht. b) Beschwört jemand eine objektiv richtige Aussage in der Meinung, sie sei falsch, so kommt nur versuchter, nicht vollendeter Meineid in Betracht. Vollendeter Meineid jedoch, wenn der Täter ausdrücklich über seine Überzeugung oder Erinnerung auszusagen hatte. 3. Nur der Meineid gemäß § 154 ist ein Verbrechen. Alle übrigen Straftatbestände des Abschnitts (§§ 153, 156,160, 163) enthalten Vergehen. 4. Der Versuch ist nur beim Meineid und im Falle des § 160 strafbar. Immer strafbar ist die versuchte Anstiftung (vgl. § 159). § 160 enthält einen Ersatz für die fehlende Möglichkeit, mittelbare Täterschaft anzunehmen. 5. Aus dem neueren Schrifttum über die Reform der Aussagedelikte siehe Engelmann, Glaubensfreiheit und Eidespflicht, MDR 1973, 365 im Anschluß an BVerfG NJW 1972, 1183; Hirsch, Uber die Gesellschaftsbezogenheit des Eides, Heinitz-Festschr. S. 139; Zipf, Die Problematik des Meineids innerhalb der Aussagedelikte, Maurach-Festschr. S. 415.
§ 153
Falsche uneidliche Aussage
Wer vor Gericht oder vor einer anderen zur eidlichen Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen zuständigen Stelle als Zeuge oder Sachverständiger uneidlich falsch aussagt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. 18
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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§ 153
Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid
1. Als Täter der durch das EGStGB im Strafrahmen neu gefaßten Vorschrift kommen nur Zeugen und Sachverständige in Betracht, nicht die Partei im Zivilprozeß (siehe jedoch § 154), ferner nicht der Beschuldigte im Strafprozeß. 2. Die Aussage muß falsch sein. Siehe hierzu Vorbem. 2. 3. Die Aussage muß erfolgen vor Gericht oder einer anderen zur eidlichen Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen zuständigen Stelle. Hierzu ist erforderlich, daß die Aussage in einem Verfahren erfolgt, in dem das Gesetz eine eidliche Vernehmung überhaupt zuläßt. Nicht zuständig sind Polizei und Staatsanwaltschaft, wohl aber die Untersuchungsausschüsse des Bundestags gemäß Art. 44 GG. 4. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Der Täter muß wissen, daß er als Zeuge oder Sachverständiger vernommen wird, daß seine Aussage falsch ist und unter die Wahrheitspflicht fällt und daß die ihn vernehmende Stelle zur Abnahme von Eiden zuständig ist. Bedingter Vorsatz genügt hinsichtlich aller Tatbestandsmerkmale. 5. Teilnahme ist nach allgemeinen Grundsätzen strafbar. Beihilfe kann auch durch Unterlassen begangen werden, sofern eine besondere Rechtspflicht zur Verhinderung der Falschaussage besteht. (Siehe hierzu ausführlich § 154 Anm. 6.) Sagt der zum Meineid Angestiftete entgegen der Vorstellung des Anstifters nur uneidlich falsch aus, so ist der Anstifter wegen erfolgloser Anstiftung zum Meineid (§§ 154, 30) in Tateinheit mit Anstiftung zur vorsätzlichen uneidlichen Falschaussage (§§ 153, 26) zu bestrafen (vgl. BGH 9,131). 6. Mittelbare Täterschaft ist begrifflich ausgeschlossen, da § 153 - wie alle übrigen Tatbestände dieses Abschnitts - ein eigenhändiges Delikt enthält (vgl. B I 6 vor § 1). Die fehlende Möglichkeit, mittelbare Täterschaft anzunehmen, wird jedoch durch § 160 ersetzt. 7. Vollendet ist die Tat nach Beendigung der jeweiligen Vernehmung, spätestens mit dem Schluß der Verhandlung im jeweiligen Rechtszug (vgl. BGH [GrS] 8, 301). Der Versuch ist mangels ausdrücklicher Strafdrohung nicht strafbar, wohl aber die versuchte Anstiftung (vgl. § 159). 8. Konkurrenzen. a) Mehrere falsche Aussagen können untereinander in Fortsetzungszusammenhang stehen, und zwar auch dann, wenn sie in verschiedenen Instanzen erfolgen. Die Annahme von Fortsetzungszusammenhang wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß die eine Aussage beschworen wurde, die andere nicht (BGH 8, 301). b) IdK. ist möglich mit §§ 164, 186, 187, 257, 258 und 263, mit fahrlässigem Falscheid (§ 163) dagegen nur ausnahmsweise, nämlich dann, wenn jemand vorsätzlich falsch aussagt und dabei fahrlässig der irrigen Auffassung ist, diese Aussage werde vom Eid nicht umfaßt, z. B. wenn ein Zeuge in der irrigen Meinung, der Eid beziehe sich nicht auch auf die Angaben zur Person, bewußt der Wahrheit zuwider aussagt, er sei ledig, während er in Wirklichkeit geschieden ist. 9. Siehe auch §§ 157,158. 546
Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid
§ 154
§ 154
Meineid
(1) Wer vor Gericht oder vor einer anderen zur Abnahme von Eiden zuständigen Stelle falsch schwört, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. 1. Im Gegensatz zur uneidlichen Falschaussage gemäß § 153 kommen als Täter eines Meineids nicht nur Zeugen und Sachverständige in Betracht, sondern auch die Partei im Zivilprozeß. Wegen Eidesunmündigen siehe unten Anm. 7. 2. Die Aussage muß falsch sein (vgl. Vorbem. 2 vor § 153). 3. Für die Eidesleistung genügt, daß der Täter die Worte spricht: „Ich schwöre." Nicht erforderlich ist, daß er dabei die Hand zum Schwur erhebt. Auch die religiöse Beteuerungsformel ist verziehtbar (vgl. §§ 66 c Abs. 2 und 3 StPO; 481 Abs. 2 und 3 ZPO). 4. Der Eid muß vor Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle geleistet werden. Siehe hierzu § 153 Anm. 3. 5. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Siehe hierzu § 153 Anm. 4, ferner: Der Täter muß wissen, daß die falsche Aussage von seinem Eid umfaßt wird. Der Vorsatz entfällt daher, wenn ein Zeuge falsche Personalien angibt und später den Eid leistet in der irrigen Annahme, dieser beziehe sich nur auf die Angaben zur Sache, nicht auch auf die Angaben zur Person. Hier kommt nur fahrlässiger Falscheid in Idealkonkurrenz mit vorsätzlicher uneidlicher Falschaussage in Betracht. 6. Teilnahme ist nach allgemeinen Grundsätzen strafbar. Beihilfe kann auch durch Unterlassen geleistet werden, sofern eine besondere Rechtspflicht besteht, die Aussageperson vom Meineid abzuhalten. Eine derartige Rechtspflicht kann jedoch nur ausnahmsweise angenommen werden. So können für eine Partei im Zivilprozeß weder die sich aus § 138 ZPO ergebende Wahrheitspflicht noch die Benennung eines Zeugen für eine unwahre Behauptung noch das wahrheitswidrige Bestreiten des gegnerischen Vorbringens für sich allein die Rechtspflicht begründen, die Falschaussage bzw. den Meineid eines Zeugen zu verhindern (vgl. BGH 4, 327; 5, 322; 17, 321). Vielmehr müssen noch besondere Umstände hinzukommen, die die Gefahr einer Falschaussage bzw. eines Meineids begründen oder verstärken, z. B. wenn die Partei einem zum Meineid entschlossenen Zeugen zu verstehen gegeben hat, daß sie keine Erklärung abgegeben habe oder abgeben werde, die der beabsichtigten Aussage entgegensteht (BGH 2, 129). Beihilfe durch positives Tun hegt dagegen vor, wenn eine Partei im Zivilprozeß oder ein Beschuldigter im Strafprozeß vor der Vereidigung des Zeugen auf Frage des Gerichts ausdrücklich erklärt, er habe zu der Aussage des Zeugen keine Erklärung abzugeben (vgl. BGH NJW 1958, 956). Die Beihilfe ist hier darin zu sehen, daß der Zeuge in seinem Entschluß, die falsche Aussage auch auf seinen Eid zu nehmen, bestärkt wird. In krassem Gegensatz zu der allgemeinen Tendenz, die Fälle der Meineidsbeihilfe durch Unterlassen möglichst einzuschränken, steht die Entscheidung KG JR 1969, 27 m. Anm. 18'
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§ 154
Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid
Lackner, derzufolge ein Vater, der wegen eines Bagatelldelikts als Angeklagter vor Gericht stand, für verpflichtet gehalten wurde, seinen Sohn davon abzuhalten, mit Rücksicht auf die verwandtschaftlichen Beziehungen zu seinen Gunsten falsch auszusagen. Die Entscheidung ist entschieden abzulehnen (vgl. Lackner aaO. sowie Blei JA 1969, StR S. 50). Zum Ganzen siehe auch Ebert JuS 1970,400. 7. Die Strafbarkeit eines Meineids wird nicht dadurch berührt, daß die Vereidigung prozessual unzulässig war, z. B. wenn ein Zeuge wegen Eidesunmündigkeit oder Verdachts der Tatbeteiligung nicht hätte vereidigt werden dürfen (vgl. § 60 StPO). Bei Eidesunmündigen ist jedoch gemäß § 3 JGG genau zu prüfen, ob sie schon in der Lage waren, die Bedeutung des Eides und den Unrechtsgehalt der Tat zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln (vgl. RG [GrSen] 36, 284, 295; Willms LK 11; Dreher 11 vor § 153; Lackner 1; a. A. Lenckner in Schönke-Schröder 30 vor § 153: bei eidesunmündigen Personen hat das Verständnis vom Wesen des Eides kraft unwiderlegbarer Vermutung als ausgeschlossen zu gelten). Zum Ganzen siehe auch Hruschka/Kässer JuS 1972, 709, 711; Quedenfeld JZ 1973,238. Ein minder schwerer Fall i. S. von Abs. 2 liegt vor allem dann vor, wenn der Meineid von einer Person geleistet wird, die sich in einem Gewissenskonflikt befindet, z. B. wenn der Meineid zugunsten eines Angehörigen geleistet wird oder wenn der Täter im Falle einer wahrheitsgemäßen Aussage berechtigte Interessen hätte aufs Spiel setzen müssen. Hierher gehören auch die Fälle, in denen ein Zfeuge, dem ein Zeugnisverweigerungsrecht gemäß §§ 52 StPO, 383 ZPO zustand, hierüber versehentlich nicht belehrt wurde, ferner der Fall, daß die Belehrung gemäß § 55 StPO unterblieben ist oder ein Tatverdächtiger entgegen der zwingenden Vorschrift des § 60 Nr. 2 StPO vereidigt worden ist (vgl. BGH NJW 1958, 1832; BGH 8, 186; 19, 115; 23, 30). Hierbei ist es unerheblich, ob das Gericht, das die Vereidigung vornahm, die Gründe, die der Vereidigung entgegenstanden, erkennen konnte. Entscheidend ist allein der Interessenkonflikt, in dem sich der Zeuge bei seiner Vereidigung befand. Auf Teilnehmer hat diese Strafmilderung keine Auswirkungen (BGH 27, 74). Siehe auch § 157. 8. Konkurrenzen a) Mehrere Eidesverletzungen können untereinander in Fortsetzungszusammenhang stehen. Beispiel: A bekundet als Zeuge vorgefaßtem Tatentschluß zufolge sowohl in erster als auch in zweiter Instanz bewußt der Wahrheit zuwider, sein Bruder B sei zur fraglichen Zeit zusammen mit ihm im Kino gewesen. Fortsetzungszusammenhang wäre hier auch dann möglich, wenn A in einer der beiden Verhandlungen als Angehöriger des A gemäß § 6 1 Nr. 2 StPO unvereidigt geblieben wäre. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß der Meineid kein eigenständiges Delikt mit selbständigem Unrechtsgehalt, sondern lediglich eine erschwerte Form der uneidlichen Falschaussage darstellt (vgl. BGH [GrSen] 8, 301). b) IdK. ist möglich mit §§ 145 d, 164,186 f., 257 f., 263. 9. Wahlfeststellung a) Kann das Gericht nicht feststellen, welche von mehreren eidlichen Aussagen desselben Täters falsch ist, so hindert dies eine Verurteilung wegen Meineids nicht. In den Urteilsgründen ist dann lediglich festzustellen, daß entweder diese oder jene Aussage falsch ist. 548
Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid
§ 155
b) Ist von zwei Aussagen entweder die eidliche oder die uneidliche falsch, so erfolgt die Verurteilung nach den Grundsätzen der Wahlfeststellung. Die Strafe ist in diesem Fall dem milderen Gesetz, normalerweise also dem Tatbestand des § 153, zu entnehmen (vgl. BGH NJW 1957, 1886). Ausnahmsweise ist jedoch die eidliche Aussage zugrunde zu legen, wenn dies zu einer milderen Bestrafung führen kann, z. B. wenn sich der Angeklagte zwar hinsichtlich der eidlichen Aussage, nicht aber hinsichtlich der uneidlichen auf den Eidesnotstand des § 157 berufen könnte (vgl. BGH 13, 70). b) Bleibt unklar, ob jemand einen Falscheid vorsätzlich oder fahrlässig geleistet hat, so ist zu seinen Gunsten davon auszugehen, daß er nur fahrlässig gehandelt hat (vgl. BGH 4, 340; 17,210). d) Zulässig ist die Wahlfeststellung zwischen Meineid und falscher Versicherung an Eides Statt (vgl. Hamm GA 1974, 84 m. krit. Anm. Blei JA 1974, StR 85; Lenckner in Schönke-Schröder 50). e) Wahlfeststellung ist schließlich auch dann möglich, wenn sich nicht mehr feststellen läßt, ob jemand einen anderen zunächst wissentlich falsch angeschuldigt oder bei einer späteren richterlichen Vernehmung als Zeuge die Unwahrheit gesagt hat (Braunschweig NJW 1959, 1144; a. A. Lenckner in Schönke-Schröder § 164 Rn. 39). Beispiel: Die A erstattet Anzeige bei der Polizei unter der Behauptung, ihr Vater habe sie vergewaltigt. Später bekundet sie vor Gericht, alles sei gelogen.
§ 155
Eidesgleiche Bekräftigungen
Dem Eid stehen gleich 1. die den Eid ersetzende Bekräftigung, 2. die Berufung auf einen früheren Eid oder auf eine frühere Bekräftigung. 1. Die durch das ErgG zum 1. StVRG v. 20. 12. 1974 (BGBl. I 3686) grundlegend umgestaltete Vorschrift bezieht sich nicht nur auf die Fälle des § 154, sondern auch auf die §§ 160 und 163. Gesetzesmaterialien: BT-Drucks. 7/2526 (RegE) und S. 9 BTDrucks. 7/2989 (Ber. d. Rechtsausschusses). 2. Anliegen der Nr. 1 ist es, im Falle einer Eidesverweigerung aus Glaubens- oder Gewissensgründen eine unter den Voraussetzungen der §§ 66 d StPO oder 484 ZPO abgegebene Bekräftigung der Wahrheit für den Fall, daß sich die bekräftigten Angaben als falsch erweisen sollten, in ihren Rechtsfolgen dem Meineid (§ 154), der Verleitung zum Falscheid (§ 160) und dem fahrlässigen Falscheid (§ 163) gleichzustellen. 3. Der Anwendungsbereich der Nr. 2 erfaßt a) die Berufung auf einen in derselben Angelegenheit früher geleisteten Zeugen-, Sachverständigen- oder Parteieid (vgl. §§ 67, 72, 79 Abs. 1 und 2 StPO sowie §§ 398 Abs. 3, 402,410 Abs. 1,451 ZPO); b) die Berufung eines allgemein vereidigten Sachverständigen auf den von ihm allgemein geleisteten Eid (vgl. §§ 79 Abs. 3 StPO, 410 Abs. 2 ZPO);
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§ 156
Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid
c) die Berufung eines Beamten auf seinen Diensteid (seltener Fall; s. hierzu § 386 Abs. 2 ZPO sowie RG 25,96,99). 3. Der Urteilstenor geht dahin, daß der Angeklagte „wegen einer vorsätzlichen (fahrlässigen) falschen eidesgleichen Bekräftigung" (§ 155 i. V. mit §§ 154, 163) oder „wegen Verleitung zu einer falschen eidesgleichen Bekräftigung" (§ 155 i. V. mit § 160) zu Strafe verurteilt wird. 4. Beachte §§ 157-159.
§ 156
Falsche Versicherung an Eides Statt
Wer vor einer zur Abnahme einer Versicherung an Eides Statt zuständigen Behörde eine solche Versicherung falsch abgibt oder unter Berufung auf eine solche Versicherung falsch aussagt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Schrifttum: Blomeyer, Die falsche eidesstattliche Versicherung im Verfahren des Arrestes und der einstweiligen Verfügung, JR 1976, 441; - Schubath, Zur Strafbarkeit einer wissentlich falschen Versicherung an Eides Statt im Strafverfahren, MDR 1972,744. 1. Die Form der eidesstattlichen Versicherung ist unerheblich. Die Abgabe kann mündlich oder schriftlich erfolgen. Der Tatbestand ist dagegen noch nicht erfüllt, wenn jemand die eidesstattliche Versicherung seinem Anwalt vorlegt und dieser vorsichtshalber die Erklärung noch nicht an das Gericht oder die sonst zuständige Stelle weiterleitet, sondern lediglich erklärt, er besitze eine eidesstattliche Versicherung mit einem bestimmten Inhalt. Dies gilt selbst dann, wenn der Anwalt eine Abschrift der in seinen Händen befindlichen eidesstattlichen Versicherung vorlegt (vgl. RG 70,133). 2. Die Zuständigkeit der Behörde ist ein objektives Tatbestandsmerkmal, auf das sich der Vorsatz beziehen muß (BGH 24,38). Im einzelnen: a) Die Behörde muß zunächst allgemein zur Abnahme von eidesstattlichen Versicherungen zuständig sein. Diese Voraussetzung ist auch ohne besondere gesetzliche Bestimmungen dann gegeben, wenn eine Behörde auf Grund eines förmlichen Beweisverfahrens selbständige Entscheidungen zu treffen hat. Allgemein zuständig in diesem Sinn sind insbesondere die Gerichte der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit, die Verwaltungs-, Sozial- und Arbeitsgerichte, Finanzämter und Finanzgerichte, Notare, Landratsämter, Landesversicherungsanstalten, nicht jedoch Polizei und Staatsanwaltschaft, Krankenkassen, Wohnungs- und Fürsorgeämter. b) Darüber hinaus ist erforderlich, daß die eidesstattliche Versicherung rechtlich nicht völlig wirkungslos ist (vgl. BGH 5, 69; 13, 154; 17, 303; BGH JR 1962, 464). Wirkungslos ist die eidesstattliche Versicherung dann, wenn sie in dem Verfahren, zu dem sie eingereicht wird, oder über den Gegenstand, auf den sie sich bezieht, nicht abgenommen werden darf, z. B. wenn ein Angeklagter im Strafprozeß zum Beweis seiner Unschuld
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Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid
§ 156
dem Gericht eine eidesstattliche Versicherung vorlegt (BGH 24, 38) oder wenn eine Partei im Zivilprozeß ihre Klagebehauptung durch eine eidesstattliche Versicherung erhärten will. c) Weitere Beispiele: Im Bereich der ZPO ist die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung überall dort zulässig, wo es genügt, eine tatsächliche Behauptung glaubhaft zu machen (vgl. § 294 ZPO), z. B. wenn es darum geht, ein Zeugnisverweigerungsrecht oder einen Ablehnungsgrund glaubhaft zu machen (vgl. §§ 386, 44 ZPO), vor allem aber im Armenrechtsverfahren (vgl. § 1 1 8 a ZPO), im Zwangsvollstreckungsverfahren (vgl. §§ 707, 719, 769, 771, 813 a ZPO) und bei der einstweiligen Verfügung (vgl. § 936 i. V. mit § 920 Abs. 2 ZPO). Ausnahmen: §§ 44 Abs. 2,406 Abs. 3 , 5 1 1 a Abs. 2 ZPO. Im Bereich der StPO gibt es eine dem § 294 ZPO entsprechende Bestimmung für die Zulässigkeit von eidesstattlichen Versicherungen zur Glaubhaftmachung nicht. Dies bedeutet nun allerdings nicht, daß eidesstattliche Versicherungen im Bereich der StPO generell unzulässig und wirkungslos sind. So ist es zulässig, daß ein Zeuge zur Glaubhaftmachung seines Zeugnisverweigerungsrechts (vgl. § 56 StPO) eine eidesstattliche Versicherung abgibt (vgl. RG 58, 147). Geht es um die Glaubhaftmachung eines Wiedereinsetzungsgrunds (vgl. § 45 StPO) oder eines Gesuchs um Ablehnung eines Richters, so wird in der Rechtsprechung zwar die eidesstattliche Versicherung von Zeugen, nicht aber eine solche des Beschuldigten als zulässig angesehen (vgl. RG 57, 53; 70, 268; BayObLG NJW 1954,204). Entsprechendes gilt im Bußgeldverfahren (Hamm NJW 1974, 327). Unzulässig sind eidesstattliche Versicherungen im Wiederaufnahmeverfahren (vgl. BGH 17,303). 3. Eine besondere Bedeutung hat die seit dem 1. 7. 1970 an die Stelle des früheren Offenbarungseids getretene eidesstattliche Versicherung in den Fällen der §§ 259-261, 2006, 2028, 2057 BGB, 807, 883, 899 ff. ZPO, 125 KO, 69 VerglO. In der Praxis stehen in diesem Zusammenhang die Fälle des § 807 ZPO im Vordergrund. Nach § 807 Abs. 2 S. 1 ZPO hat der Schuldner zu Protokoll des Rechtspflegers (über dessen Zuständigkeit siehe § 20 Nr. 17 RechtspflegerG) an Eides Statt zu versichern, daß er die von ihm verlangten Angaben nach bestem Wissen und Gewissen richtig und vollständig gemacht hat. Die eidesstattliche Versicherung (EV) kann daher auch dann „falsch" sein, wenn das Vermögensveizeichnis unvollständig ist. Im einzelnen: a) Die EV erfaßt Angaben des Schuldners über seine persönlichen Verhältnisse (Personalien) nur, soweit sie für den Gläubiger von Interesse sind, z. B. wenn jemand ein Arbeitsverhältnis verschweigt und dadurch den Zugriff des Gläubigers erwchwert (BGH 11, 223). Der Tatbestand des § 156 ist dagegen nicht erfüllt, wenn ein arbeitsloser Eisenanstreicher sich der Wahrheit zuwider als Malermeister bezeichnet (vgl. BGH aaO.). Auch falsche Angaben über die berufliche Tätigkeit sind ganz allgemein dann unschädlich, wenn sich aus der richtigen Berufsangabe für den Gläubiger kein Zugriff auf greifbare Vermögensstücke des Schuldners ergeben würde (BGH NJW 1968, 2251). Ob die irrige Annahme des Schuldners, er müsse auch insoweit wahre Angaben machen, einen Versuch begründet (so BGH 11, 226) oder ob es sich nur um ein Wahndelikt handelt (so BGH 14, 345), kann nach der Umwandlung des Offenbarungseids in eine eidesstattliche Versicherung auf sich beruhen, da der Versuch in § 156 nicht mit Strafe bedroht ist. b) Auch unpfändbare Sachen müssen angegeben werden. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß in der Regel keineswegs alles, was der Schuldner für unpfändbar hält, wirklich unpfändbar ist und in manchen Fällen auch die Möglichkeit einer sogenannten Austausch551
§ 156
Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid
pfändung besteht, vgl. § 811 a ZPO. Der Gläubiger hat also ein berechtigtes Interesse daran, daß auch die unpfändbaren Gegenstände des Schuldners im Vertnögensverzeichnis aufgeführt werden (vgl. RG 71, 300; BGH NJW 1956, 756; BGH 13, 345, 349; 14, 345, 348). c) Auch unter Eigentumsvorbehalt gekaufte Gegenstände müssen angegeben werden. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß der Abschluß eines Kaufvertrags unter Eigentumsvorbehalt dem Käufer ein Anwartschaftsrecht verschafft, das als Bestandteil seines Vermögens anzusehen ist. Das Anwartschaftsrecht ist auch dann anzugeben, wenn zu seiner Ausübung mehr aufgewendet werden muß, als das Recht selbst oder die hinter ihm stehende Sache wert ist. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß die wirtschaftliche Verwertbarkeit eines solchen Rechts Wandlungen unterworfen ist (BGH 13, 345). Entsprechendes gilt für Sachen, die zur Sicherung übereignet sind. d) Völlig wertlose Sachen, z. B. ein alter, unbrauchbarer Ofen, müssen nicht angegeben werden. e) Forderungen unterliegen auch dann der Offenbarungspflicht, wenn sie zweifelhaft, bestritten oder mit Rechten Dritter belastet sind und daher z. Z. der Offenbarung nicht oder nur mit Schwierigkeiten geltend gemacht werden können (vgl. BGH 13,345,350). f) Falsche Angaben zu Fragen, die gemäß § 807 ZPO nicht beantwortet werden müssen, begründen keine Strafbarkeit (BGH 19, 126 m. weit. Nachw.). Beispiel: Hat der Schuldner ein früher in seinem Besitz befindliches Radio vor der Eidesleistung an einen Freund veräußert, so ist er gemäß § 807 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht verpflichtet, hierüber Angaben zu machen. Gibt er bei Abgabe der EV der Wahrheit zuwider an, er habe das Radio verloren oder vernichtet, so liegt lediglich ein strafloses Wahndelikt vor (vgl. BGH 14, 345). g) Eine falsche Versicherung an Eides Statt liegt auch dann vor, wenn der Schuldner Sachen als sein Eigentum angibt, die ihm gar nicht gehören. Hier läuft der Gläubiger nämlich Gefahr, daß er Pfändungen vornehmen läßt, die der Gefahr einer Drittwiderspruchsklage gemäß § 771 ZPO ausgesetzt sind, während gleichzeitig wertvolle Zeit für den Zugriff auf schuldnereigene Gegenstände verloren geht (vgl. BGH 7,375). 4. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Der Täter muß wissen, daß seine Erklärung falsch oder unvollständig ist und daß er sie vor einer zuständigen Stelle abgibt. Bedingter Vorsatzgenügt. Bei fahrlässiger Begehungsweise siehe § 163 Abs. 1. 5. Der Versuch ist nicht strafbar, wohl aber die versuchte Anstiftung (vgl. § 159). 6. Teilnahme ist nach allgemeinen Grundsätzen strafbar. Beihilfe liegt z. B. dann vor, wenn A für B eine Dissertation anfertigt, obwohl er weiß, daß B bei Abgabe der Arbeit der Fakultät gegenüber eidesstattlich versichern muß, daß er die Arbeit ohne fremde Hilfe gefertigt habe (vgl. RG 75, 112). Wegen versuchter Anstiftung siehe § 159; die Verleitung eines Gutgläubigen oder Geisteskranken ist gemäß § 160 strafbar. 7. Konkurrenzen: IdK. ist vor allem denkbar mit §§ 169,171,263, 272. 8. Siehe auch § 158. 552
Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid § 157
§ 157
Aussagenotstand
(1) Hat ein Zeuge oder Sachverständiger sich eines Meineids oder einer falschen uneidlichen Aussage schuldig gemacht, so kann das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 4 9 Abs. 2) und im Falle uneidlicher Aussage auch ganz von Strafe absehen, wenn der Täter die Unwahrheit gesagt hat, um von einem Angehörigen oder von sich selbst die Gefahr abzuwenden, bestraft oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung unterworfen zu werden. (2) Das Gericht kann auch dann die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 4 9 Abs. 2) oder ganz von Strafe absehen, wenn ein noch nicht Eidesmündiger uneidlich falsch ausgesagt hat. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift gilt nur für Zeugen und Sachverständige, nicht auch für die Partei im Zivilprozeß (BGH 3, 320; Dreher 1). Auch Anstifterund Gehilfen können, da sie nicht unter Aussagezwang stehen, die Vergünstigungen der Vorschrift nicht für sich in Anspruch nehmen (BGH 1, 23; 3, 320; Dreher 1; Lackner 1; Maurach BT 699 f.; a. A. Bemmann, Mayer-Festschrift 485,491 m. weit. Nachw.). 2. Im Falle einer uneidlichen Falschaussage (§ 153) kann das Gericht von Strafe absehen, bei einer Eidesverletzung kann die Strafe nur gemildert werden. Die Art der Milderung richtet sich nach § 49 Abs. 2. Auf § 156 bezieht sich die Vorschrift seit der Neufassung durch das EGStGB nicht mehr. Hierzu besteht auch kein Anlaß mehr, da § 156 ohnehin nur das gesetzliche Mindestmaß der Freiheitsstrafe androht und neben die Freiheitsstrafe die wahlweise Androhung der Geldstrafe tritt. 3. Der Täter muß in der Absicht handeln, die Gefahr einer gerichtlichen Bestrafung oder einer freiheitsentziehenden MaSregel von sich oder einem Angehörigen ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 1) abzuwenden. Nicht ausreichend ist die Gefahr, wegen einer Ordnungswidrigkeit (vgl. BayObLG NJW 1971, 630 sowie Ber. S. 13 BT-Drucks. 7/1261) oder eines Dienstvergehens (Dreher 8; Lackner 2) verfolgt zu werden. Unerheblich ist, ob tatsächlich die Gefahr einer gerichtlichen Bestrafung besteht. Entscheidend ist die Vorstellung des Täters (BGH 8, 301; h. L.). 4. Als Vortaten kommen alle strafbaren Handlungen in Betracht, auch Aussagedelikte gemäß §§ 153 ff. Auf § 157 kann sich daher auch der berufen, der in 2. Instanz nur deshalb an seiner schon in 1. Instanz gemachten falschen Aussage festhält, weil er fürchtet, im Falle einer wahrheitsgemäßen Aussage wegen seiner falschen Aussage in 1. Instanz zur Verantwortung gezogen zu werden. Dies gilt allerdings nicht, wenn die Voraussetzungen des Fortsetzungszusammenhangs gegeben sind. In diesem Fall müßten die Aussagen in 1. und 2. Instanz als einheitliche Falschaussage gewertet werden, so daß für § 157 kein Raum bleibt (BGH [GrSen] 8, 319). Ebensowenig kann sich auf § 157 berufen, wer in derselben Instanz eine zunächst uneidlich gemachte Falschaussage nur deshalb beschwört, weil er fürchtet, wegen der uneidlichen Falschaussage bestraft zu werden. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß die Falschaussage ihre eigenständige Bedeutung verliert, sobald der Täter sie auf seinen Eid nimmt (vgl. BGH aaO.). 553
§ 158
Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid
5. Die Vorschrift findet auch dann Anwendung, wenn der Täter die Zwangslage verschuldet hat. Beispiel: A sagt als Zeuge falsch aus, weil er befürchtet, bei wahrheitsgemäßen Angaben wegen falscher Verdächtigung zur Verantwortung gezogen zu werden (vgl. BGH 7, 332). 6. Die Möglichkeit, die Strafe zu mildern oder ganz von Strafe abzusehen, besteht gemäß Abs. 2 auch für uneidliche Falschaussagen von Eidesunmündigen, d. h. Personen, die zwar das 14., aber noch nicht das 16. Lebensjahr vollendet haben (vgl. § 60 Nr. 1 StPO). § 157 ist hier aber nur zu prüfen, wenn sich nicht bereits aus § 3 JGG ergibt, daß der Jugendliche mangels Reife für die Tat strafrechtlich nicht verantwortlich ist. Wegen einer eidlichen Falschaussage eines Eidesunmündigen siehe § 154 Anm. 7. 7. Andere Straftaten, die mit einer unter den Voraussetzungen des § 157 begangenen Falschaussage tateinheitlich zusammentreffen, z. B. Betrug, Begünstigung, falsche Verdächtigung, behalten ihre eigenständige Bedeutung. Die Strafe kann allerdings auch hier nach allgemeinen Grundsätzen gemildert werden. Die Möglichkeit, von Strafe ganz abzusehen, besteht dagegen nicht. 8. Prozessual beachte §§ 153 b, 465 Abs. 1 S. 2 StPO.
§ 158
Berichtigung einer falschen Angabe
(1) D a s Gericht kann die Strafe wegen Meineids, falscher Versicherung an Eides Statt oder falscher uneidlicher Aussage nach seinem Ermessen mildern (§ 4 9 Abs. 2) oder von Strafe absehen, wenn der Täter die falsche Angabe rechtzeitig berichtigt. (2) D i e Berichtigung ist verspätet, wenn sie bei der Entscheidung nicht mehr verwertet werden kann oder aus der Tat ein Nachteil für einen anderen entstanden ist oder wenn schon gegen den Täter eine Anzeige erstattet oder eine Untersuchung eingeleitet worden ist. (3) D i e Berichtigung kann bei der Stelle, der die falsche Angabe gemacht worden ist oder die sie im Verfahren zu prüfen hat, sowie bei einem Gericht, einem Staatsanwalt oder einer Polizeibehörde erfolgen. 1. Die durch das EGStGB nur redaktionell geänderte Vorschrift enthält einen persönlichen Strafaufhebungs- bzw. Straf milderungsgrund. Sie bezieht sich auf alle Fälle der §§ 153, 154, 156. Ihre Besonderheit besteht darin, daß der Täter sich durch tätige Reue ausnahmsweise auch noch nach Vollendung des Delikts Straffreiheit verschaffen kann. Blieb die Tat im Versuchsstadium, so ist nach allgemeinen Grundsätzen zu prüfen, ob der Täter sich mit strafbefreiender Wirkung auf § 24 berufen kann. Beispiel: A bekundet als Zeuge vor dem Schöffengericht bewußt der Wahrheit zuwider, der Angeklagte X habe sich zur Tatzeit in seiner Wohnung aufgehalten, könne also die ihm zur Last gelegte Tat nicht begangen haben. Nachdem er zum Nachsprechen der Eidesformel angesetzt hat, kommen ihm Bedenken. Wenn er nun seine Aussage freiwillig 554
Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid
§ 158
berichtigt, so ist zunächst festzustellen, daß er sich eines versuchten Meineids schuldig gemacht hat, dieser aber gemäß § 24 Abs. 1 straflos bleibt. Eine Bestrafung wegen uneidlicher Falschaussage nach § 153 kann ebenfalls nicht erfolgen, da ein Aussagedelikt in jedem Fall nur der Würdigung unter dem Blickwinkel des § 154 unterliegt, sobald es zum Versuch dieses Verbrechens gekommen ist. 2. Auch Teilnehmer (Anstifter und Gehilfen) können sich auf die Vergünstigungen des § 158 berufen, allerdings nur dann, wenn sie selbst mit Erfolg auf eine rechtzeitige Berichtigung hingewirkt haben. Die Tatsache, daß der Täter die Aussage rechtzeitig berichtigt hat, genügt für sich allein noch nicht, um auch dem Teilnehmer Straffreiheit oder Strafmilderung zu verschaffen. Einzelheiten siehe BGH NJW 1951, 727 und BGH 4, 172. 3. Auf die versuchte Tat ist § 158 nur dann anwendbar, wenn sich die Straffreiheit nicht schon aus § 24 ergibt (BGH 4, 173). Dies wäre etwa dann der Fall, wenn die Aussage zwar rechtzeitig, aber nicht freiwillig berichtigt worden ist (vgl. BGH aaO.; Willms LK3). 4. Die Berichtigung verlangt eine eindeutige und ausdrückliche Erklärung. Die unrichtige Darstellung muß in allen nicht völlig nebensächlichen Punkten durch Mitteilung der Wahrheit ersetzt werden. Es genügt daher nicht, daß der Täter seine unrichtige Darstellung nur widerruft oder bei einer späteren Vernehmung sich darauf beschränkt, nach Belehrung gemäß § 55 StPO die weitere Aussage zu verweigern (vgl. BGH 18, 348). Da die Berichtigung mehr ist als ein Widerruf, genügt es auch nicht, daß der Täter sich darauf beschränkt, bei einer erneuten Vernehmung eine richtige Darstellung zu geben. Dies wäre lediglich ein Widerspruch zu der früheren Aussage. Er muß vielmehr eindeutig zu erkennen geben, daß die frühere Aussage falsch war (BGH 21, 115). Läßt sich nicht klären, ob die berichtigte oder die berichtigende Aussage richtig war, so ist nach dem Grundsatz „in dubio pro reo" zu verfahren (BayObLG NJW 1976, 860 m. zust. Anm. Stree JR 1976,470; siehe auch Blei JA 1976, StR S. 43 und Küper NJW 1976,1828). 5. Die Berichtigung ist verspätet (vgl. Abs. 2), wenn sie a) bei der Entscheidung nicht mehr verwertet werden kann oder b) bereits ein Nachteil für einen anderen entstanden ist oder c) bereits Anzeige erstattet oder eine Untersuchung eingeleitet worden ist. Zu a): Eine rechtskräftige Entscheidung ist nicht erforderlich; es muß aber eine Entscheidung ergangen sein, die die jeweilige Instanz abschließt. Zu b): Als Nachteil gilt jede Beeinträchtigung der Rechtsstellung, die über die bloße Verschlechterung der Beweislage hinausgeht (vgl. BGH NJW 1962,2164 mit weit. Nachweisen und Beispielen). Zu c): Ob der Täter weiß, daß bereits eine Anzeige gegen ihn vorliegt bzw. daß ein Verfahren gegen ihn eingeleitet ist, ist unerheblich, da es bei § 158 - anders als bei §§ 24, 31 - nicht auf die Freiwilligkeit, sondern nur auf die Rechtzeitigkeit ankommt (vgl. BGH 4, 172,175; Dreher4; Lackner 3; WillmsLK 3). 555
§§ 159,160
Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid
6. Ob das Gericht die Strafe mildert oder ganz von Strafe absieht, steht in seinem Ermessen (vgl. § 49 Abs. 2). Hierbei darf nicht zu Lasten des Täters berücksichtigt werden, daß die Wahrheit der berichtigenden Aussage nicht erwiesen ist (BayObLG NJW 1976, 861). 7. Prozessual zu beachten sind §§ 153 b, 465 Abs. 1 Satz 2 StPO.
§ 159
Versuch der Anstiftung zur Falschaussage
Für den Versuch der Anstiftung zu einer falschen uneidlichen Aussage (§ 153) und einer falschen Versicherung an Eides Statt (§ 156) gelten § 3 0 Abs. 1 und § 3 1 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 entsprechend. 1. Anliegen der durch das EGStGB neu gefaßten Vorschrift ist es, den Anwendungsbereich des § 30 Abs. 1 auf die Vergehenstatbestände der §§ 153, 156 auszudehnen. Die Strafbarkeit der versuchten Anstiftung zum Meineid ergibt sich dagegen unmittelbar aus § 30. Kommt es aufgrund der Einwirkung des Anstifters zu einem Versuch der §§ 153, 156, der jedoch mangels Strafdrohung nicht strafbar ist, so findet § 159 keine Anwendung. § 30 kommt zwar auch dann in Betracht, wenn die Tat im Falle ihrer Ausführung nur zu einem Versuch hätte führen können; dieser Gedanke darf jedoch nicht auf § 159 übertragen werden, da § 30 sich nur auf Verbrechen bezieht, bei denen der Versuch immer strafbar ist, während er bei den §§ 153, 156 nie strafbar ist (BGH 24, 38 m. zust. Anm. Blei JA 1971, StR S. 79; Willms LK 2; a. A. Dreher MDR 1971, 410; Lackner 3; Schröder JZ 1971,564). 2. Wie bei § 30 muß auch bei § 159 der Vorsatz des Anstifters darauf gerichtet sein, daß der von ihm Aufgeforderte vorsätzlich falsch aussagt bzw. vorsätzlich eine falsche Versicherung an Eides Statt abgibt. Hält er die Aussageperson für gutgläubig, so kommt nicht § 159, sondern § 160 in Betracht. 3. Beispiel: Der Angeklagte A fordert seinen Bruder B auf, ihm als Zeuge vor Gericht der Wahrheit zuwider zu bestätigen, er sei zur fraglichen Tatzeit zu Hause gewesen, könne also den ihm zur Last gelegten Diebstahl nicht begangen haben. A weiß, daß B als Angehöriger nicht vereidigt werden wird (vgl. § 61 Nr. 2 StPO). Sagt B tatsächlich falsch aus, so ist A wegen Anstiftung zur vorsätzlichen uneidlichen Falschaussage gemäß §§ 153, 26 zu bestrafen. § 159 ist ohne Bedeutung. § 159 kommt jedoch dann in Betracht, wenn B sich entweder weigert, Angaben zu machen (vgl. § 52 StPO), oder wenn er entgegen der Erwartung des A wahre Angaben macht.
§ 160
Verleitung zur Falschaussage
(1) Wer einen anderen zur Ableistung eines falschen Eides verleitet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft; wer einen anderen zur Ableistung einer falschen Versicherung an Eides Statt oder einer fal556
Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid
§ 160
sehen uneidlichen Aussage verleitet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Die Vorschrift bezieht sich nicht nur auf den Meineid, sondern auch auf die Tatbestände der §§ 153,156. Sie ersetzt die fehlende Möglichkeit, mittelbare Täterschaft anzunehmen (vgl. B I 6 vor § 1), und setzt im Normalfall voraus, daß die Aussageperson gutgläubig ist und derjenige, der sie zur Aussage verleitet, dies auch weiß. Der Begriff des Verleitens ist also - ähnlich wie in § 144 - in aller Regel mit einer Täuschung verbunden. Aus dem neueren Schrifttum siehe insbesondere Gallas, Engisch-Festschr. S. 600; HruschkaJZ 1967, 210. Beispiel: A bittet B, ihm als Zeuge vor Gericht zu bestätigen, er sei am 10. 1. mit ihm im Kino gewesen. B kann sich zwar nicht mehr recht erinnern, läßt sich aber von A überzeugen und sagt vor Gericht dementsprechend aus. In Wirklichkeit waren A und B nicht am 10. 1., sondern erst am 11. 1. im Kino, wie A genau wußte. Wird B auf seine in gutem Glauben gemachte, objektiv falsche Aussage vereidigt, so kommt für ihn Strafbarkeit wegen fahrlässigen Falscheids (§ 163 Abs. 1) in Betracht; A ist gemäß § 160 zu bestrafen. 2. § 160 kommt ferner dann in Betracht, wenn die Aussageperson zwar nicht gutgläubig, dafür aber geisteskrank ist und der Hintermann dies weiß. Hier käme normalerweise mittelbare Täterschaft in Betracht. Da aber alle Aussagedelikte eigenhändige Delikte sind, mittelbare Täterschaft somit ausscheidet, kann auch dieser Fall nur durch § 160 erfaßt werden (vgl. Lenckner in Schönke-Schröder 1; Mezger-Blei BT 277; sehr str., vgl. Gallas aaO.; Willms LK 5). 3. Der Versuch ist gemäß Abs. 2 unter Strafe gestellt. Versuch kommt vor allem dann in Betracht, wenn die Aussageperson, die zu einer Falschaussage verleitet werden soll, entweder überhaupt nicht vernommen wird oder entgegen der Vorstellung des Hintermanns richtig aussagt. 4. Behandlung der Irrtumsprobleme: a) § 160 kommt auch dann zur Anwendung, wenn die Aussageperson entgegen der Vorstellung des Hintermanns nicht gutgläubig, sondern vorsätzlich falsch aussagt, z. B. einen Meineid schwört. Anstiftung zum Meineid scheidet aus, da der Hintermann nicht den Anstiftervorsatz hatte. Die Frage, ob die Bestrafung wegen Anstiftung zum Meineid oder gemäß § 160 zu erfolgen hat, wirkt sich hier besonders deshalb aus, weil der Strafrahmen des § 160 für den Täter wesentlich günstiger ist als eine Bestrafung wegen Anstiftung zum Meineid. Genau genommen ist die vorsätzliche Tatbegehung seitens der Aussageperson aus der Sicht des Hintermanns ein Tatumstand, für den der Hintermann nach allgemeinen Grundsätzen (§ 16) nicht haftet. Anders ist zu entscheiden, wenn der Hintermann bei der Einwirkung auf die Aussageperson damit gerechnet hat, diese werde die wahre Sachlage erkennen und dennoch falsch aussagen. Dann bestünden keine Bedenken, den Hintermann wegen Anstiftung zum Meineid zu bestrafen. So aber kommt nur § 160 in Betracht. Verfehlt wäre es auch, wollte man den Hintermann mit der Begründung, der Tatbestand des § 160 sei mangels Gutgläubigkeit der Aussageperson nicht erfüllt, nur wegen Versuchs (§§ 160, 23) bestrafen. Eine derartige Bestrafung könnte den objektiven Unrechtsgehalt der Tat nicht erfassen. Der Hintermann darf durch den Umstand, daß die Aussage557
§ 163
Neunter Abschnitt: Falsche uneidliche Aussage und Meineid
person entgegen seiner Vorstellung mehr getan, nämlich vorsätzlich falsch ausgesagt hat, nicht schlechter, andererseits auch nicht besser gestellt werden (vgl. BGH 21,116; Lenckner in Schönke-Schröder 9; Lackner 3 a; a. A. Maurach BT 698; Dreher 3; Gallas, Engisch-Festschr. S. 600 sowie Welzel 534, die nur Versuch annehmen). b) § 160 kommt schließlich auch dann zur Anwendung, wenn die Aussageperson entgegen der Vorstellung des Hintermanns gutgläubig ist. Auch hier scheidet Anstiftung aus, da Anstiftung ohne vorsätzliche Haupttat begrifflich nicht denkbar ist (vgl. § 26). Die Bestrafung nur gemäß § 160 ist in diesem Fall jedoch nicht geeignet, auch den subjektiven Unrechtsgehalt der Tat zu erfassen. Der Hintermann wollte mehr erreichen, als er erreicht hat: er wollte einen Meineid, nicht nur einen fahrlässigen oder gar schuldlosen Falscheid. Bei dieser Sachlage erscheint es geboten, neben § 160 idealkonkurrierend noch wegen versuchter Anstiftung zum Meineid (§§ 154, 30) zu bestrafen. Nur so können sowohl der objektive als auch der subjektive Unrechtsgehalt der Tat erfaßt werden (vgl. Hruschka JZ 1967, 210; Hruschka/Kässer JuS 1972, 709, 713; sehr str., vgl. Gallas, Engisch-Festschr. S. 600). §§ 1 6 1 , 1 6 2
§ 163
[aufgehoben]
Fahrlässiger Falscheid; fahrlässige falsche Versicherung an Eides Statt
(1) Wenn eine der in §§ 154 bis 156 bezeichneten Handlungen aus Fahrlässigkeit begangen worden ist, so tritt Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe ein. (2) Straflosigkeit tritt ein, wenn der Täter die falsche Angabe rechtzeitig berichtigt. Die Vorschriften des § 158 Abs. 2 und 3 gelten entsprechend. 1. Nur der fahrlässige Falscheid und die fahrlässige falsche Versicherung an Eides Statt sind strafbar, nicht auch die fahrlässige uneidliche Falschaussage. Seit der Ersetzung des Offenbarungseids durch eidesstattliche Versicherungen steht in der Praxis vor allem dieser Komplex im Vordergrund. Hierbei ist zu beachten, daß jeder, der eine eidesstattliche Versicherung abgibt, bei Auftreten etwaiger Zweifel über die Richtigkeit seiner Angaben verpflichtet ist, in geeigneter Weise Erkundigungen einzuholen (vgl. Krhe GA 1971, 59). Demgegenüber ist ein Zeuge weder im Strafprozeß noch im Zivilprozeß verpflichtet, sich auf die Vernehmung besonders vorzubereiten. Eine erhöhte Sorgfaltspflicht haben jedoch Sachverständige sowie Zeugen, die über Beobachtungen im Rahmen ihrer amtlichen Tätigkeit aussagen (vgl. Köln NJW 1966,1420; Lackner 2 a). 2. Die Vorschrift kommt auch dann zur Anwendung, wenn unklar bleibt, ob der Täter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat (vgl. BGH 4,341; 17, 210). 3. Wegen IdK. mit § 153 siehe oben § 154 Anm. 5.
558
Zehnter Abschnitt: Falsche Verdächtigung (§§ 164 i.) § 164
Falsche Verdächtigung
(1) Wer einen anderen bei einer Behörde oder einem zur Entgegennahme von Anzeigen zuständigen Amtsträger oder militärischen Vorgesetzten oder öffentlich wider besseres Wissen einer rechtswidrigen Tat oder der Verletzung einer Dienstpflicht in der Absicht verdächtigt, ein behördliches Verfahren oder andere behördliche Maßnahmen gegen ihn herbeizuführen oder fortdauern zu lassen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer in gleicher Absicht bei einer der in Absatz 1 bezeichneten Stellen oder öffentlich über einen anderen wider besseres Wissen eine sonstige Behauptung tatsächlicher Art aufstellt, die geeignet ist, ein behördliches Verfahren oder andere behördliche Maßnahmen gegen ihn herbeizuführen oder fortdauern zu lassen. 1. Die durch das EGStGB umgestaltete Vorschrift schützt zunächst - wie § 145 d - die staatliche Rechtspflege. Daneben dient sie dem Schutz des einzelnen gegen Mißgriffe irregeleiteter Behörden (vgl. BGH 5, 66, 68; 9, 240, 242; h. L.). Die Änderungen durch das EGStGB haben im wesentlichen nur zu einer technischen Anpassung an den Sprachgebrauch und die Systematik des 2. StrRG geführt. Von sachlicher Bedeutung ist lediglich die Ersetzung des früheren Ausdrucks „strafbare Handlung" durch den Begriff der „rechtswidrigen Handlung" (s. u. 5). Die früher in Abs. 3 getroffene Regelung (Zurückstellung der Entscheidung über die falsche Anschuldigung, bis das aufgrund der Anschuldigung eingeleitete Verfahren abgeschlossen ist) findet sich jetzt in § 154 e StPO. Die ursprünglich im RegE vorgesehene weitergehende Änderung der Vorschrift (siehe hierzu S. 18, 232 BT-Drucks. 7/550 sowie Britsch JZ 1973, 351) wurde einer späteren Reform vorbehalten. 2. Die Tathandhing des Abs. 1 besteht im Verdächtigen. Verdächtigen ist jede Handlung, durch die der Verdacht einer rechtswidrigen Handlung erregt oder verstärkt wird. Dies kann auch durch schlüssiges Verhalten erfolgen, z. B. durch Unterschieben von Belastungsmaterial (vgl. BGH 9, 240) oder durch anonyme Zuleitung gefälschter Urkunden an eine Behörde. Nicht ausreichend ist dagegen die Weiterleitung einer nicht als unwahr erkannten fremden Verdächtigung an die zur Prüfung der in ihr enthaltenen Vorwürfe zuständige Stelle (vgl. BGH 14, 240, 244). Da der Tb. auch durch Unterlassen verwirklicht werden kann, besteht jedoch im letztgenannten Fall die Pflicht, alle den Verdächtigten entlastenden Tatsachen nach deren Bekanntwerden unverzüglich der Stelle mitzuteilen, der die Verdächtigung zugeführt wurde (vgl. BGH aaO. 246; Herdegen LK 14). 3. Die Verdächtigung muß sich gegen einen anderen richten. Dieser muß zwar nicht namentlich benannt, aber doch immerhin so genau bezeichnet werden, daß er identifiziert und verfolgt werden kann (vgl. BGH 13, 219 f.; h. L.). Nicht ausreichend sind Anzeigen gegen Verstorbene (vgl. BGH aaO.; siehe jedoch § 189), Anzeigen gegen Unbekannt sowie Selbstbezichtigungen (siehe jedoch § 145 d). 559
§ 164
Zehnter Abschnitt: Falsche Verdächtigung
4. Die Verdächtigung muß falsch, d. h. objektiv unwahr sein. a) Falsch ist die Verdächtigung nicht nur, wenn die behauptete Tat bzw. Dienstpflichtverletzung überhaupt nicht begangen wurde, sondern auch dann, wenn sie zwar begangen wurde, aber nicht von dem Verdächtigten. b) Entscheidend ist immer, ob sich das tatsächliche Vorbringen des Anzeigers als falsch erweist. Falsche Rechtsausführungen sowie falsche rechtliche Schlüsse aus richtig vorgetragenen Tatsachen erfüllen dagegen den Tb. nicht (vgl. BayObLG NJW 1957, 1644; Neustadt GA 1961,184; KG JR 1963,351; h. L.). c) Übertreibungen und Entstellungen sind unwahre Verdächtigungen, wenn sie zu einer rechtlichen Würdigung führen, durch die der Verdächtigte zu Unrecht belastet wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Verhalten des Verdächtigten erst durch die Übertreibung zu einer rechtswidrigen Tat oder Dienstpflichtverletzung wird. Ausreichend ist aber auch, wenn das vorgeworfene Verhalten den Tb. eines schwereren Delikts verwirklicht oder wenn durch die Übertreibung zu dem tatsächlich verwirklichten Tb. ein weiterer hinzutritt (vgl. BGH bei Daliinger MDR 1956, 270; Herdegen LK 10; Lackner 4). Nicht ausreichend ist dagegen das unwahre Vorbringen von Umständen, die nur für die Strafzumessung von Bedeutung sind (h. L.). 5. Gegenstand der Verdächtigung muß eine rechtswidrige Tat oder eine Dienstpflichtverletzung sein. a) Über rechtswidrige Tat siehe § 11 Abs. 1 Nr. 5 sowie § 145 d Arnn. 3 a. Seit der Neufassung der Vorschrift durch das EGStGB ist also nicht mehr erforderlich, daß die behauptete Tat nicht nur tatbestandsmäßig und rechtswidrig, sondern auch schuldhaft und verfolgbar ist. Beispiel: A bezichtigt den X zu Unrecht der Teilnahme an einem Landfriedensbruch, der jedoch wegen einer inzwischen in Kraft getretenen Amnestie nicht mehr verfolgt werden kann. - Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Vorschrift ist vor allem dann von Bedeutung, wenn es dem Täter darum geht, ein Verfahren herbeizuführen, in dem Maßregeln der Besserung und Sicherung angeordnet werden können (vgl. Begr. d. Sonderausschusses, S. 14 BT-Drucks. 7/1261). Beispiel: A behauptet bewußt wahrheitswidrig, B habe den X im Zustand geistiger Umnachtung überfallen und niedergeschlagen. b) Verletzung der Dienstpflicht ist jedes Verhalten, das disziplinarisch geahndet werden kann (vgl. Dreher 5; Herdegen LK 16; Lackner 3 a). In Betracht kommen Verfehlungen von Amtsträgern und Soldaten. Bei Rechtsanwälten, Ärzten und anderen Personen, die zur Berufsausübung einer besonderen Approbation bedürfen, die in einem berufsgerichtlichen Verfahren entzogen werden kann, kommt nach h. A. (vgl. Lenckner in SchönkeSchröder 10 m. Nachw.) nicht Abs. 1, sondern Abs. 2 zur Anwendung (a. A. RG JW 1936,1604; hier die Voraufl.). 6. Adressat der Verdächtigung können jede Behörde (siehe hierzu § 11 Abs. 1 Nr. 7) sowie jeder zur Entgegennahme von Anzeigen zuständige Amtsträger (vgl. § 158 StPO) oder militärische Vorgesetzte sein. Dem gleich steht die öffentliche Verdächtigung (siehe hierzu § 80 a Anm. 2 a, § 111 Anm. 2). 7. Der Tb. des Abs. 2 erweitert den Anwendungsbereich der Vorschrift auf Verdächtigungen, die zwar weder eine rechtswidrige Tat noch eine Dienstpflichtverletzung
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Zehnter Abschnitt: Falsche Verdächtigung
§ 164
enthalten (sonst Abs. 1), aber dennoch geeignet sind, gegen den Verdächtigten ein behördliches Verfahren oder andere behördliche Maßnahmen herbeizuführen oder fortdauern zu lassen. a) Zu den behördlichen Verfahren oder Maßnahmen gehören z. B. Bußgeldverfahren nach dem OWiG (vgl. Herdegen LK 19; Lenckner in Schönke-Schröder 13; Rudolphi SK 29), vormundschaftsgerichtliche Maßnahmen zur Entziehung des Personensorgerechts (vgl. BayObLG NJW 1958, 1103) oder zur Anordnung der Fürsorgeerziehung, femer Verfahren, die zur Entziehung einer Konzession oder Approbation oder zur Unterbringung eines Geistes- oder Suchtkranken führen können. b) Nur Behauptungen tatsächlicher Art erfüllen den Tatbestand. „Behaupten" ist enger als „Vermuten" und bedeutet „als wahr hinstellen" (vgl. BGH 14, 240, 243). Die Ausführungen unter Anm. 3 , 4 gelten im übrigen entsprechend. 8. Der subj. Tb. erfordert sowohl in Abs. 1 als auch in Abs. 2, daß der Täter a) die Unwahrheit der Verdächtigung bzw. Behauptung kennt („wider besseres Wissen"), während hinsichtlich der übrigen Tb.-Merkmale (bei einer Behörde usw.) bedingter Vorsatz genügt (vgl. Köln NJW 1953, 1843; Braunschweig NJW 1955, 1935; h. L.). Fällt der Verdacht auf eine andere Person als auf diejenige, die der Täter verdächtigen wollte, so bleibt der Vorsatz hiervon unberührt (unwesentliche Abweichung des Kausalverlaufs, vgl. BGH 9, 240; Herdegen LK 28); b) die Absicht verfolgt, ein behördliches Verfahren usw. gegen den Verdächtigten herbeizuführen oder fortdauern zu lassen. Diese Absicht muß nicht das Motiv gewesen sein; direkter Vorsatz genügt (vgl. BGH 13, 219; 18, 204, 206; h. L.). Die tatbestandsmäßige Absicht wird insbesondere nicht dadurch ausgeschlossen, daß es dem Täter darum geht, den Verdacht von sich selbst abzulenken (vgl. RG 69,173, 175; BayObLG JZ1960, 707; Hamm NJW 1965, 62; Herdegen LK 30; Lackner 5 b; Lenckner in SchönkeSchröder 34; Rudolphi SK 33). Die in diesem Verhalten liegende Selbstbegünstigung kann sich nicht schuldausschließend, sondern allenfalls strafmildernd auswirken. Straflos bleibt der Täter in solchen Fällen nur, wenn die Verdächtigung ausschließlich darin besteht, daß der Täter die ihm zur Last gelegte Tat leugnet oder von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch macht. Diese Rechte hat er auch dann, wenn durch ihre Wahrnehmung zwangsläufig ein anderer (mit) verdächtigt wird (Hamm aaO.; Celle NJW 1964, 733). Sieht der Täter die Einleitung eines Verfahrens als sichere Folge seiner falschen Verdächtigung voraus, so wird die dadurch begründete tatbestandsmäßige Absicht nicht dadurch beseitigt, daß der Täter glaubt, die Behörde werde das Verfahren nicht weiter betreiben, weil es am Strafantrag fehlt (vgl. RG HRR 1938 Nr. 1206; Lenckner in Schönke-Schröder 34) oder weil der Verdächtigte sich im Ausland aufhält (häufig auftretende Situation bei sog. Kennzeichenanzeigen im Straßenverkehrsrecht).
9. Da § 164 nicht nur die Interessen des zu Unrecht Verdächtigten, sondern auch die staatliche Rechtspflege schützt (s. o. 1), ist die Einwilligung des Verdächtigten unerheblich (BGH 5, 66; h. L.). Dieser macht sich u. U. sogar der Teilnahme schuldig. Auch das Petitionsrecht des Art. 17 GG gibt keinen Freibrief zu falschen Verdächtigungen im Rahmen von Eingaben und Beschwerden (vgl. Herdegen LK 32 m. Nachw.). 561
§ 165
Zehnter Abschnitt: Falsche Verdächtigung
1 0 . IdK. ist möglich mit §§ 153 ff., 187, 187 a, 239, 257 ff., 3 4 4 ; - § 145 d tritt als subsidiär zurück. 11. Prozessual beachte § 154 e StPO (s. o. 1).
§ 165
Bekanntgabe der Verurteilung
(1) Ist die Tat nach § 164 öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen und wird ihretwegen auf Strafe erkannt, so ist auf Antrag des Verletzten anzuordnen, daß die Verurteilung wegen falscher Verdächtigung auf Verlangen öffentlich bekanntgemacht wird. Stirbt der Verletzte, so geht das Antragsrecht auf die in § 77 Abs. 2 bezeichneten Angehörigen über. § 77 Abs. 2 bis 4 gilt entsprechend. (2) Für die Art der Bekanntmachung gilt § 200 Abs. 2 entsprechend. Die durch das E G S t G B neu gefaßte Vorschrift ist zwingendes Recht. Sie findet keine Anwendung, wenn der Verdächtigte in die Verdächtigung eingewilligt hatte ( B G H 5, 66).
562
Eliter Abschnitt: Straftaten, welche sich auf Religion und Weitab schauung beziehen (§§ 166-168) § 166
Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauung svereinigungen
(1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 1 1 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.
I. Die durch das 1. StrRG neu gefaßte, durch das EGStGB nur redaktionell dem neuen Sprachgebrauch des 2. StrRG angepaßte Vorschrift verzichtet bewußt auf den früheren Tatbestand der Gotteslästerung. Hierdurch wird dem Mißverständnis vorgebeugt, Gott könne Gegenstand eines weltlichen Schutzes sein; außerdem werden vor Gericht unnötige Diskussionen über den Gottesbegriff vermieden (Begründung des Sonderausschusses). Geschütztes Rechtsgut ist nicht das religiöse Empfinden des einzelnen, sondern der öffentliche Friede, der durch grobe Verletzungen des Toleranzgebots in Form von Beschimpfungen einer Kirche, Religionsgesellschaft, Weltanschauungsvereinigung usw. gefährdet wird. Dies kann auch in der Weise geschehen, daß der von Angehörigen einer solchen Gemeinschaft verehrte Gott beschimpft wird. Zum Ganzen siehe auch Zipf NJW 1969,1944. II. Die einzelnen Tatbestände: 1. Abs. 1 schützt den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekentnnisses. a) Der Anwendungsbereich der Vorschrift erfaßt nicht nur Bekenntnisse kollektiver Natur, d. h. die Bekenntnisse von Kirchen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen; geschützt ist auch das Bekenntnis desjenigen, der sich zu bestimmter Überzeugung bekennt, aber keine organisatorischen Bindungen eingehen will. b) Die Tathandlung besteht im Beschimpfen des Bekenntnisses. Beschimpfend sind alle abfälligen Äußerungen, die sich durch Form und Inhalt als roh und besonders verletzend darstellen. Der Begriff entspricht in etwa dem Tb.-Merkmal „verunglimpfen" in den §§ 90 a und 90 b. c) Die Tat muß unter bestimmten erschwerenden Umständen, nämlich öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften usw., begangen worden sein. Über öffentlich siehe § 80 a Anm. 2 a. Eine Schrift usw. ist verbreitet, sobald sie einer größeren Anzahl von Personen 563
§ 167
Elfter Abschnitt: Straftaten gegen Religion und Weltanschauung
zugegangen ist. Unerheblich ist, ob diese Personen der Zahl oder dem Namen nach bekannt und bestimmt sind. d) Die Beschimpfung muß geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören. Dieser Begriff ist bereits aus den §§ 126, 130 und 130 a bekannt. Anliegen dieser Vorschriften ist es, das friedliche Zusammenleben aller Rechtsgenossen zu garantieren, ohne Rücksicht auf die Art ihrer Herkunft sowie ihrer politischen, weltanschaulichen oder religiösen Anschauungen. Die besondere Aufgabe des § 166 besteht darin, die friedliche Koexistenz der verschiedenen Bekenntnisse zu gewährleisten. Hieraus folgt, daß nicht jede beschimpfende Äußerung in der Öffentlichkeit oder durch Verbreiten von Schriften usw. den Tb. erfüllt. Der öffentliche Friede i. S. des § 166 ist vielmehr nur dann gestört, wenn die Äußerung bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls geeignet ist, in bestimmten Kreisen der Bevölkerung, insbesondere bei den durch die Äußerung unmittelbar betroffenen Personen oder Gruppen, das Gefühl aufkommen zu lassen, ihr Bekenntnis werde nicht mehr toleriert. Nicht erforderlich ist, daß tatsächlich ein solches Gefühl der Unsicherheit aufkommt. Es genügt schon die Eignung schlechthin. 2. Abs. 2 schützt die Kirchen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen vor Beschimpfung. Die Erweiterung des Schutzbereichs gegenüber der früheren Fassung des § 166 und auch gegenüber dem E 1962 beruht auf der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichstellung von religiösen und weltanschaulichen Bekenntnissen (vgl. Art. 4 I GG) sowie von Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (vgl. Art. 140 G G i. V. mit Art. 137 VII der Weimarer Reichsverfassung). Hinsichtlich der Tathandlung (Beschimpfen) und ihrer Form (öffentlich usw.) sowie ihrer Eignung, den öffentlichen Frieden zu gefährden, siehe oben Anm. I I I . DI. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. Der Täter muß insbesondere auch wissen oder in Kauf nehmen, daß seine Äußerung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Bei einer unbedachten, impulsiven Äußerung kann dieses Bewußtsein fehlen. Eine besondere Störungsabsicht ist, anders als in § 167, nicht erforderlich (Lenckner in Schönke-Schröder 25). IV. IdK. ist möglich mit §§ 167,167 a, 168, 185, 303 f.
§ 167
Störung der Religionsausübung
(1) Wer 1. den Gottesdienst oder eine gottesdienstliche Handlung einer im Inland bestehenden Kirche oder anderen Religionsgesellschaft absichtlich und in grober Weise stört oder 2 . an einem O r t , der dem Gottesdienst einer solchen Religionsgesellschaft gewidmet ist, beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei J a h r e n oder mit Geldstrafe bestraft. ( 2 ) D e m Gottesdienst stehen entsprechende Feiern einer im Inland bestehenden Weltanschauungsvereinigung gleich. 564
Elfter Abschnitt: Straftaten gegen Religion und Weltanschauung
§ 167
I. Die durch das 1. StrRG eingeführte Neufassung verzichtet in Abweichung von der früheren Fassung und entgegen dem Entwurf 1962 bewußt auf eine Strafdrohung für den Fall, daß jemand einen anderen gewaltsam oder durch Androhung eines Übels daran hindert, einen Gottesdienst abzuhalten oder an einem Gottesdienst teilzunehmen. Der Verzicht auf eine besondere Strafdrohung erfolgte mit Rücksicht darauf, daß der strafrechtliche Schutz gegen Nötigungen dieser Art bereits durch andere Straftatbestände, insbesondere durch § 240, hinreichend gewährleistet ist. II. Die einzelnen Tatbestände: 1. Der 1. Alternativtatbestand (Abs. 1 Nr. 1) will den ungestörten Verlauf des Gottesdienstes und einzelner gottesdienstlicher Handlungen gewährleisten. a) Gottesdienst ist die Vereinigung der Mitglieder einer Kirche oder Religionsgesellschaft zur religiösen Erbauung durch Verehrung und Anbetung Gottes nach den Vorschriften, Gebräuchen und Formen ihrer Gemeinschaft (vgl. Lenckner in Schönke-Schröder 2). Gottesdienste einer im Inland nicht bestehenden, d. h. ausländischen Kirche oder Religionsgemeinschaft sind in den Schutz der Vorschrift nicht mit einbezogen, wohl aber Feiern einer im Inland bestehenden Weltanschauungsvereinigung (vgl. Abs. 2). Zu den im Inland bestehenden Religionsgesellschaften gehören z. B. die Baptistengemeinde (vgl. RG 31, 237) und die Heilsarmee (vgl. RG 39, 388). Unerheblich ist der Ort, an dem der Gottesdienst abgehalten wird. Nicht nur der Gottesdienst in einer Kirche, sondern auch ein Wald- oder Feldgottesdienst sind geschützt. b) Zu den ebenfalls geschützten gottesdienstlichen Handlungen gehören vor allem Taufe, Trauung und Beerdigung sowie kirchliche Prozessionen, nicht dagegen Reügions- und Konfirmandenuntemcht sowie Andachtsübungen einzelner. Auch bei dieser Tatbestandsalternative ist unerheblich, an welchem Ort die gottesdienstliche Handlung vorgenommen wird (wichtig für Straßen- und Feldprozessionen). c) Die Tathandlung besteht in der groben Störung des Gottesdienstes oder der gottesdienstlichen Handlung. Erfaßt werden Störungen aller Art, insbesondere die Erregung von Lärm oder Unordnung. Da nur grobe Störungen den Tatbestand verwirklichen, scheiden unwesentliche Beeinträchtigungen aus. d) Absichtlich handelt, wem es darauf ankommt, den Gottesdienst zu stören. Erfaßt werden soll vor allem der böswillige Störer, der sich aus niedrigen Beweggründen, z. B. aus Haß oder einer atheistischen Aversion heraus zur Tat hinreißen läßt. Böswillig wäre z. B. eine Demonstration kirchenfeindlicher Gruppen während des Gottesdienstes, um diesen in eine politische Diskussion „umzufunktionieren". Nicht böswillig wäre dagegen z. B. das Bestreben einer grundsätzlich kirchenfreundlich eingestellten Gemeindegruppe, durch Zwischenrufe während der Predigt eine Diskussion über geforderte Reformen zu erreichen. Entgegen dem Vorschlag des Sonderausschusses wurde der Tb. aber nicht auf böswillige Störungen beschränkt. Der Begriff „absichtlich" geht über „böswillig" hinaus. Er erfaßt auch solche Fälle, in denen der Täter an sich durchaus billigenswerte Ziele erstrebt, dabei aber einen Weg wählt, der von der Allgemeinheit mißbilligt wird. Tatbestandsmäßig kann daher auch das Verhalten der in dem letzten Beispiel erwähnten kirchenfreundlichen Gruppe sein, sofern man die Störung als „grob" bezeichnen muß. Abgrenzungsschwierigkeiten werden sich in diesem Zusammenhang gerade in subj. Hinsicht kaum vermeiden lassen. 565
§ 167a
Elfter Abschnitt: Straftaten gegen Religion und Weltanschauung
e) Die Rechtswidrigkeit kann entfallen durch Notwehr (z. B. bei Erwiderung auf beleidigende Angriffe durch den Geistlichen während dessen Predigt, vgl. RG 21, 168), ferner durch rechtfertigenden Notstand (z. B. wenn der Gottesdienst wegen eines in der Gemeinde ausgebrochenen Brandes gestört wird oder wenn wegen eines Unfalls ein am Gottesdienst teilnehmender Arzt gesucht wird). 2. Der 2. Alternativtatbestand (Abs. 1 Nr. 2) schützt die Stätten des Gottesdienstes vor beschimpfendem Unfug. a) Wie beim 1. Alternativtatbestand sind nur inländische Religionsgesellschaften geschützt (s. o. 1 a). örtlich gesehen umfaßt der Schutz vor allem Kirchen, aber auch Kapellen, Betsäle und sonstige Räume, deren ausschließliche, zumindest aber überwiegende Bestimmung darin besteht, dem Gottesdienst zu dienen. Nicht erfaßt werden Orte, die nur einzelnen gottesdienstlichen Handlungen gewidmet oder zu religiösen Versammlungen bestimmt sind. Hier kommt nur § 166 in Betracht (vgl. Begründung zu § 189 E 1962). b) Die Tathandlung besteht im Verüben beschimpfenden Unfugs. Hierher gehört jede Handlung, durch die der Andachtscharakter des Ortes roh herabgewürdigt wird, z. B. durch Verunreinigung oder Verwüstung, durch Beschmieren der Wände mit obszönen Parolen oder Zeichnungen, Werfen von Stinkbomben, aber auch durch Vornahme sexueller Handlungen (vgl. BGH 9,140). c) Der subj. Tb. erfordert Vorsatz. Dieser muß sich insbesondere darauf erstrecken, daß die Handlung als rohe Herabwürdigung des Andachtscharakters empfunden wird. Bedingter Vorsatz genügt. III. IdK. ist möglich mit §§ 166,167 a, 168, 303, 304.
§ 167 a
Störung einer Bestattungsfeier
Wer eine Bestattungsfeier absichtlich oder wissentlich stört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Soweit eine Bestattungsfeier sich als gottesdienstliche Handlung einer im Inland bestehenden Kirche oder anderen Religionsgesellschaft darstellt '(Normalfall), fällt ihre absichtliche Störung bereits unter § 167 Abs. 1 Nr. 1. Anliegen des § 167 a ist es, auch weltlichen Bestattungsfeiern strafrechtlichen Schutz zukommen zu lassen. Außerdem umfaßt der Begriff der Bestattungsfeier nicht nur die Vorgänge, die unmittelbar im Zusammenhang mit der Beerdigung oder Einäscherung stehen, sondern auch einen Leichenzug oder eine im Trauerhaus abgehaltene Bestattungsfeierlichkeit (Begründung zu § 190 E 1962). 2. Die Tathandlung besteht wie bei § 167 Abs. 1 Nr. 1 in der Störung. Siehe hierzu § 167 Anm. II 1 c. 3. Der subjektive Tb. erfordert Vorsatz. Der Täter muß absichtlich oder wissentlich handeln. Absichtlich handelt, wem es darauf ankommt, die Feier zu stören; wissentlich 566
Elfter Abschnitt: Straftaten gegen Religion und Weltanschauung
§ 168
handelt, wer weiß oder als sicher voraussieht, daß die Feier gestört wird (vgl. § 17 E 1962). 4. IdK. ist möglich mit §§ 166,167,168,189.
§ 168
Störung der Totenruhe
(1) Wer unbefugt aus dem Gewahrsam des Berechtigten eine Leiche, Leichenteile oder die Asche eines Verstorbenen wegnimmt, wer daran oder an einer Beisetzungsstätte beschimpfenden Unfug verübt oder wer eine Beisetzungsstätte zerstört oder beschädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Geschützes Rechtsgut ist in allen drei Alternativtatbeständen das Pietätsgefiih! der Angehörigen und der Allgemeinheit gegenüber den Verstorbenen und ihren Ruhestätten (vgl. Begr. zu § 191 E 1962; Dreher 1; Lackner 1). Aus dem Refonnschrifttum siehe insbesondere Kuckuk JR 1974,410 sowie Samson NJW 1974, 2030. 2. Der erste Tatbestand erfaßt die Wegnahme von Leichen, Leichenteilen sowie der Asche eines Verstorbenen aus dem Gewahrsam des Berechtigten. a) Leichen kommen als Tatobjekte nur dann in Betracht, wenn sie nicht in fremdem Eigentum stehen. Wer also eine der Anatomie überlassene Leiche entwendet, kann sich wegen Diebstahls, nicht aber gemäß § 168 strafbar machen. Zu den Leichenteilen gehören auch Transplantate sowie Leichenblut (Ffm NJW 1975, 271; NJW 1977, 859; Geilen JZ 1975, 374; Roxin JuS 1976, 505; krit. hierzu Blei JA 1975, StR 69 sowie Lenckner in Schönke-Schröder 3). b) Wegnahme bedeutet wie beim Diebstahl Gewahrsamsbruch (h. A., vgl. OLG München NJW 1976, 1805 m. Anm. Linck NJW 1977, 2310; Lenckner in Schönke-Schröder 5b; a.A. Ffm NJW 1977, 859; Dreher 3; Lackner 2 b: Wegnahme ist jede Beeinträchtigung des Obhutsverhältnisses, das gewohnheitsrechtlich den nächsten Angehörigen selbst bei Ortsabwesenheit zukommt und von der Klinik- oder Friedhofsverwaltung nur für diese ausgeübt wird). Nicht tatbestandsmäßig sind deshalb gegen den Willen der Angehörigen durchgeführte Sektionen und Organtransplantationen. Im übrigen wären Eingriffe dieser Art (auch Blutentnahmen zur Feststellung der BÄK, vgl. Ffm NJW 1975, 271 sowie NJW 1977, 859) i. d. R. durch rechtfertigenden Notstand gerechtfertigt (vgl. Lenckner in Schönke-Schröder 5 b m. Nachw.; zur Entscheidung des OLG Ffm NJW 1975, 271 siehe auch Blei JA 1975, StR 69, Geilen JZ 1975, 380, Roxin JuS 1976, 505 und Martens NJW 1975, 1669). Zum Ganzen siehe auch v. Bubnoff GA 1968, 65; Bockelmann, Das Strafrecht des Arztes, 1968, S. 97 sowie Geilen, Probleme der Organtransplantation, JZ 1971, 41 (zugleich Besprechung des „Gütgemann-Urteils", LG Bonn JZ 1971, 56ff.). 567
§ 168
Elfter Abschnitt: Straftaten gegen Religion und Weltanschauung
c) Als Berechtigte kommen nicht nur die Hinterbliebenen in Betracht (diese können sogar selbst Täter sein), sondern auch die Polizei, die Krankenhaus- oder Friedhofsverwaltung. 3. Der zweite Tatbestand schützt Leichen usw. sowie die Beisetzungsstätten vor beschimpfendem Unfug. Beispiele: Anbringung nationalsozialistischer Embleme am Grab eines Widerstandskämpfers, Absingen obszöner Lieder bei einer Beerdigung, Abladen von Unrat auf einem Grab usw. 4. Der dritte Tatbestand erfaßt die Zerstörung oder Beschädigung einer Beisetzungsstätte. Geschützt sind nicht nur der Grabhügel, sondern auch das Grabmal und die eingepflanzten Gewächse, nicht dagegen die lose aufgelegten Kränze und Blumen. Im letztgenannten Fall kommen jedoch je nach Sachlage Diebstahl oder Sachbeschädigung in Betracht. Das gleiche gilt, wenn jemand auf einem Grab Blumen pflückt, ohne dadurch das Grab als solches zu beschädigen. 5. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Bedingter Vorsatz genügt. 6. Zur Rechtswidrigkeit: Die Entnahme von Transplantaten und Blutproben ist immer dann gerechtfertigt, wenn sie mit Einwilligung der Hinterbliebenen erfolgt. Deren Einwilligung ist jedoch verzichtbar, wenn der Verstorbene selbst noch zu seinen Lebzeiten eingewilligt hat (Ffm NJW 1977, 859). Über die Möglichkeit einer Rechtfertigung durch rechtfertigenden Notstand (§ 34) s.o. Anm. 2b. Zu der umstrittenen Frage, ob sich für die Versicherungsträger aus den Vorschriften der RVO, insbesondere den §§ 1559 Abs. 1 und 1571 Abs. 1 RVO, ein positiv-rechtlicher Rechtfertigungsgrund für die Leichenblutentnahme ableiten läßt, siehe einerseits Martens NJW 1975,1668, der die Frage bejaht, andererseits Ffm NJW 1977, 859 sowie die ablehnenden Stellungnahmen von Geilen JZ1975, 382 f. und Roxin JuS 1976,507. 7. IdK. ist möglich mit §§ 166 ff., 304. Ergänzend zu beachten sind die landesrechtlichen Gesetze über das Friedhofs- und Leichenwesen, z. B. in Bad.-Wttbg. das BestattungsG vom 21. 7. 1970 (GBl. S. 395 ff.).
568
Zwölfter Abschnitt: Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie (§§ 1 6 9 - 1 7 3 )
§ 169
Personenstandsfälschung
(1) Wer ein Kind unterschiebt oder den Personenstand eines anderen gegenüber einer zur Führung von Personenstandsbüchern oder zur Feststellung des Personenstandes zuständigen Behörde falsch angibt oder unterdrückt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Die durch das 4. StrRG neugefaßte Vorschrift erstreckt sich nur noch auf solche Manipulationen, durch welche die behördliche Feststellung des Personenstands gefährdet wird. Falsche Angaben im privaten Bereich werden also nicht mehr erfaßt. Eine weitere Korrektur bezog sich auf den Strafrahmen, der unter gleichzeitiger Beseitigung der Strafschärfung bei gewinnsüchtiger Absicht auf eine Höchststrafe von zwei Jahren Freiheitsstrafe beschränkt wurde. 2. Der Personenstand ist das familienrechtliche Verhältnis einer lebenden Person zu einer anderen lebenden Person (RG 25, 189; 56, 134), und zwar ohne Rücksicht darauf, auf welche Weise die rechtlichen Beziehungen zustandegekommen sind. Die Rechtsbeziehungen können daher sowohl durch die (eheliche oder nichteheliche) Abstammung als auch durch Eheschließung, Legitimation, Adoption oder Ehelichkeitserklärung begründet worden sein. 3. Die Tathandlung besteht a) im Unterschieben eines Kindes, d. h. Herstellen eines Zustands, der ein Kind als leibliches Kind einer Frau erscheinen läßt, die es nicht geboren hat (z. B. durch Austausch in einer Entbindungsstation); b) in falschen Angaben über den Personenstand eines anderen gegenüber einer zur Führung von Personenstandsbüchern (Familienbuch, Geburtenbuch, Sterbebuch, vgl. §§ 1, 12 f. PStG) zuständigen Behörde. Beispiele: Frau A veranlaßt aus Mitleid, daß das nichteheliche Kind ihrer Hausgehilfin beim Geburtsregister als ihr eigenes Kind angemeldet wird (vgl. RG 36, 137). - Oder: Die ledige Hausangestellte H benennt bewußt wahrheitswidrig den X als Vater ihres Kindes (vgl,. RG 72, 114). - Oder: Todeserklärung einer Person, die in Wirklichkeit noch lebt (vgl. Kassel NJW 1949,518); c) in der Unterdrückung des Personenstands, d. h. wenn ein Zustand herbeigeführt wird, der verhindert oder wenigstens erschwert, daß das wirkliche familienrechtliche Verhältnis einer Person zur Geltung kommt (RG 77, 51 ff.). Beispiel: Die A beschwört im Unterhaltsprozeß ihres nichtehelichen Kindes gegen ihren früheren Freund F bewußt der Wahrheit zuwider, sie habe nur mit F Verkehr gehabt (vgl. RG aaO.). Hatte die A während der Empfängniszeit Mehrverkehr, so müßte die Frage nach der Vaterschaft ungeklärt bleiben. Die Unaufklärbarkeit der Vaterschaft wäre dann der wahre Personenstand. Dieser wird
569
§§ 170a, b
Zwölfter Abschnitt: Straftaten gegen den Personenstand
durch das Verschweigen des Mehrverkehrs unterdrückt. - Auch die Aussetzung eines Kindes sowie die Unterlassung der gesetzlich vorgeschriebenen Mitteilungen stellen eine Erschwerung der behördlichen Feststellungen und damit eine Unterdrückung des Personenstands dar (vgl. S. 11 d. BT-Drucks. VI/1552). - Eine Unterdrückung des Personenstands kann schließlich auch darin gesehen werden, daß die Mutter eines nichtehelichen Kindes wahrheitswidrig behauptet, den Erzeuger nicht zu kennen oder mit mehreren Männern Verkehr gehabt zu haben (vgl. RG41, 304; 70,19). 4. Keine strafbare Handlung liegt vor, a) wenn ein in der Ehe geborenes, jedoch nicht von dem Ehemann stammendes Kind als ehelich angemeldet wird (vgl. Ber. S. 11 der BT-Drucks. VI/3521). Dies folgt aus der Erwägung, daß das Kind gemäß §§ 1591, 1593 BGB als ehelich gilt und keine Pflicht zur Anfechtung der Ehelichkeit besteht; b) wenn der von der Mutter eines nichtehelichen Kindes als Erzeuger benannte Mann wahrheitswidrig die Vaterschaft anerkennt (vgl. Ber. S. 11 aaO. unter Bezugnahme auf die konstitutive Bedeutung der Anerkennung; ebenso Lackner 2 b, aa; Lenckner in Schönke-Schröder 8; Schreiber SK 8; die in RG 70, 237 und von der h. L. früher vertretene Gegenansicht ist durch die Neufassung des Rechts der nichtehelichen Abstammung überholt; a. A. Dreher 6); c) wenn die Kindesmutter sich weigert, den Erzeuger zu nennen (vgl. Ber. S. 12 aaO.) oder wenn sie in dem vom Jugendamt als Pfleger des Kindes (siehe hierzu § 1706 BGB) angestrengten Zivilrechtsstreit zur Feststellung der Vaterschaft von ihrem sich aus § 383 Abs. 1 ZPO ergebenden Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. Zum Ganzen siehe auch Maier MDR 1971, 883 m. Nachw.). 5. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich, wobei bedingter Vorsatz genügt. Der Vorsatz muß darauf gerichtet sein, die wahren Verhältnisse falsch darzustellen oder zu verdunkeln. Das Motiv ist unerheblich. Vorsatz liegt daher auch dann vor, wenn es z. B. der Mutter eines nichtehelichen Kindes nur darum geht, den Unterhalt für ihr Kind zu sichern oder das geschlechtsintime Verhältnis zu ihrem Vater zu verschleiern (vgl. RG 70, 18; Lenckner in Schönke-Schröder 12; Maurach BT 410; unklar RG 72,114; 77,52). 6. IdK. ist möglich mit §§ 153 ff., 271,263.
§§ 1 7 0 , 1 7 0 a
§ 170 b
[Ehebetrug, Verschleuderung der Familienhabe; aufgehoben durch das 4. StrRG, vgl. S. 12 BT-Drucks. VI/1552]
Verletzung der Unterhaltspflicht
Wer sich einer gesetzlichen Unterhaltspflicht entzieht, so daß der Lebensbedarf des Unterhaltsberechtigten gefährdet ist oder ohne die Hilfe anderer gefährdet wäre, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 570
Zwölfter Abschnitt: Straftaten gegen den Personenstand
§ 170b
Die durch das 4. StrRG neu gefaßte Vorschrift schützt in erster Linie die gesetzlich Unterhaltsberechtigten vor wirtschaftlicher Gefährdung, außerdem die öffentlichen Kassen vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme.
1. Eine gesetzliche Unterhaltspflicht besteht a) gegenüber dem Ehegatten, und zwar auch dann, wenn die Ehe geschieden ist (vgl. §§ 1360 ff., 1569 ff. BGB); b) gegenüber allen Verwandten in gerader Linie (Eltern, Großeltern, Kinder, Enkel), vgl. §§ 1601 ff. BGB; c) gegenüber dem nichtehelichen Kind (§§ 1615a ff. BGB), sobald die Vaterschaft durch Anerkennung (vgl. §§ 1600 b ff. BGB) oder durch gerichtliche Entscheidung (vgl. § 1600 n BGB) festgestellt ist oder einstweilige Anordnungen gemäß § 1615 o BGB oder §§ 641 d ff. ZPO getroffen worden sind (vgl. Lackner 2 b). d) gegenüber der Mutter eines nichtehelichen Kindes im Rahmen des § 1615 1 BGB; e) bei der sogenannten Scheinvaterschaft, d. h. bei der nicht auf blutmäßiger Abstammung beruhenden Unterhaltspflicht des Ehemanns, der die Ehelichkeit eines von ihm nicht gezeugten, aber in der Ehe geborenen Kindes nicht oder erfolglos angefochten hat (§ 1591 BGB sowie BGH 12,166; BayObLG NJW 1961,1415); f) gegenüber dem Adoptivkind (vgl. §§ 1754,1601 ff. BGB).
2. Eine Bindung des Strafrichters an vorausgegangene Urteile im Zivilprozeß tritt grundsätzlich nur bei sog. Statusurteilen ein, d. h. Urteilen, die rechtsgestaltende Wirkungen haben (vgl. § 640 h ZPO), nicht dagegen bei Unterhaltsurteilen. Der Strafrichter ist daher grundsätzlich nicht gehindert, das Bestehen einer Unterhaltspflicht zu verneinen, obwohl der Angeklagte im Zivilprozeß rechtskräftig zur Unterhaltszahlung verurteilt worden ist (BGH 5, 106); umgekehrt kann er die Unterhaltspflicht bejahen, obwohl der Unterhaltsanspruch rechtskräftig abgewiesen wurde (Stgt NJW 1960, 2204; Heimann-Trosien LK 9). Besonderheiten gelten für die Unterhaltspflicht gegenüber nichtehelichen Kindern. Sowohl die Anerkennung als auch die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft stehen seit der Neuregelung der Materie in den §§ 1600 a ff. BGB durch das NichtEhelKG einem Statusurteil, an das der Strafrichter gebunden ist, gleich (Stgt NJW 1973, 2305 m. Anm. Eggert MDR 1974, 445; Heimann-Trosien LK 12 f.). Dies gilt aufgrund der Übergangsregelung des Art. 12 § 3 Abs. 1 und 2 NichtEhelKG auch für solche Fälle, in denen die Vaterschaft vor dem 1. 7. 1970 anerkannt oder gerichtlich festgestellt worden ist (BGH 26, 111). Die Entscheidung BGH 5, 106 ist durch die Gesetzesänderung überholt. In Härtefällen kann das Gericht jedoch gemäß § 262 Abs. 2 StPO das Verfahren aussetzen und dem Angeklagten zur Erhebung der Anfechtungsklage eine Frist bestimmen oder das Ergebnis des Verfahrens vor dem Zivilgericht abwarten (BGH aaO.). Keine Bindungswirkung besteht in den Fällen, in denen sich die Unterhaltspflicht lediglich aus einer einstweiligen Verfügung oder Anordnung gemäß § 1615 o BGB oder § 641 d ZPO ergibt, jedoch hat auch der Strafrichter die Beweisvermutung des § 1600 o BGB zu beachten (vgl. Heimann-Trosien LK 14). 571
§ 170b
Zwölfter Abschnitt: Straftaten gegen den Personenstand
3. Die größte Schwierigkeit bietet in der Praxis die Frage der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen. Hierbei ist im einzelnen folgendes zu beachten: a) Der Tatbestand ist schon dann erfüllt, wenn der Beschuldigte bei gutem Willen wenigstens teilweise in der Lage gewesen wäre, seiner Unterhaltspflicht nachzukommen, ohne seine eigene Existenz zu gefährden. b) Der Beschuldigte ist verpflichtet, seine Arbeitskraft zweckmäßig einzusetzen und jede ihm zumutbare Arbeit anzunehmen. Auch ein Berufs-oder Arbeitsplatzwechsel, der die Leistungsfähigkeit erhöht, ist grundsätzlich zumutbar (Celle NJW 1971, 718; Dreher 6; Lackner 3; Lenckner in Schönke-Schröder 16). Es gibt selbstverständlich auch Ausnahmen. So ist es z. B. dem erwachsenen Sohn eines Landwirts, der allein den ererbten elterlichen Hof bewirtschaftet, nicht ohne weiteres zumutbar, den Hof aufzugeben und einer unselbständigen Tätigkeit nachzugehen (Ddf JMB1NRW 1964, 166; Lenckner in Schönke-Schröder 16). Andererseits ist jeder Berufswechsel zu vermeiden, der die Leistungsfähigkeit auf nicht nur vorübergehende Zeit beeinträchtigt (Stgt JR 1963, 29). c) Sind mehrere Unterhaltsberechtigte vorhanden, so richtet sich die Rangfolge nach dem Zivilrecht, insbesondere den §§ 1609 Abs. 1, 1582 BGB und 850 d Abs. 2 ZPO. Der früher bestehende Vorrang der ehelichen gegenüber den nichtehelichen Kindern ist durch das NichtEhelKG beseitigt worden. d) Die Leistungsträger der Sozialverwaltung sind grundsätzlich weder berechtigt noch verpflichtet, den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten Auskunft über die Leistungsfähigkeit des Beschuldigten zu erteilen (vgl. § 35 SGB). 4. Die Tathandlung besteht darin, daß der Unterhaltspflichtige sich seiner Unterhaltspflicht entzieht. Ein Sichentziehen liegt vor allem dann vor, wenn der Täter bei bestehender Leistungsfähigkeit nicht zahlt, seinen gut bezahlten Arbeitsplatz aufgibt oder ständig den Arbeitsplatz wechselt, um sich drohenden Lohnpfändungen zu entziehen. Der Tatbestand ist aber auch dann erfüllt, wenn der Unterhaltspflichtige seine zukünftige Leistungsunfähigkeit vorsätzlich herbeiführt, z. B. wenn er einen aufwendigen Lebenswandel führt, dem Glücksspiel frönt und seinen Beruf vernachlässigt (vgl. BGH 14,165). Die (eheliche oder nichteheliche) Mutter erfüllt ihre gesetzliche Unterhaltspflicht bereits dadurch, daß sie die Kinder betreut und versorgt. Eine Verletzung der Unterhaltspflicht kommt für sie vor allem dann in Betracht, wenn sie den von ihr geführten Haushalt im Stich läßt, ohne in anderer Weise zum Unterhalt der Kinder beizutragen (Hamm NJW 1964, 2316; Lenckner in Schönke-Schröder 13; a. A. Krhe NJW 1973, 108 m. zust. Anm. Seebode JZ 1973, 601; Dreher 2; Lackner 2 c; Schreiber SK 2: nur die Unterlassung einer Unterhaltszahlung, die durch Geldrente zu erbringen ist, erfüllt den Tb., nicht auch die Verletzung anderer familienrechtlicher Fürsorge- und Betreuungspflichten; zw.), oder wenn sie ihre Kinder in ein Heim gibt, ohne sich um die finanzielle Seite der Unterbringung zu kümmern (vgl. Heimann-Trosien LK 25). 5. Der Lebensbedarf des Unterhaltsberechtigten muß ohne die Hilfe anderer gefährdet sein. Der in der Praxis wichtigste, seit der Neufassung durch das 4. StrRG allerdings nicht mehr ausdrücklich hervorgehobene Fall ist die Unterstützug des Unterhaltsberechtigten durch das Jugendamt oder andere öffentliche Institutionen. Der hierbei erforderliche innere Zusammenhang zwischen Unterhaltsverweigerung und Unterstützung aus öffentlichen Mitteln kann auch dann gegeben sein, wenn das unterhalts572
Zwölfter Abschnitt: Straftaten gegen den Personenstand
§ 170b
berechtigte Kind gemäß §§ 5, 6 JWG in einem Heim untergebracht ist (BGH 26, 312 m. krit. Anm. Förster NJW 1976, 1645). Entscheidend ist, daß die Jugendhilfe gerade und allein wegen Unterhaltsverweigerung eingreifen muß, nicht aus Gründen anderer Art, etwa wegen drohender Verwahrlosung oder geistiger oder körperlicher Behinderung ohne Rücksicht auf die Erfüllung der Unterhaltspflicht (BGH aaO.). Unerheblich ist dabei, ob der Träger der öffentlichen Jugendhilfe den gesetzlichen Unterhaltsanspruch des Kindes gemäß § 82 JWG i. V. mit §§ 90, 91 BundessozialhilfeG auf sich übergeleitet hat. Ein „anderer" i. S. der Vorschrift ist auch die (eheliche oder nichteheliche) Mutter, die über ihren Anteil hinaus für den Lebens bedarf aufkommt. Keine Gefährdung ist gegeben, wenn der Unterhaltsberechtigte über eigene, ausreichende Einkünfte verfügt. In diesem Fall hat die Verletzung nur zivilrechtliche, nicht aber strafrechtliche Bedeutung. Im übrigen siehe § 1577 BGB. 6. Lebt ein unterhaltsberechtigtes Kind in der DDR, so richtet sich die Unterhaltspflicht des nichtehelichen Vaters in entsprechender Anwendung von Art. 21 EGBGB nach den dort geltenden Gesetzen, wenn die Kindesmutter z. Z. der Geburt des Kindes dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte (vgl. BayObLG NJW 1966, 1173 m. Nachw.). Da auch in der DDR die Unterhaltsansprüche des nichtehelichen Kindes denen des ehelichen Kindes angeglichen sind, richtet sich die Unterhaltspflicht des Vaters ausschließlich nach seiner Leistungsfähigkeit, wobei nach der Rspr. der DDR-Gerichte die beiden Eiternteile nicht als Gesamtschuldner, sondern anteilig haften (BayObLG aaO.). In der Regel erfüllt die nichteheliche Mutter ihren Anteil an der Unterhaltspflicht (wie bei ehelichen Kindern) dadurch, daß sie die Pflege und Erziehung des Kindes übernimmt. Je nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen kann sie aber darüber hinaus noch zu Geldleistungen verpflichtet sein, was sich zugunsten des nichtehelichen Vaters auswirkt. Ist der unterhaltspflichtige Vater nicht in der Lage, den Unterhalt ohne Gefährdung seines eigenen standesgemäßen ( = angemessenen) Unterhalts zu leisten, so ist § 1603 BGB anzuwenden, und zwar auch die gesteigerte Unterhaltspflicht des Abs. 2 (vgl. BayObLG aaO.). 7. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich; bedingter Vorsatz genügt. Der Täter muß die Umstände kennen, die seine U.-Pflicht begründen, zumindest aber mit ihrem Vorliegen rechnen. Er muß außerdem wissen, daß er in der Lage ist, seiner U.-Pflicht zumindest teilweise nachzukommen. Der Vorsatz entfällt daher, wenn der Täter infolge Fahrlässigkeit keine Möglichkeit sieht, wie er seiner U.-Pflicht nachkommen kann, z. B. durch Berufs- oder Arbeitsplatzwechsel. Dagegen bleibt der Vorsatz unberührt, wenn der Täter irrig glaubt, eine Änderung seiner Lebensführung, insbesondere ein Berufs- oder Arbeitsplatzwechsel, sei nicht zumutbar. Immer wieder tragen rechtskräftig ZUT Unterhaltszahlung verurteilte Beschuldigte im Strafverfahren zu ihrer Verteidigung vor, sie seien gar nicht der Vater des unterhaltsberechtigten Kindes. Dieser Einwand ist bei ehelichen Kindern unerheblich, solange die Ehelichkeit nicht mit Erfolg angefochten ist; er läßt den Vorsatz nicht entfallen. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß die gesetzliche Unterhaltspflicht bereits durch die Tatsache begründet wird, daß das Kind in der Ehe geboren wurde (s. o. Anm. 1 d). Entsprechend zu beurteilen ist die Rechtslage bei nichtehelichen Kindern, bei denen sich die Vaterschaft des Beschuldigten aus einer Anerkennung oder gerichtlichen Feststellung ergibt (s. o. Anm. 2). In diesen Fällen ist die Einholung eines erbbiologischen Gutachtens weder erforderlich noch zulässig (vgl. Hamm NJW 1973,2306). 573
§ 170d
Zwölfter Abschnitt: Straftaten gegen den Personenstand
8. Konkurrenzen: Wer sich seiner gesetzlichen U.-Pflicht gegenüber mehreren, nicht zusammenlebenden Unterhaltsberechtigten entzieht, begeht mehrere selbständige Handlungen i. S. von § 53 (vgl. BGH 18,376). IdK. ist möglich mit § 170 d.
§ 170 c
[Verlassen Schwangerer; aufgehoben durch das 4. StrRG]
§ 170 d
Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht
Wer seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer Person unter sechzehn Jahren gröblich verletzt und dadurch den Schutzbefohlenen in die Gefahr bringt, in seiner körperlichen oder psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden, einen kriminellen Lebenswandel zu führen oder der Prostitution nachzugehen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Geschütztes Rechtsgut der durch das 4. StrRG neu gefaßten Vorschrift ist die normale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, wobei das Schutzalter von 14 auf 16 Jahre heraufgesetzt wurde. Der Eintritt einer nachweisbaren Fehlentwicklung ist nicht erforderlich (abstraktes Gefährdungsdelikt). Aus den Gesetzesmaterialien siehe insbesondere den Regierungsentwurf (BT-Drucks. VI/155 2) und den schriftlichen Bericht (Ber.) des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BT-Drucks. VI/3521). 2. Als Täter kommen insbesondere die Eltern des Kindes bzw. Jugendlichen in Betracht, außerdem Adoptiv- und Pflegeeltern, ferner Heimleiter und Veranstalter von Ferienlagern (vgl. Ber. S. 15), nicht jedoch Kindermädchen oder sonstige Personen, denen das Kind bzw. der Jugendliche nur vorübergehend anvertraut ist. 3. Die Tathandlung besteht in einer gröblichen Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht. „Gröblich" ist die Verletzung insbesondere, wenn sie von längerer Dauer ist oder systematisch betrieben wird. Bei besonders schwerwiegenden Pflichtverletzungen kann sich auch eine einmalige Verfehlung als „gröblich" darstellen (vgl. Ber. S. 16). 4. Tatfolge muß die Gefahr einer erheblichen Entwicklungsschädigung sein. a) Die Gefahr einer Schädigung der körperlichen Entwicklung besteht insbesondere, wenn das Kind bzw. der Jugendliche längere Zeit unter schlechten hygienischen Voraussetzungen in primitiven Unterkünften leben muß, wenn es an der erforderlichen Nahrung fehlt, wenn Krankheiten nicht behandelt werden oder die Gefahr einer Infektion durch ansteckende Krankheiten besteht (vgl. Ber. S. 15). Nicht tatbestandsmäßig sind dagegen solche Fälle, in denen der Schutzbefohlene durch eine einmalige Pflichtverletzung der Gefahr einer körperlichen Verletzung ausgesetzt wird (vgl. KG JR 1975, 297 betr. riskante Reinigung einer Dachrinne). 574
Zwölfter Abschnitt: Straftaten gegen den Personenstand
§ 171
b) Die Gefahr einer Schädigung der psychischen Entwicklung besteht, wenn das Kind bzw. der Jugendliche einer ständigen oder außergewöhnlichen seelischen Belastung ausgesetzt wird, z. B. durch ständigen oder häufigen Kontakt mit kriminellen oder asozialen Elementen oder dadurch, daß eine Frau im selben Zimmer, in dem ihre 13jährige Tochter schläft, ständig mit verschiedenen Männern den Geschlechtsverkehr ausübt (vgl. BGH 3, 56); auch ständige Isolierung von der Umwelt kann zu psychischen Störungen führen (vgl. Ber. S. 15). c) Die Gefahr eines kriminellen Lebenswandels oder des Abgleitens in die Prostitution dürfte in vielen Fällen die Folge einer psychischen Fehlentwicklung sein, setzt eine solche aber nicht voraus (vgl. Ber. S. 16). Durch die Einbeziehung des Schutzes vor krimineller Verwahrlosung schließt § 170 d zumindest teilweise die Lücke, die durch Aufhebung des § 1 4 3 entstanden ist. Die Gefahr des Abgleitens in einen kriminellen Lebenswandel ist vor allem dann gegeben, wenn der Jugendliche sich häufig in Zuhälter- oder Hehlerkreisen oder in der Drogenszene aufhält. 5. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz ausreicht. Der Täter muß insbesondere die Umstände kennen (oder mit ihrem Vorliegen rechnen), aus denen sich die Gefahr einer Fehlentwicklung ergibt. Er muß sich außerdem dieser Gefahren bewußt sein. Die falsche Bewertung, insbesondere die Unterbewertung der Gefahren, berührt dagegen nicht den Vorsatz, sondern nur das Unrechtsbewußtsein. Entgegen der früheren Rechtslage ist auch nicht mehr erforderlich, daß der Täter gewissenlos handelt. 6. Konkurrenzen: Tateinheit ist möglich mit §§ 170 b, 180, 180 a Abs. 4, 221, 222, 223 ff., ferner mit Beihilfe zu Straftaten, die der Jugendliche mit Wissen des Erziehungsberechtigten begeht. Ergibt sich die Gefährdung erst aus einer Mehrzahl von Handlungen, so stellt deren Gesamtheit eine einheitliche Straftat dar (BGH 8, 92).
§ 171
Doppelehe
Wer eine Ehe schließt, obwohl er verheiratet ist, oder wer mit einem Verheirateten eine Ehe schließt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die Neufassung der Vorschrift durch das 4. StrRG brachte eine wesentliche Einschränkung des Strafrahmens (die Tat ist jetzt nur noch Vergehen) unter gleichzeitiger Aufhebung der Strafbarkeit des Versuchs; außerdem wurde die früher in Abs. 3 enthaltene Sonderregelung für die Verjährung, wonach der Beginn der Verjährung bis zur Auflösung oder Nichtigerklärung einer der beiden bigamischen Ehen aufgeschoben wurde, ersatzlos gestrichen. Die Verjährung beginnt jetzt - wie bei Zuständsdelikten allgemein üblich - bereits mit der Vollendung. Die Verjährungsfrist beträgt 5 Jahre (§ 78 Abs. 3 Nr. 4). Geschütztes Rechtsgut ist die staatliche Eheordnung, die auf dem Grundsatz der Monogamie beruht (vgl. § 5 EheG). Aus den Gesetzesmaterialien siehe besonders den Regierungsentwurf (BT-Drucks. VI/1552) sowie den schriftlichen Bericht (Ber.) des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BT-Drucks. VI/3521). 575
§ 173
Zwölfter Abschnitt: Straftaten gegen den Personenstand
2. Verheiratet ist, wer in einer formell gültigen Ehe lebt, solange diese weder durch Tod oder Scheidung aufgelöst noch rechtskräftig für nichtig erklärt oder aufgehoben worden ist. Formell gültig ist die Ehe, wenn sie unter Beachtung des § 11 EheG geschlossen wurde. Auf den materiellen Bestand der Ehe kommt es nicht an. Über Nichtigkeit der Ehe siehe §§ 16 ff. EheG, über Aufhebung der Ehe §§ 28 ff. EheG, über Scheidung §§ 1564 ff. BGB. Besonderheiten sind zu beachten bei einer Wiederverheiratung im Falle der Todeserklärung eines früheren Ehegatten (siehe hierzu § 38 Abs. 2 EheG), bei Ausländerehen im Ausland (siehe hierzu Art. 11 EGBGB), aber auch im Inland (siehe hierzu Art. 13 Abs. 3 EGBGB und § 15 a EheG) sowie für die Ehe eines Deutschen im Ausland (siehe hierzu das G über Konsularbeamte v. 11. 9. 1974(BGB1. I 2317). 3. Die Tathandlung besteht im Schließen einer neuen, formell gültigen Ehe zu einem Zeitpunkt, zu dem die frühere Ehe noch besteht. Da die Vorschrift kein Dauerdelikt, sondern ein sog. Zustandsdelikt enthält (nur die Herstellung, nicht auch die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands ist mit Strafe bedroht), ist das Führen der bigamischen oder polygamischen Ehe als solches nicht strafbar. Vollendet ist die Tat mit dem Zustandekommen einer formell gültigen Ehe (siehe hierzu § 11 EheG sowie oben 2). Der Versuch ist seit der Neufassung der Vorschrift durch das 4. StrRG nicht mehr strafbar. 4. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. 5. Für Teilnehmer findet § 28 Abs. 1 keine Anwendung, da der Unrechtsgehalt der Tat nicht durch besondere persönliche Merkmale, sondern durch den Verstoß gegen die staatliche Eheordnung begründet wird (vgl. Lackner 6; Lenckner in Schönke-Schröder 7; Schreiber SK 8; a. A. Dreher 6; Heimann-Trosien LK 8). 6. IdK. ist möglich mit §§ 156,169,271.
§ 172
[Ehebruch; aufgehoben durch das 1. StrRG]
§ 173
Beischlaf zwischen Verwandten
(1) Wer mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Wer mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft; dies gilt auch dann, wenn das Verwandtschaftsverhältnis erloschen ist. Ebenso werden leibliche Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen. (3) Abkömmlinge und Geschwister werden nicht nach dieser Vorschrift bestraft, wenn sie zur Zeit der Tat noch nicht achtzehn Jahre alt waren. 576
Zwölfter Abschnitt: Straftaten gegen den Personenstand
§ 173
1. Die Neufassung der Vorschrift durch das 4. StrRG brachte zunächst für den am Inzest beteiligten Verwandten aufsteigender Linie (Vater, Großvater usw.), eine wesentliche Ermäßigung des Strafrahmens (die Tat ist jetzt nur noch ein Vergehen). Außerdem wurde die Strafbarkeit des Inzests unter Verschwägerten ersatzlos beseitigt. Das AdoptionsG v. 2. 7. 1976 brachte nur technische Änderungen. Aus den Gesetzesmaterialien siehe besonders den Regierungsentwurf (BT-Drucks. VI/1552), den schriftlichen Bericht (Ber.) des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BT-Drucks. VI/3521) sowie die Protokolle über die Beratungen des Sonderausschusses unter besonderer Berücksichtigung des Sachverständigen-Hearings am 23., 24. und25. 11. 1970(Prot. VIS. 844 ff.). Geschütztes Rechtsgut ist der durch Art. 6 GG garantierte Schutz von Ehe und Familie. Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen bedeuten Inzestbeziehungen in der Regel eine schwere Belastung für die Familie. Sie führen außerdem oft, vor allem bei dem jüngeren Inzestpartner, zu erheblichen psychischen Störungen (vgl. BT-Drucks. VI/1552 S. 14 sowie Ber. VI S. 17 unter Bezugnahme auf die Ergebnisse des Sachverständigen-Hearings). Hinzu kommt die nach den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung außerordentlich große Gefahr, daß Kinder, die aus einer Inzestbeziehung hervorgegangen sind, infolge der erhöhten Möglichkeit der Summierung rezessiver Erbanlagen eine äußerst ungünstige Entwicklung nehmen und dadurch die Familie noch weiter belasten. 2. Die Strafdrohung des Abs. 1 richtet sich gegen Verwandte aufsteigender Linie (sog. Aszendenten). Sie ist höher als die des Abs. 2, weil das Gesetz davon ausgeht, daß die Initiative in der Regel von dem älteren Inzestpartner ausgeht und dieser auch in erster Linie die Verantwortung für die Beziehungen zu tragen hat. Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen ist der weitaus häufigste Fall des Inzests der Beischlaf des 30- bis 40jährigen Vaters mit der 13- bis 17jährigen Tochter (vgl. Ber. VI S. 17). Unerheblich ist, ob die Verwandtschaft auf einer ehelichen oder einer nichtehelichen Abstammung beruht. Entscheidend ist allein die Blutsverwandtschaft. Nicht ausreichend sind deshalb geschlechtsintime Beziehungen mit dem Adoptivkind, das ungeachtet der bestehenden Verwandtschaft nicht zu den „leiblichen" Abkömmlingen gehört. 3. Beischlaf ist die Vereinigung der Geschlechtsorgane in der Weise, daß das männliche Glied mindestens teilweise in die Scheide eingedrungen ist (BGH 16, 175; h. L.). Unerheblich ist, ob es dabei zum Samenerguß gekommen ist. Andere sexuelle Handlungen fallen nicht unter den Anwendungsbereich der Vorschrift, können aber gemäß §§ 174, 175, 176 strafbar sein. Der Versuch ist seit der Neufassung der Vorschrift durch das 4. StrRG nicht mehr strafbar. 4. Die Strafdrohung des Abs. 2 richtet sich gegen Verwandte absteigender Linie (sog. Deszendenten) und Geschwister. Zu den Geschwistern gehören auch die sog. Halbgeschwister (Geschwister, die nur einen Elternteil gemeinsam haben). Nicht mehr erfaßt wird der Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie (z. B. zwischen Schwiegervater und Schwiegertochter oder zwischen Stiefvater und Stieftochter). Nicht hierher gehört schließlich der Beischlaf zwischen Verwandten in der Seitenlinie vom 3. Grad ab (z. B. zwischen Onkel und Nichte oder zwischen Vetter und Base). 5. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich auf die tatsächlichen blutsmäßigen Abstammungsverhältnisse beziehen, wobei bedingter Vorsatz genügt. Nicht 19
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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§ 173
Zwölfter Abschnitt: Straftaten gegen den Personenstand
vorsätzlich handelt z. B. ein Vater, der irrig annimmt, seine Tochter entstamme einer vorehelichen oder außerehelichen Beziehung seiner Frau zu einem anderen Mann. 6. Abs. 3 bringt für Inzestpartner unter 18 Jahren einen persönlichen Strafausschließungsgrund, der auf der Erwägung beruht, nach Aufdeckung des belastenden Inzestverhältnisses von dem Jugendlichen jede zusätzliche Belastung fernzuhalten (vgl. Ber. VIS. 18). 7. Für Teilnehmer ist § 28 Abs. 1 zu beachten (vgl. Lackner 6 m. weit. Nachw.). 8. Konkurrenzen: Tateinheit ist möglich mit §§ 170 d, 174, 176, 177. Bei wiederholtem Verkehr mit dem gleichen Partner ist Fortsetzungszusammenhang möglich, bei wechselnden Partnern kommt dagegen nur Tatmehrheit in Betracht (vgl. IV 1 vor § 52).
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Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174-184 c) Vorbemerkungen: 1. Der 13. Abschnitt, der früher die Überschrift „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit" trug, faßt eine Reihe von heterogenen Tatbeständen zusammen, die es schwer machten, eine neue gemeinsame Überschrift zu finden (vgl. Ber. S. 19 BT-Drucks. VI/3521 und S. 5 BT-Drucks. 7/514). Alle neuen Vorschriften haben gemeinsam, daß sie sich darauf beschränken, unter Berücksichtigung des in den letzten Jahren - tatsächlich oder vermeintlich - vollzogenen Wandels in den sittlichen Anschauungen der Allgemeinheit nur noch solche Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen, die nach den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung.als wirklich sozialschädlich angesehen werden. 2. Hinsichtlich des Aufbaus und der Reihenfolge der einzelnen Tatbestände hat sich der Gesetzgeber ungeachtet verschiedener kritischer Stimmen (vgl. Ber. S. 19 BT-Drucks. VI/3521) im wesentlichen an das früher geltende Recht angelehnt, obwohl die einzelnen Tatbestände teilweise recht erheblich umgestaltet wurden. Die §§ 174-174 b verfolgen das Anliegen, den sexuellen Mißbrauch bestimmter Autoritätsverhältnisse zu verhindern (lediglich in § 174 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 wurde auf eine Mißbrauchsklausel verzichtet), §175 regelt die Strafbarkeit der Homosexualität, die jetzt nur noch unter dem Gesichtspunkt des Jugendschutzes verfolgt wird, § 176 schützt Kinder bis zum 14. Lebensjahr vor verfrühter Konfrontation mit der Sexualität, die §§ 177-179 schützen die sexuelle Selbstbestimmung gegen Gewalt usw., die §§ 180-181 a, die als das Kernstück der Reform bezeichnet werden (vgl. Ber. S. 2 BT-Drucks. VI/3521), brachten eine umfassende Neuregelung der Strafvorschriften über Kuppelei, Prostitution und Zuhälterei; § 182 behandelt die Verführung Minderjähriger, die §§ 183, 183 a brachten eine Neuregelung des Exhibitionismus, § 184 regelt mit der Pornographie einen der am meisten umstrittenen Komplexe, in den §§ 184 a, 184 b werden bestimmte Auswüchse der Prostitution erfaßt, § 184 c schließlich bringt eine Legaldefinition des Begriffs der sexuellen Handlungen, der den früher verwendeten Begriff der Unzucht ablöst. 3. Aus den Gesetzesmaterialien siehe insbesondere den 1970 vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drucks. VI/1552), den noch in der 6. Legislaturperiode vorgelegten schriftlichen Bericht (Ber. VI) des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BT-Drucks. VI/3521), der durch die vorzeitige Auflösung des Bundestags im Plenum nicht mehr in 2. und 3. Lesung behandelt werden konnte, jedoch zur Grundlage des in der 7. Legislaturperiode von den Fraktionen der SPD und FDP neu eingebrachten Gesetzentwurfs wurde (BT-Drucks. 7/80), und schließlich den am 7. 5. 1973 vorgelegten Bericht (Ber. VII) des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BT-Drucks. 7/514) sowie die Protokolle über die Beratungen dieses Ausschusses in der 6. und 7. Legislaturperiode (Prot. VI bzw. Prot. VII) unter besonderer Berücksichtigung des am 23.-25. 11. 1970 durchgeführten Sachverständigen-Hearings (Prot. VI S. 843 ff.). Aus dem Schrifttum zur Reform der Sexualdelikte siehe insbesondere das Gutachten von Hanack zum 47. Deutschen Juristentag in Nürnberg (1968); ferner Becker, Das Erzieherprivileg nach dem 4. StrRG, FamRZ 1974, 508; - Bockelmann, Zur Reform des Sexualstrafrechts, Maurach-Festschrift, S. 391; - Dreher, Die Neuregelung des Sexualstrafrechts 19*
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§ 174
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
eine geglückte Reform?, JR 1974, 45; - Eser, Die Sexualität in der Strafrechtsreform, JurA 1970, 218; - Hanack, Die Reform des Sexualstrafrechts und der Familiendelikte, NJW 1974, 1; - Laufhütte, Zur Reform der Sexualdelikte, JZ 1974, 47; - Schroeder, Die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach dem Entwurf eines 4. StrRG, ZRP 1971, 14; - ders., Systematische Stellung und Rechtsgut der Sexualstraftaten nach dem 4. StrRG, Welzel-Festschr., 1974, S. 859; - ders., Das neue Sexualstrafrecht, 1975; ders., Das „Erziehungsprivileg" im Strafrecht, Lange-Festschr., 1976, S. 391; - Wahle, Zur Reform des Sexualstrafrechts, 1969.
§ 174
Sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen
(1) Wer sexuelle Handlungen 1. an einer Person unter sechzehn Jahren, die ihm zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist, 2. an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut oder im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist, unter Mißbrauch einer mit dem Erziehungs-, Ausbildungs-, Betreuungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnis verbundenen Abhängigkeit oder 3. an seinem noch nicht achtzehn Jahre alten leiblichen oder angenommenen Kind vornimmt oder an sich von dem Schutzbefohlenen vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Wer unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Nr. 1 bis 3 1. sexuelle Handlungen vor dem Schutzbefohlenen vornimmt oder 2. den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, daß er sexuelle Handlungen vor ihm vornimmt, um sich oder den Schutzbefohlenen hierdurch sexuell zu erregen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (3) Der Versuch ist strafbar. (4) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 oder des Absatzes 2 in Verbindung mit Absatz 1 Nr. 1 kann das Gericht von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn bei Berücksichtigung des Verhaltens des Schutzbefohlenen das Unrecht der Tat gering ist. 1. Die durch das 4. StrRG neu gefaßte Vorschrift dient dem Schutz Jugendlicher gegen sexuellen Mißbrauch in bestimmten Abhängigkeitsverhältnissen. Sie berücksichtigt die wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis, daß Jugendliche häufig nicht reif, erfahren, selbstbewußt oder sicher genug sind, um sich etwaigen sexuellen Wünschen ihrer durch ihre Position überlegenen Eltern, Erzieher, Ausbilder oder Betreuer zu widersetzen, was häufig zu psychischen Konfliktsituationen führen kann (Ber. VI S. 20). Über Gesetzesgeschichte und Gesetzesmaterialien s. Vorbem. 1 - 3 .
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Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
§ 174
2. Die einzelnen Gruppen der Schutzbefohlenen a) Zu Abs. 1 Nr. 1: Jugendliche unter 16 Jahren, die jemandem zur Erziehung, Ausbildung oder Betreuung anvertraut sind, werden im Rahmen dieses besonderen Lebensbereichs uneingeschränkt geschützt. aa) In sachlicher Übereinstimmung mit der früheren Rechtslage (siehe hierzu vor allem BGH 13, 352 ff., 22, 315) geht das Gesetz davon aus, daß die Vornahme sexueller Handlungen an oder vor Jugendlichen unter 16 Jahren im Rahmen der hier in Frage stehenden Lebensbereiche schlechthin einen Mißbrauch des Abhängigkeitsverhältnisses darstellt, ohne daß es einer besonderen Mißbrauchsklausel bedarf. Der Täter kann sich demnach nicht darauf berufen, er habe seine Stellung als Vater, Lehrer usw. nicht ausgenutzt, sondern der Jugendliche habe freiwillig mitgemacht oder sogar den Anstoß zu den sexuellen Handlungen gegeben (vgl. Ber. VI S. 21). Ist letzteres allerdings tatsächlich der Fall, so kann ein Absehen von Strafe gemäß Abs. 4 in Betracht kommen. Beispiel: eine 15jährige Schülerin verführt auf dem Landheim einen 25jährigen Referendar. bb) Die Jugendlichen müssen dem Täter zur Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung anvertraut sein. Durch die Formulierung „in der Lebensführung" wird klargestellt, daß ein Betreuungsverhältnis (hierzu gehört auch das nicht mehr ausdrücklich erwähnte Aufsichtsverhältnis) nur dann relevant ist, wenn sich der Betreuer für die Lebensführung, die sittliche Haltung und die geistige Entwicklung des Jugendlichen verantwortlich fühlen muß (vgl. Ber. VI S. 21). Dasselbe gilt auch für die Ausbildungsverhältnisse (Ber. aaO. sowie BGH 21, 196, 199 zu § 174 Nr. 1 aF). Ein Unterordnungsverhältnis, das rein von der Sache her begründet ist (z. B. die Einweisung in eine mechanische Tätigkeit an einer Maschine), reicht für sich allein nicht aus. Erforderlich ist vielmehr, daß das Verhältnis der Uber- und Unterordnung über die rein sachlichen Beziehungen hinaus in den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich eingreift. Hierbei sind immer die Umstände des Einzelfalls entscheidend. So kann z. B. ein minderjähriger Fahrschüler seinem Fahrlehrer zur Ausbildung anvertraut sein, wenn der Fahrlehrer über den eigentlichen Unterricht hinaus die Pflicht zu einer gewissen Obhut für den ihm anvertrauten Fahrschüler hat (BGH aaO. m. Anm. Lackner JR 1968, 160; zu eng dagegen Stgt NJW 1961, 2171 m. abl. Anm. Seibert NJW 1962, 61). cc) Als Täter kommen in Betracht: a) im Rahmen eines Erziehungsverhältnisses Eltem, Adoptiv- und Pflegeeltern gegenüber ihren Kindern (Adoptiv- und Pflegekindern); Stiefeltern, soweit sie sich wie leibliche Eltern um Erziehung und Ausbildung kümmern (BGH GA 1967, 21; Celle NJW 1956, 1368); der Vormund gegenüber dem Mündel, soweit er auch für dessen Person zu sorgen hat; Lehrer gegenüber den von ihnen unterrichteten Schülern (BGH 19, 163), der Schulleiter gegenüber allen Schülern seiner Schule (BGH 13, 352); das mit Erziehungsfunktionen betraute Personal von Internaten, Schullandheimen, Erziehungsheimen und ähnlichen Einrichtungen; ß) im Rahmen eines Ausbildungsverhältnisses Lehrherren (auch Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte usw.) gegenüber den Auszubildenden, Volontären, Praktikanten usw. (vgl. RG 62, 34; JW 1934, 2772; HRR 1934 Nr. 1420; BGH 8, 278; NJW 1958, 2123; LM Nr. 14); Privatlehrer nur dann, wenn die Ausbildung nicht auf die Vermittlung von Kenntnissen auf einem speziellen Lebensbereich beschränkt ist, sondern im Rahmen eines Autoritätsverhältnisses von allgemein geistiger Art erfolgt (Lenckner in Schönke-
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§ 174
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Schröder 10). Diese Einschränkung ist besonders bei privat angestellten Musik-, Sportund Nachhilfelehrern (siehe hierzu BGH Urt. v. 2. 2. 1965 - 1 StR 562/64, sowie 2 StR 61/68 bei Daliinger MDR 1969, 16), bei Fahrlehrern (s. o. bb) sowie bei Leitern von Schreibmaschinen-, Koch- und Nähkursen zu beachten, bei denen die täterschaftlichen Voraussetzungen des § 174 Abs. 1 nur ausnahmsweise vorliegen dürften; y) im Rahmen der Betreuung in der Lebensführung Heimleiter, Zeltlagerleiter (BGH LM Nr. 5), Geistliche und sonstige Leiter von Jugendkreisen (BGH 4, 212), Sporttrainer (BGH 17, 191), der Haushaltsvorstand gegenüber der jugendlichen Haushaltshilfe (BGH 1, 58), nicht dagegen Leiter von Jugendherbergen (überholt BGH NJW 1957, 1201), Ärzte gegenüber jugendlichen Patienten (siehe jedoch § 174 a Abs. 2). Einmalige, kurzfristige Betreuungsverhältnisse von geringerer Bedeutung (Baby-Sitting, Wochenendbesuch bei Verwandten usw.) scheiden aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift grundsätzlich aus (Lencknerin Schönke-Schröder 10,14). b) Zu Abs. 1 Nr. 2: Bei Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren begründet die Vornahme sexueller Handlungen - wenn nicht der besondere Fall der Nr. 3 vorliegt - auch im Rahmen der im Gesetz näher umschriebenen Lebensbereiche für sich allein noch keine Strafbarkeit. Erforderlich ist vielmehr, daß der Täter das bestehende Abhängigkeits- bzw. Unterordnungsverhältnis mißbraucht. aa) Der Begriff Mißbrauch der Abhängigkeit ist enger als die Formulierung „zur Unzucht mißbrauchen" in § 174 Nr. 2 a. F. (vgl. Ber. VI S. 22). Während früher weder eine tatsächliche Abhängigkeit festgestellt werden mußte noch ausdrücklich verlangt wurde, daß der Täter die mit seiner autoritären Stellung verbundene Überlegenheit ausgenutzt oder auf den Schutzbefohlenen Druck ausgeübt hatte, ist nunmehr zur Tatbestandsverwirklichung erforderlich, daß der Täter den ihm unterstellten Jugendlichen bewußt einer Drucksituation aussetzt oder eine schon vorhandene Drucksituation ausnutzt (vgl. Ber. aaO.). Der Mißbrauch ergibt sich auch nicht schon aus dem Erziehungs-, Ausbildungs- oder Unterordnungsverhältnis als solchem, sondern muß in jedem Einzelfall genau festgestellt werden. Nicht erforderlich ist allerdings, daß der Täter zur Erreichung seines Ziels mit den Mitteln der Nötigung vorgeht; es genügt vielmehr, daß er - offen, versteckt oder durch schlüssiges Verhalten - in dem Jugendlichen die Befürchtung ernster Nachteile oder das Ausbleiben von Vorteilen für den Fall hervorruft, daß er sich nicht willfährig zeigt (vgl. Ber. aaO.; Lenckner in Schönke-Schröder 18). Beispiel: Ein Lehrer läßt bei einer 17jährigen versetzungsgefährdeten Schülerin durchblicken, daß er sich auf der Lehrerkonferenz vor dem Abschlußzeugnis für ihre Versetzung einsetzen werde, falls sie bereit sei, sich mit ihm auf sexueller Basis einzulassen. Ein Mißbrauch würde dann auch vorliegen, wenn die Schülerin, um ihre Versetzung zu sichern, sich aus eigener Initiative dem Lehrer als Partnerin für sexuelle Handlungen angeboten und der Lehrer dieses Motiv erkannt hätte (vgl. Ber. aaO.; a. A. Lenckner aaO. 20). Es ist also - entgegen der in § 133 A E vorgeschlagenen Regelung nicht erforderlich, daß der Täter sich den Schutzbefohlenen gefügig macht. Nicht hierher gehören dagegen solche Kontakte, bei denen das Abhängigkeits- oder Unterordnungsverhältnis zwischen dem Erzieher, Ausbilder usw. einerseits und dem Schutzbefohlenen andererseits keine Rolle spielt, insbesondere nicht als Druckmittel eingesetzt wird. Solche Kontakte mögen zwar pädagogisch unerwünscht sein, weil sie die Handlungsfreiheit des Erziehers (Ausbilders usw.) einschränken und Spannungen in der Gruppe der Auszubildenden hervorrufen können; sie sind aber nicht so sozialschädlich, daß sie unter Strafe gestellt werden müssen. Entsprechendes gilt für die Altersgruppe der 18- bis 21jährigen, 582
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
§ 174
bei denen - entgegen dem früheren Recht - bewußt auf einen besonderen Schutz vor sexuellen Handlungen im Rahmen der hier in Frage stehenden Lebensbereiche verzichtet wurde (vgl. Ber. aaO.). bb) Zu den besonders geschützten Lebensbereichen gehören zunächst die schon in Nr. 1 genannten (s. o. lit. a, bb), außerdem Unterordnungsverhältnisse im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses. Zu den hier geschützten Personengruppen gehören insbesondere jugendliche Hilfsarbeiter, die im Gegensatz zu gleichaltrigen Schülern und Lehrlingen nicht unter den Schutz der Nr. 1 fallen. Die Abhängigkeit des Hilfsarbeiters von seinem Arbeitgeber mag zwar geringer sein als die eines Schülers oder Auszubildenden, dem es darum geht, ein bestimmtes Ausbildungsziel zu erreichen; es lassen sich aber auch im Rahmen von Arbeits- und Dienstverhältnissen Situationen denken, in denen eine „Autoritätsperson" das Unterordnungsverhältnis zur Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche ausnutzt (vgl. Ber. VI S. 23). Beispiel: Eine Abteilungsleiterin gewinnt eine ihr unterstellte jugendliche Arbeiterin dadurch zu gleichgeschlechtlichen Handlungen, daß sie ihr im Betrieb leichtere Arbeit zuweist und es duldet, daß die Arbeiterin kommt und geht, wann es ihr beliebt. Zu beachten ist, daß die Mißbrauchsklausel der Nr. 2 auch dann gilt, wenn der in einem Arbeits- oder Dienstverhältnis stehende jugendliche Arbeiter das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. cc) Als Täter kommen über den bereits oben (lit. a, cc) erwähnten Täterkreis hinaus insbesondere leitende Angestellte, Abteilungsleiter, Meister, Gesellen, Gruppenführer, Vorarbeiter und Einrichter am Fließband in Betracht (vgl. Ber. VI S. 24). c) Abs. 1 Nr. 3, der sich auf Kinder und Adoptivkinder, nicht auch auf Stiefkinder bezieht, dürfte in der Praxis keine besondere Rolle spielen, da die meisten einschlägigen Fälle bereits durch Nr. 1 oder Nr. 2 erfaßt werden können. Die Vorschrift bekommt eigentlich nur dann Bedeutung, wenn dem Täter die elterliche Gewalt entzogen wurde oder ihm das Kind nicht zur Erziehung oder Betreuung anvertraut ist, ferner für die Fälle, in denen (nur wichtig für Abs. 1 Nr. 2) ein Mißbrauch des Unterordnungsverhältnisses nicht nachweisbar ist. 3. Die Tathandlung der 1. Alt. des Abs. 1 besteht in der Vornahme sexueller Handlungen (siehe hierzu § 184 c) „an" dem Schutzbefohlenen, setzt also voraus, daß es zu einer körperlichen Berührung zwischen Täter und Opfer kommt. Dem gleich steht der Fall, daß der Täter sexuelle Handlungen an sich von dem Schutzbefohlenen vornehmen läßt, d. h. veranlaßt oder duldet (2. Alt. des Abs. 1). Auch in diesem Fall ist eine körperliche Berührung zwischen Täter und Opfer erforderlich. 4. Zu Abs. 2: a) Die unter der früheren Rechtslage so umstrittene Frage, ob auch die Vornahme sexueller Handlungen „vor" einem anderen ein Unzuchttreiben „mit" diesem darstellt (vgl. BGH 4, 323; 5, 88; 8, 1), ist jetzt gesetzgeberisch dadurch gelöst, daß die Vornahme sexueller Handlungen „vor" einem anderen in Abs. 2 Nr. 1 einer Sonderregelung unterzogen wurde (siehe auch die entsprechende Regelung in § 176 Abs. 5 Nr. 1). Die Verwirklichung dieses Tatbestands setzt voraus, daß der Schutzbefohlene den äußeren Vorgang der Handlung unmittelbar wahrnimmt, d. h. sieht oder hört oder sonst irgendwie bemerkt. Nicht erforderlich ist allerdings, daß er auch die sexuelle Bedeutung der 583
§ 174
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
Handlung erkennt (vgl. Ber. VI S. 25). Gewisse Einschränkungen ergeben sich andererseits aus dem subj. Tatbestand (s. u. 5). Da die Tat in der Regel typisch exhibitionistische Züge aufweist, besteht gemäß § 183 Abs. 3 i. V. mit Abs. 4 Nr. 2 die Möglichkeit, eine Freiheitsstrafe zwecks Durchführung einer Heilbehandlung auch dann zur Bewährung auszusetzen, wenn die Prognose im Zeitpunkt des Urteils (also noch vor der Heilbehandlung) ungünstig ist. b) Der Vornahme sexueller Handlungen „an" oder „vor" einem Schutzbefohlenen gleich steht der Fall, daß der Täter den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, sexuelle Handlungen vor ihm vorzunehmen (Abs. 2 Nr. 2). Nicht hierher gehört der Fall, daß jemand sich darauf beschränkt, den Schutzbefohlenen nur gewähren zu lassen (anders noch die weitergehende Fassung der BT-Drucksachen VI/1552, VI/3521 und 7/80, vgl. Ber. VII S. 5). Beispiel: Ein Vollzugsbeamter beobachtet zufällig, wie zwei Gefangene in einer Zelle homosexuelle Handlungen vornehmen. Das pflichtwidrige Gewährenlassen sexueller Handlungen seitens eines Schutzbefohlenen ist nach der neuen Rechtslage für sich allein nur unter den Voraussetzungen des § 180 oder dann strafbar, wenn hierdurch die strafbare Handlung eines anderen gefördert wird. Beispiel: A duldet den Geschlechtsverkehr seines 17jährigen Sohnes mit seiner 15jährigen Tochter (Strafbarkeit des A gemäß § 180 Abs. 1 in Tateinheit mit Beihilfe zu § 173 Abs. 2 S. 2). 5. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. Im Falle des Abs. 1 Nr. 2 muß der Vorsatz insbesondere auch das Bewußtsein umfassen, ein Erziehungsverhältnis usw. auszunutzen. Die Fälle des Abs. 2 erfordern zusätzlich die Absicht des Täters, entweder sich oder den Schutzbefohlenen sexuell zu erregen, und zwar gerade durch dessen Anwesenheit (RegE S. 15 BT-Drucks. VI/1552). Nicht tatbestandsmäßig ist deshalb der Fall, daß die sexuellen Handlungen aus - wie auch immer zu bewertenden pädagogischen Gesichtspunkten lediglich Aufklärungszwecken dienen sollen (vgl. RegE aaO.). Nicht hierher gehört auch der Fall, daß Eltern infolge Raumnot in demselben Zimmer, in dem auch ihre 14jährige Tochter schläft, geschlechtlich miteinander verkehren (anders allerdings, wenn sie gerade durch das Bewußtsein, daß die Tochter den Vorgang miterlebt, sexuelle Erregung erstreben). 6. Im Interesse eines umfassenden Jugendschutzes wurde in Abs. 3 der Versuch unter Strafe gestellt. 7. Bei geringem Unrechtsgehalt der Tat kann das Gericht gemäß Abs. 4 in den Fällen des Abs. 1 Nr. 1 und des Abs. 2 i. V. mit Abs. 1 Nr. 1 (also nicht bei Mißbrauch eines Erziehungsverhältnisses usw.) von Strafe absehen. In Betracht kommen beispielsweise Fälle, in denen es nur zu sexuellen Handlungen von geringerer Intensität gekommen ist (vgl. RegE S. 15 BT-Drucks. VI/1552) sowie sog. Konfliktsfälle, z. B., wenn sich ein junger Lehrer von einer bereits erfahrenen, über ihr Alter gereiften 15jährigen Schülerin verführen läßt (vgl. Lackner 9). Prozessual ist für diese Fälle § 153 b StPO zu beachten. 8. Konkurrenzen: Innerhalb der einzelnen Tb.-Alternativen geht wegen der stufenweisen Verschärfung der Rechtsschutzvoraussetzungen Abs. 1 Nr. 3 den Nr. 1 und 2 vor; Nr. 2 tritt auch hinter Nr. 1 zurück (vgl. Lackner 10; Lenckner in Schönke-Schröder 39). Tateinheit ist möglich mit §§ 173, 174 a-179, 180 Abs. 3, 240, aber auch zwischen § 174 Abs. 1 Nr. 1 und § 183 (Lackner § 183 Anm. 7; Lenckner in Schönke-Schröder 39; a. A. hier die Voraufl. sowie Dreher 18). 584
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung § 174 a
§ 174a
Sexueller Mißbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten oder Kranken in Anstalten
(1) Wer sexuelle Handlungen 1. an einem Gefangenen oder 2. an einem auf behördliche Anordnung Verwahrten, der ihm zur Erziehung, Ausbildung, Beaufsichtigung oder Betreuung anvertraut ist, unter Mißbrauch seiner Stellung vornimmt oder an sich von dem Gefangenen oder Verwahrten vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer den Insassen einer Anstalt für Kranke oder Hilfsbedürftige, der ihm zur Beaufsichtigung oder Betreuung anvertraut ist, dadurch mißbraucht, daß er unter Ausnutzung der Krankheit oder Hilfsbedürftigkeit sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von dem Insassen vornehmen läßt. (3) Der Versuch ist strafbar. 1. Die durch das 4. StrRG neu eingefügte Vorschrift ergänzt den ausschließlich auf den Jugendschutz abgestellten § 174. Geschütztes Rechtsgut ist die sexuelle Selbstbestimmung von Personen, die als Gefangene oder aufgrund behördlicher Anordnung ihrer persönlichen Freiheit beraubt sind (Abs. 1) bzw. sich als Kranke oder Hilfsbedürftige in einer entsprechenden Anstalt befinden (Abs. 2). Beide Personengruppen stehen aufgrund ihrer besonderen Situation naturgemäß in einer starken Abhängigkeit zum Aufsichts-, Betreuungs- bzw. Pflegepersonal. In den Fällen des Abs. 1 besteht ein weiterer Schutzzweck darin, das Ziel der Verwahrung nicht durch unerwünschte sexuelle Kontakte mit dem Aufsichtspersonal zu beeinträchtigen. Schließlich geht es auch um den Schutz des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Integrität des Anstaltspersonals (vgl. Ber. VI S. 25). Über Gesetzesgeschichte und Gesetzesmaterialien siehe Vorbem. vor § 174. 2. Der geschützte Personenkreis des Abs. 1 erfaßt Gefangene (siehe hierzu § 120 Anm. 2 a) sowie sonstige Personen, die auf behördliche Anordnung verwahrt werden (siehe hierzu Anm. 4 zu § 120), nicht dagegen Personen, die sich auf freiwilliger Basis in einem Internat, Erziehungsheim oder Jugendwohnheim usw. befinden (vgl. Ber. VI S. 26; VII S. 6). Der Ort der Verwahrung ist unerheblich. Entscheidend ist allein der Status des Verwahrten (vgl. Ber. VI S. 25). Aus dem gleichen Grunde ist es auch unerheblich, ob der sexuelle Mißbrauch innerhalb der Anstalt, bei Außenarbeiten oder auf dem Transport erfolgt. Nicht ausreichend sind dagegen sexuelle Kontakte während einer Haftunterbrechung oder eines „Urlaubs". 3. Der Gefangene bzw. auf behördliche Anordnung Verwahrte muß dem Täter zur Erziehung, Aasbildung, Beaufsichtigung oder Betreuung anvertraut sein. Zu den Erziehern und Ausbildern gehören z. B. Lehrer, Werkmeister und ähnliche Personen, die nicht notwendig zugleich auch Bewachungs- oder Betreuungsfunktionen wahrnehmen müssen. Das Merkmal Beaufsichtigung, auf das in § 174 verzichtet wurde und das sich in § 174 a vor allem auf das reine Bewachungspersonal bezieht (z. B. bei Außenarbeiten oder auf 585
§ 174 a
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
dem Transport), setzt keine engeren oder länger dauernden Beziehungen zwischen Täter und Opfer voraus. Entsprechendes gilt für das Merkmal Betreuung. Im Unterschied zu § 174 (siehe dort Anm. 3 a, bb) ist eine Betreuung „in der Lebensführung" nicht erforderlich. Es genügt vielmehr auch eine nur vorübergehende Betreuung (z. B. durch eine Krankenschwester, die kranke Fürsorgezöglinge nur stundenweise betreut, vgl. Ber. VI S. 25; u. U. auch durch Sozialarbeiter, sofern ihnen Gefangene zur selbständigen Betreuung zugewiesen sind, vgl. Lackner 2 b). 4. Die Tathandlung des Abs. 1 entspricht der des § 174 Abs. 1 (siehe dort Anm. 3), während auf eine dem § 174 Abs. 2 entsprechende Tathandlung bewußt verzichtet wurde. Dieser in den parlamentarischen Beratungen stark umstrittene Verzicht beruht auf der Erwägung, daß bei jugendlichen Gefangenen oder Verwahrten ohnehin auf § 174 Abs. 2 zurückgegriffen werden könne und Erwachsene von sexuellen Handlungen ohne körperliche Kontakte nicht so nachhaltig beeinträchtigt würden, daß ein Strafbedürfnis anzuerkennen sei (vgl. Ber. VI S. 27; kritisch hierzu Dreher JR 1974, 45, 48). 5. Der Täter muß die Tat unter Mißbrauch seiner Stellung begehen. Dieser Begriff ist wesentlich weiter als der Begriff „Mißbrauch der Abhängigkeit" in § 174 Abs. 1 Nr. 2. Anders als in der letztgenannten Vorschrift ist es bei § .174 a Abs. 1 zur Tatbestandsverwirklichung nicht erforderlich, daß der Täter auf den Gefangenen oder Verwahrten einen Druck ausübt oder eine bereits vorhandene Drucksituation ausnützt. Der Täter mißbraucht vielmehr seine Stellung schon dadurch, daß er die sich ihm durch seine Tätigkeit in einer Vollzugs-, Verwahrungs- oder Fürsorgeanstalt bietende Gelegenheit in illegaler Weise ausnutzt (vgl. Ber. VI S. 26 sowie BGH 2, 93, 95; 8, 26; 9,13 zu § 174 Nr. 2 a. F.). Der Täter kann sich also nicht darauf berufen, der Gefangene oder Verwahrte sei mit den sexuellen Handlungen einverstanden gewesen oder habe gar die Initiative ergriffen. Derartige Umstände können sich allenfalls strafmildernd auswirken. Eine Ausnahme von dieser bewußt strengen Beurteilung ist nur für solche Fälle denkbar, in denen das durch die Anstaltsgewalt begründete Verhältnis vollkommen in den Hintergrund tritt, z. B. wenn eine Gefangene oder Verwahrte schon vor ihrer Aufnahme in die Anstalt mit einem Beamten des Vollzugsdienstes verheiratet oder verlobt war (Ber. VI S. 26; Dreher 4). 6. Der geschützte Personenkreis des Abs. 2 erfaßt Kranke und Hilfsbedürftige, die dem Täter in entsprechenden (öffentlichen oder privaten) Anstalten zur Beaufsichtigung oder Betreuung anvertraut sind (s. o. Anm. 3). Als Täter kommen insbesondere Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern in Betracht. Die Tathandlung entspricht der des Abs. 1 (s. o. Anm. 4), die Mißbrauchsklausel ist jedoch enger gefaßt. Der Tb. ist nicht schon dann erfüllt, wenn der Betreuer bzw. die Aufsichtsperson die sich ihm bietende Gelegenheit zu sexuellem Kontakt ausnützt. Erforderlich ist vielmehr die „Ausnutzung der Krankheit oder Hilfsbedürftigkeit". Hieran fehlt es in der Regel, wenn die Initiative von dem Patienten ausgeht (vgl. Ber. VI S. 27), wenn der gesundheitlich wiederhergestellte Patient nur noch zur Abschlußuntersuchung erscheint (a. A. Hamm NJW 1977, 1499; zw.) oder wenn die Beziehungen schon vor dem Aufenthalt in der Anstalt bestanden haben. Die viel diskutierte Entscheidung RG 76, 149 ist damit gegenstandslos geworden (vgl. Dreher JR 1974,45,48). 7. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz. Der Täter muß insbesondere die Tatumstände kennen, die den Vorwurf des Mißbrauchs seiner Stellung (Abs. 1) bzw. der Krankheit oder Hilfsbedürftigkeit (Abs. 2) begründen. Bedingter Vorsatz genügt. 586
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
§ 174b
8. In Abs. 3 ist der Versuch unter Strafe gestellt. Zweifelhaft erscheint allerdings, ob schon die vergebliche Aufforderung an Schutz- oder Pflegebefohlene, mit dem Täter sexuelle Handlungen vorzunehmen, als Anfang der Ausführung angesehen werden kann (so jedoch Ber. VI S. 27 sowie Dreher § 174 Rn. 16). 9. Für Teilnehmer ist § 28 Abs. 1 zu beachten. 10. IdK. ist möglich zwischen Abs. 1 und Abs. 2, ferner mit §§ 174, 174 b, 175,176,177, 179, 240, 332. Bei wiederholten sexuellen Handlungen mit derselben Person ist Fortsetzungszusammenhang möglich, nicht aber bei sexuellen Handlungen mit verschiedenen Personen (vgl. IV 1 vor § 52).
§ 174 b
Sexueller Mißbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellung
(1) Wer als Beamter, der zur Mitwirkung an einem Strafverfahren oder an einem Verfahren zur Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung oder einer behördlichen Verwahrung berufen ist, unter Mißbrauch der durch das Verfahren begründeten Abhängigkeit sexuelle Handlungen an demjenigen, gegen den sich das Verfahren richtet, vornimmt oder an sich von dem anderen vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Geschütztes Rechtsgut ist in erster Linie die sexuelle Selbstbestimmung von Personen, die als Beschuldigte oder Betroffene in ein Strafverfahren oder in ein Verfahren zur Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel (siehe hierzu §§ 63-66) verwickelt sind. Ein weiterer Schutzzweck der Vorschrift besteht darin, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Objektivität und Integrität der Strafverfolgungsorgane zu gewährleisten (vgl. Ber. VI S. 28). Die Vorschrift gehört damit im weiteren Sinn zu den Amtsdelikten. Über Gesetzesgeschichte und Gesetzesmaterialien siehe Vorbem. 3 vor § 174 unter besonderer Berücksichtigung des Beitrags von Horstkotte (Prot. VI S. 1372). 2. Täter kann nur ein Beamter sein, der zur Mitwirkung an einem Strafverfahren usw. berufen ist. a) Zur Mitwirkung an einem Strafverfahren (einschließlich Ermittlungsverfahren) berufen sind vor allem Richter, Staatsanwälte, Polizeibeamte, Beamte der Steuer- und Zollfahndung, Beamte der Bahnpolizei sowie Bürgermeister, soweit sie nach Landesrecht (z. B. in Bad.-Wttbg. gemäß § 48 Abs. 4 PolG, vgl. BGH 12, 277) als Ortspolizeibehörde tätig sind. b) Zur Mitwirkung an einer freiheitsentziehenden Maßregel (siehe hierzu §§ 63, 64, 65, 66) berufen sind vor allem Richter, Staatsanwälte und Polizeibeamte, ferner beamtete Ärzte, die Gutachten über das Vorliegen der Voraussetzungen der beabsichtigten Unterbringung zu erstatten haben. 587
§ 175
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
c) Zur Mitwirkung an einer behördlichen Verwahrung (in Betracht kommen insbesondere der Arrest nach der Wehrdisziplinarordnung, die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgrund der landesrechtlichen Unterbringungsgesetze, die Abschiebungshaft und die Haft nach § 16 des Ausländergesetzes, die zwangsweise Unterbringung in einem Krankenhaus gemäß § 37 Abs. 2 des Bundesseuchengesetzes, die Verwahrung aufgrund der Polizei- und Ordnungsgesetze der Länder sowie die Unterbringung nach § 26 des Bundessozialhilfegesetzes, vgl. Ber. VI S. 29) berufen sind die Beamten der hierfür jeweils zuständigen Dienststellen, aber auch beamtete Ärzte, die z. B. über das Vorliegen der Voraussetzungen landesrechtlicher Unterbringungsgesetze usw. zu befinden haben (Ber. VIS. 29). 3. Geschützt sind nur Personen, die in ein Strafverfahren oder ein anderes der in Anm. 2 näher bezeichneten Verfahren verwickelt wurden. Auf den Schutz von Personen, denen andere hoheitliche Amtshandlungen drohen (z. B. Zwangsvollstreckung, Ausweisung usw.) wurde bewußt verzichtet, um den Tb. nicht zu weit auszudehnen. Ein besonderes Schutzbedürfnis vor sexuellen Ubergriffen besteht nur bei solchen hoheitlichen Maßnahmen, von denen die Gefahr eines Freiheitsentzugs ausgehen kann (vgl. RegE S. 16, Ber. VI S. 29). Aus ähnlichen Erwägungen wurde auch darauf verzichtet, sexuelle Übergriffe unter Ausnutzung eines innerdienstlichen Abhängigkeitsverhältnisses unter Strafe zu stellen (vgl. RegE S. 16, Ber. VI S. 28). Auf diesem Bereich genügen die dem Jugendschutz dienenden neuen Bestimmungen in § 174 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 sowie die allgemeinen Straftatbestände der §§ 177, 178, 185, 240, ferner die Sanktionen des Disziplinarrechts, um den erforderlichen Schutz untergeordneter Bediensteter zu gewährleisten. 4. Die Tathandlung entspricht der des § 174 Abs. 1 (siehe dort Anm. 3). Wie bei § 174 a (siehe dort Anm. 4) wurde auf die strafrechtliche Sanktionierung der in § 174 Abs. 2 beschriebenen Handlungen bewußt verzichtet. 5. Die Mißbrauchsklausel ist enger gefaßt als in § 174 a Abs. 1 und entspricht ungefähr der Mißbrauchsklausel des § 174 a Abs. 2. Es genügt also nicht schon der Mißbrauch der Stellung (siehe hierzu § 174 a Anm. 5); erforderlich ist vielmehr der Mißbrauch der durch das Verfahren begründeten Abhängigkeit. In der Praxis werden sich allerdings die meisten Fälle, in denen ein Beamter die sich ihm aufgrund seiner Stellung bietende Gelegenheit zu sexuellen Handlungen ausnutzt, mit Rücksicht auf die überlegene Stellung des Beamten einerseits und die starke Abhängigkeit des von dem Verfahren Betroffenen andererseits zugleich auch als Mißbrauch der durch das Verfahren begründeten Abhängigkeit darstellen. Jedoch lassen sich Fälle, bei denen diese Abhängigkeit keine Rolle spielt, nicht ausschließen (Ber. VI S. 29). 6. Hinsichtlich Vorsatz, Versuch, Teilnahme und Konkurrenzen gelten die Ausführungen zu § 174 a (siehe dort Anm. 7-10) entsprechend.
§ 175
Homosexuelle Handlungen
(1) Ein Mann über achtzehn Jahre, der sexuelle Handlungen an einem Mann unter achtzehn Jahren vornimmt oder von einem Mann unter achtzehn Jahren 588
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
§ 175
an sich vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Das Gericht kann von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn 1. der Täter zur Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war oder 2. bei Berücksichtigung des Verhaltens desjenigen, gegen den sich die Tat richtet, das Unrecht der Tat gering ist. 1. Die Strafbarkeit der männlichen Homosexualität wurde durch das 4. StrRG auf den Jugendschutz beschränkt, wobei das Schutzalter des früheren Rechts (§ 175 Abs. 1 Nr. 1) von 21 Jahren auf 18 Jahre herabgesetzt wurde. Die Herabsetzung des Schutzalters beruhte u. a. auf den zwischenzeitlich gewonnenen Untersuchungsergebnissen, daß bei Jugendlichen im Alter von 18 Jahren die Triebrichtung in der Regel bereits festliegt, eine unerwünschte Umprägung zur Homosexualität also - normalerweise - nicht mehr zu befürchten ist (vgl. Ber. VI S. 30). Auf die Übernahme des früheren § 175 Abs. 1 Nr. 2 (Ausnutzung bestimmter Abhängigkeitsverhältnisse) wurde verzichtet, weil die in diesem Zusammenhang wirklich strafwürdigen Fälle teils durch § 174 Abs. 1 Nr. 2, teils durch § 240 erfaßt werden (kritisch hierzu Dreher JR 1974, 45, 49). Auf die Übernahme der früheren Nr. 3 des § 175 Abs. 1 (homosexuelle Prostitution), die in der Gerichtspraxis nur eine verhältnismäßig geringe Rolle gespielt hat, wurde ebenfalls ersatzlos verzichtet. Soweit der sog. Strichjunge Kontakte mit älteren Männern aufnimmt, die derartige Kontakte selbst suchen, besteht kein unabweisbares Strafbedürfnis; soweit er Kontakte zu Jugendlichen aufnimmt, ergibt sich die Strafbarkeit ohnehin auch aus der Neufassung der Vorschrift. Die sog. Begleitkriminalität, die keinesfalls unterschätzt werden darf (von Bedeutung ist insbesondere die Gefahr der Erpressung), kann - ebenso wie bei der weiblichen Prostitution - ohne Rücksicht darauf verfolgt werden, ob die Prostitution selbst auch strafbar ist oder nicht (vgl. Ber. VI S. 29 ff.). Über Gesetzesgeschichte und Gesetzesmaterialien siehe Vorbem. 3 vor § 174. Wegen der Verfassungsmäßigkeit siehe BVerfG NJW 1957, 865 sowie NJW 1973,2195. 2. Täter kann nur ein Mann über 18 Jahren sein. Bei Heranwachsenden (Altersgruppe 18-21 Jahre) besteht gemäß Abs. 2 Nr. 1 die Möglichkeit, von Strafe abzusehen. Siehe hierzu näher unten Anm. 6. Bei Jugendlichen unter 18 Jahren, die das Strafbarkeitsalter noch nicht erreicht haben, wird das Jugendamt die geeigneten Maßnahmen zu treffen haben, um eine ungünstige Entwicklung, insbesondere das Abgleiten in die Kriminalität, zu verhindern. Teilnehmer können auch Frauen und Jugendliche unter 18 Jahren sein (vgl. Dreher 3; Lackner 5; Lenckner in Schönke-Schröder 10). 3. Die Tathandlung entspricht der des § 174 Abs. 1 (siehe dort Anm. 3), setzt also voraus, daß es zwischen dem Täter und seinem Partner zu körperlichen Kontakten kommt. Auf die strafrechtliche Sanktionierung der in § 174 Abs. 2 erfaßten Handlungen (Vornahme sexueller Handlungen „vor" einem anderen usw.) wurde dagegen - ebenso wie in den §§ 174 a, b - verzichtet. Damit ist die frühere höchstrichterliche Rechtsprechung zu §175 (vgl. BGH 4, 323; 5, 88; 8,1) gegenstandslos geworden. Die gleichzeitige Selbstbefriedigung mehrerer sowie die Selbstbefriedigung in Gegenwart eines anderen, der den Vorgang „geflissentlich" betrachtet, erfüllt den Tatbestand nicht mehr. Andererseits ist nicht erforderlich, daß der Täter seinen jugendlichen Partner zu den sexuellen Handlungen verführt (vgl. Ber. VIIS. 7).
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§ 176
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
4. Das Schutzalter des Partners wurde, wie bereits oben unter Anm. 1 angeführt, auf 18 Jahre herabgesetzt. 5. D e r Vorsatz muß sich insbesondere auf das Schutzalter des Partners erstrecken. Bedingter Vorsatz genügt. 6. Ein Absehen von Strafe ist gemäß Abs. 2 zunächst bei Heranwachsenden (Altersgruppe 1 8 - 2 1 Jahre) möglich, außerdem dann, wenn bei Berücksichtigung des Verhaltens des jugendlichen Partners das „Unrecht der Tat gering" ist (Nr. 2). Hierher gehören vor allem die Fälle, in denen die Initiative von dem jugendlichen Partner ausgegangen ist, insbesondere wenn es sich bei diesem um einen sog. Strichjungen handelt, den man streng genommen schon gar nicht als „Tatopfer" betrachten kann (vgl. Ber. V I I S . 8; Dreher J R 1974,45,49). 7. IdK. ist möglich mit §§ 1 7 4 - 1 7 4 b, 1 7 6 , 1 7 8 , 1 7 9 und 183 a, außerdem mit § 240. 8. Prozessual zu beachten ist § 153 b StPO (für die Fälle des Abs. 2) sowie § 154 c StPO (wenn der Täter Opfer einer Erpressung wurde).
§ 176
Sexueller Mißbrauch von Kindern
(1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt oder von einem Dritten an sich vornehmen läßt. (3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder 2. das Kind bei der Tat körperlich schwer mißhandelt. (4) Verursacht der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Kindes, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. (5) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt, 2. ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen vor ihm oder einem Dritten vornimmt, oder 3. auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts oder durch entsprechende Reden einwirkt, um sich, das Kind oder einen anderen hierdurch sexuell zu erregen. 590
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
§ 176
(6) Der Versuch ist strafbar; dies gilt nicht für Taten nach Absatz 5 Nr. 3. 1. Die durch das 4. StrRG neugefaßte Vorschrift verfolgt das Anliegen, die gesunde (normale) Entwicklung des Kindes vor allzu frühen sexuellen Erlebnissen zu schützen (vgl. Ber. VI S. 34 f. sowie BGH 15, 118, 121), bringt jedoch gegenüber der früheren Rechtslage sowohl im Aufbau der einzelnen Tatbestände als auch hinsichtlich des Strafrahmens wesentliche Änderungen: Die Tat ist jetzt grundsätzlich nur noch als Vergehen mit einer Höchststrafe von zehn Jahren Freiheitsstrafe strafbar (vgl. Abs. 1 und Abs. 2); in minder schweren Fällen entfällt sogar die für den Regelfall vorgesehene Mindeststrafe von sechs Monaten, während in besonders schweren Fällen auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr zu erkennen ist (Abs. 3). Lediglich wenn der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Kindes verursacht hat, stellt sich die Tat als Verbrechen dar (vgl. Abs. 4). In Abs. 5 werden drei Fallgruppen besonderer Art behandelt, bei denen es nicht zu körperlichen Berührungen zwischen dem Kind und dem Täter oder einem Dritten kommt, die aber gleichwohl als schädlich für die Entwicklung des Kindes angesehen werden müssen. Abs. 6 regelt die Strafbarkeit des Versuchs. Über Gesetzesgeschichte und Gesetzesmaterialien siehe Vorbem. 3 vor § 174. 2. Geschützt sind Kinder unter 14 Jahren. Die parlamentarischen Beratungen ergaben keine hinreichende Veranlassung, das Schutzalter, wie verschiedentlich angeregt (vgl. z. B. Schorsch Prot. VI S. 981, 987), auf 12 Jahre herabzusetzen (vgl. Ber. VI S. 35). Das Geschlecht des Kindes ist unerheblich. 3. Täter kann jeder sein, ohne Rücksicht auf Alter (sofern strafmündig) und Geschlecht. Die Vorschrift kommt daher auch bei homosexuellen Handlungen in Betracht. 4. Die Tathandlung des Abs. 1 entspricht der des § 174 Abs. 1 (siehe dort Anm. 3), setzt also voraus, daß es zwischen Täter und Opfer zu körperlichen Berührungen kommt. Abs. 2 erweitert den Strafbarkeitsbereich auf den Fall, daß der Täter das Kind bestimmt (veranlaßt), sexuelle Handlungen (siehe hierzu § 184 c) an einem Dritten vorzunehmen oder an sich von einem Dritten vornehmen zu lassen. Auch in diesem Fall muß es zu körperlichen Kontakten gekommen sein. Bei dem Dritten kann es sich auch um ein Kind handeln. Beispiel: A veranlaßt auf einem Kinderspielplatz die Kinder X und Y, miteinander sexuelle Spiele zu treiben. Sexuelle Handlungen ohne körperliche Kontakte (z. B. exhibitionistische Handlungen) werden durch Abs. 5 erfaßt (s. u. Anm. 8). 5. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich insbesondre auch auf das Alter des Kindes erstrecken, wobei bedingter Vorsatz genügt. Eine besondere wollüstige Absicht oder Tendenz des Täters ist (anders als in Abs. 5) nicht erforderlich. Tatbestandsmäßig handelt deshalb auch, wer aus bloßer Neugierde oder aus dubiosen pädagogischen Motiven heraus zwei Kinder veranlaßt, miteinander sexuelle Spiele zu treiben (vgl. Ber. VIS. 36). 6. Der Vollzug des Beischlafs (siehe hierzu § 173 Anm. 3) begründet in der Regel einen besonders schweren Fall i. S. des Abs. 3. Ausnahmen sind jedoch auch hier denkbar (z. B. bei partnerschaftlichen, auf einem echten Liebesverhältnis beruhenden Beziehungen zwischen einem 19jährigen Schüler und einer 13jährigen Schülerin, vgl. Ber. VI S. 36). Ein besonders schwerer Fall i. S. von Abs. 3 liegt in der Regel auch dann vor, wenn der Täter
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Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
das Kind körperlich schwer mißhandelt oder zu Perversionen mißbraucht (BGH bei Dallinger MDR 1974, 365; Dreher 15; Lackner 5). Aber auch der wiederholte Mißbrauch eines Kindes oder die Hervorrufung schwerer psychischer Störungen können die Annahme eines besonders schweren Falles rechtfertigen. Ein minder schwerer Fall, bei dem auch auf Geldstrafe erkannt werden kann, liegt immer dann vor, wenn bei Würdigung aller Tatumstände und der Täterpersönlichkeit die Anwendung des normalen gesetzlichen Strafrahmens im konkreten Fall nicht angebracht erscheint (BGH 26, 97). Hierher gehören vor allem relativ harmlose Manipulationen sowie solche Fälle, bei denen die Initiative von dem Kind ausgegangen ist (z. B. einer frühreifen 13jährigen Schülerin). 7. Zur Strafschärfung nach Abs. 4: a) Die Verursachung des Todes ist nach den allgemeinen Grundsätzen der Bedingungsoder Äquivalenztheorie zu bestimmen (siehe hierzu B IV 2 vor § 1). Der Tod des Kindes ist z. B. auch dann verursacht, wenn das Kind auf der Flucht vor dem Täter unvorsichtig über die Straße läuft und hierbei von einem PKW tödlich erfaßt wird oder wenn das Kind aus Verzweiflung Selbstmord begeht (vgl. Lackner 6). b) Der Täter handelt leichtfertig, wenn er sich „grob fahrlässig", d. h. in besonders leichtsinniger oder gleichgültiger Weise, über die naheliegende Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs hinwegsetzt. Einzelheiten und Beispiele siehe § 239 a Anm. VIII 2 und § 316 c Anm. VI 2 sowie C 1 c vor § 1. Ist der Tod Folge einer brutalen Behandlung des Kindes, so liegen in der Regel gleichzeitig die Voraussetzungen des § 177 Abs. 3 oder die des § 178 Abs. 3 vor. c) Die Strafschärfung des Abs. 4 greift auch dann ein (allerdings mit der Möglichkeit der Strafmilderung gemäß § 49 Abs. 1), wenn der Tod als Folge der nur versuchten Tat eintritt, z. B. wenn das Kind sich dadurch dem Täter zu entziehen sucht, daß es auf der Fahrt zum ausgewählten Tatort aus dem fahrenden PKW flieht, nachdem der Täter zuvor trotz der Bitten des Kindes nicht angehalten hat; - oder: Beim Versuch, das Kind zu bestimmten sexuellen Handlungen zu nötigen, wendet de^ Täter so intensiv Gewalt an, daß das Kind stirbt, bevor der Täter seine sexuellen Wünsche befriedigen kann (siehe auch § 239 a Anm. VIII 3 und§ 316 c Anm. VI 2). 8. Sämtliche Fallgruppen des Abs. 5 haben gemeinsam, daß sie - anders als Abs. 1 und 2 - keine körperlichen Kontakte des Kindes mit dem Täter oder einem Dritten voraussetzen, mit Rücksicht auf die möglichen psychischen Reaktionen des Kindes aber ebenso sozialschädlich sein können wie die Tathandlungen der Absätze 1 und 2. Im einzelnen: a) Die Tathandlung der Nr. 1, die in der Regel typisch exhibitionistischen Charakter aufweist und deshalb der besonderen Regelung des § 183 Abs. 3 i. V. mit Abs. 4 Nr. 2 unterliegt (Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung zum Zwecke der Durchführung einer Heilbehandlung, und zwar selbst bei Wiederholungsgefahr vor dieser Heilbehandlung, vgl. Ber. VI S. 37), entspricht der des § 174 Abs. 2 Nr. 1 (siehe dort Anm. 4 a). b) Die Tathandlung der Nr. 2 entspricht der in § 174 Abs. 2 Nr. 2 (siehe dort Anm. 4 b), jedoch mit dem Unterschied, daß auch solche sexuellen Handlungen, die das Kind auf • Veranlassung des Täters vor einem Dritten vornimmt, tatbestandsmäßig sind. 592
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
§ 177
c) Die Strafdrohung der Nr. 3 beruht auf der Erwägung, daß nach den bisherigen Erfahrungen Täter sexuelle Handlungen mit Kindern vielfach dadurch vorbereiten und einleiten, daß sie diesen pornographische Bilder etc. zeigen, um auf diese Weise die Bereitschaft des Kindes zu sexuellen Handlungen zu testen und zu fördern. Über pornographische Abbildungen usw. siehe § 184. Sexualbezogene Abbildungen usw., die nicht unter den Begriff der Pornographie fallen, reichen zur Tatbestandsverwirklichung nicht aus. Nicht erfaßt werden auch pornographische Schriften, die keine entsprechende Abbildungen enthalten (wenig folgerichtig, vgl. Lenckner in Schönke-Schröder 34). Zu den „entsprechenden Reden" gehören auch pornographische Lieder (vgl. Dreher JR 1974, 45, 49) und Gedichte. Die Einwirkung auf das Kind muß ihrer Intensität nach generell geeignet sein, sexuelle Interessen zu wecken oder sexuelle Impulse auszulösen. Das flüchtige Vorzeigen einer pornographischen Abbildung genügt daher nicht (vgl. BGH bei Daliinger MDR 1974, 546). d) Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich insbesondere auf das Alter des Kindes erstrecken, wobei bedingter Vorsatz genügt. Ahnlich wie bei § 174 Abs. 2 ist jedoch zusätzlich die Absicht erforderlich, entweder sich, das Kind oder einen Dritten sexuell zu erregen. Ausreichend ist auch die Absicht, eine bereits bestehende Erregung zu steigern (vgl. Dreher JR 1974,45,49; Lackner 7 b). Siehe im übrigen § 174 Anm. 5. 9. Über die Strafbarkeit des Versuchs siehe Abs. 6 sowie 4 zu § 22. Nach den Vorstellungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform liegt ein strafbarer Versuch spätestens dann vor, wenn der Täter das Kind an den Ort gelockt hat, an dem er die unter Strafe gestellten Handlungen vornehmen will (vgl. Ber. VI S. 38; übereinstimmend BGH bei Dallinger MDR 1974,545,722; a. A. Lenckner in Schönke-Schröder 37). 10. Konkurrenzen: Tateinheit ist möglich zwischen Abs. 1 und Abs. 2 (wichtig für den sog. Triolenverkehr), während Abs. 5 als leichtere Begehungsform nur subsidiäre Bedeutung hat, wenn die Tatbestände der Abs. 1 oder 2 vollendet sind (BGH bei Dallinger MDR 1974, 722; h. L.). Treten die Handlungen der Abs. 1 und 2 dagegen nur ins Versuchsstadium, so steht Abs. 5 hierzu in Tateinheit (BGH aaO.). Tateinheit ist weiter möglich mit §§ 173-175, 177-179, 182 und 240. Abs. 4 kann mit § 226 in Tateinheit stehen; bei vorsätzlicher Tötung kommt nur Tateinheit zwischen §§ 211, 212 mit Abs. 1 in Betracht (vgl. BGH 26, 175 sowie § 251 Anm. 4 zur entsprechenden Rechtslage bei § 251). Abs. 5 Nr. 1 kann mit § 174 Abs. 2 Nr. 1, aber auch mit § 183 in Tateinheit treten (vgl. Lenckner in Schönke-Schröder § 183 Rn. 14; a. A. Dreher 20; hier die Voraufl.). Gegenüber § 184 Abs. 1 Nr. 1 geht § 176 Abs. 5 Nr. 1 vor (BGH NJW 1976,1984). § 177 Vergewaltigung (1) Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zum außerehelichen Beischlaf mit ihm oder einem Dritten nötigt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. (3) Verursacht der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. 593
§ 177
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
1. Geschütztes Rechtsgut der durch das 4. StrRG neu gefaßten Vorschrift ist die sexuelle Selbstbestimmung der Frau. Über Gesetzesgeschichte und Gesetzesmaterialien siehe Vorbem. 3 vor § 174. 2. Wie die Neufassung der Vorschrift jetzt klarstellt, kommt als Täter nicht nur in Betracht, wer selbst den abgenötigten Beischlaf vollzieht, sondern auch derjenige, der unter allgemeinen täterschaftlichen Voraussetzungen an der Gewaltanwendung oder an der tatbestandsmäßigen Drohung mitgewirkt hat (BGH NJW 1977,1829; wichtig für die sog. Gruppennotzucht). Mittäter kann auch eine Frau sein, die im einverständlichen Zusammenwirken mit einem Mann gewaltsam ein Mädchen festhält, damit der Mann mit dem Mädchen den Beischlaf vollziehen kann. Schließlich kann sich sogar der Ehemann der vergewaltigten Frau eines Verbrechens gemäß § 177 schuldig machen, nämlich dann, wenn er seine Frau mit Gewalt usw. zum Geschlechtsverkehr mit einem Dritten zwingt. 3. Opfer kann jede weibliche Person sein, ohne Rücksicht auf Alter, Stand oder Bescholtenheit (also auch eine Prostituierte, die mit ihrem Freier nicht handelseinig geworden ist). 4. Die Tathandlung besteht in der Nötigung zum außerehelichen Beischlaf. Der erzwungene Beischlaf mit dem Ehemann erfüllt also nicht den Tatbestand (anders nur, wenn die Ehe rechtskräftig geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist), kann jedoch unter dem Gesichtspunkt der Nötigung, u. U. auch der Körperverletzung strafbar sein (vgl. Ber. VI S. 39). Über Beischlaf siehe § 173 Anm. 3. 5. Tatmittel sind a) die Anwendung von Gewalt, d. h. jede als körperlicher Zwang empfundene Einwirkung zur Ausschaltung eines geleisteten oder erwarteten Widerstandes. Tatbestandsmäßig sind hierbei nicht nur solche Einwirkungen, die den Beischlaf unmittelbar ermöglichen (sog. vis absoluta, z. B. Würgen bis zur Bewußtlosigkeit, gewaltsames Auseinanderdrükken der Beine usw.); der Tb. ist vielmehr auch dann erfüllt, wenn der Täter die Frau in der Form der sog. vis compulsiva dazu bringt, ihren Widerstand aufzugeben oder schon gar keinen Widerstand zu leisten, z. B. wenn er gleich von Anfang an durch Ohrfeigen, durch Abgabe eines Schreckschusses oder durch Bedrohung mit einer tatsächlichen oder vorgetäuschten Waffe (vgl. BGH 23,126 zu §§ 249 ff.) zu verstehen gibt, daß jeder Widerstand sinnlos ist, und dadurch ihren Widerstandswillen lähmt. Gewalt kann schließlich auch in der Weise verübt werden, daß der Täter den Widerstand der Frau dadurch ausschaltet, daß er ihr - gewaltsam, heimlich oder durch Täuschung - betäubende Mittel oder Alkohol verabfolgt (vgl. Ber. VIS. 38; BGH 14,81; Dreher3; Lackner4 a;Lencknerin SchönkeSchröder 5). Nicht tatbestandsmäßig ist dagegen der Fall, daß die durch die vorausgegangene Nötigung sexuell erregte Frau freiwillig in den Beischlaf einwilligt (vgl. BGH GA 1968, 84). In diesem Fall kommt nur eine Strafbarkeit gemäß § 178 in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung in Betracht (vgl. BGH GA 1964, 377; NJW 1965, 1284; Maurach BT 443; Lackner 3); b) Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben (siehe hierzu § 34 Anm. 2 b-c). Nicht erforderlich ist, daß der Täter die Frau selbst bedroht. Es genügt, daß er eine ihr nahestehende Person (sog. Sympathieperson, siehe auch Anm. VI 2 b zu § 239 a) bedroht, z. B. Ehemann oder Kinder (vgl. Maurach BT 440; Dreher 4; Lackner 4 a).
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Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
§ 178
6. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß insbesondere das Bewußtsein umfassen, daß das Opfer das Vorgehen des Täters als Gewalt bzw. Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben empfindet. Bedingter Vorsatz genügt. 7. Zu den minder schweren Fällen gehören insbesondere die von Hanack (Gutachten Rn. 67) erwähnten Fälle: Gewaltanwendung gegen eine Prostituierte, die mit dem Täter zuvor stundenlang gezecht und Zärtlichkeiten ausgetauscht, außerdem schon früher Geschlechtsverkehr mit ihm hatte; - oder: Gewaltanwendung gegen eine Prostituierte, die unmittelbar vor dem vereinbarten Verkehr vom Täter weiteres Geld verlangt; - oder: Gewaltanwendung gegen ein Mädchen, mit dem der Täter schon wiederholt Intimverkehr hatte, das aber aus irgendeiner Laune heraus sich ausnahmsweise den Wünschen des Täters widersetzt. Hierzu gehören weiter alle Fälle, in denen das Opfer den Täter durch Handlungen provoziert hat, die der Täter als Vorbereitungen zum Verkehr aufgefaßt hat (vgl. Ber. VI S. 40; siehe auch BGH GA 1976,303). 8. Bei der in Abs. 3 unter erhöhte Strafdrohung gestellten Vergewaltigung mit Todesfolge reicht auf der subj. Tatseite bewußte oder unbewußte Fahrlässigkeit nicht aus; die Strafschärfung tritt vielmehr nur dann ein, wenn der Täter den Tod des Opfers leichtfertig verursacht hat. Siehe hierzu ausführlich Anm. 7 zu § 176. Bei vorsätzlicher Tötung stehen die §§ 211, 212 mit § 177 Abs. 1 in Tateinheit. Abs. 3 findet dagegen keine Anwendung (BGH 26, 175 zu § 251). 9. Der Versuch ist strafbar (Verbrechen). Keine versuchte Vergewaltigung, sondern nur eine sexuelle Nötigung gemäß § 178 liegt vor, wenn der Täter mit Gewalt sexuelle Handlungen an einer Frau vornimmt, um sie geschlechtlich zu erregen und dadurch zur Einwilligung in den Geschlechtsverkehr geneigt zu machen (vgl. BGH NJW 1965, 1284 sowie oben 5 a). Bei freiwilligem Rücktritt vom Versuch ist zu prüfen, ob sich der Täter nicht schon wegen eines vollendeten Delikts gemäß §§ 174, 178, 185, 223 f. schuldig gemacht hat (sog. qualifizierter Versuch, vgl. § 24 Anm. 8). Aus der Rspr. zur Freiwilligkeit des Rücktritts siehe § 24 Anm. 5. 10. Tateinheit ist möglich mit §§ 173, 174-174 b, 176, 223 ff., 239. Gegenüber §§ 178, 185 geht § 177 vor. § 222 wird durch Abs. 3 konsumiert (vgl. § 18 Anm. 4). Bei vorsätzlicher Tötung stehen die §§ 211,212 nicht mit Abs. 3, sondern nur mit Abs. 1 in Tateinheit (s. o. 8).
§ 178
Sexuelle Nötigung
(1) Wer einen anderen mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, außereheliche sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. 595
§ 178
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
(3) Verursacht der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. 1. Die durch das 4. StrRG neu gefaßte Vorschrift schützt, wie § 177, die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung. Sie tritt an die Stelle des früheren § 176 Abs. 1 Nr. 1, sieht jedoch bei minder schweren Fällen eine niedrigere Mindeststrafe vor (vgl. Abs. 2). Über Gesetzesgeschichte und Gesetzesmaterialien siehe Vorbem. 3 vor § 174. 2. Täter kann sowohl ein Mann als auch eine Frau sein. Durch die Neufassung der Vorschrift ist weiter klargestellt, daß - entsprechend der Rechtslage bei § 177 (siehe dort Anm. 2) - als Täter nicht nur in Betracht kommt, wer die abgenötigten sexuellen Handlungen (siehe hierzu § 184 c) selbst vornimmt; Täter kann vielmehr auch derjenige sein, der unter allgemeinen täterschaftlichen Voraussetzungen an der Gewaltanwendung oder der tatbestandsmäßigen Drohung nur teilnimmt, um einem Dritten die Vornahme sexueller Handlungen zu ermöglichen. Mittäter kann schließlich auch sein, wer selbst weder gewalttätig wird noch an den sexuellen Handlungen unmittelbar beteiligt ist, wohl aber andere hierzu durch Zurufe anfeuert (vgl. BGH LM Nr. 3 zu § 176 Nr. 1 aF). 3. Opfer kann jede Person sein, ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, Stand oder Bescholtenheit. 4. Die Tathandlung besteht in der Nötigung, außereheliche sexuelle Handlungen (siehe hierzu § 184 c) des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen. Nicht erfaßt wird jedoch der Fall, daß das Opfer genötigt wird, sexuelle Handlungen an sich selbst vorzunehmen (siehe jedoch §§174 Abs. 2 Nr. 2, 176 Abs. 5 Nr. 2,240). Die Beschränkung auf außereheliche sexuelle Handlungen bedeutet nicht, daß der Ehemann der genötigten Frau schlechthin als Täter ausscheidet. Der Ehemann macht sich vielmehr dann gemäß § 178 strafbar, wenn er seine Frau mit Gewalt usw. zwingt, mit einem Dritten sexuelle Handlungen vorzunehmen. 5. Hinsichtlich der Tatmittel gelten die Ausführungen zu § 177 (siehe dort Anm. 5) entsprechend. Zu beachten ist, daß die Gewalt immer Mittel zum Zweck sein muß. In aller Regel geht die Gewaltanwendung der sexuellen Handlung voraus. Gewaltanwendung und sexuelle Handlung können aber auch zeitlich zusammenfallen, z. B. wenn ein Arzt die entkleidet vor ihm stehende Patientin an sich preßt und versucht, ihre Oberschenkel gewaltsam auseinanderzudrücken (Sachverhalt von BGH 17, 1) oder wenn der Täter, weil er noch nie eine unbekleidete Frau gesehen hat, in wollüstiger Absicht einer sich wehrenden, weinenden und schreienden Frau gewaltsam die Kleider vom Körper reißt (BGH NJW 1970, 1645). Die Gewaltanwendung muß aber auch hier Mittel zum Zweck sein; ist sie Selbstzweck, z. B. bei sadistisch motivierten Züchtigungen, so kommt §178 nicht in Betracht. Der Tb. ist daher nicht erfüllt, wenn das Opfer die sadistischen Züchtigungen freiwillig duldet (vgl. BGH 17,4; Lackner 2 a; Lenckner in Schönke-Schröder 3). 6. Hinsichtlich Vorsatz, minder schwere Fälle (Abs. 2), sexuelle Nötigung mit Todesfolge (Abs. 3), Versuch und Konkurrenzen gelten die Ausführungen zu § 177 (siehe dort Anm. 6-10) entsprechend.
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Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung § 179
§ 179
Sexueller Mißbrauch Widerstandsunfähiger
(1) Wer einen anderen, der 1. wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit zum Widerstand unfähig ist oder 2. körperlich widerstandsunfähig ist, dadurch mißbraucht, daß er unter Ausnutzung der Widerstandsunfähigkeit außereheliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von dem Opfer vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Wird die Tat durch Mißbrauch einer Frau zum außerehelichen Beischlaf begangen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. 1. Die durch das 4. StrRG neu eingeführte Vorschrift tritt an die Stelle des früheren § 176 Abs. 1 Nr. 2 und des 2. Altemativtatbestandes in § 177 Abs. 1, ist jedoch wesentlich weiter gefaßt als die Tatbestände des früheren Rechts. Geschütztes Rechtsgut ist die Integrität widerstandsunfähiger Personen gegen sexuellen Mißbrauch. Im Gegensatz zum früheren Recht erstreckt sich der Schutz nicht nur auf Frauen, sondern auch auf Männer, und zwar gegen sexuelle Übergriffe jeder Art. Der Mißbrauch einer Frau zum außerehelichen Beischlaf wird als qualifizierter Fall in Abs. 2 als Verbrechen unter erhöhte Strafdrohung gestellt. Über Gesetzesgeschichte und Gesetzesmaterialien siehe Vorbem. 3 vor § 174. 2. Geschützt sind alle Personen (ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht), die aufgrund eines krankhaften psychischen oder körperlichen Defekts widerstandsunfähig, d. h. nicht in der Lage sind, hinsichtlich der in Frage stehenden sexuellen Handlungen einen eigenen freien Willen zu fassen oder einen an sich vorhandenen Abwehrwillen zu realisieren. Der Zustand der Widerstandsunfähigkeit muß in jedem Einzelfall für den Zeitpunkt der Tat nachgewiesen werden. So besteht z. B. kein Anlaß, schizophrene Personen außerhalb der akuten Schübe in den Schutz der Vorschrift einzubeziehen (vgl. Ber. VI S. 41; Hanack, Gutachten Rn. 112). 3. Die Widerstandsunfähigkeit kann in Anlehnung an § 20 beruhen a) auf einer krankhaften seelischen Störung, d.h. einer von der Norm abweichenden, tiefgreifenden Beeinträchtigung der Denktätigkeit, der Willensbildung, des Gefühls- oder Trieblebens (vgl. RG 73, 122; BGH 14, 30; GA 1962, 185; NJW 1962, 1779; Maurach AT 432). Als Ursachen dieser Beeinträchtigung kommen zunächst alle Geisteskrankheiten in Betracht, und zwar sowohl die exogenen als auch die endogenen Psychosen (siehe hierzu ausführlich § 20 Anm. 3 a, aa). Aber auch schwere Fälle der Satyriasis (krankhafte Steigerung des Geschlechtstriebs beim Mann) und der Nymphomanie (krankhaft übersteigerter Geschlechtstrieb bei der Frau) können als krankhafte seelische Störungen angesehen werden; siehe jedoch unten 6 b sowie Lenckner in Schönke-Schröder 5); 597
§ 179
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
b) auf einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung. Über Bewußtseinsstörung siehe § 20 Anm. 3 b. „Tiefgreifend" ist die Bewußtseinsstörung, wenn sie das seelische Gefüge des Betroffenen zerstört oder erheblich erschüttert hat (Ber. S. 11 BT-Drucks. V/4095 zu §§ 20, 21). Ursache und Dauer der Bewußtseinsstörung sind unerheblich. Entscheidend ist allein, daß sie zur Tatzeit zum Ausschluß der Widerstandsfähigkeit geführt hat. Abweichend von § 20 werden auch die Fälle der völligen Bewußtlosigkeit (Schlaf, Ohnmacht usw.) erfaßt (vgl. Lenckner in Schönke-Schröder 4 m. Nachw.); c) auf Schwachsinn (§ 20 Anm. 3 c); d) auf anderen seelischen Abartigkeiten, die zwar nicht krankhaft sind (sonst liegt bereits lit. a vor), die Persönlichkeit aber so verformen, daß sie „Krankheits wert" haben. Hierher gehören zu diesem Zusammenhang vor allem psychopathische bzw. neurotische Störungen des Sexualtriebs, die so intensiv sind, daß sie die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Betroffenen ausschalten und diesen dadurch gegen sexuelle Einflüsse widerstandsunfähig machen. Dies gilt insbesondere (falls nicht schon die Voraussetzungen von lit. a vorliegen) für die Fälle der Satyriasis und der Nymphomanie. Willensschwäche oder sonstige reine Charaktermängel reichen allerdings nicht aus; e) auf einem körperlichen Mangel (vgl. Abs. 1 Nr. 2), z. B. wenn das Opfer gelähmt oder gefesselt ist und sich aus diesem Grunde nicht wehren kann. Nicht hierher, sondern unter die Gruppe lit. b gehören dagegen die von Hanack ZStW 77, 448 f. angeführten Fälle, daß das Opfer durch Alkoholkonsum oder Müdigkeit „gelähmt" ist. Bei einer intensiven „Lähmung" aufgrund eines Schrecks oder einer Überrumpelung kann jedoch u. U. auch körperliche Widerstandsunfähigkeit angenommen werden. Über weitere schwierig zu entscheidende Grenzfälle siehe Hanack aaO. 449. 4. Täter eines Vergehens nach Abs. 1 kann auch eine Frau sein. Da die Tat ein eigenhändiges Delikt darstellt (vgl. KG NJW 1977, 817 m. Nachw.), kommen Personen, die selbst keine sexuellen Handlungen an dem Widerstandsunfähigen vornehmen oder von diesem an sich vornehmen lassen, nur als Anstifter oder Gehilfen in Betracht. Mittäterschaft solcher Personen kommt dagegen ebensowenig in Betracht wie mittelbare Täterschaft (KG aaO.). 5. Die Tathandlung entspricht der des § 174 Abs. 1 (siehe dort Anm. 3), ist jedoch - wie in § 178 - auf außereheliche sexuelle Handlungen beschränkt. Der Ehegatte der widerstandsunfähigen Person kann also, wenn er sexuelle Handlungen eines Dritten veranlaßt oder fördert, nie Täter (Mittäter), sondern nur Anstifter oder Gehilfe sein. 6. Die Mißbrauchsklausel entspricht der in den §§ 174 Abs. 1 Nr. 2, 174 a Abs. 2, 174 b getroffenen Regelung. Sie stellt klar, daß nicht schon jeder sexuelle Kontakt mit einer widerstandsunfähigen Person strafbar ist, sondern nur dann, wenn der Täter die widerstandsunfähige Person unter Ausnutzung der Widerstandsunfähigkeit mißbraucht. Durch diese einengende Formulierung wird der Anwendungsbereich der Vorschrift auf die wirklich strafbedürftigen Fälle beschränkt. a) An einer Ausnutzung der Widerstandsfähigkeit fehlt es z. B., wenn eine schwachsinnige Frau zu einem Mann ein festes partnerschaftliches Verhältnis unterhält oder wenn die sexuellen Kontakte im Rahmen der sonstigen persönlichen Beziehungen nur eine
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Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
§ 180
untergeordnete Rolle spielen. Es kann nicht Aufgabe der Vorschrift sein, geistig oder körperlich behinderte Personen dadurch von sexuellen Kontakten auszuschließen, daß der Partner unter Strafdrohung gestellt wird (vgl. Ber. VI S. 41; KG NJW 1977, 817; Lenckner in Schönke-Schröder 10). b) Nicht jede Ausnutzung der Widerstandsunfähigkeit bedeutet zugleich einen Mißbrauch der jeweils betroffenen Person. Durch diese weitere Einschränkung des Tatbestands werden z. B. die Fälle aus dem Strafbarkeitsbereich ausgeschlossen, bei denen es unter befreundeten oder gar verlobten Partnern nach gemeinsamem Alkoholgenuß im fortgeschrittenen Stadium der „Feier" zu sexuellen Handlungen kommt, die die betreffenden Personen - für den Partner erkennbar - im nüchternen Zustand nicht vorgenommen hätten (vgl. Ber. VI S. 41; Hanack, Gutachten Rn. 113). Von einem „Mißbrauch" kann normalerweise auch dann nicht gesprochen werden, wenn sich ein Mann mit einer für ihn erkennbar nymphomanen Frau einläßt (anders nur, wenn deren Krankheit in exzessiver, möglicherweise sogar gesundheitsschädigender Weise bewußt ausgenutzt wird). Utiter Berücksichtigung dieser einschränkenden Elemente verbleiben für den Anwendungsbereich der Vorschrift in erster Linie die Fälle, in denen es zu sexuellen Übergriffen gegenüber Personen kommt, mit denen der Täter sonst in keinem näheren Kontakt steht, insbesondere keine sexuellen Kontakte unterhält, und die ihm auch sonst durch ihr vorausgegangenes Verhalten keinen Anlaß zu sexuellen Handlungen gegeben haben. Beispiele: Ein Arzt vergeht sich an einer Patientin während der Narkose; - oder: Vornahme sexueller Handlungen an einer Frau, die offensichtlich unter dem Einfluß von Drogen halbnackt durch die Gegend irrt. 7. Gemäß Abs. 2 wird die Tat zum Verbrechen, wenn eine (psychisch oder körperlich) widerstandsunfähige Frau zum außerehelichen Beischlaf mißbraucht wird (über Beischlaf siehe § 173 Anm. 3). Im übrigen setzt die Vorschrift alle übrigen Merkmale des Abs. 1 voraus. Ein minder schwerer Fall liegt insbesondere dann vor, wenn der Täter sich durch die günstige Situation hat verführen lassen, ohne daß er selbst die treibende Kraft gewesen ist. 8. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich insbesondere auf den Zustand der (psychischen oder körperlichen) Widerstandsunfähigkeit erstrecken. 9. Der Versuch ist nur in den Fällen des Abs. 2 strafbar. 10. Tateinheit ist möglich mit §§ 173-176, ferner mit §§ 223 ff., 239 ff. Gegenüber §§ 177, 178 tritt § 179 als subsidiär zurück (vgl. Dreher 13; Lackner 9; Lenckner in Schönke-Schröder 16).
§ 180
Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger
(1) Wer sexuellen Handlungen einer Person unter sechzehn Jahren an oder vor einem Dritten oder sexuellen Handlungen eines Dritten an einer Person unter sechzehn Jahren 1. durch seine Vermittlung oder 2. durch Gewähren oder Verschaffen von Gelegenheit 599
§ 180
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
Vorschub leistet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Satz 1 Nr. 2 ist nicht anzuwenden, wenn der zur Sorge für die Person Berechtigte handelt; dies gilt nicht, wenn der Sorgeberechtigte durch das Vorschubleisten seine Erziehungspflicht gröblich verletzt. (2) Wer eine Person unter achtzehn Jahren bestimmt, sexuelle Handlungen gegen Entgelt an oder vor einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen, oder wer solchen Handlungen durch seine Vermittlung Vorschub leistet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (3) Wer eine Person unter achtzehn Jahren, die ihm zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut oder im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist, unter Mißbrauch einer mit dem Erziehungs-, Ausbildungs-, Betreuungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnis verbundenen Abhängigkeit bestimmt, sexuelle Handlungen an oder vor einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (4) In den Fällen der Absätze 2 und 3 ist der Versuch strafbar. 1. Die durch das 4. StrRG grundlegend neu gestaltete Vorschrift geht davon aus, daß die Förderung sexueller Handlungen für sich allein noch kein strafbedürftiges Unrecht darstellt. Die Mittel des Strafrechts sollen vielmehr nur gegen solche Förderungshandlungen eingesetzt werden, durch die ein schutzwürdiges Rechtsgut beeinträchtigt wird und die der Beeinflussung durch das Strafrecht zugänglich sind (vgl. Ber. VI S. 42). In konsequenter Verfolgung dieser Tendenz wurde die Strafbarkeit der Förderungshandlungen beschränkt auf den Jugendschutz (§ 180) sowie auf bestimmte sozialschädliche Formen der Förderung bzw. Ausbeutung der Prostitution (§§ 180 a, 181 a). Alle übrigen Formen der sog. Kuppelei sind dagegen - entgegen der früheren Fassung des Gesetzes - selbst dann nicht strafbar, wenn die Förderung gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz erfolgt. Ein Gastwirt, der an einen 19jährigen Schüler und dessen 16jährige Freundin ein Doppelzimmer vermietet, kann deshalb, wenn er unter Ausnutzung der Unerfahrenheit der jungen Leute einen überhöhten Preis fordert, nur noch wegen Wuchers, aber nicht mehr wegen Kuppelei bestraft werden. Auch die Ehegattenkuppelei ist - entgegen der von der Opposition in den parlamentarischen Gremien bis zuletzt mit beachtlichen Argumenten vertretenen Forderung (siehe auch die Kritik von Dreher JR 1974, 45, 50) - selbst dann nicht strafbar, wenn ein Ehegatte die außerehelichen sexuellen Handlungen des anderen Ehegatten aktiv fördert oder gar vermittelt. Über Schrifttum, Gesetzesgeschichte und Gesetzesmaterialien siehe 3 vor § 174. 2. Die Schutzaltersgrenze des Abs. 1 wurde auf 16 Jahre festgesetzt. Anliegen der Vorschrift ist es zu verhindern, daß Jugendliche im Alter von 14 und 15 Jahren von Dritten mißbräuchlich in sexuelle Handlungen hineingezogen und dadurch der Gefahr einer Fehlentwicklung auf sexuellem Gebiet ausgesetzt werden (vgl. Ber. VI S. 42). Die Vorschrift kommt aber auch bei Kindern unter 14 Jahren in Betracht (vgl. Dreher JR 1974, 45, 51; Lenckner in Schönke-Schröder 9; unklar insoweit Ber. VI S. 44). Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren sind nur unter den engeren Voraussetzungen der Absätze 2 und 3 geschützt. 600
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
§ 180
3. Die Tathandlung besteht darin, daß der Täter den sexuellen Handlungen (siehe hierzu § 184 c) durch seine Vermittlung oder durch Gewähren oder Verschaffen von Gelegenheit Vorschub leistet. a) Vorschubleisten ist jede Verbesserung der Bedingungen für die Vornahme sexueller Handlungen. Unerheblich ist, ob es dann auch tatsächlich zu sexuellen Handlungen kommt (vgl. Ber. VI S. 44; BGH 24, 249). b) Vermittlung ist die Herstellung der persönlichen Beziehungen zwischen den Partnern, z. B. durch Veranstaltung einer „Sex-Party", durch Adressenvermittlung oder durch Beschäftigung jugendlicher Callgirls oder Animierdamen. Der Tb. kann aber auch in „harmloserer" Form verwirklicht werden, z. B. dadurch, daß A seine 15 jährige Schwester dazu überredet, mit seinem Freund sexuelle Beziehungen aufzunehmen. c) Ein Gewähren oder Verschaffen von Gelegenheit liegt insbesondere dann vor, wenn der Täter dem Jugendlichen oder seinem Partner Räume zur Verfügung stellt. Weitere Beispiele (teilweise übereinstimmend mit lit. b): Veranstaltung von „Sex-Parties", Adressenvermittlung, Hingabe von Geld, um dem Jugendlichen den Besuch bestimmter Veranstaltungen oder eines Bordells zu ermöglichen (RG 51, 46; Dreher 7 sowie JR 1974, 45, 51; Lackner 4 a, bb); oder: Ablenken oder Bestechen eines Hotelportiers, damit dieser nichts gegen eine von oder mit Jugendlichen veranstaltete Sex-Party unternimmt. d) Der Tb. kann auch durch Unterlassen verwirklicht werden, sofern der Unterlassende rechtlich verpflichtet und tatsächlich in der Lage ist, den sich anbahnenden sexuellen Handlungen Einhalt zu bieten. Als Täter kommen insoweit vor allem solche Personen in Betracht, denen der Jugendliche zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist (siehe hierzu § 174 Anm. 2 a). Zu beachten ist in diesem Zusammenhang allerdings das tatbestandsausschließende Erzieherprivileg des Satzes 2 (s. u. Anm. 5). e) Unerheblich ist, von wem die Initiative ausgegangen ist. Der Tb. ist deshalb auch dann verwirklicht, wenn der Täter die Förderung nur auf Veranlassung des Jugendlichen oder seines Partners vornimmt und den in Aussicht genommenen sexuellen Handlungen ablehnend gegenübersteht (vgl. Ber. VI S. 44). 4. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. Da zur Tatbestandsverwirklichung nicht erforderlich ist, daß es zu sexuellen Handlungen kommt, genügt es, wenn der Täter weiß oder billigend in Kauf nimmt, daß er für die etwaige Vornahme solcher Handlungen günstigere Bedingungen schafft. Das Motiv des Täters ist unerheblich. Anders als unter der früheren Rechtslage ist es insbesondere nicht erforderlich, daß der Täter aus Eigennutz oder gewohnheitsmäßig handelt. Der Tb. wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Täter selbst an den sexuellen Handlungen teilnehmen will (wichtig für den sog. Triolenverkehr, vgl. BGH 11, 94 zu § 180 aF). Unerheblich ist schließlich, ob die Initiative vom Täter, von dem Jugendlichen oder einem Dritten ausgegangen ist (s. o. 3 e). 5. Völlig neu und auch im ausländischen Strafrecht ohne Parallele (vgl. Jescheck Prot. VI S. 1101) ist das Erzieherprivileg in Abs. 1 S. 2, bei dessen Vorliegen bereits die Tatbestandsmäßigkeit (also nicht erst die Schuld) entfällt (vgl. Dreher JR 1974,45,51; Lackner 5 c; Lenckner in Schönke-Schröder 19).
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§ 180
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
a) Primäres Anliegen der Vorschrift ist es, die Fälle des sog. pädagogischen Notstands aus dem Bereich der Tatbestandsmäßigkeit auszuschließen. Gemeint sind insbesondere die Fälle, in denen es den Eltern eines noch nicht 16 Jahre alten Jugendlichen nicht zugemutet werden kann, diesen von seiner sexuellen Aktivität abzuhalten (vgl. Ber. VI S. 45). Soweit das „Vorschubleisten" in derartigen Fällen in einem Unterlassen zu sehen war (Regelfall), entfiel die Strafbarkeit der Eltern schon nach früherem Recht unter dem Gesichtspunkt des übergesetzlichen schuldausschließenden Notstands (vgl. Ber. VI 5. 45). Die jetzige Fassung des Gesetzes schließt die Tatbestandsmäßigkeit über die frühere Rechtslage hinaus auch für die Fälle aus, in denen das Gewähren bzw. Verschaffen von Gelegenheit durch aktives Tun erfolgt, z. B. wenn eine Mutter unter dem Druck der Verhältnisse den 19jährigen Freund ihrer 15jährigen Tochter in die Wohnung aufnimmt, nachdem die Tochter gedroht hat, andernfalls das Haus zu verlassen oder sich das Leben zu nehmen. b) Ein weiteres Anliegen der Vorschrift besteht darin, dem Erziehungsberechtigten einen gewissen Spielraum in der Sexualerziehung einzuräumen (vgl. Ber. VI S. 45). Hierzu gehört z. B. ¿1er Fall, daß die Eltern der sexuellen Betätigung ihrer 15jährigen Tochter zwar ablehnend gegenüberstehen und auch kein pädagogischer Notstand in dem oben beschriebenen Sinn vorliegt, sie aber ein striktes Verbot, obwohl sie es durchsetzen könnten, für pädagogisch verfehlt halten (vgl. Ber. aaO.). c) Aufgrund der ursprünglich vorgesehenen, vom Bundestag in der Sitzung am 7. 6. 1973 bereits verabschiedeten Fassung des Abs. 1 S. 2 war weiter vorgesehen, auch solche Personen, die mit Einwilligung des Erziehungsberechtigten Förderungshandlungen vornehmen, in das Erzieherprivileg einzubeziehen (sog. verlängertes Erzieherprivileg). Diese Regelung wurde jedoch in der Endphase der parlamentarischen Beratungen wieder fallen gelassen. Auch ohne das verlängerte Erzieherprivileg bleiben jedoch solche Personen straflos, die auf Weisung des Erziehungsberechtigten nur untergeordnete Förderungshandlungen vornehmen. Beispiel: Eine Hausangestellte richtet auf Anordnung des Haushaltsvorstands das gemeinsame Nachtlager für die 15jährige Tochter des Hauses und deren Freund. Die Straflosigkeit ergibt sich in diesen Fällen aus dem Gesichtspunkt der Teilnahme an einer nicht tatbestandsmäßigen Handlung (vgl. Dreher 14 sowie JR 1974, 45, 52; Lackner 5 c). Tatbestandsmäßig handelt jedoch der Leiter eines Ferienlagers, der mit Einwilligung der jeweiligen Eltern duldet, daß Jugendliche beiderlei Geschlechts im gleichen Zimmer oder Zelt übernachten. Entsprechendes gilt für Verwandte, Reiseleiter, Lehrer usw. Der Erziehungsberechtigte selbst ist in den letztgenannten Fällen nur dann als Mittäter oder Teilnehmer strafbar, wenn er seine Eiziehungspflichten hierdurch gröblich verletzt (vgl. Dreher aaO.). d) Ausgenommen vom Erzieherprivileg des Satzes 2 sind zunächst die Fälle des Abs. 1 Nr. 1 (Vorschubleisten durch Vermittlung), ferner die Fälle, in denen der Sorgeberechtigte durch das Vorschubleisten oder die Einwilligung seine Errfehungspflicht gröblich verletzt (2. Halbsatz des Satzes 2). „Gröblich" ist die Verletzung der Erziehungspflicht z. B., wenn dem bzw. der Jugendlichen Gelegenheit zur Prostitution, zum ständigen Partnerwechsel, zum Inzest, zur Homosexualität (vgl. Dreher JR 1974, 45, 51) oder zur Sodomie gewährt wird oder wenn die Erziehungsberechtigten aus purer Gewinnsucht handeln (vgl. Dreher aaO.). In diesen Fällen kommt Tateinheit mit § 170 d in Betracht. 6. Anliegen des Abs. 2 ist es, Jugendliche von entgeltlichen sexuellen Handlungen fernzuhalten, durch die sie in die Gefahr kommen könnten, in die Prostitution abzugleiten.
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Nach den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung hat nämlich ein beträchtlicher Teil der Prostituierten bereits in jugendlichem Alter erste Erfahrungen mit der bezahlten Hingabe gemacht (RegE, S. 24 BT-Drucks. VI/1552). a) Mit Rücksicht auf die mangelnde Lebenserfahrung und die leichte Beeinflußbarkeit des charakterlich noch nicht gefestigten Jugendlichen wurde das Schutzalter auf 18 Jahre festgesetzt. b) Die Tathandlung der 1. Alternative besteht darin, daß der Täter den Jugendlichen bestimmt, gegen Entgelt sexuelle Handlungen an einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen. Dem gleich steht der Fall, daß der Jugendliche bestimmt wird, selbst sexuelle Handlungen vor einem Dritten vorzunehmen. Beispiel: Ein Barbesitzer veranlaßt eine 17jährige Angestellte, im Rahmen seiner Stripteaseschau einen „scharfen" Striptease gegen entsprechende Bezahlung zu zeigen. c) Die Tathandlung der 2. Alternative besteht darin, daß der Täter zu den in lit. b) beschriebenen sexuellen Handlungen durch seine Vermittlung (s. o. 3 b) Vorschub leistet. Beispiel: A vermittelt einem Barbesitzer eine Jugendliche, die bereit ist, gegen Bezahlung „scharfen" Striptease zu zeigen. d) Gegen Entgelt wird eine sexuelle Handlung vorgenommen, wenn eine Zuwendung an den Jugendlichen der ausschlaggebende Beweggrund für seine sexuelle Handlung ist. Der Jugendliche und sein Partner müssen sich (ausdrücklich oder stillschweigend) darüber geeinigt haben, daß sie sexuellen Handlungen im Austausch gegen die geleistete oder zugesagte Zuwendung erfolgen soll (vgl. RegE aaO. S. 24). Nicht ausreichend ist es, wenn der Jugendliche durch ein Geschenk lediglich in eine geneigte Stimmung versetzt werden soll oder wenn es um den Gewinn einer Wette geht. Die als Entgelt geleistete oder zugesagte Zuwendung muß wirtschaftlichen Wert haben. In Betracht kommen demnach nicht nur Geldzahlungen und Sachwerte, sondern auch Urlaubsreisen (RegE S. 24 sowie § 11 Abs. 1 Nr. 9). 7. Abs. 3 bringt eine Ergänzung des § 174 Abs. 1 Nr. 2. Hinsichtlich des geschützten Personenkreises, des Täterkreises und der Mißbrauchsklausel kann auf die Ausführungen zu § 174 (Anm. 2) Bezug genommen werden. Die Tathandlung entspricht der 1. Alternative des § 180 Abs. 2 (s. o. Anm. 6 b). 8. Wie bei § 174 (siehe dort Abs. 3) ist im Interesse eines möglichst umfassenden Jugendschutzes in Abs. 4 der Versuch in den Fällen der Absätze 2 und 3 unter Strafe gestellt. Dies bedeutet, daß in diesen Fällen bereits die erfolglose Aufforderung, sexuelle Handlungen an oder vor einem Dritten vorzunehmen bzw. von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen, den Versuch eines Vergehens nach Abs. 2 darstellt (vgl. Lenckner in Schönke-Schröder 32,39). 9. Teilnahme: Die an den sexuellen Handlungen beteiligten Minderjährigen, zu deren Schutz die Vorschriften dienen, bleiben als notwendig an der Tat Beteiligte nach allgemeinen Grundsätzen straflos (vgl. 5 vor § 25). Der an den sexuellen Handlungen beteiligte Dritte bleibt dagegen nur dann straflos, wenn sich sein Tatbeitrag darauf beschränkt, die Dienste des Täters in Anspruch zu nehmen. Dagegen liegt strafbare Anstiftung vor, wenn er sich über diesen notwendigen Tatbeitrag hinaus aktiv in das Geschehen einschaltet (BGH 10, 386; 15, 377; Dreher 25; Horstkotte JZ 1974, 87; a. A. Lackner 7; Lenckner 603
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in Schönke-Schröder 43 m. weit. Nachw.). Beispiel: A veranlaßt den X, ihm für die Durchführung einer „Sex-Party" mit 15jährigen Schülerinnen seine Wohnung zur Verfügung zu stellen. 10. Konkurrenzen: Abs. 1 kann in IdK. treten mit Anstiftung und Beihilfe zu den §§ 173 ff.; bei Abs. 2 und Abs. 3 ist IdK. vor allem mit § 174 Abs. 1 Nr. 2 und § 174 Abs. 2 Nr. 2 möglich, wenn der Täter selbst an den sexuellen Handlungen des Schutzbefohlenen teilnimmt bzw. diesen zu solchen Handlungen vor sich und einem Dritten bestimmt. IdK. ist weiter möglich mit §§ 180 a, 181, 181 a, 240 sowie innerhalb der einzelnen Tatbestände des § 180 (vgl. Dreher 26; a. A. Lenckner in Schönke-Schröder 45: Abs. 2 und 3 gehen dem Abs. 1, dessen Schutzzweck sie mitumfassen, als schwerere Formen vor).
§ 180 a
Förderang der Prostitution
(1) Wer gewerbsmäßig einen Betrieb unterhält oder leitet, in dem Personen der Prostitution nachgehen und in dem 1. diese in persönlicher oder wirtschaftlicher Abhängigkeit gehalten werden oder 2. die Prostitutionsausübung durch Maßnahmen gefördert wird, welche über das bloße Gewähren von Wohnung, Unterkunft oder Aufenthalt und die damit üblicherweise verbundenen Nebenleistungen hinausgehen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer 1. einer Person unter achtzehn Jahren zur Ausübung der Prostitution Wohnung, gewerbsmäßig Unterkunft oder gewerbsmäßig Aufenthalt gewährt oder 2. einen anderen, dem er zur Ausübung der Prostitution Wohnung gewährt, zur Prostitution anhält oder im Hinblick auf sie ausbeutet. (3) Wer einen anderen gewerbsmäßig anwirbt, um ihn dazu zu bringen, daß er der Prostitution nachgeht, oder um ihn zur Prostitutionsausübung in einem fremden Land zu veranlassen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (4) Wer eine Person unter einundzwanzig Jahren der Prostitutionsausübung zuführt oder auf sie einwirkt, um sie zur Aufnahme oder Fortsetzung der Prostitution zu bestimmen, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. (5) In den Fällen der Absätze 3 und 4 ist der Versuch strafbar. 1. Die durch das 4. StrRG eingeführte Vorschrift geht davon aus, daß aus rechtlichen und kriminalpolitischen Gesichtspunkten nicht alle Prostitutionsbetriebe verboten werden
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können. Dies gilt insbesondere für sog. Eros-Center (Dirnenwohnheime), Kontaktbars, Massagesalons und Dirnenstraßen, wie sie in fast allen Großstädten zu finden sind. Die Duldung solcher Einrichtungen hat die positive Wirkung, daß die Allgemeinheit wirksamer vor den mit der Straßenprostitution verbundenen Gefahren und Belästigungen geschützt werden kann. Strafbedürftig sind nur bestimmte sozialschädliche Auswüchse auf dem Gebiet der Prostitutionsförderung. § 180 a hat diese straf bedürftigen Auswüchse in vier selbständigen Tatbeständen (Abs. 1 - 4 ) zusammengefaßt. Über Gesetzesgeschichte und Gesetzesmaterialien siehe Vorbem. 3 vor § 174 unter besonderer Berücksichtigung der Ausführungen von Horstkotte in der Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform am 21. 3. 1973 (Prot. VIIS. 54 ff.). 2. Anliegen des Abs. 1 ist es, die persönliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit und damit zugleich auch die sexuelle Selbstbestimmung der in einem Prostitutionsbetrieb tätigen Prostituierten zu gewährleisten (Köln NJW 1974,1830; Lackner 3 a). a) Täter kann nur sein, wer gewerbsmäßig (siehe hierzu § 260 Anm. 2) einen Prostitutionsbetrieb unterhält (d. h. in eigenem Namen und auf eigene Rechnung betreibt) oder leitet (d. h. verantwortlich für einen anderen betreibt). Mitarbeiter des Betriebs kommen grundsätzlich nur als Anstifter oder Gehilfen in Betracht. Täter können sie nur unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 Nr. 2 sein. b) Prostitution setzt voraus, daß jemand zu Erwerbszwecken wiederholt an oder vor wechselnden Partnern (Partnerinnen) sexuelle Handlungen von einiger Erheblichkeit vornimmt oder an sich vornehmen läßt (Köln NJW 1974, 1830). Unter das Merkmal der Prostitution nachgehen fallen alle Handlungen, die unmittelbar auf die sexuelle Betätigung abzielen, einschließlich der für den Straßenstrich typischen Anbahnungshandlungen (Krhe Justiz 1974, 340; Lackner 2). c) Von einem Prostitutionsbetrieb kann nur dort gesprochen werden, wo mehrere Personen (als solche kommen auch Männer in Betracht) in den Räumen des Betriebs der Prostitution nachgehen. Unerheblich ist, ob auch das Anwerben der Freier in diesen Räumen erfolgt. Das Merkmal „Betrieb" besagt, daß eine gewisse Gesamtorganisation vorhanden sein muß, in die die Prostituierten eingefügt sind (RegE S. 26 BT-Drucks. VI/1552). Zu den Prostitutionsbetrieben gehören insbesondere sog. Eros-Center (Dirnenwohnheime), Kontaktbars und Massagesalons, in denen „Intimmassagen" verabfolgt werden, und zwar auch dann, wenn den Besuchern außer den sexuellen Dienstleistungen noch Sauna, Solarium und ähnliche Einrichtungen angeboten werden (vgl. Lüthge-Bartholomäus NJW 1975,1871; a. A. VG Wiesbaden NJW 1975, 663). d) Nach Abs. 1 Nr. 1 müssen die Prostituierten in persönlicher oder wirtschaftlicher Abhängigkeit „gehalten" werden. Hierzu ist eine gezielte Einwirkung auf ihre persönliche oder wirtschaftliche Unabhängigkeit erforderlich (vgl. RegE aaO. S. 26). Solche Einwirkungen kommen hauptsächlich dort vor, wo Zuhälter ganz oder teilweise die Kontrolle über den Betrieb an sich gezogen haben. Der Inhaber bzw. Leiter des Betriebs ist für diese Mißstände auch dann verantwortlich, wenn er sie nicht selbst hergestellt hat. Es genügt, daß er sie von einem Dritten übernimmt, ohne sie zu ändern, oder wenn er duldet, daß sie in dem von ihm unterhaltenen oder geleiteten Betrieb von Dritten herbeigeführt werden (vgl. RegE aaO. S. 25).
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e) Abs. 1 Nr. 2 enthält ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Die Vorschrift berücksichtigt zunächst, daß sich der Nachweis einer Abhängigkeit i. S. der Nr. 1 - gerade wenn eine solche vorliegt - in der Praxis nur selten beweisen läßt. Sie berücksichtigt weiter, daß bestimmte Maßnahmen zur Förderung der Prostitution erfahrungsgemäß geeignet sind, die Prostituierten in eine Abhängigkeit zu bringen, die es zu vermeiden gilt. aa) Strafrechtlich irrelevant ist das Gewähren von Wohnung, Unterkunft oder Aufenthalt und die damit üblicherweise verbundenen Nebenleistungen. Das bedeutet, daß Leistungen, die im Beherbergungsgewerbe oder bei privaten Zimmervermietungen üblich sind, auch in Dimenwohnheimen gewährt werden dürfen. Zu den zulässigen Nebenleistungen gehören z. B . die Einrichtung von Parkplätzen, die Besorgung der Zimmerreinigung, die Verpflegung der Prostituierten und ihrer Besucher, die Unterhaltung von Notrufanlagen und Gemeinschaftsräumen sowie Gestellung des für die Aufrechterhaltung des Betriebs erforderlichen Personals einschließlich des Pförtners, der z. B . (wie auch sonst in Hotels üblich) das Zimmer einer bestimmten Person bezeichnen und über An- oder Abwesenheit Auskunft geben kann (vgl. Ber. V I I S. 9). Zulässig ist aber auch die Einrichtung sog. Kontakthöfe, die es den Prostituierten ermöglichen, mit ihren Freiem außerhalb des eigentlichen Gebäudes Kontakt aufzunehmen. Da derartige Einrichtungen nicht zwanglos unter den Begriff des Gewährens von Wohnung und Unterkunft subsumiert werden können, wurde in der Schlußphase der parlamentarischen Beratungen noch das Tb.-Merkmal Gewähren von Aufenthalt aufgenommen (vgl. Prot. V I I S. 54 ff.). Ein strafloses Gewähren von Aufenthalt stellt auch der Betrieb sog. Kontaktbars und ähnlicher Räumlichkeiten dar, in denen die Prostituierten sich darauf beschränken, Kontakte anzubahnen, um sich dann mit ihren Freiern in andere Räumlichkeiten zu begeben (vgl. Horstkotte Prot. V I I S. 55). Zu den zulässigen Nebenleistungen gehört weiter das Aufstellen von Gummischutzautomaten sowie die Einrichtung von Alarmglocken und Spiegeln an der Decke (vgl. Horstkotte aaO. S. 56 f.). Strafrechtlich irrelevant sind schließlich alle Förderungsmaßnahmen, die nicht „in" dem Prostitutionsbetrieb vorgenommen werden und schon aus diesem Grund keine Gefahr begründen, die persönliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Prostituierten zu beschränken, z. B . Werbung durch Zeitungsinserate (vgl. K G N J W 1976, 8 1 3 ; Lackner 3 b; Lüthge-Bartholomäus NJW 1975, 1871). Derartige Inserate können jedoch unter § 181 a Abs. 2 sowie unter § 120 Abs. 1 Nr. 2 O W i G fallen ( K G aaO.; siehe auch Krhe 3 Ss ( B ) 29/77: Selbst die dezente Werbung „Hostess ab 18 U h r " ist ordnungswidrig i. S. von § 120 Abs. 1 Nr. 2 O W i G ) . bb) Zu den unzulässigen Nebenleistungen, bei denen die Gefahr der Begründung eines Abhängigkeitsverhältnisses vermutet wird, ohne daß sie im Einzelfall nachgewiesen werden müßte, gehören z. B . die Zuweisung oder Vermittlung eines Freiers an eine bestimmte Prostituierte, die Festsetzung bestimmter „Quoten" von Freiern für die einzelnen Mädchen, die Anwesenheitspflicht der Mädchen zu bestimmten Zeiten sowie Wettbewerbsverbote in dem Sinn, daß die Mädchen außerhalb des Betriebs ihrem Gewerbe nicht nachgehen dürfen (vgl. K G N J W 1976, 813 m. Nachw.). Eine unzulässige Maßnahme mit bordellartigem Charakter wäre es auch, wenn der Dirnenlohn nicht von der jeweiligen Prostituierten, sondern vom Pförtner oder einer sonstigen zentralen Stelle kassiert würde (vgl. Köln N J W 1974, 1830 m. Anm. Loos J R 1975, 248). Insgesamt gesehen bleibt auch unter der jetzigen Rechtslage in § 180 a Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 all das strafbar, was nach der Rspr. des B G H zu § 180 Abs. 2 a F (vgl. NJW 1964, 2 0 2 3 ) als Unterhaltung eines Bordells oder bordellartigen Betriebs unter Strafe gestellt war (vgl. Laufhütte Prot. V I I S . 58; Köln aaO.; K G aaO.).
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3. Abs. 2 Nr. 1 dient dem Jugendschutz. a) Als Täter kommen vor allem Inhaber und Leiter von typischen Prostitutionsbetrieben (s. o. 2 c) sowie Vermieter sog. Absteigequartiere in Betracht. Tatbestandsmäßig handelt aber auch der Inhaber eines Nachtlokals, der es zuläßt, daß eine noch nicht 18jährige Prostituierte in seinem Lokal Kontakte anknüpft (vgl. Ber. VIIS. 9; Horstkotte'Prot. VII S. 55). Private Zimmervermieter handeln nur dann tatbestandsmäßig, wenn die jugendliche Prostituierte mit ihrem Wissen in den gemieteten Räumen ihrem Gewerbe nachgeht. b) Die Gewährung von Wohnung usw. muß zur Ausübung der Prostitution (2 b) erfolgen. Hierher gehören insbesondere die unter lit. a) aufgeführten Fälle. Nicht tatbestandsmäßig handelt jedoch, wer sich darauf beschränkt, einer jugendlichen Prostituierten, die ihr Gewerbe an anderer Stelle ausübt, Wohnung usw. zu gewähren (vgl. Ber. VI S. 48). c) Über gewerbsmäßig siehe § 260 Anm. 2. Im Falle des Wohnunggewährens ist Gewerbsmäßigkeit nicht erforderlich. Tatbestandsmäßig handelt deshalb z. B. auch, wer eine aus dem Elternhaus oder einem Erziehungsheim entlaufene Jugendliche gefälligkeitshalber bei sich aufnimmt und ihr die Möglichkeit gibt, in seinen Räumen der Prostitution nachzugehen. 4. Anliegen des Abs. 2 Nr. 2 ist es, Prostituierte (und zwar ohne Rücksicht auf ihr Alter) vor Ausbeutung zu bewahren. a) Die Vorschrift, die mit § 302 a in Tateinheit treten kann, wendet sich insbesondere gegen die Inhaber typischer Prostitutionsbetriebe (vgl. RegE aaO. S. 27), aber auch gegen solche Personen, die in der Nähe von Truppenübungsplätzen und ähnlichen Bedarfszentren zu ausbeuterischen Preisen Wohnungen an Prostituierte vermieten (vgl. Ber. VII S. 9). Nicht erfaßt werden dagegen der Vermieter eines Absteigequartiere, der nicht Wohnung (d. h. die Möglichkeit eines auf Dauer bestimmten Aufenthalts), sondern nur Unterkunft oder Aufenthalt gewährt (vgl. Ber. VIIS. 10). b) Ein Anhalten zur Prostitution liegt vor allem vor, wenn der Vermieter die Prostituierte zu fleißiger Tätigkeit anspornt, damit sie die Miete bezahlen kann. c) Ein Ausbeuten, d. h. eigensüchtiges und planmäßiges Ausnützen, liegt vor, wenn Leistung und Gegenleistung in einem deutlichen Mißverhältnis stehen, wobei alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind. Die Berechnung eines sog. Unbequemlichkeitszuschlags ist grundsätzlich zulässig. Es liegt auf der Hand, daß die ständig ein- und ausgehenden Besucher Lärm und Unruhe mit sich bringen und oft - wenigstens bei privaten Vermietern - den Ruf des Hauses schädigen. Auch die den Prostituierten gewährten Nebenleistungen (siehe hierzu oben Anm. 2 e) sind bei der Bewertung des Mietpreises zu berücksichtigen. Liegt ein tatbestandsmäßiges Ausbeuten vor, so ist unerheblich, wer den Mietvertrag geschlossen hat und wer die Miete bezahlt. Dies kann z. B. auch der „Verlobte" der Prostituierten oder ein Zuhälter sein (vgl. BGH 10,192). 5. Anliegen des Abs. 3 ist es, Personen, die bisher überhaupt noch nicht oder nur im eigenen Land der Prostitution nachgegangen sind, vor den Gefahren zu bewahren, die von organisierten Zuhälterorganisationen, Call-Girl-Ringen und ähnlichen Agenturen ausgehen. a) Täter kann jeder sein, der aus eigener Initiative oder in fremdem Auftrag handelt. Über gewerbsmäßig siehe § 260 Anm. 2. Nicht tatbestandsmäßig, da nicht gewerbsmäßig,
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handelt z. B. eine Prostituierte, die ihre volljährige Freundin veranlaßt, ebenfalls dieser Tätigkeit nachzugehen. b) Die vom Täter in Aussicht genommene Person ist angeworben, wenn sie sich zu der ihr angetragenen Tätigkeit bereit erklärt. Nicht erforderlich ist, daß sie die Tätigkeit bereits aufnimmt. Weist die in Aussicht genommene Person das Ansinnen des Werbers zurück, so ergibt sich dessen Strafbarkeit aus Abs. 5 (Versuch). c) D a s Ziel der Anwerbung kann einmal darin bestehen, daß eine Person, die bisher noch nicht der Prostitution nachgegangen ist, nunmehr dieser Tätigkeit nachgeht. Dem gleich steht der Fall, daß eine ehemalige Prostituierte, die sich von der Prostitution gelöst hat, dazu gebracht werden soll, ihre frühere Tätigkeit wieder aufzunehmen (vgl. RegE aaO. 5. 27). Schließlich handelt auch tatbestandsmäßig, wer eine Prostituierte mit dem Ziel anwirbt, ihre Tätigkeit in ein anderes Land zu verlegen. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob sie ihre Tätigkeit vom Inland ins Ausland oder umgekehrt verlegen soll (vgl. Ber. V H S . 10). 6. Anliegen des Abs. 4 ist es zu verhindern, daß Personen unter 21 Jahren zur Prostitution gebracht werden. Geschützt sind nicht nur Minderjährige, die bisher der Prostitution noch nicht nachgegangen sind, sondern auch solche, die sich von der Prostitution wieder lösen wollen oder schon gelöst haben. Anders als im Falle des Abs. 3 ist es nicht erforderlich, daß der Täter gewerbsmäßig handelt. Tatbestandsmäßig handelt deshalb auch eine Prostituierte, die ihre 19 Jahre alte Freundin dazu überredet, sich ihrer Tätigkeit anzuschließen. 7. Der Vorsatz muß sich in den Fällen des Abs. 1 insbesondere auf das Vorliegen der unter Strafe gestellten Mißstände erstrecken, aus denen sich die Abhängigkeit (Abs. 1 Nr. 1) bzw. die gesetzlich vermutete Gefahr der Abhängigkeit (Abs. 1 Nr. 2) ergibt. Nicht erforderlich ist, daß der Täter diese Mißstände billigt. Es genügt, daß er sie kennt oder mit ihrem Vorliegen rechnet, aber dennoch nichts dagegen unternimmt. In den Fällen des Abs. 2 Nr. 1 und des Abs. 4 muß sich der Vorsatz auch auf das Alter der geschädigten Person beziehen. Eine über den Vorsatz hinausgehende Absicht ist nur in den Fällen der Absätze 3 und 4 erforderlich (s. o. Anm. 5 c, 6). Eigennutz ist nur im Falle des Abs. 2 Nr. 2 erforderlich. 8. Der Versuch ist nur in den Fällen der Abs. 3 und 4 strafbar. 9. Die Strafbarkeit der Teilnahme richtet sich nach allgemeinen Grundsätzen. Im Falle des Abs. 1 ist u. U. § 14 zu berücksichtigen (s. o. Anm. 2 a). Da alle Tatbestände durchweg als Schutzgesetze zugunsten der Prostituierten bzw. der vor zu frühem Abgleiten in die Prostitution zu bewahrenden Personen anzusehen sind, kann die Prostituierte bzw. die vor dem Abgleiten in die Prostitution zu schützende Person sich selbst nicht wegen Anstiftung oder Beihilfe strafbar machen (sog. notwendige Teilnahme, vgl. 5 vor § 25). 10. Konkurrenzen: IdK. ist möglich innerhalb der einzelnen Absätze des § 180 a, außerdem mit den §§ 174 ff., 180, 181, 181a, 223 ff., 239 ff. und 302 a. Da geschütztes Rechtsgut bei allen Tatbeständen des § 180 a das sexuelle Selbstbestimmungsrecht ist, somit ein höchstpersönliches Rechtsgut der jeweils betroffenen Person, kommt bei mehreren betroffenen Personen Fortsetzungszusammenhang nur in den Fällen des Abs. 1 in
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§ 181
Betracht, wo die Unterhaltung bzw. Leitung eines mit Mißständen behafteten Betriebs unter Strafe gestellt ist, nicht jedoch in den Fällen der Abs. 2-4. 11. Beachte ferner § 181 b (Führungsaufsicht), § 6 Nr. 4 (Auslandstaten) sowie § 120 Abs. 1 Nr. 2 OWiG (unzulässige Werbung für Prostitution).
§ 181
Menschenhandel
Wer einen anderen 1. mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List dazu bringt, daß er der Prostitution nachgeht, oder 2. anwirbt oder wider seinen Willen durch List, Drohung oder Gewalt entführt, um ihn unter Ausnutzung der Hilflosigkeit, die mit seinem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist, zu sexuellen Handlungen zu bringen, die er an oder vor einem Dritten vornehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen lassen soll, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. 1. Die durch das 4. StrRG neu eingefügte Vorschrift erfaßt zwei Fallgruppen, die für die Strafverfolgungspraxis der Bundesrepublik bisher keine nennenswerte Bedeutung gehabt haben. Die Notwendigkeit der Vorschrift ergab sich insbesondere aus der Verpflichtung, einen Straftatbestand zu schaffen, der dem Internationalen Übereinkommen zur Unterdrückung des Frauen- und Kinderhandels entspricht. Dieser Verpflichtung war der deutsche Gesetzgeber bisher, dadurch gerecht geworden, daß er in § 180 a. F. jede eigennützige Kuppelei unter Strafe gestellt hatte (RegE S. 28 BT-Drucks. VI/1552). Durch die Schaffung der neuen Vorschrift gegen den Menschenhandel konnte gleichzeitig § 48 des Gesetzes über das Auswanderungswesen vom 9. 6. 1897 (arglistige Verleitung zur Auswanderung u. a.) aufgehoben werden (vgl. Art. 6 Nr. 3 des 4. StrRG). - Schrifttum: Schroeder, Die Veranlassung zur Prostitution mit Gewalt oder List ( § 1 8 1 Nr. 1 StGB), JR 1977, 357. 2. Geschützt sind Personen beiderlei Geschlechts und aller Altersgruppen. Anliegen der Vorschrift ist es zu verhindern, daß das Opfer so lange durch Gewalt, Drohung oder List zermürbt wird, bis es sich gegen seinen Willen dazu entschließt, der Prostitution nachzugehen. Von einem „Der-Prostitution-Nachgehen" kann nur bei einer fortgesetzten Hingabe gegen Entgelt gesprochen werden; eine einmalige Hingabe gegen Entgelt genügt nicht (Schroeder JR 1977, 357,359). 3. Nr. 1 stellt, soweit der Täter mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel vorgeht, einen als Verbrechen unter erhöhte Strafdrohung gestellten Sonderfall der Nötigung dar, so daß insoweit auf die Ausführungen zu § 240 verwiesen werden kann. In den Fällen der List (siehe hierzu § 234 Anm. 3) wirkt sich die Vorschrift strafbegründend aus. Die Tatbegehung durch List setzt eine Täuschung des Opfers darüber voraus, daß es zur Ausübung der Prostitution gebracht werden soll. Nicht ausreichend ist dagegen das bloße listige Schaffen eines Anreizes zur Prostituion, z. B. wenn jemand seiner Freundin 20
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
vorspiegelt, er wolle mit dem von ihr verdienten Geld zusammen mit seinen eigenen Einkünften eine gemeinsame Existenz aufbauen (BGH 27, 27). Vollendet ist die Tat, wenn das Opfer dazu gebracht wird, die Prostitution aufzunehmen oder gegen seinen Willen fortzuführen. Nicht tatbestandsmäßig ist dagegen der Fall, daß eine Prostituierte durch Gewalt usw. dazu gebracht wird, ihre Tätigkeit an anderer Stelle oder in anderer Weise fortzuführen (vgl. RegE aaO. S. 28). 4. Der Tb. der Nr. 2 ist bereits mit dem Anwerben bzw. Entführen verwirklicht. a) Im Gegensatz zu § 180 a Abs. 3 ist nicht erforderlich, daß das Anwerben (siehe hierzu Anm. 5 b zu § 180 a) gewerbsmäßig erfolgt. Unerheblich ist auch, zu welcher Tätigkeit das Opfer angeworben wird. Beispiel: A engagiert eine junge Tänzerin zu einer angeblich seriösen Tournee rund um die Welt, während er in Wirklichkeit beabsichtigt, das Mädchen in irgendeiner Stripteasebar im nahen Osten unterzubringen und alsdann ihrem Schicksal zu überlassen. b) Über Entführen siehe § 237 Anm. 3. Auch die Mittel der Entführung sind die gleichen wie bei § 237. c) Der subj. Tb. erfordert neben dem Vorsatz die Absicht, das Opfer unter Ausnutzung der auslandstypischen Hilflosigkeit (z. B. mangelnde Verständigungsmöglichkeit, Mittellosigkeit) zu den im Tb. näher beschriebenen sexuellen Handlungen zu veranlassen. Im Gegensatz zu § 237 ist nicht erforderlich, daß es dann tatsächlich zu einer Hilflosigkeit oder zu den sexuellen Handlungen kommt. 5. Der Versuch ist in beiden Altemativtatbeständen strafbar (Verbrechen). 6. Konkurrenzen: Gegenüber §§ 239, 240 geht § 181 als das speziellere Gesetz vor. IdK. ist insbesondere möglich mit § 180 a Abs. 3 (wegen des zusätzlichen Merkmals der Gewerbsmäßigkeit tritt diese Vorschrift nicht hinter § 181 zurück), ferner mit §§ 180, 181 a, 234, 235, 237, 239 a, 239 b.
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Zuhälterei
(1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer 1. einen anderen, der der Prostitution nachgeht, ausbeutet oder 2. seines Vermögensvorteils wegen einen anderen bei der Ausübung der Prostitution überwacht, Ort, Zeit, Ausmaß oder andere Umstände der Prostitutionsausübung bestimmt oder Maßnahmen trifft, die den anderen davon abhalten sollen, die Prostitution aufzugeben, und im Hinblick darauf Beziehungen zu dem anderen unterhält, die über den Einzelfall hinausgehen. (2) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer gewerbsmäßig die Prostitutionsausübung eines anderen durch Vermittlung sexuellen Verkehrs fördert und im Hinblick darauf Beziehungen zu dem anderen unterhält, die über den Einzelfall hinausgehen. 610
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
§ 181 a
(3) Nach den Absätzen 1 und 2 wird auch bestraft, wer die in Absatz 1 Nr. 1 und 2 genannten Handlungen oder die in Absatz 2 bezeichnete Förderung gegenüber seinem Ehegatten vornimmt. 1. Die durch das 4. StrRG (über Gesetzesmaterialien und Schrifttum siehe Vorbem. 3 vor § 174) neu gefaßte Vorschrift hält entgegen dem Vorschlag des AE und dem Gutachten von Hanack (aaO. Rz. 304 ff.) an der Strafbarkeit der Zuhälterei grundsätzlich fest, stellt diese jedoch nicht mehr als Verbrechen, sondern nur noch als Vergehen unter Strafe. Anliegen der Vorschrift ist es, die Prostituierten in ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit zu schützen (BayObLG NJW 1974, 1573). Diese Freiheit wird insbesondere dann beeinträchtigt, wenn Zuhälter sich - wie dies in den letzten Jahren zunehmend beobachtet wurde (vgl. RegE S. 29 BT-Drucks. VI/1552) - zu Gruppen zusammenschließen und versuchen, die Prostituierten dadurch zu organisieren, daß sie sowohl die Reviere der Straßenprostitution als auch die Dirnenwohnheime (Eros-Center) unter ihre Kontrolle bringen, um bestimmen zu können, welche Prostituierte in welchem Bezirk ihrer Tätigkeit nachgehen darf oder nicht. Mit der verschiedentlich geforderten Aufhebung des § 181 a würde diese Gruppenbildung erleichtert und möglicherweise dazu führen, daß zusätzlich ausländische Zuhälter noch mehr als bisher in das Gebiet der Bundesrepublik einströmen. Eine derartige Entwicklung ist schon deshalb zu vermeiden, weil nach dem Ergebnis neuerer polizeistatistischer Untersuchungen Personen, gegen die wegen Zuhälterei ermittelt wird, überdurchschnittlich mit Vorstrafen aus dem Bereich der allgemeinen Kriminalität, insbesondere auch der schweren Kriminalität, belastet sind (vgl. RegE aaO. S. 29). Diesem Leitgedanken der neuen Vorschrift entspricht es, daß entgegen der früheren Rechtslage jetzt nur noch der sozialschädliche Zuhälter, der die Prostituierte in die Gefahr der persönlichen oder wirtschaftlichen Abhängigkeit bringt, im Vordergrund der Strafverfolgung steht. Nicht mehr bestraft wird dagegen, wer sich darauf beschränkt, Beiträge zu seinem Lebensunterhalt entgegenzunehmen, ohne die Prostituierte auszubeuten oder eine in Abs. 1 Nr. 2 genannte Tätigkeit zu entfalten. 2. Geschützt sind Personen beiderlei Geschlechts, ohne Rücksicht auf das Alter. Täter kann (entgegen dem früheren Recht und dem RegE) auch eine Frau sein. Weibliche Täter finden sich hauptsächlich im Management von Eros-Centern und sog. Massagesalons (vgl. z. B. Köln NJW 1974, 1830). 3. Zu Abs. 1: a) Die Tathandlung der Nr. 1 besteht im Ausbeuten. Entgegen der früheren Rechtslage liegt eine „ausbeuterische Zuhälterei" nicht schon dann vor, wenn der Täter seinen Lebensunterhalt ganz oder teilweise aus den Einkünften der (oder des) Prostituierten bezieht; auch die Rspr. des BGH zur gemeinsamen Wirtschaftsführung, wonach ein Ausbeuten dann vorliegt, wenn die Beiträge des Täters zur gemeinschaftlichen Wirtschaftsführung hinter dem Nutzen zurückbleiben, den er selbst aus der gemeinschaftlichen Wirtschaftsführung zieht (vgl. BGH 4, 316; 15, 5), ist durch die Neufassung des § 181 a gegenstandslos geworden. Es genügt nicht mehr, daß die Einkünfte der Prostituierten ausgebeutet werden; erforderlich ist vielmehr, daß die Prostituierte ausgebeutet, d. h. in ihrer Arbeitskraft rücksichtslos ausgenutzt wird. Dies liegt insbesondere dann vor, wenn der Täter, um selbst einen aufwendigen Lebensstil führen zu können, die Prostituierte zu fleißigerer Tätigkeit antreibt, ihr dann aber nur die Einkünfte beläßt, die sie zur Bestrei20'
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Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
tung eines Lebensbedarfs benötigt, der gerade noch über dem Existenzminimum liegt. Eine Gefährdung der Lebensexistenz oder eines „angemessenen" Lebensunterhalts ist jedoch nicht erforderlich. Tatbestandsmäßig handelt auch, wer es aus eigensüchtigen Motiven einer gut verdienenden Prostituierten durch fortgesetzte Beschränkung ihrer Einkünfte unmöglich macht, einen höheren Lebensstandard zu erreichen oder gar eine bürgerliche Existenz aufzubauen (z. B. dadurch, daß er sie zur Aufrechterhaltung der Beziehungen nötigt, die die Grundlage für den Mißbrauch zu Erwerbszwecken bilden, vgl. Hbg NJW 1975, 127). Eine Ausbeutung in diesem Sinn kommt auch dann in Betracht, wenn sich die Prostituierte aus freien Stücken dem Einfluß und den Entscheidungen eines anderen unterwirft (BayObLG NJW 1977,1209 unter Aufgabe von NJW 1974,1573). Dadurch, daß nicht mehr auf den Bezug des Lebensunterhalts abgestellt wird, kann entgegen der früheren Rechtslage - Täter auch sein, wer die durch Ausbeutung erlangten Mittel nicht für sich selbst verwendet, sondern an andere weiterleitet, z. B. einer von Zuhältern gegründeten Kapitalgesellschaft zuführt (vgl. RegE aaO. S. 30). Auch der Chef einer Zuhälterbande, der die Prostituierten durch seine Verbindungsleute ausbeuten läßt, kann durch die Neufassung der Vorschrift besser erfaßt werden als nach früherem Recht. b) Die Tathandlungen der Nr. 2 (sog. dirigierende Zuhälterei, vgl. Dreher 2 sowie JR 1974, 45, 53) erfassen entsprechend dem Schutzzweck der Vorschrift (s. o. 1) nicht mehr den „harmlosen" Zuhälter, der die Prostituierte mit seinem Wagen in ihr Revier fährt und sich dort aufhält, um sie bei Zwischenfällen zu beschützen. aa) Uberwachen ist mehr als „schützend bewachen", sondern setzt eine auf Dauer bestimmte Kontrolle voraus (BayObLG NJW 1977, 1209). Tatbestandsmäßig handelt z. B., wer eine Prostituierte ständig beobachtet (oder beobachten läßt), um die Zahl der Freier feststellen und damit die mutmaßlichen Einkünfte besser schätzen zu können. Oder: Durchführen von Kontrollen, um zu erreichen, daß die Prostituierte fleißig ihrer Tätigkeit nachgeht und sich nicht zu oft oder zu lange in Lokalen aufhält, in denen sie keine Freier erwarten kann. bb) Die Tb.-Merkmale Bestimmung von Ort, Zeit und Ausmaß oder anderen Umständen der Prostitutionsausübung zielen auf den organisierten Einsatz der Prostituierten ab, z. B. wenn der Täter eine von ihm abhängige Dirne durch seinen Einfluß dazu bringt, aus bestimmten Anlässen ihr gewohntes Revier zu verlassen und ihre Tätigkeit in eine andere Stadt zu verlegen, in der er sich - etwa wegen eines dort stattfindenden Kongresses oder einer internationalen Sportveranstaltung (Olympiade, Fußballweltmeisterschaft usw.) größere Verdienstmöglichkeiten erhofft. - Oder: A zwingt eine von ihm abhängige Dirne, sich mit Farbigen einzulassen, obwohl sie dies nicht will. Nicht ausreichend sind bloße Bitten und Ratschläge (BayObLG NJW 1977, 1209). cc) Eine tatbestandsmäßige Maßnahme, die die Prostituierte davon abhalten soll, die Prostitution aufzugeben, ist z. B. das Wegnehmen der Ausweispapiere oder die Drohung mit einer Anzeige wegen Beischlafdiebstahls. Der Täter ergreift aber auch dann „Maßnahmen", wenn er die Prostituierte durch Schläge zwingt, weiter ihrer Tätigkeit nachzugehen. In den letztgenannten Fällen kommt tateinheitlich außerdem der Verbrechenstatbestand des § 181 Nr. 1 in Betracht (vgl. § 181 Anm. 3). c) Die in Nr. 1 und Nr. 2 aufgeführten Handlungen sind nur dann strafbar, wenn der Täter zu der (oder dem) Prostituierten Beziehungen unterhält, die über den Einzelfall hinausgehen. Erfaßt wird also nur eine solche Ausbeutung, Überwachung usw., die im Rahmen eines auf eine gewisse Dauer ausgerichteten Verhältnisses zwischen dem Täter 612
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§ 181 a
und der Prostituierten erfolgt, in dem die Prostitutionsausübung einen maßgeblichen Bezugspunkt darstellt. Durch diese Einschränkung wird klargestellt, daß Personen, die für eine gewerbliche oder handwerkliche Leistung, die sie einer Prostituierten erbringen (z. B. eine Kosmetikerin, Masseuse, Friseuse oder ein Zimmervermieter), unter Ausbeutung der guten Einkommensverhältnisse der Prostituierten von dieser wucherische Preise verlangen, nicht unter den Anwendungsbereich der Vorschrift fallen. In diesen Fällen fehlt es an den typisch „zuhälterischen Beziehungen". Andererseits verlangt der Tb. keine „zuhälterischen Beziehungen" im herkömmlichen Sinn. Insbesondere ist nicht erforderlich, daß zwischen dem Täter und der Prostituierten ein enges persönliches Verhältnis besteht, in dessen Rahmen sich die Prostituierte an den Zuhälter „anlehnt" (so die Rspr. zu § 181 a aF, vgl. BGH LM § 181 a Anm. 6; Köln NJW 1967, 455 f.). Andernfalls könnte z. B. der Chef einer Zuhälterbande oder eines Callgirl-Rings, der die Prostituierte nur über Mittelsmänner dirigiert und ausbeutet, nicht erfaßt werden. Gerade diesen Typ des Zuhälters will das Gesetz aber in erster Linie treffen. Um dies zu ermöglichen, wurde die ursprünglich vorgesehene Fassung der Vorschrift, die auf das Unterhalten „zuhälterischer Beziehungen" abstellte, durch die jetzige Fassung ersetzen (vgl. Ber. VI S. 50). 4. Abs. 2 erfaßt die gewerbsmäßige Vermittlung außerehelichen sexuellen Verkehrs. a) Als gewerbsmäßige Vermittler (über gewerbsmäßig siehe § 260 Anm. 2, über Vermittlung siehe § 180 Anm. 3 b) kommen insbesondere die Manager sog. Call-Girl-Ringe und ähnlicher Agenturen in Betracht, aber auch Inhaber von Massagesalons, die durch Zeitungsinserate oder Handzettel auf ihre Etablissement hinweisen, sowie sog. Schlepper, die gewerbsmäßig Straßenpassanten anwerben und den Prostituierten zuführen (vgl. Ber. VI S. 50). b) Wie im Falle des Abs. 1 wird der Anwendungsbereich der Vorschrift dadurch eingeschränkt, daß der Tb. nur dann verwirklicht ist, wenn der Täter im Hinblick auf die von ihm gewerbsmäßig betriebene Vermittlung sexuellen Verkehrs zu der (oder dem) Prostituierten Beziehungen unterhalt, die über den Einzelfall hinausgehen. Nicht hierher gehört deshalb z. B. ein Hotelportier, der gelegentlich einem Gast für ein Trinkgeld einen „Tip" gibt, oder ein Taxifahrer, der einen Fahrgast gegen Entgelt zu einer ihm bekannten Prostituierten führt, ohne mit dieser nähere Beziehungen zu unterhalten (vgl. Ber. VI 5. 50). Die Ausführungen unter Anm. 3 c gelten im übrigen entsprechend. 5. Die Strafdrohung des Abs. 3 richtet sich gegen Eheleute, die die Prostitution des anderen Ehepartners in den Formen des Abs. 1 oder Abs. 2 ausbeuten, überwachen usw. oder gewerbsmäßig durch Vermittlung sexuellen Verkehrs fördern. Auf diese Weise bleiben wenigstens die gravierendsten Fälle der Ehegattenkuppelei strafbar. Das Vorliegen von Beziehungen, „die über den Einzelfall hinausgehen", muß im Falle des Abs. 3 nicht nachgewiesen werden (vgl. RegE aaO. S. 31; Ber. VI S. 51). 6. Der subj. Tb. erfordert bei allen Alternativtatbeständen Vorsatz. Bei Abs. 1 ist außerdem (als Tatmotiv) das Streben nach einem Vermögensvorteil erforderlich. Für die Nr. 1 ergibt sich dies aus dem Wesen des Tb.-Merkmals „ausbeuten", für die Nr. 2 unmittelbar aus dem Text. Bei Abs. 2 übernimmt das Tb.-Merkmal gewerbsmäßig (siehe hierzu § 260 Anm. 2) ebenfalls die Funktion, die Tatbestandsmäßigkeit auf die Fälle zu beschränken, in denen der Täter sich aus seiner Vermittlertätigkeit eine Einnahmequelle nicht nur vorübergehender Art verschaffen möchte. 613
§§ 181b, 182
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
7. Die Strafbarkeit der Teilnahme richtet sich nach allgemeinen Grundsätzen. Da alle Tatbestände als Schutzgesetze zugunsten der von Abhängigkeit zu bewahrenden Prostituierten anzusehen sind, kann die Prostituierte selbst nicht wegen Anstiftung oder Beihilfe strafbar sein. Die Entscheidung BGH 19, 107 ist durch die Neufassung der Vorschrift gegenstandslos geworden (vgl. BayObLG NJW 1974,1573; Dreher 4). 8. Konkurrenzen: Da das geschützte Rechtsgut bei allen Tatbeständen des § 181 a das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Prostituierten ist, somit ein höchstpersönliches Rechtsgut der jeweils betroffenen Person, kommt bei mehreren betroffenen Personen Fortsetzungszusammenhang nicht in Betracht. Innerhalb des § 181 a geht der umfassendere und schwererwiegende Abs. 1 dem Abs. 2 vor (BGH bei Dallinger MDR 1974, 723; h. L.). Zwischen Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 ist eine echte Konkurrenz nicht gegeben; Verstöße gegen beide Vorschriften stellen vielmehr einen einheitlichen Verstoß dar. Tateinheit ist möglich mit §§ 180, 223 ff., 239, 240 und 253 sowie mit Beihilfe zu den §§ 174 ff. Gegenüber § 180 a Abs. 2 Nr. 2 letzte Alt. (Ausbeutung der Prostitution) geht § 181 a als speziellere Regelung vor, mit den übrigen Fällen des § 180 a ist dagegen Tateinheit möglich, desgleichen mit § 181 (natürliche Handlungseinheit).
§ 181 b
Führungsaufsicht
In den Fällen der §§ 1 7 6 bis 179, 1 8 0 a Abs. 3 bis 5, der §§ 1 8 1 und 1 8 1 a kann das Gericht Führungsaufsicht anordnen (§ 6 8 Abs. 1 Nr. 2). Die durch das EGStGB neu eingeführte Vorschrift geht davon aus, daß es bei den im Text aufgeführten Sittlichkeitsdelikten geboten sein kann, dem Täter nach Verbüßung seiner Strafe (in Betracht kommen nur Freiheitsstrafen von mindestens sechs Monaten, vgl. § 68 Abs. 1 Nr. 2) durch Weisungen oder durch die Hilfe eines Bewährungshelfers zur Seite zu stehen, damit die Gefahr des Rückfalls möglichst eingeschränkt wird. Zur Ausgestaltung der Führungsaufsicht siehe §§ 68 ff.
§ 182
Verführung
(1) Wer ein Mädchen unter sechzehn Jahren dazu verführt, mit ihm den Beischlaf zu vollziehen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) D i e Tat wird nur auf Antrag verfolgt. D i e Verfolgung der Tat ist ausgeschlossen, wenn der Täter die Verführte geheiratet hat. (3) Bei einem Täter, der zur Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war, kann das Gericht von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen. 1. Die durch das 4. StrRG neu gefaßte Vorschrift geht davon aus, daß die psychische Entwicklung von Mädchen im Alter von 14 und 15 Jahren noch nicht abgeschlossen ist, es also verfehlt wäre, Mädchen dieser Altersgruppe so zu behandeln, als ob sie uneinge614
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
§ 182
schränkt in der Lage wären, in sexueller Hinsicht die für sie richtige Entscheidung zu treffen und die ihrem Entwicklungsstand nicht entsprechenden Zumutungen sexueller Art abzuwehren (vgl. Ber. S. 51 BT-Drucks. VI/3521 sowie BGH 22, 154). Anliegen der Vorschrift ist es somit, 14- und 15jährige Mädchen, die noch nicht über die erforderliche Reife und Erfahrung verfügen, vor sexuellem Mißbrauch und der damit verbundenen Gefahr einer psychischen Belastung zu bewahren. Über Gesetzesgeschichte und Gesetzesmaterialien siehe Vorbem. 3 vor § 174. 2. Geschützt sind Mädchen unter 16 Jahren. Da Mädchen unter 14 Jahren dem speziellen Schutz des § 176 Abs. 3 Nr. 1 unterliegen, beschränkt sich der Anwendungsbereich der Vorschrift auf die Altersgruppe der 14- und 15jährigen Mädchen (a. A. die h. L., die zwischen § 176 und § 182 Tateinheit annimmt, vgl. Dreher 9; Lackner 1, 6; Lenckner in Schönke-Schröder 9). Im Gegensatz zur früheren Fassung des § 182 kommt es nicht mehr darauf an, ob das Mädchen schon „bescholten" war, d. h. schon früher dem Täter oder einem Dritten den Beischlaf gestattet hatte. Es ist in der Tat nicht einzusehen, daß ein Mädchen nur deshalb dem Schutzbereich des Tatbestands entzogen werden soll, weil es aufgrund mangelnder Reife und Erfahrung schon früher einem ähnlichen sexuellen Mißbrauch zum Opfer gefallen war. 3. Täter kann nur sein, wer den Beischlaf (siehe hierzu § 173 Anm. 3) selbst vollzieht. 4. Das Mädchen ist verführt, wenn es dem Täter gelungen ist, durch eine besonders intensive Einwirkung auf den Willen des Mädchens oder durch Ausnutzung der sexuellen Unerfahrenheit und geminderten Widerstandskraft der Betroffenen sein Ziel zu erreichen (vgl. Ber. VIS. 51). 5. Nicht tatbestandsmäßig sind dagegen solche psychischen Beeinflussungen, die mit den „leichteren Formen einer Anstiftung vergleichbar" sind (vgl. Ber. VI S. 51). Nicht hierher gehört der Fall, daß das Mädchen selbst die Initiative ergriffen hat. Außerhalb des Tatbestands bleiben schließlich solche Einwirkungen, mit denen ein Mädchen im Rahmen eines echten Liebesverhältnisses zum Beischlaf geneigt gemacht wird (vgl. Ber. VI S. 51). Andererseits wird die Tatbestandsmäßigkeit nicht dadurch ausgeschlossen, daß das Mädchen den Beischlaf nur widerstrebend oder aus Angst duldet. Geht der Täter allerdings mit Gewalt vor oder nötigt er das sich ihm widersetzende Mädchen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, so kommt nicht § 182, sondern § 177 zur Anwendung. Läßt sich später nicht mehr mit der erforderlichen Sicherheit klären, ob das Mädchen mit den Mitteln des § 177 oder durch Verführung zum Beischlaf gebracht wurde, so erfolgt die Bestrafung wegen Verführung, und zwar ohne Rückgriff auf die Grundsätze der Wahlfeststellung. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß die Tatbestände der Vergewaltigung (§ 177) und der Verführung (§ 182) untereinander in einem Stufenverhältnis stehen, wobei die Verführung das mildere Gesetz darstellt (vgl. BGH 22, 154 mit krit. Anm. Deubner NJW 1969,145). 6. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich insbesondere auch auf das Alter des Mädchens erstrecken, wobei bedingter Vorsatz genügt. 7. Der Versuch ist nicht strafbar. 615
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Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
8. Die Strafbarkeit der Teilnahme richtet sich nach allgemeinen Grundsätzen. 9. Gemäß Abs. 2 wird die Tat nur auf Antrag verfolgt. Die spätere Eheschließung zwischen dem Täter und der Verführten begründet ein Verfolgungshindernis, das sich zugunsten aller Tatbeteiligten auswirkt (vgl. Dreher 7; a. A. Lackner 7; hier die Vorauflage). 10. Abs. 3 gibt die Möglichkeit, bei Jugendlichen und Heranwachsenden von Strafe abzusehen. Dies kommt vor allem dann in Betracht, wenn die Intensität der Einwirkung an der unteren Grenze des Tatbestandsbereichs liegt oder wenn der Jugendliche bzw. Heranwachsende eine dauernde Bindung zu den von ihm verführten Mädchen angestrebt hat. Prozessual beachte in diesem Zusammenhang § 153 b StPO (Einstellung außerhalb der Hauptverhandlung) und § 465 Abs. 1 S. 2 StPO (Kosten). 11. Konkurrenzen: IdK. ist insbesondere mit den §§ 173, 174 Abs. 1, 174 a, 174 b, 179 Abs. 2 möglich. Über das Verhältnis zu § 176 s. o. Anm. 2, über das Verhältnis zu § 177 s. o. Anm. 5. Bei Teilnehmern kommt Tateinheit mit § 180 in Betracht.
§ 183
Exhibitionistische Handlungen
(1) Ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) D i e Tat wird nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, daß die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von A m t s wegen für geboten hält. (3) D a s Gericht kann die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe auch dann zur Bewährung aussetzen, wenn zu erwarten ist, daß der Täter erst nach einer längeren Heilbehandlung keine exhibitionistischen Handlungen mehr vornehmen wird. (4) Absatz 3 gilt auch, wenn ein Mann oder eine Frau wegen einer exhibitionistischen Handlung 1. nach einer anderen Vorschrift, die im Höchstmaß Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe androht, oder 2. nach § 1 7 4 Abs. 2 Nr. 1 oder § 1 7 6 Abs. 5 Nr. 1 bestraft wird. 1. Die durch das 4. StrRG grundlegend neu gefaßte Vorschrift geht davon aus, daß exhibitionistische Handlungen dem in unserem Kulturkreis entwickelten Schamgefühl der Allgemeinheit widersprechen (Ber. S. 53 BT-Drucks. VI/3521). Ihr Anliegen ist es, den Einzelnen vor einer ungewollten Konfrontation mit exhibitionistischen Handlungen zu schützen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob diese Konfrontation in der Öffentlichkeit 616
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
§ 183
oder im privaten Bereich erfolgt. Auf das Merkmal der Öffentlichkeit kommt es nur noch in dem neu eingefügten § 183 a an. Über die Gesetzesmaterialien zum 4. StrRG siehe Vorbem. 3 vor § 174. 2. Geschützt sind Personen beiderlei Geschlechts, ohne Rücksicht auf das Alter. Täter kann jedoch - anders als in § 183 a - nur ein Mann sein. 3. Exhibitionistische Handlungen sind solche Handlungen, mit denen ein Mann einer anderen Person ohne deren Einverständnis sein entblößtes Glied vorweist, um sich entweder allein dadurch oder zusätzlich durch Beobachten der Reaktion der betroffenen Person oder durch Masturbieren sexuell zu befriedigen (vgl. Ddf NJW 1977, 262 m. Nachw.). Unerheblich ist, ob der Täter zu der betroffenen Person eine gewisse räumliche Distanz einhält oder ob er näheren Kontakt zu ihr sucht, indem er sie auf sich aufmerksam macht, anspricht oder gar berührt. Gliedentblößungen zu anderen Zwecken, z. B. zur Provokation oder als Vorbereitung für weitergehende sexuelle Übergriffe, die unter andere Strafvorschriften fallen (z. B. §§ 177, 178), bleiben außerhalb des Tatbestands (vgl. Ber. VI S. 53). Bei provokativer Entblößung kommt § 183 a in Betracht. 4. Die mit der exhibitionistischen Handlung konfrontierte Person ist belästigt, wenn sie sich bedroht fühlt oder in ihrem sittlichen oder ästhetischen Empfinden verletzt wird, insbesondere wenn sie Schrecken oder Abscheu empfindet und dadurch in ihrem psychischen Wohlbefinden beeinträchtigt wird. Unerheblich ist, ob die Belästigung in der Öffentlichkeit oder in der Privatsphäre (z. B. in einem Hotelzimmer) erfolgt. 5. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich insbesondere auf die Belästigung erstrecken, d. h. der Täter muß wissen oder damit rechnen und billigend in Kauf nehmen, daß seine Handlung von einem anderen, der sich dadurch belästigt fühlt, wahrgenommen wird. Zu der auf der subj. Tatseite weiterhin erforderlichen sexuellen Tendenz s. o. Anm. 3. Nicht erforderlich ist dagegen ein absichtliches Präsentieren der Genitalien in dem Sinn, daß es dem Täter darum geht, zwischen sich und einer anderen Person eine „optische Beziehung" herzustellen. Sowohl hinsichtlich des Bemerktwerdens als auch hinsichtlich der hieraus resultierenden Belästigung eines anderen genügt vielmehr der bedingte Vorsatz. Die abw. Ansicht des OLG Ddf in NJW 1977, 262 ist dogmatisch nicht zwingend und kriminalpolitisch verfehlt. 6. Der Versuch ist mangels Strafdrohung nicht strafbar. 7. Gemäß Abs. 2 wird die Tat grundsätzlich nur auf Antrag verfolgt. Um den Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit zu geben, einen strafbedürftigen Fall auch dann zu verfolgen, wenn ein Strafantrag nicht gestellt wird, sieht Abs. 2 weiter vor, daß die Tat auch von Amts wegen verfolgt werden kann, wenn die Strafverfolgungsbehörde (StA) dies wegen des besonderen öffentlichen Interesses für geboten hält. Diese dem § 232 nachgebildete Regelung gibt der Strafverfolgungsbehörde einen weiten Ermessungsspielraum (vgl. Ber. VI S. 55). Die StA wird das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung vor allem dann bejahen, wenn es sich um einen Rückfalltäter handelt, wenn sich konkrete Anhaltspunkte für Wiederholungsgefahr ergeben oder wenn Gegenstand des Verfahrens eine besonders aggressive exhibitionistische Belästigung ist. Fehlen derartige Umstände und zwingen auch nicht Gesichtspunkte der Generalprävention zur Bejahung des beson617
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deren öffentlichen Interesses, so besteht regelmäßig kein Anlaß zur Verfolgung von Amts wegen (vgl. Ber. VI S. 55). Die von der StA im Rahmen ihres Ermessensspielraums getroffene Entscheidung ist weder im Klageerzwingungsverfahren (vgl. § 172 Abs. 2 S. 3 StPO) noch im Verwaltungsrechtsweg (vgl. BVerwG NJW 1959, 448) noch im Verfahren nach §§ 23ff. EGGVG (vgl. BGH 16, 225) nachprüfbar, sondern kann allenfalls mit der Dienstaufsichtsbeschwerde angefochten werden. Bejaht die StA das besondere öffentliche Interesse, so ist auch der Strafrichter an diese Entscheidung gebunden (vgl. BGH 16, 225; h. L.). 8. Bei rückfälligen Exhibitionisten kommt eine Strafschärfung nach § 48 nur in Betracht, wenn die Triebstärke die Warnfunktion früherer Verurteilungen nicht überdeckt (Stgt Justiz 1974,189). 9. Abs. 3 gibt die Möglichkeit, bei Verhängung einer Freiheitsstrafe Strafaussetzung zur Bewährung auch dann zu gewähren, wenn zu erwarten ist, daß der Täter erst nach längerer Heilbehandlung keine exhibitionistischen Handlungen mehr vornehmen wird, d. h. wenn eine günstige Prognose erst langfristig gestellt werden kann. Zweck dieser Regelung ist es, auch einem Täter, bei dem im Zeitpunkt der Urteilsfindung noch akute Wiederholungsgefahr besteht, die Möglichkeit zu geben, sich in Freiheit einer Heilbehandlung zu unterziehen. Das Gesetz geht hierbei davon aus, daß die Heilungschancen bei einer Behandlung in Freiheit größer sind als im Strafvollzug. Gerade bei einem Exhibitionisten besteht nämlich die Gefahr, daß die vorhandenen Hemmungen und Kontaktschwierigkeiten sowie das gestörte Verhältnis zur Sexualität im allgemeinen und zum anderen Geschlecht im besonderen durch die mit der Haft verbundene Isolation noch vertieft werden. Voraussetzung für eine Strafaussetzung trotz Wiederholungsgefahr im Zeitpunkt der Urteilsfindung ist jedoch, daß der Täter sich bereit erklärt, die ihm seitens des Gerichts erteilten Weisungen hinsichtlich einer Heilbehandlung zu befolgen (vgl. § 56 c Abs. 3,4). Außerdem muß die Erwartung bestehen, daß der Täter in der Lage sein wird, sich mit Aussicht auf Erfolg einer solchen Heilbehandlung zu unterziehen. Durch die in Abs. 3 getroffene Regelung nimmt das Gesetz bewußt in Kauf, daß der Täter während der Bewährungsfrist zunächst weiter gelegentlich exhibitionistische Handlungen vornehmen wird (vgl. Ber. VI S. 56). Hieraus folgt, daß für den Fall einer - einkalkulierten - Rückfälligkeit während der Bewährungszeit die gewährte Strafaussetzung grundsätzlich nicht zu widerrufen ist, das Gericht sich vielmehr darauf beschränken kann, flankierende Maßnahmen nach § 56 f Abs. 2 anzuordnen. 10. Die in Abs. 3 getroffene Regelung hinsichtlich einer erweiterten Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung findet gemäß Abs. 4 Nr. 2 auch dann Anwendung, wenn dadurch die exhibitionistische Handlung die besonderen Tatbestände des § 174 Abs. 2 Nr. 1 (Vornahme sexueller Handlungen vor einem Schutzbefohlenen) oder des § 176 Abs. 5 Nr. 1 (sexuelle Handlungen vor einem Kind) erfüllt werden. Abs. 4 Nr. 1 bezieht sich insbesondere auf den Fall, daß eine exhibitionistische Handlung zugleich den Tatbestand der Beleidigung verwirklicht oder der Täter aus Anlaß der Tat einen Hausfriedensbruch begeht. Auf § 183 a ist Abs. 4 Nr. 1 wegen der in § 183 a enthaltenen Subsidiaritätsklausel dagegen nur anwendbar, wenn die Tat von einer Frau begangen wird. 11. Konkurrenzen: Werden durch eine exhibitionistische Handlung mehrere Personen belästigt, so liegt nur eine Tat nach § 183 vor (vgl. BGH 4, 303). IdK. ist möglich mit 618
Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
§ 183 a
§185, wenn durch die Handlung zugleich eine Mißachtung der belästigten Person zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Stgt Justiz 1974, 189; a. A. Dreher 13). Gegenüber § 183 a geht § 183 aufgrund der in § 183 a enthaltenen Subsidiaritätsklausel vor. Tateinheit ist möglich mit §§ 123, 239-241, aber auch mit §§ 174 Abs. 2 Nr. 1 und 176 Abs. 5 Nr. 1, da diese nur dem Jugendschutz dienenden Vorschriften keine Belästigung verlangen (Lencknerin Schönke-Schröder 14 m. Nachw.; a. A. hier noch die Voraufl.).
§ 183 a
Erregung öffentlichen Ärgernisses
Wer öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt und dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis erregt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 183 mit Strafe bedroht ist. 1. Die durch das 4. StrRG neu eingefügte Vorschrift ergänzt den Tb. des § 183, demgegenüber sie auf Grund der Subsidiaritätsklausel keine selbständige Bedeutung hat. Anliegen der Vorschrift ist es, den Einzelnen und die Allgemeinheit vor einer ungewollten Konfrontation mit sexuellen Handlungen zu schützen. Der Unterschied gegenüber § 183 besteht einmal darin, daß die Tat nur dann strafbar ist, wenn sie öffentlich begangen wird. Außerdem findet sie aufgrund der Subsidiaritätsklausel keine Anwendung bei typisch exhibitionistischen Handlungen. Weitere Unterschiede ergeben sich im subj. Tb., der Absicht oder direkten Vorsatz erfordert. Schließlich ist die Tat auch ohne Strafantrag der betroffenen Person von Amts wegen zu verfolgen. Über die Gesetzesmaterialien siehe 3 vor § 174. 2. Geschützt sind Personen beiderlei Geschlechts, ohne Rücksicht auf das Alter. Der Schutz der Vorschrift erfaßt allerdings - dem Anliegen der Vorschrift entsprechend (s. o. 1) - nur solche Personen, die ungewollt mit einer sexuellen Handlung konfrontiert werden. Es kann nicht Aufgabe der Vorschrift sein, auch solche Personen zu schützen, die z. B. eine Stripteaseschau oder eine ähnliche Veranstaltung in Kenntnis dessen, was sie erwartet, aus Interesse, Neugierde oder sonstigen Gründen besuchen (vgl. Ber. VI S. 57). Täter kann - anders als in § 183 - auch eine Frau sein. ^ 3. Als Tathandluiig kommen sexuelle Handlungen aller Art (siehe hierzu § 184 c) in Betracht, nicht nur exhibitionistische Handlungen, auf die - wenn sie von einem Mann vorgenommen werden - nur § 183 anwendbar ist. Tatbestandsmäßig sind z. B. sexuelle Happenings, bestimmte Striptease-Vorführungen (siehe jedoch oben 2) sowie provokative Entblößungen (sog. Blitzer). Auch sexuelle Handlungen unter Eheleuten können, wenn sie sich vor der Öffentlichkeit abspielen, den Tb. verwirklichen. 4. Öffentlich ist die Tat, wenn sie von einem nach Herkunft und Zahl unbestimmten Personenkreis wahrgenommen werden kann, ohne daß es hierzu besonderer Mühe bedarf. Auf die Öffentlichkeit des Ortes kommt es nicht an. a) öffentlich ist die Handlung insbesondere, wenn sie auf einem öffentlichen Platz oder einer Straße, in einem Kaufhaus, in allgemein zugänglichen Teilen von großen Wohn-
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oder Bürohäusem, in Fabriken, Kasernen, Schulen usw. vorgenommen wird oder von dort aus wahrgenommen werden kann. Bei Lokalen, die von beliebigen Personen betreten werden können, ist die Öffentlichkeit auch dann gegeben, wenn für den Eintritt ein Entgelt zu entrichten ist (vgl. Ber. VI S. 57; Celle GA 1971, 251; Hamm NJW 1973, 817). b) Hinsichtlich der Einzelheiten und Grenzfälle kann auf die höchstrichterliche Rspr. zu § 183 a. F. zurückgegriffen werden: Wird die Tat nur von Personen wahrgenommen, die durch besondere, auf freiwilliger Basis beruhende persönliche Beziehungen miteinander verbunden sind, so ist sie auch dann nicht öffentlich, wenn der in Frage kommende Personenkreis verhältnismäßig groß ist (Köln NJW 1970, 670 m. krit. Anm. Schröder JR 1970,430). Nicht öffentlich sind demzufolge das abgeschlossene, nicht einsehbare Freigelände eines Freikörperkulturvereins (Köln aaO.; a. A. Lenckner in Schönke-Schröder 4) oder das Lokal eines studentischen Privatclubs. Eine die Öffentlichkeit des Orts ausschließende innere Verbundenheit der betroffenen Personen wurde dagegen verneint für die Insassen einer Strafanstalt (RG 49, 147) und für in einem Nähsaal zusammengefaßte Arbeiterinnen, sofem ihre Zahl groß ist und ihr persönlicher Bestand ständig wechselt (BGH 11, 282). 5. Vollendet ist die Tat, wenn eine Person, die mit der sexuellen Handlung ungewollt (siehe hierzu Anm. 2) konfrontiert wurde, tatsächlich Ärgernis genommen hat, d. h. in ihrem Scham- und Sittlichkeitsempfinden verletzt worden ist. Es genügt also nicht, daß die Handlung nur geeignet war, ein Ärgernis zu erregen. Wird die Tat von einem Kind wahrgenommen, so ist der Tb. nur dann erfüllt, wenn das Kind sich der geschlechtlichen Beziehung der Handlung bewußt ist und sich gerade deshalb in seinem Schamgefühl verletzt fühlt (vgl. BGH NJW 1970, 1855 m. Anm. Geilen NJW 1970, 2304; KG JR 1965, 29; Lenckner in Schönke-Schröder 5; Lackner 4). 6. Der subj. Tb. erfordert Absicht oder direkten Vorsatz. Der Täter handelt absichtlich, wenn es ihm gerade darauf ankommt, durch eine sexuelle Handlung einen anderen in seinem Scham- oder Sittlichkeitsempfinden zu verletzen. Mit direktem Vorsatz handelt der Täter, wenn er als sichere oder notwendige Folge voraussieht, daß ein anderer, der ungewollt mit einer sexuellen Handlung konfrontiert wird, durch diese in seinem Schamoder Sittlichkeitsempfinden verletzt wird. Erfaßt wird also in erster Linie der Provokateur, der einen anderen durch sein Verhalten „schocken" will. Nicht hierher gehört dagegen der Fall, daß das Scham- und Sittlichkeitsempfinden eines anderen durch Unachtsamkeit oder mangelnde Rücksichtnahme verletzt wird (z. B. durch ein Liebespaar, das am Strand nicht genügend Rücksicht auf die Anwesenheit anderer nimmt, vgl. Ber. VIS. 57). 7. Konkurrenzen: Hat die Tat exhibitionistischen Charakter, so kommt aufgrund der Subsidiaritätsklausel nur § 183 in Betracht. In diesen Fällen bekommt § 183 a entgegen der noch in der Voraufl. vertretenen Ansicht auch dann keine Bedeutung, wenn der für § 183 erforderliche Strafantrag nicht gestellt ist und die StA auch kein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung angenommen hat. Durch die Ausscheidung exhibitionistischer Handlungen aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift wird deren praktische Bedeutung erheblich eingeschränkt. Tateinheit ist möglich mit §§ 167, 175, 184 b, 185. Beachte ergänzend § 119 OWiG.
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Verbreitung pornographischer Schriften
(1) Wer pornographische Schriften (§ 11 Abs. 3) 1. einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überläßt oder zugänglich macht, 2. an einem Ort, der Personen unter achtzehn Jahren zugänglich ist oder von ihnen eingesehen werden kann, ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht, 3. im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die der Kunde nicht zu betreten pflegt, im Versandhandel oder in gewerblichen Leihbüchereien oder Lesezirkeln einem anderen anbietet oder überläßt, 4. im Wege des Versandhandels in den räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes einzuführen unternimmt, 5. öffentlich an einem Ort, der Personen unter achtzehn Jahren zugänglich ist oder von ihnen eingesehen werden kann, oder durch Verbreiten von Schriften außerhalb des Geschäftsverkehrs mit dem einschlägigen Handel anbietet, ankündigt oder anpreist, 6. an einen anderen gelangen läßt, ohne von diesem hierzu aufgefordert zu sein, 7. in einer öffentlichen Filmvorführung gegen ein Entgelt zeigt, das ganz oder überwiegend für diese Vorführung verlangt wird, 8. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält oder in den räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes einzuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 bis 7 zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, oder 9. auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Ausland unter Verstoß gegen die dort geltenden Strafvorschriften zu verbreiten oder öffentlich zugänglich zu machen oder eine solche Verwendung zu ermöglichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer eine pornographische Darbietung durch Rundfunk verbreitet. (3) Wer pornographische Schriften (§ 11 Abs. 3), die Gewalttätigkeiten, den sexuellen Mißbrauch von Kindern oder sexuelle Handlungen von Menschen mit Tieren zum Gegenstand haben, 1. verbreitet, 2. öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht oder 3. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, in den räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes einzuführen oder daraus auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne 621
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der Nummern 1 oder 2 zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (4) Absatz 1 Nr. 1 ist nicht anzuwenden, wenn der zur Sorge für die Person Berechtigte handelt. 1. Anliegen der durch das 4. StrRG neu gefaßten, in den parlamentarischen Beratungen bis zuletzt umstrittenen Vorschrift ist es, das Pornographieverbot auf die Fälle zu beschränken, die ausgesprochen sozialschädlich sind und bei denen ein geschütztes Rechtsgut deutlich erkennbar verletzt wird. Zu diesen schutzbedürftigen Rechtsgütem gehören insbesondere der Schutz der Jugend vor zu früher Konfrontation mit Pornographie (siehe hierzu Abs. 1 Nr. 1-5 und Nr. 7, Abs. 2 sowie die Straftatbestände des GjS), außerdem das Interesse des einzelnen, nicht ungewollt mit Pornographie konfrontiert zu werden (siehe hierzu Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 7, Abs. 2 sowie die Bußgeldvorschriften der §§ 119 f. OWiG, abgedruckt in Anh. 2). Ein umfassendes Herstellungs- und Verbreitungsverbot besteht lediglich hinsichtlich der sog. harten Pornographie (sadistische, pädophile und sodomitische Erzeugnisse, vgl. Abs. 3). Im übrigen jedoch soll der „mündige" Bundesbürger das Recht haben, sich pornographische Erzeugnisse zu beschaffen (allerdings nicht in Kiosken, Leihbüchereien usw. sowie im Versandhandel, vgl. Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4) und auch pornographische Filme zu betrachten (allerdings nicht in öffentlichen Lichtspieltheatern und im Fernsehprogramm, vgl. Abs. 1 Nr. 7 sowie Abs. 2). Ergänzend zu beachten sind die Straftatbestände des GjS, die auch die fahrlässige Tatbegehung unter Strafe stellen (vgl. § 21 Abs. 3 GjS). - Gesetzesmaterialien und Schrifttum siehe 3 vor § 174, außerdem: Seetzen, Vorführung und Beschlagnahme pornographischer und gewaltverherrlichender Spielfilme, NJW 1976,497. 2. Nach der Vorstellung des Sonderausschusses (vgl. Ber. VI S. 60) sind pornographisch alle Erzeugnisse, die ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes bei dem Leser, Betrachter, Hörer usw. abzielen und dabei die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstands eindeutig überschreiten. Diese Definition, die in ihrem Kern auf den Definitionsvorschlag des RegE zurückgeht (aaO. S. 32), stellt in ihrem 1. Teil auf die Tendenz der Darstellung ab (Erregung eines sexuellen Reizes); der 2. Teil der Definition, der normativen Charakter trägt, verfolgt nicht etwa das Ziel, einen bestimmten moralischen Standard des Durchschnittsbürgers als Maßstab zur Beurteilung der Pornographie aufrechtzuerhalten, sondern will es ermöglichen, den Pomographiebegriff an veränderte gesellschaftliche Wertvorstellungen anzupassen. Damit wird klargestellt, daß Darstellungen, die zwar einen sexuellen Anreiz auslösen, aber von der Gesellschaft akzeptiert werden (z. B. Titelbilder mancher Illustrierten), aus dem Bereich der Pornographie ausscheiden (vgl. Ber. VI S. 60). a) Die vorstehend wiedergegebene Definition des Pomographiebegriffs deckt sich im wesentlichen mit der Auslegung, die der Bundesgerichtshof in seiner Grundsatzentscheidung vom 22. 7. 1969 (Fanny-Hill-Urteil, BGH 23, 40) dem Merkmal der „unzüchtigen" Schrift in § 184 aF gegeben hat (vgl. Ber. VI S. 60; Hanack JZ 1970, 41; Sax, Gutachten S. 29). In dieser Entscheidung wird darauf hingewiesen, daß die Anschauungen darüber, wo die Toleranzgrenze gegenüber geschlechtsbezogenen Darstellungen zu ziehen 622
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ist, zeitbedingt und damit einem Wandel unterzogen sind. Ein solcher Wandel hat sich gerade in den letzten Jahren vollzogen (siehe hierzu auch Hanack, Gutachten Rn. 354 f.). Auch wenn man die „Sexwelle" in bestimmten Filmen, Dlustrierten usw. außer Betracht läßt, so zeigen vor allem auch emsthafte Darstellungen, daß die Sexualität als ein Grundproblem des menschlichen Lebens heute offen betrachtet und sachlich erörtert wird. Angesichts dieser Entwicklung können Darstellungen geschlechtsbezogener Vorgänge nur noch bei Vorliegen besonderer Umstände als pornographisch angesehen werden. Anhaltspunkte dafür, daß eine Schrift usw. auch nach diesen gewandelten Anschauungen pornographisch ist, können sich z. B. aus einer aufdringlichen, verzerrenden und unrealistischen Darstellung ergeben, aber auch aus der Verherrlichung von Ausschweifungen oder Perversitäten und schließlich aus der obszönen Ausdrucksweise (vgl. BGH aaO.; BayObLG MDR 1970, 941; Hamm NJW 1970, 1754; 1971, 1758; Bremen NJW 1972, 1678; siehe auch Stgt Justiz 1977, 240 betr. Pornofilme). Obwohl der Begriff der Pornographie, wie dargelegt, sachlich mit dem Begriff der „unzüchtigen Schrift", so wie der BGH ihn im „Fanny-Hill-Urteil" einschränkend interpretiert hat, im wesentlichen identisch ist (vgl. Ddf NJW 1974, 1474 f. m. Anm. Möhrenschlager; Krhe MDR 1974, 771; Hanack NJW 1974, 1, 7) hat man dem stärker auf die neuere Sexual- und Literaturwissenschaft bezogenen Begriff der Pornographie gegenüber dem mehr emotional belasteten Begriff der „unzüchtigen Schrift" den Vorzug gegeben (vgl. RegE aaO. S. 33; Ber. VI S. 60; siehe auch Hanack, Gutachten Rn. 360; krit. dagegen Dreher 6 sowie J R 1974,45,56). b) Werke der Wissenschaft und Kunst unterliegen mit Rücksicht auf Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG besonderen Beurteilungskriterien. Bei echten wissenschaftlichen Werken kann schon begrifflich nicht von Pornographie gesprochen werden (anders bei pseudo-wissenschaftlichen Abhandlungen, bei denen Pornographie nur mit dem Deckmantel einer angeblichen Wissenschaftlichkeit verbrämt wird). Bei Kunstwerken steht ebenfalls die Frage im Vordergrund, ob im Einzelfall überhaupt von Kunst gesprochen werden kann. Der Kunstbegriff darf dabei - insbesondere bei zeitgenössischer Kunst - nicht zu eng gefaßt werden. Kunstwerkeigenschaft ist immer dann anzunehmen, wenn ein künstlerischer Gestaltungswille erkennbaren Niederschlag gefunden hat (vgl. Ddf NJW 1964, 562; Stgt NJW 1969, 1779). Ist dies der Fall, so kommt es nicht darauf an, ob das Werk einen besonderen künstlerischen Rang einnimmt und ob es allgemeine Anerkennung für sich beanspruchen kann. Die Kunsteigenschaft wird auch nicht dadurch berührt, daß das Werk nur wegen seiner erotischen Sensation Beachtung findet (vgl. Stgt aaO.). Wird die Kunstwerkeigenschaft bejaht, so ist für § 184 schon tatbestandsmäßig kern Raum, da die Begriffe Kunst und Pornographie sich gegenseitig ausschließen (vgl. Badura Prot. VI S. 1097). Hier zeigt sich der entscheidende Vorteil der Verwendung des Begriffs „pornographische" Schriften usw. anstelle des früher verwendeten Begriffs der „unzüchtigen" Schriften usw. Es mag zwar „obszöne" Kunst geben, d. h. Kunst, die den herrschenden Auffassungen über Geschlechtsmoral zuwiderläuft (und damit „unzüchtig" im herkömmlichen Sinn ist); es gibt jedoch keine pornographische Kunst. Geht man von dieser Ausschlußwirkung der Begriffe Kunst und Pornographie aus, so bedarf es zur Legitimierung eines Kunstwerks keines Rückgriffs auf die in Art. 5 Abs. 3 GG garantierte Kunstfreiheit (vgl. Badura aaO.; Dreher l i m . Nachw.; Lackner 2 b). Zielt die Tendenz eines Werkes ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes beim Betrachter ab und werden hierbei die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstands eindeutig überschritten (Definition von Pornographie, s. o. 2 a), so kann nicht mehr von „Kunst" gesprochen werden (vgl. Dreher 11 unter Zugrundelegung des sog. materiellen Kunstbegriffs im Gegensatz zum sog.
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formellen Kunstbegriff, wonach als Kunst anzusehen ist, was der Urheber als solche ausgibt). c) Bei der Frage, ob eine Schrift usw. Kunst oder Pornographie ist, kommt es grundsätzlich auf die Gesamttendenz des Werkes und seine Beurteilung an. Eine Schrift wird nicht schon dadurch pornographisch, daß einzelne Stellen als pornographisch zu beurteilen sind. In diesen Fällen kann eine pornographische Schrift jedoch dadurch entstehen, daß die pornographischen Stellen zusammengestellt und gesondert verbreitet werden, gegebenenfalls in einer Kombination mit pornographischen Elementen anderer Schriften (vgl. Neustadt JR 1952, 287; Maurach BT 455; Dreher 9). d) Die Darstellung des nackten menschlichen Körpers enthält nur bei Hinzutreten besonderer Umstände pornographischen Charakter. Dies ist nach den oben unter lit. a) entwikkelten Grundsätzen dann der Fall, wenn die Darstellung ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes abzielt und die Grenzen des sexuellen Anstands eindeutig überschreiten, z. B. durch herausfordernde Stellungen, durch betonte Hervorhebung der Geschlechtsmerkmale (vgl. BGH bei Dallinger MDR 1970,13), durch Beibehaltung halbverhüllender Kleidungsstücke (vgl. Dreher 8), vor allem aber im Zusammenhang mit Szenen, die unter § 184 Abs. 3 fallen. Ein Spielfilm ist pornographisch, wenn er fast ausschließlich auf sich selbst reduzierte sexuelle Handlungen in unnatürlicher Häufung zum Inhalt und die einzelnen Szenen unrealistisch und anreißerisch auf die Aufstachelung des Sexualtriebs gerichtet sind, ohne jede Beziehungen zu anderen menschlichen Regungen und Antrieben (Stgt Justiz 1977, 240). 3. Über Schriften siehe § 11 Abs. 3. 4. Die Tathandlungen des Abs. 1. a) Die dem Jugendschutz dienenden Nr. 1 und Nr. 2 sind der Regelung des § 3 GjS nachgebildet. Sämtliche Tb.-Merkmale sind im Interesse eines umfassenden Jugendschutzes weit auszulegen. „Zugänglichmachen" ist jede Ermöglichung der Kenntnisnahme, z. B. durch Aufstellen eines Filmautomaten (BayObLG NJW 1976, 527 m. Nachw.). Erfaßt wird auch der Fall, daß jemand eine pornographische Schrift im Wartezimmer eines Arztes auslegt, obwohl sie dort auch von Jugendlichen gelesen werden kann. „Ausgestellt" i. S. der Nr. 2 ist eine Schrift auch dann, wenn sie in einem neutralen Umschlag im Schaufenster einer Buchhandlung ausliegt (a. A. RegE aaO. S. 34, allerdings aufgrund der damals noch engeren Fassung). b) Die Vertriebs- und Werbebeschränkungen der Nr. 3 - 5 verfolgen das Ziel, jugendlichen den Zugang zu pornographischen Erzeugnissen möglichst zu erschweren. aa) Das Vertriebsverbot der Nr. 3, die dem § 4 GjS nachgebildet ist, gilt absolut, d. h. auch dann, wenn im Einzelfall durch besondere Sicherheitsmaßnahmen des Inhabers eines Kiosks oder einer vergleichbaren Verkaufsstelle Belange des Jugendschutzes nicht berührt werden (Stgt NJW 1976, 529). Zum Versandhandel gehören alle Unternehmer, die Schriften usw. ( § 1 1 Abs. 3) auf schriftliche oder femmündliche Bestellung an ihnen unbekannte Personen verschicken. Gewerbliche Leihbüchereien sind auf Gewinnerzielung angelegte Unternehmen, die Schriften gegen Entgelt ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 9) vermieten. Auf Grund der Gleichstellungsklausel des § 11 Abs. 3, auf die § 184 Abs. 1 verweist, gehören hierher auch Unternehmen, die sich auf die Vermietung von Pornofilmen spezialisiert haben (sehr Str.; übereinstimmend Krhe NJW 1974, 2015; Justiz 1976, 438; Dreher
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19; F. C. Schroeder, Das neue Sexualstrafrecht, 1975, S. 66; a. A. BGH 27, 52; Stgt NJW 1976, 1109; Lackner 3 b; Laufhütte JZ 1974, 48; Lenckner in Schönke-Schröder 23). Entsprechend dem Anliegen der auf den Jugendschutz abzielenden Vorschrift kann es keinen Unterschied machen, ob ein Pornofilm in einer Leihbücherei vermietet wird, die sich nur nebenbei mit diesem Geschäftszweig befaßt, oder ob der Vertrieb durch ein Spezialuntemehmen erfolgt. Da die in Nr. 3 deklarierten Vertriebsverbote absolut sind (Stgt NJW 1976, 529), ist es auch unerheblich, welche Maßnahmen im Einzelfall zum Schutz von Jugendlichen ergriffen worden sind. Gewerbliche Lesezirkel sind Unternehmen, die gegen Entgelt ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 9) Schriften, Filme, Kassetten usw. ( § 1 1 Abs. 3) in der Weise vermieten, daß die vermieteten Gegenstände bei den Kunden nach einem bestimmten Umlaufsystem kursieren. bb) Das Einfuhrverbot der Nr. 4, das die Strafbarkeit bereits in den Versuchsbereich vorverlegt ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 6), will verhindern, daß die Bundesrepublik durch den ausländischen Versandhandel mit Pornomaterial überschwemmt wird. Einfuhr ist jedes Verbringen über die Grenze, wobei Täter jeder sein kann, der das Verbringen veranlaßt oder durchführt, sofem er im Auftrag des Versandhandelunternehmens tätig wird. Nicht erfaßt wird dagegen der Abnehmer im Inland, der die Sendung bestellt hat (h. A., vgl. Lenckner in Schönke-Schröder 26; a. A. Dreher 2 1 m . weit. Nachw.). Über Sicherstellung und Beschlagnahme s. u. Anm. 10. cc) Das Werbeverbot der Nr. 5 ist zwar - wie die Vertriebsbeschränkungen der Nr. 3 und 4 - ebenfalls absolut; es erfordert jedoch eine verfassungskonforme Auslegung. Zur Wahrung des in Art. 5 Abs. 1 GG garantierten Rechts auf freie Information wird eine Werbung, die sich auf wertneutrale andeutende Hinweise beschränkt (z. B. Inserat mit dem Text „Tam-Tam-Film Nr. 23 - internationaler Spitzenfilm - nur für Erwachsene") von der Strafdrohung nicht erfaßt (vgl. BGH NJW 1977, 1695; Stgt MDR 1977, 238; OLG München, Beschl. v. 17. 12. 1975, 1 Ws 1474/75; Lenckner in Schönke-Schröder 31; Seetzen NJW 1976, 497 f.; weitergehend jedoch Dreher 22 und Laufhütte JZ 1974, 48, die auch die „verdeckte", wertneutrale Werbung als tatbestandsmäßig ansehen). Eine einschränkende Auslegung des Werbeverbots ist um so mehr vertretbar, als die Bezugsquelle selbst dem Jugendlichen verschlossen ist, es zumindest sein sollte. Zweifelhaft erscheint allerdings die oben zitierte Entscheidung BGH NJW 1977, 1695, wonach selbst der Hinweis „Non-Stop-Sex-Show" im Schaufenster eines „Sex-Shop" noch nicht ohne weiteres ein Ankündigen pornographischer Filme enthalten soll. c) Die in Nr. 6 unter Strafe gestellte unverlangte Zusendung pornographischer Erzeugnisse (bereits die Werbeprospekte hierfür können pornographischen Charakter haben, z. B. durch Zusammenstellung einschlägiger Leseproben) bedeutet einen groben Eingriff in die Intimsphäre (vgl. RegE aaO. S. 34). Hinzu kommt, daß durch die unverlangte Zusendung pornographischer Erzeugnisse auch die Interessen des Jugendschutzes berührt werden (RegE aaO.). d) Das Verbot der öffentlichen Vorführung pornographischer Filme (Nr. 7) dient primär dem Jugendschutz. Erfahrungsgemäß ist nämlich eine zuverlässige Alterskontrolle an den Kassen der Kinos nicht gewährleistet. Gleichzeitig dient die Vorschrift dem Schutz vor ungewollter Konfrontation mit Pornographie (z. B. im Beiprogramm, das dem Besucher vorher i. d. R. nicht bekannt ist). Erfaßt werden nur „öffentliche" Vorführungen, nicht auch Vorführungen in privaten Clubs oder in Privatwohnungen (Einzelheiten s. § 183 a Anm. 4), wohl aber in öffentlichen Nachtlokalen (BayObLG NJW 1976, 527) sowie in allgemein zugänglichen Verkaufsräumen. 625
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aa) Bei sog. Sex-Shops wird das Merkmal der Öffentlichkeit verschiedentlich mit der Begründung verneint, die Läden dürften von Jugendlichen nicht betreten werden, so daß bei entsprechend strenger Alterskontrolle der Jugendschutz hinreichend gewährleistet sei; da jedermann den Charakter dieser Einrichtungen kenne, bestehe auch nicht die Gefahr einer ungewollten Konfrontation mit Pornographie (vgl. LG Hamburg, Beschl. v. 14. 5. 1974, 36 Qs 41/74; LG Ffm, Beschl. v. 29. 5. 1974, 5/7 Qs 22 + 32/74; LG Saarbrücken, Beschl. v. 13. 6. 1975,4 Qs 53/75; AG Stgt, Beschl. v. 25. 7. 1975, B 22 Ds 310/75; LG Berlin, Beschl. v. 10. 11. 1975, 516 Qs 90/75). Andererseits läßt sich nicht ernsthaft in Abrede stellen, daß der Besuch eines Sex-Shops - genau wie der eines konventionellen Lichtspieltheaters, das sich lediglich durch die größeren Ausmaße seines Zuschauerraums auszeichnet - einer unbestimmten Vielzahl persönlich nicht miteinander verbundener Personen möglich und damit der Charakter der Öffentlichkeit gegeben ist (so zutreffend SchöffG Kassel, Urt. v. 25. 9. 1974,41 Ls 78/74; AG Hamburg, Beschl. v. 23.5.1975, 36 Qs 20/75; LG Mannheim, Beschl. v. 10.2.1976, IV Qs 4/75). Besonderheiten sind lediglich bei Filmautomaten zu beachten. Das Aufstellen solcher Automaten, die jeweils nur von einzelnen Personen bedient werden können, stellt sich nicht als öffentliches „Vorführen" dar (BayObLG NJW 1976, 527; LG Dortmund MDR 1975, 163; Lenckner in Schönke-Schröder 40), kann jedoch, wenn Jugendliche zugelassen werden, nach Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 strafbar sein (BayObLG aaO.). bb) Es ist weiter zu beachten, daß nicht jede öffentliche Vorführung eines Pornofilms bereits tatbestandsmäßig ist. Der Tb. ist vielmehr erst dann erfüllt, wenn die Vorführung gegen ein Entgelt ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 9) gezeigt wird, das ganz oder überwiegend für die Vorführung verlangt wird. Diese sog. Entgeltklausel soll es vor allem Nachtlokalen und ähnlichen Etablissements ermöglichen, solche Sex- und Pornoprogramme, die sie ihren Gästen als Live-Show bieten können, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, auch als Film zu bieten, sofern die Unkosten durch die Getränkepreise mit abgegolten werden und ein etwaiger Aufschlag für die Vorführung in der Endabrechnung nicht überwiegt (vgl. Ber. S. 60 f. BT-Drucks. IV/3521; KG JR 1977, 379; Laufhütte JZ 1974, 49). Ob dieses Privileg auch den Mischbetrieben zugebilligt werden kann, die nach Art der sog. TAM- und PAM-Kinos den Besuch der Filmvorführung vom Erwerb eines Pornohefts, einer Schallplatte oder eines Verzehrbons abhängig machen, ist äußerst umstritten und hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die in der Praxis z. Z. wohl überwiegende Ansicht stellt dabei auf die nach außen in Erscheinung tretende Kalkulation des Unternehmens ab, wobei es nicht entscheidend auf die nominelle Deklaration, sondern auf die tatsächliche Kalkulation ankommen soll (vgl. z. B. LG Braunschweig, Beschl. v. 14. 1. 1976, 12 Qs 6/76; LG Berlin, Beschl. v. 2. 4. 1975, 517 Qs 24/75; LG Ulm, Beschl. v. 3. 2. 1976,1 Qs 14/76 und v. 4. 3. 1976,1 Qs 82/76; LG Mannheim, Beschl. v. 19. 9. 1975, IV Qs 101/75; LG Stgt, Beschl. v. 27. 4. 1976, IV Ws 165/76 und v. 14. 5. 1976, IV Qs 204/76). Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß sich der „tatsächliche" Anteil des Preises für die Nebenleistung schon deshalb nicht befriedigend ermitteln läßt, weil der Unternehmer in seiner Kalkulation grundsätzlich frei ist. Auf Einkaufs-oder Ladenpreis kann es sicher nicht ankommen; ein Vergleich mit den Preisen in einer Bar oder in einem Café verbietet sich schon deshalb, weil ein herkömmliches Kino nicht schon dadurch zu einer Bar oder einem Café wird, daß an der Kasse Getränke- oder Verzehrgutscheine ausgegeben werden. Entsprechend den Motiven des Gesetzgebers sollte deshalb nicht auf die Kalkulation des Unternehmens, sondern auf die Art des Betriebs abgestellt werden. Privilegiert werden sollen nur solche Betriebe, die sich schon nach ihrem äußeren Rahmen, insbesondere nach der Raumeinteilung und der Bestuh-
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lung, von einem herkömmlichen Kino deutlich unterscheiden. Dagegen bleibt die Tatbestandsmäßigkeit der Filmvorführung unberührt, wenn der Besucher eines herkömmlichen Kinos unter offensichtlichem Mißbrauch der Entgeltklausel gezwungen wird, ein Getränk, eine Schallplatte oder ein Pornoheft zu erwerben, auf das er - ohne Rücksicht auf die Preiskalkulation - überhaupt keinen Wert legt (KG JR 1977, 379 m. zust. Anm. Rudolphi; Lencknerin Schönke-Schröder 41 b; im Ergebnis übereinstimmend auch BGH Urt. v. 15. 2. 1977,5 StR 598/76). cc) Umstritten ist schließlich, ob das Verbot der Nr. 7 auch dann eingreift, wenn der Pornofilm sich nur im Vor- oder Beiprogramm befindet (bejahend z.B. LG Hannover, Beschl. v. 18. 4. 1974, 32 Qs 83/74; LG Stgt, Beschl. v. 9. 10. 1975, IV Qs 299/75; AG Bonn, Beschl. v. 7. 5. 1975, 43 Gs 949/75; a. A. LG Mannheim, Beschl. v. 10. 2. 1975, IV Qs 4/75 sowie Lenckner unter zutreffendem Hinweis darauf, daß der Eintrittspreis überwiegend für den Hauptfilm verlangt wird). Zum Ganzen siehe auch Seetzen NJW 1976,497 m. weit. Nachw. dd) Sex-Shops können die Entgeltklausel dadurch nutzen, daß sie den - dann unentgeltlichen - Besuch ihres Filmprogramms mit dem Kauf eines Buchs oder Magazins koppeln, wobei allerdings zu prüfen ist, ob eine derartige Koppelung nicht gegen die ZugabeVO verstößt (vgl. Köln NJW 1977,966). e) In Nr. 8 werden bestimmte Vorbereitungshandlungen selbständig unter Strafe gestellt, z. B. die Belieferung eines Kiosks (Stgt NJW 1976,529). Anliegen der Nr. 9 ist es, Konflikten mit dem Ausland vorzubeugen (vgl. Ber. VII S. 11). Strafbar ist das Unternehmen der Ausfuhr nur dann, wenn der Täter die Absicht hat, die pornographischen Erzeugnisse im Ausland unter Verstoß gegen die dort geltenden Strafvorschriften (die der Täter kennen muß) zu verbreiten oder öffentlich zugänglich zu machen. Nicht ausreichend ist dagegen die Mitnahme als Reiselektüre oder um sie Freunden im Ausland für deren persönlichen Bedarf mitzubringen. 5. Anliegen des Abs. 2, der pornographische Darbietungen durch Rundfunk unter Strafe stellt, ist es, alle Bürger vor unverlangter Konfrontation mit Pornographie zu schützen sowie Kinder und Jugendliche vor den Gefahren der Pornographie zu bewahren. Zum Rundfunk gehören der Ton- und Bildfunk (Radio und Fernsehen). 6. Abs. 3 enthält ein umfassendes Verbot der Herstellung und Verbreitung sadistischer, pädophiler und sodomitischer Pornographie (sog. harte Pornographie). a) Die das umfassende Herstellungs- und Verbreitungsverbot rechtfertigende Sozialschädlichkeit pornographischer Erzeugnisse, die Gewalttätigkeiten zum Gegenstand haben (sadistische' Pornographie) besteht einmal in der Gefahr, daß Personen, die ohnehin zu einer Sexualbetätigung mit sadistischem Einschlag neigen, durch das einschlägige pornographische Material zu einer solchen sexuellen Betätigung aktiviert werden (vgl. RegE aaO. S. 35; Ber. VI S. 5, 61 f.). Hinzu kommt die weitere Gefahr, daß noch nicht voll ausgereifte junge Menschen in ihrer seelischen Entwicklung und in ihrer sozialen Orientierung beeinträchtigt werden, wenn ihnen derartiges Material infolge seiner breiten Streuung leichter zugänglich sein wird (RegE aaO.). Über den Begriff „Gewalttätigkeit", der sich auch in den §§ 113 Abs. 2 Nr. 2, 125 Abs. 2 und § 131 findet, siehe § 131 Anm. 2 a. In Betracht kommen vor allem pornographische Schilderungen bzw. Darstellungen von Vergewaltigungen und sexuell motivierte Folterungen sowie sexuell motivier-
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ten Tötungen und Körperverletzungen (vgl. RegE S. 36). Unerheblich ist, ob die dargestellten Gewalttätigkeiten tatsächlich begangen wurden oder nur vorgetäuscht sind. b) Die Strafbedürftigkeit pornographischer Erzeugnisse, die den sexuellen Mißbrauch von Kindern (pädophile Pornographie) zum Gegenstand haben, ergibt sich aus den gleichen Erwägungen wie die Strafbedürftigkeit der sadistischen Pornographie (s. o. lit. a). Außerdem gilt es zu verhindern, daß Kinder als Modelle für einschlägige fotografische Aufnahmen mißbraucht werden (vgl. RegE aaO. S. 35 f.). Unter den Begriff „sexueller Mißbrauch von Kindern" fallen alle Handlungen, die in § 176 unter Strafe gestellt sind. c) Die Strafbarkeit pornographischer Erzeugnisse, die sexuelle Handlungen von Menschen mit Tieren zum Gegenstand haben (sodomitische Pornographie), rechtfertigt sich aus der Gefahr, daß unglücklich veranlagte labile Personen durch derartige Erzeugnisse u. U. zu Handlungen verleitet werden, die ihre Menschenwürde zutiefst verletzen. Anliegen der Vorschrift ist es, vor allem junge, charakterlich noch nicht ausgereifte Menschen vor dem Abgleiten in die menschenunwürdige Sodomie zu bewahren. d) Der Kreis der Tathandlungen entspricht dem des § 131. Ein pornographisches Erzeugnis ist verbreitet (vgl. Nr. 1), wenn es aus dem engeren Kreis der an seiner Herstellung beteiligten Personen heraustritt und einem größeren, nicht notwendig unbestimmten Personenkreis zugänglich gemacht wird (vgl. BGH NJW 1977, 1695; Ddf NJW 1974, 1474). Als Täter kommen daher hauptsächlich Inhaber und Repräsentanten von Filmverleihgesellschaften und Lichtspieltheatern, Verleger, Buch- und Zeitschriftenhändler sowie Versandhäuser in Betracht. Die vertrauliche Weitergabe an einzelne Personen, z. B. das Ausleihen im Freundeskreis, genügt daher nicht, wohl aber der Verkauf oder Verleih im Rahmen eines zu diesem Zweck geschaffenen Vereins (vgl. BGH 13, 257). 7. Über das sog. Erzieherprivileg des Abs. 4, das sich auch in den §§ 131 Abs. 4, 180 Abs. 1 S. 2 sowie in § 21 Abs. 4 GjS findet, siehe § 180 Anm. 5 sowie F. C. Schroeder, Lange-Festschr. S. 391 ff. 8. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bei allen Tatbeständen bedingter Vorsatz genügt. Der Vorsatz muß sich insbesondere auf den pornographischen Charakter des Erzeugnisses erstrecken (vgl. Stgt Justiz 1977, 240). Allerdings schließt die irrige Beurteilung eines objektiv pornographischen Erzeugnisses bei Kenntnis seines Inhalts den Vorsatz nicht aus. Der Täter befindet sich insoweit in einem Verbotsirrtum, der nicht schon deshalb entschuldigt ist, weil der Täter sich auf ein sog. X-Testat der Juristenkommission der SPIO (Spitzenorganisation der Filmwirtschaft) berufen kann (Stgt Justiz 1977, 240). Vermeidbar ist der Irrtum über den pornographischen Charakter eines Erzeugnisses zumindest dann, wenn der Täter weiß oder wissen konnte, daß höchstrichterliche Entscheidungen vorliegen, in denen das Erzeugnis bereits als pornographisch bewertet worden ist. Auch eine Auskunft des eigenen Anwalts läßt den Verbotsirrtum in derartigen Fällen nicht ohne weiteres als entschuldbar erscheinen (KG JR 1977, 379 m. zust. Anm. Rudolphi). 9. Konkurrenzen: Die einzelnen Alternativtatbestände der Abs. 1 bis 3 können, da sich ihre Schutzrichtung nur teilweise deckt, untereinander grundsätzlich in Tateinheit stehen (BGH NJW 1976, 720). Subsidiär sind jedoch die in Abs. 1 Nr. 8 und Abs. 3 Nr. 3
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Dreizehnter Abschnitt: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
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erfaßten Vorbereitungshandlungen, wenn es später zu einer weitergehenden Tathandlung kommt (BGH aaO., h. L.). Tateinheit ist weiter möglich zwischen Abs. 3 und § 131. Die dem Jugendschutz dienende Strafvorschrift des § 21 GjS ist, soweit die einzelnen Tatbestände mit denen des § 184 übereinstimmen, nur für die Fälle der geschäftlichen Werbung (Abs. 2) und die fahrlässige Begehung (Abs. 3) von Bedeutung, im übrigen aber gegenüber § 184 subsidiär (vgl. Dreher 43; Lackner 7 b; für Tateinheit jedoch Laufhütte JZ 1974, 46; unklar Lenckner in Schönke-Schröder 68). § 21 Abs. 5 GjS, wonach von Strafe abgesehen werden kann, wenn Jugendliche oder Angehörige als Täter in Erscheinung treten, ist allerdings auch in den Fällen anwendbar, in denen § 21 GjS infolge Subsidiarität hinter § 184 Abs. 1 zurücktritt (Dreher 43; Lackner 7 c; Lenckner in Schönke-Schröder 68). Abs. 1 Nr. 1 wird durch § 176 Abs. 5 Nr. 3 konsumiert (BGH NJW 1976, 1984). Ergänzend beachte den nach § 21 OWiG subsidiären Bußgeldtatbestand des § 119 Abs. 3 OWiG (abgedruckt in Anh. 2). 10. Prozessual ist folgendes zu beachten: Soweit die Einfuhr gesetzlich verboten ist (Abs. 1 Nr. 4 und 8, Abs. 3 Nr. 3) können eingehende Sendungen bei der Zollabfertigung nicht Freigut werden (vgl. § 15 Abs. 1 Nr. 1 ZollG). Die Zollbehörde kann in diesem Fall die Wiederausfuhr unter zollamtlicher Überwachung anordnen (vgl. 9 Abs. 2 ZollG sowie Meyer JR 1972, 188). Dies gilt auch dann, wenn eingehende Postsendungen gemäß § 6 Abs. 7 ZollG zur Zollabfertigung dem zuständigen Zollamt zugeleitet werden. Das in Art. 10 GG geschützte Postgeheimnis wird in diesem Fall nicht verletzt. Die Zollbehörden sind jedoch nicht berechtigt, die beanstandeten Sendungen den Strafverfolgungsbehörden zuzuleiten, um ihre Beschlagnahme und Einziehung zu ermöglichen (BGH 23, 329 m. Anm. Meyer JR 1971, 162; Dreher 21). § 6 Abs. 7 ZollG ist als grundrechtseinschränkende Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Die Post darf die Sendungen lediglich dem Zoll stellen, aber nicht anderen staatlichen Stellen den Zugriff erleichtern. Dies ergibt sich insbesondere aus der Erwägung, daß ein Verfahren, wie es § 2 des Gesetzes zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote vom 24. 5. 1961 (BGBl. I 607) in Staatsschutzsachen eingeführt hat, in dem später erlassenen PostG fehlt. Auch § 99 StPO läßt eine Beschlagnahme nur in einem bereits anhängigen Verfahren gegen eine bestimmte Person zu. Werden pornographische Erzeugnisse ohne vorhergehenden gerichtlichen Beschlagnahmebeschluß den Strafverfolgungsbehörden zugeleitet, so zieht die hierin liegende Verletzung von Art. 10 GG ein prozessuales Verwertungsverbot nach sich (Krhe NJW 1973, 208). Es wird deshalb Aufgabe des Gesetzgebers sein, den Dienststellen des Post- und Zolldienstes eine klare Rechtsgrundlage zu geben, die es ihnen ermöglicht, die Sendungen den Strafverfolgungsbehörden zuzuleiten, da sonst das Anliegen des Gesetzes, eine Überschwemmung der Bundesrepublik mit hartem Pornomaterial aus dem Ausland zu verhindern, nicht verwirklicht werden kann. Bis dahin muß es bei der oben erwähnten Regelung der §§ 9 Abs. 2, 15 Abs. 1 Nr. 1 ZollG verbleiben, wenn der Inhalt der Sendung einem gesetzlichen Einfuhrverbot zuwiderläuft. Verstößt der Inhalt der Sendung zwar gegen kein Einfuhrverbot, ist er aber gleichwohl strafbar, so hat die Post nach Beendigung der Zollabfertigung § 13 Abs. 1 Nr. 1 PostO zu beachten, wonach die Post gehalten ist, die Sendung von der weiteren Beförderung auszuschließen (vgl. Meyer JR 1972, 188 f.). Zum Ganzen siehe auch Meyer JR 1973, 379. 11. Bei der Frage der Verjährung sind die kurzen presserechtlichen Verjährungsvorschriften zu beachten, deren Lauf bereits mit dem jeweils ersten Verbreitungsakt beginnt
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§ 184 a
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(BGH 25, 347; 26, 40; NJW 1977, 1695; Stgt NJW 1976, 529). § 21 GjS gehört dagegen nicht zu den Presseinhaltsdelikten, so daß insoweit die allgemeinen Verjährungsfristen des § 78 gelten.
§ 184 a
Ausübung der verbotenen Prostitution
Wer einem durch Rechtsverordnung erlassenen Verbot, der Prostitution an bestimmten Orten überhaupt oder zu bestimmten Tageszeiten nachzugehen, beharrlich zuwiderhandelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen bestraft. 1. Die Vorschrift, die den früheren Übertretungstatbestand des § 361 Nr. 6 c ersetzt, war bereits im Rahmen des 2. StrRG als § 184 c verkündet worden (vgl. BGBl. 19691S. 717) und sollte zusammen mit diesem in Kraft treten. Sie wurde dann aber in das früher in Kraft tretende 4. StrRG übernommen und dessen Sprachgebrauch angepaßt. 2. Anliegen der Vorschrift ist es, beharrlich wiederholte Verstöße gegen Sperrbezirksverordnungen nicht nur als Ordnungswidrigkeiten zu ahnden (siehe hierzu den Bußgeldtatbestand des § 120 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, abgedruckt in Anh. 2), sondern als Vergehen unter Strafe zu stellen. Die Einstufung als Vergehen wirkt sich nicht nur durch die härteren Sanktionen, sondern vor allem auch durch die Eintragung im BZR aus. Dies wird vor allem dann von praktischer Bedeutung, wenn die Prostituierte nach einer rechtskräftigen Verurteilung ihre Tätigkeit in eine andere Stadt verlegt, in der sie den Polizeibehörden noch nicht bekannt ist. 3. Die Einrichtung sog. Sperrbezirke ist nur durch RechtsVO möglich. Art. 297 EGStGB gibt den Verwaltungsbehörden die Möglichkeit, „zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstands" die Ausübung der Prostitution durch Rechtsverordnungen örtlich und zeitlich zu beschränken. Zuständig sind die Landesregierungen, die jedoch ihre Zuständigkeit auf die höheren Verwaltungsbehörden (z. B. Regierungspräsidien) übertragen können. Ein totales Verbot ist nur bei Gemeinden bis zu 50 000 Einwohnern sowie unabhängig von der Einwohnerzahl - für öffentliche Straßen, Wege, Plätze und sonstige Orte zulässig, die von dort aus eingesehen werden können (sog. Straßenstrich). Das Verbot umfaßt den gesamten Bereich des Sperrbezirks, einschließlich der unbebauten Teile (BGH 23, 174; Stgt Justiz 1968, 50). Die Möglichkeit, den Straßenstrich zeitlich zu beschränken, dient vor allem dem Schutz der Schulkinder. Werden Sperrbezirke bestimmt, so müssen diese klar bestimmt sein (BVerwG NJW 1964, 512). Unzulässig sind Wohnbeschränkungen auf bestimmte Straßen oder Häuserblocks zum Zwecke der Ausübung der Prostitution (Kasernierung). Die erlassenen Verordnungen haben nicht nur polizeilichen, sondern strafrechtlichen Charakter, so daß ein Normenkontrollverfahren vor dem VGH unzulässig ist (VGH Mannheim NJW 1968, 2076). 4. Beharrlich ist die Zuwiderhandlung, wenn sie aus Mißachtung des Verbots oder aus Gleichgültigkeit wiederholt begangen wird (BGH 23, 167, 172; h. L.). Teilakte einer fortgesetzten Tat genügen (Dreher 5). Nicht erforderlich ist, daß die Prostituierte bereits 630
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§ 184b
wegen einer Ordnungswidrigkeit gem. § 120 OWiG (siehe Anh. 2) mit einem Bußgeld belegt worden ist und daß die Zuwiderhandlung immer im gleichen Sperrbezirk begangen wird. Der Tb. ist auch dann erfüllt, wenn die Prostituierte, um den standigen Polizeikontrollen zu entgehen, ihre Tätigkeit in den Sperrbezirk einer anderen Gemeinde verlegt. 5. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich insbesondere darauf erstrekken, daß die Prostitution in einem Sperrbezirk ausgeübt wird (BGH 23, 167). Bedingter Vorsatz genügt. 6. Teilnehmer, die selbst nicht „beharrlich" handeln, sind in analoger Anwendung von § 28 Abs. 2 nur wegen einer OWi nach § 120 OWiG zu verfolgen (vgl. Dreher 6; Lackner 6). Der „Freier" bleibt als sog. notwendiger Teilnehmer (vgl. 5 vor § 25) straflos. 7. IdK. ist möglich mit §§ 183 a, 184 b. Gegenüber § 120 OWiG (siehe Anh. 2) geht § 184 a vor (vgl. § 21 OWiG).
§ 184 b Jugendgefährdende Prostitution Wer der Prostitution 1. in der Nähe einer Schule oder anderen örtlichkeit, die zum Besuch durch Personen unter achtzehn Jahren bestimmt ist, oder 2. in einem Haus, in dem Personen unter achtzehn Jahren wohnen, in einer Weise nachgeht, die diese Personen sittlich gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Uber die Gesetzesgeschichte siehe § 184 a Anm. 1. Die Vorschrift dient dem Jugendschutz. Ihr Anliegen ist es, Kinder und Jugendliche aus dem gefährlichen Milieu der Prostitution herauszuhalten. Andererseits wurde unter Abweichung von der in § 223 Nr. 1 E 1962 vorgeschlagenen Regelung darauf verzichtet, eine dem früheren § 361 Nr. 6 a entsprechende Vorschrift zu schaffen, die auch die Prostitution in der Nähe von Kirchen und anderen der Religionsausübung dienenden Gebäuden unter Strafe stellt. Dieser Verzicht wurde damit begründet, es sei „zumindest zweifelhaft, ob die Religionsausübung wirklich durch derartige Verhaltensweisen beeinträchtigt werden kann". Hierbei wird verkannt, daß es nicht nur um die Beeinträchtigung der Religionsausübung, sondern auch um den Schutz des Pietätsempfindens der Besucher einer Kirche oder einer anderen Stätte der Religionsausübung geht. Wird die Prostitution „an" einem Ort, der dem Gottesdienst gewidmet ist, ausgeübt, sogreift § 167 Abs. 1 Nr. 1 ein. 2. Der Schutzbereich der Nr. 1 erfaßt Schulen aller Art, in denen schulpflichtige Kinder und Jugendüche ausgebildet werden (insbesondere Grund- und Hauptschulen, Berufsschulen und Gymnasien, nicht jedoch Universitäten), ferner andere Ortlichkeiten, die zum Besuch durch Personen unter 18 Jahren bestimmt sind. Hierzu gehören insbesondere Kinderspielplätze, Kindergärten und Jugendheime, aber auch Sportheime und Sportanlagen, soweit diese ausschließlich oder überwiegend zur Benutzung durch Kinder und Jugendüche bestimmt sind.
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§ 184 c
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3. Der Schutzbereich der Nr. 2 erfaßt Häuser, in denen Kinder oder Jugendliche wohnen. Über Wohnung siehe § 123 Anm. 1 a. 4. Über das Merkmal der Prostitution nachgehen siehe § 180 a Anm. 2 b. 5. Sowohl im Falle der Nr. 1 als auch bei Nr. 2 ist zur Tatbestandsverwirklichung erforderlich, daß Kinder oder Jugendliche durch die Ausübung der Prostitution sittlich gefährdet werden. Dies ist immer schon der Fall, wenn die Gefahr besteht, daß die geschützten Personen das mit der Prostitution verbundene Treiben (z. B. das Anwerben der Freier, deren ständiges Kommen und Gehen oder gar die Vornahme sexueller Handlungen) beobachten oder sonst wahrnehmen können. Bei Kindern unter drei Jahren, die früher aus dem Schutzbereich der Vorschrift ausgenommen waren, wird es hieran in der Regel fehlen. 6. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, der sich auf das Vorhandensein der im Tb. beschriebenen örtlichkeiten und die Möglichkeit einer sittlichen Gefährdung von Kindern und Jugendlichen erstrecken muß. Bedingter Vorsatz genügt. 7. Tateinheit ist möglich mit §§ 170 d, 183 a, 184 b.
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Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieses Gesetzes sind 1. sexuelle Handlungen nur solche, die im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind, 2. sexuelle Handlungen vor einem anderen nur solche, die vor einem anderen vorgenommen werden, der den Vorgang wahrnimmt. 1. Die durch das 4. StrRG neu eingefügte Legaldefinition, die auf die Terminologie des AE zurückgreift, tritt an die Stelle des früheren Begriffs der unzüchtigen Handlung. Die neue Terminologie wurde bei dem Sachverständigen-Hearing am 23.-25. 11. 1970 vor dem BT-Sonderausschuß für die Strafrechtsreform von fast allen Sachverständigen befürwortet (vgl. Badura, Prot. VI S. 1095; Hanack Prot. VI S. 1113; Lantzke Prot. VI S. 1124; Buchhorn Prot. VIS. 1131; ablehnend dagegen Peters Prot. VI S. 1120; kritisch auch Matthes Prot. VI S. 1010). Sie ist nach der Überzeugung ihrer Befürworter präziser und sachlicher als die frühere Terminologie und verleitet weniger zu einer moralischemotionalen Wertung als der frühere Begriff der unzüchtigen Handlung. Entscheidend ist jetzt nicht mehr die Frage, ob durch eine geschlechtsbezogene Handlung das „allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl" verletzt worden ist; entscheidend ist allein die Sozialschädlichkeit im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut. 2. Sexuelle Handlungen sind alle Verhaltensweisen, die schon nach ihrem äußeren Erscheinungsbild eine Beziehung zur Sexualität haben. Dies gilt auch dann, wenn es dem Täter nicht darum geht, seine eigene Geschlechtslust oder die eines anderen zu erregen
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oder zu befriedigen (Dreher 6 vor § 174 sowie J R 1974, 4 5 , 4 7 ) . So ist z. B . das Auftreten eines entblößten „Blitzers" auch dann eine sexuelle (da offensichtlich geschlechtsbezogene) Handlung, wenn es dem Täter nur darum geht, die Öffentlichkeit zu provozieren. Umgekehrt wird eine äußerlich geschlechtsneutrale Handlung» z. B. eine gynäkologische Untersuchung, nicht dadurch zu einer sexuellen Handlung, daß sie bei einer der beteiligten Personen sexuell motiviert ist (vgl. Dreher aaO.; Hanack NJW 1974, 1, 8; Lenckner in Schönke-Schröder 6; a. A. Lackner 1 a). Eine sexuelle Motivation wird nur in den Fällen der §§ 174 Abs. 2, 176 Abs. 5 gefordert. In allen übrigen Fällen ist eine subjektive Komponente nur insoweit erforderlich, als der Täter sich der Geschlechtsbezogenheit seiner Handlung bewußt sein muß. a) Durch die Beschränkung der Tatbestandsmäßigkeit einer geschlechtsbezogenen Handlung auf die Fälle von einiger Erheblichkeit wird der Anwendungsbereich der §§ 174 ff. bewußt eingeschränkt. Durch die Versachlichung des Begriffs unter gleichzeitiger Befreiung von moralisch-emotionalen Wertungen scheiden Handlungen, die zwar das „allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl" verletzen, aber nicht schädlich, sondern nur geschmacklos sind, aus dem Bereich der strafrechtlichen Erheblichkeit aus. Dasselbe gilt für flüchtige Berührungen mehr zufällig wirkender Art, die zwar von sexuellen Motiven des Täters getragen sind, wegen ihrer versteckten Form oder ihrer Geringfügigkeit aber nicht als Beeinträchtigung der sexuellen Integrität betrachtet werden können. Auch ein bloßer Kuß reicht ganz allgemein nicht aus (anders bei sog. Zungenküssen, s. u. 3 c). b) Ob die sexuelle Handlung von solcher Intensität ist, daß sie eine erhebliche Beeinträchtigung der sexuellen Integrität darstellt, ist im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls wertend zu entscheiden. Es handelt sich deshalb um ein normatives Tatbestandsmerkmal, das nicht einheitlich, sondern nur relativ interpretiert werden kann, und zwar teleologisch, d. h. ausgerichtet an dem Zweck, den der jeweilige Tatbestand verfolgt. So macht es z. B . einen Unterschied, ob jemand einem 6jährigen Kind oder einem 15jährigen, vollentwickelten Mädchen an die Brust greift. Im erstgenannten-Fall wäre das Vorliegen einer sexuellen Handlung zu verneinen, im letztgenannten Fall dagegen zu bejahen (vgl. Lantzke Prot. V I S. 1124). Manipulationen am Geschlechtsteil wären dagegen im einen wie im anderen Fall als sexuelle Handlung zu werten. c) Die in Nr. 2 definierten sexuellen Handlungen vor einem anderen (siehe hierzu § 174 Abs. 2, 176 Abs. 4 Nr. 1, 2) stellen einen Unterfall der Nr. 1 dar, sind also ebenfalls nur dann tatbestandsmäßig, wenn sie im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind. Hierfür ist zunächst erforderlich, daß die Handlung von einem anderen wahrgenommen wird, und zwar von dem, vor dem sie vorgenommen wird. Hierauf muß sich auch der Vorsatz des Täters beziehen, wobei bedingter Vorsatz genügt. Der Vorsatz fehlt daher, wenn der Täter in der Nähe eines Kinderspielplatzes aus einem vermeintlich sicheren Versteck heraus sich am Anblick der Kinder sexuell erregt und dabei Manipulationen an seinem Geschlechtsteil vornimmt, wobei er wider Erwarten beobachtet wird. Grundsätzlich nicht erforderlich ist andererseits, daß derjenige, vor dem die sexuelle Handlung vorgenommen wird, diese in ihrer sexuellen Bedeutung erkennt (vgl. Ber. V I S. 25 sowie Anm. 4 a zu § 174). Die Tatbestandsmäßigkeit ist in solchen Fällen nur dann zu verneinen, wenn nach Sachlage eine Beeinträchtigung der sexuellen Integrität mit Sicherheit auszuschließen ist, z. B . wenn sexuelle Handlungen vor einem Säugling vorgenommen werden.
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d) Subjektiv ist zu beachten, daß der Täter nur in den Fällen der §§174 Abs. 2 und 176 Abs. 5 die Absicht haben muß, entweder sich, die geschützte Person oder einen Dritten sexuell zu erregen (vgl. § 174 Anm. 5). In allen übrigen Fällen genügt es, wenn sich der mindestens bedingte - Vorsatz des Täters auf die Umstände erstreckt, aus denen sich die Sexualbezogenheit seiner Handlung und deren Erheblichkeit ergibt (vgl. Dreher 14 vor § 174). e) Hat die vor einem anderen vorgenommene sexuelle Handlung exhibitionistischen Charakter, so ist § 183 Abs. 3 und Abs. 4 zu beachten (erweiterte Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung zwecks Durchführung einer psychotherapeutischen Behandlung). 3. Beleuchtung der früheren Rspr. unter dem Gesichtspunkt des neuen Rechts: a) Mangels „Erheblichkeit" für das geschützte Rechtsgut gegenstandslos sind alle Entscheidungen, in denen eine objektiv nicht geschlechtsbezogene (neutrale) Handlung nur deshalb für „unzüchtig" erklärt wurde, weil sie von sexuellen Motiven des Täters getragen war (vgl. BGH 2,167; 17, 280). Hierher gehört z. B. der Fall einer von sexuellen Motiven getragenen körperlichen Züchtigung (vgl. RG 67, 110). Sadistische oder masochistische Züchtigungen sind nur dann sexuelle Handlungen, wenn dies auch nach den äußeren Umständen klar erkennbar ist (z. B. beim Auspeitschen eines nackten Mädchens, vgl. BGH 13,138). b) Der außereheliche Beischlaf ist zwar zweifellos eine sexuelle Handlung. Er bekommt strafrechtliche Relevanz jedoch nicht schon dadurch, daß er gegen das „allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl" breiter Bevölkerungsschichten verstößt und damit „unzüchtig" im herkömmlichen Sinn ist (vgl. RG 8, 172; 71, 13; BGH [GrSen] 6, 46; 17, 232); entscheidend ist allein, ob durch seinen Vollzug bzw. durch seine Förderung in sozialschädlicher Weise ein schutzbedürftiges Rechtsgut (z. B. die sexuelle Integrität eines Kindes) erheblich beeinträchtigt wird. c) Das Abküssen eines Kindes kann zwar geschmacklos sein, wird aber mangels der erforderlichen Erheblichkeit für die in § 176 geschützte ungestörte sexuelle Entwicklung nicht schon dadurch zu einer strafrechtlich relevanten Handlung, daß es von sexuellen Motiven getragen ist. Anders jedoch bei sog. Zungenküssen, die darauf abzielen, das Kind sexuell zu erregen und zu intensiveren Handlungen bereit zu machen (vgl. OGH BZ 2, 333; BGH 18,169). d) Das Photographieren von Kindern in „anstößiger Stellung" (vgl. BGH 15, 278) kann nur dann unter dem Gesichtspunkt des § 176 Abs. 5 strafrechtliche Bedeutung erhalten, wenn das Kind veranlaßt wird, Manipulationen an seinem Geschlechtsteil oder andere Handlungen von ähnlicher Intensität vorzunehmen. Auf jeden Fall überholt ist die Entscheidung BGH 17, 280, derzufolge der Täter sich schon dann strafbar macht, wenn er ein Kind veranlaßt, den Rock hochzuheben, damit er den Schlüpfer sehen kann. e) Der früher so umstrittene Fall, daß der Täter ein Kind bestimmt, „unzüchtige" Reden anzuhören oder selbst zu führen (vgl. BGH 1,168; 15,118) oder „geflissentlich" obszöne Bilder zu betrachten (vgl. BGH 1, 291; 15, 122), wird jetzt durch die Sonderregelung des § 176 Abs. 5 Nr. 3 erfaßt, allerdings beschränkt auf pornographische Erzeugnisse und „entsprechende" Reden. 634
Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung (§§ 185-200) Vorbemerkungen I. Wesentliche Vorschriften des 14. Abschnitts wurden durch das EGStGB grundlegend umgestaltet. So wurden die Abs. 2 und 3 des § 189, die sich mit der Antragstellung bei der Verunglimpfung Verstorbener befaßten, in § 194 Abs. 2 aufgenommen. Die früheren §§ 196 (Beleidigung einer Behörde, Antragsrecht des Dienstvorgesetzten) und 197 (Beleidigung politischer Körperschaften) sind in § 194 Abs. 3 und Abs. 4 aufgegangen. § 188 (Buße zugunsten des Verletzten) wurde mangels nennenswerter praktischer Bedeutung ersatzlos gestrichen (vgl. RegE Einl. II 7, S. 193 BT-Drucks. 7/550). Die früher in § 198 enthaltene Regelung der Antragsfrist bei wechselseitigen Beleidigungen findet sich jetzt als allgemeine Regelung in § 77 c. Umgestaltet wurde schließlich auch § 200 (Bekanntgabe der Verurteilung bei öffentlich begangenen Beleidigungen usw.). Die übrigen Vorschriften des 14. Abschnitts, insbesondere die zentralen Vorschriften der §§ 185-187 a und § 193, blieben dagegen im wesentlichen erhalten. Aus dem neueren Schrifttum siehe insbesondere Androulakis, Die Sammelbeleidigung, 1970; - Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967; - Otto, Persönlichkeitsschutz durch strafrechtlichen Schutz der Ehre, Schwinge-Festschr. S. 71; - Praml, Beleidigungsdelikte bei anwaltlicher Interessenvertretung, NJW 1976, 1967; - Tenckhoff, Die Bedeutung des Ehrbegriffs für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974. II. Geschütztes Rechtsgut der §§ 185 ff. ist die Ehre, d. h. der Anspruch eines Menschen auf Achtung seiner Persönlichkeit (BGH 1,289; 11, 228). 1. Dieser Geltungsanspruch steht jedem Menschen zu, also auch Kindern und Geisteskranken. Unerheblich ist, ob diese Personen in der Lage sind, die Bedeutung der Ehre und der gegen sie geführten Angriffe zu erfassen. Ihr Anspruch auf Achtung bleibt durch etwa vorliegende Mängel in dieser Richtung unberührt. Eine Sonderstellung hinsichtlich des geschützten Rechtsguts nimmt die Verunglimpfung Verstorbener ein (vgl. § 189 Anm. 1). 2. Der Begriff der Ehre ist mehrschichtig. Eine Beleidigung liegt nicht nur vor, wenn das Ehrgefühl oder der gute Ruf verletzt werden, sondern auch, wenn sich der Angriff gegen die Geschlechtsehre oder die berufliche oder gesellschaftliche Stellung richtet, die der Betroffene sich geschaffen hat. Die übliche Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Ehre (vgl. BGH 11, 70) kann diese Mehrschichtigkeit nicht immer voll erfassen. III. Strafbar ist auch die Beleidigung eines Einzelnen unter einer Kollektivbezeichnung. Beispiel: A bezeichnet alle Richter eines Landgerichts als bestechlich. Beleidigt und somit zur Stellung eines Strafantrags berechtigt ist in diesen Fällen jeder, auf den sich die Äußerung bezieht. In unserem Beispiel könnte also jeder Richter des betreffenden Landgerichts Strafantrag wegen Beleidigung stellen. Aus der höchstrichterl. Rspr. siehe besonders BGH 11, 208; 16, 57 betr. Beleidigung der in Deutschland lebenden Juden sowie Ffm NJW 1977,1353 betr. Beleidigung von Polizei und Justiz. IV. Auch Personengemeinschaften sind beleidigungsfähig, soweit sie rechtlich anerkannte, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Aufgaben erfüllen und einen einheitlichen 635
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Willen bilden können (vgl. BGH 6, 186). Diese Voraussetzungen können auch bei Personengemeinschaften vorliegen, die nicht als rechtsfähiger Verein eingetragen sind und auch sonst nicht in der Form einer juristischen Person betrieben werden. Die Rechtsform ist unerheblich. Als beleidigungsfähige Gemeinschaften kommen beispielsweise in Betracht: das Deutsche Rote Kreuz, Religionsgemeinschaften, Kapitalgesellschaften des Handelsrechts (vgl. BGH 6, 186), politische Vereinigungen, nicht dagegen Rauchclubs, Skatrunden, Totogemeinschaften, Tanzzirkel und ähnliche, hauptsächlich der Unterhaltung dienende Vereinigungen. In diesen Fällen ist jedoch eine Beleidigung einzelner Personen unter einer Kollektivbezeichnung denkbar (s. o. III). Antragsberechtigt ist dann aber nur jeder für sich. Dasselbe gilt, wenn Mitglieder einer Familie beleidigt werden. Die Familie als solche ist dagegen nicht beleidigungsfähig (vgl. BGH NJW 1951, 531; BGH 6, 192; Herdegen LK 22 vor § 185; a. A. die h. L., vgl. Arthur Kaufmann ZStW 72, 441; Mezger-Blei BT 109; Maurach BT 134; Welzel MDR 1951, 501). Der Rechtsschutz der einzelnen Familienmitglieder wird hierdurch in keiner Weise beeinträchtigt, da jeder, auf den sich die Beleidigung bezieht, selbständig zur Stellung eines Strafantrags bzw. zur Erhebung einer Privatklage berechtigt ist. In vielen Fällen läßt sich auch denken, daß ein Familienmitglied mittelbar dadurch beleidigt wird, daß ein anderes Familienmitglied unmittelbar in seiner Ehre verletzt wird, z. B. Beleidigung des Ehemanns und Familienvaters durch Vornahme sexueller Handlungen mit Frau und Tochter (vgl. BayObLG MDR 1958, 264 m. weit. Nachw.). Beleidigt und antragsberechtigt sind in diesem Fall sowohl das unmittelbar als auch das nur mittelbar betroffene Familienmitglied. Bedenken gegen diese Ausweitung des Ehrschutzes finden sich neuerdings mit beachüichen Argumenten bei Herdegen LK 21 ff. vor § 185.
§ 185
Beleidigung
Die Beleidigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Beleidigung mittels einer Tätlichkeit begangen wird, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. I. Die durch das EGStGB nur redaktionell geänderte Vorschrift ist der Grund- und Auffangtatbestand des gesamten Abschnittes. Der Begriff der Beleidigung ist im Gesetz nicht definiert. Man ist sich jedoch darüber einig, daß als Beleidigung jede Kundgabe der Nicht- oder Mißachtung zu gelten hat (st. Rspr. sowie h. L., vgl. BGH 1,288; Lackner 4). Nicht hierher gehören die in den §§ 186-187 a erfaßten Formen der Rufgefährdung durch falsche oder nicht erweisliche Tatsachenbehauptungen Dritten gegenüber sowie die in § 189 unter Strafe gestellte Verunglimpfung Verstorbener. II. Unter den Anwendungsbereich der Vorschrift fallen somit: 1. Tatsachenbehauptungen dem Betroffenen gegenüber, die geeignet sind, diesen in seiner Ehre zu verletzen. Tatsachenbehauptungen sind Äußerungen, die eine nach Art, Zeit und Begleitumständen genau bestimmte Tatsache enthalten (vgl. BGH 11,329; Ddf NJW 1970,905). a) Beispiel: A sagt zu B: „Sie haben gestern meine Uhr gestohlen." Richtet sich die Äußerung zugleich an Dritte, so ist wegen der damit verbundenen Rufgefährdung Tateinheit mit § 186 möglich (vgl. Lackner § 186 Anm. 9; Str.). 636
Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
§ 185
b) Rechtswidrig ist nur die unverdiente Kundgabe der Mißachtung. Hieraus folgt: Erweist sich die behauptete Tatsache als wahr, so entfällt - anders als bei § 186 (siehe dort Anm. 2) - nicht erst die Strafbarkeit, sondern bereits der objektive Unrechtsgehalt der Tat. Niemand hat Anspruch darauf, besser behandelt zu werden, als er es verdient. Was wahr ist, darf man auch sagen. Berührt aber die Unwahrheit der behaupteten Tatsache nicht nur die Strafbarkeit, sondern bereits den materiellen Unrechtsgehalt der Tat, so bestehen keine Bedenken, prozessual wie auch sonst bei etwaigen Zweifeln zugunsten des Beschuldigten davon auszugehen, daß die behauptete Tatsache wahr ist („in dubio pro reo"). Diese unterschiedliche Behandlung gegenüber der Rechtslage in § 186 ist keineswegs willkürlich, sondern entspricht dem verschiedenen Anliegen und Aufbau der Tatbestände. Eine dem Betroffenen selbst gegenüber geäußerte Beleidigung kann in der Regel schnell geklärt werden, wenn ein Irrtum vorliegt. Äußerungen Dritten gegenüber sind viel gefährlicher, da der Betroffene hier schutzlos der Gefährdung seines Rufs ausgesetzt ist. c) Folgt man der hier vertretenen Ansicht, daß die Wahrheit der behaupteten Tatsache nicht erst die Strafbarkeit, sondern bereits die Rechtswidrigkeit entfallen läßt, so ist ein Irrtum über die Wahrheit der behaupteten Tatsache wie ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum zu behandeln (im Ergebnis übereinstimmend BayObLG NJW 1959, 57; Köln NJW 1964, 2121; Lenckner in Schönke-Schröder 3, 17; a. A. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 204; Lackner 7; Otto, Schwinge-Festschr. S. 71, 83, wonach die strengere Regelung in § 186 entsprechende Anwendung finden soll). Besonderheiten ergeben sich lediglich im Falle des § 190 Satz 2 (vgl. § 190 Anm. 2). d) Läßt sich entweder die Unwahrheit der behaupteten Tatsache nicht erweisen oder hat sich der Täter in einem Irrtum über die Unwahrheit der behaupteten Tatsache befunden, so kommt eine Bestrafung wegen Beleidigung nur noch unter dem Gesichtspunkt einer Formalbeleidigung in Betracht. Siehe hierzu § 192. e) Wegen Rechtfertigung durch Wahrnehmung berechtigter Interessen siehe § 193. 2. Werturteile, die eine Mißachtung zum Ausdruck bringen. Unerheblich ist, ob sie dem Betroffenen ins Gesicht gesagt oder Dritten gegenüber geäußert werden. Beispiel: A nennt den B einen elenden Schurken oder einen „alten Nazi" (vgl. Ddf NJW 1970,905). Werturteile unterliegen grundsätzlich nicht dem Wahrheitsbeweis. Das gilt vor allem dann, wenn das Werturteil die Persönlichkeit des Beleidigten in ihrer Gesamtheit trifft. Man kann nicht beweisen, daß jemand ein elender Schurke oder ein übles Schwein ist. Man kann allenfalls beweisen, daß er eine Handlung begangen hat, die gegen die Sittenordnung verstößt. Auch bei der oben erwähnten Beschimpfung als „alter Nazi" kommt es zumindest dann, wenn der Täter den Betroffenen nur in seiner Ehre kränken wollte, um seinen Ärger abzureagieren, nicht darauf an, ob der Betroffene Mitglied der NSDAP war oder ihr gesinnungsmäßig nahestand (vgl. Ddf NJW 1970,905). Ausnahmsweise sind auch Werturteile einem Wahrheitsbeweis zugänglich, nämlich dann, wenn sie erkennbar auf konkrete Tatsachen Bezug nehmen. Solche Werturteile sind wie die ihnen zugrunde liegenden Tatsachen zu beurteilen. Werden sie zusammen mit diesen Tatsachen geäußert, so teilen sie deren rechtliches Schicksal. Beispiel: A sagt zu B: „Sie sind unehrlich; sie haben mich jetzt schon zweimal bestohlen." Ist der von A ausgesprochene Verdacht begründet, so erfaßt der Wahrheitsbeweis auch den Vorwurf der Unehrlichkeit. Das hat zur Folge, daß die an sich tatbestandsmäßige Beleidigung nicht rechtswidrig ist: Ein Dieb hat keinen Anspruch darauf, von dem Bestohlenen nicht der Unehr637
§ 185
Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
lichkeit bezichtigt zu werden (s. o. II 1 b). Ein Rückgriff auf § 193 ist in diesem Fall nicht erforderlich. 3. Symbolische Handlungen, die eine Mißachtung ausdrücken, z. B. Ausspucken vor dem Betroffenen, Aushängen seiner Fotografie an anstößiger Stelle, etwa in einer Bedürfnisanstalt. Hierher gehört auch das bei Kraftfahrern so beliebte Zeigen eines „Vogels" (vgl. DdfNJW 1960,1072; VM 1972 Nr. 30). 4. Tätlichkeiten, insbesondere Ohrfeigen, soweit sie eine Mißachtung zum Ausdruck bringen sollen. Der Tb. der tätlichen Beleidigung, die vom Gesetz als erschwerter Fall der Beleidigung besonders hervorgehoben wird, setzt eine körperliche Berührung nicht voraus. Daher kann auch ein fehlgegangener Schlag oder Wurf den Tatbestand erfüllen. 5. Die Zumutung strafbarer oder sexueller Handlungen, soweit der hierdurch Betroffene keinen Anlaß zu derartigen Ansinnen gegeben hat. Beispiel: Eine Prostituierte verspricht dem gegen sie wegen verbotener Prostitution einschreitenden Polizeibeamten die kostenlose Gestattung des Verkehrs, falls er von einer Anzeige absehe und sie in Zukunft nicht mehr behellige. (Hier kommt außerdem noch in IdK. Bestechung in Betracht.) 6. Sonstige Formen der Mißachtung. Siehe hierzu folgende Beispiele aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung: a) Führen obszöner Reden (BGH 12,42); b) unverlangte Zusendung von Aufklärungsschriften und entsprechenden Prospekten (BGH 11,67 sowie bei DallingerMDR 1970,731;StgtMDR 1969,684;zw.); c) Züchtigung fremder Kinder in Anwesenheit des Erziehungsberechtigten (vgl. Koblenz NJW 1955, 602); d) Weitergabe von Fotos, in denen die abgebildete Person in zweifelhafter Stellung gezeigt wird (BGH 9, 17); e) das Ansprechen eines Erwachsenen in der „Du"-Form (Ddf NJW 1960,1072). III. In allen bisher erörterten Fällen ist streng darauf zu achten, ob die als Beleidigung empfundene Äußerung oder Handlung auch wirklich als Kundgabe der Mißachtung aufgefaßt werden kann. Es gibt kaum eine Äußerung oder Handlung, die schlechthin als Beleidigung angesehen werden kann. Entscheidend sind immer die Umstände des Einzelfalls. Hierbei sind insbesondere Alter, Bildungsgrad und Stellung des Täters, die persönlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten, das soziale Rangverhältnis, der Verkehrston in den betreffenden sozialen Schichten sowie die Ortsüblichkeit bestimmter Ausdrücke zu berücksichtigen (Hamm DAR 1957,214; Ddf NJW 1960,1072; Dreher 8). Auch Bekundungen persönlicher Verstimmung, Unhöflichkeiten, Taktlosigkeiten, Beweise schlechter Kinderstube oder fehlender Selbstzucht, selbst Grobheiten müssen nicht immer ehrverletzenden Charakter haben. Sie können vielmehr nur dann als Kundgabe der Mißachtung und damit als Beleidigung angesehen werden, wenn der Täter durch sie den anderen als minderwertig hinstellen oder ihn sonst in seiner Ehre angreifen will (vgl. OLG Ddf aaO.). Unter diesen Umständen kann ausnahmsweise auch ein Ulk oder Scherz eine Beleidigung darstellen. Es kommt also immer darauf an, wer was zu wem sagt. Dieselbe Äußerung
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Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
§ 185
kann je nach den Umständen im einen Fall eine schwere Beleidigung, im anderen Fall nur ein harmloser Scherz, vielleicht sogar eine kameradschaftliche Anerkennung sein. Es darf nur darauf hingewiesen werden, wie unterschiedlich das berühmte „Götz-Zitat" oder das Zeigen eines sogenannten „Vogels" verwendet und aufgenommen wird. Dies gilt aber auch sonst. Wer beispielsweise zu einem erfahrenen Kriminalrat sagt, er habe die Rechtskenntnisse eines Anfängers und verstehe von Kriminalistik rein gar nichts, erfüllt damit den Tb. der Beleidigung. Einem Polizeianwärter im 1. Ausbildungsjahr gegenüber wäre eine derartige Äußerung allenfalls eine Anregung zu intensiver Arbeit. IV. Vollendet ist die Beleidigung, wenn sie einem anderen zugegangen ist. Nicht erforderlich ist, daß die beleidigende Äußerung dem zugeht, für den sie bestimmt ist. Beispiel: A schickt seinem Arbeitgeber einen von Beleidigungen strotzenden Brief. Wird dieser von der Sekretärin des Arbeitgebers geöffnet und gelesen, so ist der Tb. schon zu diesem Zeitpunkt erfüllt. Wenn A nun, von Reue ergriffen, zum Sekretariat eilt und um Rückgabe seines Briefs bittet, so kommt strafbefreiender Rücktritt nicht mehr in Betracht. Dasselbe gilt, wenn ein Kaufmann seiner Sekretärin einen beleidigenden Brief diktiert (vgl. RG JW 24, 911; LG Hannover NdsRpfl 1966, 23; Lenckner in Schönke-Schröder 19). Nicht erforderlich ist, daß der Beleidigte den Sinn der Beleidigung erfaßt hat bzw. überhaupt erfassen kann. Liegen aber die Verhältnisse so, daß niemand den Eindruck einer Mißachtung erhalten kann, z. B. weil keiner der Anwesenden die Sprache versteht, in der die Äußerung ergeht, so kommt nur Versuch in Betracht, der jedoch straflos ist (vgl. Frank I; Herdegen LK 23; bestr.). Der Fall ist genau so zu behandeln, wie wenn jemand einem anderen ein Schimpfwort zuruft, das dieser infolge zu weiter Entfernung nicht verstehen kann. V. Der subjektive Tatbestand erfordert Voisatz. Der Täter muß wissen, daß seine Äußerung einem anderen zugeht und daß sie objektiv eine Mißachtung zum Ausdruck bringt. Bedingter Vorsatz genügt. Der Vorsatz entfällt z. B., wenn der Täter ein Selbstgespräch führt und gar nicht weiß, daß ihm jemand zuhört, oder wenn er Tagebucheintragungen macht, ohne zu wissen, daß diese von Unbefugten gelesen werden, oder wenn ein Dritter ohne sein Wissen einen beleidigenden Brief absendet, bei dem er noch Bedenken hatte, ob er ihn in dieser Form aufgeben sollte. Besteht die Beleidigung in einer Tatsachenbehauptung dem Betroffenen gegenüber, so läßt auch die irrige Annahme, die behauptete Tatsache sei wahr, den Vorsatz entfallen (s. o. II 1 c). In diesen Fällen kommt lediglich Fahrlässigkeit in Betracht, die jedoch nicht strafbar ist. VI. Die ReehtsWidrigkeit kann entfallen 1. bei Tatsachenbehauptungen durch Führung des Wahrheitsbeweises (s. o. II 1 b); 2. durch Wahrnehmung berechtigter Interessen (vgl. § 193); 3. durch Einwilligung, wenn diese ernstlich und in Bedeutung ihrer Tragweite erteilt wird (vgl. Vorbem. 14 b vor § 32). Der Rechtfertigungsgrund der Einwilligung kommt vor allem dann in Betracht, wenn die Beleidigung in der Vornahme oder Zumutung einer sexuellen Handlung zu sehen ist. Beispiele aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung: 639
§ 186
Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
a) RG 75, 179, 181: Die Einwilligung eines 15jährigen Mädchens in den Beischlaf ist in der Regel selbst dann unbeachtlich, wenn das Mädchen schon vorher GV hatte; b) BGH 5, 362; Der GV mit einem 16jährigen Mädchen ist nicht beleidigend, wenn das Mädchen sich wegen fortgeschrittener Entwicklung der Bedeutung des Wertes seiner Geschlechtsehre und deren Wahrung bewußt gewesen ist; c) BGH 23, 1, 4: Die Einwilligung einer Frau, die infolge einer frühkindlichen Hirnschädigung intelligenzmäßig einem 6jährigen Kind gleich steht, ist unbeachtlich. Ist die Einwilligung objektiv unbeachtlich, so ist auf der subjektiven Tatseite folgendes zu beachten: Der Täter muß wissen oder damit rechnen, daß er durch seine Handlungsweise die Ehre des Mädchens mißachtet. Dies kann z. B. fehlen, wenn er ein echtes Liebesverhältnis unterhält und daran denkt, mit dem Mädchen in dauernder Verbindung zu bleiben (BGH 5, 364). Der Vorsatz entfällt ferner, wenn der Täter irrig annimmt, die Jugendliche habe nach ihren Erfahrungen bereits die Bedeutung der Geschlechtsehre erfaßt und erkannt, daß sie diese durch die Duldung des Verkehrs preisgebe (BGH 8, 358). Dagegen liegt nur ein Verbotsirrtum vor, wenn der Täter lediglich glaubt, die Einwilligung schließe schlechthin die Rechtswidrigkeit aus (BGH aaO); 4. bei Äußerungen im Familienkreis. Hier wird teilweise auch der Standpunkt vertreten, daß es schon an einer Kundgabe fehlt, also bereits der Tatbestand entfällt (vgl. Welzel 308; Lenckner in Schönke-Schröder 8). Dies gilt auch für Gespräche eines Rechtsanwalts mit seinem Mandanten (vgl. Hamm NJW 1971, 1852; Lackner 4 b; ähnlich Dreher 11, der in diesem Fall § 193 anwenden möchte; zu eng dagegen Stgt NJW 1963, 119 m. abl. Anm. Rutkowsky; zum Ganzen siehe auch Praml NJW 1976, 1967). Fest steht jedenfalls, daß jeder Mensch einen Kreis braucht, in dem er sich vorbehaltlos aussprechen kann. VII. Tateinheit ist vor allem möglich mit §§ 113, 183, 223 ff. Durch die spezielleren §§ 174, 176-178, 182 wird § 185 i. d. R. konsumiert (vgl. BGH 8, 357; GA 1966, 338); IdK. mit diesen Tatbeständen nur dann, wenn aufgrund besonderer Umstände der Unrechtsgehalt der Tat über das zur Tatbestandsverwirklichung erforderliche Mindestmaß hinausgeht (vgl. BGH aaO.; h. L.).
§ 186
Üble Nachrede
Wer in Beziehung auf einen anderen eine Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird, wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr ist, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Tat öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Unter den Anwendungsbereich der durch das EGStGB nur redaktionell geänderten Vorschrift fallen nur rufgefährdende Tatsachenbehauptungen Dritten gegenüber. Beispiel: A sagt zu B: „X hat mich bestohlen." Werturteile und Tatsachenbehauptungen dem Betroffenen selbst gegenüber werden durch § 185 erfaßt (siehe dort Anm. I, II 1).
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Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
§ 186
2. Zweck der Vorschrift ist es, den guten Ruf zu schützen. Diesem Gesetzeszweck entsprechend ist der Unrechtsgehalt der Tat schon dann gegeben, wenn der gute Ruf einer Person durch die Behauptung oder Verbreitung ehrenrühriger Tatsachen gefährdet wird. Die Unwahrheit der behaupteten oder verbreiteten Tatsache gehört hier - anders als in § 185 (siehe dort Anm. II 1 b) - weder zum Tatbestand noch zur Rechtswidrigkeit. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes, der sich mit dem dargelegten Gesetzeszweck deckt, berührt der Wahrheitsbeweis nicht den objektiven Unrechtsgehalt der Tat, sondern lediglich deren Strafbarkeit. Die Nichterweislichkeit der behaupteten Tatsache ist deshalb eine objektive Bedingung der Strafbarkeit, auf die sich der Vorsatz des Täters nicht erstrecken muß. Siehe auch unten Anm. 8. 3. Die Einordnung des Wahrheitsbeweises als Strafausschließungsgrund bedeutet keine Umkehr der Beweislast. Wie auch sonst ist das Gericht verpflichtet, den Behauptungen des Beschuldigten von Amts wegen nachzugehen. § 186 bringt jedoch eine Durchbrechung*des Grundsatzes, daß bestehende Zweifel zugunsten des Beschuldigten zu werten sind. Der Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten" gilt hier ausnahmsweise nicht. Der Angeklagte trägt somit das Beweisrisiko. Der Normbefehl des § 186 kann auf folgende Formel gebracht werden: „Du sollst nicht lästern! Wer lästert, tut dies auf eigene Gefahr." Oder, noch kürzer ausgedrückt: „Lästern auf eigene Gefahr." 4. Die Tathandlung besteht im Behaupten oder Verbreiten der rufgefährdenden Tatsache. a) Behaupten bedeutet als wahr hinstellen. Die Form, in der dies geschieht, ist unerheblich. Der Tatbestand kann vor allem auch dadurch erfüllt werden, daß jemand gegen einen anderen einen Verdacht ausspricht. b) Unter Verbreiten fällt jede Weitergabe einer von anderen aufgestellten Behauptung. Auch hier ist die Form unerheblich. Die Weitergabe eines Gerüchts erfüllt den Tb. selbst dann, wenn es gleichzeitig als fragwürdig bezeichnet wird. Auch in der Form einer Fragestellung kann der Tb. verwirklicht werden. Beispiel: A fragt den B, ob er auch schon gehört habe, daß X wegen Diebstahls aus seiner Arbeitsstelle entlassen worden sei. 5. Die Tatsache muß geeignet sein, denjenigen, auf den sich die Äußerung bezieht, verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Daß dieser Erfolg tatsächlich eintritt, ist nicht erforderlich. Es genügt die objektive Eignung. § 186 ist somit ein abstraktes Gefährdungsdelikt. a) Verächtlichmachen bedeutet, den anderen als eine Person hinstellen, die ihren Pflichten im sozialen Leben nicht gerecht wird. b) In der öffentlichen Meinung herabgewürdigt ist jemand, wenn sein guter Ruf geschmälert wird. In der Praxis treffen beide Formen oft zusammen. 6. Die Rechtswidrigkeit kann entfallen (vgl. § 185 Anm. VI) a) durch Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193), b) wenn derjenige, auf den sich die Äußerung bezieht, das fragliche Gerücht selbst in Umlauf gesetzt hat (vgl. KG JR 1954,355 m. Anm. Bockelmann JR 1954, 327), c) bei Äußerungen im Familienkreis bzw. in der sog. Intimsphäre (vgl. § 185 Anm. VI 4). 21
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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§ 187
Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
7. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Der Täter muß wissen, daß die von ihm behauptete oder verbreitete Tatsache geeignet ist, den anderen verächtlich zu machen bzw. in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen (s. o. 5). Nicht erforderlich ist dagegen die Kenntnis der Unwahrheit (s. o. 2). 8. Der Wahrheitsbeweis schließt, wie oben (Anm. 2) dargelegt, nur die Strafbarkeit, nicht schon die Tatbestandsmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit aus (BGH 11, 273). Er ist erst erbracht, wenn der einer rufgefährdenden Äußerung zugrundeliegende Tatsachenkern erwiesen ist (vgl. BGH 18, 182). Wird z. B. ein Minister mit einem Sittenskandal in Verbindung gebracht, so ist der Wahrheitsbeweis erst geführt, wenn erwiesen ist, daß der Minister tatsächlich etwas mit der Sache zu tun hatte, z. B. Kunde eines sogenannten CallGirl-Rings war. Es genügt dagegen nicht der Nachweis, daß ein derartiges Gerücht umging und einige Abgeordnete der Sache nachgehen wollen. Wer ein rufgefährdendes Gerücht verbreitet, erbringt nicht schon dadurch den Wahrheitsbeweis, daß er dartut, auch andere hätten das Gerücht verbreitet (BGH aaO.). 9. Erschwert ist die üble Nachrede, wenn sie öffentlich usw. erfolgt. Wegen öffentlich siehe § 200 Anm. 2. In diesem Fall ist auch § 200 (Bekanntmachungsbefugnis) zu beachten. 10. Wegen des Verhältnisses zu § 185 siehe dort Anm. II 1 a.
§ 187
Verleumdung
W e r wider besseres Wissen in Beziehung auf einen anderen eine unwahre Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen oder dessen Kredit zu gefährden geeignet ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei J a h r e n oder mit Geldstrafe und, wenn die Tat öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreitung von Schriften ( § 1 1 A b s . 3 ) begangen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf J a h r e n oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die durch das EGStGB nur redaktionell neu gefaßte Vorschrift enthält einen Sonderfall der üblen Nachrede und unterscheidet sich von dieser in folgenden Punkten: a) Die Unwahrheit der behaupteten oder verbreiteten Tatsache ist ein objektives Tatbestandsmerkmal und muß als solches vom Vorsatz des Täters umfaßt sein. Der Täter muß positiv wissen, daß er eine unwahre Tatsache behauptet oder verbreitet. Bedingter Vorsatz genügt nicht. b) Prozessual gehen wie üblich etwaige Zweifel zugunsten des Täters („in dubio pro reo"). Bleibt unklar, ob die rufgefährdende Tatsache nicht doch wahr ist, oder läßt sich nicht mit letzter Sicherheit nachweisen, daß der Täter die Unwahrheit der von ihm behaupteten oder verbreiteten Tatsache gekannt hat, so kommt nur Bestrafung wegen übler Nachrede gemäß § 186 in Betracht. Dort trägt der Angeklagte das Beweisrisiko (vgl. § 186 Anm. 3). 642
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§ 187 a
2. Der Tatbestand der Kreditgefährdung schützt das Vertrauen, das jemand hinsichtlich der Erfüllung seiner Verbindlichkeiten genießt. Die kreditgefährdende Tatsache muß nicht ehrenrührig sein. Beispiel: A verbreitet, um dem B zu schaden, das Gerücht, B habe infolge unredlichen Verhaltens eines Angestellten erhebliche Zahlungsschwierigkeiten und müsse seinen Betrieb bald schließen. 3. IdK. ist vor allem mit §§ 164 Abs. 1, 239 denkbar.
§ 187 a
Üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens
(1) Wird gegen eine im politischen Leben des Volkes stehende Person öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 1 1 Abs. 3) eine üble Nachrede (§ 186) aus Beweggründen begangen, die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen, und ist die Tat geeignet, sein öffentliches Wirken erheblich zu erschweren, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. (2) Eine Verleumdung (§ 187) wird unter den gleichen Voraussetzungen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. 1. Die Vorschrift dient dem besonderen Ehrenschutz der in der Politik tätigen Personen, wobei Abs. 1 der üblen Nachrede des § 186 und Abs. 2 der Verleumdung des § 187 entspricht. 2. Geschützt sind alle Persönlichkeiten, die auf das politische Leben des Volkes einen erheblichen Einfluß ausüben (BGH 4, 339). Hierher gehören vor allem die Regierungsmitglieder des Bundes und der Länder, die Mitglieder des Bundestags und der Länderparlamente (BGH 3, 74; NJW 1952,194), aber auch die Spitzen der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, ferner die Richter des Bundesverfassungsgerichts (BGH 4, 338). 3. Über die Tatbestandsmerkmale der §§ 186, 187 hinausgehend müssen folgende Voraussetzungen vorliegen: a) Die Tat muß geeignet sein, das öffentliche Wirken des Betroffenen erheblich zu erschweren. Beispiel: Ein Minister wird als bestechlich bezeichnet oder mit einem Sittenskandal in Verbindung gebracht. b) Die üble Nachrede bzw. Verleumdung muß in einer bestimmten, besonders gefährlichen Form (öffentlich usw.) erfolgen. c) Der Täter muß aus Beweggründen handeln, die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen. Diese Voraussetzungen sind immer dann gegeben, wenn es dem Täter darum geht, den Beleidigten „abzuschießen", d. h. ihn als für sein Amt oder seine Stellung ungeeignet hinzustellen. Andererseits sind politische Motive nicht unbedingt erforderlich; auch Sensationslust kann genügen (BGH 4, 119). 21'
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§§ 188-190
Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
4. Gemäß § 194 wird die Tat nur auf Antrag verfolgt. Siehe ferner § 200 (Bekanntmachungsbefugnis) und § 374 Abs. 1 Nr. 2 StPO (Privatklagedelikt).
§ 188
[aufgehoben durch das EGStGB]
§ 189
Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener
Wer das Andenken eines Verstorbenen verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift schützt das Andenken an den Toten (vgl. Maurach BT 133), nicht dessen Ehre (so jedoch Herdegen LK 2 ff.; Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 125). Die Ehre ist als Bestandteil der Persönlichkeit mit dieser untergegangen. Was bleibt, ist das Andenken. 2. Dem Verstorbenen steht der für tot Erklärte gleich (vgl. Herdegen LK 6; Lackner 1), nicht dagegen eine Person, die nur vermißt ist (vgl. Maurach BT 149). 3. Verunglimpfen ist mehr als beleidigen. Tatbestandsmäßig sind nur solche Beleidigungen, die nach Form, Inhalt, den Begleitumständen oder dem Beweggrund eine erhebliche Entgleisung bedeuten (vgl. BGH 12, 364, 366; BayObLG JZ 1951,786; h. L.; siehe auch § 90 Anm. 2). 4. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. Ist der Verunglimpfte entgegen der Vorstellung des Täters noch gar nicht tot, so kommen wegen der Verschiedenartigkeit der geschützten Rechtsgüter (s. o. 1) weder § 185 noch § 189 zur Anwendung (vgl. RG 26, 34; Frank II; Lackner 4; Lenckner in Schönke-Schröder 5; a. A. Herdegen LK 6 und Welzel 316, die von der Gleichartigkeit des geschützten Rechtsguts ausgehend Strafbarkeit nach § 185 annehmen). Begrifflich liegt ein Versuch gemäß § 189 vor, der jedoch nicht mit Strafe bedroht ist. Entsprechendes gilt für den umgekehrten Fall, daß der Verunglimpfte entgegen der Vorstellung des Täters bereits tot ist. 5. Die Tat ist nur auf Antrag verfolgbar (§ 194 Abs. 2). Siehe auch § 200 (Bekanntgabe der Verurteilung). 6. IdK. ist möglich mit §§ 185 ff., wenn gleichzeitig eine noch lebende Person beleidigt wird, außerdem mit §§ 167 a, 168. 7. Prozessual beachte § 374 Abs. 1 Nr. 2 StPO (Privatklagedelikt).
§ 190
Wahrheitsbeweis durch Strafurteil
Ist die behauptete oder verbreitete Tatsache eine Straftat, so ist der Beweis der Wahrheit als erbracht anzusehen, wenn der Beleidigte wegen dieser Tat rechts644
Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
§ 192
kräftig verurteilt worden ist. Der Beweis der Wahrheit ist dagegen ausgeschlossen, wenn der Beleidigte vor der Behauptung oder Verbreitung rechtskräftig freigesprochen worden ist. 1. Die durch das EGStGB nur dem neuen Sprachgebrauch angepaßte Vorschrift bedeutet eine Durchbrechung des für den Strafprozeß geltenden Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (vgl. § 261 StPO). 2. Zweck der Vorschrift ist es zu verhindern, daß der Verdacht einer strafbaren Handlung, der bereits Gegenstand eines rechtskräftig durch Sachurteil abgeschlossenen Strafverfahrens war, im Rahmen eines neuen Verfahrens wegen Beleidigung oder übler Nachrede bzw. Verleumdung emeut geprüft werden kann und muß. Es ist ein Anliegen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens, daß über dieselbe Frage keine abweichenden Entscheidungen ergehen. § 190 Satz 2 dient darüber hinaus dem berechtigten Anliegen eines rechtskräftig Freigesprochenen, in Zukunft nicht mehr erneut der ihm zur Last gelegten strafbaren Handlung bezichtigt zu werden. Diesem Gesetzeszweck entsprechend bezieht sich § 190 Satz 2 nur auf solche Äußerungen, die der Rechtskraft des Freispruchs zeitlich nachfolgen (vgl. BayObLG JR 1960, 468). Aus dem Gesetzeszweck des § 190 Satz 2 folgt weiter, daß auch bei einer dem Betroffenen gegenüber gemachten, somit unter § 185 fallenden Äußerung nicht nur der Wahrheitsbeweis, sondern auch die Berufung auf fehlenden Vorsatz ausgeschlossen ist (vgl. BayObLG aaO.). Bei der üblen Nachrede gemäß § 186 kann sich der Täter ohnehin nicht auf fehlenden Vorsatz berufen (vgl. § 1 8 6 Anm. 2, 7), so daß sich insoweit keine Besonderheiten ergeben. 3. Der Anwendungsbereich der Vorschrift erstreckt sich auf alle Tatbestände dieses Abschnitts, bei denen der Wahrheitsbeweis von Bedeutung ist. Unerheblich ist, ob der Wahrheitsbeweis im Einzelfall die Tatbestandsmäßigkeit, die Rechtswidrigkeit oder nur die Strafbarkeit entfallen läßt. 4. Ein Beschluß nach § 204 Abs. 2 StPO (Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens) steht im Falle der Rechtskraft einem rechtskräftigen Freispruch gleich (vgl. Stgt NJW 1960, 1872; LG München NJW 1969, 759; a. A. die h. L., vgl. Herdegen LK 12).
§ 191
[aufgehoben durch das EGStGB; siehe jetzt § 154 e StPO]
§ 192
Beleidigung trotz Wahrheitsbeweises
D e r Beweis der Wahrheit der behaupteten oder verbreiteten Tatsache schließt die Bestrafung nach § 1 8 5 nicht aus, wenn das Vorhandensein einer Beleidigung aus der Form der Behauptung oder Verbreitung oder aus den Umständen, unter welchen sie geschah, hervorgeht. 1. Die Vorschrift bezieht sich auf alle Tatbestände dieses Abschnitts, bei denen der Wahrheitsbeweis von Bedeutung ist. Auch wer die Wahrheit sagt, darf dabei nicht beleidigend werden. 645
§ 193
Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
2. Eine besondere Beleidigungsabsicht ist nicht erforderlich (vgl. Herdegen LK 6; Dreher 2; Lackner 3; a. A. RG 40, 317; Lenckner in Schönke-Schröder 1). Es genügt, daß der Täter sich der besonderen Umstände usw., aus denen sich die Beleidigung ergibt, und der ehrverletzenden Wirkung bewußt ist. 3. Beispiel: A berichtet als Hochzeitsgast von den vorehelichen Erlebnissen der Braut und den Vorstrafen des Bräutigams.
§ 193
Wahrnehmung berechtigter Interessen
Tadelnde Urteile über wissenschaftliche, künstlerische oder gewerbliche Leistungen, desgleichen Äußerungen, welche zur Ausführung oder Verteidigung von Rechten oder zur Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht werden, sowie Vorhaltungen und Rügen der Vorgesetzten gegen ihre Untergebenen, dienstliche Anzeigen oder Urteile von Seiten eines Beamten und ähnliche Fälle sind nur insofern strafbar, als das Vorhandensein einer Beleidigung aus der Form der Äußerung oder aus den Umständen, unter welchen sie geschah, hervorgeht. 1. § 193 enthält einen Rechtfertigungsgrund. Genau genommen handelt es sich um einen Sonderfall des erlaubten Risikos (vgl. Welzel 320). Die Vorschrift gibt die Möglichkeit, eine zur Wahrnehmung berechtigter Interessen in angemessener Form gemachte ehrverletzende oder rufgefährdende Äußerung auch dann als gerechtfertigt anzusehen, wenn sich der Wahrheitsbeweis nicht führen läßt. § 193 ist daher immer erst dann zu prüfen, wenn der Wahrheitsbeweis nicht geführt werden kann (BGH 11, 273; Roxin NJW 1967, 793) und auch andere Rechtfertigungsgründe nicht eingreifen (vgl. Lackner 2). Schrifttum: Adam, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen im Dienststrafverfahren, JR 1959,12; - Eser, Wahrnehmung berechtigter Interessen als allgemeiner Rechtfertigungsgrund, 1969; - Fuhrmann, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen durch die Presse, JuS 1970, 70; - Loeffler, Die Sorgfaltspflicht der Presse und des Rundfunks, NJW 1965, 942; - Praml, Beleidigungsdelikte bei anwaltlicher Interessenvertretung, NJW 1976, 1967. 2. Der Anwendungsbereich der Vorschrift beschränkt sich im wesentlichen auf Tatsachenbehauptungen im Rahmen des % 186. a) Formalbeleidigungen sind in aller Regel zur Wahrnehmung berechtigter Interessen nicht geeignet. Im übrigen weist das Gesetz in § 193 ausdrücklich darauf hin, daß die Strafbarkeit von Formalbeleidigungen durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen unberührt bleibt. Beispiel: Ein Kraftfahrer darf einem anderen Kraftfahrer auch dann keinen „Vogel" zeigen und unflätige Schimpfworte an den Kopf werfen, wenn der andere sich nicht verkehrsgerecht benommen hat (vgl. Ddf NJW 1960, 1072). Andererseits können u. U. auch grobe Äußerungen gerechtfertigt sein, wenn der Beleidigte durch sein eigenes provozierendes Verhalten hierzu Anlaß gegeben hat (vgl. BGH 12, 294; Hamm GA 1974, 62). Beispiel: A nennt den X ein „Nazischwein", nachdem dieser zuvor die politischen Massenmorde der NS-Zeit öffenüich gebilligt hat (Sachverhalt von Hamm 646
Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
§ 193
aaO.). Eine besondere Beleidigungsabsicht ist hier - ebenso wie in § 192 - nicht erforderlich. Vorsatz genügt. b) Werturteile unterliegen einer Rechtfertigung durch § 193 nur dann, wenn sie erkennbar auf bestimmte konkrete Vorgänge Bezug nehmen und damit praktisch Tatsachenbehauptungen gleichkommen (vgl. § 185 Anm. II 2). c) Die übrigen in § 185 Anm. II 3, 4, 5, 6 genannten Formen der Mißachtung scheiden schon deshalb aus dem Bereich des § 193 aus, weil sie sich zur Wahrnehmung berechtigter Interessen nicht eignen. Dasselbe gilt für Verunglimpfungen gemäß § 189, soweit es sich nicht um reine Tatsachenbehauptungen handelt. d) Ehrverletzende Tatsachenbehauptungen, die dem Betroffenen gegenüber geäußert werden, somit unter § 185 fallen, könnten an sich der Wahrnehmung berechtigter Interessen dienen. Hier besteht jedoch kein Bedürfnis, auf § 193 zurückzugreifen. Gelingt nämlich der Wahrheitsbeweis, so entfällt bereits die Rechtswidrigkeit (vgl. § 185 Anm. II 1 b). Steht andererseits die Unwahrheit der behaupteten bzw. verbreiteten Tatsache positiv fest, so ist ein Irrtum des Täters hierüber einem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum gleichzusetzen (vgl. § 185 Anm. II 1 c). e) Verleumdungen gemäß § 187 bzw. § 187 a Abs. 2 fallen schon deshalb nicht unter den Anwendungsbereich des § 193, weil der Täter hier positiv weiß, daß er die Unwahrheit sagt. Er nimmt also nicht nur das Risiko der Unwahrheit auf sich (s. o. 1). Es wäre allerdings verfehlt, wollte man bei der Verleumdung schlechthin die Möglichkeit einer Rechtfertigung ausschließen. Man wird vielmehr dort, wo die Verleumdung das einzige Mittel ist, um berechtigte Interessen wahrzunehmen, dem Täter die Berufung auf rechtfertigenden Notstand (§ 34) nicht versagen können (vgl. Welzel 321; Mäurach BT 157). Beispiele: A ist im Begriff, sich ohne triftigen Grund von seiner Ehefrau zu trennen und mit seinem „Verhältnis" zusammenzuziehen. Um das zu verhindern, bezeichnet die Ehefrau ihrem Mann gegenüber das „Verhältnis" bewußt wahrheitswidrig als eine „liederliche Person, die mit schon mindestens 5 Männern zusammengelebt hat". - Oder: Ein unschuldig Angeklagter behauptet vor Gericht wider besseres Wissen rufgefährdende Tatsachen, um die Glaubwürdigkeit eines Zeugen zu erschüttern, der ihn seinerseits bewußt wahrheitswidrig belastet. 3. Der Täter muß in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt haben. a) Nicht erforderlich ist die Wahrnehmung höherwertiger Interessen. Die verfolgten Interessen dürfen aber nicht dem Recht oder den guten Sitten zuwiderlaufen (RG 34, 222; h. L., vgl. Lackner 3). b) Die verfolgten Interessen müssen nicht unmittelbar eigene sein und auch nicht unbedingt den Täter persönlich angehen (wichtig für Presse, Auskunfteien, Familienangehörige, nahe Freunde, vgl. BayObLG NJW 1965, 58). § 193 greift demgemäß auch dann ein, wenn der Täter Interessen der Allgemeinheit wahrnimmt. Dies ist von besonderer Bedeutung für die Anzeige von Straftaten, durch die der Täter nicht unmittelbar selbst betroffen ist. Jeder Bürger hat ein berechtigtes Interesse an der Erhaltung des Rechtsfriedens und der Aufklärung von Straftaten. Zur Frage, wann ein Rechtsanwalt, der in Wahrnehmung seiner Schutzaufgabe für seinen Mandanten eine Ehrverletzung begeht, die zulässigen Grenzen überschreitet, siehe Krekeler AnwBl. 1976, 190 sowie Praml NJW 1976, 1967. 647
§ 194
Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
4. Eine Rechtfertigung nach § 193 setzt weiter voraus, daß die Ehrverletzung bzw. Rufgefährdung vom Standpunkt des Täters aus zur Wahrnehmung berechtigter Interessen erforderlich war. Beispiel: A hört gesprächsweise, sein Nachbar B betreibe eine Falschmünzerei. Er zeigt B hierauf bei der Polizei an. Stellt sich heraus, daß der Verdacht unbegründet war, so darf eine Rechtfertigung gemäß § 193 nicht mit der Begründung abgelehnt werden, die Anzeige sei objektiv gar nicht erforderlich gewesen. Gerade diese Fälle sollen durch § 193 erfaßt werden. Hätte sich nämlich der Verdacht der Falschmünzerei bestätigt, so wäre ein Rückgriff auf § 193 gar nicht nötig, da mit dem Wahrheitsbeweis die Strafbarkeit ohnehin entfiele. Bei kritischen Presseberichten ist zu beachten, daß die Namensnennung nur dann gerechtfertigt ist, wenn es sich um Personen handelt, die derart im öffentlichen Leben stehen, daß die Information nur und gerade im Zusammenhang mit dem Namen des Betroffenen ihren Informationswert erhält (vgl. Stgt NJW 1972, 2320). 5. Der Täter darf nicht leichtfertig handeln. Leichtfertig, d. h. grobfahrlässig handelt, wer bei gewissenhafter, ihm möglicher und zumutbarer Ausschöpfung der vorhandenen Informationsquellen hätte erkennen können, daß die Unterlagen für seine Behauptung unzuverlässig oder unzulänglich sind. Dies gilt auch im Wahlkampf (Stgt Justiz 1968, 344). Bei Anzeigen an die zuständige Behörde dürfen die Anforderungen an die Informationspflicht nicht zu hoch gestellt werden, da der Anzeiger meist nicht die Möglichkeit der Wahrheitserforschung hat, andererseits aber ein öffentliches Interesse an der Aufdeckung und Aufklärung von Straftaten besteht. Im übrigen soll ja gerade erst die Strafverfolgungsbehörde die wahren Vorgänge aufdecken. Besonders strenge Anforderungen an die Informationspflicht sind dagegen bei öffentlichen Beschuldigungen zu stellen. Das gilt auch für die Presse, der man heute allgemein das Recht zuspricht, die Interesse der Allgemeinheit wahrzunehmen. Dieses Zugeständnis bedeutet für die Presse allerdings keinen Freibrief. Nach BGH 18,182 hat die Presse nur dann ein Recht zu entsprechenden Äußerungen, wenn tatsächlich ein anerkennenswertes Interesse an der Mitteilung besteht. Vorgänge der privaten Lebensführung begründen ein solches anerkennenswertes Interesse grundsätzlich nicht. Sie werden auch nicht schon dadurch zu Angelegenheiten des öffentlichen Lebens, daß sie eine im öffentlichen Leben stehende Person betreffen. Die Befriedigung der Sensationslust kann für die Presse ebensowenig wie für den Privatmann unter dem Gesichtspunkt des § 193 zu einer Rechtfertigung führen. Die Nennung des Namens der von dem Bericht betroffenen Person wird deshalb nur ausnahmsweise durch § 193 gerechtfertigt sein (s. o. 4). Außerdem ist ein Journalist, der ehrenrührige Tatsachen über einen anderen verbreitet, grundsätzlich verpflichtet, dem Betroffenen vor der Veröffentlichung des Berichts die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben (vgl. Stgt NJW 1972, 2320). 6. Subjektiv ist erforderlich, daß der Täter die Absicht hat, berechtigte Interessen wahrzunehmen. Verfolgt er daneben noch andere Zwecke, so ist dies allerdings unschädlich.
§ 194
Strafantrag
(1) D i e Beleidigung wird nur auf Antrag verfolgt. Stirbt der Verletzte, so geht das Antragsrecht nach § 77 Abs. 2 auf die Angehörigen über.
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Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
§ 194
(2) Ist das Andenken eines Verstorbenen verunglimpft, so steht das Antragsrecht den in § 77 Abs. 2 bezeichneten Angehörigen zu. Hat der Verstorbene keine Antragsberechtigten hinterlassen oder sind sie vor Ablauf der Antragsfrist gestorben, so ist kein Antrag erforderlich, wenn der Vestorbene sein Leben als Opfer einer Gewalt- und Willkürherrschaft verloren hat und die Verunglimpfung damit zusammenhängt. (3) Ist die Beleidigung gegen einen Amtsträger, einen für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten oder einen Soldaten der Bundeswehr während der Ausübung seines Dienstes oder in Beziehung auf seinen Dienst begangen, so wird sie auch auf Antrag des Dienstvorgesetzten verfolgt. Richtet sich die Tat gegen eine Behörde oder eine sonstige Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, so wird sie auf Antrag des Behördenleiters oder des Leiters der aufsichtführenden Behörde verfolgt. Dasselbe gilt für Träger von Ämtern und für Behörden der Kirchen und anderen Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts. (4) Richtet sich die Tat gegen ein Gesetzgebungsorgan des Bundes oder eines Landes oder eine andere politische Körperschaft im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes, so wird sie nur mit Ermächtigung der betroffenen Körperschaft verfolgt. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift stellt zunächst klar, daß alle Tatbestände des 14. Abschnitts nur auf Antrag (siehe hierzu §§ 77 ff.) verfolgt werden (Abs. 1 S. 1). D e r erforderliche Strafantrag (Prozeßvoraussetzung) kann nicht dadurch ersetzt werden, daß die StA in entsprechender Anwendung von § 232 Abs. 1 ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung annimmt ( B G H 7, 259; h. L.). Über das Antragsrecht bei Geschäftsunfähigkeit oder beschränkter Geschäftsfähigkeit des Verletzten siehe § 77 Abs. 3. 2. Der in Abs. 1 S. 2 geregelte Übergang des Antragsrechts auf die Angehörigen eines Verstorbenen setzt voraus, daß der Verletzte selbst zu diesem Zeitpunkt noch Strafantrag hätte stellen können, das Antragsrecht also noch nicht durch Verzicht, Rücknahme des Strafantrags oder Ablauf der Antragsfrist erloschen ist. E r setzt weiter voraus, daß die Verfolgung nicht dem erklärten Willen des Verletzten widerspricht (§ 77 Abs. 2 S. 3). Der Kreis der Familienangehörigen, auf die das Antragsrecht übergehen kann, ergibt sich aus § 77 Abs. 2. 3. Die in Abs. 2 getroffene Sonderregelung für die Verunglimpfung Veistorbener (§ 189) entspricht der früher in § 189 Abs. 2 und 3 getroffenen Regelung. Über den Kreis der Antragsberechtigten siehe § 77 Abs. 2 nebst Anmerkungen. Durch die Neufassung sind jetzt auch die Enkel in den Kreis der Antragsberechtigten aufgenommen. Ein Strafantrag ist entbehrlich, wenn der Verstorbene sein Leben als Opfer einer Gewalt- oder Willkürherrschaft verloren hat (z. B. als Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime oder ein anderes totalitäres System, in dem die rechtsstaatlichen Grundsätze nicht gewahrt sind). Ein mittelbarer Zusammenhang zwischen Gewalt- oder Willkürherrschaft und dem
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§ 194
Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
Tod des Verunglimpften genügt (z. B. Tod infolge Entbehrungen oder durch Freitod, vgl. Maurach BT 162; Schafheutie JZ 1960, 474). Allerdings wird die StA auch in diesen Fällen mit Rücksicht auf § 374 Abs. 1 Nr. 2 (Privatklagedelikt, falls ein Antragsberechtigter noch vorhanden) die öffentliche Klage nur erheben, wenn ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht (vgl. Herdegen LK 12 zu § 189 aF; Lackner 3 b; Schafheutie aaO.).
4. Das in Abs. 3 S. 1 geregelte Antragsrecht des Dienstvorgesetzten entspricht dem früheren § 196, der durch das EGStGB aufgehoben wurde. a) Uber Amtsträger siehe § 11 Abs. 1 Nr. 2, über für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete § 11 Abs. 1 Nr. 4, über Soldaten § 1 Abs. 1 S. 1 SoldatenG. b) Die Beleidigung ist während der Dienstausübung begangen, wenn sie mit der Dienstausübung zeitlich zusammenfällt (h. L.), und zwar auch dann, wenn kein innerer Zusammenhang mit der Dienstausübung besteht. Beispiel: Ein Briefträger wird während der Briefzustellung von einem feindlichen Nachbarn in beleidigender Weise angepöbelt. Die Berechtigung der Antragsbefugnis des Dienstvorgesetzten besteht in diesem Fall darin, daß die Dienststelle ein berechtigtes Interesse daran hat, daß ihre Bediensteten ungestört ihrem Dienst nachgehen können. In Beziehung auf den Dienst ist die Beleidigung begangen, wenn sie die Stellung im Beruf oder die berufliche Tätigkeit des Amtsträgers usw. erkennbar zum Gegenstand hat (RG 66, 128), z. B. wenn einem Polizeibeamten ohne begründeten Anlaß faschistische Methoden vorgeworfen werden oder wenn einem Lehrer Willkür bei der Notengebung vorgeworfen wird. Auch der Vorwurf außerdienstlicher Verfehlungen gehört hierher, wenn er ausdrücklich oder konkludent mit der Folgerung verbunden wird, der Beleidigte sei seiner Dienststellung unwürdig (vgl. RG 76, 366, 369; h. L.). c) Welcher Dienstvorgesetzte antragsberechtigt ist und wie zu verfahren ist, wenn der Beleidigte keinen Dienstvorgesetzten hat, ergibt sich aus § 77 a (siehe dort Anm. 2, 5). Der Dienstvorgesetzte übt sein Antragsrecht selbständig und unabhängig von dem Willen des Beleidigten aus. Er kann den Strafantrag auch unabhängig von dem Willen des Beleidigten wieder zurücknehmen. d) Prozessual zu beachten ist § 374 Abs. 2 (Privatklagerecht des Vorgesetzten, wenn die StA ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung verneint [siehe hierzu auch Nr. 86, 229,232 RiStBV]). 5. Die in Abs. 3 S. 2 geregelte Beleidigung einer Behörde war ebenfalls Bestandteil des früheren § 196, der durch das EGStGB aufgehoben wurde. Über Behörde siehe § 11 Abs. 1 Nr. 7 nebst Anmerkungen. Antragsberechtigt sind der Behördenleiter oder der Leiter der aufsichtführenden Behörde (z. B. der Landrat, wenn eine zum Landkreis gehörende Gemeindeverwaltung beleidigt wird).
6. Die Gleichstellungsklausel in Abs. 3 S. 3 durch die auch kirchliche Behörden bzw. Behörden anderer Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts und ihre Amtsträger dem Anwendungsbereich der Vorschrift unterstellt werden, bezieht sich sowohl auf S. 1 als auch auf S. 2 des Abs. 3. Der Begriff des Amtsträgers ist entsprechend der in § 11
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Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
§ 199
Abs. 1 Nr. 2 für staatliche Amtsträger enthaltenen Definition auf alle Personen zu erstrecken, die Aufgaben der kirchlichen Verwaltung (bzw. Verwaltung der öffentlichrechtlichen Religionsgesellschaft) wahrzunehmen haben. 7. Die in Abs. 4 geregelte Beleidigung von politischen Körperschaften entspricht dem früheren § 197, der durch das EGStGB aufgehoben wurde. a) Über den Unterschied zwischen Strafantrag und Ermächtigung siehe Anm. 1 b zu §77e. b) Über Gesetzgebungsorgane von Bund und Ländern siehe § 90 b Anm. 1. Zu den „anderen politischen Körperschaften" gehören z. B. Gemeinde-, Stadt- und Kreisräte (Kreistage), nicht dagegen die politischen Parteien und deren Fraktionen (vgl. Ddf NJW 1966,1235; h. L.).
§§ 1 9 5 - 1 9 8
§ 199
[aufgehoben, vgl. Vorbem. I vor § 185]
Wechselseitig begangene Beleidigungen
Wenn eine Beleidigung auf der Stelle erwidert wird, so kann der Richter beide Beleidiger oder einen derselben für straffrei erklären. 1. Die Vorschrift enthält einen fakultativen Strafausschließungsgrund (siehe hierzu D 3 vor § 1). Sie beruht auf dem Gedanken, daß einerseits derjenige, der eine Beleidigung auf der Stelle erwidert, in einer verständlichen Erregung handelt, andererseits aber auch nur noch ein geringes oder gar kein Interesse daran besteht, die vorangegangene Beleidigung zu bestrafen, nachdem der Beleidigte Selbstvergeltung geübt hat (vgl. RG 70, 330). 2. Anwendungsbereich: Die Vorschrift bezieht sich auf alle Tatbestände des 14. Abschnitts. Wegen der Kompensation von Beleidigung und Körperverletzung siehe § 233. Im einzelnen ist folgendes zu beachten: a) Die beiderseitigen Beleidigungen müssen tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft sein. Auf § 199 kann sich daher nicht berufen, wer die Beleidigung eines Geisteskranken auf der Stelle erwidert, es sei denn, daß er die Geisteskrankheit nicht kennt. Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Erstbeleidigung ist nach den Grundsätzen des Verbotsirrtums zu behandeln (vgl. Hbg NJW 1966, 1977 m. zust. Anm. Deubner NJW 1967, 63). b) § 199 kommt auch dann zur Anwendung, wenn die Einlassung des Beschuldigten, auch er sei beleidigt worden, zwar nicht eindeutig bewiesen ist, andererseits aber nicht widerlegt werden kann. Der Grundsatz „im Zweifel ßr den Angeklagten" gilt auch hier (BGH 10, 373; BayObLG NJW 1959, 58). Die Vorschrift kommt sogar selbst dann in Betracht, wenn der Partner der Auseinandersetzung rechtskräftig freigesprochen worden ist, das neuerdings mit der Sache befaßte Gericht aber Zweifel an seiner Unschuld hat (vgl. Celle NJW 1959,542). 651
§ 200
Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
3. Auf der Stelle erwidert ist eine Beleidigung, wenn sie durch die Gemütserregung verursacht worden ist, die durch die vorangegangene Beleidigung ausgelöst worden ist. Ein unmittelbarer örtlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen beiden Beleidigungen ist nicht unbedingt erforderlich (RG 70, 331). 4. § 199 setzt grundsätzlich voraus, daß derjenige, der eine Beleidigung erwidert, zugleich auch der durch die vorangegangene Beleidigung Betroffene ist (sogenannte Wechselseitigkeit). Die Vorschrift ist aber ausnahmsweise auch dann anwendbar, wenn ein Angriff auf eine dem Täter nahestehende Person vergolten wird (vgl. KG JR 1957, 388 mit weit. Nachw.). Beispiel: A erwidert eine seiner Frau zugefügte Beleidigung. 5. Prozessual beachte § 153 b StPO (Opportunitätsprinzip) und § 468 StPO (Kosten).
§ 2 0 0 Bekanntgabe der Verurteilung (1) Ist die Beleidigung öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen und wird ihretwegen auf Strafe erkannt, so ist auf Antrag des Verletzten oder eines sonst zum Strafantrag Berechtigten anzuordnen, daß die Verurteilung wegen der Beleidigung auf Verlangen öffentlich bekanntgemacht wird. (2) Die Art der Bekanntmachung ist im Urteil zu bestimmen. Ist die Beleidigung durch Veröffentlichung in einer Zeitung oder Zeitschrift begangen, so ist auch die Bekanntmachung in eine Zeitung oder Zeitschrift aufzunehmen, und zwar, wenn möglich, in dieselbe, in der die Beleidigung enthalten war; dies gilt entsprechend, wenn die Beleidigung durch Veröffentlichung im Rundfunk begangen ist. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift enthält eine Nebenfolge mit straf ähnlichem Charakter und ist auf alle Tatbestände des 14. Abschnitts anwendbar, also auch auf § 189 (vgl. BayObLG MDR 1951, 758; h. L.). Eine entsprechende Regelung findet sich in § 103 Abs. 2, in § 165 sowie in verschiedenen, durch das EGStGB angepaßten Vorschriften des Nebenstrafrechts (vgl. z. B. § 49 Abs. 3 PatentG). 2. Über öffentlich siehe § 80 a Anm. 2 a, § 111 Anm. 2 sowie § 183 a Anm. 4. Erforderlich ist aber immer, daß Unbeteiligte, die die Beleidigung (üble Nachrede, Verleumdung, Verunglimpfung) hätten wahrnehmen können, auch tatsächlich anwesend waren (vgl. RG DR 1941, S. 1838 Nr. 3; Celle NdsRpfl. 1960, 234; MDR 1966, 347; Herdegen LK 2; Dreher 2). Öffentlich sind auch ehrenrührige Äußerungen auf einer Postkarte (RG HRR 1932, 1798; h. L.) sowie im Funksprechverkehr (vgl. Celle MDR 1966, 347; Krhe NJW 1970, 394; h. L.). Über Schriften siehe § 11 Abs. 3 nebst Anmerkungen; über verbreiten siehe §§ 184 Anm. 6 d, 186 Anm. 4 b. 3. Während nach früherem Recht dem Verletzten lediglich die Veröffentlichungsbefugnis zugesprochen wurde und es ihm dann überlassen blieb, ob er von ihr Gebrauch machen wollte, wird die öffentliche Bekanntmachung jetzt vom Gericht unmittelbar angeordnet. 652
Vierzehnter Abschnitt: Beleidigung
§ 200
Dies hat zur Folge, daß der Vollzug der Anordnung nicht mehr Sache des Verletzten ist, sondern wie jede andere gerichtliche Maßnahme durch die zuständige Vollstreckungsbehörde veranlaßt wird (vgl. § 463 c StPO). Eine Mitwirkung des Verletzten ist jedoch insoweit erforderlich, als die Bekanntmachung nur auf seinen Antrag angeordnet und die Anordnung nur auf sein Verlangen vollzogen wird. Der Antrag muß vor Erlaß des Urteils gestellt werden; das Verlangen auf Vollzug der Anordnung ist dem Gericht oder der Vollstreckungsbehörde innerhalb eines Monats nach Zustellung der rechtskräftigen Entscheidung mitzuteilen (vgl. § 463 c Abs. 2 StPO). Antragsberechtigt sind der Verletzte sowie die „sonst zum Strafantrag Berechtigten" (siehe hierzu §§ 77,77 a). 4. Die Art der Bekanntmachung ist im Urteil zu bestimmen (Abs. 2 S. 1). Sie steht grundsätzlich im Ermessen des Gerichts und richtet sich als eine Art modemer „spiegelnder" Strafe (vgl. Maurach BT 166) nach den Umständen des Einzelfalls. In Betracht kommen insbesondere Bekanntmachung durch Zeitungen, Zeitschriften usw. sowie durch Anschlag an der Gemeindetafel (vgl. Maurach BT 166; Petzold MDR 1962, 264). Besonderheiten sind zu beachten, wenn die Beleidigung durch Veröffentlichung in einer Zeitung oder Zeitschrift oder im Rundfunk begangen wurde (Abs. 2 S. 2). Zum Rundfunk gehören Hörfunk und Fernsehen. 5. Zur Art der Bekanntmachung gehört auch deren Umfang. Die Anordnung des Gerichts muß insbesondere erkennen lassen, ob nur der Urteilstenor oder auch - ganz oder auszugsweise - die Urteilsgründe zu veröffentlichen sind. Steht die Beleidigung (üble Nachrede, Verleumdung, Verunglimpfung) mit einem anderen Delikt, hinsichtlich dessen eine Veröffentlichung gesetzlich nicht vorgesehen ist, in Tateinheit, so ist die Anordnung der Veröffentlichung auf die Verurteilung wegen Beleidigung zu beschränken (vgl. BGH 10, 306,312; Lackner 4). 6. Zum Vollzug der Anordnung siehe § 463 c StPO.
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Fünfzehnter Abschnitt: Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs (§§ 201-205) Vorbemerkungen 1. Gegenstand dieses Abschnitts sind seit der Neufassung der §§ 201-205 durch das EGStGB eine Reihe sog. Indiskretionsdelikte, die unter der Überschrift Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs zusammengefaßt wurden. Hierbei handelt es sich überwiegend um Tatbestände, die früher ohne erkennbaren inneren Zusammenhang an anderer Stelle behandelt worden waren. So tritt § 201 (Verletzung der Vertraulichkeit des nichtöffentlich gesprochenen Worts) an die Stelle der früheren §§ 298, 353 d; § 202 behandelt unter Ausweitung des Strafbarkeitsbereichs die früher in § 299 unter Strafe gestellte Verletzung des Briefgeheimnisses, während § 203 (Verletzung des Privatgeheimnisses) die Funktionen des früheren § 300 übernimmt, dabei aber den Täterkreis gegenüber dem früheren Recht ganz erheblich ausdehnt. Neu ist § 204, der die Verwertung fremder Geheimnisse, zu deren Geheimhaltung der Täter gemäß § 203 verpflichtet ist, unter Strafe stellt. § 205 schließlich regelt das Antragsrecht und dessen Übergang auf Angehörige und Erben. 2. Geschütztes Recbtsgut aller Tatbestände des 15. Abschnitts ist die Unverletzlichkeit des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs. Durch den strafrechtlich garantierten Schutz dieses Rechtsguts entspricht der Gesetzgeber der Forderung des Art. 8 MRK, wonach jeder Mensch Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens sowie seines Briefverkehrs hat. Die Schaffung weiterer sog. Indiskretionsdelikte mit gleicher Zielrichtung wurde einer späteren Reform vorbehalten. Dies gilt insbesondere für die in § 182 E 1962 vorgesehene Vorschrift über die öffentliche Erörterung fremder Privatangelegenheiten. 3. Aus den Gesetzesmaterialien siehe insbesondere die Begründung des RegE (S. 235 ff. BT-Drucks. 7/550) sowie den Bericht des Sonderausschusses (S. 15 ff. BT-Drucks. 7/1261). Schrifttum: Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, 1970; Gallas, Der Schutz der Persönlichkeit im E 1962, ZStW 75, 16; Henkel, Der Strafschutz des Privatlebens gegen Indiskretion, Verhandlungen des 42. Deutschen Juristentags, 1957, Bd. II; Gerhard Schmidt, Zur Problematik des Indiskretionsdelikts, ZStW 79, 741.
§ 201
Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer unbefugt 1. das nichtöffentlich gesprochene Wort eines anderen auf einen Tonträger aufnimmt oder 2. eine so hergestellte Aufnahme gebraucht oder einem Dritten zugänglich macht. (2) Ebenso wird bestraft, wer unbefugt das nicht zu seiner Kenntnis bestimmte nichtöffentlich gesprochene Wort eines anderen mit einem Abhörgerät abhört.
654
Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs
§ 201
(3) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer als Amtsträger oder als für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter die Vertraulichkeit des Wortes verletzt (Absätze 1,2). (4) Der Versuch ist strafbar. (5) Die Tonträger und Abhörgeräte, die der Täter oder Teilnehmer verwendet hat, können eingezogen werden. § 74 a ist anzuwenden. 1. Die durch das EGStGB neu an dieser Stelle eingefügte Vorschrift tritt an die Stelle der früheren §§ 298 und 353 d, die ihrerseits auf das Gesetz zum strafrechtlichen Schutz gegen den Mißbrauch von Tonaufnahme- und Abhörgeräten vom 22. 12. 1967 (BGBl. I 1360) zurückgehen. Geschütztes Rechtsgut ist die Intimsphäre. Wer sich zu Hause oder im Kreis seiner Verwandten, Freunde oder Kollegen über irgendeine Frage äußert, soll die Gewißheit haben, sich unbefangen äußern zu können. Er darf nicht der Gefahr ausgesetzt sein, daß ein Unbefugter das Gespräch mit technischen Hilfsmitteln abhört oder mit Hilfe eines Tonträgers aufnimmt. Über Gesetzesmaterialien und Schrifttum siehe Vorbem. 3 sowie Arzt, Notwehr gegen Erpressung, MDR 1965, 344; - Evers, „Unbefugtes" Abhören usw. und die Rechtmäßigkeit der bisherigen staatlichen Abhörpraxis, ZRP 1970, 147; - Greulich, Aufnahme geschäftlicher Verhandlungen auf Tonband, BB 1953, 818; - Haug, Notwehr gegen Erpressung, MDR 1964, 568; - ders., Tonbandaufnahmen in Notwehr?, NJW 1965, 2391; - Kaiser, Abhörverbot und rationelle Betriebsführung, BB 1970, 263; - Kohlhaas, Das Mitschneiden von Telefongesprächen usw., NJW 1972, 238; - Rudolphi, Grenzen der ÜbÄrwachung des Femmeldeverkehrs nach den §§ 100 a, b StPO, Schaffstein-Festschr., 1975, 433; - Schilling, Aufzeichnung von Telefongesprächen, NJW 1972, 854; - Welp, Die strafprozessuale Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, 1975. 2. Schutzobjekt aller Tatbestände ist das nichtöffentlich gesprochene Wort. a) Nur das gesprochene Wort unterliegt dem Anwendungsbereich der Vorschrift. Auf Inhalt und Sinn des Worts kommt es nicht an. Liebesgeflüster ist ebenso geschützt wie eine Stellungnahme zu politisch bedeutsamen Tagesfragen. Unerheblich ist auch, ob die Worte eine eigene gedankliche Äußerung des Sprechers enthalten oder ob dieser einen fremden Text wiedergibt, z. B. einen fremden Brief vorliest oder ein Gedicht spricht (übereinstimmend Lenckner in Schönke-Schröder 5; a. A. die h. L. differenzierend Samson SK 4). Entgegen der h. L. ist auch das gesungene Wort dem gesprochenen Wort gleichzustellen (vgl. Lenckner aaO. mit Nachw.). Nicht hierher gehören jedoch unartikulierte Schreie, die man nicht mehr als „Wort" bezeichnen kann. b) Nichtöffentlich ist das Wort, wenn der Kreis der Gesprächsteilnehmer durch persönliche Beziehungen abgegrenzt ist und sich die Unterhaltung nicht in der Öffentlichkeit abspielt. Hierher gehören vor allem Gespräche im Familien- und Freundeskreis. Bei Gesprächen am Arbeitsplatz kann der nichtöffentliche Charakter schon zweifelhaft sein. Hier entscheiden die Umstände des Einzelfalls. So wird man zwar die Unterhaltung einer Gruppe von Beamten oder Angestellten des Finanzamts, die schon jahrelang miteinander gearbeitet haben, auf jeden Fall dann noch der privaten Sphäre zuordnen können, wenn sie auf dem gemeinsamen Arbeitszimmer geführt wird. Der nichtöffentliche Charakter ginge jedoch verloren, wenn das gleiche Gespräch lautstark in der Betriebskantine 655
§ 201
Fünfzehnter Abschnitt
geführt würde. Als nichtöffentlich müssen auch alle nicht in der Öffentlichkeit geführten Verhandlungen zwischen Geschäftspartnern angesehen werden. Versammlungen größerer Personengruppen, z. B. eine Parteiversammlung, eine Gemeinderats- oder Fraktionssitzung, sind nur dann nicht öffentlich, wenn es gelingt, durch besondere Maßnahmen (Eingangskontrollen usw.) den Ausschluß der Öffentlichkeit zu gewährleisten (vgl. Lenckner in Schönke-Schröder 8). Gerichtsverhandlungen, in denen die Öffentlichkeit gemäß §§ 170 ff. GVG ausgeschlossen worden ist, sind auch dann nichtöffentlich, wenn bestimmten Personen, z. B. Pressevertretern, Referendaren oder Studenten, gemäß § 175 Abs. 2 GVG der Zutritt gestattet worden war (Blei, Henkel-Festschr. 1974, 117; Lenckner in Schönke-Schröder 10). Nicht dem privaten Lebensbereich zuzuordnen ist andererseits das Gespräch eines Richters mit den Prozeßbeteiligten (BGH NJW 1976, 1462). Auch das Gespräch des Angeklagten mit seinem Verteidiger scheidet aus dem Bereich des durch § 201 geschützten nichtöffentlich gesprochenen Worts aus, wenn es an einer Stelle geführt wird, an der die Gesprächspartner nicht die Kontrolle über die Reichweite ihrer Worte haben, z.B. in einem Gerichtssaal, in dem sich noch weitere Personen befinden, die das Gespräch möglicherweise mithören können (Celle JR 1977,338 m. krit. Anm. Arzt). Der Wille, ein vertrauliches Gespräch zu führen, macht dieses für sich allein noch nicht zu einem „nichtöffentlichen", wenn es de facto in der Öffentlichkeit geführt wird. 3. Zu Abs. 1 Nr. 1: Über Tonträger siehe § 11 Anm. XI 2. Die Tathandlung besteht im Aufnehmen, d. h. Fixieren und Konservieren des gesprochenen Worts, so daß eine spätere Wiedergabe möglich ist. Bei einer mißlungenen Aufnahme kommt nur Versuch in Betracht. Täter kann jeder außer dem Sprechenden selbst sein, also auch derjenige, der selbst als Gesprächspartner befugt an der nichtöffentlichen Unterhaltung teilgenommen hat (vgl. Lenckner in Schönke-Schröder 21). 4. Zu Abs. 1 Nr. 2: a) Tatobjekt kann nur eine unbefugt hergestellte Aufnahme sein. Dies ergibt sich aus der Formulierung „so hergestellte Aufnahmen", die eindeutig auf eine unter Nr. 1 fallende Aufnahme hinweist, Nr. 1 sich aber auch nach der Neufassung durch das EGStGB nur auf unbefugt hergestellte Aufnahmen bezieht. Nicht erfaßt wird deshalb z. B. der unbefugte Gebrauch eines Tonbandprotokolls, das von einer vertraulichen Besprechung mit Einverständnis aller Beteiligten hergestellt wurde (vgl. Lenckner in Schönke-Schröder 16 m. weit. Nachw.). Die Schließung der hierdurch entstehenden Strafbarkeitslücke ist nicht durch die Rspr. möglich, sondern muß dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. b) Gebrauchen ist jedes Verwenden der Aufnahme zum Abspielen oder Kopieren, und zwar ohne Rücksicht auf den damit verfolgten Zweck. Auch das Abspielen der Kopie ist ein Gebrauchen der Aufnahme, nicht dagegen die schriftliche Veröffentlichung des Inhalts einer verbotenen Aufnahme (h. L., vgl. Samson SK 9 m. Nachw.). c) Zugänglich gemacht ist die Aufnahme, wenn dem Dritten die Möglichkeit des Gebrauchs (siehe b) eingeräumt wird. Das Abspielen der Tonaufnahme vor dem Dritten reicht aus, nicht dagegen die bloße (mündliche oder schriftliche) Mitteilung des Inhalts der Aufnahme (Lenckner in Schönke-Schröder 19 m. Nachw.). 5. In Abs. 2 wird das Abhören des nichtöffentlich gesprochenen Worts durch Abhörgeräte unter Strafe gestellt. Hierbei handelt es sich üblicherweise um versteckt angebrachte 656
Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs
§ 201
Mikrophone, von denen aus über eine Leitung oder drahtlos mit Hilfe eines batteriebetriebenen Mikrosenders Worte aufgenommen und zur Abhörstelle weitergeleitet werden (sog. Minispione oder „Wanzen"). Aber auch das Anzapfen einer Fernsprechleitung kann den Tb. verwirklichen. Mangels besonderer Rechtspflicht zum Unterlassen nicht tatbestandsmäßig ist dagegen der Fall, daß jemand sich im normalen Fernsprechverkehr infolge einer technischen Störung in ein fremdes Gespräch einschaltet und dieses mitverfolgt. Außerdem kann man in diesem Fall noch nicht von einem „Abhörgerät" sprechen (vgl. Lenckner in Schönke-Schröder 23 m. Nachw.). Keinesfalls ausreichend ist das Lauschen an der Wand. 6. Unbefugt bedeutet wie in § 203 rechtswidrig. Die Rechtswidrigkeit kann entfallen a) durch Einwilligung, die sowohl ausdrücklich als auch stillschweigend erteilt werden kann. So ist es z. B. weitgehend üblich, daß im Geschäftsverkehr Telefongespräche auf Tonträgern mitgeschnitten werden (vgl. Kohlhaas NJW 1972, 238 sowie Lenckner in Schönke-Schröder 30). Eines entsprechenden Hinweises an den Gesprächspartner bedarf es in der Regel nicht (mutmaßliche Einwilligung, vgl. Lenckner aaO.). Dasselbe gilt für Ferngespräche mit Zeitungsredaktionen (vgl. Mösl LK 13*) sowie mit Anwälten. Zu beachten ist allerdings, daß die Einwilligung in die Aufnahme nicht notwendig auch die Einwilligung in das Zugänglichmachen gegenüber Dritten enthält (vgl. Mösl LK 13*; Lackner 5 a, bb); b) durch Notwehr, z. B. zur Verhinderung einer drohenden Erpressung; c) durch rechtfertigenden Notstand (§ 34) in notstandsähnlichen Situationen, z. B. bei Abhörmaßnahmen als Mittel vorbeugender Verbrechensbekämpfung im Rahmen der Gewaltkriminalität (vgl. § 34 Anm. 3 c) oder um durch Überwachung des wahren Täters sich selbst oder einen Angehörigen von dem Vorwurf einer strafbaren Handlung zu entlasten (vgl. BGH 19, 332) oder zum Nachweis von Beleidigungen, von denen zu erwarten ist, daß sie später bestritten werden (Ffm NJW 1967, 1047), nicht dagegen, um Beweismittel für ein Scheidungsverfahren zu bekommen (Stgt Justiz 1977, 276). Zum Ganzen siehe auch BVerfG NJW 1973, 891; Arzt aaO. 69 ff.; Eser, Wahrnehmung berechtigter Interessen als allgemeiner Rechtfertigungsgrund, 1969, S. 12 ff., 46 ff.; d) durch die in den §§ 100 a, 100 b StPO für die Überwachung des Fernmeldeverkehrs getroffene Sonderregelung für die Strafverfolgungsbehörden zum Zweck der Verbrechensaufklärung (wichtig für die Fälle des Abs. 3). Aufgrund des Ges. zu Art. 10 GG v. 13. 8. 1968 (BGBl. I 949) haben auch die Verfassungsschutzbehörden unter gewissen Voraussetzungen das Recht, Telefongespräche abzuhören und aufzunehmen. 7. Der Vorsatz muß sich insbesondere auf die Vertraulichkeit des nichtöffentlich gesprochenen Worts beziehen. Nimmt der Täter irrig Umstände an, bei deren Vorliegen er gerechtfertigt wäre (s. o. 6), so befindet er sich in einem Verbotsirrtum, der jedoch nach den Grundsätzen des § 16 zu behandeln ist (vgl. § 16Anm. 3 e). 8. Abs. 3 bringt eine erhöhte Strafdrohung für Amtsträger ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 2) und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 4). Die Vorschrift, die * Zitate jeweils zu § 298 aF. 657
§ 202
Fünfzehnter Abschnitt
sich als unechtes Amtsdelikt darstellt, tritt an die Stelle des früheren § 353 d Abs. 1. Bei Teilnahme Außenstehender ist § 28 Abs. 2 zu beachten. 9. D e r Versuch ist in allen Fällen strafbar (Abs. 4). Der Einbau einer Abhöranlage stellt für sich allein noch keinen Versuch dar, kann aber als unbefugtes Errichten einer Fernmeldeanlage nach § 15 F A G strafbar sein. 10. Über Einziehung siehe Abs. 5 i. V. mit §§ 74, 74 a. Soweit die Tonträger und Abhörgeräte im Eigentum einer Behörde stehen, entfällt die Einziehung aufgrund der allgemeinen Regelung des § 74 Abs. 2 (vgl. RegE S. 236 BT-Drucks. 7/550). 11. Über Strafantrag und Übergang des Antragsrechts auf Angehörige siehe § 205. 12. Konkurrenzen: Die Fälle der Nr. 2 stellen sich als mitbestrafte Nachtat dar, wenn sie bereits bei Herstellung der unbefugten Aufnahme (Nr. 1) beabsichtigt waren. Tateinheit ist möglich mit §§ 94 ff. und §§ 15,18 FAG.
§ 202
Verletzung des Briefgeheimnisses
(1) Wer unbefugt 1. einen verschlossenen Brief oder ein anderes verschlossenes Schriftstück, die nicht zu seiner Kenntnis bestimmt sind, öffnet oder 2. sich vom Inhalt eines solchen Schriftstücks ohne Öffnung des Verschlusses unter Anwendung technischer Mittel Kenntnis verschafft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 354 mit Strafe bedroht ist. (2) Ebenso wird bestraft, wer sich unbefugt vom Inhalt eines Schriftstücks, das nicht zu seiner Kenntnis bestimmt und durch ein verschlossenes Behältnis gegen Kenntnisnahme besonders gesichert ist, Kenntnis verschafft, nachdem er dazu das Behältnis geöffnet hat. (3) Einem Schriftstück im Sinne der Absätze 1 und 2 stehen ein anderer zur Gedankenübermittlung bestimmter Träger sowie eine Abbildung gleich. 1. Die durch das EGStGB neu an dieser Stelle eingefügte Vorschrift ersetzt den früheren § 299, bringt jedoch in Anlehnung an § 184 E 1962 eine nicht unerhebliche Erweiterung des Schutzbereichs. Geschütztes Rechtsgut ist das durch Art. 10 G G geschützte Briefgeheimnis. Gesetzesmaterialien und Schrifttum siehe 3 vor § 201. 2. Schutzobjekt des Abs. 1 und 2 sind Briefe und andere Schriftstücke. a) Brief ist jede schriftliche Mitteilung von Person zu Person, und zwar ohne Rücksicht auf die Art der gewählten Beförderung und die Form des Umschlags. Umgekehrt ist nicht jeder Brief im postalischen Sinn ein Brief i. S. des § 202. Die Neufassung der Vorschrift stellt klar, daß der Begriff „Brief" nur als Unterform des Begriffs „Schriftstück" geschützt ist. Nicht durch § 202 geschützt sind deshalb Umschläge, die keine gedanklichen Mittei-
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§ 202
lungen von Person zu Person, sondern ausschließlich Geld, Bilder, Fotographien, Briefmarken usw. enthalten. b) Schriftstück ist jede durch Schriftzeichen fixierte Gedankenäußerung, und zwar ohne Rücksicht auf ihre rechtliche Bedeutung. So sind z. B . private Notizen, Tagebuchaufzeichnungen, Baupläne und schriftliche Berechnungen (auch wenn diese nur aus Zahlen ohne verbindenden Begleittext bestehen) ebenso geschützt wie notarielle Urkunden, nicht dagegen solche Schriftstücke, die ohne jede Beziehung zur Persönlichkeit irgendeines Menschen stehen, z. B. Buchauszüge, Zeitungsausschnitte, Werbeprospekte und Gebrauchsanweisungen (vgl. Blei J A 1974, S t R S. 155; Dreher 2; Lackner 2; a. A . hier die Voraufl.). c) Verschlossen ist ein Schriftstück, wenn es mit einer Vorrichtung versehen ist, die dem Vordringen zum gedanklichen Inhalt ein Hindernis bereitet. Unerheblich ist, ob sich die Sicherung an dem Schriftstück selbst oder einem Zubehörteil befindet. Eine Urkunde, die sich in einem verschlossenen Umschlag befindet, ist deshalb in gleicher Weise geschützt wie eine Urkunde, die gefaltet und versiegelt wird. Nicht „verschlossen" ist dagegen ein Schriftstück, das in einer verschlossenen Kassette verwahrt wird. In diesem Fall kommt jedoch Abs. 2 in Betracht. Unerheblich ist die Art des Verschlusses, sofern dieser nur geeignet ist, das Vordringen zum Inhalt mit der verkehrsüblichen Sicherheit zu verhindern. So macht es z. B. keinen Unterschied, ob ein Umschlag versiegelt oder nur zugeklebt, zugenäht oder zugeheftet ist. Nicht ausreichend sind jedoch bloßes Zusammenfalten oder Zusammenschnüren, sofern die Verschnürung ohne größere Schwierigkeiten gelöst und anschließend wieder gefestigt werden kann (vgl. Mösl L K 3 zu § 299 aF mit Nachw.). Auch Zeitschriften, die nur durch ein Streifband gesichert sind, sowie Drucksachen in unverschlossenen Umschlägen fallen nicht unter den Schutz der Vorschrift. d) Ob das Schriftstück nicht zur Kenntnis des Täteis bestimmt ist, richtet sich nach dem Willen des Verfügungsberechtigten, wobei es auf dessen Geschäftsfähigkeit nicht ankommt. So ist z. B. auch das Tagebuch eines Minderjährigen oder Entmündigten gegen unbefugte Eingriffe geschützt. 3. Zu den Tathandlungen des Abs. 1: a) Offnen (Abs. 1 Nr. 1) ist jede Tätigkeit, die den Verschluß beseitigt oder unwirksam macht, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Täter Gewalt anwendet und ob der Verschluß oder Inhalt beschädigt werden (vgl. R G 20, 3 7 6 ; 54, 2 9 5 ; h. L.). Kenntnisnahme vom Inhalt des Schriftstücks ist nicht erforderlich. b) Die in Abs. 1 Nr. 2 erfaßte Anwendung technischer Mittel, um sich auch ohne Öffnen Kenntnis vom Inhalt eines Schriftstücks zu verschaffen, trägt dem Fortschritt der technischen Entwicklung Rechnung. Erfaßt werden z. B . die Fälle, in denen sich der Täter durch Röntgenaufnahmen, Durchleuchten oder Anwendung von Chemikalien Kenntnis vom Inhalt eines verschlossenen Schriftstücks verschafft. Nicht hierher gehört jedoch der Fall, daß der Täter das Schriftstück nur von außen abtastet oder gegen das Licht hält. 4. Abs. 2 bringt gegenüber der früheren Rechtslage eine erhebliche Erweiterung des Schutzbereichs. Über verschlossene Behältnisse siehe § 243 Anm. 2 a, b. Die Tathandlung besteht im Offnen (s. o. 3 a) des verschlossenen Behältnisses. Vollendet ist der Tb. erst, wenn der Täter sich nach dem öffnen von dem Inhalt des Schriftstücks Kenntnis
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verschafft hat. Nicht erforderlich ist allerdings, daß er das ganze Schriftstück zur Kenntnis nimmt und daß er den Inhalt versteht (Blei JA 1974, StR S. 156; a. A. Lenckner in Schönke-Schröder 9). Nicht erfaßt wird andererseits der Fall, daß jemand sich vom Inhalt eines Schriftstücks Kenntnis verschafft, nachdem das Behältnis zuvor von einem Dritten geöffnet worden war, der nicht in seinem Auftrag gehandelt hat. 5. Die Gleichstellungsklausel des Abs. 3 erweitert den Anwendungsbereich der Vorschrift auf a) andere, zur Gedankenübermittlung bestimmte Träger, z. B. Schallplatten- oder Kassettenaufnahmen sowie Tonbandaufnahmen eines Gesprächs; b) Abbildungen jeder Art, also nicht nur Abbildungen gedankenübermittelnder Art (z. B. Fotokopie einer Urkunde), sondern auch Erinnerungsfotos. 6. Die Einwilligung des Verfügungsberechtigten läßt nicht erst die Rechtswidrigkeit, sondern bereits die Tatbestandsmäßigkeit entfallen. Eine Rechtsgutverletzung liegt in diesem Fall schon begrifflich nicht vor, so daß nicht mehr nach Rechtfertigungsgründen gesucht werden muß. So handelt z. B. eine Sekretärin, die pflichtgemäß alle an ihren Chef gerichteten Geschäftsbriefe öffnet, nicht tatbestandsmäßig, sondern sozialadäquat. Dasselbe gilt für die Fälle der mutmaßlichen Einwilligung, z. B. wenn eine Ehefrau ohne ausdrücklichen Auftrag ein an ihren Mann gerichtetes amtliches Schreiben öffnet, nur um zu verhindern, daß eine wichtige Frist versäumt wird. 7. Unbefugt bedeutet wie bei den übrigen Indiskretionsdelikten rechtswidrig. Es handelt sich also um kein vorsatzkongruentes Tb.-Merkmal, sondern um ein allgemeines Verbrechensmerkmal. Die Rechtswidrigkeit entfällt, wenn der Täter ein besonderes Recht hat, entgegen dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Verfügungsberechtigten zu dem Inhalt eines verschlossenen oder unter Verschluß stehenden Briefs, Schriftstücks usw. vorzudringen. Solche besonderen Rechte können sich z. B. ergeben aus dem Erziehungsrecht der Eltern (vgl. § 1631 BGB), aus der Stellung des Konkursverwalters (vgl. 121 KO), aus besonderen öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnissen (vgl. z. B. §§ 99, 100 StPO betr. Postbeschlagnahme im Ermittlungsverfahren, § 30ff. UVollzO betr. Briefkontrolle bei Untersuchungsgefangenen sowie §§ 29 ff. StVollzG betr. Briefkontrolle bei Strafgefangenen) sowie aus post- und zollrechtlichen Bestimmungen (vgl. §§ 37, 48 PostO, § 6 Abs. 7 ZollG). Zum Ganzen siehe auch § 2 UberwachungsG v. 24. 5. 1961 (BGBl. I 607) für Staatsschutzdelikte sowie Art. 1 des Ges. zu Art. 10 GG v. 13. 8. 1968 (BGBl. 1949). 8. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz. Dieser muß sich insbesondere auch darauf erstrecken, daß das Schriftstück nicht zur Kenntnis des Täters bestimmt ist. Bedingter Vorsatz genügt. Im Falle des Abs. 2 ist zu beachten, daß der Täter schon beim öffnen die Absicht gehabt hat, sich Kenntnis vom Inhalt des Schriftstücks zu verschaffen. Aufbrechen in Diebstahlsabsicht und nachträgliche Kenntnisnahme reichen nicht aus. Nicht tatbestandsmäßig ist auch der Fall, daß jemand von einem Schriftstück Kenntnis nimmt, das er vorher nur versehentlich gegen den erklärten oder mutmaßlichen Willen des Berechtigten geöffnet hat. 9. Konkurrenzen: Gegenüber § 354 ist § 202 aufgrund der ausdrücklichen Subsidiaritätsklausel subsidiär. § 303 tritt als typische Begleittat zurück. Mit §§ 242, 246 kommt je
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nach Sachlage IdK. oder RK. in Betracht (vgl. BGH NJW 1977, 590 m. Anm. Thomas JA 1977, 240 und Küper JZ 1977, 464; Lenckner in Schönke-Schröder 23; Mezger-Blei BT 123; Maurach BT 173; Samson SK 19; für Gesetzeskonkurrenz zugunsten der §§ 242, 246 jedoch Dreher 17; Lackner 6; Mösl LK 9 zu § 298 aF). 10. Über Strafantrag und Übergang des Antragsrechts auf Angehörige siehe § 205.
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Verletzung von Privatgeheimnissen
(1) Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als 1. Arzt, Zahnarzt, Tierarzt, Apotheker oder Angehöriger eines anderen Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, 2. Berufspsychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschlußprüfung, 3. Rechtsanwalt, Patentanwalt, Notar, Verteidiger in einem gesetzlich geordneten Verfahren, Wirtschaftsprüfer, vereidigtem Buchprüfer, Steuerberater, Steuerbevollmächtigter oder Organ oder Mitglied eines Organs einer Wirtschaftsprüfungs-, Buchprüfungs- oder Steuerberatungsgesellschaft, 4. Ehe-, Erziehungs- oder Jugendberater sowie Berater für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist, 4 a. Mitglied oder Beauftragtem einer anerkannten Beratungsstelle nach § 218 b Abs. 2 Nr. 1, 5. staatlich anerkanntem Sozialarbeiter oder staatlich anerkanntem Sozialpädagogen oder 6. Angehörigen eines Unternehmens der privaten Kranken-, Unfall- oder Lebensversicherung oder einer privatärztlichen Verrechnungsstelle anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebsoder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als 1. Amtsträger, 2. für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten, 3. Person, die Aufgaben oder Befugnisse nach dem Personalvertretungsrecht wahrnimmt, 4. Mitglied eines für ein Gesetzgebungsorgan des Bundes oder eines Landes tätigen Untersuchungsausschusses, sonstigen Ausschusses oder Rates, das 661
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nicht selbst Mitglied des Gesetzgebungsorgans ist, oder als Hilfskraft eines solchen Ausschusses oder Rates oder 5. öffentlich bestelltem Sachverständigen, der auf die gewissenhafte Erfüllung seiner Obliegenheiten auf Grund eines Gesetzes förmlich verpflichtet worden ist, anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist. Einem Geheimnis im Sinne des Satzes 1 stehen Einzelangaben Uber persönliche oder sachliche Verhältnisse eines anderen gleich, die für Aufgaben der öffentlichen Verwaltung erfaßt worden sind; Satz 1 ist jedoch nicht anzuwenden, soweit solche Einzelangaben anderen Behörden oder sonstigen Stellen für Aufgaben der öffentlichen Verwaltung bekanntgegeben werden und das Gesetz dies nicht untersagt. (3) Den in Absatz 1 Genannten stehen ihre berufsmäßig tätigen Gehilfen und die Personen gleich, die bei ihnen zur Vorbereitung auf den Beruf tätig sind. Den in Absatz 1 und den in Satz 1 Genannten steht nach dem Tode des zur Wahrung des Geheimnisses Verpflichteten ferner gleich, wer das Geheimnis von dem Verstorbenen oder aus dessen Nachlaß erlangt hat. (4) Die Absätze 1 bis 3 sind auch anzuwenden, wenn der Täter das fremde Geheimnis nach dem Tode des Betroffenen unbefugt offenbart. (5) Handelt der Täter gegen Entgelt oder in der Absicht, sich oder einen anderen zu bereichern oder einen anderen zu schädigen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe. I. Die durch das EGStGB neu an dieser Stelle eingefügte Vorschrift tritt an die Stelle des früheren § 300, bringt jedoch eine erhebliche Erweiterung des Anwendungsbereichs. Abs. 1 entspricht im wesentlichen dem früheren § 300 Abs. 1, dehnt jedoch den Kreis der unter einer strafrechtlich sanktionierten Schweigepflicht stehenden Personen nicht unerheblich aus; neu erfaßt werden insbesondere eine Reihe sog. Sozialberufe, die in der modernen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnen. Der völlig neu konzipierte Abs. 2 erfaßt Amtsträger, amtsnahe Personen, nichtparlamentarische Mitglieder parlamentarischer Untersuchungsausschüsse und ähnlicher Institutionen sowie öffentlich bestellte Sachverständige. Abs. 3 erfaßt die Hilfspersonen der in Abs. 1 genannten Berufsgruppen. Abs. 4 stellt klar, daß der Rechtsschutz auch über den Tod des Betroffenen hinausgeht. Über Gesetzesmaterialien und Schrifttum siehe 3 vor § 201. Ergänzend beachte Becker, Schutz des Privatgeheimnisses im neuen Strafrecht, M D R 1974, 888; - Blau, Schweigepflicht und Schweigerecht der Fachpsychologen, NJW 1973, 2234; - Göppinger, Entbindung von der Schweigepflicht und Herausgabe von Krankenblättern, NJW 1958, 241; Hackel, Drittgeheimnisse innerhalb der ärztlichen Schweigepflicht, NJW 1969, 2257; Händel, Ärztliche Schweigepflicht und Verkehrssicherheit, D A R 1977, 36; - Kleinewefers-Wilts, Schweigepflicht der Krankenhausleitung, NJW 1964, 428; - ders., Schweigepflicht gegenüber Auskunftsersuchen der Haftpflichtversicherer, VersR 1963, 989; - Kohlhaas, Strafrechtliche Schweigepflicht und prozessuales Schweigerecht, GA 1958, 65; - ders., NJW 1962, 1562; - Kreuzer, Die Schweigepflicht von Krankenhausärzten gegenüber Aufsichtsbehörden, NJW 1975, 2232; - Kuhlmann, Übertragung einer Arztpraxis und ärztliche Schweigepflicht, J Z 1974, 670; - Kühne, Innerbehördliche
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Schweigepflicht von Psychologen, NJW 1977, 1478; - Laufs, Krankenpapiere und Persönlichkeitsschutz, NJW 1975,1433; - Lenckner, Aussagepflicht, Schweigepflicht und Zeugnisverweigerungsrecht, NJW 1965, 321; - Schreiner, Drittgeheimnisse und Schweigepflicht, Diss. Heidelberg 1974; - Woesner, Fragen ärztlicher Geheimhaltungspflicht, NJW 1957, 692. n . Geschütztes Rechtsgut ist das Privatgeheimnis, das den in Abs. 1 bis Abs. 3 genannten Personengruppen in ihrer beruflichen oder amtlichen Eigenschaft oder Tätigkeit anvertraut oder sonst bekannt geworden ist. 1. Geheimnis ist jede Tatsache, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt ist und an deren Geheimhaltung die geschützte Person verständliches Interesse hat. a) Art und Inhalt des Geheimnisses sind unerheblich. Insbesondere gehören hierher die im Text als besonders wichtig hervorgehobenen Geheimnisse aus dem persönlichen Lebensbereich sowie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse. Das Geheimnis kann aber auch aus dem Bereich der politischen oder dienstlichen Tätigkeit der geschützten Person stammen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die geschützte Person ihrerseits berechtigt war, über das Geheimnis zu sprechen. Ein Geheimnis kann u. U. sogar schon die Tatsache der Konsultation der schweigepflichtigen Person sein (LG Köln NJW 1959,1598; Lenckner in Schönke-Schröder 7). Wer z. B. einen Hautarzt wegen eines ansteckenden Hautausschlags aufsucht, hat im allgemeinen ein verständliches Interesse daran, daß hierüber nicht gesprochen wird. Dasselbe gilt für einen Ehepartner, der sich von einem Eheberater oder Rechtsanwalt beraten läßt, ob er Scheidungsklage erheben oder besser noch warten soll. Nur völlig belanglose Themen scheiden aus dem Bereich des § 203 aus. b) Geschützt ist nicht nur das Geheimnis des Patienten, Klienten usw., sondern auch das sog. Drittgeheimnis (vgl. Hackel aaO.; Lackner 3 a). Beispiel: A berichtet einem Anwalt oder Eheberater über die Eheverfehlungen seiner Ehefrau. Zum Ganzen siehe eingehend Schreiner aaO. c) Nur geheime Tatsachen unterliegen dem Schutz der Vorschrift. Nicht geschützt sind offenkundige Tatsachen, d. h. Tatsachen, die einem größeren Personenkreis bekannt sind, der nicht durch persönliche Beziehungen verbunden ist (vgl. Mösl LK 2 zu § 300 aF). Andererseits geht der Geheimnischarakter nicht allein dadurch verloren, daß das Geheimnis schon einmal verraten worden ist (vgl. BGH MDR 1960, 76; Mösl aaO.) oder die ihm zugrunde liegende Tatsache kleineren Kreisen gerüchteweise bekannt geworden ist. 2. Das Geheimnis ist dem Täter anvertraut, wenn es ihm in seiner beruflichen Eigenschaft durch einen Vertrauensakt - ausdrücklich oder stillschweigend - mitgeteilt worden ist. Nicht erforderlich ist, daß der Anvertrauende und der Geschützte identisch sind (sog. Drittgeheimnisse, s. o. 1 b). Sonst bekannt geworden ist dem Täter das Geheimnis, wenn er es in seiner beruflichen Eigenschaft oder während der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit erfahren hat und mit dieser Tätigkeit ein nicht nur äußerer, sondern innerer Zusammenhang besteht. Beispiel: Ein Arzt stellt bei einem Patienten, der ihn wegen Magenbeschwerden konsultiert, einen Hautausschlag fest, den P selbst noch nicht bemerkt hat, dem Arzt deshalb gar nicht anvertrauen konnte. Außerdem stellt er bei einer Urinuntersuchung fest, daß P Opiate eingenommen haben muß. Oder: Ein Sozialarbeiter stellt bei einem Hausbesuch unhygienische Verhältnisse fest; außerdem wird er Zeuge 663
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einer tätlichen Auseinandersetzung unter Angehörigen der von ihm besuchten Familie. Nicht hierher gehört jedoch der Fall, daß der zuletzt erwähnte Sozialarbeiter auf der Heimfahrt zu seiner Dienststelle Zeuge eines Verkehrsunfalls wird. III. Der Täterkreis des Abs. 1 erfaßt 1. Angehörige der wichtigsten Heilberufe (Nr. 1), und zwar ohne Rücksicht darauf, ob es sich um beamtete, angestellte oder freiberuflich tätige Personen handelt. Erfaßt werden a) Ärzte (vgl. § 2 BÄO v. 2. 10. 1961 idF v. 14. 10. 1977 (BGBl. I 1885), Zahnärzte einschließlich der früheren Dentisten (vgl. §§ 1, 8 ZahnHKG v. 31. 3. 1952), Tierärzte (vgl. § 1 BTierärzteO v. 17. 5. 1965 idF v. 22. 8. 1977 (BGBl. I 1601) und Apotheker (vgl. § 24 RApothekerO, § 2 BApothekerO v. 5. 6. 1968, BGBl. 1601); b) Angehörige eines anderen Heilberufs, der für die Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert. Hierher gehören insbesondere Hebammen (vgl. Ges. v. 21. 12. 1938, RGBl. I 1893), Krankenpfleger (vgl. Ges. v. 20. 9. 1965, BGBl. I 1443), Masseure, medizin. Bademeister und Krankengymnasten (vgl. Ges. v. 21. 12. 1958, BGBl. 1985), medizinisch-technische Assistenten (vgl. Ges. v. 8. 9. 1971, BGBl. 11515), pharmazeutisch-technische Assistenten (vgl. Ges. v. 18. 3. 1968, BGBl. I 228), Säuglings- und Kinderpflegerinnen (vgl. VO v. 15. 11. 1939) sowie Wochenpflegerinnen (vgl. VO v. 7. 2. 1943, RGBl. 187), nicht dagegen Heilpraktiker, weil weder für die Ausübung dieses Berufs noch für die Berufsbezeichnung nach dem HeilpraktikerG v. 17. 2. 1939 eine staatlich geregelte Ausbildung erforderlich ist (vgl. RegE S. 239 BT-Drucks. 7/550); 2. Berufspsychologen (Nr. 2), d. h. Psychologen, die auf mindestens einem der Hauptanwendungsgebiete der Psychologie tätig sind, ihre psychologische Tätigkeit also nicht nur aus Liebhaberei oder unter hilfswissenschaftlichen Gesichtspunkten neben einer Berufstätigkeit anderer Art ausüben (RegE S. 239 BT-Drucks. 7/550). Nicht erforderlich ist allerdings eine patientenbezogene Tätigkeit, z. B. auf dem Gebiet der Psychoanalyse oder der Psychotherapie; auch Verkehrs-, Werbe- und Betriebspsychologen unterliegen dem Anwendungsbereich der Vorschrift (vgl. Blau NJW 1973, 2234; Kühne NJW 1977, 1478). Eine weitere Beschränkung des Täterkreises besteht darin, daß nur solche Psychologen erfaßt werden, die eine staatlich anerkannte wissenschaftliche Abschlußprüfung absolviert haben. Hierzu bedarf es eines ordentlichen Studiums an einer deutschen Universität oder einer gleichrangigen anderen deutschen Hochschule, das entweder mit der Erlangung des akademischen Grades eines Diplompsychologen oder mit der Promotion im Hauptfach Psychologie abgeschlossen wurde (RegE aaO.; Lenckner in Schönke-Schröder 37); 3. Angehörige der wichtigsten Rechtspflege- und Wirtschaftsberatungsberufe (Nr. 3). Hierher gehören a) Rechtsanwälte (vgl. BRechtsanwaltsO v. 1. 8. 1959, BGBl. I 565), Patentanwälte (vgl. PatentanwaltO v. 7. 9. 1966, BGBl. I 557), Notare (vgl. BNotarO idF vom 24. 2. 1961, BGBl. I 97) sowie Verteidiger, und zwar nicht nur in Strafsachen, sondern insoweit über § 300 aF hinausgehend - in allen gesetzlich geordneten Verfahren (z. B. in Bußgeldverfahren sowie in Verfahren vor Disziplinar-, Berufs- und Ehrengerichten, vgl. RegE aaO. 239), nicht jedoch Prozeßagenten nach § 157 Abs. 3 ZPO sowie die aufgrund des Ges. zur Verhütung von Mißbräuchen auf dem Gebiet der Rechtsberatung v. 13. 12. 1935 (RGBl. I 1478) zugelassenen Rechtsbeistände (vgl. RegE aaO. 239).
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Außerhalb des Anwendungsbereichs der Vorschrift bleiben ferner Vertreter eines Hausbesitzer- oder Mietervereins, Vertreter von Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden sowie die einer Partei im Zivilprozeß gemäß § 116 ZPO als Armenvertreter beigeordneten Justizbeamten, Referendare und sonstige Rechtskundige (vgl. Mösl LK 17 zu § 300 aF). b) Wirtschaftsprüfer (vgl. WirtschaftsprüferO v. 24. 7. 1961, BGBl. I 1049), vereidigte Buchprüfer (vgl. VO v. 16. 8. 1961, BGBl. I 1301), Steuerberater und die ihnen gleichgestellten Steuerbevollmächtigten (vgl. §§ 1, 11, 119 Abs. 2 SteuerberatungsG v. 16. 8. 1961, BGBl. I 1301), nicht jedoch sonstige Helfer in Steuersachen. Die durch das EGStGB erfolgte Einbeziehung von Organen und Mitgliedern eines Organs einer Wirtschaftsprüfungs-, Buchprüfungs- oder Steuerberatungsgesellschaft beruht auf der Erwägung, daß die Vorstandsmitglieder, Geschäftsführer und persönlich haftenden Gesellschafter sowie die Aufsichtsorgane dieser Gesellschaften selbst nicht Wirtschaftsprüfer, Buchprüfer oder Steuerberater sein müssen (vgl. RegE aaO. 239). Nicht mehr aufgeführt sind dagegen die sog. Bücherrevisoren, die gemäß § 134 WirtschaftsprüferO den Wirtschaftsprüfern gleichstehen. 4. Ehe-, Erziehungs- oder Jugendberater sowie Berater für Suchtfragen (Nr. 4). Die Einbeziehung dieser Berufsgruppe beruht auf der Erwägung, daß der in einer seelischen Konfliktsituation befindliche Ratsuchende dem Berater seine privaten Geheimnisse nur dann rückhaltlos anvertrauen wird, wenn die Wahrung seiner Geheimnisse hinreichend gewährleistet ist. Soweit es sich bei den Beratern um Ärzte oder Psychologen handelt, wird dieser Schutz zwar bereits durch die Nr. 1 und 2 gewährleistet; andererseits besteht kein Grund, den Anwendungsbereich der Vorschrift auf diese beiden Gruppen zu beschränken. Eine Beschränkung des unter einer strafbewehrten Schweigepflicht stehenden Personenkreises besteht jedoch insoweit, als nur die Berater solcher Stellen unter den Anwendungsbereich der Vorschrift fallen, die von einer Behörde oder einer Institution des öffentlichen Rechts anerkannt sind. Hierher gehören insbesondere die von kommunalen oder kirchlichen Institutionen eingerichteten Beratungsstellen, nicht aber der Geistliche selbst, der im Rahmen seiner seelsorgerischen Tätigkeit in Ehe- oder Erziehungsfragen berät (vgl. Lencknerin Schönke-Schröder 38). Nr. 4 a wurde durch Art. 7 des 5. StrRG v. 18. 6. 1974 (BGBl. I 1297) eingefügt und durch das 15. StrRÄndG v. 18. 5. 1976 (BGBl. I 1213) geändert. Die Ausführungen zu Nr. 4 gelten entsprechend. 5. Sozialarbeiter und Sozialpädagogen (Nr. 5), soweit sie staatlich anerkannt sind, d. h. eine abgeschlossene Ausbildung an einer staatlich anerkannten Hochschule oder Fachschule nachweisen können. Da beamtete Sozialarbeiter und Sozialpädagogen unter Abs. 2 Nr. 1 fallen, liegt die hauptsächliche Bedeutung der Vorschrift bei Sozialarbeitern, die für Verbände der freien Wohlfahrtspflege oder in Unternehmen der Privatwirtschaft tätig sind; 6. Angehörige eines Unternehmens der privaten Kranken-, Unfall- oder Lebensversicherung oder einer privatärztlichen Verrechnungsstelle (Nr. 6), d. h. deren Inhaber, Leiter, Organe, Mitglieder von Organen sowie alle Bediensteten, die durch ihre Funktion mit Privatgeheimnissen in Berührung kommen (Dreher 19; Lackner 2 a, ee). Die Aufnahme dieses Personenkreises erfolgte in dem Bestreben, den privat Versicherten hinsichtlich
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ihrer Geheimnisse den gleichen Rechtsschutz zu gewährleisten, der den Mitgliedern der Sozialversicherung durch Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 garantiert wird. Nicht hierher gehören die Angehörigen von Unternehmen der Sachversicherungen, z.B. Hausrats- und KfzVersicherungen. IV. Anliegen des Abs. 2 ist es, die Lücke zu schließen, die nach früherem Recht darin bestand, daß der frühere § 353 b nur dem Schutz öffentlicher Interessen diente, während der Schutz privater Interessen nur unzureichend im Nebenstrafrecht geregelt war, sofern nicht ausnahmsweise, z. B. bei Geheimnisverrat durch einen Amtsarzt, die Voraussetzungen des § 300 vorlagen. Die Neuregelung durch das EGStGB hat diese Rechtszersplitterung beseitigt und gleichzeitig zu einem umfassenden Schutz des Privatgeheimnisses (siehe hierzu oben II) durch Amtsträger, amtsnahe Personen und diesen vergleichbare Personenkreise geführt. 1. Über Amtsträger (Abs. 2 Nr. 1) siehe § 11 Abs. 1 Nr. 2, über für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete (Abs. 2 Nr. 2) siehe § 11 Abs. 1 Nr. 4. Als Täter aus dem Kreis der in Nr. 1 und 2 erfaßten Gruppen kommen insbesondere solche Personen in Betracht, die schon nach früherem Recht, vor allem aufgrund spezieller Bestimmungen aus dem Nebenstrafrecht, eine strafbewehrte Schweigepflicht hatten (siehe hierzu z. B. die durch das EGStGB aufgehobenen §§ 20, 24 ApothekenwesenG v. 20. 8. 1960 [BGBl. I 697], §§ 43, 49 ArzneimittelG v. 16. 5. 1961 [BGBl. I 533], § 16 GeschlKrG, § 141 RVO, § 17 LMG, § 68 BSeuchendG v. 18. 7. 1961 [BGBl. I 1012], § 55 KreditwesenG v. 10. 7. 1967 [BGBl. I 881] sowie § 57 BerufsausbildungsförderungsG v. 26. 8. 1971 [BGBl. I 1409]). Als Täter kommen weiter in Betracht Bedienstete und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete aus dem Bereich der Sozialversicherung und ihrer Verbände, aus dem Bereich der Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Arbeitslosenversicherung, außerdem Bedienstete der Sozial- und Jugendämter, Gerichtshelfer, aber auch Lehrer. Beispiel: Eine Lehrerin (L) unterhält sich mit einer Schülerin (S), deren Leistungen auffallend nachlassen, über die Ursachen dieses Leistungsabfalls. Hierbei erfährt sie, daß die S ein Kind erwartet und die häuslichen Verhältnisse zerrüttet sind. 2. Zum Personalvertretungsrecht (Nr. 3) gehören alle Rechtsnormen, die für die Interessenvertretung der Angehörigen einer Dienststelle gelten, z. B. das BundespersonalvertretungsG v. 15. 4. 1974 (BGBl. I 693), das LandespersonalvertretungsG für Bad.-Wttbg idF vom 1. 10. 1975 (GesBl. 693), das Vertretungsrecht der Richter (vgl. §§ 49, 72, 74 DRiG), derStaatsanwälte (vgl. z. B. § 71 LandesrichterG von Bad.-Wttbg v. 19. 7. 1972), der Soldaten (vgl. §§ 35, 70 SoldG) und der Ersatzdienstleistenden (vgl. § 37 Ges. üb. d. zivilen Ersatzdienst idF v. 16. 7. 1965, BGBl. 1984). Als Täter kommen alle Personen in Betracht, die im Rahmen des Personalvertretungsrechts Aufgaben oder Befugnisse wahrnehmen, z. B. Mitwirkung bei Stellenbesetzungen, Vergabe von Pachtgrundstücken oder Krediten. Nicht hierher gehören Funktionen, die jedem einzelnen Angehörigen der Dienststelle zustehen, z. B. das Wahlrecht, ferner die mit der Wahl lediglich zusammenhängenden Tätigkeiten, z. B. Kenntnisnahme der Wahlvorschläge, Erörterung der Wahlvorschläge unter den Bediensteten (vgl. RegE S. 241 BT-Drucks. 7/550). Die früheren, teilweise erheblich voneinander abweichenden Strafvorschriften des Bundes und der Länder wurden aufgehoben (vgl. Art. 287 Nr. 4 EGStGB betr. § 75 BPerso-
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nalvertretungsG, Art. 292 Nr. 10, 26, 30, 36, 42, 49, 64, 69, 77 EGStGB betr. Personalvertretungsgesetze der Länder). 3. Bei den in Abs. 2 Nr. 4 genannten parlamentarischen Untersuchungsausschüssen handelt es sich nicht um Ausschüsse „der" Gesetzgebungsorgane (vgl. RegE S. 241 BTDrucks. 7/550; h. L.), sondern um Ausschüsse, die „für" die Gesetzgebungsorgane tätig werden, d. h. deren Tätigkeit von außen unterstützen (sog. Enquete-Kommissionen, die u. a. die Aufgabe haben, bestimmte politische Zusammenhänge, Vorfälle oder Mißstände aufzuklären, vgl. z. B. § 5 des Ges. üb. Enquete-Kommissionen des Abgeordnetenhauses von Berlin v. 7. 12. 1970, GVB1. S. 1974). Neben diesen Kommissionen kommen die in Form eines Rates zusammengesetzten Gremien in Betracht (vgl. z. B. § 19 des Entwurfs eines Ges. üb. d. Errichtung eines Bundeswirtschafts- und Sozialrats, BT-Drucks. VI/2514). Täter können nur nichtparlamentarische Mitglieder und Hilfskräfte der genannten Gremien sein, nicht jedoch die Abgeordneten selbst. 4. Öffentlich bestellte Sachverständige unterliegen nach Abs. 2 Nr. 5 nur dann einer strafbewehrten Schweigepflicht, wenn sie auf die gewissenhafte Erfüllung ihrer Obliegenheiten aufgrund eines Gesetzes förmlich verpflichtet worden sind. Bei dieser Berufsgruppe handelt es sich um die nach § 36 GewO von den zuständigen Stellen (z. B. Handwerkskammer, Industrie- und Handelskammer) öffentlich bestellten, freiberuflich tätigen Sachverständigen. Hierher gehören z. B. Bau- und Kraftfahrzeugsachverständige. Beispiel: A „beichtet" einem Kfz-Sachverständigen, den er um die Erstellung eines Schadensgutachtens zwecks Vorlage bei seiner Kaskoversicherung bittet, daß er den zum Schaden führenden Unfall unter Alkoholeinwirkung verschuldet hat. Uber den Begriff „förmlich verpflichtet" siehe § 1 VerpflichtungsG v. 2. 3. 1974 (Art. 42 EGStGB, BGBl. 1547). 5. Durch die Einbeziehung personen- oder sachbezogener Daten i. S. des Abs. 2 Satz 2 unter den Anwendungsbereich der Vorschrift konnten eine Reihe bundes- und landesrechtlicher Sondervorschriften mit gleicher Zielrichtung aufgehoben werden (vgl. z. B. Art. 92 Nr. 2, 93, 287 Nr. 15 EGStGB betr. Bundesrecht, Art. 292 Nr. 13, 18, 38, 51, 54 EGStGB betr. Landesrecht), so daß die Materie nunmehr bundeseinheitlich geregelt ist. a) Geschützt sind nicht nur natürliche, sondern auch juristische Personen (vgl. RegE S. 242 BT-Drucks. 7/550). Einzelangaben, die weder ausdrücklich noch konkludent etwas darüber aussagen, auf wen sie sich beziehen, sind nicht durch § 203 Abs. 2 geschützt; ihre Preisgabe kann jedoch nach § 353 b strafbar sein (RegE aaO.). b) Zu den persönlichen und sachlichen Verhältnissen gehören z. B. Angaben über Ausbildung, Religionszugehörigkeit, Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie über Vorstrafen und Verurteilungen wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit. c) Die Angaben müssen erfaßt sein. Die Form der Erfassung (handschriftlich, kartei-oder formularmäßig, auf Lochkarten, Magnetbändern usw.) ist unerheblich. Es ist auch nicht erforderlich, daß die erfaßten Daten schon eingeordnet oder gar verarbeitet sind. d) Für Aufgaben der öffentlichen Verwaltung erfaßt sind Daten nicht nur, wenn sie zu diesem Zweck erfaßt wurden, sondern auch dann, wenn sie zunächst zu anderen Zwecken gesammelt, später aber der Verwaltung für deren Aufgaben zur Verfügung gestellt wurden (RegE S. 243 BT-Drucks. 7/550).
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e) Geheimnischarakter der erfaßten Einzelangaben ist grundsätzlich nicht erforderlich. Andererseits sind offenkundige Einzelangaben, von denen jeder verständige und erfahrene Mensch ohnehin Kenntnis hat oder sich jederzeit durch Benutzung allgemein zugänglicher und zuverlässiger Quellen (z. B. durch Einblick in eine Besoldungstabelle oder in den veröffentlichten Geschäftsbericht eines Unternehmens) die gewünschte Information verschaffen kann, nicht geschützt. Derartige offenkundige Angaben kann man nicht „offenbaren". Nicht geschützt sind femer Einzelangaben, an deren Geheimhaltung ein verständliches Interesse des Betroffenen offensichtlich nicht besteht (vgl. RegE aaO. 243). Nicht tatbestandsmäßig ist schließlich der notwendige Informationsaustausch innerhalb der öffentlichen Verwaltung (vgl. Abs. 2 S. 2, letzter Halbsatz), sofern dies gesetzlich nicht ausdrücklich untersagt ist (vgl. z. B. § 12 Abs. 1 StatistikG). V. Der Täterkreis des Abs. 1 wird in Abs. 3 Satz 1 erweitert auf 1. die berufsmäßig (also nicht nur gelegentlich) tätigen Gehilfen der in Abs. 1 genannten Personen, z. B. die Sprechstundenhilfe des Arztes oder Zahnarztes, die Apothekenhelferin, der Bürovorsteher des Anwalts, nicht dagegen Putzfrau oder Fahrer (vgl. Lackner 2 c, aa; Mösl LK 18 zu § 300 aF; zum Ganzen siehe auch Kohlhaas NJW1972,1502); 2. die in Ausbildung befindlichen Personen, z. B. der Anwaltsreferendar oder der Famulus in der Klinik. Auf die Einbeziehung des Hilfs- und Ausbildungspersonals der öffentlich bestellten Sachverständigen (Abs. 2 Nr. 5) wurde bewußt verzichtet (vgl. RegE S. 243 BT-Drucks. 7/550). VI. Abs. 3 Satz 2 erweitert den Täterkreis auf Personen, die das Geheimnis nach dem Tode eines unter Abs. 1 oder unter Abs. 3 S. 1 fallenden Geheimnisträgers von dem Verstorbenen oder aus seinem Nachlaß erlangt haben. Beispiel: A veröffentlicht die Memoiren eines bekannten Anwalts und schildert hierbei Einzelheiten, die den ehemaligen Klienten des Anwalts zum Nachteil oder zur Unehre gereichen. - Nicht unter den Anwendungsbereich der Vorschrift fallen dagegen Personen, die das Geheimnis von einem unter Abs. 2 fallenden Geheimnisträger oder aus dessen Nachlaß erlangt haben. Tatbestandsmäßig ist jedes Offenbaren des Geheimnisses, nicht nur dessen Veröffentlichung. VII. Abs. 4 stellt klar, daß die Schweigepflicht auch nach dem Tode des Betroffenen fortbesteht. Wegen der Antragsberechtigung in diesem Falle siehe § 205 Abs. 2. Vin. Offenbaren (einheitliche Tathandlung in allen Absätzen) ist jede Mitteilung an eine Person, die das Geheimnis noch nicht kennt. Die Art der Mitteilung (schriftlich, mündlich, durch Gewährung von Akteneinsicht) ist unerheblich. IX. Unbefugt, d. h. rechtswidrig, ist jede ohne Einwilligung erfolgte Mitteilung, für die kein Rechtfertigungsgrund eingreift. Die Rechtswidrigkeit kann in Übereinstimmung mit den von Rspr. und Lehre zu § 300 aF entwickelten Grundsätzen entfallen: 1. aufgrund einer gesetzlichen Anzeigepflicht, z. B. zur Abwendung drohender Kapitalverbrechen (vgl. §§ 138 f.), zur Verhütung ansteckender Krankheiten und Seuchen (vgl.
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§§ 11 ff. GeschlKrG, §§ 3 ff. BSeuchenG v. 18. 7. 1961, BGBl. I 1961) oder zum Schutz der Allgemeinheit (vgl. z. B. § 23 SprengstG); 2. im Falle der mutmaßlichen Einwilligung (II 5 vor § 32), z. B. bei einer Praxisübergabe (BGH MDR 1974, 221 m. krit. Bespr. Kuhlmann JZ 1974, 670 und Laufs NJW 1975, 1433) oder bei Benachrichtigung von Angehörigen eines bewußtlosen Patienten oder bei Hinzuziehung von Hilfspersonen. Dem gleich stehen die Fälle, in denen die Einwilligung schlüssig (konkludent) erteilt worden ist. Wer sich z. B. bei seiner Bewerbung um eine Stelle im öffentlichen Dienst oder bei Abschluß eines Versicherungsvertrags von einem Arzt untersuchen läßt, bringt damit schlüssig zum Ausdruck, daß er mit der Weiterleitung des Untersuchungsberichts an die Behörde bzw. Versicherungsgesellschaft einverstanden ist (vgl. Dreher 28; Lackner 6 a, aa). Das gleiche gilt für Untersuchungen durch einen Werksarzt oder Psychologen bei Abschluß eines Arbeitsvertrags; 3. bei Erstattung eines Gutachtens als Sachverständiger in einem gerichtlichen oder behördlichen Verfahren; die öffentliche Aufgabe rechtfertigt allerdings keine Mitteilung an unbeteiligte Dritte (vgl. Abs. 2 Nr. 5); 4. im Falle der dienstlichen Berichterstattung (wichtig für Abs. 2 Nr. 1 und 2). Hierbei ist allerdings zu beachten, daß eine generelle Anweisung der Aufsichtsbehörde an Ärzte eines öffentlichen Krankenhauses, Krankenakten vorzulegen, rechtswidrig ist (Kreuzer NJW 1975, 2232); 5. im Falle des rechtfertigenden Notstands (§ 34). Dies kann der Fall sein, wenn der Geheimnisträger a) eigene berechtigte Interessen wahrnimmt, z. B. das ihm zustehende Honorar einklagen oder sich gegen den Vorwurf der Pfuscherei zur Wehr setzen muß (Kreuzer NJW 1975,2232, 2236 m. Nachw.); b) zum Schutz höherwertiger Rechtsgüter fremde Interessen oder die der Allgemeinheit wahrnimmt. Beispiele: Dr. med. A weist Polizei oder Führerscheinbehörde darauf hin, daß sein an Epilepsie oder einer anderen die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigenden Krankheit leidender Patient allen Warnungen zum Trotz als Kraftfahrer am Verkehr teilnimmt (vgl. BGH NJW 1968, 2288; München MDR 1956, 565 m. Anm. Mittelbach; Lackner 6 a, ff; Martin DAR 1970, 302; Wilts NJW 1966, 1837; zum Ganzen siehe auch Händel DAR 1977, 36 mit rechtsvergleichenden Hinweisen und Vorschlägen für eine gesetzliche Neuregelung); - oder: ein Arzt weist das Gesundheitsamt oder die Strafverfolgungsbehörde auf die Person eines gewerbsmäßigen Abtreibers hin; - oder: die unter VI 1 gebrachte Lehrerin L weist in der Hoffnung, die ihr bekannt gewordenen Mißstände abstellen zu können, eine Fürsorgerin auf die schlechten häuslichen Verhältnisse in der Familie der S hin; 6. bei Erfüllung einer Zeugnispflicht, sofern der Geheimnisträger von der Schweigepflicht entbunden ist oder kein Zeugnisverweigerungsrecht beanspruchen kann. X. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz. Der Täter muß wissen, daß er eine Tatsache mitteilt, die ihm in seiner beruflichen Eigenschaft anvertraut oder bekannt geworden ist, daß diese Tatsache Geheimnischarakter besitzt und daß der Betroffene ein verständliches Interesse
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an der Geheimhaltung hat. Bedingter Vorsatz genügt. Ein dem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum des § 16 gleichzustellender Irrtum über den sog. Erlaubnistatbestand liegt vor, wenn der Täter irrig Tatumstände annimmt, bei deren Vorliegen er gerechtfertigt wäre (s. o. IX). Ein nach § 17 zu behandelnder Verbotsirrtum liegt dagegen vor, wenn der Täter in Kenntnis aller Tatumstände irrig glaubt, zur Offenbarung befugt zu sein. XI. Da es sich um ein Sonderdelikt handelt, kann Täter nur der Schweigepflichtige selbst sein. Für Teilnehmer, die selbst nicht schweigepflichtig sind, ist § 28 Abs. 1 zu beachten (h. L., vgl. Dreher 35; Lackner 2; a. A. Lenckner in Schönke-Schröder 73). Mittelbare Täterschaft eines Außenstehenden ist nicht möglich. Wer z. B. einen Arzt durch Vorspiegelung der Einwilligung des Betroffenen zur Preisgabe eines Geheimnisses verleitet, kann keinesfalls als Täter eines Vergehens nach § 203 bestraft werden. Die Möglichkeit einer Bestrafung wegen Anstiftung hängt in diesem Fall zunächst von der rechtlichen Einordnung des Irrtums über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds ab. Behandelt man diesen Irrtum als vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum i. S. von § 16, so kommt eine Bestrafung wegen Anstiftung keinesfalls in Betracht, da Anstiftung nur bei vorsätzlichen Taten möglich ist (vgl. § 26; a. A. noch BGH 4, 355). Unterstellt man den Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds im Anschluß an die sog. strenge Schuldtheorie (vgl. § 16 Anm. 3 d) der Regelung des § 17, so befindet sich der schweigepflichtige Arzt nicht in einem vorsatzausschließenden Tatbestands-, sondern in einem Verbotsirrtum, der den Vorsatz und damit die Möglichkeit strafbarer Teilnahme unberührt läßt. Das gleiche gilt, wenn man den Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds im Anschluß an die hier vertretene Ansicht (vgl. § 16 Anm. 3 e) als Verbotsirrtum behandelt, der zwar in seinen Rechtsfolgen dem vorsatzausschließenden Tb.-Irrtum gleichzustellen ist, den Vorsatz selbst jedoch nicht berührt. Trotzdem ist auch bei Zugrundelegung dieser Irrtumslehre eine Bestrafung wegen Anstiftung abzulehnen, da der auf den Arzt einwirkende Hintermann diesen nicht zum Geheimnisverrat „anstiften" will, sondern es ihm ausschließlich darum geht, das Geheimnis unter Mißbrauch der Arglosigkeit des Arztes auszuspähen, das Ausspähen eines Geheimnisses jedoch - gleich in welcher Form es erfolgt - nicht strafbar ist (Köln NJW 1962, 686; Maurach BT 177; Welzel 336*; bestr.). Strafbare Anstiftung ist in Fällen dieser Art nur möglich, wenn der Hintermann irrig davon ausgeht, der Arzt durchschaue das Täuschungsmanöver, offenbare also das Geheimnis mit Vorsatz und Unrechtsbewußtsein. In diesem Fall kann der Anstiftervorsatz nicht mehr in Abrede gestellt werden. XII. Entgelt i. S. von Abs. 5 ist jede Vermögenswerte Gegenleistung (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 9). Über Bereicherungsabsicht siehe § 263 Anm. VI 2, über Schädigungsabsicht § 272 Anm. 2 und § 274 Anm. 4. XID. Konkurrenzen: Wird der Tb. in mehreren gleichwertigen Begehungsformen verletzt (z. B. durch einen Amtsarzt, der sowohl unter den Täterkreis des Abs. 1 Nr. 1 als auch unter den des Abs. 2 Nr. 1 fällt), so liegt keine IdK., sondern nur eine Gesetzesverletzung vor (Dreher 38). Tateinheit ist möglich mit §§ 187, 353 b. Über das Verhältnis zu § 204 siehe dort Anm. 6.
* Zitate jeweils zu § 300 aF.
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Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs
§ 204
XIV. Über Strafantrag und Übergang des Antragsrechts auf Angehörige eines Verstorbenen siehe § 205.
§ 204
Verwertung fremder Geheimnisse
(1) Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, zu dessen Geheimhaltung er nach § 203 verpflichtet ist, verwertet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) § 203 Abs. 4 gilt entsprechend. 1. Die durch das EGStGB eingefügte Vorschrift enthält eine wesentliche Ergänzung des § 203. Gleichzeitig konnten mehrere Straftatbestände aus dem Bereich des Nebenstrafrechts ersatzlos gestrichen werden. Durch die Neuregelung betroffen wurden insbesondere die in § 203 Anm. IV 1 aufgeführten Gesetze. Der dem § 203 Abs. 5 angeglichene Strafrahmen bringt zum Ausdruck, daß die unbefugte wirtschaftliche Ausnutzung eines fremden Geheimnisses ebenso strafwürdig ist wie das Offenbaren des Geheimnisses gegen Entgelt, in Bereicherungs- oder Schädigungsabsicht. 2. Über fremdes Geheimnis siehe § 203 Anm. II 1. In Betracht kommen hauptsächlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse sowie Erfindungen und Entdeckungen, die noch nicht in Zusammenhang mit einem Betrieb oder Geschäft stehen, sowie die in § 203 Abs. 2 S. 2 erfaßten Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse (vgl. RegE S. 244 BT-Drucks. 7/550). 3. Der Täterkreis entspricht dem des § 203 (siehe dort Anm. III-VI). 4. Verwerten ist das zu eigenen Zwecken erfolgende wirtschaftliche Ausnutzen; der Verkauf fällt jedoch (da mit einem Offenbaren verbunden) bereits unter § 203 (vgl. RegE 5. 44 BT-Drucks. 7/550). 5. Über die Bedeutung des Abs. 2 siehe § 203 Anm. VII. 6. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz. Die Ausführungen unter § 203 Anm. X gelten entsprechend. 7. IdK. mit § 203 ist nur möglich, wenn der Täter ein Geheimnis teils Dritten offenbart, teils selbst verwertet. Besteht die Verwertung im Verkauf, so geht § 203 vor (s. o. 4). Erfolgt die Verwertung unter Verletzung eines Steuergeheimnisses, so geht § 355 vor. Bei Gefährdung öffentlicher Interessen ist Tateinheit mit § 353 b möglich. Tateinheit ist weiter möglich mit § § 1 7 , 1 8 UWG. 8. Über Strafantrag und Übergang des Antragsrechts auf Angehörige eines Verstorbenen siehe § 205. 671
§205 § 205
Fünfzehnter Abschnitt Strafantrag
(1) In den FäUen des § 2 0 1 Abs. 1 und 2 und der §§ 2 0 2 bis 2 0 4 wird die Tat nur auf Antrag verfolgt. (2) Stirbt der Verletzte, so geht das Antragsrecht nach § 77 Abs. 2 auf die Angehörigen Uber. Gehört das Geheimnis nicht zum persönlichen Lebensbereich des Verletzten, so geht das Antragsrecht bei Straftaten nach den §§ 2 0 3 und 2 0 4 auf die Erben über. Offenbart oder verwertet der Täter in den Fällen der §§ 2 0 3 und 2 0 4 das Geheimnis nach dem Tode des Betroffenen, so gelten die Sätze 1 und 2 sinngemäß. 1. Abs. 1 stellt klar, daß sämtliche Tatbestände des 15. Abschnitts Antragsdelikte sind. Über das Antragsrecht im einzelnen siehe § § 77 ff. 2. Abs. 2 S. 1 regelt den Übergang des Antragsrechts auf Angehörige eines Verstorbenen (über Angehörige siehe § 77 Abs. 2); Abs. 2 S. 2 (Übergang des Antragsrechts auf Erben) bezieht sich vor allem auf Berufs-, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sowie auf Erfindungen und Entdeckungen. Beide Vorschriften treffen den Fall, daß die Tat vor dem Tode des Verletzten begangen war und dieser keinen Strafantrag gestellt hat, das Antragsrecht aber noch nicht erloschen war und die Strafverfolgung auch nicht dem erklärten Willen des Verletzten widerspricht (vgl. § 77 Abs. 2 S. 3). Demgegenüber erfaßt Abs. 2 S. 3 den Fall, daß die Tat erst nach dem Tode des Betroffenen begangen wird (vgl. § 203 Abs. 4, § 204 Abs. 2). Für diesen Fall gelten Satz 1 und 2 entsprechend.
§§ 2 0 6 - 2 1 0
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[aufgehoben durch das 1. StrRG]
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben (§§ 211-222) Vorbemerkungen I. Übersicht Der durch das EGStGB nur redaktionell geänderte Abschnitt enthält mehrere Komplexe von Tatbeständen, die sich in ihrem Unrechtsgehalt wesentlich unterscheiden: die Tatbestände der vorsätzlichen Tötung (§§ 211, 212, 216, 217), den Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 ff.), den Völkermord (§ 220 a), die Aussetzung (§ 221) und die fahrlässige Tötung (§ 222). Aus dem neueren Schrifttum zur Abgrenzung der Tötungsdelikte untereinander und gegenüber anderen Tatbeständen siehe insbesondere Krey JuS 1971,86,141,192,250,306. II. Grundtatbestand der vorsätzlichen Tötung ist der in § 212 unter Strafe gestellte Totschlag. Der in § 211 unter Strafe gestellte Mord stellt sich demgegenüber als Qualifizierung dar, während § 216 (Tötung auf Verlangen) und § 217 (Kindstötung) privilegierte Fälle der vorsätzlichen Tötung enthalten. Diese Einordnung entspricht der h. L. im Schrifttum (vgl. Welzel JZ 1952, 72; Maurach BT 22; Eser in Schönke-Schröder 4 vor § 211 m. weit. Nachw.). Ihre Berechtigung ergibt sich vor allem aus der Erwägung, daß Grundtatbestand immer der Tatbestand ist, der die Mindestvoraussetzungen enthält, die den Unrechtsgehalt des jeweiligen Deliktstypus bestimmen. Dies kann hier nur der Totschlag sein, der schlechthin jede vorsätzliche Tötung umfaßt, die nicht unter den erschwerenden Umständen des § 211 oder unter den mildernden Umständen der §§ 216, 217 begangen wird. Die abweichende Meinung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH 1, 368; 2, 251; 6, 329; 13, 162, 165), wonach die Tatbestände der vorsätzlichen Tötung nicht nur graduell, sondern auch artmäßig verschieden sind, kann demgegenüber nicht überzeugen. Der Unterschied der Meinungen zeigt sich vor allem auf dem Gebiet der Teilnahme (vgl. § 211 Anm. 4). Siehe hierzu ausführlich § 28 Anm. 4 e. DI. Das Verhältnis der Tötungsdelikte zu den Tatbeständen der vorsätzlichen Körperverletzung 1. Entgegen der früher h. L. im Schrifttum hat sich der BGH in Übereinstimmung mit der heute h. L. (siehe hierzu insbesondere Schmitt JZ 1962, 389) auf den Standpunkt gestellt, daß der Tötungsvorsatz den Körperverletzungsvorsatz nicht ausschließt (vgl. BGH 16, 122; 21, 265 m. Anm. Schröder JZ 1967,709). Zur Begründung wird darauf hingewiesen, daß die Körperverletzung notwendiges Durchgangsstadium für die Tötung ist und deshalb notwendig vom Tötungsvorsatz umfaßt wird. a) Die Vereinbarkeit von Tötungs- und Körperverletzungsvorsatz bedeutet nicht, daß bei jeder vorsätzlichen Tötung zugleich auch wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu bestrafen ist. Eine Tateinheit ist vielmehr grundsätzlich ausgeschlossen. Die Tatbestände der Körperverletzung treten als subsidiär zurück, sobald die Möglichkeit besteht, wegen vollendeter oder versuchter vorsätzlicher Tötung zu bestrafen (h. A.; für Tateinheit zwischen versuchter Tötung und vollendeter Körperverletzung jedoch Eser in Schönke-Schröder § 212 Rn. 14 b). Dies gilt auch dann, wenn der Täter in erster Linie verletzen wollte und den Tod seines Opfers nur billigend in Kauf genommen hat (BGH 21, 265). b) Die Vereinbarkeit von Tötungs- und Körperverletzungsvorsatz wird hauptsächlich dann von Bedeutung, wenn der Täter von einem Tötungsversuch, bei dem das Opfer 22
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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Vor § 211
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
bereits verletzt worden ist, freiwillig zurücktritt. Da bei einem freiwilligen Rücktritt nur der Versuch als solcher straflos bleibt (vgl. § 24), besteht die Möglichkeit, den Täter wegen vorsätzlicher (§ 223) oder gefährlicher Körperverletzung (§ 223 a) zu bestrafen. 2. Für das Verhältnis zur schweren Körperverletzung (§ 224) gilt folgendes: a) Ist das Tötungsdelikt vollendet, so entfällt § 224 schon tatbestandsmäßig, da § 224 voraussetzt, daß das Opfer die Tat überlebt. b) Liegt nur versuchte Tötung vor, so kann diese mit § 224 in Idealkonkurrenz treten. Subsidiarität ist abzulehnen, da der Unrechtsgehalt der Tat durch eine Bestrafung nur wegen versuchter Tötung nicht voll erfaßt werden kann (vgl. Schmitt aaO. 392; a. A. BGH 22, 248 gegen die Auffassung des GenBA: die schwere Folge ist nur im Strafmaß zu berücksichtigen). Das Bedürfnis, zusätzlich auf die schwerere Strafdrohung des § 224 zurückzugreifen, besteht vor allem bei einer versuchten Tötung auf Verlangen (§ 216), die nur Vergehenscharakter besitzt, während die schwere Körperverletzung des § 224 selbst bei Vorliegen eines minder schweren Falles (vgl. § 224 Abs. 2) immer ein Verbrechen i. S. von § 12 darstellt. Das Ergebnis mag zunächst befremden, da bei einer geglückten Tötung auf Verlangen der Täter nur wegen eines Vergehens gemäß § 216 zu bestrafen ist, bei IdK. zwischen §§ 216, 23 einerseits und § 224 andererseits die Strafe aber aus dem Strafrahmen des § 224 zu entnehmen ist. Dieses Ergebnis ist jedoch bei genauerer Betrachtung gar nicht so unbefriedigend. Zunächst wird in aller Regel im Hinblick auf das Tatmotiv gemäß § 224 Abs. 2 ein minder schwerer Fall angenommen werden können, so daß die Strafe dann doch dem § 216 zu entnehmen ist (bei § 52 konkrete Betrachtungsweise). Im übrigen hat der Gesetzgeber sich eben auf den Standpunkt gestellt, daß die Verstümmelung bzw. dauernde Entstellung des Opfers ernster zu beurteilen ist als die Tötung auf Verlangen. Der Entwurf 1962 hält in § 147 an diesem Standpunkt fest. So gesehen ist es keineswegs unbillig, bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 224 auf diese Bestimmung auch dann zurückzugreifen, wenn an sich die Möglichkeit besteht, wegen versuchter Tötung zu bestrafen. Es wäre im Gegenteil unbefriedigend, bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 224 auf diese Vorschrift nur wegen des zusätzlich vorliegenden Tötungsvorsatzes zu verzichten. Die Entscheidung BGH 22, 248 ist inzwischen auch im Schrifttum auf Widerspruch gestoßen (vgl. Blei JA 1969, StR S. 49 f.; Eser in SchönkeSchröder § 212 Rn. 14 b; Jakobs NJW 1969,437; Lackner § 211 Anm. 11 b). c) Tritt der Täter freiwillig vom Tötungsversuch zurück, so bleibt die Strafbarkeit gemäß § 224 unberührt, da gemäß § 24 nur der Versuch als solcher straflos bleibt (sog. qualifizierter Versuch). 3. Für das Verhältnis zur beabsichtigten schweren Körperverletzung (§ 225) ist folgendes zu beachten: a) IdK. zwischen einem vollendeten Tötungsdelikt und § 225 scheidet wegen der Unvereinbarkeit der Folgen aus. b) IdK. zwischen einem versuchten Tötungsdelikt und § 225 ist nur bei bedingtem Tötungsvorsatz denkbar, d. h. wenn es dem Täter vor allem darum ging, das Opfer zu verstümmeln bzw. dauernd zu entstellen, und er dabei billigend in Kauf nahm, daß sein Opfer den Folgen seiner Verletzungen erliegen werde. In diesem Fall neigt auch der BGH in der bereits oben zitierten Entscheidung BGH 22, 248 ff. zu Tateinheit. War dagegen 674
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nicht der Tötungsvorsatz, sondern der Verstümmelungsvorsatz bedingt, so kommt nicht § 225, sondern § 224 in Betracht (s. o. Anm. 2). 4. Der Tatbestand des § 226 (Körperverletzung mit Todesfolge) bietet in diesem Zusammenhang keine Schwierigkeiten. Handelt der Täter mit Tötungsvorsatz, so kommt von vornherein nur eine Bestrafung gemäß §§211 ff. in Betracht. 5. Für das Verhältnis zu § 229 (Giftbeibringung) gelten die Ausführungen zu § 225 entsprechend. Die selbständige Bedeutung des § 229 neben den Tötungsdelikten ist vor allem dann von Bedeutung, wenn der Täter von einer versuchten Tötung freiwillig zurücktritt. Für diesen Fall besteht die Möglichkeit, wegen Giftbeibringung gemäß § 229 zu bestrafen, wenn dieser Tatbestand bereits erfüllt ist (vgl. Eser in Schönke-Schröder § 212 Rn. 15;MaurachBT 105; Lackner § 229 Anm. 3). IV. Über das Verhältnis zu anderen Tatbeständen, insbesondere zum Schwangerschaftsabbruch (§ 218) und zur Aussetzung (§ 221), siehe die Anmerkungen zu diesen Tatbeständen. V. Teilnahme an fremdem Selbstmord ist straflos, da der Selbstmord selbst keine mit Strafe bedrohte Handlung darstellt. Strafbar sind dagegen die Fälle, in denen Tötung in mittelbarer Täterschaft oder fahrlässige Tötung in Betracht kommt. Unter bestimmten Voraussetzungen kann sich die Strafbarkeit desjenigen, der einen fremden Selbstmord nicht verhindert, auch aus § 330 c (unterlassene Hilfeleistung) ergeben. Die Einzelheiten sind äußerst umstritten. Aus dem Schrifttum siehe insbesondere die unten unter Anm. 2 zitierten Besprechungen der Entscheidung BGH 24, 342, außerdem: Bringewat, Selbstmord, Suizidpatient und Arztpflichten im Strafrecht, NJW 1973, 540 (Rezension zu BayObLG NJW 1973, 565); - ders., Die Strafbarkeit der Beteiligung an fremder Selbsttötung als Grenzproblem der Strafrechtsdogmatik, ZStW 87, 623; - Geilen, Suicid und Mitverantwortung, JZ 1974, 145; - Kohlhaas, Das Recht auf den eigenen Tod, NJW 1973, 548; - Roxin, Die Mitwirkung beim Suicid - ein Tötungsdelikt?, Dreher-Festschr., 1977, S. 331; - Schmidhausen Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in strafrechtlicher Sicht, Welzel-Festschr., 1974, S. 801; - Spendel, Fahrlässige Teilnahme an Selbstund Fremdtötung, JuS 1974, 749; - Wagner, Selbstmord und Selbstmordverhinderung, 1975; - Weis, Freitod in Unfreiheit, ZRP 1975, 83. 1. Strafbare Tötung in mittelbarer Täterschaft liegt vor, wenn das Opfer durch Zwang oder Täuschung in den Tod getrieben wird. Beispiele: A zwingt B mit vorgehaltener Pistole, Gift einzunehmen. - Oder: A veranlaßt den ahnungslosen B, eine Starkstromleitung zu berühren. - Oder: A versetzt sein Opfer planmäßig in eine seelische Depression, in der es keinen anderen Ausweg mehr sieht, als aus dem Leben zu scheiden. - Oder: A spiegelt seiner Frau vor, sie habe ein unheilbares Leiden, und es sei wohl besser, sie nehme gleich ein schnell wirkendes Gift, als langsam dahinzusiechen. In all diesen Fällen hat das Opfer nicht die freie, unbeeinflußte Entscheidung über die Fortdauer seines Lebens. Es handelt, bewußt oder unbewußt, als Werkzeug in der Hand eines anderen, der die Tatherrschaft hat, somit mittelbarer Täter ist. 2. Erkennt der Hintermann seine den anderen beherrschende Rolle nicht, so kommt Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung in Betracht. Beispiel: A nörgelt so lange an seiner 22*
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16jährigen Tochter herum, bis diese keinen Ausweg mehr sieht und sich das Leben nimmt. Die vielerörterte Entscheidung BGH 24, 342 ( = NJW 1972, 1207 m. Anm. van Eis = JR 1972, 426 m. Anm. Welp), wonach die fahrlässige Verursachung eines Selbstmords schon deshalb nicht strafbar sein kann, weil auch die vorsätzliche Förderung eines Selbstmords nicht strafbar ist, kann nur für die Fälle Richtigkeit beanspruchen, bei denen unter gleichen Voraussetzungen die vorsätzliche Förderung eines Selbstmords mangels Tatherrschaft des Mitwirkenden nicht als Tötung in mittelbarer Täterschaft zu beurteilen wäre (vgl. Kohlhaas JR 1973, 53; Blei JA 1972, StR 155; 1973, StR 61; Spendel JuS 1974, 749, 752). 3. Straflose Teilnahme am Selbstmord liegt vor, wenn sich jemand lediglich darauf beschränkt, einen anderen zum Selbstmord anzustiften oder einen bereits bestehenden Entschluß zum Freitod zu fördern. Im Falle der Beihilfe ist es unerheblich, ob diese durch positives Tun oder durch Unterlassen begangen wird. Grundsätzlich unerheblich ist auch, ob der Täter eine Beistandspflicht hatte. Wer die freie Entscheidung eines anderen, aus dem Leben zu scheiden, respektiert, indem er nichts unternimmt, um ihn von seinem Schritt zurückzuhalten, mag zwar eine moralische Schuld auf sich laden, macht sich aber nicht strafbar (bestr.; im wesentlichen übereinstimmend BGH 13, 162; Ddf NJW 1973, 2215 m. Anm. Geilen NJW 1974, 570 und Blei JA 1974, StR 31; Gallas JZ 1960, 649, 686; Dreher JR 1967, 269; Eser in Schönke-Schröder 17 vor § 211). Beispiele: A gibt seinem verschuldeten Freund F den Rat, sich zu erschießen. Da F keine Pistole hat, stellt ihm A seine eigene zur Verfügung. - Oder: A unternimmt nichts zur Rettung seiner Schwiegermutter, die sich vor seinen Augen in einen Teich stürzt (BGH 13, 162). Andere Grundsätze gelten nur dort, wo dem Selbstmord erkennbar kein verantwortlicher Wille zugrunde liegt, z. B. beim Selbstmord eines Geisteskranken, eines Betrunkenen oder eines Kindes sowie bei Kuizschluß- oder Panikreaktionen. In diesen Fällen kommt für Personen, die eine besondere Beistandspflicht hatten (Eltern, Vormund, Krankenpfleger usw.), eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Tötung durch Unterlassen in Betracht (s. o. Anm. 2). 4. Umstritten ist die Frage, ob die Nichthinderung eines Selbstmords als unterlassene Hilfeleistung gemäß § 330 c strafbar ist. Die Entscheidung hängt davon ab, ob man einen Selbstmordversuch als Unglücksfall ansieht. Während der Bundesgerichtshof diese Frage nach anfänglichem Schwanken bejaht (vgl. BGH 6, 147 ff.; 13, 162, 169), verhält sich das Schrifttum überwiegend ablehnend (vgl. Dreher JR 1967, 271; Cramer in SchönkeSchröder § 330 c Rn. 7 m. weit. Nachw.). Unstreitig sind lediglich die Fälle, in denen der Lebensmüde aufgrund einer Geisteskrankheit oder aus ähnlichen Gründen nicht in der Lage ist, die Tragweite seiner Entscheidung voll zu erfassen oder wenn Dritte durch den Selbstmordversuch gefährdet werden. Ein Unglücksfall liegt aber auch dann vor, wenn der Lebensmüde unter dem unmittelbaren Eindruck der akuten Todesgefahr seinen Entschluß ändert und gerettet werden möchte (vgl. Gallas JZ 1954, 642; 1960, 691; a. A. Cramerin Schönke-Schröder § 330 c Rn. 7). 5. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich beim einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmord, d. h. wenn zwei Personen gemeinsam aus dem Leben scheiden wollen, aber einer überlebt. Beispiele: a) A und seine Geliebte G beschließen, gemeinsam zu sterben. Wenn A das Gift besorgt, das beide gleichzeitig einnehmen, aber nur die G an den Folgen des Gifts stirbt, während
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A gerettet werden kann, so finden die Regeln über die Straflosigkkeit der Beihilfe zu fremdem Selbstmord Anwendung: A hat lediglich eine fremde Tat unterstützt. Das gilt aber nur, solange G jederzeit frei darüber bestimmen konnte, ob und wie sie ihrem Leben ein Ende machen wollte (BGH 19, 139; Eser in Schönke-Schröder § 216 Rn. 17; Maurach BT 41; Lackner § 216 Anm. 3). b) Wenn A für beide die entscheidende Todesursache setzt, z. B. durch öffnen des Gashahnes, während die G die Fenster abdichtet, liegt ebenfalls straflos Beihilfe zum Selbstmord vor: Die Tat stellt sich als gemeinsamer Selbstmord dar, bei dem sich die Beteiligten gegenseitig unterstützten. c) Anders ist zu entscheiden, wenn die Tatherrschaft, auf die es in diesem Zusammenhang entscheidend ankommt (BGH 19,135), allein bei A hegt, während die G nicht mehr tut, als den Tod zu erdulden, z. B. wenn A die G erschießt oder mit dem Messer tötet. In derart gelagerten Fällen ist A als Täter wegen Tötung auf Verlangen zu bestrafen (vgl. § 216).
d) Wenn A seiner Geliebten das Verlangen, getötet zu werden, durch Täuschung ablistet, etwa durch Vorspiegelung, er wolle ihr in den Tod nachfolgen, so liegt keine straflose Beihilfe zum Selbstmord vor. Es ist hierbei ohne Bedeutung, ob er die Tötungshandlung selbst vornimmt oder ob er die Tatausführung der G überläßt. Entscheidend ist, daß er sein Opfer unter Hervorrufung eines Motivirrtums in den Tod treibt. Für die Annahme strafloser Beihilfe fehlt es vor allem auch an der in subjektiver Beziehung erforderlichen Unterordnung des eigenen Willens unter den fremden Willen. Hier kann auch § 216 nicht eingreifen, denn wer das Verlangen, getötet zu werden, durch Täuschung provoziert, kann sich nicht auf die privilegierende Vorschrift berufen. 6. Für die besondere Problematik des Selbstmords in Vollzugsanstalten gelten folgende Grundsätze: Die durch den Freiheitsentzug entstandene seelische Belastung eines Inhaftierten führt für sich allein nicht schlechthin zur rechtlichen Unbeachtlichkeit der Willensbildung und Willensbetätigung. Wer sich unter dem Druck der besonderen Situation entschließt, aus dem Leben zu scheiden, um sich seiner strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen oder weil er die mit dem Verfahren verbundenen sozialen Nachteile nicht in Kauf nehmen will, hat Anspruch darauf, daß dieser Wille respektiert wird. Es liegt kein Unglücksfall i. S. von § 330 c vor; auch besteht für die Bediensteten der Vollzugsanstalt und die für das Verfahren zuständigen Organe der Justiz keine Garantenpflicht, den zum Suicid Entschlossenen gewaltsam von seinem Entschluß abzuhalten. Die einschlägigen Bestimmungen der UVollzO, des StVollzG und der landesrechtlichen Vorschriften über den unmittelbaren Zwang geben zwar das Recht, Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung eines Suicids zu ergreifen; dieses Recht endet jedoch an den Grenzen des Art. 1 Abs. 1 GG, der es verbietet, den aufgrund beachtenswerter Motivation emsthaft und eindeutig zum Suicid Entschlossenen gewaltsam an seinem Entschluß zu hindern. Keinesfalls sind die Anstaltsbediensteten in solchen Fällen wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Tötung durch pflichtwidriges Unterlassen strafbar, wenn sie den Willen zum Suicid respektieren. Die Fürsorgepflicht des Staates endet dort, wo eine Hilfeleistung von dem Betroffenen aufgrund einer rechtlich beachtlichen Willensentschließung eindeutig abgelehnt wird. Anders zu beurteilen sind dagegen die Fälle, in denen kein eindeutiger Wille zum Suicid vorliegt, es dem Inhaftierten vielmehr lediglich darum geht, durch Hungerstreik oder ähnliche spektakuläre Akte mit demonstrativem Charakter auf seine 677
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Lage aufmerksam zu machen, um seine Freiheit wiederzuerlangen oder sonstige Ziele zu erreichen. Hier wird der Suicidwille überlagert durch den Willen zum Weiterleben, wenngleich unter anderen Lebensverhältnissen (Fälle des sog. ambivalenten Suicids, vgl. Kühne NJW 1975, 675). Mit Rücksicht auf diese Uberlagerung in der Motivation und die durch staatliche Zwangsmaßnahmen begründete besondere Situation des Inhaftierten ergibt sich für diese Fallgruppe zunächst einerseits ein erweitertes Recht der Anstaltsverwaltung auf Maßnahmen zur Lebenserhaltung; andererseits haben die Bediensteten der Vollzugsanstalt auch eine erhöhte Pflicht, derartige Maßnahmen zu ergreifen. Die Rechtsgrundlage hierfür ergibt sich aus § 101 StVollzG, der gemäß § 178 StVollzG auch für Untersuchungsgefangene gilt. Nach dieser Vorschrift ist eine Zwangsemährung nur bei Lebensgefahr oder bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen zulässig; eine Verpflichtung hierzu besteht allerdings erst dann, wenn nicht mehr von einer freien Willensbestimmung des Gefangenen gesprochen werden kann oder wenn die Lebensgefahr in ein akutes Stadium eintritt. Bei Verletzung dieser Pflicht kann Strafbarkeit wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Tötung in Betracht kommen. Der Gesichtspunkt, daß der Inhaftierte sein Leben selbst durch rechtswidrige, in den Bereich der Nötigung reichende Handlungen aufs Spiel gesetzt hat, kann die Strafbarkeit trotz der Entsprechensklausel des § 13 Abs. 1 nicht ausschließen, sondern nur zu einer Strafmilderung nach § 13 Abs. 2 führen. Ein Ausschluß der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für den Tod des Inhaftierten ist jedoch dann anzunehmen, wenn sich im Laufe der Zeit nach Ablehnung aller erpresserischen Forderungen aus dem zunächst nur „ambivalenten" Suicidwillen ein rechtlich beachtlicher eindeutiger Wille zum Suicid entwickeln sollte. Zum Ganzen siehe auch Koblenz NJW 1977, 1461 (Fall Holger Meins) m. zust. Anm. Sonnen JA 1977, 484.
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Mord
(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. (2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet. 1. D e r Mordtatbestand in seiner derzeitigen Fassung berücksichtigt drei Fallgruppen, die wegen ihrer besonderen Verwerflichkeit eine erhöhte Sühne fordern. § 211 Abs. 2 enthält nicht nur normierte Regelfälle, sondern eine abschließende Regelung des Mordtatbestands (vgl. B G H 9, 385; 11, 139). Es ist somit nicht möglich, bei Vorliegen eines der im Gesetz genannten Mordmerkmale den Mordtatbestand als nicht erfüllt anzusehen mit der Begründung, die Tat erscheine bei Würdigung der Tatumstände und der Täterpersönlichkeit nicht so verwerflich, daß sie nur mit lebenslanger Freiheitsstrafe gesühnt werden könne. Mörder ist demnach jeder, der ein Mordmerkmal erfüllt. Eine darüber hinausgehende Würdigung von Tat und Täter ist unzulässig (vgl. B G H aaO. sowie G A 1971, 155; h. L.; a. A . Eser in Schönke-Schröder 6). Über die Problematik der lebenslangen Freiheitsstrafe s. § 38 Anm. 2, sowie BVerfG NJW 1977, 1525 m. Anm. Sonnen JA 1977,532.
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2. Die einzelnen Mordmerkmale: a) Aus Mordlust handelt, wer eine unnatürliche Freude an der Vernichtung eines Menschenlebens empfindet (BGH NJW 1953, 1440). b) Zur Befriedigung des Geschlechtstriebs tötet, wem die Tötung seines Opfers ein Mittel zur geschlechtlichen Befriedigung ist. Das ist vor allem dann der Fall, wenn der Täter gerade im Tötungsakt geschlechtliche Befriedigung sucht (sogenannter Lustmord), aber auch, wenn er den Tod will, um sich an der Leiche seines Opfers zu befriedigen (BGH 7, 353). Damit ist der Anwendungsbereich der Vorschrift jedoch nicht erschöpft. Nach BGH 19, 105 (ebenso Maurach BT 31) ist schlechthin jeder Sittlichkeitsverbrecher, der gegen sein Opfer Gewalt anwendet, um seine Geschlechtslust ungestört befriedigen zu können, und der dabei den Tod seines Opfers als mögliche Folge der Gewaltanwendung in Kauf nimmt, Mörder. c) Aus Habgier tötet, wer sich durch ein übertriebenes Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen leiten läßt. Hierbei ist unerheblich, ob der Täter einen tatsächüchen Gewinn erzielen oder nur Aufwendungen vermeiden will. Hauptanwendungsbereich der Vorschrift ist der sog. Raubmord. Ein Handeln aus Habgier kommt aber auch dann in Betracht, wenn der Täter sich seiner Unterhaltspflicht entziehen will (BGH 10,399). d) Ein sonstiger niedriger Beweggrund liegt vor, wenn das Tatmotiv nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verwerflich ist (BGH 3, 132; NJW 1967, 1141). Beispiele: Tötung des Ehegatten, um den Geliebten heiraten zu können (vgl. BGH 3, 132; LM Nr. 34), ungehemmte Selbstsucht, Rache, Haß. Bei Eifersucht kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an. Auch hier kann Tötung aus einem niedrigen Beweggrund angenommen werden, wenn der Täter sich zur Tat treiben ließ, ohne seinem Vernichtungswillen den erforderlichen und ihm möglichen Widerstand entgegengesetzt zu haben, mit dem er auch anderen Leidenschaften und Trieben zu begegnen hat (BGH 3, 132; 22,13). Aus niedrigen Beweggründen handelt schließlich auch, wer aus nichtigem Anlaß in einer plötzlichen Wutaufwallung und in jäh aufloderndem Vernichtungswillen seinem Gegner nach dem Leben trachtet (BGH NJW 1967, 1140). Subjektiv genügt, daß der Täter die Umstände kennt, die die Tat als besonders verwerflich erscheinen lassen. Nicht erforderlich ist dagegen, daß er selbst seine Beweggründe als niedrig beurteilt (BGH NJW 1967, 1140 m. weit. Nachw.). Zum Ganzen siehe auch Jakobs NJW 1969,489 und Hassemer JuS 1971, 626. e) Heimtückisch tötet, wer das Opfer unter bewußter Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit tötet (BGH 18, 88; 19, 321; 23, 120). Der Täter braucht diese Arg- und Wehrlosigkeit nicht selbst herbeigeführt oder bestärkt zu haben. Arg- und wehrlos ist daher auch, wer sich im Vertrauen darauf, daß ihm nichts geschehen werde, zum Schlafen niederlegt (BGH 23, 119 m. zust. Anm. Dreher MDR 1970, 248). Es ist auch nicht erforderlich, daß der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit absichtlich ausnutzt. Es genügt vielmehr, daß er die Umstände, die das Opfer als arg- und wehrlos erscheinen lassen, kennt und sich dennoch zur Tat entschließt (BGH NJW 1967, 1141). Arglos kann auch sein, wer allgemein Grund zur Vorsicht hat, deshalb eine Waffe trägt und sich bewachen läßt. Entscheidend ist, daß das Opfer zur Zeit der Tatbegehung von der Seite des Täters mit einem Angriff nicht gerechnet hat (BGH 18, 88 m. weit. Nachw.). Hieran fehlt es, wenn der Täter seinem Opfer in offen feindseliger Haltung entgegentritt, mag das Opfer auch zu diesem Zeitpunkt nicht gerade mit einem Angriff auf sein Leben gerechnet haben (BGH 20, 301). 679
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Hierher gehören alle die Fälle, in denen der entscheidenden Tötungshandlung bereits andere Tätlichkeiten geringerer Intensität vorausgegangen sind (BGH aaO.). Andererseits ist die Tat immer dann heimtückisch, wenn der Täter sein Opfer planmäßig in einen Hinterhalt lockt (BGH 22, 77; Lackner 7 b). Dies gilt selbst dann, wenn der Täter später, bei der eigentlichen Tatausführung, dem Opfer in offen feindseliger Haltung aus dem Hinterhalt entgegentritt und dem Opfer dadurch noch eine gewisse Abwehrmöglichkeit läßt (BGH aaO.). Heimtücke entfällt, wenn das Opfer gar nicht in der Lage ist, Argwohn zu schöpfen, wie dies bei Kleinkindern der Fall ist (BGH 4, 11; 8, 216). Hier kommt Heimtücke nur dann in Betracht, wenn der Täter entweder die Arglosigkeit der Aufsichtsperson mißbraucht oder wenn er besondere Vorkehrungen trifft, um die instinktive Abwehr des Kleinkinds auszuschalten, z. B. wenn er das zur Tötung bestimmte Gift unter die Nahrung des Kindes mischt (vgl. BGH 8, 216). Die Tötung eines Schlafenden gehört dagegen zu den klassischen Beispielen der Heimtücke: Wer sich zum Schlafen niederlegt, vertraut grundsätzlich darauf, daß ihm während des Schlafs nichts geschehen werde (BGH 23, 119 m. zust. Anm. Dreher MDR1970,248). Wieder anders ist die Rechtslage bei einem Bewußtlosen: Der Bewußtslose wird von einem Zustand übermannt, den er selbst nicht herbeigeführt hat und den er auch nicht zu hindern vermag. Er kann daher auch nicht in der Erwartung, ihm werde niemand etwas anhaben, getäuscht werden (BGH aaO.; a. A. Dreher MDR 1970, 248; Lackner 7 b: es genügt, wenn infolge Ausschaltung des Bewußtseins aktueller Argwohn fehlt). Weiter erforderlich ist, daß der Täter dem Opfer gegenüber eine feindselige Haltung einnimmt (BGH 9, 385). Hieran fehlt es, wenn der Täter glaubt, zum Besten seines Opfers zu handeln, z. B. wenn ein Ehemann seine schlafende, unheilbar kranke Frau nur aus Mitleid tötet, um sie von ihrem Leiden zu befreien. f) Grausam tötet, wer dem Opfer aus gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung besondere Schmerzen oder Qualen zufügt (BGH 3, 180). Das äußere Tatbild allein genügt nicht. Andererseits muß die gefühllose, unbarmherzige Gesinnung keine allgemeine Tätereigenschaft sein. Es genügt, wenn sie sich durch die Tat offenbart. Auf jeden Fall aber muß sich der Täter der Qual seines Opfers bewußt gewesen sein (BGH bei Daliinger MDR 1974, 14). Beispiele: Das Opfer wird zu Tode gefoltert. - Oder: Der Täter läßt sein Opfer verhungern oder verdursten. - War der Täter sich der Qual seines Opfers nicht bewußt, so liegt nur Totschlag vor. Die Umstände, die die Tat objektiv als grausam erscheinen lassen, können jedoch im Rahmen der §§ 212, 213 als straferschwerend berücksichtigt werden (vgl. BGH bei Daliinger MDR 1968, 895). g) Gemeingefährlich ist ein Mittel vor allem dann, wenn der Täter die Auswirkungen nicht in der Hand hat, z. B. wenn er sein Opfer mit einer Maschinenpistole auf offener Straße überfällt, so daß noch weitere Personen gefährdet werden. Hierher gehören auch Tötung durch Brand, Überschwemmung oder Verbreitung von Seuchen. h) Zur Verdeckung einer Straftat handelt z. B., wer einen Tatzeugen erschießt, von dem er Entdeckung oder Festnahme befürchtet, oder wenn ein flüchtiger Kraftfahrer auf einen ihm entgegentretenden Polizeibeamten zufährt und dabei billigend in Kauf nimmt, daß der Beamte stehen bleibt und tödlich überfahren wird (BGH 15, 291 sowie 2 StR 186/68 bei Martin DAR 1969, 141). In beiden Fällen kommt es dem Täter gerade auf den Tod des Opfers als Mittel zur Verdeckung einer Straftat an, da er von diesem Gefahr erwartet. Nicht hierher gehört dagegen der Fall, daß der Täter den Tod nicht als Mittel zur Flucht, sondern nur als Folge der Flucht in Kauf nimmt, z. B. wenn sich ein Kraftfahrer nach
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einem Unfall nicht um das schwer verletzte Opfer kümmert, um schneller fliehen zu können (BGH 7, 287). i) Zur Ermöglichung einer Straftat handelt z. B., wer einen Pförtner niederschlägt, um einen Einbruch begehen zu können. Wie bei der Verdeckungsabsicht muß es dem Täter gerade auf den Tod des Opfers zur Ermöglichung einer Straftat ankommen (BGH 23, 176, 194). In diesem Fall kommt die Tatbestandsalternative auch bei bedingtem Vorsatz in Betracht (BGH aaO.). 4. Die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme ist gerade beim Mordtatbestand von besonderer Bedeutung, da abgesehen von der in § 30 Abs. 1 getroffenen Regelung nur bei der Beihilfe gemäß §§ 27 Abs. 2, 49 Abs. 1 die Möglichkeit besteht, von der sonst zwingend vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe abzusehen. Im übrigen richtet sich die Strafbarkeit des Teilnehmers nach allgemeinen Grundsätzen, wobei die Anwendbarkeit von § 28 Abs. 1 oder 2 davon abhängt, in welchem Verhältnis die Tatbestände der vorsätzlichen Tötung untereinander stehen (vgl. Vorbem. II vor § 211). a) Folgt man der vom BGH in st. Rspr. vertretenen Ansicht, wonach Mord und Totschlag selbständige Tatbestände mit verschiedenem Unrechtsgehalt darstellen, so kann § 28 Abs. 2 für den gesamten Bereich des §211 keine Anwendung finden, da in diesem Fall alle Mordmerkmale strafbegründend sind, § 28 Abs. 2 sich jedoch nicht auf strafbegründende Merkmale bezieht. Nach Ansicht des BGH kommt es vielmehr entscheidend nach allgemeinen Akzessorietätsgrundsätzen darauf an, ob der Teilnehmer das Vorliegen der Mordmerkmale in der Person des Täters gekannt hat. Hat er sie gekannt, so belasten sie ihn; hat er sie nicht gekannt, so liegt ein Exzeß des Täters vor, für den er gemäß § 16 nicht haftet. Eine Strafmilderung nach § 28 Abs. 1 kommt bei Zugrundelegung der Auffassung des BGH nur für die täterbezogenen Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe, nicht jedoch bei den tatbezogenen Mordmerkmalen der 2. Gruppe in § 211 Abs. 2 in Betracht (vgl. BGH 22, 375; 23, 39, 103 ff.). Aber auch bei den Mordmerkmalen der 1. und 3. Gruppe greift die Strafmilderung des § 28 Abs. 1 nicht ein, wenn das den Täter belastende Mordmerkmal beim Teilnehmer zwar fehlt, dieser aber aus einem anderen niedrigen Beweggrund gehandelt hat (vgl. BGH 23, 39). b) Folgt man der hier im Anschluß an die h. L. im Schrifttum vertretenen Ansicht, wonach der Mord lediglich einen besonders verwerflichen Fall des Totschlags darstellt, so ist der Weg zu § 28 Abs. 2 offen. Die Mordmerkmale sind in diesem Fall nicht strafbegründend, sondern straferhöhend. Da § 28 Abs. 2 sich andererseits nur auf persönliche, d. h. täterbezogene Tatbestandsmerkmale bezieht, ist weiter zu prüfen, welche der Mordmerkmale tatbezogen und welche täterbezogen sind. aa) Tatbezogen sind solche Merkmale, die die Tat in ihrem objektiven Unrechtsgehalt typisieren. Hierher gehören die Mordmerkmale der 2. Gruppe (heimtückisch, grausam, mit gemeingefährlichen Mitteln). Für sie gilt § 28 Abs. 2 nicht. Entscheidend ist allein, ob der Teilnehmer das Vorliegen dieser Merkmale bei der Tatbegehung durch den Täter gekannt hat. Insoweit ergeben sich keine Abweichungen gegenüber der vom BGH vertretenen Ansicht. bb) Täterbezogen sind solche Merkmale, die in der Person des Täters begründet liegen. Hierher gehören alle Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe (aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonstigen niedrigen Beweggründen, zur
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Verdeckung oder Ermöglichung einer Straftat). Diese Merkmale unterliegen der akzessorietätsdurchbrechenden Wirkung des § 28 Abs. 2, d. h. sie belasten nur den Täter oder Teilnehmer, bei dem sie vorliegen. c)
Beispiele:
aa) A stiftet B an, X zu erschießen. B geht jedoch entgegen der ihm erteilten Empfehlung heimtückisch vor und macht sich dadurch des Mords schuldig. A kann hier, da er die qualifizierenden Umstände nicht gekannt hat, unbestritten nur wegen Anstiftung zum Totschlag bestraft werden. - Für den umgekehrten Fall gilt folgendes: Tötet B entgegen der Vorstellung des Anstifters A den X nicht mit einem gemeingefährlichen Mittel, sondern durch Erschießen, so hat sich B nur wegen Totschlags zu verantworten. Für A kommt neben Anstiftung zum Totschlag in Tateinheit noch versuchte Anstiftung zum Mord in Betracht. bb) Tötet B auf Veranlassung des A, um früher in den Genuß der Erbschaft zu kommen, seinen Erbonkel X, so ist B wegen Mords zu bestrafen, da er aus Habgier getötet hat. A ist nach der hier vertretenen Ansicht nur dann wegen Anstiftung zum Mord (§§ 211, 26) zu bestrafen, wenn er selbst aus Habgier oder einem anderen niedrigen Beweggrund gehandelt hat. Fehlen derartige Motive, so kommt nur Bestrafung aus § 212 in Betracht, und zwar auch dann, wenn A das Motiv des B gekannt hat. Die Begründung ergibt sich aus § 28 Abs. 2. Nach Ansicht des B G H kommt es dagegen entscheidend darauf an, ob A das Motiv des B gekannt hat. - Für den umgekehrten Fall gilt folgendes: Handelt nicht B, sondern A aus Habgier oder einem anderen niedrigen Beweggrund, so ist der Anstifter A auch dann aus § 211 zu bestrafen, wenn B nur einen Totschlag begangen hat. Die Begründung ergibt sich wiederum aus § 28 Abs. 2. Für den B G H ist dagegen der Weg zu § 211 verschlossen. A kann, obwohl er aus Habgier gehandelt hat, nur wegen Anstiftung zum Totschlag bestraft werden. Dies erscheint unbefriedigend. d) Aus dem Schrifttum siehe besonders die Aufsätze im Zusammenhang mit der Diskussion über die Verjährung der Mordbeihilfe (vgl. Schröder J Z 1969, 132; Maurach JuS 1969, 249). 5. Wegen der Konkurrenzen siehe Vorbem. III sowie § 18 Anm. 4.
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Totschlag
(1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen. 1. § 212 enthält den Grundtatbestand der vorsätzlichen Tötung (vgl. II vor § 211). 2. Die Tat kann auch durch Untertassen begangen werden, sofern eine Rechtspflicht bestand, den Erfolg zu verhindern, z. B. wenn eine Mutter ihr Kind verhungern läßt oder wenn ein Kraftfahrer sich nach einem von ihm verschuldeten Unfall nicht um die schwer verletzten Opfer kümmert.
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§ 213
3. Der Versuch ist strafbar. Beispiel: A schießt auf B, verfehlt diesen jedoch. - Oder: A schießt auf eine Person, die bereits tot ist, die er aber nur für bewußtlos hält. - Oder: A flieht nach einem Verkehrsunfall in der irrigen Vorstellung, der von ihm Angefahrene lebe noch. - Oder: A schleicht sich in die Wohnung des B ein, um diesem aufzulauern; B kommt jedoch nicht (vgl. BGH LM Nr. 22 zu § 211). 4. Die Rechtswidrigkeit kann entfallen durch Notwehr oder aufgrund einer Dienst- oder Berufspflicht, z. B. wenn ein Soldat im Krieg den Feind tötet, oder wenn ein Arzt während des Geburtsvorgangs das Kind tötet, um das Leben der Mutter zu retten (sog. Perforation, gerechtfertigt durch rechtfertigenden Notstand, § 34). Nicht gerechtfertigt ist jedoch die sogenannte Vernichtung lebensunwerten Lebens sowie die Sterbehilfe, soweit sie mit einer Lebensverkürzung durch positives Tun verbunden ist, z. B. durch Verabfolgung einer einschläfernden Spritze. Andererseits ist ein Arzt nicht verpflichtet, das Leben eines Todgeweihten gegen dessen Willen zu verlängern, wenn dem Patienten hierdurch nur weitere Schmerzen zugefügt werden, ohne daß die Aussicht auf Heilung besteht. Einzelheiten siehe Helgerth, Strafrechtliche Beurteilung der Sterbehilfe durch den Arzt, JR 1976, 45; Hiersche, Euthanasie, Probleme der Sterbehilfe, 1975 sowie Sax, Zur rechtl. Problematik der Sterbehilfe durch vorzeitigen Abbruch der Intensivbehandlung, JZ 1975, 137. 5. Rechtliche Schwierigkeiten bietet neuerdings die medizinische Möglichkeit einer Herztransplantation, die nur dann Erfolg verspricht, wenn das nicht grob vorgeschädigte Herz lebensfrisch dem Organismus des Spenders entnommen wird. Hierzu ist erforderlich, daß der Chirurg bereits vor dem Stillstand des zu übertragenden Herzens den Organismus des Spenders bestimmten Maßnahmen unterzieht, insbesondere für eine Durchströmung des Organismus mit der Herz-Lungen-Maschine sorgt. An dieser Stelle wirft sich die Frage auf, welche Kriterien für den Zeitpunkt des Todeseintritts entscheidend sind. Wollte man auf den Herz- und Atmungsstillstand abstellen, so wäre die Vornahme der Herztransplantation vorsätzliche Tötung. Um dieses - zweifellos unbefriedigende Ergebnis zu vermeiden, sind im medizinischen und juristischen Schrifttum Bestrebungen im Gang, entscheidend auf den sog. Gehimtod abzustellen, der im Gegensatz zum Herzund Atmungsstillstand medizinisch nicht mehr beeinflußt werden kann und sich dadurch auszeichnet, daß das Bewußtsein endgültig verloren gegangen ist (vgl. Lüttger JR 1971, 309; Dreher 3 vor § 211 m. weit. Nachw.). Zur Organtransplantation siehe auch § 168 Anm. 2 b. 6. Wegen der Konkurrenzen siehe Vorbem. III vor § 211.
§ 213
Minder schwerer Fall des Totschlags
War der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Mißhandlung oder schwere Beleidigung von dem Getöteten zum Zorne gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden, oder liegt sonst ein minder schwerer Fall vor, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. 1. § 213 bezieht sich nach der eindeutigen Fassung des Gesetzes nur auf den Totschlag, nicht auch auf den Mord (vgl. BGH, Urt. vom 29. 9. 1 9 7 0 - 1 StR 78/70). 683
§ 216
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
2. Der sog. Affekttotschlag gilt nur als Beispiel eines minder schweren Falles. Die Vorschrift enthält daher nur einen unbenannten Strafmilderungsgrund, der nach § 12 Abs. 3 den Verbrechenscharakter der Tat nicht berührt. Der Versuch ist daher auch ohne besondere Strafdrohung strafbar. 3. Die Vergünstigung der 1. Alt. wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß neben dem Zorn noch andere Motive zur Tat geführt haben, sofern der Zorn hierdurch nicht in eine unerhebliche Rolle verdrängt wurde (BGH NJW 1977, 2086). Zu den „sonstigen minder schweren Fällen" gehören insbesondere schuldmindernde Beweggründe wie Mitleid und Verzweiflung (vgl. § 135 Abs. 2 E 1962).
§§ 214, 215
§ 216
[aufgehoben]
Tötung auf Verlangen
(1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. § 216 enthält - anders als § 213 - einen benannten Strafmilderungsgrund. Die Tat ist daher kein Verbrechen, sondern nur ein Vergehen i. S. von § 12. Im Verhältnis zu §§ 211, 212 geht § 216 vor, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob man die Vorschrift mit der h. L. als einen Sonderfall des Totschlags oder mit der Rspr. (vgl. BGH 13, 165) als selbständigen Tatbestand ansieht (Sperrwirkung des milderen Gesetzes, vgl. III 2 vor § 52). 2. Der Täter muß durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tat bestimmt worden sein. Ein Verlangen ist dann „ausdrücklich", wenn der Wille, getötetiu werden, unmißverständlich (nicht notwendig durch Worte) zum Ausdruck kommt (vgl. BGH 13,162 m. Anm. Gallas JZ 1960, 649). 3. Die Vorschrift berücksichtigt eine notstandsähnliche Konfliktslage. Sie erfordert daher eine subjektive Interpretation an sich objektiv gefaßter Tatbestandsmerkmale. So ist die Frage, ob ein ernstliches und ausdrückliches Verlangen vorliegt, ausschließlich vom Standpunkt des Täters aus zu beurteilen (vgl. Maurach BT 40; Gallas JZ 1960, 649 ff.). 4. § 216 entfällt, wenn der Täter ohnehin zur Tat entschlossen war (vgl. RG 68, 307). Das gilt vor allem dann, wenn das Verlangen des Getöteten durch Täuschung erschlichen wurde. Im übrigen schaden andere Motive dem Täter nicht, sofern das Verlangen des Opfers für den Täter der hauptsächlich bestimmende Grund gewesen ist (vgl. Lange LK 2). Deshalb wird § 216 nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Täter dem Verlangen aus Habgier nachkommt (Sperrwirkung des milderen Gesetzes, vgl. Mäurach BT 41). 5. Das Verlangen muß sich auch auf die Tatausführung erstrecken. Hat das Opfer keine näheren Anordnungen getroffen, so richtet sich die Ausführung nach seinem mutmaßli-
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Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
§ 217
chen Willen (vgl. Lange LK 5). Eine grausame Tötung wird in der Regel nicht durch das Verlangen gedeckt sein. 6. Wegen Sterbehilfe siehe § 212 Anm. 4, wegen Beihilfe zum Selbstmord Vorbem. V vor §211. 7. Teilnehmer können sich nur dann auf § 216 berufen, wenn auch für sie das Verlangen des Getöteten ausschlaggebend war. 8. Über das Verhältnis zur Körperverletzung siehe Vorbem. III vor § 211.
§ 217
Kindestötung
(1) Eine Mutter, welche ihr nichteheliches Kind in oder gleich nach der Geburt tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. 1. Auch § 217 enthält nach h. L. (vgl. II vor § 211) entgegen der höchstrichterlichen Rspr. (vgl. BGH 1, 235) keinen Sondertatbestand, sondern eine unselbständige Privilegierung des Totschlags und geht nach dem Grundsatz der Sperrwirkung des milderen Gesetzes den §§ 211, 212 vor (vgl. III 2 vor § 52). Grund der Strafmilderung ist die seelische, oft auch wirtschaftliche Not der Frau i. V. mit dem Erregungszustand während der Geburt. 2. Nichtehelich ist jedes Kind, dessen Eltern weder z. Z. des Beischlafs noch z. Z. der Geburt verheiratet sind. Nichtehelich sind daher ungeachtet der Vermutung des § 1591 Abs. 2 BGB auch solche Kinder, die zwar ehelich gelten, aber aus einem „Seitensprung" der Frau hervorgegangen sind (vgl. Lange LK 3; Maurach BT 43). 3. Die Tötung muß in oder gleich nach der Geburt erfolgen. Die Geburt beginnt mit dem Beginn der Preßwehen. Bis dahin ist die Abtötung der Leibesfrucht nicht nach § 217, sondern nach § 218 als Abtreibung strafbar. Für die Zeit nach der Geburt ist maßgebend die durch die Geburt hervorgerufene Gemütsbewegung. Diese kann auch noch 1 - 2 Stunden nach der Geburt vorliegen (vgl. RG DR 1944, 148, 657; Eser in Schönke-Schröder 6). Die Privilegierung durch § 217 wird andererseits nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß bei der Täterin - entgegen der gesetzlichen Vermutung - keine psychische Ausnahmesituation vorgelegen hat, die Tat vielmehr planmäßig und mit voller Überlegung verübt wurde (vgl. RG 77, 247; Maurach BT 44; Lange LK 4 m. weit. Nachw.). 4. Die Tat kann wie jede andere Tötung auch durch Unterlassen begangen werden, z. B. wenn sich die Mutter mit Tötungsvorsatz nicht um die erforderliche ärztliche Betreuung des Kindes kümmert. 5. Zum Vorsatz gehört das Bewußtsein, daß das Kind nichtehelich ist. Irrtumsprobleme können sich ergeben, wenn eine verheiratete Frau von einem Kind entbunden wird, das einer außerehelichen Beiwohnung entstammt. 685
§ 218
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
a) Hält die Kindesmutter das Kind für nichtehelich, während es in Wirklichkeit ehelich ist, so kommt sie dem Gesetzeszweck entsprechend (s. o. 1) auch in diesem Fall in den Genuß der Privilegierung (vgl. § 16 Abs. 2). b) Umgekehrt entfällt die Privilegierung, wenn das Kind zwar objektiv nicht ehelich ist, die Mutter es aber irrig für ehelich hält. Sie ist in diesem Fall gemäß § 212, u. U. sogar gemäß § 211 zu bestrafen. Diese rein subjektive Auslegung des Tatbestandsmerkmals „nichtehelich" kann heute als h. L. bezeichnet werden (vgl. Dreher 2; Eser in Schönke-Schröder 11; Maurach BT 43; Welzel 287). Sie allein wird dem Grund der Privilegierung gerecht. Zum Ganzen siehe auch Küper, Zur irrigen Annahme von Strafmilderungsgründen, GA 1968, 321 ff. sowie Maihofer, Mayer-Festschr. 185. 6. Teilnehmer werden gemäß §§ 211, 212 bestraft, vgl. § 28 Abs. 2. Umgekehrt verliert die nichteheliche Mutter das Privileg des § 217 nicht dadurch, daß sie einen Dritten anstiftet, die Tat zu begehen. Sie ist auch in diesem Fall aus dem Strafrahmen des § 217 zu bestrafen. Die Begründung ergibt sich wiederum aus § 28 Abs. 2.
§ 218
Abbruch der Schwangerschaft
(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. gegen den Willen der Schwangeren handelt oder 2. leichtfertig die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung der Schwangeren verursacht. Das Gericht kann Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1 Nr. 2). (3) Begeht die Schwangere die Tat, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Die Schwangere ist nicht nach Satz 1 strafbar, wenn der Schwangerschaftsabbruch nach Beratung (§ 218 b Abs. 1 Nr. 1, 2) von einem Arzt vorgenommen worden ist und seit der Empfängnis nicht mehr als zweiundzwanzig Wochen verstrichen sind. Das Gericht kann von einer Bestrafung der Schwangeren nach Satz 1 absehen, wenn sie sich zur Zeit des Eingriffs in besonderer Bedrängnis befunden hat. (4) Der Versuch ist strafbar. Die Frau wird nicht wegen Versuchs bestraft. I. Vorbemerkungen 1. Die im Rahmen der Strafrechtsreform zunächst durch das 1. StrRG geänderten Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch wurden durch das 5. StrRG v. 18. 6. 1974 (BGBl. 1 1297) der lange geforderten grundlegenden Umgestaltung unterzogen. Von den
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§ 218
vier im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform beratenen Entwürfen, von denen im Ausschuß selbst keiner die nach den §§ 71, 54 Abs. 2 der BT-GeschäftsO erforderliche Mehrheit gefunden hatte, konnte sich schließlich in der Endphase der parlamentarischen Beratungen mit dem von den Fraktionen der SPD und der FDP vorgelegten Fristenmodell (BT-Drucks. 7/375) der Entwurf durchsetzen, der in seinem Reformanliegen am weitesten ging und deshalb in der kritischen Öffentlichkeit nicht nur auf Zustimmung, sondern auch vielfach auf entschiedene Ablehnung gestoßen ist. Im Vordergrund dieser Regelung stand die Vorschrift des § 218 a, wonach ein Abbruch der Schwangerschaft innerhalb von 12 Wochen nach der Empfängnis straflos bleiben sollte, wenn er mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommen wurde. Einer besonderen „Indikation" zur Rechtfertigung des Eingriffs hätte es innerhalb der ersten 12 Wochen nicht bedurft. Die in § 218 b als Rechtfertigungsgründe genannten Indikationen sollten nur für solche Eingriffe bedeutsam sein, die nach Ablauf von 12 Wochen, aber nicht später als 22 Wochen seit der Empfängnis vorgenommen werden. Als Indikationen wurden dabei nur die medizinische und die sog. genetische Indikation genannt. Auf die Einbeziehung der sog. ethischen Indikation und der sog. sozialen Indikation (Notlagenindikation) konnte dagegen im Hinblick auf die weitergehende Fristenlösung verzichtet werden. Ergänzt wurde das Fristenmodell durch die gegenüber der Strafdrohung des §218 subsidiären Sondertatbestände der §§ 218 c (Schwangerschaftsabbruch ohne vorausgegangene sozialpflegerische Unterrichtung und ärztliche Beratung der Schwangeren), 219 (Abbruch der Schwangerschaft ohne Begutachtung) und Art. 3 Abs. 1 des 5. StrRG, wonach ein Schwangerschaftsabbruch als Ordnungswidrigkeit geahndet werden kann, falls der Eingriff nicht in einem Krankenhaus oder einer Einrichtung durchgeführt wird, in der die notwendige medizinische Nachbehandlung gewährleistet ist. 2. Die Fristenlösung des 5. StrRG hat in der gerichtlichen Praxis keine Bedeutung erlangt. Auf Antrag der Landesregierung von Bad.-Wttbg hat das BVerfG bereits mit Beschluß v. 21. 6. 1974 durch einstweilige Anordnung entschieden, daß die in § 218 a enthaltene Fristenlösung bis zur endgültigen Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift nicht in Kraft tritt (vgl. BGBl. 11309 sowie NJW 1974, 1322). Die übrigen Vorschriften des 5. StrRG wurden durch diese Entscheidung nicht berührt. Das Urteil des BVerfG v. 25. 2. 1975 (BVerfGE 39, 1 ff. = NJW 1975, 573 ff.) brachte dann die endgültige Entscheidung gegen die Fristenlösung, die nach Ansicht des BVerfG mit dem Grundgesetz (Art. 2 Abs. 2 S. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG) insoweit unvereinbar und deshalb nichtig war, als sie den Schwangerschaftsabbruch auch dann von der Strafbarkeit ausnehmen wollte, wenn im Einzelfall keine Gründe vorliegen, die es rechtfertigen könnten, den grundsätzlich höherwertigen Lebensschutz für die Leibesfrucht hinter dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren ausnahmsweise zurücktreten zu lassen. Im Rahmen des weiteren Gesetzgebungsverfahrens kam es dann schließlich nach hartem parlamentarischem Ringen zu dem am 21. 6. 1976 in Kraft getretenen 15. StrRÄndG v. 18. 5. 1976 (BGBl. I 1213), und zwar auf der Grundlage der vom BVerfG angedeuteten erweiterten Indikationenlösung: Der Schwangerschaftsabbruch ist gerechtfertigt, wenn er von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommen wird und eine gesetzlich anerkannte Indikationslage gegeben ist. Als solche kommt nicht nur die schon früher anerkannte (nicht fristgebundene) medizinische Indikation in Betracht, sondern auch die genetische Indikation (bis zum Ablauf von 22 Wochen nach der Empfängnis), die kriminologische Indikation und die Notlagenindikation (jeweils bis zum Ablauf von 12 Wochen seit der Empfängnis). Eine besondere Bedeutung im Rahmen der Neuregelung kommt der sozialpflegerischen und medizinischen Beratung der Schwangeren vor Durchführung
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des Eingriffs zu. Eingriffe, die unter Verletzung dieser Schutzvorschriften durchgeführt werden, sind nach §§ 218 b, 219 strafbar, wobei die Schwangere selbst jedoch durch Schaffung persönlicher Strafausschließungsgründe aus dem Anwendungsbereich der Vorschriften herausgenommen wurde (vgl. §§ 218 b Abs. 1 S. 2, 219 Abs. 1 S. 2). Auch die übrigen Vorschriften enthalten mit Rücksicht auf die besondere Ausnahmesituation, in der sich die Schwangere befindet, für diese sehr weitgehende Privilegierungen (vgl. z. B. §§ 218 Abs. 3, Abs. 4 S. 2, 219 a Abs. 2, 219 c Abs. 2). 3. Die Tendenz der Neufassung geht eindeutig dahin, unter Beachtung der vom BVerfG aufgestellten Grundsätze einerseits den verfassungsrechtlich garantierten Schutz des werdenden Lebens durch Festhalten an der generellen Strafdrohung zu gewährleisten, andererseits aber dem Selbstbestimmungsrecht der durch eine Schwangerschaft belasteten Frau in extremen Ausnahmesituationen gebührend Rechnung zu tragen. Im Ergebnis wurde der Strafbarkeitsbereich gegenüber der früheren Rechtslage erheblich eingeschränkt. Strafbar sind nur noch die Fälle, in denen das Strafbarkeitsbedürfnis unabweisbar ist. Diese Grundkonzeption der Neuregelung ist auch kriminologisch zu begrüßen. Betrachtet man nämlich einerseits die außerordentlich hohe Zahl von illegalen Eingriffen und andererseits die verschwindend geringe Zahl der Fälle, die unter dem früheren Rechtszustand aufgeklärt und zur Aburteilung gebracht werden konnten, so zeigt sich, daß die Waffen des Strafrechts auf diesem Sektor offensichtlich nicht in der Lage sind, den erstrebten Schutz des werdenden Lebens in dem erhofften Maße zu gewährleisten. Diese Feststellung dürfte für sich allein allerdings nicht dazu führen, die strafrechtlichen Sanktionen abzubauen, da man sonst auch die Strafdrohung für andere Delikte mit ähnlich hohen Dunkelziffern beseitigen müßte. Der Abbau der strafrechtlichen Sanktionen läßt sich vielmehr nur dadurch rechtfertigen, daß die durch die Beschränkung legaler Eingriffe ausgelöste Gefahr illegaler Eingriffe und der damit verbundenen Risiken für die betroffene Frau schwerwiegender ist als der mit der Strafdrohung erreichte Erfolg. Nach den bisherigen Erfahrungen sind die Folgen einer ungewollten Schwangerschaft für die davon betroffene Frau in vielen Fällen offensichtlich so schwerwiegend, daß der Abbruch der Schwangerschaft als einziger Ausweg aus der Konfliktsituation erscheint. Die der betroffenen Frau bekannte Strafdrohung ist in diesen Fällen dann zwar nicht in der Lage, die mit ihr beabsichtigte psychische Sperre aufzubauen; sie bewirkt aber, daß die betroffene Frau allen gesundheitlichen Gefahren und sonstigen Belastungen und Risiken ausgesetzt wird, mit der jeder illegale Eingriff erfahrungsgemäß zwangsläufig verbunden ist. Es muß davon ausgegangen werden, daß in den letzten Jahren etwa jährlich 100 Frauen an den Folgen illegaler Eingriffe sterben mußten. Anliegen des Gesetzgebers ist es, einerseits diese Gefahren zu eliminieren, andererseits aber durch „flankierende Maßnahmen" die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche überhaupt einzudämmen. Zu diesen Maßnahmen gehören insbesondere das LeistungsverbesserungsG v. 19. 12. 1973 (BGBl. I 1925) und das am 1. 12. 1975 in Kraft getretene Strafrechtsreform-ErgänzungsG v. 28. 8. 1975 (BGBl. I 2289). Es war nicht das Ziel der Reform, die bisherige Zahl der illegalen Eingriffe lediglich durch eine entsprechende oder gar noch höhere Zahl legaler Eingriffe zu ersetzen. Erklärtes Ziel ist es vielmehr, die Rate der illegalen Eingriffe wegen der mit ihnen verbundenen Gefahren zu senken und der Schwangeren durch Teilrücknahme der Strafdrohung, verbunden mit einer umfassenden verbindlichen Beratung, eine verantwortliche Eigenentscheidung zu ermöglichen. 4. Eine gesetzliche Pflicht zur Mitwirkung an einem Schwangerschaftsabbruch besteht nur, wenn die Mitwirkung notwendig ist, um von der Frau eine anders nicht abwendbare
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Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsbeschädigung abzuwenden (Art. 2 Abs. 2 des 5. StrRG). Siehe hierzu ausführlich B. Maier NJW 1974, 1404. 5. Aus den Gesetzesmaterialien zum 5. StrRG siehe vor allem den Bericht des BT-Sonderausschusses für die Strafrechtsreform v. 24. 4. 1974 (BT-Drucks. 7/1981 [neu]), in dem auch die abweichenden Entwürfe erörtert werden (BT-Drucks. 7/443, 7/554 und 7/561), außerdem die Ausschußprotokolle, insbesondere die Gutachten und Diskussionsbeiträge des schon in der VI. Legislaturperiode durchgeführten Hearings (AP VI S. 2141-2368), die Generaldebatte am 26. 9. 1973 in Bamberg (AP VII S. 669 ff.), die Ausführungen von Horstkotte in der Sitzung am 13. 2. 1974 in Bonn (AP VIIS. 1469 ff.) sowie die Diskussionsbeiträge in der Sitzung am 21. 2. 1974 in Bonn (AP VIIS. 1518 ff.). Aus den Gesetzesmaterialien zum 15. StrRÄndG siehe besonders den SPD/FDP-Entwurf (BT-Drucks. 7/4128), den Gegenentwurf der Opposition (BT-Drucks. 7/4211) und die Berichte des Sonderausschusses (BT-Drucks. 7/1982-1984, 7/4696). Schrifttum: Baumann, das Abtreibungsverbot des § 218, 1971; - ders., Zum angeblichen Schluß der Debatte um § 218 StGB, ZRP 1974, 283; - Beulke, Zur Reform des Schwangerschaftsabbruchs durch das 15. StrRÄndG, FamRZ 1976, 596; - Fezer, Zum gegenwärtigen Stand der Reform des § 218, GA 1974, 65; - Gössel, Abtreibung als Verwaltungsunrecht?, JR 1976, 1; - Henke, Ergänzende Maßnahmen zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, NJW 1976, 1773; - Arthur Kaufmann, Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, dargestellt am Problem des Schwangerschaftsabbruchs, Maurach-Festschr., 1972, S. 327 ff.; - Koffka, Zur Reform des Abtreibungsrechts, Heinitz-Festschr., 1972, S. 343 ff.; - Kriele, § 218 StGB nach dem Urteil des BVerfG, ZRP 1975, 73; - Lackner, Die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, NJW 1976, 1233; - Lang-Hinrichsen, Zum strafrechtlichen Rechtsschutz des Lebens vor der Geburt, JR 1970, 365; - ders., Betrachtungen zur sog. ethischen Indikation der Schwangerschaftsunterbrechung, JZ 1963, 721; - Laufhütte/Wilkitzki, Zur Reform der Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch, JZ 1976, 329; - Lüttger, Der Beginn des Lebens und das Strafrecht, JR 1969, 445; - Müller-Emmert, Die Vorschriften des 15. StrÄndG über den Schwangerschaftsabbruch, DRiZ 1976, 164; - Rüpke, Persönlichkeitsrecht und Schwangerschaftsunterbrechung, ZRP 1974, 73; - Fr.-Chr. Schroeder, Abtreibung - Reform des § 218, 1972; - R. Schmitt, Überlegungen zur Reform des Abtreibungsstrafrechts, JZ 1975, 356; - ders., Von der Aufgabe, Gesetze zu machen; ein Beitrag zur Geschichte der Reform unseres Abtreibungsstrafrechts. FamRZ 1976, 595; Schreiber, Der Spielraum des Gesetzgebers bei der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, FamRZ 1975, 669; - Seebald, Der Strafminderungsgrund der festgestellten Bedrängnis als Voraussetzung für einen relativ legalen Schwangerschaftsabbruch, GA 1976, 65; - Simson-Geerds, Straftaten .gegen die Person usw. in rechtsvergleichender Sicht, 1969; - Spaemann, Am Ende der Debatte um § 218 StGB, ZRP 1974, 49, 114; Trommsdorff-Gerlich, Die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs in der historischen Entwicklung, Anlage zur Sitzungsniederschrift über die 15. Sitzung des BT-Sonderausschusses für die Strafrechtsreform am 26. 9. 1973 in Bamberg (AP VII S. 685 ff.); Ulrich Wolff, Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Sicht, 1973. II. Zu § 2 1 8 Abs. 1: 1. Geschütztes Rechtsgut ist das ungeborene menschliche Leben. Daneben schützt die Vorschrift auch die Gesundheit der Schwangeren (vgl. Eser in Schönke-Schröder 22 vor
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§ 218
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
§ 218; Lackner 1). In Übereinstimmung mit der h. L. zu § 218 aF (vgl. Lay JZ 1970, 465; Lüttger JR 1969, 445; JR 1970, 441) stellt § 219 d jetzt klar, daß das befruchtete Ei erst von der Nidation an strafrechtlich geschützt ist. Die Nidation des befruchteten Eies in die Gebärmutter ist im statistischen Durchschnitt spätestens nach 13 Tagen abgeschlossen. Sie bedeutet eine wesentliche Zäsur in der Entwicklung des Embryos, da von diesem Zeitpunkt an die Existenz- und Entwicklungsfähigkeit gegenüber den ersten Tagen nach der Empfängnis um ein Vielfaches erhöht ist (vgl. Horstkotte, AP VII S. 1295 ff.). Die Anwendung von Mitteln und Methoden, welche die Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter verhindern (z. B. die „Pille-danach"), ist daher noch keine strafrechtlich relevante Handlung, wohl aber alle Mittel und Methoden, die darauf abzielen, ein bereits eingenistetes Ei wieder zu „entnisten". 2. Die Tathandlung besteht im Abbruch der Schwangerschaft. Unerheblich ist, ob der Täter die Leibesfrucht im Mutterleib, durch vorzeitiges Loslösen vom Mutterleib oder zusammen mit dem Leben der werdenden Mutter vernichtet. Es ist also nicht erforderlich, daß die Schwangere den Eingriff überlebt (BGH 11, 15). Hieraus folgt zunächst, daß § 218 Abs. 1 in Tateinheit mit vorsätzlicher oder fahrlässiger Tötung treten kann (BGH aaO. m. abl. Anm. Jescheck JZ 1958, 749). Die weitere Konsequenz besteht darin, daß sich auch ein mißglückter Selbstmordversuch der Schwangeren als Schwangerschaftsabbruch darstellen kann, sofern die Schwangere mit entsprechendem Vorsatz handelt (BGH aaO.; Dreher 5; Lackner 1 b; Maurach BT 58; Rudolphi SK 7 m. weit. Nachw.; str.). 3. Der Übergang zu den Tötungsdelikten (§§ 211-217) beginnt mit dem Einsetzen der Preßwehen. Von diesem Zeitpunkt an ist die Strafbarkeit nicht mehr nach § 218, sondern nach den §§ 211 ff. zu beurteilen. Noch zum Anwendungsbereich des § 218 gehört jedoch der Fall, daß das Kind an den Folgen einer durch einen illegalen Eingriff ausgelösten Frühgeburt stirbt (vgl. BGH 10,5; Lüttger JR 1971,133,138). 4. Täter eines Vergehens nach Abs. 1 kann nicht nur ein Laie, sondern auch ein Arzt sein, sofern nicht die rechtfertigenden Voraussetzungen des § 218 a vorliegen. Die Strafbarkeit der Schwangeren richtet sich dagegen ausschließlich nach Abs. 3, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie den Eingriff selbst vornimmt oder von einem Dritten vornehmen läßt (§ 28 Abs. 2). Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsalz (bedingter genügt) muß sich insbesondere auf das Absterben der Leibesfrucht beziehen. Die irrige Annahme einer rechtfertigenden Situation begründet einen nach allgemeinen Grundsätzen zu behandelnden Verbotsirrtum (vgl. § 17 Anm. 3 d). 5. Abs. 2 enthält Regelbeispiele für besonders schwere Falle. Ein besonders schwerer Fall kann außerdem dann angenommen werden, wenn der Täter gewerbsmäßig handelt (vgl. Lackner NJW 1976, 1233, 1236 m. Nachw.). Über gewerbsmäßig siehe § 260 Anm. 3. Nicht hierher gehört allerdings der Fall, daß sich jemand aus gerechtfertigten Schwangerschaftsabbrüchen eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle verschaffen möchte. Zu den beiden Regelbeispielen: a) Gegen den Willen der Schwangeren wird der Eingriff vorgenommen, wenn die Schwangere ihren entgegenstehenden Willen ausdrücklich oder durch schlüssiges Verhal-
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Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
§ 218
ten erkennbar zum Ausdruck gebracht hat. Eine Strafschärfung nach Abs. 2 Nr. 1 ist insbesondere dann geboten, wenn der entgegenstehende Wille der Schwangeren durch Gewalt, Drohung oder Täuschung ausgeschaltet wird. Der entgegenstehende Wille der Schwangeren ist grundsätzlich auch dann zu beachten, wenn die Schwangere infolge ihres jugendlichen Alters oder aus sonstigen Gründen nicht voll geschäftsfähig ist. b) Der Strafschärfungsgrund der Nr. 2 ist der in den §§ 113 Abs. 2 Nr. 2, 121 Abs. 3 Nr. 3 und 125 a Nr. 3 enthaltenen Regelung nachgebildet und stellt auf die Folgen der Tat für die Schwangere ab. Die (konkrete) Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung kann insbesondere dann eintreten, wenn der Eingriff von einem Laienabtreiber vorgenommen wird (zu weitgehend jedoch Ber. S. 13 BT-Drucks. 7/1981, wonach bei einem Laienabtreiber die Voraussetzungen der Nr. 2 „regelmäßig" gegeben sein sollen). Aber auch bei einem Arzt läßt sich nicht ausschließen, daß er die Schwangere durch einen Kunstfehler bei Vornahme des Eingriffs oder durch mangelhafte Betreuung nach dem Eingriff in akute Gefahr bringt. Aus dem Fehlen eines Hinweises auf § 224 ergibt sich, daß dessen Voraussetzungen - anders als bei den §§ 113 Abs. 2 Nr. 2, 121 Abs. 3 Nr. 3, 125 a Nr. 3 und § 250 Abs. 1 Nr. 3 - nicht vorüegen müssen. Eine Strafschärfung nach § 218 Abs. 2 Nr. 2 ist vielmehr schon dann indiziert, wenn die Schwangere in einen langwierigen, qualvollen oder ihre Leistungsfähigkeit schwer beeinträchtigenden physischen oder psychischen Krankheitszustand gerät (vgl. Dreher 16; Lackner 7 b; Rudolphi SK 21). Der Täter handelt dabei leichtfertig, wenn er sich „grob fahrlässig", d. h. in besonders leichtsinniger oder gleichgültiger Weise über die naheliegende Möglichkeit einer Gefahr für Leib oder Leben der Schwangeren hinwegsetzt, z. B. wenn er sich seiner mangelnden Erfahrung bewußt ist oder nicht über die zur Vornahme des Eingriffs und zur Durchführung der Nachbehandlung erforderlichen Einrichtungen verfügt. c) Über Bedeutung und Ausgestaltung der Führungsaufsicht, die nach Abs. 2 S. 2 in allen Fällen einer Verurteilung nach § 218 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 angeordnet werden kann, siehe §§ 6 8 - 6 8 g. Die Anordnung steht im Ermessen des Gerichts. Sie kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Gefahr weiterer einschlägiger Straftaten besteht. 6. Abs. 3 S. 1 enthält einen der Regelung des § 28 Abs. 2 unterliegenden persönlichen Strafmilderungsgrund, der die besondere Konfliktssituation der Schwangeren berücksichtigt und dieser ohne Rücksicht darauf zugute kommt, ob sie den Eingriff selbst vornimmt oder durch einen Dritten vornehmen läßt. Auf die ausdrückliche Erwähnung der früher besonders hervorgehobenen Tatbestandsaltemative „Zulassen des Schwangerschaftsabbruchs" wurde verzichtet, da es sich hierbei lediglich um eine besondere Modalität täterschaftlicher Begehung handelt. Die Schwangere, die den Schwangerschaftsabbruch zuläßt, nachdem sie ihn selbst veranlaßt hat, handelt hierbei regelmäßig im Besitz der Tatherrschaft, so daß sie nicht nur Gehilfin, sondern selbst Täterin ist (vgl. Hprstkotte AP VHS. 1519). 7. Abs. 3 S. 2, wonach die Schwangere straflos bleibt, wenn sie einen - nicht gerechtfertigten - Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten 22 Wochen der Schwangerschaft von einem Arzt nach Beratung durchführen läßt, enthält einen persönlichen Strafausschließungsgrund. Entgegen Laufhütte/Wilkitzki JZ 1976, 330 und Müller/Emmert DRiZ 1976, 165 handelt es sich bei dieser Regelung um ein verfassungsrechtlich bedenkliches Rudiment der vom BVerfG für verfassungswidrig erklärten Fristenlösung des 5. StrRG (vgl. Gössel JR 1976, 5; Lackner 4 b sowie NJW 1976, 1233, 1242; Rudolphi 691
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SK 26; R. Schmitt FamRZ 1976, 595). Der Arzt, der den Eingriff durchführt, muß keine deutsche Approbation besitzen; unerheblich ist auch, ob der Eingriff im In- oder Ausland durchgeführt wird (übereinstimmend Lackner 4 b; Laufhütte/Wilkitzki JZ 1976, 329, 330; a. A. Rudolphi SK 26). 8. Die Bedrängnisklausel des Abs. 3 S. 3, die dem Gericht die Möglichkeit gibt, bei der Schwangeren von Strafe abzusehen, wenn sie sich in einer „besonderen Bedrängnis" befunden hat (fakultativer persönlicher Strafausschließungsgrund oder Strafeinschränkungsgrund, vgl. D 3 vor § 1), erhält eine praktische Bedeutung nur für solche Fälle, in denen sich die Schwangere weder auf eine rechtfertigende Notlagenindikation nach § 218 a Abs. 2 Nr. 3 noch auf den persönlichen Strafausschließungsgrund des § 218 Abs. 3 S. 2 berufen kann. An die „besondere Bedrängnis" sind strenge Anforderungen zu stellen. Die üblicherweise mit jeder unerwünschten Schwangerschaft verbundene Konfliktslage reicht nicht aus. Erforderlich sind vielmehr außergewöhnliche Umstände, die es der Schwangeren unmöglich, zumindest aber unzumutbar machen, das zu erwartende Kind auszutragen oder die Schwangerschaft nach entsprechender Beratung innerhalb der ersten 22 Wochen der Schwangerschaft abbrechen zu lassen. Beispiele: Eine Schwangere wird nach Ablauf der 22-Wochenfrist von ihrem Lebensgefährten unter ungünstigen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen im Stich gelassen; - oder: Die Voraussetzungen einer rechtfertigenden Notlagenindikation (§ 218 a Abs. 2 Nr. 3) liegen zwar vor, die Schwangere findet aber weder innerhalb der 12-Wochenfrist des § 218 a Abs. 3 noch innerhalb der 22-Wochenfrist des § 218 Abs. 3 S. 2 einen Arzt, der zu einem Schwangerschaftsabbruch bereit wäre, so daß sie sich schließlich zwecks Vornahme des Eingriffs einer gewerbsmäßigen Abtreiberin anvertraut; - oder: Die Schwangere findet zwar noch innerhalb der 22-Wochenfrist des § 218 Abs. 3 S. 2 einen zum Abbruch der Schwangerschaft bereiten Arzt, versäumt aber die nach § 2 1 8 b Abs. 1 Nr. 1, 2 erforderliche Beratung. Zur prozessualen Seite des Absehens von Strafe siehe D 5 vor § 1. 9. Die Strafbarkeit der Teilnahme richtet sich nach allgemeinen Grundsätzen. a) Die Schwangere, die den Eingriff durch einen Dritten vornehmen läßt, ist in der Regel Mittäterin (vgl. Anm. 6 a. E.), wobei sich ihre Strafbarkeit ausschließlich aus dem ermäßigten Strafrahmen des Abs. 3 S. 1 ergibt (vgl. § 28 Abs. 2). Die Teilnahme an der Tat des Dritten wird durch die eigene Täterschaft konsumiert. b) Außenstehende, die den Eingriff durch Einwirkung auf die Schwangere oder den Abtreiber veranlaßt oder gefördert haben, kommen je nach den Umständen des Einzelfalls als Mittäter, Anstifter oder Gehilfen in Betracht. Ihre Strafbarkeit ergibt sich grundsätzlich aus Abs. 1, gegebenenfalls aber auch aus Abs. 2. Mittäterschaft liegt z. B. vor, wenn der Eingriff von mehreren Personen in arbeitsteiligem Zusammenwirken vorgenommen wird. Nur Beihilfe liegt dagegen vor, wenn jemand z. B. einer Schwangeren die Anschrift eines illegalen Abtreibers benennt oder ihr die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung stellt. Auch die Bereitstellung der zur Vornahme des illegalen Eingriffs erforderlichen Räumlichkeiten und Einrichtungen kann sich als Beihilfe darstellen (vgl. Horstkotte AP VIIS. 1520). c) Beihilfe durch Unterlassen ist nach allgemeinen Grundsätzen nur dann strafbar, wenn eine besondere Rechtspflicht zur Verhinderung des Eingriffs besteht. Dies trifft z. B. für 692
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den Ehemann und den gesetzlichen Vertreter der Schwangeren zu, u. U. auch für den Vermieter, der aufgrund seiner Raumherrschaft verpflichtet ist, dafür zu sorgen, daß die seinem unmittelbaren Einfluß unterliegenden Räumlichkeiten nicht zur Begehung strafbarer Handlungen mißbraucht werden (anders allerdings, wenn der Vermieter aufgrund der bestehenden Verträge weder tatsächlich noch rechtlich in der Lage ist, auf das Treiben in den von ihm vermieteten Räumlichkeiten einzuwirken). 10. Der Versuch ist nach Abs. 4 nur in den Fällen des Abs. 1 und 2 strafbar, nicht auch in den Fällen des Abs. 3. Die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs richtet sich nach allgemeinen Kriterien (vgl. § 23 Anm. 3). Die versuchte Teilnahme (Anstiftung oder Beihilfe) ist als solche nicht strafbar, da die Tat sich bereits seit der Neufassung der Materie durch das 1. StrRG nur noch als Vergehen darstellt. Zu beachten ist jedoch § 219 c, wonach derjenige, der einer Schwangeren oder ihren Verbindungspersonen ein zum Schwangerschaftsabbruch geeignetes Mittel verschafft, auch dann strafbar ist, wenn das Mittel nicht zum Einsatz kommt (abstraktes Gefährdungsdelikt). 11. Konkurrenzen: a) Bei vorsätzlicher Tötung einer Schwangeren kommt Tateinheit zwischen §§ 211 ff. und § 218 Abs. 1 in Betracht, wenn der Täter sich bewußt ist, daß er mit der Schwangeren zugleich auch deren Leibesfrucht tötet (vgl. BGH 11,15). b) Die mit jedem Schwangerschaftsabbruch notwendig verbundene vorsätzliche Körperverletzung wird als sog. Begleittat konsumiert (BGH 10, 312). Ist die Folge des Eingriffs eine schwere Körperverletzung i. S. von § 224 (z. B. wenn nach einem nicht fachgerecht vorgenommenen Eingriff die Gebärmutter entfernt werden muß), so darf die in § 224 vorgesehene Mindeststrafe nicht unterschritten werden (BGH aaO.). c) Stirbt die Schwangere an den Folgen eines nicht fachgerecht vorgenommenen Eingriffs, steht § 218 Abs. 1 bzw. § 218 Abs. 2 in Tateinheit mit § 222. Die in § 226 vorgesehene Mindeststrafe darf dabei nicht unterschritten werden (BGH 15, 345). d) Wirtfein Schwangerschaftsabbruch durch Herbeiführung einer Frühgeburt bewirkt, so gilt für das Verhältnis zu den Tötungsdelikten folgendes: aa) Stirbt das Kind unmittelbar nach der Geburt, weil es nicht lebensfähig ist, so erfolgt die Bestrafung nur aus § 218 (vgl. BGH 10,5). bb) Ist das Kind entgegen der Vorstellung des Täters lebensfähig und nimmt der Täter daraufhin noch weitere Handlungen vor, die dann schließlich den Tod des Kindes bewirken, so erfolgt Bestrafung wegen versuchter Abtreibung in Tatmehrheit mit Mord oder Totschlag (vgl. BGH 13,21). cc) Ist das Kind nicht lebensfähig und nimmt der Täter gleichwohl „sicherheitshalber" weitere Handlungen vor, die den Tod beschleunigen, so erfolgt Bestrafung wegen vollendeten Abbruchs der Schwangerschaft (§ 218 Abs. 1 oder Abs. 2) in Tateinheit mit vollendetem Mord oder Totschlag (vgl. BGH 10, 291). e) Wird die Schwangere durch Gewalt oder Drohung gezwungen, den Abbruch ihrer Schwangerschaft zuzulassen, so steht § 218 in Tateinheit mit § 240 (BGH GA 1966, 339). f) Beihilfe zu § 218 kann mit § 219 c in Tateinheit stehen. 693
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Indikation zum Schwangerschaftsabbruch
(1) Der Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt ist nicht nach § 218 strafbar, wenn 1. die Schwangere einwilligt und 2. der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann. (2) Die Voraussetzungen des Absatzes 1 Nr. 2 gelten auch als erfüllt, wenn nach ärztlicher Erkenntnis 1. dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann, 2. an der Schwangeren eine rechtswidrige Tat nach den §§ 176 bis 179 begangen worden ist und dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß die Schwangerschaft auf der Tat beruht, oder 3. der Abbruch der Schwangerschaft sonst angezeigt ist, um von der Schwangeren die Gefahr einer Notlage abzuwenden, die a) so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann, und b) nicht auf eine andere für die Schwangere zumutbare Weise abgewendet werden kann. (3) In den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1 dürfen seit der Empfängnis nicht mehr als zweiundzwanzig Wochen, in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 2 und 3 nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sein.
1. Die durch das 15. StrRÄndG an dieser Stelle zusammengefaßten Indikationen sind Rechtfertigungsgriinde, d. h. typisierte Erlaubnistatbestände, die nach dem Prinzip der Güter- und Interessenabwägung in bestimmten Konfliktslagen einen Schwangerschaftsabbruch nicht als rechtswidrig erscheinen lassen (h. A., vgl. Rudolphi SK 1 m. weit. Nadhw.). Das Verhältnis der einzelnen Indikationen untereinander ist unklar. Das Gesetz selbst behandelt, wie sich aus der Eingangsformulierung des Abs. 2 ergibt, die in Abs. 2 Nr. 1 bis 3 geregelten Indikationen mit Hilfe einer rechtssystematisch bedenklichen Fiktion als Unterfälle der medizinischen Indikation. Dieser kommt damit formell die Rolle einer „Einheits-" oder „Oberindikation" zu, obwohl sie dies von der Sache her keinesfalls ist, da Fälle denkbar sind, die unter eine der Indikationen des Abs. 2 fallen, ohne daß gleichzeitig alle Voraussetzungen der medizinischen Indikation des Abs. 1 Nr. 2 vorliegen (kritisch zu dieser Gesetzessystematik u. a. auch Beulke F a m R Z 1976, 596, 598; Lackner
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1 sowie in NJW 1976, 1233, 1236; R. Schmitt FamRZ 1976, 595 f.). Sachlich richtiger wäre es gewesen, die sich nur teilweise überschneidenden Indikationen selbständig nebeneinander zu stellen oder die Notlagenindikation des Abs. 2 Nr. 3 zur „Oberindikation" zu erheben (vgl. R. Schmitt aaO.). Zum Ganzen siehe auch Sax JZ 1977, 326. 2. Während die medizinische Indikation des Abs. 1 den erforderlichen Eingriff zeitlich unbegrenzt zuläßt, sieht Abs. 3 für die drei rechtfertigenden Indikationslagen des Abs. 2 zeitliche Beschränkungen vor: 22 Wochen seit der Empfängnis für die genetische ( = kindliche, eugenische oder embryopathische) Indikation des Abs. 2 Nr. 1,12 Wochen seit der Empfängnis für die kriminologische ( = ethische) Indikation des Abs. 2 Nr. 2 und für die Notlagenindikation des Abs. 2 Nr. 3. Ist ein Eingriff mehrfach indiziert (z. B. wenn bei akuter Selbstmordgefahr aufgrund einer durch die Schwangerschaft eingetretenen Notlage sowohl die Voraussetzungen des Abs. 1 als auch die des Abs. 2 Nr. 3 vorliegen), so geht die für die Schwangere günstigere Indikationslage vor. Ein Irrtum über die Dauer der bestehenden Schwangerschaft und die hieraus resultierende Zulässigkeit des Eingriffs in den Fällen des Abs. 2 ist ein den Rechtsfolgen des § 16 Abs. 1 unterliegender Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds (vgl. § 16 Anm. 3 e). 3. Allgemeine Voraussetzungen: a) Der Eingriff muß von einem Arzt vorgenommen werden. Eine Beschränkung auf bestimmte Fachärzte (z. B. Gynäkologen oder Chirurgen) ist nicht vorgeschrieben, vielmehr ist jeder Arzt zur Vornahme des Eingriffs befugt, sofem er über die erforderliche Approbation verfügt. Der Gesetzgeber nimmt dabei in Kauf, daß Leib und Leben der Schwangeren durch die Vornahme des Eingriffs seitens eines nicht spezialisierten Arztes gefährdet werden. Strafrechtliche Sanktionen greifen in diesem Fall erst dann ein, wenn die Patientin in ihrer Gesundheit tatsächlich beeinträchtigt wird. In diesem Fall hat sich der Arzt unter dem Gesichtspunkt der fahrlässigen Tötung oder der fahrlässigen Körperverletzung zu verantworten (Ber. S. 14 BT-Drucks. 7/1981). Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch Art. 3 des 5. StrRG, wonach die Schwangerschaft nur in einem Krankenhaus oder in einer hierfür zugelassenen Einrichtung abgebrochen werden darf, in der die notwendige medizinische Nachbehandlung gewährleistet ist (Abs. 1). Verstöße hiergegen können nach Abs. 2 als Ordnungswidrigkeiten mit einer Geldbuße bis zu 10 000,- DM geahndet werden. Dagegen wäre es verfehlt, einem gemäß § 218 a indizierten Schwangerschaftsabbruch nur deshalb die rechtfertigende Wirkung zu versagen, weil er unter Gefährdung der Schwangeren nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wurde (vgl. S. 18 BT-Drucks. VI/3434; S. 14 BT-Drucks. 7/1981; Dreher 4; a. A. Eser in Schönke-Schröder § 218 Rn. 27; Rudolphi SK 12 f., jeweils m. weit. Nachw.). Wird der Eingriff im Inland vorgenommen, so muß der Arzt nach h. A. über eine deutsche Approbation verfügen, während bei Eingriffen im Ausland auch eine dort gültige Approbation ausreicht (vgl. Dreher 4; Lackner 2 a; weitergehend Beulke FamRZ 1976, 597 Fn. 9, wonach auch bei Eingriffen im Inland die ausländische Approbation ausreichen soll; zw.). Eingriffe eines Nichtarztes (oder eines im Inland tätigen Arztes, der nur über eine ausländische Approbation verfügt), sind nur unter den engen Voraussetzungen des § 34 zulässig, der gegenüber § 218 a subsidiäre Bedeutung hat, d. h. nur dann in Betracht kommt, wenn bei einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leib oder Leben ein Arzt nicht zur Verfügung steht (vgl. RegE S. 18 BT-Drucks. VI/3434; h. L.). 695
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b) Die Einwilligung der Schwangeren rechtfertigt den Eingriff nach allgemeinen Grundsätzen (vgl. 4 vor § 32) nur dann, wenn die Schwangere die erforderliche Einsichtsfälligkeit besitzt, d. h. aufgrund ihrer geistigen und sittlichen Entwicklung in der Lage ist, die Bedeutung und Tragweite ihres Entschlusses zu erkennen. Hieran kann es vor allem bei Kindern, Jugendlichen und Geisteskranken fehlen. Kann die Einwilligung der Schwangeren mangels Einsichtsfähigkeit nicht als Ausdruck einer anerkennungswürdigen persönlichen Entscheidungsfreiheit gelten, so ist zusätzlich die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters bzw. des vom Vormundschaftsgericht zu bestellenden Pflegers erforderlich. Dessen Entscheidung allein reicht jedoch nur in extremen Ausnahmefällen aus, z. B. bei akuter Lebensgefahr sowie bei hochgradig geisteskranken Personen, die zu einer sachgerechten eigenverantwortlichen Entscheidung offensichtlich nicht in der Lage sind (gesetzlich nicht geregelt, im Bericht des Sonderausschusses bewußt offen gelassen, vgl. S. 14 BT-Drucks. 7/1981; zum Ganzen siehe auch Beulke aaO. 598 m. weit. Nachw.). Eine Einwilligung ist unbeachtlich, wenn sie durch Gewalt oder Drohung abgenötigt oder durch Täuschung erschlichen worden ist. Subjektiv ist erforderlich, daß dem Arzt das Vorliegen der Einwilligung bekannt war. Wegen der rechtlichen Behandlung etwaiger Irrtumsfälle siehe 4 b ff. vor § 32. 4. Für die medizinische Indikation ergibt sich die schon vom Reichsgericht seit seiner Grundsatzentscheidung vom 11.3. 1927 (RG 61, 242) anerkannte und später in § 14 ErbGesG kodifizierte Einordnung als Rechtfertigungsgrund aus der Überlegung, daß man es einer Frau nicht zumuten kann, ihre Gesundheit und damit vielfach auch ihre Funktion in der Familie dem Fortbestand des ungeborenen Lebens zu opfern. Die Frau kann in einer solchen Konfliktslage nicht mit den Mitteln staatlicher Zwangsgewalt zu einem solchen Opfer gezwungen werden (vgl. Horstkotte AP VII S. 1470). Auch wenn die Zumutbarkeit im allgemeinen nicht im Rahmen der Rechtswidrigkeit, sondern erst im Rahmen der Schuld geprüft wird, so ist der Gesetzgeber nicht gehindert, Zumutbarkeitsgesichtspunkten auch durch Rechtfertigungsgründe Rechnung zu tragen, wenn es darum geht, die Auswirkungen auf alle Beteiligten zu erstrecken, und zwar nicht nur im Strafrecht, sondern gleichzeitig auch im Bereich des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts (vgl. Horstkotte aaO.). Die Rechtfertigung des Eingriffs ist gemäß § 218 a Abs. 1 an folgende Voraussetzungen geknüpft: a) Der Eingriff muß mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommen werden (Einzelheiten s. o. Anm. 3 a, b). b) Der Schwangerschaftsabbruch muß nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt sein, um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands abzuwenden. aa) Nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt, d. h. „indiziert", ist der Schwangerschaftsabbruch, wenn er unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse (soziale Komponente der medizinischen Indikation) nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und Praxis als Mittel zur Abwendung der den Erlaubnistatbestand begründenden Gefahren geeignet und angemessen erscheint. Der Begriff „angezeigt" gibt einer differenzierteren ärztlichen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls mehr Raum als der Begriff „notwendig", der vom Gesetzgeber in diesem Zusammenhang bewußt vermieden wurde (RegE S. 20 BT-Drucks. VI/3434).
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bb) Eine Lebensgefahr kann auch bei drohendem Selbstmord gegeben sein (BGH 3, 7; h. L.). Nicht erforderlich ist, daß die Gefahr akut ist; es genügt, daß sie bei Fortbestand der Schwangerschaft mit großer Wahrscheinlichkeit in ein akutes Stadium tritt. Hinsichtlich des Wahrscheinlichkeitsgrades sind strenge Anforderungen zu stellen: Es muß sich um eine gegenüber dem Durchschnittsfall der Schwangerschaft erheblich gesteigerte Wahrscheinlichkeit handeln (RegE S. 21 BT-Drucks. VI/3434). cc) Die Gefahr einer Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands muß sich nicht aus einem bereits vorhandenen oder drohenden medizinisch fest umrissenen Krankheitsbild ergeben, sondern kann auch durch psychoneurotische Persönlichkeitsverformungen, neurasthenische und depressive Fehlentwicklungen oder sonstige seelische Störungen ohne Krankheitswert begründet sein (sog. ganzheitliche Betrachtung, vgl. RegE S. 20 BT-Drucks. VI/3434 unter Bezugnahme auf die Gesundheitsdefinition in der Präambel der Satzung der Weltgesundheitsorganisation v. 22. 7. 1946; h. L.). Entscheidend ist dabei immer die Gesamtheit der Lebensumstände, unter denen die Schwangere lebt und in Zukunft zu leben hat (vgl. Horstkotte A P VII S. 1523 f.; Ber. S. 15 BTDrucks. 7/1981). Schwerwiegend ist die Beeinträchtigung des Gesundheitszustands, wenn sie zu einem physischen oder psychischen Zusammenbruch führt oder einen solchen befürchten läßt. Keinesfalls ausreichend ist das mit jeder Schwangerschaft und Entbindung üblicherweise verbundene gesundheitliche Risiko (RegE S. 21 BT-Drucks. VI/3434). Erforderlich ist vielmehr immer ein gegenüber dem Durchschnittsfall erheblich gesteigertes Risiko einer schwerwiegenden Gesundheitsschädigung (RegE aaO.). Nicht erforderlich ist die Gefahr einer dauernden Gesundheitsbeeinträchtigung; andererseits reichen physische oder psychische Belastungen, die erfahrungsgemäß bald wieder behoben werden können, nicht aus (h. L., vgl. Rudolphi SK 18 m. Nachw.). c) Der Eingriff kommt nur als ultima ratio in Betracht. Er ist nicht gerechtfertigt, wenn die Gefahr auf andere zumutbare Weise abgewendet werden kann, z. B. wenn die Möglichkeit besteht, die drohende Selbstmordgefahr durch entsprechende Beratung oder Behandlung zu beseitigen. Nicht zumutbar wäre andererseits eine ohne den Eingriff unvermeidbare längerfristige .Unterbringung in einem Krankenhaus oder Sanatorium (RegE S. 21 BT-Drucks. VI/3434; h. L.). d) Eine zeitliche Begrenzung des Eingriffs ist bei der medizinischen Indikation nicht vorgesehen. Der Eingriff kann-also, wenn eine entsprechende Gefahr für die Schwangere besteht, noch bis zum Beginn der Geburt vorgenommen werden. e) Subjektiv ist einerseits erforderlich, andererseits aber ausreichend, daß sich der Arzt der Gefahr für Leben oder Gesundheitszustand der Schwangeren bewußt ist und daß er den Eingriff in der Vorstellung vornimmt, daß der Eingriff als letztes Mittel erforderlich ist, um die Gefahr zu beseitigen. Eine „gewissenhafte Prüfung" aller rechtfertigenden Tatumstände, wie sie der Bundesgerichtshof früher gefordert hatte (vgl. BGH 2, 111; 3, 7), ist nicht erforderlich. Der Arzt ist auch dann gerechtfertigt, wenn er auf Grund einer weniger sorgfältigen Prüfung zur richtigen Diagnose kommt. Handelt er in Unkenntnis der rechtfertigenden Umstände, so liegt strafbarer Versuch vor: Die Tat zeichnet sich nicht durch ihren Erfolgsunwert, sondern ausschließlich durch ihren Handlungsunwert aus (vgl. B VI 5 e vor § 1 m. Nachw.). 5. Die Anerkennung der genetischen (embryopathischen) Indikation, die vielfach auch unter den Bezeichnungen „eugenische" oder „kindliche" Indikation bekannt ist, beruht
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nicht etwa auf der Erwägung, daß die Tötung „minderwertigen" Lebens schlechthin erlaubt sei, sondern berücksichtigt - ebenso wie die übrigen anerkannten Indikationen eine besondere Konfliktsituation: Die Schwere der zu befürchteten Schädigung des E n des wird in Beziehung gesetzt zu der Konfliktslage der mit einem solchen Kind belasteten Frau (vgl. Horstkotte A P VII S. 1471). Der Gesetzgeber geht davon aus, daß es einer Frau nicht zugemutet werden kann, die mit einem voraussichtlich schwer geschädigten Kind verbundenen physischen und psychischen Belastungen unter Strafdrohung auf sich zu nehmen. Die Voraussetzungen im einzelnen (vgl. Abs. 2 Nr. 1): a) Wie bei der medizinischen Indikation muß der Eingriff durch einen Arzt (s. o. 3 a) vorgenommen werden. Über die Bedeutung der Einwilligung der Schwangeren s. o. 3 b. b) Es müssen dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustands leiden wird. aa) „Dringende Gründe" für die Annahme einer den Erlaubnistatbestand begründenden Gefahr sind nicht erst dann gegeben, wenn eine absolut sichere Diagnose gestellt werden kann. Es genügt vielmehr ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit, der bei bestimmten Krankheiten (z. B. Röteln, aber auch bei rezidiven Erbkrankheiten) schon dann vorliegen, wenn die Gefahr mit etwa 25%iger Sicherheit befürchtet werden muß (vgl. Ber. S. 15 BT-Drucks. 7/1981; krit. hierzu Dreher 16 m. weit. Nachw.). bb) Die Schädigung des Gesundheitszustands kann physischer wie psychischer Natur sein. Sowohl das körperlich als auch das geistig behinderte Kind kann zu einer unerträglichen Belastung seiner Mutter werden. cc) Unerheblich ist, ob die Gefahr der Schädigung des Gesundheitszustands auf einer Erbanlage oder auf schädlichen Einflüssen vor der Geburt (z. B. Schädigung durch eine Erkrankung der Mutter während der Schwangerschaft oder Schädigung durch Medikamente oder Strahlenbehandlung) beruht. Unerheblich ist auch, ob die Gefahr von der Schwangeren verschuldet wurde (z. B. durch Medikamentenmißbrauch). c) Die befürchtete Schädigung muß so schwerwiegend sein, daß der Fortbestand der Schwangerschaft unzumutbar erscheint. Die Vorschrift berücksichtigt also nicht die meist schwierige Situation des voraussichtlich geschädigten Kindes, sondern die besondere Konfliktslage der Mutter. Diese wird dann unerträglich, wenn das zu erwartende und voraussichtlich geschädigte Kind die Mutter zeitlich, kräftemäßig und finanziell so in Anspruch nehmen würde, daß entweder sie selbst der Belastung nicht mehr gewachsen wäre oder die bereits vorhandenen Kinder darunter leiden müßten (vgl. Ber. S. 15 BTDrucks. 7/1981). d) Im Gegensatz zur medizinischen Indikation, für die eine zeitliche Begrenzung nicht vorgesehen ist (s. o. 4 d), ist ein genetisch indizierter Eingriff nur innerhalb von 22 Wochen seit der Empfängnis zulässig. Nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft ist es ohne weiteres möglich, spätestens zu diesem Zeitpunkt eine einigermaßen zuverlässige Diagnose zu stellen und die Vorbereitungen für den erforderlichen Eingriff zu treffen (Einzelheiten siehe Ber. S. 15 BT-Drucks. 7/1981 m. Nachw.). e) Hinsichtlich der subj. Seite gelten die Ausführungen zur medizinischen Indikation (s. o. 4 e) entsprechend.
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5. Die in Abs. 2 Nr. 2 geregelte kriminologische ( = ethische) Indikation geht davon aus, daß es in Fällen, in denen eine Schwangerschaft mit großer Wahrscheinlichkeit auf einem Sexualdelikt beruht, der betroffenen Frau nicht zugemutet werden kann, die Schwangerschaft auszutragen. Die Voraussetzungen im einzelnen: a) Wie bei der medizinischen und der genetischen Indikation ist der Schwangerschaftsabbruch nur zulässig, wenn er von einem Arzt (s. o. 3 a) mit Einwilligung der Schwangeren (s. o. 3 b) durchgeführt wird. b) Die Schwangere muß das Opfer einer tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen, nicht notwendig auch schuldhaften Tat nach § 176 (sexueller Mißbrauch eines Kindes), § 177 (Vergewaltigung) oder § 179 (sexueller Mißbrauch Widerstandsunfähiger) gewesen sein. Nicht ausreichend ist demnach eine auf Inzest (§ 173) oder auf einer Verführung Minderjähriger (§ 182) beruhende Schwangerschaft. Auch der vom Ehemann erzwungene Verkehr gehört, da nicht unter § 177 fallend, nicht hierher. c) Dringende Gründe für die Annahme, daß die Schwangerschaft auf einer rechtswidrigen Tat i. S. der §§ 176, 177 oder 179 beruht, sind dann gegeben, wenn auf Grund der von der Schwangeren gegebenen Sachverhaltsschilderung und Daten nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft ernsthaft damit gerechnet werden muß (vgl. Rudolphi SK 38). Gelingt es der Schwangeren, die Durchführung des Eingriffs durch Vorspiegelung einer Indikationensituation (z. B. durch wahrheitswidrige, aber zunächst nicht zu widerlegende Behauptung einer Vergewaltigung) vorzutäuschen, so befindet sich der den Eingriff durchführende Arzt in einem den Rechtsfolgen des § 16 Abs. 1 unterliegenden Verbotsirrtum (vgl. § 16 Anm. 3 e), während die Schwangere den Tb. des § 218 in mittelbarer Täterschaft erfüllt, jedoch nach § 218 Abs. 3 S. 2 straflos bleibt. d) Die zeitliche Begrenzung der Zulässigkeit des Eingriffs beträgt wie bei der Notlagenindikationen 12 Wochen seit der Empfängnis. e) Hinsichtlich der subj. Seite der Rechtfertigung gelten die Ausführungen zur medizinischen Indikation entsprechend (s. o. 4 e). Bei Täuschung des Arztes durch die Schwangere s. o. Iit. c. 6. Die Anerkennung der im Gesetzgebungsverfahren bis zuletzt umstrittenen Notlagenindikation ( = soziale Indikation) beruht auf der Erkennmis, daß auch die allgemeine soziale Lage der Schwangeren Konflikte heraufbeschwören kann, die so schwerwiegend sind, daß die Rechtsordnung der Schwangeren den Fortbestand der Schwangerschaft nicht zumuten kann. Die Voraussetzungen im einzelnen (vgl. Abs. 2 Nr. 3): a) Nur die Gefahr einer schwerwiegenden Notlage kann den Eingriff rechtfertigen. Wie sich aus der Eingangsformulierung „sonst angezeigt" ergibt, kommen nur solche Notlagen in Betracht, die in ihrer Bedeutung für die Schwangere den anderen gesetzlich anerkannten Indikationen gleichkommen (vgl. BVerfGE 39, 1, 49; Lackner 6 a sowie NJW 1976, 1233, 1238; Laufhütte/Wilkitzki JZ 1976, 329, 332; Rudolphi SK 43). In Betracht kommen vor allem familiäre und wirtschaftliche Belastungen von außergewöhnlichem Gewicht. Im Gesetzgebungsverfahren wurden u. a. folgende Beispiele genannt (vgl. RegE S. 26 BT-Drucks. VI/3434): Die Schwangere ist durch ihre Aufgabe, für bereits mehrere vorhandene Kinder zu sorgen oder ein behindertes Kind zu pflegen, so belastet, daß sie diese Aufgabe zusammen mit der Versorgung eines weiteren Kindes nicht mehr erfüllen kann und daher schwerwiegende Nachteile für die schon vorhandenen Kinder zu befürch-
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ten sind; - oder: Die Schwangere ist durch die Sorge für ihren pflegebedürftigen Ehemann so ausgelastet, daß sie einer weiteren Belastung durch das zu erwartende Kind nicht gewachsen ist. - Auch der drohende Verlust der wirtschaftlichen Existenzgrundlage kann einen Schwangerschaftsabbruch angezeigt erscheinen lassen, z. B. wenn die Schwangere ihre Berufsausbildung abbrechen müßte. Nicht ausreichend zur Rechtfertigung eines Eingriffs sind andererseits kurzfristige Unterbrechungen oder Verzögerungen der Ausbildung, Zurückstellung geplanter Anschaffungen, Beeinträchtigung des erreichten Lebensstandards und ähnliche Belastungen, die mit einer Schwangerschaft üblicherweise verbunden sind. Auch ein zu befürchtender „PrestigeVerlust" durch ein nichteheliches Kind reicht für sich allein grundsätzlich nicht aus. Führt die „Furcht vor der Schande" zu einer ernsten Selbstmordgefahr, so kann der Schwangerschaftsabbruch nach Abs. 1 indiziert sein. b) Wie bei der medizinischen Indikation ist auch bei der Notlagenindikation die Subsidiaritätsklausel zu beachten, die einen Schwangerschaftsabbruch untersagt, wenn die Notlage auf andere, der Schwangeren zumutbare Weise abgewendet werden kann. Angesichts der vielfältigen privaten und öffentlichen Hilfsmöglichkeiten kommt ein nach Abs. 2 Nr. 3 gerechtfertigter Schwangerschaftsabbruch deshalb nur in Betracht, wenn der Konflikt seiner Art nach durch fremde Hilfe überhaupt nicht abgewendet werden kann oder wenn Hilfsmöglichkeiten zwar vorhanden, aber für die Schwangere nicht zumutbar sind (RegE S. 27 BT-Drucks. VI/3434). So kann es z. B. der Schwangeren grundsätzlich nicht zugemutet werden, daß sie eines ihrer bereits vorhandenen Kinder oder das zu erwartende Kind für unabsehbare Dauer einem Heim überläßt oder zur Adoption freigibt (vgl. Eser in Schönke-Schröder 18; Rudolphi SK 44; a. A. Dreher 28). Im Regelfall zumutbar ist dagegen eine zeitlich begrenzte Zurückstellung der Ausbildung sowie des beruflichen Aufstiegs, u. U. sogar die vorübergehende Aufgabe oder Einschränkung der Berufstätigkeit, sofern dies nicht zu einer schwerwiegenden wirtschaftlichen Beeinträchtigung der Schwangeren oder ihrer Familie führt, desgleichen die Einstellung von Hilfskräften, sofern dies finanziell auch nur einigermaßen zu verkraften ist. c) Über die zeitliche Begrenzung eines zulässigen Eingriffs siehe Abs. 3, die subj. Seite der Rechtfertigung s. o. Anm. 4 e. 7. Beachte ergänzend § 218 b (Pflicht zur sozialpflegerischen und medizinischen Beratung), § 219 (ärztliche Bescheinigung der Indikationenlage), Art. 3 des 5. StrRG (Vornahme des Eingriffs nur in einem Krankenhaus usw.) sowie Art. 2 des 5. StrRG (generelles Recht zur Verweigerung des verlangten Eingriffs).
§ 218 b
Abbruch der Schwangerschaft ohne Beratung der Schwangeren
(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, ohne daß die Schwangere 1. sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff wegen der Frage des Abbruchs ihrer Schwangerschaft an einen Berater (Absatz 2) gewandt hat und dort über die zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Hilfen für Schwangere, Mütter und Kinder beraten worden ist, insbesondere über solche Hilfen, die die Fortsetzung der Schwangerschaft und die Lage von Mutter und Kind erleichtern, und 700
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
§ 218 b
2. von einem Arzt Uber die ärztlich bedeutsamen Gesichtspunkte beraten worden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 2 1 8 mit Strafe bedroht ist. Die Schwangere ist nicht nach Satz 1 strafbar. (2) Berater im Sinne des Absatzes 1 Nr. 1 ist 1. eine von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannte Beratungsstelle oder 2. ein Arzt, der nicht selbst den Schwangerschaftsabbruch vornimmt und a) als Mitglied einer anerkannten Beratungsstelle (Nummer 1) mit der Beratung im Sinne des Absatzes 1 Nr. 1 betraut ist, b) von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts als Berater anerkannt ist oder c) sich durch Beratung mit einem Mitglied einer anerkannten Beratungsstelle (Nummer 1), das mit der Beratung im Sinne des Absatzes 1 Nr. 1 betraut ist, oder mit einer Sozialbehörde oder auf andere geeignete Weise über die im Einzelfall zur Verfügung stehenden Hilfen unterrichtet hat. (3) Absatz 1 Nr. 1 ist nicht anzuwenden, wenn der Schwangerschaftsabbruch angezeigt ist, um von der Schwangeren eine durch körperliche Krankheit oder Körperschaden begründete Gefahr für ihr Leben oder ihre Gesundheit abzuwenden. 1. Der Gesetzgeber hofft, daß das Erfordernis der Beratung, insbesondere aber deren Ergebnis, viele Frauen von dem in Aussicht genommenen Eingriff abhalten wird. Ob dieses „Feigenblatt" der neuen Regelung die gewünschten Auswirkungen haben wird, muß allerdings bezweifelt werden, da das Ergebnis der Beratung, die nicht einmal protokollarisch festgehalten werden muß, bei Vorliegen einer rechtfertigenden Indikation für die Schwangere im Ergebnis völlig unverbindlich ist (vgl. Rudolphi SK 9; krit. zum Beratungssystem auch Beulke FamRZ 1976,597, 600). a) Die nach Abs. 1 Nr. 1 vorgeschriebene sozialpflegerische Beratung über die zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Hilfen für Schwangere, Mütter und Kinder soll insbesondere solche Frauen von ihrem Wunsch nach einem Schwangerschaftsabbruch abbringen, die nur aus Unkenntnis der zur Verfügung stehenden Hilfen ihre soziale Situation zu negativ beurteilen (Ber. S. 16 BT-Drucks. 7/1981 [neu]). Entbehrlich, da nicht sinnvoll, ist die sozialpflegerische Beratung lediglich in den Fällen der sog. medizinisch-somatischen Indikation, d. h. wenn der Schwangerschaftsabbruch indiziert ist, um eine durch Krankheit oder Körperschaden begründete Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren abzuwenden (Abs. 3). In diesen Fällen genügt die ärztliche Beratung nach Abs. 1 Nr. 2. aa) Durch den Begriff „beraten" anstelle des in der ursprünglichen Fassung verwandten Begriffs „unterrichten" soll klargestellt werden, daß der sozialpflegerische Berater sich nicht auf eine Unterrichtung über mögliche Hilfen beschränken darf, sondern versuchen soll, die Schwangere zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu motivieren und ihr das Gewicht des Verbots eines indikationslosen Eingriffs zu verdeutlichen (vgl. Lackner 2 a; 701
§ 218 b
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
Laufhütte/Wilkitzki JZ 1976, 329, 333). Der Gesetzgeber folgte mit dieser Formulierung dem BVerfG, das in seiner Grundsatzentscheidung v. 25. 2. 1975 eine bloße Unterrichtung der Schwangeren nicht als effektiven Schutz des werdenden Lebens anerkannte (BVerfGE 39, 1, 50, 62). Ob allerdings die derzeitige Fassung des Gesetzes den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des werdenden Lebens besser garantiert, erscheint zweifelhaft und hängt im Einzelfall entscheidend von der Person des Beraters ab (vgl. Beulke FamRZ 1976, 597, 600). bb) Durch die Verwendung des Wortes „dort" wird weiter (entgegen der hier noch in der Voraufl. vertretenen Ansicht) klargestellt, daß die Beratung persönlich, d. h. durch unmittelbaren Kontakt zwischen der Schwangeren und ihrem Berater zu erfolgen hat. Nur dadurch wird gewährleistet, daß der Berater mit der Schwangeren ihre konkrete Situation erörtern und sie durch Hinweise auf die in Betracht kommenden Hilfen zur Fortsetzung der Schwangerschaft motivieren kann. Eine telefonische Beratung genügt also ebensowenig wie eine schriftliche (vgl. Ber. S. 9 BT-Drucks. 7/4696; h. L.), was andererseits nicht ausschließt, daß der Berater im Rahmen seines Gesprächs mit der Schwangeren dieser zusätzlich Merkblätter aushändigt, die Hinweise auf Hilfsorganisationen sowie Ausführungen zur arbeits- und sozialrechtlichen Stellung der Schwangeren enthalten (z. B. Beratung über Lohnfortzahlung, Schwangerschaftsurlaub, Versicherungsschutz u. a. m.). cc) Abweichend von der ursprünglichen Fassung des Gesetzes sieht Abs. 1 Nr. 1 eine Karenzzeit von drei Tagen zwischen Beratung und Eingriff vor. Nicht erforderlich ist andererseits, daß die sozialpflegerische Beratung vor der nach § 219 vorgesehenen Indikationsfeststellung erfolgt (Laufhütte/Wilkitzki aaO. S. 333). Unerheblich ist auch die Reihenfolge zwischen der sozialpflegerischen Beratung nach Nr. 1 und der ärztlichen Beratung nach Nr. 2. b) Die nach Abs. 1 Nr. 2 gebotenen ärztliche Beratung soll die Schwangere über die Art des Eingriffs und dessen mögliche gesundheitliche Folgen aufklären. Einzubeziehen ist außerdem die Aufklärung darüber, daß durch den Eingriff menschliches Leben vernichtet wird und in welchem Entwicklungsstadium sich das Embryo befindet (vgl. Ber. S. 16 f. BT-Drucks. 7/1981). Die ärztliche Beratung kann - anders als bei der sozialpflegerischen Beratung, wenn diese von einem Arzt vorgenommen wird (s. u. Anm. 2 c ) - auch von einem Arzt vorgenommen werden, der nur über eine ausländische Approbation verfügt. Eine zeitliche Karenz zwischen Beratung und Eingriff ist, abweichend von der in Nr. 1 für die sozialpflegerische Beratung getroffenen Regelung, nicht vorgesehen. Um die erforderliche ärztliche Beratung auch finanziell zu ermöglichen, sichert § 200 f RVO idF des Strafrechtsreform-ErgänzungsG der versicherten Schwangeren einen Anspruch auf ärztliche Beratung zu. Einzelheiten siehe Henke NJW 1976, 1773. 2. Als sozialpflegerische Berater i. S. von Abs. 1 Nr. 1 kommen nach Abs. 2 in Betracht a) von einer Behörde usw. anerkannte Beratungsstellen. Das Anerkennungsverfahren bedarf der landesrechtlichen Regelung (Ber. S. 9 BT-Drucks. 7/4696). Bis dahin gelten bereits bestehende Beratungsstellen auch ohne besonderen Anerkennungsakt als anerkannt, wenn ihre Träger sich schon bisher kraft Tradition mit der Schwangerschaftsberatung befaßt haben (h. A., vgl. Beulke FamRZ 1976, 597, 601; Laufhütte/Wilkitzki JZ 1976, 329, 334). In Betracht kommen z. B. kirchliche Institutionen und Verbände der freien Wohlfahrtspflege, aber auch Gemeinden und Gemeindeverbände. In Bad.-Wttbg wurden im ersten Jahr nach Inkrafttreten der Vorschrift von den 89 bis dahin anerkannten
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Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
§ 218 b
Beratungsstellen insgesamt über 5000 Beratungen durchgeführt (vgl. Staatsanzeiger Nr. 55/77 v. 13. 7. 1977). Das Anerkennungsverfahren selbst richtet sich in Bad.-Wttbg nach den Richtlinien des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung v. 1. 3. 1977 (Staatsanzeiger Nr. 19/77). b) ein Arzt, der entweder selbst als Mitglied einer anerkannten Beratungsstelle nach deren Geschäftsverteilungsplan haupt- oder nebenamtlich sozialpflegerische Aufgaben wahrnimmt (Abs. 3 Nr. 2 a) oder unmittelbar von einer Behörde usw. als Berater anerkannt ist (Abs. 3 Nr. 2 b). Dem gleich stehen nach Abs. 3 Nr. 2 c schließlich solche Äizte, die sich durch Beratung mit einem Mitglied einer anerkannten Beratungsstelle, mit einer Sozialbehörde oder „auf andere geeignete Weise" (!) über die im Einzelfall zur Verfügung stehenden Hilfen unterrichtet haben. Die letztgenannte Alternative ist im Schrifttum zu Recht auf Kritik gestoßen, da sie den Bedenken des BVerfG gegen die Berechtigung jedes beliebigen Arztes zur sozialpflegerischen Beratung (vgl. BVerfGE 39, 1, 62) nicht gebührend Rechnung trägt (vgl. Beulke FamRZ 1976, 597; 601; Lackner NJW 1976, 1233,1240; Rudolphi SK 13). c) Der nach Abs. 1 Nr. 1 sozialpflegerisch tätige Arzt ist nicht gehindert, auch die nach Abs. 1 Nr. 2 erforderliche ärztliche Beratung vorzunehmen; er kann auch mit dem Arzt identisch sein, der die nach § 219 erforderliche schriftliche Feststellung der Indikation vornimmt, darf aber nicht selbst den Eingriff vornehmen, wie sich aus der Eingangsformulierung des Abs. 2 Nr. 2 ergibt. Zu beachten ist weiter, daß der sozialpflegerisch tätige Arzt auf Grund der standesrechtlichen Verfahrenskonzeption eine deutsche Approbation besitzen muß (zur Approbationsfrage siehe insbesondere Beulke FamRZ 1976, 597 ff., Fn. 9,45, 47, 59, 65, 81 m. Nachw.). 3. Täter eines Vergehens nach § 218 b kann grundsätzlich jeder sein, der einen Schwangerschaftsabbruch ohne die erforderliche sozialpflegerische und ärztliche Beratung vornimmt. Infolge der Subsidiaritätsklausel der Vorschrift beschränkt sich deren Anwendungsbereich jedoch auf Äizte, die einen nach § 218 a indizierten Eingriff mit Einwilligung der Schwangeren, aber ohne die erforderliche Beratung vornehmen. 4. Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe) ist nach allgemeinen Grundsätzen (§§ 26, 27) strafbar. So macht sich z. B. eine Arztgehilfin der Beihilfe schuldig, wenn sie an einem Eingriff mitwirkt, obwohl sie weiß, daß die vorgeschriebene Beratung nicht vorgenommen wurde. Die Schwangere selbst bleibt jedoch nach Abs. 1 S. 2 immer straflos (persönlicher Schuldausschließungsgrund). 5. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz. Dieser fehlt z. B., wenn die Schwangere dem Arzt vortäuscht, sie sei bereits beraten worden. Fahrlässigkeit ist nicht mit Strafe bedroht. 6. Mit § 219 ist Tateinheit möglich. Die OWi nach Art. 3 des 5. StrRG (Schwangerschaftsabbruch außerhalb eines Krankenhauses oder einer hierfür zugelassenen Einrichtung) ist gemäß § 21 OWiG subsidiär. 7. Beachte ergänzend § 203 Abs. 1 Nr. 4 a (Verletzung der Geheimhaltungspflicht seitens der Mitglieder der Beratungsstelle) sowie §§ 53 Abs. 1 Nr. 3 a und 97 Abs. 1 StPO (Zeugnisverweigerungsrecht, beschlagnahmefreie Gegenstände).
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§ 219 § 219
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben A b b r u c h der Schwangerschaft o h n e ärztliche Feststellung
(1) W e r e i n e Schwangerschaft abbricht, o h n e daß i h m die schriftliche Feststellung e i n e s Arztes, der nicht selbst d e n Schwangerschaftsabbruch vornimmt, darüber v o r g e l e g e n hat, o b die V o r a u s s e t z u n g e n d e s § 2 1 8 a A b s . 1 Nr. 2 , A b s . 2 , 3 g e g e b e n sind, wird mit Freiheitsstrafe bis z u e i n e m Jahr o d e r mit Geldstrafe bestraft, w e n n die Tat nicht in § 2 1 8 mit Strafe bedroht ist. D i e Schwangere ist nicht nach Satz 1 strafbar. (2) E i n A r z t darf Feststellungen nach A b s a t z 1 nicht treffen, w e n n i h m die zuständige Stelle dies untersagt hat, weil er w e g e n einer rechtswidrigen Tat n a c h A b s a t z 1 o d e r d e n § § 2 1 8 , 2 1 8 b, 2 1 9 a, 2 1 9 b oder 2 1 9 c o d e r w e g e n einer a n d e r e n rechtswidrigen Tat, die er im Z u s a m m e n h a n g mit e i n e m Schwangerschaftsabbruch b e g a n g e n hat, rechtskräftig verurteilt w o r d e n ist. D i e zuständige Stelle k a n n e i n e m Arzt vorläufig untersagen, Feststellungen n a c h A b s a t z 1 z u treffen, w e n n g e g e n ihn w e g e n d e s Verdachts einer der in Satz 1 b e z e i c h n e t e n rechtswidrigen T a t e n das H a u p t v e r f a h r e n eröffnet w o r d e n ist. 1. Das ausschließlich in die Hände der Ärzte gelegte Feststellungsverfahren des § 219, das sich auf alle Indikationen bezieht (berechtigte Bedenken hiergegen bei Beulke F a m R Z 1976, 597, 601 ff.; Blei J A 1976, StR 159, 191; Rudolphi SK 2, 8; R. Schmitt F a m R Z 1976, 595), hat nur formelle Bedeutung. Sein Ergebnis ist für den Arzt, der den Schwangerschaftsabbruch vornimmt, nicht bindend. Für eine Rechtfertigung nach § 218 a kommt es entscheidend darauf an, ob die materiellen Voraussetzungen einer Indikation tatsächlich gegeben sind, jedoch kann das Vorliegen einer im Feststellungsverfahren ausgestellten schriftlichen Bestätigung bei einem objektiv nicht indizierten Eingriff für dessen subjektive Tatseite von Bedeutung sein (vgl. § 16 Anm. 3 e). 2. Die Feststellung kann von jedem beliebigen Aizt vorgenommen werden, sofern dieser in der Bundesrepublik approbiert ist. Wie bei § 218 b Abs. 1 Nr. 1 ergibt sich das Erfordernis der inländischen Approbation zwar nicht unmittelbar aus dem Gesetz, wohl aber aus standesrechtlich konzipierter Verfahrensregelung (h. L., vgl. Beulke F a m R Z 1976, 597 Fn. 9 m. weit. Nachw.). Der feststellende Arzt, bei dem eine spezielle Fachkunde nicht vorausgesetzt wird (krit. hierzu Beulke aaO. 601), kann mit dem nach § 218 b beratenden Arzt identisch sein, darf aber den Eingriff nicht selbst vornehmen. Die Schwangere benötigt also zur Vornahme eines in jeder Hinsicht legalen Eingriffs immer mindestens zwei Ärzte, von denen einer in der Bundesrepublik approbiert sein muß. 3. Die schriftliche Feststellung der Indikation muß dem Arzt vor Durchführung des Eingriffs vorgelegen haben, d. h. er muß das Schriftstück selbst eingesehen haben (obwohl es für ihn nicht verbindlich ist und möglicherweise von einem Arzt stammt, dessen spezielle Sachkunde zweifelhaft erscheinen mag). 4. Abs. 2 gibt den zuständigen Stellen, die nach Landesrecht zu bestimmen sind, die Möglichkeit, unzuverlässige Ärzte von dem Feststellungsverfahren auszuschließen. Feststellungen, die ein nach Abs. 2 vom Verfahren ausgeschlossener Arzt ausgestellt hat, sind unwirksam, begründen eine Strafbarkeit des den Schwangerschaftsabbruch vomehmen704
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
§ 219a
den Arzts jedoch nur, wenn dieser die - vorläufige oder endgültige - Entscheidung der zuständigen Stelle gekannt hat (bedingter Vorsatz genügt). 5. Geriete durch das Abwarten der schriftlichen Feststellung die Schwangere in eine akute Gefahr für Leib oder Leben, so kommt Rechtfertigung nach § 34 in Betracht. 6. Hinsichtlich Täterschaft, Teilnahme und Konkurrenzen gelten die Ausführungen zu § 218 b entsprechend (siehe dort Anm. 3 - 6 ) .
§ 219 a
Unrichtige ärztliche Feststellung
(1) Wer als Arzt wider besseres Wissen eine unrichtige Feststellung über die Voraussetzungen des § 218 a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 3 zur Vorlage nach § 219 Abs. 1 trifft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 218 mit Strafe bedroht ist. (2) Die Schwangere ist nicht nach Absatz 1 strafbar. 1. Täter kann nur ein in der Bundesrepublik approbierter Arzt sein. Die Vorschrift enthält somit ein Sonderdelikt, das von einem Außenstehenden nicht in mittelbarer Täterschaft begangen werden kann ( B 1 7 vor § 1). 2. Die getroffene Feststellung ist unrichtig, wenn sie entweder im Ergebnis oder in einem für das Ergebnis wesentlichen Einzelbefund den objektiven Gegebenheiten nicht entspricht. Hierbei ist unerheblich, ob ein wesentlicher Einzelbefund falsch wiedergegeben oder verschwiegen wird. Unrichtig ist die getroffene Feststellung schließlich auch dann, wenn die Einzelbefunde zwar zutreffend und vollständig festgehalten sind, ihre Bewertung jedoch nicht dem Erkenntnisstand der ärztlichen Wissenschaft entspricht. Stellt ein Arzt die nach § 219 erforderliche Bescheinigung ohne jede Untersuchung aus, so hat er nichts „festgestellt", so daß seine Bescheinigung über getroffene „Feststellungen" selbst dann objektiv unrichtig ist, wenn sie im Ergebnis nicht zu beanstanden ist. Dagegen erscheint es zu weitgehend, die getroffene Feststellung auch dann als unrichtig zu behandeln, wenn sie nach eigenen Ermittlungen zwar objektiv zutreffend, aber „ohne sorgfältige Prüfung" getroffen ist (so jedoch Ber. S. 12 BT-Drucks. 7/4696; Laufhütte/ Wilkitzki JZ 1976, 329,336; Rudolphi SK 3). 3. Zur Vorlage nach § 219 Abs. 1 getroffen ist die Feststellung, wenn ihr entweder der ausstellende Arzt oder die Schwangere oder sonst eine am Schwangerschaftsabbruch interessierte Person diesen Bestimmungszweck gibt. Nicht erforderlich ist, daß es tatsächlich zur Vorlage an den Arzt kommt, der den Eingriff vornimmt oder vornehmen soll. Es genügt, daß der die Feststellungen treffende Arzt die schriftliche Erklärung der Schwangeren oder einem für sie tätigen Dritten übergibt (vgl. Lackner 2; Rudolphi SK 4). 4. Der subj. Tb. erfordert wider besseres Wissen, d. h. direkten Vorsatz hinsichtlich der Unrichtigkeit der schriftlichen Erklärung (s. o. 2). Hinsichtlich der Zweckbestimmung („zur Vorlage nach § 219 Abs. 1") genügt bedingter Vorsatz, da nicht erforderlich ist, daß 23
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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§ 219 b
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Lehen
der Arzt die Zweckbestimmung vornimmt. Es genügt, daß er die von dritter Seite vorgenommene Zweckbestimmung kennt (a. A. Rudolphi SK 6, der hinsichtlich der Zweckbestimmung Absicht verlangt; übereinstimmend jedoch Lackner 3). 5. Die Teilnahme richtet sich nach allgemeinen Grundsätzen (§§ 26, 27), wobei zu beachte i ist, daß die Schwangere selbst nach Abs. 2 auf jeden Fall straflos bleibt (persönlicher Strafausschließungsgrund). Für sonstige Teilnehmer ist § 28 Abs. 1 zu beachten. 6. Infolge der Subsidiaritätsklausel beschränkt sich die praktische Bedeutung der Vorschrift auf die Fälle, in denen es nicht zu einem rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch kommt. Hierher gehört zunächst der Fall, daß sich die Schwangere ungeachtet der für ihre ursprünglich verfolgten Zwecke positiven Feststellungen zum Fortbestand der Schwangerschaft entschließt. § 219 a greift weiter dann ein, wenn der auf Grund der vorgelegten Feststellungen durchgeführte Eingriff aus anderen Gründen gemäß § 218 a gerechtfertigt ist. Nicht einschlägig ist dagegen der Fall, daß die Schwangere auf einen Schwangerschaftsabbruch verzichtet, nachdem der Arzt das Vorliegen einer rechtfertigenden Indikation zu Unrecht wider besseres Wissen verneint hat. In diesem Fall wurden die Feststellungen nämlich nicht „zur Vorlage nach § 219 Abs. 1" getroffen (a. A. Rudolphi SK 1,7). Kommt es auf Grund der getroffenen unrichtigen Feststellungen zu einem rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch, so ist der die Feststellungen treffende Arzt strafbar nach § 218. Hierbei kommen als Form der Tatbeteiligung sowohl Mittäterschaft als auch mittelbare Täterschaft und Beihilfe in Betracht: Mittäterschaft, wenn der die Feststellungen nach § 219 treffende Arzt mit dem den Schwangerschaftsabbruch vornehmenden Atzt arbeitsteilig in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken tätig wird (sog. Gespannbildung); mittelbare Täterschaft, wenn der die Feststellungen nach § 219 treffende Arzt einen gutgläubigen Aizt durch Vortäuschen einer nicht vorhandenen Indikationslage zum Eingriff veranlaßt; Beihilfe, wenn einem bösgläubigen Arzt durch die wahrheitswidrigen Feststellungen der Eingriff ermöglicht wird. Hierbei ist zu beachten, daß subjektiv bei allen Formen der Tatbeteiligung bedingter Vorsatz genügt (übereinstimmend Lackner 4 sowie NJW 1976, 1233, 1242; a. A. Rudolphi SK 7, der unter Bezugnahme auf § 219 a •«der besseres Wissen verlangt, was jedoch zu einer sachlich nicht berechtigten Privilegierung des tatbeteiligten Arztes gegenüber sonstigen Tatbeteiligten führen würde und daher abzulehnen ist. Über die Behandlung der Irrtumsfälle siehe § 25 Anm. III 2 c. Tateinheit ist u. a. möglich mit § 278 sowie mit Beihilfe zum Betrug (z. B. bei Vorlage der unrichtigen Bescheinigung an einen Träger der Sozialversicherung).
§ 219 b
Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft
(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise 1. eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs oder 2. Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, unter Hinweis auf diese Eignung anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 706
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§ 219 b
(2) Absatz 1 Nr. 1 gilt nicht, wenn Ärzte oder anerkannte Beratungsstellen (§ 218 b Abs. 2 Nr. 1) darüber unterrichtet werden, welche Ärzte, Krankenhäuser oder Einrichtungen bereit sind, einen Schwangerschaftsabbruch unter den Voraussetzungen des § 218 a vorzunehmen. (3) Absatz 1 Nr. 2 gilt nicht, wenn die Tat gegenüber Ärzten oder Personen, die zum Handel mit den in Absatz 1 Nr. 2 erwähnten Mitteln oder Gegenständen befugt sind, oder durch eine Veröffentlichung in ärztlichen oder pharmazeutischen Fachblättern begangen wird. 1. Die durch das 5. StrRG neu gefaßte Vorschrift will verhindern, daß der Schwangerschaftsabbruch in der Öffentlichkeit als etwas Normales dargestellt und kommerzialisiert wird (Ber. S. 17 BT-Drucks. 7/1981). Andererseits muß gewährleistet sein, daß die Öffentlichkeit durch Behörden, Ärzte und Beratungsstellen über die Möglichkeit zulässiger Schwangerschaftsabbrüche ausreichend informiert werden kann (Ber. aaö.). Diesem letztgenannten Anliegen dienen sowohl die restriktive Fassung des Abs. 1 als auch die Ausschlußklausel des Abs. 2, bei deren Vorliegen bereits der Tb. des Abs. 1 Nr. 1 entfällt. Entsprechende Funktionen übernimmt Abs. 3 für den Bereich des Abs. 1 Nr. 2. Zu beachten ist, daß sich die Vorschrift nur auf tatbestandsmäßige Schwangerschaftsabbrüche, nicht auch auf solche Maßnahmen und Methoden bezieht, die darauf abzielen, die Nidation zu verhindern. 2. Entsprechend dem unter Anm. 1 dargelegten Anliegen der Vorschrift wird in Abs. 1 jede echte oder als Information getarnte Werbung unter Strafe gestellt, sofern sie der Täter seines Vorteils wegen oder in grob anstößiger Weise betreibt. a) Über öffentlich usw. siehe § 111 Anm. 2-4, wegen des erstrebten Vermögensvorteils (der nicht rechtswidrig sein muß) siehe § 259 Anm. V 2. Grob anstößig ist die Werbung, wenn sie die nach allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen von Sitte und Anstand eindeutig überschreitet. b) Nr. 1 bezieht sich sowohl auf legale als auch auf illegale Eingriffe. Deshalb ist es auch Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche gegen entsprechendes Honorar durchführen, unter Strafdrohung verboten, ihre Dienste in der gesetzlich beschriebenen Form anzubieten. Die Vorschrift bezieht sich außerdem auf Vermittlungsbüros und sonstige Organisationen, denen die Vermittlung Vermögensvorteile einbringt. Nicht erfaßt wird dagegen die sachliche Information durch Beratungsstellen, Behörden usw. c) Nr. 2 bezieht sich zunächst auf solche Mittel, Gegenstände und Verfahren, deren spezifische Zweckbestimmung auf Schwangerschaftsabbrüche gerichtet ist (z. B. Absauggeräte). Erfaßt werden aber auch solche Mittel usw., die nur bei einer ihrer eigentlichen Bestimmung nicht entsprechenden Anwendung (z. B. Überdosis eines nicht spezifischen Präparats) einen Schwangerschaftsabbruch bewirken können (Ber. S. 18 BT-Drucks. 7/1981). Die Werbung ist allerdings nur dann strafbar, wenn sie offen oder in versteckter Form auf die Eignung hinweist. Nicht hierher gehört dagegen der Hinweis auf unerwünschte abortive Nebenwirkungen, wenn dieser in der Absicht erfolgt, Arzt und Patientin vor diesen Nebenwirkungen zu warnen. 23'
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§ 219 c
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
3. Abs. 2 und Abs. 3 schließen bestimmte sozialadäquate Hinweise bereits aus dem Tatbestandsbereich des Abs. 1 aus. Es handelt sich also nicht nur um Rechtfertigungsgründe (h. L.;a.A. Dreher 6). 4. Konkurrenzen: Bei Werbung für illegale Eingriffe ist Tateinheit mit § 111 möglich. Tatmehrheit ist möglich mit § 219 c und, falls es zu einem Schwangerschaftsabbruch kommt, mit § 218 (Rudolphi SK 12).
§ 219 c
Inverkehrbringen von Mitteln zum Abbruch der Schwangerschaft
(1) Wer in der Absicht, rechtswidrige Taten nach § 2 1 8 zu fördern, Mittel oder Gegenstände, die zum Schwangerschaftsabbruch geeignet sind, in den Verkehr bringt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) D i e Teilnahme der Frau, die den Abbruch ihrer Schwangerschaft vorbereitet, ist nicht nach Absatz 1 strafbar. (3) Mittel oder Gegenstände, auf die sich die Tat bezieht, können eingezogen werden. 1. Die im „Vorfeld" des § 218 liegende Vorschrift will vor allem illegale Eingriffe durch die Schwangere selbst oder seitens von ihr konsultierter Nichtärzte verhindern. Im Gegensatz zu § 218 Abs. 4 aF, der den gleichen Zweck verfolgte, handelt es sich jedoch nicht um ein konkretes, sondern um ein abstraktes Gefährdungsdelikt, das schon mit dem Inverkehrbringen des Mittels oder Gegenstands erfüllt ist. 2. Die Mittel oder Gegenstände müssen objektiv geeignet sein, einen Schwangerschaftsabbruch zu bewirken. Wie bei § 219 b (siehe dort Anm. 2 c) ist eine spezifische Eignung von der Zweckbestimmung her nicht erforderlich (Ber. S. 18 BT-Drucks. 7/1981). In Betracht kommen z. B. Mittel wie Prostaglandine, die eine Schwangerschaft in jedem Stadium abzubrechen vermögen, sowie Absauggeräte, die sich nach entsprechender Weiterentwicklung während der ersten acht Wochen der Schwangerschaft auch zur Selbstanwendung durch die Schwangere eignen sollen (Ber. aaO.). Nicht einschlägig sind Mittel, die ausschließlich nidationshemmende Wirkung entfalten. 3. In Verkehr gebracht ist das Mittel, wenn der Täter es derart aus seinem Gewahrsam entläßt, daß ein anderer in die Lage versetzt wird, sich seiner zu bemächtigen und nach seinem Belieben damit umzugehen (siehe auch §§ 6 und 7 AizneimittelG). Die leihweise Überlassung eines Mittels im Einzelfall genügt nicht (vgl. Lackner 3), kann sich jedoch, wenn damit ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt wird, als Beihilfe zu § 218 darstellen. 4. Der subj. Tb. erfordert neben dem Vorsatz, der sich insbesondere auf die Eignung zum Schwangerschaftsabbruch beziehen muß (bedingter Vorsatz genügt insoweit) die Absicht, d. h. den zielgerichteten Willen, rechtswidrige Taten (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 5) nach § 218 zu fördern. 708
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
§ 219 d-221
5. Teilnahme ist nach allgemeinen Grundsätzen (§§ 26, 27) strafbar, jedoch bleibt die Frau, die den Abbruch ihrer Schwangerschaft vorbereitet, nach Abs. 2 straflos (persönlicher Strafausschließungsgrund). 6. Konkurrenzen: Tateinheit ist möglich mit Beihilfe zu § 218, außerdem mit §§ 222, 230, falls die Schwangere durch die nicht sachgemäße Anwendung des Mittels geschädigt wird. 7. Wegen der nach Abs. 3 zulässigen Einziehung siehe § 74 Abs. 4 nebst Anmerkungen. § 74 a findet keine Anwendung, da auf diese Vorschrift nicht verwiesen wird.
§ 219 d Begriffsbestimmung Handlungen, deren Wirkung vor Abschluß der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinne dieses Gesetzes. Siehe § 218 Anm. II 1. § 220
§ 220 a
[aufgehoben]
Völkermord
(1) Wer in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, 1. Mitglieder der Gruppe tötet, 2. Mitgliedern der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 224 bezeichneten Art, zufügt, 3. die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen, 4. Maßregeln verhängt, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen, 5. Kinder der Gruppe in eine andere Gruppe gewaltsam überführt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. (2) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 bis 5 ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. IdK. ist möglich mit §§ 211, 212, 224-226, 234 ff. - Siehe auch §§ 78 Abs. 2, 79 Abs. 2 (keine Verjährung) sowie § 6 Nr. 1 (Auslandstaten).
§ 221 Aussetzung (1) Wer eine wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit hilflose Person aussetzt, oder wer eine solche Person, wenn sie unter seiner Obhut 709
§ 221
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
steht oder wenn er für ihre Unterbringung, Fortschaffung oder Aufnahme zu sorgen hat, in hilfloser Lage verläßt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Wird die Handlung von Eltern gegen ihr Kind begangen, so tritt Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren ein. (3) Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung (§ 224) der ausgesetzten oder verlassenen Person verursacht worden, so tritt Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren und, wenn durch die Handlung der Tod verursacht worden ist, Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ein. 1. Die durch das EGStGB sprachlich modernisierte Vorschrift enthält ein konkretes Gefährdungsdelikt Geschütztes Rechtsgut ist das Leben. Hieraus folgt, daß § 221 Abs. 1 gegenüber den Tötungsdelikten grundsätzlich subsidiär ist. Setzt der Täter mit Tötungsvorsatz aus, so kommt nur Bestrafung gemäß §§ 211, 212 (213), 216, 217 in Betracht. Der Anwendungsbereich der Vorschrift beschränkt sich demzufolge auf die Fälle, bei denen der Täter nur mit Gefährdungsvorsatz handelt. Diese Voraussetzungen sind dann gegeben, wenn der Täter sich zwar der lebensgefährdenden Situation des Opfers bewußt ist, aber darauf vertraut, daß das Opfer gerettet wird. 2. Geschützt sind Personen, die wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit hilflos sind. Hilflos ist, wer ohne fremde Hilfe an Leib oder Leben gefährdet ist, falls ihm nicht ein rettender Zufall zu Hilfe kommt (BGH 21, 45 f.; 25, 218, 220). Die Gebrechlichkeit kann z. B. auf Altersschwäche oder auf körperlichen Leiden beruhen. Inwieweit jugendliches Alter zu Hilflosigkeit führt, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Eine bestimmte Altersgrenze kann nicht gezogen werden. Zur Krankheit gehört auch schwere Trunkenheit (vgl. BGH 26, 36; KG JR 1973, 72; Lackner 1), nicht jedoch normale Schwangerschaft (vgl. RG 77, 68; h. L.). 3. Die Tathandlung besteht entweder im Aussetzen oder im Verlassen in hilfloser Lage. a) Unter Aussetzen versteht man das Verbringen einer hilflosen Person in eine Lage, in der sie ohne fremde Hilfe an Leib oder Leben gefährdet ist. b) Das Verlassen in hilfloser Lage ist nur strafbar, wenn der Täter eine rechtliche Pflicht hat, für Hilfe zu sorgen. Eine nur moralische Pflicht genügt nicht. Zur Begründung der beispielhaft aufgezählten Obhuts- und Beistandspflichten sind die Grundsätze heranzuziehen, die für die Entstehung der sog. Garantenstellung im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte gelten (BGH 26, 35). So hat z. B. ein Kraftfahrer, der sich in jeder Hinsicht pflichtgemäß und verkehrsgerecht verhalten hat, gegenüber dem allein schuldigen Unfallopfer keine Garantenstellung (vgl. BGH 25,218). Über die Rechtspflicht eines Gastwirts oder privaten Gastgebers, dafür zu sorgen, daß ein offensichtlich betrunkener Gast auf dem Heimweg nicht zu Schaden kommt, siehe BGH 26, 35 sowie § 13 Anm. III 4 b, cc. Ein „Verlassen" liegt auch dann vor, wenn sich der Sorgepflichtige räumlich von der hilflosen Person entfernt, diese aber erst dadurch gefährdet, daß er pflichtwidrig nicht rechtzeitig zurückkehrt (BGH 21, 44). Beispiel: Eine Mutter, die ihre Kleinkinder ohne Aufsicht und Betreuung in der verschlossenen Wohnung gelassen hat, kehrt entgegen ihrer ursprünglichen Absicht erst nach Tagen in die Wohnung zurück (vgl. BGH aaO.). 710
Sechzehnter Abschnitt: Straftaten gegen das Leben
§ 221
4. Zum Vorsatz gehört lediglich die Kenntnis der hilflosen Lage und das Bewußtsein, daß durch das Aussetzen bzw. Verlassen eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben eintritt. Bei Tötungsvorsatz kommen die §§ 211-217 in Betracht (s. o. 1). Ein Rückgriff auf § 221 ist jedoch immer dort geboten, wo jemand zunächst mit Tötungsvorsatz aussetzt, dann aber freiwillig von der Tat zurücktritt, bevor der Tod des Opfers eintritt. Beispiel: Die A setzt ihr nichteheliches Kind unmittelbar nach der Geburt mit Tötungsvorsatz am Waldrand aus, kehrt aber kurz darauf an den Tatort zurück und holt das Kind, bevor dieses Schaden genommen hat. Eine Strafbarkeit wegen versuchter Kindstötung entfällt wegen strafbefreienden Rücktritts (vgl. § 24 Abs. 1). Da aber nur der Versuch als solcher straflos bleibt, wirft sich die Frage auf, ob nunmehr die Möglichkeit besteht, die A wenigstens wegen Aussetzung zu bestrafen. Hätte sie nicht mit Tötungsvorsatz gehandelt, sondern darauf vertraut, daß das Kind ungeachtet der gefährlichen Situation noch gerettet werden könnte, so bestünde kein Zweifel an der Strafbarkeit wegen vollendeter Aussetzung (§ 221 Abs. 2). Der Tatbestand wäre mit der Niederlegung des Kindes am Waldrand erfüllt. Die spätere Rückkehr könnte sich nur im Strafmaß auswirken, insbesondere den Eintritt einer schweren Folge i. S. des Abs. 3 verhindern. Bei dieser Sachlage wäre es absolut unbefriedigend, wenn nicht unverständlich, wollte man in unserem Beispiel die A nur deshalb straflos lassen, weil sie nicht nur mit Gefährdungsvorsatz, sondern mit Tötungsvorsatz ausgesetzt hat. Die Strafbarkeit gemäß § 221 setzt nun aber voraus, daß man bei Vorliegen von Tötungsvorsatz § 221 nicht aus subjektiven Gründen ablehnt, sondern nur als subsidiär behandelt. Es geht hier um dasselbe Problem wie bei der Frage nach dem Verhältnis des Tötungsvorsatzes zum Körperverletzungsvorsatz (vgl. Vorbem III vor § 211). Man kommt auch hier nur dann zu befriedigenden Ergebnissen, wenn man den Tötungsvorsatz als intensivste Form eines Gefährdungsvorsatzes behandelt. Wer einen anderen dadurch töten will, daß er ihn in eine hilflose, das Leben gefährdende Lage verbringt, weiß genau, daß dies nur durch eine Gefährdung des Opfers möglich ist. Diese wird somit als notwendiges Durchgangsstadium vom Tötungsvorsatz mit umfaßt (h. L., vgl. Dreher 11; Welzel 296). 5. Wird die Handlung von Eltern gegen ihr Kind begangen, so ist die Strafschärfung des Abs. 2 zu beachten. Unerheblich ist dabei, ob das Kind ehelich, nichtehelich oder adoptiert ist. 6. Abs. 3 bringt eine weitere Strafschärfung für den Fall, daß die ausgesetzte Person eine schwere Körperverletzung i. S. von § 224 davonträgt oder gar stirbt. Die letztgenannte Alternative kommt nur dann in Betracht, wenn der Täter fahrlässig gehandelt hat (vgl. § 18). Hat er vorsätzlich gehandelt, so ist die Strafe den §§ 211 ff. zu entnehmen, da der Gefährdungsvorsatz gegenüber dem Tötungsvorsatz subsidiär ist (s. o. 1). Hier zeigen sich Schwierigkeiten. § 221 Abs. 3 enthält einen benannten Strafschärfungsgrund und ist daher ein Verbrechen i. S. von § 12. Die Strafe (bei Todeseintritt Freiheitsstrafe nicht unter 3 Jahren) ist ungewöhnlich hoch, zumal das Gesetz die Möglichkeit der Annahme eines minder schweren Falles nicht vorsieht. Wir haben hier die eigenartige Situation, daß derjenige, der mit Tötungsvorsatz aussetzt, abgesehen von dem Fall des § 211, besser gestellt ist als derjenige, der nur mit Gefährdungsvorsatz aussetzt. Dies zeigt sich besonders in den Fällen der §§ 216, 217. Beispiel: Die M setzt ihr nichteheliches Kind unmittelbar nach der Geburt im Wald aus. Das Kind stirbt. Handelte die M mit Tötungsvorsatz, so kommt § 217 in Betracht. Liegt ein minder schwerer Fall vor, so besteht nach § 217 Abs. 2 die Möglichkeit, eine Strafe auszusprechen, die noch zur Bewährung 711
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ausgesetzt werden, kann. Handelte die M dagegen nur mit Gefährdungsvorsatz, verbunden iriit Fahrlässigkeit hinsichtlich des Todeserfolgs, so ist sie gemäß § 221 Abs. 3 mit Freiheitsstrafe nicht unter 3 Jahren zu bestrafen. Man müßte der M also den zunächst absurd erscheinenden - Rat geben, sich damit zu verteidigen, sie habe nicht darauf vertraut, daß ihr Kind überleben würde, sondern den Tod des Kindes billigend in Kauf genommen. Eine dogmatisch einwandfreie und zugleich befriedigende Lösung läßt sich kaum finden. Der Entwurf 1962 hat die nach dem geltenden Recht bestehenden Schwierigkeiten durch Angleichung der Strafrahmen elegant beseitigt. Sowohl die Kindstötung (§ 136) und die Tötung auf Verlangen (§ 137) einerseits als auch die Aussetzung mit Todesfolge (§ 139 Abs. 2) andererseits sind nur Vergehen. Die gesetzliche Mindeststrafe ist dieselbe, nämlich 1 Jahr. Auf der Grundlage des geltenden Rechts besteht zur Vermeidung unbefriedigender Ergebnisse lediglich die Möglichkeit, § 217 Abs. 2 auch im Falle des § 221 Abs. 3 analog heranzuziehen. Damit kann wenigstens im Strafmaß ein gewisser Ausgleich geschaffen werden (vgl. Eser in Schönke-Schröder 13; Horn SK 19; unbefriedigend dagegen Dreher 11, wonach die bestehenden Spannungen nur im Gnadenweg beseitigt werden können). 6. Konkurrenzen: IdK. ist möglich mit §§ 142, 169, 170 d, 223 ff. - § 330 c tritt als subsidiär zurück. Über das Verhältnis zu den Tötungsdelikten so. o. 1,4, 6.
§ 222
Fahrlässige Tötung
Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Uber das Wesen und die einzelnen Erscheinungsformen der Fahrlässigkeit siehe ausführlich C vor § 1. 2. Eine in der Praxis besonders häufige Erscheinungsform ist die fahrlässige Tötung im Straßenverkehr, wo sie im allgemeinen idealkonkurrierend mit ausgesprochenen Verkehrsdelikten zusammentrifft, insbesondere mit § 315 c. 3. Vielfach führt auch die Verletzung von Berufspflichten zu folgenschweren Unfällen mit tödlichen Verletzungen. Fahrlässig handelt zum Beispiel ein Polizeibeamter, der eine Unfallstelle nicht absichert oder bei der Verkehrsregelung mißverständliche Zeichen gibt; ein Arzt, der gegen allgemein anerkannte Regeln der ärztlichen Wissenschaft verstößt oder als Bereitschaftsarzt den erbetenen Hausbesuch ablehnt (BGH 7, 211) oder als Krankenhausaizt seine Anordnungen an das Pflegepersonal hinsichtlich der Behandlung (Spritzen, Medikamente usw.) nicht überprüft (BGH 6, 283); eine Krankenschwester, die sich nicht an die Weisungen des Arztes hält (diese auf ihre Richtigkeit zu prüfen, ist sie nicht verpflichtet, BGH 6, 283). 4. Die Rechtswidrigkeit einer fahrlässigen Tötung kann entfallen durch Notwehr (vgl. § 32 Anm. 4), nicht dagegen durch Einwilligung. Unerheblich ist auch die Einwilligung in eine das Leben gefährdende Handlung, z. B. bei Wettfahrten angetrunkener Motorradfahrer auf nächtlicher Landstraße (vgl. BGH 7, 112), oder wenn der später Getötete bei einem offensichtlich angetrunkenen Kraftfahrer als Beifahrer mitfährt (BayObLG NJW 1957, 1245). 712
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung (§§ 2 2 3 - 2 3 3 ) Vorbemerkungen 1. Der durch das EGStGB im wesentlichen nur redaktionell umgestaltete Abschnitt ist wie folgt gegliedert: Die §§ 223-226 befassen sich mit den Tatbeständen der vorsätzlichen Körperverletzung, § 230 mit der fahrlässigen Körperverletzung, § 226 a behandelt die rechtliche Bedeutung der Einwilligung, § 227 die Beteiligung an einer Schlägerei (früher üblicherweise „Raufhandel" genannt), § 229 die Vergiftung. Die §§ 228,232 und 233 enthalten Sonderbestimmungen betreffend Führungsaufsicht, Strafantrag und wechselseitig begangene Straftaten. 2. Grundtatbestand ist die in § 223 Abs. 1 unter Strafe gestellte vorsätzliche Körperverletzung. Die Aszendentenkörperverletzung (§ 223 Abs. 2), die gefährliche Körperverletzung (§ 223 a), die schwere Körperverletzung (§§ 224, 225) und die Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226) stellen sich demgegenüber als Qualifizierungen dar. Eine Sonderstellung nimmt § 223 b ein. Auch hier handelt es sich um einen erschwerten Fall der Körperverletzung, soweit die Mißhandlung Abhängiger unter Strafe gestellt wird; das Quälen muß dagegen, soweit es sich um rein seelische Einwirkungen handelt, als Sondertatbestand beurteilt werden. Eine weitere Qualifizierung außerhalb des 17. Abschnitts findet sich in § 340 (Körperverletzung im Amt). 3. Über das Verhältnis zu den Tötungsdelikten siehe ausführlich Vorbem. III vor § 211. Über das Verhältnis der einzelnen Qualifizierungen untereinander siehe III 2 vor § 52. 4. Antragsdelikte sind nur die §§ 223, 230 (vgl. § 232), die auch zugleich Privatklagedelikte sind. Zu letzteren gehört auch die gefährliche Körperverletzung des § 223 a (vgl. § 374 Abs. 1 Nr. 4StPO). 5. Zu Reformfragen siehe Hirsch ZStW 83,140.
§ 223
Körperverletzung
(1) Wer einen anderen körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit beschädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ist die Handlung gegen Verwandte aufsteigender Linie begangen, so ist auf Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder auf Geldstrafe zu erkennen. I. Das Gesetz unterscheidet in § 223 Abs. 1 zwei Formen der Körperverletzung: die körperliche Mißhandlung und die Gesundheitsbeschädigung. 1. Als körperliche Mißhandlung gilt jede üble, unangemessene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Integrität ( = Unversehrtheit) nicht nur unerheblich beeinträchtigt wird. Hierher gehören nicht nur Schläge, Hiebe und Stöße, 713
§ 223
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
sondern auch die Erregung von Übelkeit und Ekel, z. B. durch Anspeien oder durch Verbreiten übler Gerüche. Eine Schmerzzufügung ist nicht erforderlich (vgl. BGH 25, 277 f. mit Anm. Jakobs NJW 1974, 1829). Ein Eingriff in die körperliche Integrität liegt z. B. auch dann vor, wenn der Soldat A seinem Stubenkameraden B nachts während des Schlafs die Haare abschneidet oder den Bart verunstaltet (h. M.; a. A. RG 29,58). 2. Als Gesundheitsbeschädigung gilt jede Herbeiführung oder Steigerung einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit. Hierher gehören z. B. die Übertragung einer ansteckenden Krankheit (siehe auch §§ 6, 7 GeschlKrG), anhaltende Lärmeinwirkung, soweit diese zu einer Störung des zentralen Nervensystems führt, die Herbeiführung eines schweren Nervenschocks, z. B. bei Verkehrsunfällen oder bei Übermittlung von Todesnachrichten. Der Körperverletzung macht sich auch schuldig, wer durch grob verkehrswidrige und rücksichtslose Fahrweise andere Verkehrsteilnehmer in Angst und Schrecken versetzt und durch diese seelische Erschütterung in ihrem Wohlbefinden ni.cht nur vorübergehend, sondern nachhaltig beeinträchtigt (Ffm VRS 38 [1970], 49; Hamm DAR 1972, 190). Ein normaler Schrecken ohne Dauerwirkung genügt dagegen nicht. Gesundheitsschädigung ist femer die Herbeiführung von Trunkenheit und Bewußtlosigkeit, z. B. wenn A dem B zum „Scherz" hochkonzentrierten Alkohol oder ein Betäubungsmittel in den Wein mischt. 3. Beide Formen der Körperverletzung können auch durch Unterlassen verwirklicht werden, z. B. wenn ein Arzt es pflichtwidrig unterläßt, seinem Patienten schmerzlindernde Mittel zu verabfolgen, oder wenn Eltern es unterlassen, bei einer Krankheit des Kindes den Arzt hinzuzuziehen.
II. Der ärztliche Heileingriff. 1. Nimmt ein Arzt zur Wiederherstellung der Gesundheit seines Patienten bei diesem einen Eingriff vor, so entfällt nach h. M. im Schrifttum bereits der Tatbestand der vorsätzlichen Körperverletzung, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Eingriff zu dem gewünschten Erfolg geführt hat oder nicht (vgl. Schröder NJW 1961, 952; Niese, Eb. Schmidt-Festschrift 364). Entscheidend ist allein, daß der Eingriff vom ärztlichen Standpunkt aus erforderlich war und nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausgeführt wurde. Tatbestandsmäßig sind nach dieser Ansicht nur solche Eingriffe, bei denen entweder ein Kunstfehler unterlaufen ist, oder die medizinisch nicht erforderlich waren, z. B. experimentelle Eingriffe und Schönheitsoperationen. Die letztgenannten Fälle können jedoch gemäß § 226 a durch Einwilligung gerechtfertigt sein. Zum Ganzen siehe auch Lenckner in Schönke-Schröder 10 ff.; Bockelmann, Das Strafrecht des Arztes, 1968 S. 50 ff.; Wilts, Die ärztliche Heilbehandlung in der Strafrechtsreform, MDR 1970, 971; 1971,4. 2. Demgegenüber steht die Rechtsprechung seit RG 25, 375 auf dem Standpunkt, daß jeder ärztliche Eingriff den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt, aber bei entsprechender Einwilligung des Patienten, wenn auch die übrigen Voraussetzungen des § 226 a vorliegen, nicht rechtswidrig ist. Der Bundesgerichtshof hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen (vgl. BGH 11, 111 m. abl. Anm. Eb. Schmidt JR 1958, 227). Hieran wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern, bis den Reformvorschlägen folgend die eigenmächtige Heilbehandlung selbständig unter Strafe gestellt ist. 714
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
§ 223
3. Die Einwilligung ist unwirksam, wenn der Patient nicht ausreichend über die Art und etwaige nachteilige Folgen des Eingriffs aufgeklärt worden ist. Ergibt sich erst im Laufe einer Operation, daß ein sehr schwerwiegender, ursprünglich nicht geplanter Eingriff sogleich vorgenommen werden muß, von dem der Patient nichts wußte und auf den sich auch seine Einwilligung nicht bezog (z. B. Entfernung der Gebärmutter), so kann der Arzt sich einer fahrlässigen Körperverletzung schuldig machen, wenn er es fahrlässig versäumt hat, den Patienten schon vor der Operation auf die möglichen Weiterungen hinzuweisen (vgl. BGH 11, 111). Eine vorsätzliche Körperverletzung liegt dagegen vor, wenn der weitergehende Eingriff zur Einholung der Einwilligung des Patienten hätte aufgeschoben werden können. Der Arzt kann sich in diesem Fall auch nicht darauf berufen, er habe den Patienten nicht beunruhigen wollen (BGH aaO.). Je schwerwiegender der Eingriff ist, desto genauer muß sich der Arzt an seine Aufklärungspflicht halten. Nicht ganz so streng BGH 12, 379: Hat der Arzt einen Patienten vor sich, dessen Leben ohne sofortige Operation bedroht ist, so braucht er mit der Einwilligung „nicht viel Umstände" zu machen. Es genügt in diesen Fällen, daß der Kranke zur Behandlung erscheint und der ihm mitgeteilten Operationsabsicht nicht widerspricht. Strengere Anforderungen sind nur dann zu stellen, wenn ein sofortiger Eingriff nicht erforderlich ist. Die Einwilligung ist verzichtbar, wenn sie nicht eingeholt werden kann, z. B. wenn das Opfer eines Verkehrsunfalls bewußtlos in die Klinik eingeliefert wird und sofort operiert werden muß. In diesen Fällen kann die Einwilligung unterstellt werden (sog. mutmaßliche Einwilligung, vgl. II 5 vor § 32). Die Einwilligung rechtfertigt grundsätzlich nur den von einem approbierten Arzt vorgenommenen Eingriff. Eine Ausnahme gilt nur für zweifelsfrei geringfügige Eingriffe, die auch von einer fachkundigen Hilfskraft (Sanitäter, Krankenschwester, Medizinalassistent) vorgenommen werden können (BGH 16,309).
III. Das Ziicfatigungsrecht. 1. Mit der h. L. ist davon auszugehen, daß jede körperliche Züchtigung, auch wenn sie pädagogischen Zwecken dient, tatbestandsmäßig Körperverletzung ist. Es entfällt jedoch die Rechtswidrigkeit, wenn der Täter sich auf ein Züchtigungsrecht berufen kann (BGH 11,241; NJW 1976,1949). 2. Das Züchtigungsrecht ist ein Bestandteil des Erziehungsrechts (krit. Petri ZRP 1976, 64; Thomas ZRP 1977, 181). Es steht daher vor allem den Eltem zu (§§ 1627, 1631 BGB), je nach Sachlage auch dem Vormund (§ 1800 BGB) und der nichtehelichen Mutter (§ 1705 BGB), Stiefeltern dagegen nur aufgrund etwaiger Übertragung durch den Träger des Erziehungsrechts (vgl. Dreher 11). 3. Die nach bürgerlichem Recht Erziehungsberechtigten (Eltern, Vormund usw.) können grundsätzlich jederzeit einen Dritten, etwa einen Freund der Familie, einen Hauslehrer oder den Leiter eines Kinderheims, mit Eiziehungsaufgaben betrauen und ihm aus diesem Anlaß die Ausübung von Erziehungsgewalt übertragen (BGH 12, 62, 67). Hieraus ergibt sich auch die Möglichkeit der Übertragung von Erziehungsrechten auf Stief- und Pflegeeltern (BGH 12, 68). Die Eltern können jedoch nicht ohne weiteres ihre Erziehungsrechte und damit das Züchtigungsrecht auf einen Lehrer übertragen und damit dessen amtliche Befugnisse erweitern. Die Züchtigung eines Schülers durch den Lehrer kann aufgrund 715
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Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
übertragener elterlicher Erziehungsgewalt nur dann gerechtfertigt sein, wenn der Lehrer nach dem Willen der Eltern als deren Stellvertreter auftritt. Dies setzt voraus, daß er im Einzelfall die Möglichkeit hat, das Kind über den rein schulischen Wirkungskreis hinaus erzieherisch zu beeinflussen. Das bloße Einverständnis der Eltern mit einer körperlichen Züchtigung gibt ihm dagegen selbst dann kein Züchtigungsrecht, wenn die Eltern an ihn mit der Bitte herantreten, auf das Kind besonders aufzupassen (BGH 12,70). 4. Wie sich aus den Ausführungen zu 3. ergibt, unterliegt das Züchtigungsrecht des Lehrers einer Sonderbehandlung; sie kann nicht ohne weiteres aus dem Eiziehungsrecht der Eltern abgeleitet werden. Im einzelnen hat die Rechtsprechung, aus der vor allem die Entscheidungen BGH 11, 241 und 12, 62 hervorzuheben sind (siehe neuerdings auch BGH NJW 1976, 1949 m. Bespr. Schall NJW 1977, 113; Zweibrücken NJW 1974, 1772 m. abl. Bespr. Wüstrich NJW 1974, 2289) folgende Grundsätze herausgearbeitet: a) Das Züchtigungsrecht des Lehrers kann nur durch Gesetz oder Gewohnheitsrecht begründet oder aufgehoben werden. Soweit kein einschlägiges Gesetz vorliegt, ist die Rechtslage nach Gewohnheitsrecht zu beurteilen. Abweichende Ministerialerlasse und Dienstanweisungen haben nur disziplinarrechtliche, keine strafrechtliche Bedeutung (Dreher 14; Lackner 5 b, aa). Zweifelhaft erscheint allerdings, wie lange angesichts der veränderten Grundeinstellung der Bevölkerung zum Züchtigungsrecht an Schulen an der bisherigen Rspr. noch festgehalten werden kann (vgl. BGH NJW 1976, 1949). Im Schrifttum stößt sie jedenfalls zunehmend auf Ablehnung (vgl. Schall NJW 1977, 113 m. Nachw.). In einigen Bundesländern, z. B. in Bad.-Wttbg (vgl. § 89 Abs. 2 Nr. 7 SchulG idF v. 23. 3. 1976, GesBl. S. 409) ist die körperliche Züchtigung an Schulen inzwischen gesetzlich ausgeschlossen. b) Ein Züchtigungsrecht kann - wenn überhaupt - nur für Volksschulen und die unteren Klassen der Realschulen und Gymnasien anerkannt werden, nicht jedoch für die oberen Klassen der Realschulen und Gymnasien sowie für Fachschulen, für die kein Schulzwang besteht. Noch nicht abschließend entschieden ist, ob bei Berufsschuten mit Schulzwang ein Züchtigungsrecht besteht (vgl. Stgt Justiz 1962, 325; siehe auch Saarbrücken NJW 1963, 2380). c) Auch dort, wo das Züchtigungsrecht ausnahmsweise zulässig ist, sind ihm nach Anlaß und Umfang Grenzen gesetzt. Mangelhafte Leistungen und Unaufmerksamkeit des Schülers geben kein Recht, ihn deshalb zu züchtigen. Hier müssen andere Erziehungsmittel gewählt werden. Anders bei frechem Benehmen, grobem Ungehorsam und vorsätzlicher Störung des Unterrichts. Hier kann eine körperliche Züchtigung durchaus das rechte Mittel zum rechten Zweck sein. Die Züchtigung muß aber immer angemessen sein. Sie darf nie Sitte und Anstand verletzen und auf keinen Fall zu einer Gesundheitsschädigung führen. d) Die Züchtigung muß immer von einem pädagogischen Motiv getragen werden. Züchtigungen im Affekt, aus reiner Verärgerung oder schlechter Laune sind nicht gerechtfertigt, selbst wenn sie objektiv nicht unangemessen sind. Dasselbe gilt für Züchtigungen auf sadistischer Basis, d. h. wenn der Lehrer bei der Züchtigung geschlechtliche Befriedigung sucht. e) Ist eine Züchtigung nicht gerechtfertigt, so darf nicht übersehen werden, daß für den Lehrer nicht nur § 223, sondern der erschwerte Fall der Körperverletzung im Amt (§ 340) in Betracht kommt. 716
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§ 223 a
f) Eine körperliche Züchtigung des Schülers in Gegenwart des Erziehungsberechtigten ist immer unzulässig und stellt zugleich eine Beleidigung des Erziehungsberechtigten dar (vgl. Koblenz NJW 1955, 602). 5. Eine Züchtigung fremder Kinder durch einen Außenstehenden, der sich weder auf ein eigenes noch auf ein ihm übertragenes Erziehungsrecht berufen kann, ist immer rechtswidrig; hier kann jedoch das Unrechtsbewußtsein fehlen (vgl. Saarbrücken NJW 1963, 2379). IV. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Irrtumsprobleme, die hauptsächlich im Rahmen des Züchtigungsrechts auftreten können, sind nach allgemeinen Grundsätzen (vgl. §§ 16, 17) zu behandeln. Beispiel: Der Lehrer L glaubt, der Schüler X habe eine Stinkbombe in das Klassenzimmer geworfen. Er gibt ihm deshalb einige Stockschläge auf das Gesäß. Nachher stellt sich heraus, daß nicht X, sondern Y der Übeltäter war. Hier kommt nur fahrlässige Körperverletzung (§ 230) in Betracht, wenn der Irrtum des Lehrers auf Fahrlässigkeit beruhte. Gegenbeispiel: L züchtigt den Schüler X, weil dieser seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Er glaubt, er sei hierzu berechtigt. Hier liegt kein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum, sondern ein Verbotsirrtum vor. Der Vorsatz bleibt daher bestehen. Die Strafe des § 340 kann jedoch gemäß § 49 Abs. 1 gemildert werden. Ein völliger Schuldausschluß kommt dagegen kaum in Betracht. V. § 223 Abs. 2 behandelt die sog. Aszendentenkörperverletzung. Beispiel: A schlägt seinen Vater oder seinen Großvater. VI. IdK. ist möglich u. a. mit §§ 113, 177, 249, 255. Wegen des Verhältnisses zur Tötung siehe Vorbem. III vor § 211, wegen des Verhältnisses zum Schwangerschaftsabbruch sieh»§ 218 Anm. II 10 b.
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Gefährliche Körperverletzung
(1) Ist die Körperverletzung mittels einer Waffe, insbesondere eines Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs oder mittels eines hinterlistigen Überfalls oder von mehreren gemeinschaftlich oder mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift stellt bestimmte, durch die Gefährlichkeit der Ausführung qualifizierte Fälle der vorsätzlichen Körperverletzung unter eine erhöhte Strafdrohung. Die Beseitigung der früheren Strafuntergrenze von zwei Monaten Freiheitsstrafe ergab sich aus dem Wegfall der früher in § 228 enthaltenen Sonderregelung für mildernde Umstände. Neu ist die Strafbarkeit des Versuchs (Abs. 2). 2. Zu den Waffen zählen nicht nur Waffen im technischen Sinn, z. B. Pistolen oder Tränengassprühdosen (BGH 22, 230), sondern auch Messer und alle gefährlichen Werkzeuge. Gefährlich ist jeder Gegenstand, der bei der gewählten Art der Verwendung 717
§ 223 a
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
geeignet ist, Körperverletzungen erheblicherer Art herbeizuführen, z. B. ein spitzer Bleistift, mit dem gestochen wird; - Oder: ein spitzer Schuh, mit dem getreten oder geschlagen wird; - oder: Pfeffer, der dem Opfer in die Augen gestreut wird. Auch chemisch wirkende Mittel, z. B. Salzsäure, können den Tb. verwirklichen (vgl. BGH 1, 1). Nach BGH 14, 152 kann schließlich auch ein abgerichteter Hund als gefährliches Werkzeug angesehen werden. Umstritten ist, ob das Werkzeug beweglich sein muß oder ob der Tatbestand auch dadurch verwirklicht werden kann, daß der Täter sein Opfer z. B. mit dem Kopf gegen eine Wand oder auf den Boden stößt, auf eine glühende Herdplatte setzt oder in einen Säurebottich stürzt. Während die h. L. im Schrifttum auch in diesen Fällen eine Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs annimmt (vgl. Stree in Schönke-Schröder 8; Maurach BT 92; Welzel 292), steht der BGH in enger Anlehnung an den Gesetzeswortlaut auf dem Standpunkt, daß unbewegliche Gegenstände nicht hierher gehören (vgl. BGH 22, 235 = JZ 1969, 303 m. abl. Anm. Schmitt). Ein Teil des Schrifttums ist dieser Rspr. inzwischen gefolgt (vgl. Dreher 2; Lackner 2; differenzierend Horn SK 14). Die Frage ist allerdings im Ergebnis von verhältnismäßig geringer Bedeutung, da bei den wirklich schweren Fällen, in denen das Opfer erheblich verletzt wird, in der Regel die letzte Alternative des § 223 a (lebensgefährdende Behandlung) vorliegen dürfte (vgl. Blei JA 1969, StR S. 136; Wessels BT 126). 3. Ein hinterlistiger Überfall ist ein überraschend vorgetragener Angriff, den der Täter unter Verdeckung seiner wahren Absichten planmäßig so angelegt hat, daß der Betroffene sich nicht mehr wehren kann. Nicht erforderlich ist, daß der Angriff von hinten kommt. Beispiel: A gibt seinem Feind B „harmlos" die Hand. Gleichzeitig tritt er ihm mit dem Fuß gegen das Schienbein. Umgekehrt stellt nicht jeder Angriff von hinten einen hinterlistigen Überfall dar; es genügt jedoch ein Überfall aus einem planmäßig aufgesuchten Hinterhalt, wobei es auf die Dauer des Verbergens nicht ankommt (BGH GA ¿969, 61).
4. Von mehreren gemeinschaftlich verübt ist die Körperverletzung, wenn mindestens zwei an Ort und Stelle anwesende Personen bewußt und gewollt zusammenwirken, um einen Dritten zu mißhandeln (Krhe Justiz 1974, 98). Nicht erforderlich ist, daß die eigentliche Mißhandlung von mehreren vorgenommen wird. Es genügt z. B., wenn A den X festhält, während B auf ihn einschlägt. 5. Die 4. Alternative des Tatbestands befaßt sich mit dem Fall, daß die Körperverietzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen wurde. Entscheidend sind immer die Umstände des Einzelfalls. Der Tb. ist z. B. erfüllt, wenn ein Nichtschwimmer in tiefes Wasser gestoßen wird oder wenn jemand während der Fahrt vom Motorrad gestürzt wird. Ferner gehören hierher Würgegriffe am Hals (BGH GA 1961, 241; Krhe Justiz 1974,98) sowie teilweise auch die bereits unter 1 erörterten Fälle. Die 4. Alt. des Tb. kann auch durch Unterlassen begangen werden. Beispiel: Ein Vater unterläßt es aus Geiz, seinem schwerkranken Kind ärztliche Betreuung zukommen zu lassen. 6. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Der Täter muß die Tatumstände kennen, die die Körperverletzung gemäß § 223 a als gefährlich erscheinen lassen (BGH 19, 352). Der Vorsatz entfällt z. B., wenn A nicht weiß, daß der Bottich, in den er B stürzt, Säure enthält. - Oder: A stößt den B in tiefes Wasser, ohne zu wissen, daß B nicht schwimmen 718
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
§ 223 b
kann. Hier entfällt u. U. sogar der Vorsatz für den Grundtatbestand, so daß die Bestrafung nur wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 230) erfolgen kann. 7. Der Versuch ist seit der Neufassung durch das EGStGB strafbar (Abs. 2). Damit wurden die Ungereimtheiten beseitigt, die früher darin bestanden, daß zwar die versuchte Sachbeschädigung, nicht aber auch die versuchte Körperverletzung mit Strafe bedroht war. So macht es jetzt keinen Unterschied mehr, ob jemand mit Verletzungsvorsatz einen Stein gegen einen Menschen oder einen Hund wirft, ohne diesen zu treffen. Früher war nur der gegen den Hund gerichtete Fehlwurf als Vergehen strafbar. 8. Konkurrenzen. Mit § 223 b ist IdK. möglich. Im Verhältnis zu den §§ 224 bis 226 ist § 223 a dagegen subsidiär (BGH NJW 1967, 297). Die Vorschrift soll die Lücke zwischen der einfachen und der schweren Körperverletzung schließen und die Fälle erfassen, in denen zwar kein schwerer Erfolg eingetreten, die Tat aber wegen ihrer Ausführung besonders gefährlich ist. Das Bedürfnis, auf § 223 a zurückzugreifen, entfällt, wenn ein schwerer Erfolg eingetreten ist, aus dem sich regelmäßig ohnehin die Gefährlichkeit der Tat ergibt. Der Unrechtsgehalt des § 223 a fällt neben dem der §§ 224-226 auch nicht ins Gewicht (BGH aaO.). IdK. ist daher entgegen der im Schrifttum u.a. votj Stree in Schönke-Schröder (Rn. 17) vertretenen Gegenansicht abzulehnen. Das gilt allerdings nur für das Verhältnis von § 223 a zur vollendeten schweren Körperverletzung. Zur versuchten schweren KV steht § 223 a in IdK., da sonst der obj. Unrechtsgehalt der Tat nicht erfaßt werden könnte (BGH 21, 194). Beispiel: A will seinen Nebenbuhler N durch einen Schuß auf den GT zeugungsunfähig machen, trifft aber nicht richtig, so daß N nur leicht am Bein verletzt wird.
§ 223 b
Mißhandlung von Schutzbefohlenen
(1) Wer Personen unter achtzehn Jahren oder wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit Wehrlose, die seiner Fürsorge oder Obhut unterstehen oder seinem Hausstand angehören oder die von dem Fürsorgepflichtigen seiner Gewalt überlassen worden oder durch ein Dienst- oder Arbeitsverhältnis von ihm abhängig sind, quält oder roh mißhandelt, oder wer durch böswillige Vernachlässigung seiner Pflicht, für sie zu sorgen, sie an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. 1. Dem besonderen Schutz der durch das EGStGB im Strafrahmen neu gefaßten Vorschrift unterliegen Personen unter 18 Jahren, ferner Gebrechliche und Kranke, die sich nicht zur Wehr setzen können. Wegen „Gebrechlichkeit" und „Krankheit" siehe § 221 Anm. 2. 2. Der Verletzte muß zu dem Täter in einem Schutzverhältnis stehen. Als Täter kommen in Frage: 719
§ 223 b
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
a) Eltern, Adoptiveltern, Pflegeeltern, Vormünder, Pfleger, Erzieher, Heim- und Anstaltsleiter, Lehrer, Gefängnisbeamte u. a. bezüglich der ihrer Fürsorge und Obhut unterstehenden Personen; b) der Haushaltsvorstand gegenüber den seinem Hausstand angehörenden Personen, z. B. gegenüber einer kranken oder minderjährigen Hausangestellten; c) Personen, denen der Fürsorgebedürftige vom Fürsorgepflichtigen überlassen worden ist, z. B. ein Zuhälter, dem die Prostituierte ihre Kinder überläßt, während sie auf „Arbeit" geht; d) Arbeitgeber und Lehrherren gegenüber den bei ihnen beschäftigten, abhängigen Arbeitnehmern, Auszubildenden usw., soweit diese noch jugendlich oder infolge Gebrechlichkeit oder Krankheit wehrlos sind. 3. Die Tathandluiig besteht im Quälen oder roh Mißhandeln oder in einer böswilligen, zu einer Gesundheitsschädigung führenden Vernachlässigung der Sorgepflicht. a) Quälen ist die Verursachung länger anhaltender oder sich wiederholender erheblicher Schmerzen oder Leiden. Unerheblich ist, ob die Schmerzen und Leiden körperlicher oder seelischer Natur sind. Beispiel: A sperrt sein Kind stundenlang wegen geringfügiger Verfehlungen in den dunklen Keller, wobei es jedesmal Angstzustände bekommt. - Oder: Ein Pfleger regt einen geistig behinderten Patienten durch unwürdige Behandlung so sehr auf, daß dieser die (ohnehin nur beschränkt mögliche) Kontrolle über sich verliert (vgl. BGH 25,277 m. Anm. Jakobs NJW 1974,1829). b) Eine rohe Mißhandlung liegt vor, wenn die Tat sich als Ausfluß einer gefühllosen, fremde Leiden mißachtenden Gesinnung erscheint und das Wohlbefinden des Opfers in erheblicher Weise beeinträchtigt (BGH 3, 109; 25, 277). Ein solches Vorgehen wird zwar regelmäßig seinen Niederschlag in beträchtlichen Schmerzen oder Leiden finden, jedoch braucht dies (z. B. bei infolge vermindert schmerzempfindlichen Personen) nicht der Fall zu sein. Entscheidend ist vielmehr die Schwere des körperlichen Eingriffs, in dem sich die gefühllose Gesinnung widerspiegelt und der so beschaffen sein muß, daß ein normaler Mensch ihn als erheblich schmerzhaft empfinden würde (BGH aaO. für einen Pfleger, der einem geistig behinderten Patienten u. a. brennende Streichhölzer aüf die Hand legte, ihn zwang, Blattpflanzen zu essen und ihm so lange Tabak in den Mund stopfte, bis der Patient sich erbrechen mußte). Eine gefühllose, fremde Leiden mißachtende Gesinnung fehlt in der Regel bei Affekthandlungen (vgl. BGH 3,109). Grobe Unbeherrschtheit darf nicht mit roher oder grausamer Gesinnung gleichgestellt werden. c) Eine böswillige Vernachlässigung der Sorgepflicht liegt z. B. vor, wenn eine Mutter tagelang ihr Kind in einen ungeheizten Raum sperrt, um ungestört ihrem Vergnügen nachgehen zu können. Der Tb. ist allerdings erst dann erfüllt, wenn das Kind gesundheitlichen Schaden nimmt, z. B. wenn es sich in dem ungeheizten Raum eine Lungenentzündung zuzieht oder wenn es sich beim Spielen an herumliegendem Werkzeug verletzt oder wenn sich mangels ausreichender Nahrung sein Allgemeinzustand immer mehr verschlechtert, so daß die Überführung in eine Krankenanstalt erforderlich wird. 4. Konkurrenzen: Tateinheit ist möglich mit §§ 170 d, 239, ferner mit §§ 223 a, 224-226 (sehr bestr.; nach h. A. gehen die §§ 224-226 vor, vgl. BGH 4, 113, 117; BGH bei Daliinger MDR 1974, 724; Dreher 15; Lackner 8; für Tateinheit jedoch Hirsch LK 23 m. 720
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
§ 224
weit. Nachw.). Ergänzend beachte das JugendarbeitsschutzG v. 9. 6. 1960 (BGBl. I 665; letztes ÄndG v. 12. 4. 1976, BGBl. I 965), das u. a. die Kinderarbeit verbietet (§§ 7 ff.) und die Arbeitszeit der Jugendlichen regelt (§§ 10 ff.). Die Strafbestimmungen finden sich in § 24 aaO.
§ 224
Schwere Körperverletzung
(1) Hat die Körperverletzung zur Folge, daß der Verletzte ein wichtiges Glied des Körpers, das Sehvermögen auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache oder die Zeugungsfähigkeit verliert oder in erheblicher Weise dauernd entstellt wird oder in Siechtum, Lähmung oder Geisteskrankheit verfällt, so ist auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren zu erkennen. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. 1. Anders als bei § 223 a kommt es bei § 224 nicht auf die Gefährlichkeit der Tatausführung, sondern auf die eingetretenen schweren Folgen an. Waren diese beabsichtigt, so kommt nicht § 224, sondern § 225 in Betracht. Andererseits müssen sie gemäß § 18 mindestens fahrlässig herbeigeführt worden sein. 2. Schwere Folgen i. S. der Vorschrift sind: a) Vertust eines wichtigen Glieds, z. B. Verlust von Hand, Fuß, Arm oder Bein. Auch Daumen und Zeigefinger wird man uneingeschränkt als wichtige Glieder ansehen müssen. Bei den übrigen Fingern kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an, insbesondere auf den Beruf des Verletzten (konkrete Betrachtungsweise, vgl. Stree in Schönke-Schröder 2; Maurach BT 94 f.; str.). So wird man bei einem Konzertpianisten alle Fingerais wichtige Glieder anzusehen haben. Ein Verlust liegt nicht erst dann vor, wenn das Glied abgetrennt werden muß; es genügt, daß es infolge Lähmung dauernd seine Funktionen nicht mehr erfüllen kann (vgl. Stree in Schönke-Schröder 2; Maurach BT 94; Str.). b) Verlust des Sehvermögens auf einem oder beiden Augen. Sehvermögen ist die Fähigkeit, Gegenstände visuell wahrzunehmen und zu unterscheiden. Einzelheiten siehe RG 71,119; 72,321; Hamm NJW 1976,1803 m. krit. Bespr. Blei JA 1976, StR S. 201. c) Vertust des Gehörs. Gehör ist die Fähigkeit, artikulierte Laute wahrzunehmen. Verlust des Gehörs auf einem Ohr genügt nur dann, wenn das andere bereits taub war. d) Verlust der Sprache. Sprache ist die Fähigkeit, verständliche Sprechlaute hervorzubringen. Wer nur noch unverständliche Laute ausstoßen kann, kann nicht mehr sprechen. e) Verlust der Zeugungsfähigkeit, d. h. der Fähigkeit sich fortzupflanzen. Beispiel: Als Folge einer Abtreibung muß die Gebärmutter entfernt werden. Der Tb. entfällt, wenn der Verletzte ohnehin schon zeugungsunfähig war. f) Dauernde erhebliche Entstellung. Eine Entstellung liegt vor, wenn die äußere Gesamterscheinung in auffälliger Weise verunstaltet ist. Die Entstellung von Körper721
§ 225
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
teilen, die üblicherweise verdeckt werden, erfüllt den Tb. nur ausnahmsweise, z. B. bei Tänzerinnen (vgl. Maurach BT 95; str.). Dauernd ist eine Entstellung nur, wenn sie nicht durch künstliche Zähne, Glieder, Perücken usw. oder durch eine kosmetische Operation korrigiert werden kann (vgl. BGH 24, 315 unter Aufgabe von BGH 17, 161 m. zust. Anm. Hanack JR 1972, 472, Ulsenheimer JZ 1973, 64 sowie Blei JA 1972, StR 141; 1973, StR 5, 44; übereinstimmend ferner Schröder JR 1967, 146; Dreher 8; Lackner 4; Wessels BT I 28; a. A. Maurach BT 95; Welzel 294). Entscheidend ist allein das Aussehen des Verletzten nach der ärztlichen Behandlung (nicht etwa die Funktionsfähigkeit der Prothesen). Ist die Behandlung im Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch nicht durchgeführt, so kommt es darauf an, ob sie bei Würdigung aller Umstände (z. B. Gesundheitszustand und Alter des Verletzten, Kosten) üblich, technisch durchführbar und dem Verletzten zumutbar ist. Zweifel hinsichtlich der Möglichkeit der Korrektur gehen dabei, soweit sie unüberwindlich sind, zu Lasten des Täters (vgl. Hanack aaO. 474), wobei dann freilich die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 359 Nr. 5 StPO zu beachten ist. g) Siechtum, Lähmung oder Geisteskrankheit. Hier genügt, daß der krankhafte Zustand auf unabsehbare Zeit fortdauert. Er muß nicht unheilbar sein (RG 72,322,346). 3. Subjektiv ist hinsichtlich der Körperverletzung Vorsatz, hinsichtlich der schweren Folge mindestens Fahrlässigkeit erforderlich (§ 18). § 224 kommt aber auch dann in Betracht, wenn hinsichtlich der schweren Folge bedingter Vorsatz vorliegt. Bei direktem Vorsatz erfolgt die Bestrafung gemäß § 225. Soweit die Annahme einer schweren Folge von individuellen Eigenschaften des Verletzten abhängt (s. o. 2 a), müssen sich Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit auch hierauf beziehen. 4. Wegen der Konkurrenzen siehe III 2 vor § 211 sowie § 223 a Anm. 8.
§ 225
Beabsichtigte schwere Körperverletzung.
(1) War eine der vorbezeichneten Folgen beabsichtigt und eingetreten, so ist auf Freiheitsstrafe von zwei bis zu zehn Jahren zu erkennen. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. 1. Die durch das EGStGB im Strafrahmen neugefaßte Vorschrift unterscheidet sich von § 224 nur im subj. Tatbestand. Absicht ist der unbedingte Vorsatz (vgl. BGH 21,194). 2. Eine Sonderstellung nimmt die Kastration (Entmannung) ein. Die medizinisch indizierte und nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführte Kastration wurde durch das Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden vom 15. 8. 1969 (BGBl. 11143) einer Sonderregelung unterzogen. a) Als Kastration gilt nach § 1 KastrG jede Behandlung, durch welche die Keimdrüsen eines Mannes absichtlich entfernt oder dauernd funktionsunfähig gemacht werden. b) Eine Kastration ist nach § 2 KastrG dann nicht strafbar, wenn sie mit Einwilligung des Betroffenen erfolgt und erforderlich ist, um schwerwiegende Krankheiten, seelische Stö-
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Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
§ 225
rungen oder Leiden, die mit einem abnormen Geschlechtstrieb des Betroffenen zusammenhängen, zu beseitigen (§ 2 Abs. 1) oder wenn der abnorme Geschlechtstrieb bei der Persönlichkeit und bisherigen Lebensführung des Betroffenen die Begehung bestimmter sexuell motivierter Delikte (§§ 175-179, 183, 211 f., 223-226) erwarten läßt und die Kastration medizinisch angezeigt ist, dieser Gefahr zu begegnen und damit dem Betroffenen bei seiner zukünftigen Lebensführung zu helfen (§ 2 Abs. 2). Der Betroffene muß mindestens 25 Jahre alt sein. Schließlich ist es erforderlich, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt und der Eingriff nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durchgeführt wird. Das Gesetz selbst spricht lediglich davon, daß unter den Voraussetzungen des Abs. 2 die Strafbarkeit entfällt. Man wird dies dahin zu verstehen haben, daß der an sich tatbestandsmäßige Eingriff nicht rechtswidrig ist. § 2 KastrG enthält somit einen Rechtfertigungsgrund. c) § 3 KastrG befaßt sich mit den Anforderungen, die an die nach § 2 zum Ausschluß der Rechtswidrigkeit erforderliche Einwilligung zu stellen sind. Eine Einwilligung, die ohne vorausgegangene Aufklärung über Grund, Bedeutung und Nachwirkungen des Eingriffs sowie sonstige bedeutsame Begleitumstände erteilt wurde, ist grundsätzlich unwirksam (§ 3 Abs. 1; wegen Ausnahmen siehe Abs. 3 und Abs. 4). Andererseits wird die Einwilligung nicht dadurch unwirksam, daß der Betroffene z. Z. der Einwilligung auf richterliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird (Abs. 2). Hierher gehören vor allem die Fälle, in denen ein Strafgefangener oder Sicherungsverwahrter seine Einwilligung erteilt, um eine Aussetzung des Strafrests nach § 57 oder die Aussetzung der Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Maßregel zu erreichen. d) § 4 KastrG befaßt sich mit Behandlungsmethoden, die gegen die Auswirkungen eines abnormen Geschlechtstriebs eines Mannes (oder auch einer Frau) gerichtet sind, mit denen zwar nicht beabsichtigt ist, die Keimdrüsen dauernd funktionsunfähig zu machen, die aber eine solche Folge haben können. Für solche Eingriffe gelten die §§ 2, 3 grundsätzlich entsprechend; der (oder die) Betroffene muß jedoch das 25. Lebensjahr noch nicht erreicht haben. Bei Beschränkung der Einsichtsfähigkeit ist Abs. 3 zu beachten, bei Minderjährigen ist die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters erforderlich (§ 4 Abs. 3 S. 1). Steht diesem nicht gleichzeitig die Personensorge zu oder ist neben ihm noch ein anderer sorgeberechtigt, so ist auch dessen Einwilligung erforderlich (§ 4 Abs. 3 S. 3). e) Vor jeder Kastration ist nach § 5 KastrG eine Gutachterstelle zu hören. Ein ärztliches Mitgüed dieser Gutachterstelle hat den Betroffenen selbst zu untersuchen und die Aufklärung des Betroffenen bzw. seines gesetzlichen Vertreters oder des Personensorgeberechtigten durchzuführen. Bei einer Behandlung nach § 4 KastrG (s. o. lit. d) ist die Gutachterstelle nur dann einzuschalten, wenn der Betroffene nicht fähig ist, Grund und Bedeutung der Behandlung voll zu erkennen und seinen Willen danach zu bestimmen oder wenn er das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat(§ 5 Abs. 2). f) Bei Beschränkung der Einsichtsfähigkeit ist nach § 6 das Vormundschaftsgericht einzuschalten, das den Betroffenen vor seiner Entscheidung über die Zulässigkeit persönlich anzuhören hat. Zuständig ist der Rechtspfleger (vgl. § 14 Nr. 20 RechtspflegerG). g) § 7 enthält die Strafbestimmungen. Nach dieser Vorschrift wird mit Freiheitsstrafe bis zu 1 Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer als Aizt unter den Voraussetzungen der §§ 2 und 3 eine Kastration oder eine Behandlung nach § 4 vornimmt, ohne die nach § 5 erforderliche Bestätigung der Gutachterstelle oder die nach § 6 erforderliche Genehmi723
§ 226
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
gung des Vormundschaftsgerichts eingeholt zu haben. § 225 ist nur noch dann anwendbar, wenn der Eingriff ohne die Voraussetzungen der §§ 2 - 4 KastrG vorgenommen wird, insbesondere wenn er ohne die Einwilligung des Betroffenen oder nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wird. 3. Eine Sonderstellung nimmt auch die freiwillige Sterilisation (Unfruchtbarmachung) ein. Diese wurde durch den am 30. 3. 1943 in Kraft getretenen § 226 b aus dem Bereich der §§ 224, 225 herausgenommen und einer Sonderregelung unterzogen. Nachdem § 226 b durch das KRG Nr. 11 vom 30. 1. 1946 aufgehoben wurde, fehlt es z. Z. an einer entsprechenden Strafdrohung (vgl. BGH 20, 81; a. A. die h. L. im Schrifttum, wonach die bisher zu § 226 a herausgearbeiteten Grundsätze weiter zu beachten sind, vgl Stree in Schönke-Schröder § 226 a Rn. 15 ff., vor allem aber Hanack. Die strafrechtliche Zulässigkeit künstlicher Unfruchtbarmachung (1959) sowie JZ 1964, 393; 1965, 221 ff.; Hardwig GA 1964, 289; Urbanczyk NJW 1964, 427; Kohlhaas NJW 1968, 1169; Reinhardt JuS 1967, 399). Die vorgesehene Regelung des Komplexes im 5. StrRG mußte bei dessen Verabschiedung in der Endphase der Beratungen aus Zeitgründen nochmals zurückgestellt werden. Aus der neueren zivilrechtlichen Rspr. siehe insbesondere BGH NJW 1976, 1790: Ein Arzt, der eine 34jährige Mutter von drei Kindern unfruchtbar macht, wenn sie es wünscht, weil sie keine weiteren Kinder haben will, handelt nicht rechtswidrig. 4. Teilnahme ist nach allgemeinen Grundsätzen strafbar. Hat der Teilnehmer nur die Körperverletzung, nicht auch die schwere Folge gewollt, so kommt für ihn nur § 223, bei eahrlässigkeit hinsichtlich der schweren Folge § 224 in Betracht (vgl. § 29). 5. Wegen der Konkurrenzen siehe Vorbem. III 3 vor § 211 und III 2 a vor § 52.
§ 226
Körperverletzung mit Todesfolge
(1) Ist durch die Körperverletzung der Tod des Verletzten verursacht worden, so ist auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren zu erkennen. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. 1. Die Körperverletzung, die zum Tod geführt hat, muß vom Vorsatz umfaßt sein, wobei unwesentliche Abweichungen des tatsächlichen vom vorgestellten Geschehnisablauf nach allgemeinen Grundsätzen (vgl. § 16 Anm. 5 f.) den Täter nicht entlasten können (vgl. Schröder JR 1971, 206 ff.). Eine unwesentliche Abweichung liegt z. B. dann vor, wenn A den B mit einem Stich in den Arm verletzen will, versehentlich aber den Oberkörper trifft (vgl. Schröder aaO.). Wesentlich wäre die Abweichung jedoch, wenn B beim Versuch, sich vor dem angreifenden A in Sicherheit zu bringen, durch ein Zimmerfenster auf den Balkon flüchtet, hierbei jedoch abstürzt und schwer verletzt wird. Stirbt B an den Folgen dieser - von A nicht gewollten - Sturzverletzungen, so kann A nur gemäß § 222 bestraft werden (im Ergebnis übereinstimmend BGH JR 1971, 205; a. A. Schröder aaO., der auch hier nur eine unwesentliche Abweichung des Geschehnisablaufs annehmen möchte).
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Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
§ 226 a
2. Der Tod muß Folge der Körperverletzung sein. Auch mittelbare Folgen einer vorsätzlichen Körperverletzung können den Tb. verwirklichen, sofern sie für den Täter voraussehbar waren (vgl. § 18). Beispiele: A verletzt X nur leicht, X stirbt jedoch an den Folgen einer sich aus der Verletzung ergebenden Blutvergiftung. - Oder: A schlägt auf X so heftig ein, daß dieser zu Boden stürzt und sich einen tödlichen Schädelbasisbruch zuzieht. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift muß jedoch gerade die vom Vorsatz des Täters umfaßte Verletzung (s. o. 1) in ihrem weiteren Verlauf zum Tod geführt haben. Entgegen BGH 14, 110 und einem Teil des Schrifttums (vgl. Stree GA 1960,289 sowie in Schönke-Schröder 5; Schröder JR 1971, 206; Dreher 1) genügt es dagegen nicht, daß die VerletzungsHandlung zum Tod geführt hat, ohne daß dieser unmittelbar oder mittelbar gerade auf eine vorsätzlich zugefügte Verletzung zurückzuführen ist (vgl. RG 44, 137; Maurach JR 1970, 71 und BT 97; Welzel 295; Lackner 1 sowie Deubner NJW 1960, 1060). Beispiel: A schlägt mit einer Pistole auf X ein, wobei sich ungewollt ein Schuß löst und X tötet (Sachverhalt von BGH 14, 110). Hier kommt nur § 223 in IdK. mit § 222 in Betracht, nicht jedoch § 226: Die Schlagverletzung hat nicht zum Tod geführt und die Schußverletzung war nicht vom Vorsatz umfaßt. Im Ergebnis richtig dagegen die bereits oben erörterte Entscheidung BGH JR 1971, 205: Keine Anwendbarkeit des § 226, wenn der tödliche Ausgang erst durch das Eingreifen eines Dritten oder durch das Verhalten des Opfers selbst herbeigeführt wird. 3. Wegen Teilnahme siehe § 18 Anm. 2. 4. Wegen minder schwerer Fälle siehe Abs. 2 sowie BGH 25,222. 5. IdK. ist möglich mit §§ 177 Abs. 3, 239 Abs. 3, 251. Über das Verhältnis zum Schwangerschaftsabbruch siehe § 218 Anm. II 10 c. - § 222 wird konsumiert (BGH 8, 54).
§ 226 a
Einwilligung des Verletzten
Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung des Verletzten vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt. 1. Die in § 226 a geregelte Einwilligung ist ein Rechtfertigungsgrund für alle vorsätzlichen und fahrlässigen Körperverletzungen. Darüber hinaus werden die zu § 226 a entwikkelten Grundsätze auch auf andere Tatbestände entsprechend angewandt, soweit der Inhaber des verletzten Rechtsguts berechtigt ist, über dieses zu verfügen (vgl. Vorbem. II 4 b, aa vor § 32). 2. Die Voraussetzungen im einzelnen: a) Der Einwilligende, in dessen rechtliche Interessen eingegriffen wird, muß die genügende geistige Reife und Urteilskraft besitzen, um sich der Bedeutung der auf Grund der Einwilligung vorzunehmenden Handlung klar zu werden. Über die oft äußerst schwierige Frage, wieweit die Einwilligung einer Minderjährigen in die Duldung des Geschlechtsverkehrs rechtfertigende Wirkung hat, siehe ausführlich § 185 Anm. VI 3. 725
§ 226 a
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
b) Die Tat darf ungeachtet der Einwilligung des Verletzten nicht gegen die guten Sitten verstoßen. Eine Rechtfertigung entfällt daher z. B. bei sadistischen Züchtigungen oder bei Verstümmelungen zur Vorbereitung eines Versicherungsbetrugs. Ist dagegen nur die Einwilligung sittenwidrig, so steht dies einer Rechtfertigung nicht entgegen. Entscheidend ist die Sittenwidrigkeit der Tat (BGH 4,91). Zum Ganzen siehe auch Berz GA 1969,145 ff. c) Die Einwilligung muß dem Täter bekannt sein. Dies ergibt sich aus dem für alle Rechtfertigungsgründe geltenden Grundsatz, wonach nur der gerechtfertigt ist, der auch recht handeln will. Kennt der Täter die objektiv vorliegende Einwilligung nicht, so ist er nicht gerechtfertigt. Andererseits fehlt in diesen Fällen der objektive Unrechtsgehalt der Tat, so daß nur Bestrafung wegen versuchter Tatbegehung in Betracht kommt (vgl. B VI 5 e vor § 1). d) Nimmt der Täter irrig Tatumstände an, bei deren Vorliegen er sich auf eine rechtfertigende Einwilligung berufen könnte, so handelt er „an sich" vorsätzlich. Er ist aber, was seine Schuld betrifft, einem vorsatzlos handelnden Täter gleichzustellen (vgl. § 16 Anm. 3 e). Es kommt also nur Bestrafung wegen fahrlässiger Körperverletzung in Betracht. 3. Sonderfalle. a) Eine besondere Bedeutung hat die Einwilligung des Verletzten im Rahmen der ärztlichen Heileingriffe. Über deren Behandlung siehe § 223 Anm. II. b) Zur Sterilisation und Kastration siehe § 225 Anm. 2 und 3. c) Auch bei fahrlässigen Körperverletzungen im Straßenverkehr ist eine Rechtfertigung durch Einwilligung möglich. Nach dem Wortlaut des § 226 a hat an sich nur die Einwilligung in den Erfolg rechtfertigende Wirkung. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum die Einwilligung in eine als nur möglich vorausgesehene, fahrlässige Körperverletzung weniger wirksam sein sollte als die Einwilligung in eine als sicher erkannte vorsätzliche Verletzung (BGH MDR 1959, 856). Wer sich, ohne durch ein rechtliches oder sittliches Gebot hierzu genötigt worden zu sein, bewußt in eine besondere Gefahrenlage begibt, handelt auf eigene Gefahr. Eine solche Gefahrübernahme ist als Einwilligung in eine möglicherweise auf der Fahrt eintretende Verletzung zu beurteilen und schließt deren Rechtswidrigkeit aus (vgl. Hamm VRS 7, 202; Dreher 4 m. weit. Nachw.). Nun ist allerdings zu beachten, daß nicht jede Fahrt mit einem Pkw eine besondere Gefahrenlage in dem vom OLG Hamm aaO. verstandenen Sinn darstellt (vgl. Oldenburg NJW 1966, 2133). Es müssen vielmehr besondere Umstände vorliegen, die den Eintritt eines Unfalls näherrücken lassen, z. B. wenn jemand sich im Bewußtsein der Gefährlichkeit unter Inkaufnahme des erhöhten Risikos einem offensichtlich betrunkenen Kraftfahrer anvertraut (vgl. Ffm DAR 1965, 217; Krhe NJW 1967, 2321; Hamm DAR 1973, 219) oder mit noch drei anderen eine Fahrt auf einem Solokrad unternimmt (so der Sachverhalt von BGH MDR 1959, 856). Nach Celle MDR 1969, 69 stellt auch die Fahrt mit einem Einsatzwagen der Polizei ein gefährliches Unternehmen dar. Wer daher aus beruflichem Interesse an einer solchen Fahrt teilnimmt, z. B. ein Journalist, ist sich in der Regel der Gefährlichkeit der Fahrt bewußt und nimmt leichtere fahrlässig herbeigeführte Verletzungen in Kauf. Eine besondere Einwilligungserklärung ist in all diesen Fällen zum Ausschluß der Rechtswidrigkeit nicht erforderlich (vgl. BayObLG NJW 1968, 665; Celle aaO.). Zum Ganzen siehe auch Hein BA 1966, 435 sowie Schaffstein, Handlungsunwert,
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Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
§ 227
Erfolgsunwert und Rechtfertigung bei den Fahrlässigkeitsdelikten, Welzel-Festschr. S. 557. d) Bei Sportverletzungen ist folgendes zu beachten: Wer an einem sportlichen Wettkampf (z. B. einem Fußballspiel) teilnimmt, willigt schlüssig in die damit üblicherweise verbundenen Gefahren ein. Jeder Wettkampfteilnehmer muß damit rechnen, daß es im sportlichen Kampf vielfach zu Regelverstößen kommt, die auf Übereifer, Erregung, technische Unvollkommenheit oder mangelnde Körperbeherrschung zurückzuführen sind, und in denen das Verschulden gering ist. Kommt es in solchen Fällen zu einer Verletzung, so ist diese infolge Einwilligung nicht rechtswidrig. Die Einwilligung bezieht sich aber nicht auf solche Verletzungen, die von dem Gegenspieler durch vorsätzliche oder grob fahrlässige Regelverstöße verschuldet worden sind (vgl. BayObLG JR 1961, 72; NJW 1961, 2072). Diese bleiben rechtswidrig. Zum Ganzen siehe auch BGH NJW 1975, 109 m. Anm. Heinze JR 1975, 288; BGH NJW 1976, 957 sowie Schroeder in Sport und Recht, 1972,21,28.
§ 227
Beteiligung an einer Schlägerei
Ist durch eine Schlägerei oder durch einen von mehreren gemachten Angriff der Tod eines Menschen oder eine schwere Körperverletzung (§ 224) verursacht worden, so ist jeder, welcher sich an der Schlägerei oder dem Angriff beteiligt hat, schon wegen dieser Beteiligung mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe zu bestrafen, falls er nicht ohne sein Verschulden hineingezogen worden ist. 1. Der Strafgrund der durch das EGStGB neu gefaßten Vorschrift (Abs. 2 wurde ersatzlos gestrichen) besteht darin, daß Schlägereien zwischen mehr als zwei Personen häufig schwere Folgen haben, und daß wegen dieser generellen Gefährlichkeit schon der Beteiligung an einer solchen Schlägerei entgegengewirkt werden soll. Der Tb. des § 227 ist somit als abstraktes Gefahrdungsdelikt anzusehen. 2. Der Umstand, daß durch die Schlägerei der Tod eines Menschen oder eine schwere Körperverletzung eingetreten ist, gehört nicht zum Tatbestand, sondern ist lediglich eine objektive Bedingung der Strafbarkeit (vgl. BGH 16,130). Er muß als solche vom Vorsatz nicht umfaßt werden (vgl. E 3 a vor § 1). 3. Schlägerei ist eine tätliche Auseinandersetzung von mindestens drei Personen (BGH 15, 369). Diese Voraussetzungen sind auch dann gegeben, wenn einer von drei Beteiligten sich auf Notwehr berufen kann und deshalb straflos bleibt. Eine Ausnahme hiervon ist nur dann anzuerkennen, wenn der Dritte, der sich auf Notwehr berufen kann, sich auf reine Schutzwehr beschränkt, z. B. nur die Arme schützend vor sich hält (BGH 15, 369). In diesem Fall käme jedoch die 2. Alternative des Tatbestands („Angriff mehrerer") in Betracht. § 227 entfällt ferner dann, wenn sich von drei Personen eine entfernt hat, bevor es zu der schweren Folge gekommen ist. In diesem Fall ist nämlich die schwere Folge nicht durch eine Schlägerei von „mindestens drei Personen" verursacht worden (RG JW 1938, 3157; BGH 14,135). 727
§ 228
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
4. Die Tathandlung besteht in der Beteiligung an der Schlägerei (s. o. 1). Beteiligt ist jeder, der am Tatort anwesend ist und in feindseliger Weise an den Tätlichkeiten teilnimmt. Nicht erforderlich ist, daß der Beteiligte selbst mitschlägt. Es genügt, daß er die anderen anfeuert. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat ferner als Beteiligter zu gelten, a) wer zwar in Notwehr handelt, sich aber bei seiner Verteidigung nicht nur auf reine Schutzwehr beschränkt (BGH 15, 369); b) wer einen Dritten daran hindert, den Streit zwischen zwei Personen zu schlichten (BGH 15, 369); c) wer seine Teilnahme vor Eintritt der schweren Folge aufgibt, es sei denn, daß nach seinem Weggang nur noch zwei Personen streiten (BGH 14,132,135); d) wer sich einer Schlägerei erst nach Eintritt der schweren Folge anschließt (BGH 16, 130). 5. Nicht beteiligt ist, a) wer nur aus Neugierde anwesend ist, ohne sich aktiv an den Tätlichkeiten zu beteiligen; b) wer nur den Streit schlichten will, ohne selbst an den Tätlichkeiten teilzunehmen; c) wer ausschließlich Gegenstand des Angriffs ist, ohne zur aktiven Gegenwehr überzugehen; d) wer Verletzte fortschafft und ärztlich versorgt. 6. Der subjektive Tatbestand verlangt Vorsatz. Es genügt, daß der Täter weiß, daß er sich an einer tätlichen Auseinandersetzung beteiligt. Auf die schwere Folge muß sich der Vorsatz dagegen nicht erstrecken (s. o. 1). 7. Tateinheit ist möglich mit §§ 223-226 sowie mit §§ 211, 212, fernermit § 125. 8. Prozessual ist zu beachten, daß § 227 nicht zu den Straftatbeständen gehört, die den Angehörigen eines Getöteten zur Nebenklage berechtigen. § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO findet keine Anwendung (BGH JR 1965,348).
§ 228
Führungsaufsicht
In den Fällen der §§ 223 bis 226 und 227 kann das Gericht Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1 Nr. 2). 1. Die früher hier geregelte Strafzumessung bei Vorliegen mildernder Umstände findet sich seit Inkrafttreten des EGStGB in Form von Einzelregelungen bei den jeweiligen Tatbeständen (vgl. z. B. §§ 224 Abs. 2, 225 Abs. 2, 226 Abs. 2). Die Neufassung geht davon aus, daß vorsätzliche Straftaten gegen die körperliche Integrität nicht selten durch Umwelteinflüsse bedingt sind, denen sich der Täter nach seiner Persönlichkeit aus eigener Kraft nur schwer entziehen kann. Dies gilt insbesondere für die sog. Schläger, bei denen 728
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
§ 229
die Führungsaufsicht vor allem indiziert ist (Begr. des Sonderausschusses, S. 47 BTDrucks. V/4095). 2. Zur Ausgestaltung der Führung sauf sieht, die nur neben einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten in Betracht kommt (vgl. § 68 Abs. 1 Nr. 2) siehe §§ 68 a ff.
§ 229
Vergiftung
(1) Wer einem anderen, um dessen Gesundheit zu beschädigen, Gift oder andere Stoffe beibringt, welche die Gesundheit zu zerstören geeignet sind, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. (2) Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung (§ 224) verursacht worden, so ist auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren und, wenn durch die Handlung der Tod verursacht worden ist, auf lebenslange Freiheitsstrafe oder auf Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren zu erkennen. 1. Die durch das EGStGB nur redaktionell neu gefaßte Vorschrift stellt einen wegen seiner Gefährlichkeit besonders strafbedürftigen Fall der versuchten Körperverletzung selbständig unter Strafe. Der Tb. ist bereits mit der Giftbeibringung vollendet. Nicht erforderlich ist, daß das Gift schon zu wirken beginnt. 2. Gift ist ein Stoff, der durch seine chemische Beschaffenheit die Gesundheit zu zerstören geeignet ist, z. B. Arsen, Zyankali, E 605 und andere giftige Pflanzenschutzmittel, aber auch Ansteckungsstoffe wie Pocken, Typhus und Syphilis, ferner Leuchtgas (LG Berlin MDR 1964,1023). 3. Dem Gift gleichgestellt sind andere Stoffe, die die Gesundheit zerstören können, z. B. zerstoßenes Glas, kochendes Wasser sowie Salzsäure (BGH NJW 1976,1851), aber auch radioaktive Strahlen und Bakterien (BGH 15, 115). Entscheidend sind immer die Umstände des Einzelfalls (konkrete Betrachtungsweise, vgl. BGH NJW 1960, 2254, in BGH 15,113 nicht mit abgedruckt). 4. Eine Zerstörung der Gesundheit ist anzunehmen, wenn wesentliche körperliche Fähigkeiten völlig oder mindestens in erheblichem Umfang aufgehoben werden (BGH NJW 1960, 2254). Hierzu gehören z. B. eine wesentliche Beeinträchtigung des Sehvermögens oder der Bewegungsfähigkeit. Ein Dauerschaden ist nicht erforderlich. Andererseits können nur vorübergehende Beeinträchtigungen unwesentlicher Art, z. B. eine Ohnmacht, noch nicht als Zerstörung der Gesundheit angesehen werden. 5. Das Beibringen kann auch äußerlich erfolgen, z. B. dadurch, daß der Täter seinem Opfer Salzsäure in die Augen schüttet und dadurch das Sehvermögen beeinträchtigt (BGH 15, 113 m. abl. Anm. Schröder JR 1960, 466; BGH NJW 1976, 1851 m. krit. Anm. Stree JR 1977, 342 sowie zust. Anm. Meyer JuS 1977, 517). In der Regel jedoch erfolgt das Beibringen in der Weise, daß das Gift durch den Mund, durch Einspritzung, Einatmenlassen oder Aufstreichen auf eine Wunde in den Körper des Opfers eingeführt wird. 729
§ 230
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
6. Subjektiv ist zunächst Vorsatz erforderlich. Der Täter muß wissen, daß das Mittel in der gewählten Dosierung geeignet ist, die Gesundheit zu zerstören. Insoweit genügt bedingter Vorsatz (h. L.). Darüber hinaus ist die Absicht erforderlich, die Gesundheit zu beschädigen. Gesundheitsbeschädigung ist weniger als Gesundheitszerstörung. Es genügt also bereits die Absicht, eine geringere Beeinträchtigung der Gesundheit herbeizuführen, z. B. Übelkeit, Trunkenheit, Bewußtlosigkeit. Bei Tötungsvorsatz kommen nur §§ 211 ff. in Betracht. Siehe jedoch III 5 vor § 211. 7. Abs. 2 bringt eine Strafschärfung für den Fall, daß die schweren Folgen der §§ 224, 226 eintreten. Eine Strafmilderung bei Vorliegen eines minder schweren Falles ist in diesem Fall nicht vorgesehen, wohl aber muß die schwere Folge für den Täter vorhersehbar gewesen sein (§ 18). 8. Über das Verhältnis zu den Tötungsdelikten siehe Vorbem. III vor § 211. Gegenüber den §§ 223-226 geht § 229 vor. 9. Beispiel: A gibt dem B „zum Scherz" einen Teelöffel E 605 in den Kaffee. Er kennt zwar die gefährliche Wirkung des Mittels, glaubt aber, die geringe Menge könne nur zu einer vorübergehenden Magenverstimmung und etwas Übelkeit führen. B stirbt jedoch. Hier kömmt für A nur § 226 in Betracht. §§ 211, 212 entfallen mangels Tötungsvorsatzes; § 229 entfällt ebenfalls, da sich der Vorsatz des A nicht auf die gesundheitszerstörende Eigenschaft des Präparats erstreckte. Hätte er diese Eignung billigend in Kauf genommen, so würde sich die Bestrafung aus § 229 Abs. 2 ergeben.
§ 230
Fahrlässige Körperverletzung
Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung eines anderen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die durch das EGStGB im Strafrahmen redaktionell neu gefaßte Vorschrift entspricht weitgehend der fahrlässigen Tötung, so daß auf die Ausführungen zu § 222 verwiesen werden kann. Abweichend gegenüber der fahrlässigen Tötung sind jedoch folgende Punkte: a) Die Tat ist nur auf Antrag verfolgbar. Dieser ist nur dann nicht erforderlich, wenn die StA ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bejaht (vgl. § 232 Abs. 1). b) Die Tat kann auch im Wege der Privatklage verfolgt werden (§ 374 Abs. 1 Nr. 4 StPO). c) Die Einwilligung des Verletzten kann die Rechtswidrigkeit ausschließen (wichtig für Sportverletzungen und Verkehrsunfälle, vgl. § 226 a Anm. 3 c, d). 2. Wegen der Konkurrenzen siehe § 222 Anm. 2.
§ 231 730
[aufgehoben]
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung § 232
§ 232
Strafantrag
(1) Die vorsätzliche Körperverletzung nach § 2 2 3 und die fahrlässige Körperverletzung nach § 2 3 0 werden nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, daß die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält. Stirbt der Verletzte, so geht bei vorsätzlicher Körperverletzung das Antragsrecht nach § 7 7 Abs. 2 auf die Angehörigen über. (2) Ist die Tat gegen einen Amtsträger, einen für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten oder einen Soldaten der Bundeswehr während der Ausübung seines Dienstes oder in Beziehung auf seinen Dienst begangen, so wird sie auch auf Antrag des Dienstvorgesetzten verfolgt. Dasselbe gilt für Träger von Ämtern der Kirchen und anderen Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift stellt zunächst klar, daß nur die vorsätzliche Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 und 2) und die fahrlässige Körperverletzung (§ 230) Antragsdelikte sind. Alle übrigen Verbrechen und Vergehen des 17. Abschnitts sind von Amts wegen zu verfolgen, die gefährliche Körperverletzung (§ 223 a) allerdings nur, wenn ein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht (vgl. § 374 Abs. 1 Nr. 4 StPO). 2. Die vorsätzliche Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 und 2) und die fahrlässige Körperverletzung (§ 230) können ausnahmsweise auch ohne Strafantrag verfolgt werden, wenn ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. Entsprechende Regelungen finden sich in § 183 Abs. 2 und in § 248 a. Zuständig für die Entscheidung über das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses ist die StA, die bei ihrer Ermessensentscheidung die Nr. 233, 234 RiStBV sowie etwaige Ministerialerlasse zu beachten hat (für Bad.-Wttbgz.B. Erl. des JMv. 1 . 9 . 1 9 7 7 - 4 1 1 1 - IV/36). a) Die von der StA im Rahmen ihres Ennessensspielraums getroffene Entscheidung ist weder im Klageerzwingungsverfahren (vgl. § 172 Abs. 2 S. 3 StPO) noch im Verwaltungsrechtsweg (vgl. BVerfG NJW 1959,448) noch im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG nachprüfbar, sondern kann lediglich mit der Dienstaufsichtsbeschwerde angefochten werden. Auch das durch die Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses mit der Sache befaßte Gericht ist an die Entscheidung der StA gebunden (BGH 16, 225; h. L.; a. A. Hirsch LK 9; Vogel NJW 1961, 761). b) Wegen des Ausnahmecharakters sollte die StA bei Vorsatztaten das besondere öffentliche Interesse gegen den Willen des Verletzten nur dann bejahen, wenn es sich um schwerere Verletzungen handelt, wenn die Tat auf eine rohe, besonders leichtfertige oder rücksichtslose Einstellung des Täters schließen läßt, wenn es sich um einen rückfälligen Täter handelt oder wenn zu befürchten ist, daß der Verletzte nur unter dem Druck des Beschuldigten auf die Ausübung seines Antragsrechts verzichtet hat. Bei Fahrlässigkeitstaten sollte ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung zumindest dann verneint werden, wenn das Verschulden gering war und die Tat nur zu leichteren Verletzungen geführt hat. Besondere Zurückhaltung bei der Bejahung eines besonderen 731
§ 232
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
öffentlichen Interesses ist geboten, wenn es sich bei dem Verletzten um einen Angehörigen des Beschuldigten handelt. c) Da die Erklärung der StA nicht den Charakter eines Strafantrags hat, ist sie weder an die Form des § 158 Abs. 2 StPO noch an die Frist des § 77 b gebunden. Auch eine ausdrückliche Erklärung ist nicht erforderlich. Die Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses kann vielmehr bereits in der Tatsache der Anklageerhebung bzw. im Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls gesehen werden (vgl. BGH 16, 227; Krhe NJW 1974, 1006; h. L.). Dies gilt uneingeschränkt allerdings nur, wenn Anklage bzw. Strafbefehl erkennbar auf eine Verurteilung wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Körperverletzung hinzielen, sei es ausschließlich wegen dieser Delikte, sei es in IdK. mit anderen Delikten. Eine ausdrückliche Erklärung in der Hauptverhandlung ist jedoch geboten, wenn die Anklage zunächst wegen eines schweren Delikts erhoben wurde (z. B. wegen Vergewaltigung oder Raubs) und die gleichfalls vorliegende Körperverletzung infolge Gesetzeskonkurrenz oder Beschränkung gemäß § 154 a StPO im Verfahren zunächst außer Betracht bleiben konnte (vgl. BGH 19, 377; Hirsch LK 13; Kohlhaas NJW 1956; Oehler JZ 1956, 630). d) Die StA ist an ihre einmal getroffene Entscheidung grundsätzlich nicht gebunden. Sie kann deshalb einerseits in jeder Lage des Verfahrens (erforderlichenfalls noch in der Revisionsinstanz, vgl. BGH 16, 226) die bis dahin unterlassene Erklärung nachholen; andererseits ist sie nicht gehindert, das zunächst bejahte besondere öffentliche Interesse während des Verfahrens wieder zu verneinen. Die Rücknahme der zunächst abgegebenen Erklärung wirkt sich - ebenso wie die Rücknahme eines Strafantrags - für das weitere Verfahren als Verfahrenshindemis aus, d. h. das Verfahren ist gemäß §§ 206 a, 260 Abs. 3 StPO einzustellen, sofern die Tat nicht noch unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt (z. B. als Verkehrsordnungswidrigkeit) weiter zu verfolgen ist (KG VRS 18,352; NJW 1961, 569). e) Bei Verletzung mehrerer Personen durch dieselbe Tat hat die StA die Möglichkeit, die Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses auf die ausgesprochen strafbedürftigen Fälle zu beschränken, und zwar ohne daß es eines Rückgriffs auf § 154 a StPO bedarf (a. A. Braunschweig VM 1976 Nr. 15). 3. Überschneidungen mit dem Bußgeldverfahren nach dem OWiG können sich ergeben, wenn bei einer fahrlässigen Körperverletzung im Straßenverkehr der Verletzte zwar Strafantrag stellt, die StA aber unter Hinweis auf § 376 StPO ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung verneint und das Verfahren gemäß § 43 OWiG zur Ahndung der in der Tat liegenden OWi an die Verwaltungsbehörde abgibt. Legt der Betroffene gegen den daraufhin ergehenden Bußgeldbescheid Einspruch ein, so soll nach BayObLG DAR 1977, 50 das Amtsgericht gemäß § 81 OWiG verpflichtet sein, das Bußgeldverfahren mit Rücksicht auf den gestellten Strafantrag auch ohne weitere Erklärung der StA in das Strafverfahren überzuleiten. Dies führt jedoch zu dem zweifelhaften Ergebnis, daß der Betroffene nur auf Grund seines Einspruchs in ein Strafverfahren mit dem Risiko einer Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung verwickelt wird, obwohl die StA hierfür kein Bedürfnis sieht und der Verletzte es nicht für erforderlich gehalten hat, Privatklage zu erheben. 4. Abs. 1 S. 2 regelt den Übergang des Antragsrechts auf die Angehörigen eines Verstorbenen. Siehe hierzu § 77 Abs. 2 sowie Anm. 2 zu § 194. 732
Siebzehnter Abschnitt: Körperverletzung
§ 233
5. Das in Abs. 2 S. 1 geregelte Antragsrecht des Dienstvorgesetzten ist dem § 194 Abs. 3 5. 1 nachgebildet. Einzelheiten siehe Anm. 4 zu § 194. 6. Wegen der Gleichstellungsklausel für kirchliche Amtsträger u. a. (Abs. 2 S. 2) siehe § 194 Anm. 6.
§ 233
Wechselseitig begangene Straftaten
Wenn Körperverletzungen nach § 223 mit solchen, Beleidigungen mit Körperverletzungen nach § 223 oder letztere mit ersteren auf der Stelle erwidert werden, so kann das Gericht für beide Angeschuldigte oder für einen derselben die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder von Strafe absehen. Satz 1 gilt entsprechend bei fahrlässigen Körperverletzungen nach § 230, soweit nicht eine der in § 224 bezeichneten Folgen eingetreten ist. 1. Über den Sinn und Zweck der zuletzt durch das Gesetz zur Änderung des EGStGB v. 18. 8. 1974 (BGBl. 1 1942) neu gefaßten Vorschrift siehe § 199 Anm. 1. 2. § 233 bezieht sich nur auf nichtqualifizierte Körperverletzungen, und zwar sowohl auf vorsatzliche als auch auf fahrlässige (§§ 223, 230). Körperverletzungen nach den §§ 223 a, 223 b, 224-226, 229, 340 unterliegen dagegen nicht dem Anwendungsbereich der Vorschrift (vgl. Hirsch LK 6; Lackner 2). 3. Die Vorschrift entfällt, wenn die Beleidigung oder Körperverletzung in IdK. mit einem anderen Delikt steht. Im übrigen wird auf die Ausführungen zu § 199 verwiesen. 4. Beispiel: A beleidigt den B durch ein Schimpfwort. B erwidert mit einer Ohrfeige.
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Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit (§§ 2 3 4 - 2 4 1 a) § 234
Menschenraub
Wer sich eines Menschen durch List, Drohung oder Gewalt bemächtigt, um ihn in hilfloser Lage auszusetzen oder in Sklaverei, Leibeigenschaft oder in auswärtige Kriegs- oder Schiffsdienste zu bringen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. 1. § 234 enthält einen Sonderfall der Freiheitsberaubung, für den § 138 eine Anzeigepflicht vorsieht. 2. Die Tat ist vollendet, wenn es dem Täter gelungen ist, sich seines Opfers zu bemächtigen, d. h. es in seine tatsächliche Herrschaftsgewalt zu bringen. Zur Tatbestandsverwirklichung nicht erforderlich ist die Realisierung der Absicht, das Opfer auszusetzen usw. 3. Als Mittel der Bemächtigung kommen nur List, Drohung oder Gewalt in Betracht. Für die Annahme von List genügt bereits, daß der Täter die verfolgte Absicht geflissentlich verbirgt (BGH 16, 62). Nicht erforderlich ist, daß der Täter in dem Opfer einen Irrtum erregt. Es genügt, daß er das ihm entgegengebrachte Vertrauen mißbraucht. Über Gewalt siehe § 240 Anm. 3 a sowie § 249 Anm. 2. Alle drei Mittel können auch gegen Dritte angewandt werden (BGH 16,62). 4. Subjektiv ist neben dem Vorsatz die Absicht erforderlich, das Opfer in hilfloser Lage auszusetzen usw. Über Aussetzung siehe § 221. Absicht ist der direkte Vorsatz. 5. IdK. ist möglich mit §§ 109 h, 169, 181, 181 a, 235. - § 239 wird konsumiert. Ergänzend zu beachten ist das Ges. gegen Sklavenraub und Sklavenhandel vom 28. 7. 1895 (RGBl. 425) idF des Art. 148 EGStGB (BGBl. 1974 I, S. 557) sowie §§ 45 ff. AuswandG v. 9. 6. 1897 (RGBl. 463), zul. geändert durch Art. 82 EGStGB. Siehe auch §§ 88a, 126,130a, 138,140,145d Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2.
§ 234 a
Verschleppung
(1) Wer einen anderen durch List, Drohung oder Gewalt in ein Gebiet außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes verbringt oder veranlaßt, sich dorthin zu begeben, oder davon abhält, von dort zurückzukehren, und dadurch der Gefahr aussetzt, aus politischen Gründen verfolgt zu werden und hierbei im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen durch Gewalt- oder Willkürmaßnahmen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, der Freiheit beraubt oder in seiner beruflichen oder wirtschaftlichen Stellung empfindlich beeinträchtigt zu werden, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. 734
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
§ 235
(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. (3) Wer eine solche Tat vorbereitet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die durch das EGStGB nur redaktionell geänderte Vorschrift enthält einen Gefährdungstatbestand, der vor allem dann von Bedeutung ist, wenn das Schicksal der Verschleppten nicht aufklärbar ist. 2. Das eigentliche Verschleppen besteht darin, daß der Täter sein Opfer mit List, Drohung oder Gewalt (siehe hierzu § 234 Anm. 3) in ein Gebiet außerhalb der Bundesrepublik oder Westberlins bringt oder veranlaßt, sich dorthin zu begeben. Dem gleichgestellt wird die Hinderung an der Rückkehr. 3. Das Opfer muß in Gefahr geraten, aus politischen Gründen verfolgt zu werden und unter Bruch rechtsstaatlicher Grundsätze Schaden an Leib oder Leben zu erleiden oder der Freiheit beraubt zu werden oder in seiner beruflichen oder wirtschaftlichen Stellung empfindlich beeinträchtigt zu werden. a) Zu den politischen Gründen gehören auch rassische, religiöse und weltanschauliche. Oft werden andere Gründe, z. B. angebliche Wirtschaftsverbrechen, vorgespiegelt. b) Ein Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen liegt vor allem dann vor, wenn ein Prozeß überhaupt nicht oder nur zum Schein durchgeführt wird. 4. In Abs. 3 wird die Vorbereitung selbständig als Vergehen unter Strafe gestellt. Wird die Tat von mehreren vorbereitet, so ergibt sich die Strafbarkeit bereits aus § 30 Abs. 2 i. V. mit § 234 a Abs. 1. Der Vorbereitungstatbestand des Abs. 3 kommt daher nur in Betracht, wenn ein Einzelgänger die Tat vorbereitet (BGH 6, 85). Als Vorbereiten gilt schon das „Beschatten" des Opfers. Die Abgrenzung zum Versuch erfolgt nach allgemeinen Gesichtspunkten. So wird i. d. R. das Bereitstellen eines Pkw unmittelbar vor der geplanten Verschleppung schon als Beginn einer Ausführungshandlung anzusehen sein (vgl. Dreher 15 m. Nachw.). Bei freiwilligem Rücktritt von einer Vorbereitungshandlung kommt § 31 Abs. 1 Nr. 3 bei mehreren Tätern unmittelbar, bei einem Einzelgänger analog zur Anwendung (vgl. BGH 6, 85; h. L.). 5. IdK. ist möglich mit §§ 211, 212, 239 Abs. 2 und 3. Gesetzeskonkurrenz dürfte dagegen mit § 239 Abs. 1 bestehen. Ergänzend beachte §§ 88a, 126,130a, 138, 140,145 d.
§ 235
Kindesentziehung
(1) Wer eine Person unter achtzehn Jahren durch List, Drohung oder Gewalt ihren Eltern, ihrem Vormund oder ihrem Pfleger entzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 735
§ 235
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
(2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter aus Gewinnsucht handelt. 1. Die zuletzt durch das 4. StrRG neu gefaßte Vorschrift schützt das Sorgerecht der Eltern, des Vormunds oder Pflegers, nicht dagegen die Interessen der Heime, in denen die Minderjährigen untergebracht sind (vgl. BGH NJW 1963,1412). 2. Als Täter kommen auch die Eltern in Betracht, insbesondere ein Elternteil gegenüber dem anderen. 3. Bei nichtehelichen Kindern steht das Personensorgerecht grundsätzlich der Mutter zu. Hieraus folgt, daß das Jugendamt, soweit ihm nicht ausnahmsweise das volle Personensorgerecht für ein nichteheliches Kind zusteht, durch § 235 nicht geschützt ist, wenn das Kind seinem Wirkungsbereich entzogen wird (vgl. BGH 1, 364; Bremen JR 1961, 107). 4. Eine Entziehung ist gegeben, wenn das Personensorgerecht unwirksam gemacht oder so wesentlich beeinträchtigt wird, daß es nicht ausgeübt werden kann (vgl. BGH 1,199 f.; 16, 58, 61). Welche Zeitdauer hierfür notwendig ist, richtet sich im wesentlichen nach dem Alter und Gesundheitszustand des Minderjährigen. So wird bei einem Kleinkind, das sich nicht selbst versorgen kann, ein geringerer Zeitraum ausreichen als bei einem Jugendlichen im Alter von 17 Jahren, der schon verhältnismäßig selbständig ist. Unter Anwendung dieser Grundsätze hielt es der Bundesgerichtshof für möglich, den Tb. als erfüllt anzusehen, wenn jemand ein 4jähriges Kind für nur 10 Minuten von seinen Eltern weglockt, um sexuelle Handlungen an ihm vornehmen zu können (BGH 16, 58, 61; a. A. Eser in Schönke-Schröder 6). Immer erforderlich ist eine räumliche Trennung des Minderjährigen vom Personensorgeberechtigten (Eser aaO. 5; Maurach BT 126). Diese kann u. a. auch dadurch bewirkt werden, daß der Personensorgeberechtigte durch Festhalten oder durch falsche Angaben über den Aufenthaltsort des Minderjährigen an der Ausübung des Personensorgerechts gehindert wird. Die Aufnahme eines von zu Hause weggelaufenen E n d e s erfüllt den Tb. nur dann, wenn der Täter zusätzlich Maßnahmen ergreift, um die Rückkehr zu verhindern oder um den Verkehr des Personensorgeberechtigten mit dem Minderjährigen zu erschweren (Eser aaO.). Nicht hierher gehört der Fall, daß jemand durch falsche Angaben eine gerichtliche Entscheidung bewirkt, durch die dem Personensorgeberechtigten das Sorgerecht entzogen wird (Stgt NJW 1968, 1341). Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß § 235 nur die Ausübung des Sorgerechts, nicht auch dessen rechtlichen Bestand schützt. 5. Die Tatmittel List, Drohung und Gewalt können sich gegen die Eltern usw., aber auch gegen den Minderjährigen selbst oder etwaige Aufsichtspersonen richten, z. B. gegen den Leiter eines Jugendheims, in dem ein Jugendlicher auf Veranlassung seiner Eltern im Wege der freiwilligen Erziehungshilfe (§§ 62 ff. JWG) untergebracht war (vgl. BGH 16, 58, 62 und NJW 1963, 1412). Der gleichfalls verwirklichte § 86 JWG ist in diesem Fall subsidiär. 6. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Der Täter muß wissen, daß die entführte Person noch minderjährig ist und daß er durch die Tat fremdes Personensorgerecht verletzt. 736
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
§ 236
7. Eine Strafschärfung gemäß Abs. 2 kommt insbesondere bei Gewinnsucht in Betracht (siehe hierzu BGH 1, 389) oder wenn der Täter die Absicht hat, den Minderjährigen zu sexuellen Handlungen zu mißbrauchen (obwohl seit der Neufassung durch das 4. StrRG nicht mehr ausdrücklich als Regelbeispiel erwähnt, vgl. Ber. S. 36 BT-Drucks. VI/1552). 8. Gemäß § 238 Abs. 1 ist die Tat nur auf Antrag verfolgbar. Bei Eheschließung nach der Entziehung siehe § 238 Abs. 2. 9. Da die Vorschrift u. a. auch dem Wohl des Minderjährigen dient, kann dieser nicht Teilnehmer sein (vgl. RG 18, 281; Dreher 2; Lackner 1; Eser in Schönke-Schröder 14 sowie 5 vor § 25; a. A. Maurach Nachtrag I S. 10: Geschützt und verletzt ist allein der Erziehungsberechtigte; der Minderjährige macht sich dann der Teilnahme schuldig, wenn er seine Rolle als notwendiger Teilnehmer überschreitet, was bei der Anstiftung immer der Fall ist). 10. Tateinheit ist möglich mit §§ 120, 169, 234, 236, 237, 239 a, 239 b. § 86 JWG ist subsidiär. Auch gegenüber § 240 geht § 235 vor.
§ 236
Entführung mit Willen der Entführten
Wer eine unverehelichte Frau unter achtzehn Jahren mit ihrem Willen, jedoch ohne Einwilligung ihrer Eltern, ihres Vormunds oder ihres Pflegers entführt, um sie zu außerehelichen sexuellen Handlungen (§ 184 c) zu bringen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die durch das 1. StrRG neu gefaßte Vorschrift entspricht im wesentlichen dem früheren § 237. Die Umstellung der Paragraphenfolge verfolgt den Zweck, den inneren Zusammenhang der §§ 236 und 237 klarer zum Ausdruck zu bringen, als dies früher der Fall war. Beide Vorschriften dienen dem Schutz des Personensorgeberechtigten bei Minderjährigen bis zu 18 Jahren. 2. Die Frau ist entführt, wenn sie von ihrem bisherigen Aufenthaltsort an einen anderen verbracht wird, an dem der Personensorgeberechtigte nicht mehr ungehindert auf sie einwirken kann. Nicht erforderlich ist, daß der Täter die Minderjährige selbst an den Zielort bringt. Es genügt, wenn er einen bestimmenden Einfluß auf sie ausübt. Der Tatbestand wird auch nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß die Anregung zur Entführung von der Minderjährigen ausgeht (vgl. BGH bei Dallinger MDR 1968, 728; BayObLG NJW 1953, 1195). Andererseits genügt es nicht, wenn der Täter der Minderjährigen lediglich zur Flucht aus dem Elternhaus behilflich ist (vgl. R G 39, 215). Die Entfernung des neuen Aufenthaltsorts vom früheren ist unerheblich. Der Tb. kann deshalb z. B. schon dadurch verwirklicht werden, daß A die minderjährige Tochter seines im gleichen Haus wohnenden Vermieteis V für einige Tage zu sich in seine Wohnung nimmt, ohne daß V hiervon weiß. Hinsichtlich der Dauer der Entführung gelten die Ausführungen zu § 235 (siehe dort Anm. 4) entsprechend. Entscheidend sind auch hier die Umstände des Einzelfalls, insbesondere das Alter des Minderjährigen. So wird man den Tb. nicht schon dann als erfüllt 24
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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§ 237
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
ansehen können, wenn A die 17jährige Tochter seines Hauswirts gegen dessen Willen für ein paar Stunden zu sich auf sein Zimmer nimmt. Anders jedoch, wenn er die Minderjährige gegen den Willen ihrer Eltern zu einem gemeinsamen Wochenendausflug oder gar zu einem gemeinsamen längeren Urlaub verleitet. 3. Die Entführung muß grundsätzlich mit Willen des Entführten erfolgen. Entgegen dem Wortlaut, aber in Übereinstimmung mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift findet § 236 auch dann Anwendung, wenn der Entführer das Einverständnis der Entführten mit der Entführung und dem von ihm damit verfolgten Zweck nur irrig annimmt (BGH 24,168). 4. Die Einwilligung des Personensorgeberechtigten schließt bereits den Tatbestand, nicht erst die Rechtswidrigkeit aus. Sie ist allerdings rechtlich nur dann beachtlich, wenn der Personensorgeberechtigte auch den Zweck der Entführung kennt (Eser in SchönkeSchröder 6). 5. Der subj. Tb. erfordert zunächst Vorsatz. Der Täter muß wissen, daß die Minderjährige das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und die Entführung gegen den Willen ihrer Eltern usw. erfolgt. Bedingter Vorsatz genügt. Der subj. Tb. erfordert weiter die Absicht, die Minderjährige zu außerehelichen sexuellen Handlungen mit ihm oder einem Dritten zu bringen. Als Absicht gilt in diesem Zusammenhang das Streben, die äußere Lage zur Vornahme geschlechtlicher Handlungen durch die Entführung günstiger zu gestalten. Diese Absicht muß bereits im Zeitpunkt der Entführung vorliegen. Nicht hierher gehört der Fall, daß die Entführung zunächst aus anderen Gründen erfolgt (z. B. um einer auf dem Land lebenden Minderjährigen eine Arbeitsstelle in der Stadt zu verschaffen), und der Täter erst später die günstige Lage zur Vornahme geschlechtlicher Handlungen ausnutzt. 6. Gemäß § 238 Abs. 1 tritt die Strafverfolgung nur auf Antrag ein. Bei Eheschließung nach der Entführung siehe § 238 Abs. 2.
§ 237
Entführung gegen den Willen der Entführten
Wer eine Frau wider ihren Willen durch List, Drohung oder Gewalt entführt, namentlich mit einem Fahrzeug an einen anderen Ort bringt, und eine dadurch für sie entstandene hilflose Lage zu außerehelichen sexuellen Handlungen (§ 184 c) mit ihr ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die durch das 1. StrRG neu gefaßte und durch das 4. StrRG nochmals redaktionell geänderte Vorschrift entspricht dem früheren § 236. Der Tatbestand ist jedoch wesentlich enger gefaßt; außerdem wurde der Strafrahmen erheblich eingeschränkt. Die Tat wird jetzt nur noch als Vergehen mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Auf die Strafbarkeit des Versuchs wurde bewußt verzichtet. 2. Geschütztes Rechtsgut ist das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihr Geschlechtsleben. Alter, Stand und Ruf der Frau sind unerheblich, so daß Opfer der Tat auch eine
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Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
§ 237
Prostituierte sein kann. Die teilweise abweichende Entscheidung BGH 21, 188, die schon auf der Grundlage des früheren Rechts verschiedentlich auf Kritik gestoßen ist (vgl. Schröder JR 1967, 226; Roxin NJW 1967, 1286), ist nach der durch das 1. StrRG vorgenommenen Milderung des Strafrahmens überholt (vgl. Dreher 1; Lackner 1). Der BGH hatte in der genannten Entscheidung ausgesprochen, daß § 236 aF mit seiner hohen Mindeststrafe (Zuchthaus ohne die Möglichkeit der Zubilligung mildernder Umstände) nur die Freiheit der Frau im geschlechtlichen Umgang überhaupt, nicht jedoch eine damit verbundene Erwartung einer Bezahlung schütze. Diese Auslegung führte dazu, daß nach § 236 aF nicht bestraft werden konnte, wer eine Prostituierte mit dem Kraftwagen nicht an die von ihr genannte Stelle, sondern gegen ihren Willen an einen anderen Ort entführte, um ihr dort das vereinbarte Geld vorzuenthalten und sie notfalls mit Gewalt zu mißbrauchen. Nachdem der Strafrahmen inzwischen ganz erheblich gemildert wurde, besteht kein Anlaß mehr, an dieser einschränkenden Auslegung festzuhalten. Ist das Opfer geisteskrank oder geistesschwach, so kommt es - wie im Normalfall - nur auf ihren Willen, nicht auf den ihres gesetzlichen Vertreters an (BGH 23, 1 m. zust. Anm. Peters JR 1970, 68). War sie mit der Ortsveränderung und dem damit verfolgten Zweck einverstanden, so ist der Tb. des § 237 nicht erfüllt. Dies gilt auch dann, wenn sie infolge ihres Geisteszustands den Zweck der Entführung in semer Tragweite nicht beurteilen konnte. Kann eine Frau infolge Bewußtlosigkeit ihren gegen die Ortsveränderung gerichteten Willen nicht äußern, so ist auf ihren mutmaßlichen Willen abzustellen (BGH 25, 237 m. Anm. Meyer-Gerhards JuS 1974,566). 3. Die Frau ist entführt, wenn sie von ihrem bisherigen Aufenthaltsort an einen anderen verbracht wird, an dem sie dem ungehemmten Einfluß des Täters preisgegeben ist (BGH 22, 178). Die Entfernung des neuen Aufenthaltsorts ist wie bei § 236 (siehe dort Anm. 2) unerheblich. Auch die Dauer der Entführung ist grundsätzlich unerheblich. Eine Entführung liegt daher z. B. schon dann vor, wenn ein Kraftfahrer gegen den Willen seiner Begleiterin von der Straße abbiegt und in einen naheliegenden Wald fährt (BGH 18, 31) oder über das vereinbarte Ziel der Fahrt hinausfährt (BGH GA 1968, 246). Auch in diesen Fällen kann sich die Lage der Frau so erheblich verschlechtern, daß sie dem ungehemmten Einfluß des Täters preisgegeben ist. 4. Als Mittel der Entführung nennt das Gesetz List, Drohung und Gewalt. Siehe hierzu § 234 Anm. 3. List liegt z. B. schon dann vor, wenn ein Kraftfahrer eine Anhalterin aufnimmt mit dem Versprechen, sie so schnell wie möglich an den gewünschten Ort zu bringen, während er in Wirklichkeit beabsichtigt, bei nächster Gelegenheit vom direkten Weg abzubiegen und die Frau zum Verkehr zu bringen (BGH 18, 31; NJW 1967, 1765). Gewalt kann auch gegen eine Bewußtlose verübt werden (vgl. BGH 25, 237 m. Anm. Meyer-Gerhards JuS 1974, 566). 5. Seit der Neufassung der Vorschrift durch das 1. StrRG ist der Tb. als zweiaktiges Delikt ausgestaltet. Er ist erst dann verwirklicht, wenn der Täter die durch die Entführung entstandene hilflose Lage zu außerehelichen sexuellen Handlungen ausnutzt. Die bloße Ortsveränderung in der Absicht, die Frau zu sexuellen Handlungen zu bringen, stellt jetzt nur einen (straflosen) Versuch dar. Andererseits ist nicht erforderlich, daß der Täter schon bei der Entführung die Absicht hatte, die hilflose Lage der Entführten später zu sexuellen Handlungen auszunutzen (BGH 24, 90; NJW 1971, 2081; Dreher NJW 1972, 1641; JZ 1973, 276; Blei JA 1971, StR 158; 1972, StR 207; 1973, StR 41; Lackner 4; Wessels BT I 49; a. A. Schröder JZ 1971, 435; Hruschka JZ 1973, 12). Der Tb. ist 24«
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§ 239
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
deshalb auch dann erfüllt, wenn die Entführung zunächst zu anderen Zwecken erfolgte, z. B. um die Frau zu berauben oder zu erpressen, und der Täter erst später die hilflose Lage der Frau sexuell ausnutzt. 6. In hilfloser Lage befindet sich die Entführte, wenn sie nicht mehr in der Lage ist, sich dem Einfluß des Täteis aus eigener Kraft zu entziehen. Diese Lage muß gerade durch die Entführung entstanden sein. Nicht ausreichend ist, daß das Opfer erst dadurch hilflos wird, daß es sich - noch im Zustand äußerer und innerer Unabhängigkeit - dazu verleiten läßt, im Übermaß Alkohol oder Drogen zu sich zu nehmen (für diesen Fall siehe jedoch § 179). 7. Gemäß § 238 Abs. 1 ist die Tat nur auf Antrag verfolgbar. Bei Jugendlichen, Geisteskranken und Geistesschwachen kann dieser nur vom gesetzlichen Vertreter gestellt werden. Bei Eheschließung nach der Entführung siehe § 238 Abs. 2. 8. IdK. ist möglich mit §§ 176-179, 185, 235, 239 Abs. 2 und 3. Dagegen wird § 239 Abs. 1 konsumiert und erhält auch dann keine selbständige Bedeutung, wenn ein Strafantrag nicht gestellt oder zurückgenommen wird (BGH 19, 320 sowie bei Dallinger MDR 1971,722).
§ 238
Voraussetzungen der Verfolgung
(1) In den Fällen der §§ 2 3 5 bis 2 3 7 wird die Tat nur auf Antrag verfolgt. (2) Hat ein Beteiligter in den Fällen der §§ 2 3 5 bis 2 3 7 die Person, die er entzogen oder entführt hat, geheiratet, so wird die Tat nur dann verfolgt, wenn die Ehe für nichtig erklärt oder aufgehoben worden ist und das Antragsrecht nicht vor Eingehung der Ehe erloschen war. 1. Seit der Neufassung durch das 1. StrRG ist auch die in § 235 unter Strafe gestellte Kindesentziehung Antragsdelikt Neu ist weiter, daß der Strafantrag in allen Fällen zurückgenommen werden kann (vgl. § 77 d Abs. I S . 1). 2. Die Eheschließung wirkt sich in den Fällen der §§ 235-237 als Prozeßhindernis aus, das erst dann wegfällt, wenn die Ehe später für nichtig erklärt oder aufgehoben wird. Bis dahin ruht die Verjährung (§ 78 b). „Beteiligte" sind Täter und Teilnehmer (vgl. § 28 Abs. 2).
§ 239
Freiheitsberaubung
(1) Wer widerrechtlich einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise des Gebrauchs der persönlichen Freiheit beraubt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 740
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
§ 239
(2) Wenn die Freiheitsentziehung über eine Woche gedauert hat oder wenn eine schwere Körperverletzung (§ 2 2 4 ) des der Freiheit Beraubten durch die Freiheitsentziehung oder die ihm während derselben widerfahrene Behandlung verursacht worden ist, so ist auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen. In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. (3) Ist der Tod des der Freiheit Beraubten durch die Freiheitsentziehung oder die ihm während derselben widerfahrene Behandlung verursacht worden, so ist auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren zu erkennen. In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift schützt das Recht, sich jederzeit frei bewegen zu können. Dieses Recht ist bereits dann verletzt, wenn die Bewegungsfreiheit objektiv eingeschränkt ist. Der Tb. ist demnach auch dann erfüllt, wenn der Eingeschlossene die Freiheitsberaubung gar nicht bemerkt, weil er den Raum, in dem er sich befindet, zufällig nicht verlassen will (BGH 14, 314) oder weil er bewußtlos ist (vgl. BGH 25, 237 zu § 237). Der Tb. ist dagegen nicht erfüllt, wenn ein Kleinkind, das noch nicht laufen kann, eingesperrt wird (BayObLG JZ 1952, 297). Bei Körperbehinderten kann eine Freiheitsberaubung dadurch begangen werden, daß ihre Hilfsmittel (Krücken, Rollstuhl) weggenommen werden. 2. Das Mittel der Freiheitsberaubung ist unerheblich. a) Eingesperrt ist, wer einen Raum nicht verlassen kann, weil die üblichen Zugangswege verschlossen sind. Diese Voraussetzungen können auch dann vorliegen, wenn das Opfer einen vorhandenen Notausgang nicht kennt oder den Sprung aus dem Fenster nicht wagt, obwohl er objektiv möglich wäre. b) Eine Freiheitsberaubung auf andere Weise kann z. B. durch Narkotisierung oder Hypnotisierung bewirkt werden. Hierher gehört auch der bereits erwähnte Fall, daß einem Körperbehinderten die Krücken oder der Rollstuhl weggenommen werden. Von praktischer Bedeutung ist ferner der Fall, daß ein Kraftfahrer entgegen dem ausdrücklichen Verlangen seines Beifahrers diesen nicht aussteigen läßt (RG 25, 147). Der Tb. kann schließlich auch dadurch verwirklicht werden, daß einem nackt Badenden die am Ufer liegenden Kleider weggenommen werden, so daß er es nicht wagt, das Wasser zu verlassen (RG6, 231). c) Die Freiheitsberaubung kann auch durch Unterlassen begangen werden. Beispiel: Ein Museumsbediensteter unterläßt es, einen versehentlich eingeschlossenen Besucher sofort zu befreien. d) Über mittelbare Täterschaft siehe § 25 Anm. III 3 b. 3. Die Einwilligung schließt nach h. L. bereits den Tatbestand, nicht erst die Rechtswidrigkeit aus. Dem kann jedoch nur für die Fälle zugestimmt werden, in denen die Handlung schon ihrem sozialen Sinn nach keine Freiheitsberaubung darstellt, z. B. wenn sich jemand mit dem D-Zug von Heidelberg nach Stuttgart befördern läßt. Anders jedoch, 741
§ 239
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
wenn jemand sich freiwillig in einen Raum einschließen läßt, z. B. ein Student, der sich über Nacht in das Seminar einschließen läßt, um ungestört arbeiten zu können. Hier wird man den Tb. als erfüllt ansehen müssen. Die Tat ist jedoch durch Einwilligung gerechtfertigt. 4. Die Rechtswidrigkeit kann entfallen a) durch Einwilligung (s. o. 3), b) auf Grund erlaubter Selbsthilfe (vgl. §§ 229, 561 BGB), c) auf Grund eines Erziehungsrechts, z. B. wenn ein Vater seine ungeratene Tochter abends in ihr Zimmer einschließt, damit sie nicht auf der Straße herumstreunt. Die Rechtswidrigkeit wird dagegen nicht dadurch ausgeschlossen, daß eine pflichtvergessene Mutter ihr 7jähriges Kind sonntags von 6.00-18.00 Uhr ohne ausreichende Nahrung in sein Zimmer einschließt, damit sie ungestört an einem Familientreffen teilnehmen kann (SchöffG Heidelberg 23. 1. 1 9 6 4 - 1 Ms 22/63); d) auf Grund „familiärer Fürsorge", z. B. um zu verhindern, daß ein geisteskrankes Familienmitglied, das man nicht einem psychiatrischen Krankenhaus überantworten will, nachts auf der Straße herumirrt (BGH 13, 197). Rechtswidrig ist die Tat hier nur, wenn der Geisteskranke länger als notwendig festgehalten oder nicht ausreichend versorgt wird (BGHaaO. 202); e) auf Grund einer vorläufigen Festnahme gemäß § 127 StPO oder zur Durchführung einer Blutentnahme gemäß § 81 a StPO. Die Rechtmäßigkeit der Maßnahme wird hier nicht dadurch berührt, daß der Beamte sich über die tatsächlichen Voraussetzungen seines Einschreitens geirrt hat. Siehe hierzu ausführlich § 113 Anm. II; f) auf Grund eines Haftbefehls (§ 114 StPO), eines Unterbringungsbefehls (§ 126 a StPO), eines Gerichtsbeschlusses gemäß § 81 StPO oder bei Vollstreckung einer rechtskräftig ausgesprochenen Freiheitsstrafe. Auch hier kommt es nicht darauf an, ob die Maßnahme objektiv der Rechtslage entspricht. Es genügt, daß sie auf einem ordnungsgemäß durchgeführten Verfahren beruht. Auch bei einem „Justizirrtum" ist keine Notwehr zulässig. Der Rechtsstaat verschafft dem Bürger kein Faustrecht, sondern lediglich das Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren; g) bei Unterbringung eines Geisteskranken in einem psychiatrischen Krankenhaus. Diese ist jedoch nur aufgrund eines formellen Gesetzes zulässig (vgl. Art. 2 I, II, 104 IGG). 5. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich, wobei bedingter Vorsatz genügt. Der Vorsatz kann z. B. entfallen, wenn jemand nicht weiß, daß sich in dem Raum, den er abschließt, noch eine Person befindet, oder wenn der Täter irrig annimmt, der Eingeschlossene sei mit der Einschließung einverstanden. Hier käme nur Fahrlässigkeit in Betracht, die aber nicht strafbar ist. 6. Die Strafschärfungen in Abs. 2 und Abs. 3 unterliegen der Regelung des § 18, d. h. die strafschärfenden Umstände müssen mindestens fahrlässig verursacht worden sein. Beispiele: A schließt den B im Keller ein, wo er nach 10 Tagen elend verhungert. Hier sind sowohl die Voraussetzungen des Abs. 2 als auch die des Abs. 3 gegeben. Außerdem kommt bei entsprechendem Vorsatz Mord (§211) in Betracht. - Oder: A hält seine Begleiterin B in seinem Pkw fest. Schließlich springt die B aus dem fahrenden Pkw, wobei 742
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
§ 239 a
sie sich tödliche Verletzungen zuzieht: Strafbarkeit des A gemäß § 239 Abs. 3 (vgl. BGH 19, 382 m. abl. Anm. Widmann MDR 1967, 972). Auch der Selbstmord des der Freiheit Beraubten kann durch die Freiheitsberaubung verursacht sein (vgl. BGH LM Nr. 4; Lackner 5). 7. Der Versuch ist nur unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 strafbar (Einzelheiten s. § 18 Anm. 3). Die versuchte einfache Freiheitsberaubung ist mangels besonderer Strafdrohung nicht strafbar. 8. Konkurrenzen: § 239 Abs. 1 wird konsumiert von den sog. Entführungstatbeständen (§§ 234, 234 a, 237, 239 a, 239 b). Tateinheit ist möglich mit §§ 113, 132, 164, 177, 178 (Koblenz VRS 49, 347), 223 ff., 249 ff. Gegenüber § 240 geht § 239 vor, wenn der Täter mit der Gewalt nicht mehr als die Freiheitsberaubung erreichen will (Koblenz aaO.). § 239 Abs. 2 kann in Tateinheit stehen mit §§ 224, 225, § 239 Abs. 3 mit §§ 211, 212 sowie anderen erfolgsqualifizierten Delikten, z. B. §§ 177 Abs. 3,251.
§ 239 a
Erpresserischer Menschenraub
(1) Wer einen anderen entführt oder sich eines anderen bemächtigt, um die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers zu einer Erpressung (§ 253) auszunutzen, oder wer die von ihm durch eine solche Handlung geschaffene Lage eines anderen zu einer solchen Erpressung ausnützt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft. (2) Verursacht der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren. (3) D a s Gericht kann die Strafe nach § 4 9 Abs. 1 mildern, wenn der Täter das Opfer unter Verzicht auf die erstrebte Leistung in dessen Lebenskreis zurückgelangen läßt. Tritt dieser Erfolg ohne Zutun des Täters ein, so genügt sein ernsthaftes Bemühen, den Erfolg zu erreichen. I. Die durch das 12. StrÄndG neu gefaßte, durch das EGStGB nur technisch geänderte Vorschrift dient der wirksamen Bekämpfung bestimmter Formen der erpresserischen Entführung, die seit den sechziger Jahren im In- und Ausland immer häufiger in Erscheinung getreten sind und zu der Erkenntnis geführt haben, daß die bis dahin bestehenden Strafvorschriften sowohl hinsichtlich der Tatbestandsbeschreibung als auch hinsichtlich der Strafdrohung dieser modernen Form der Kriminalität nicht gerecht werden konnten. So wurden in der Kriminalstatistik allein in den Jahren 1973-1976 nicht weniger als 148 Fälle des erpresserischen Menschenraubs und 143 Fälle der Geiselnahme registriert (Polizeispiegel 1977, 193). Die gesetzestechnische Lösung wurde dahingehend getroffen, daß der Anwendungsbereich des früheren § 239 a (erpresserischer Kindsraub) auch auf die Entführung Erwachsener und die Entführung eigener Kinder ausgedehnt und gleichzeitig in § 239 b (Geiselnahme zum Zwecke der Nötigung) ein neuer, ergänzender Tatbestand geschaffen wurde. 743
§ 239 a
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
Aus den Gesetzesmaterialien (in denen das Gesetz noch als 13. StrÄndG bezeichnet wird) siehe besonders den Gesetzesentwurf des Bundesrats (BT-Drucks. VI/2139), den schriftlichen Bericht (Ber.) des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BT-Drucks. VI/2722) sowie die Protokolle über die Sitzungen des Sonderausschusses (VI 1547, 1571, 1577, 1629). Schrifttum: Backmann, Geiselnahme bei nicht ernsthaft gemeinter Drohung, JuS 1977, 444; - Blei JA 1972, StR 39, 57, 74; 1975, StR 19, 37; - Bohlinger JZ 1972, 230; - Hansen GA 1974, 353; - Middendorf, Menschenraub, Flugzeugentführungen, Geiselnahme, Kidnapping, 1973; - Müller-Emmert/Maier MDR 1972, 97; Maurach, Heinitz-Festschr. S. 403. n. Geschütztes Rechtsgut ist, wie sich schon aus der Stellung im Gesetz ergibt, in erster Linie die persönliche Freiheit und Integrität des entführten Opfers, außerdem die psychophysische Integrität des in Sorge Gebrachten (vgl. Dreher 2) und schließlich das durch die beabsichtigte Erpressung geschädigte Vermögen. Die Vermögensinteressen stehen jedoch keinesfalls im Vordergrund. Es handelt sich vielmehr um ein durch die erpresserische Absicht qualifiziertes Delikt gegen die persönliche Freiheit (vgl. MüllerEmmert/Maier MDR 1972, 97; Lackner 1). Ol. Angriffsobjekt kann entgegen der früheren Fassung der Vorschrift nicht nur ein fremdes Kind sein, sondern jeder Mensch, also auch ein Erwachsener oder das eigene Kind (BGH 26, 71; GA 1975, 53). Beispiel: A entführt sein eigenes Kind, um seine getrennt lebende Ehefrau zu zwingen, auf Unterhalt zu verzichten. IV. Die Tathandlung der 1. Tatbestandsaltemative besteht im Entführen oder Sichbemächtigen, wobei beide Begriffe sich teilweise überschneiden, im übrigen jedoch selbständig einander gegenüberstehen (vgl. Ber. S. 2; Blei JA 1972, StR 74; Bohlinger JZ 1972, 230; Lackner 3 a). 1. Über Entführen siehe § 236 Anm. 2 und § 237 Anm. 3. Die Mittel der Entführung sind unerheblich. In der Regel werden - wie bei § 234 - Gewalt, Drohung oder List in Betracht kommen. Unerheblich ist auch, ob die Entführung mit oder ohne Willen der entführten Person erfolgt und ob die entführte Person sich ihrer Lage bewußt ist (wichtig bei Kleinkinder und Bewußtlosen, vgl. BGH 26, 70 f.; Blei JA 1975, StR S. 37; Dreher 5). Nicht erforderlich ist schließlich, daß der Täter durch die Entführung eine physische Herrschaft über das Opfer begründet hat (BGH aaO.). Beispiel: A bringt das Kind K auf ein abgelegenes Schloß, wo es sich völlig frei bewegen kann, während der Komplize B die Eltern des K erpreßt. 2. Das Tb.-Merkmal Sichbemächtigen verlangt die Begründung einer physischen Herrschaft über das Opfer, setzt aber - im Gegensatz zum Entführen - keine Ortsveränderung voraus. Beispiel: A hält den Bankangestellten X in der Schalterhalle der Bank fest, um auf diese Weise von der Direktion ein Lösegeld zu erpressen. Dem gleich steht der Fall, daß A in gleicher Absicht eine Pistole an den Kopf des X legt (vgl. Eser in SchönkeSchröder 8; a. A. Blei JA 1975, StR 37). Der Tb. kann auch dadurch verwirklicht werden, daß das Opfer sich „freiwillig" in die Gewalt des Täters begibt (wichtig für sog. Ersatzgeiseln, vgl. Eser in Schönke-Schröder 9 a). Unerheblich ist schließlich das Einverständnis des gesetzlichen Vertreters (BGH 26, 70 m. zust. Anm. Lampe JR 1975,424; Blei aaO.). 744
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
§ 239 a
V. Die 2. TatbestandsaHernative erfaßt die Fälle, in denen der Täter das Opfer ursprünglich - erwiesenermaßen oder unwiderlegbar - nicht in erpresserischer, sondern in anderer Absicht (z. B. aus sexuellen Motiven) entführt oder in seine Herrschaftsgewalt gebracht hat, dann aber die so geschaffene Lage zur Erpressung ausnutzt. Es handelt sich somit ähnlich wie § 237 - um ein zweiaktiges Delikt, das erst dann vollendet ist, wenn der Täter die beabsichtigte Erpressung zumindest versucht hat (vgl. Müller-Emmert/Maier MDR 1972,98; Dreher 7). VI. Der subj. Tb. erfordert bei der 1. TatbestandsaHernative (s. o. IV) neben dem Vorsatz die Absicht, die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers zu einer Erpressung auszunutzen. 1. Endziel der Tat ist die Begehung einer Erpressung, d. h. die Erlangung eines rechtswidrigen Vermögensvorteils. (Bei der Erstrebung eines - tatsächlich oder vermeintlich rechtmäßigen Vermögensvorteils kommt, sofern mit den Mitteln des § 239 b gedroht wird, nur diese Bestimmung in Betracht.) Als Erpressung gilt nicht nur der Tb. des § 253, sondern auch die räuberische Erpressung des § 255. a) Die Sorge um das Wohl setzt die Befürchtung voraus, das Opfer könne bei Fortbestand der vom Täter geschaffenen Lage in seiner körperlichen oder seelischen Integrität beeinträchtigt werden. Die Gefahr einer derartigen Beeinträchtigung muß vom Täter zumindest konkludent angedroht worden sein (vgl. BGH 25, 35). Nicht erforderlich ist dagegen, daß der Täter das Opfer zu töten oder zu verletzen droht (vgl. Ber. S. 2). Unerheblich ist weiter, ob der Täter tatsächlich die Absicht hat, im Falle der Verweigerung des erstrebten Vermögensvorteils die körperliche oder seelische Integrität des Opfers zu beeinträchtigen (vgl. BGH 16, 316; Lackner 3 b). Tatbestandsmäßig ist schließlich auch der Fall, daß der Entführte selbst mit der Vorstellung erpreßt wird, welche seelischen Leiden seine sich um ihn sorgenden Angehörigen auszustehen hätten (vgl. Hansen GA 1974, 353, 363; übereinstimmend auch Dreher 6). b) Dritter kann jeder sein, der sich Sorgen um das (körperliche, geistige oder sittliche) Wohl des Opfers macht und für den sich deshalb der Fortbestand der Lage des Opfers als Übel darstellt (vgl. Blei JA 1972, StR 58). In Betracht kommen vor allem die Angehörigen des Opfers, aber auch Mitglieder der Regierungen von Bund und Ländern. So löst z. B. die Entführung einer Passagiermaschine der Lufthansa bei der Bundesregierung mit der Sorge um die Passagiere zugleich auch die Befürchtung politischer Komplikationen mit ausländischen Staaten aus, deren Angehörige sich an Bord befinden (vgl. Blei JA 1972, StR 76; siehe auch Backmann/Müller-Dietz JuS 1975, 38, 41). Nicht ausreichend ist andererseits der Appell des Täters an allgemein bekannte humanitäre Gesinnungen. So erfüllt z. B. die an einen Zeitungsverleger gerichtete Aufforderung, für die Freigabe eines sonst dem sicheren Tod verfallenen Kindes aus eigenen Mitteln oder durch einen Spendenaufruf einen größeren Geldbetrag als Lösegeld bereitzustellen, nur § 239 b, nicht aber § 239 a (vgl. Blei JA 1972, StR 57 f.). Auch wenn der angedrohte Tod des Kindes den Verleger mit Sorge erfüllt, so wäre die Realisierung der Drohung für ihn kein Übel i. S. der §§ 253, 255. Durch den ergänzend eingeführten Tb. des § 239 b kann jedoch auch dieser Fall befriedigend gelöst werden. VII. Der subj. Tb. der 2. Tatbestandsalternative (s. o. V) erfordert zunächst Vorsatz hinsichtlich der Lage, in der sich das Opfer durch die Entführung befindet, außerdem das
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§ 239 a
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
Bewußtsein, daß ein Dritter in Sorge um das Opfer ist (s. o. VI 2). Weiterhin erforderlich ist der volle subj. Tb. des § 253, insbesondere die Absicht, sich unter Ausnutzung der Zwangslage des Opfers und der Sorge eines Dritten um das Opfer zu Unrecht zu bereichern. VIII. Zur Strafschärfung des Abs. 2 (erfolgsqualifiziertes Delikt): 1. Der Tod des Opfers ist auch dann vom Täter verursacht, wenn das Opfer durch Fehlschüsse der Polizei bei der Verfolgung des Täters tödlich verletzt wurde. Tatbestandsmäßig ist auch der Tod des Opfers als Folge eines mißglückten Fluchtversuchs oder als Folge eines Selbstmords (vgl. Dreher 9; Schäfer LK 12; einschränkend Maurach, Heinitz-Festschr. S. 413; a. A. Eser in Schönke-Schröder 30). 2. Der Täter handelt leichtfertig, wenn er sich „grob fahrlässig", d. h. in besonders leichtsinniger oder gleichgültiger Weise über die naheliegende Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs hinwegsetzt, z. B. durch brutale Behandlung des Opfers, durch riskante Fahrmanöver bei der Flucht oder dadurch, daß er sich mit der Polizei auf ein Feuergefecht einläßt. Nicht hierher gehört jedoch der Fall, daß eine für den Täter nicht erkennbar herzkranke Person infolge der psychischen Belastung einen Herzschlag erleidet (vgl. Ber. S. 2). 3. Die Strafschärfung des Abs. 2 greift auch dann ein (allerdings mit der Möglichkeit der Strafmilderung gemäß § 23 Abs. 2, 49 Abs. 1), wenn der Tod des Opfers als Folge der nur versuchten Tat eintritt, z. B. beim Versuch, das Opfer in erpresserischer Absicht zu entführen (vgl. § 18 Anm. 3; Dreher 9). IX. Abs. 3 behandelt einen Sonderfall der tätigen Reue nach vollendeter Tat. Zweck der Vorschrift ist es, im Interesse des gefährdeten Opfers durch die Aussicht auf Strafmilderung (ein völliges Absehen von Strafe ist hier nicht möglich) den Anreiz zu geben, von seinem weiteren Vorhaben abzulassen (vgl. Ber. S. 2). 1. Die Möglichkeit der Strafmilderung wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß das Opfer bereits verletzt worden ist (Ber. S. 3; Dreher 12). 2. Freilassung der entführten Person genügt für sich allein nicht. Die freigelassene Person muß vielmehr die Möglichkeit haben, in ihren Lebenskreis zurückzukehren, und zwar ohne große Schwierigkeiten. Abs. 3 greift deshalb nicht ein, wenn der Täter das Opfer z. B. bei großer Kälte ungenügend bekleidet in einer unbekannten, einsamen Gegend freiläßt (vgl. Blei JA 1972, StR 40; Dreher 12; weitergehend jedoch Lackner 6). Ubergabe an die Polizei oder einen Mittelsmann dürfte jedoch in der Regel selbst unter ungünstigen Umständen ausreichen. 3. Weitere Voraussetzung für die Strafmilderung ist der Verzicht auf die erstrebte Leistung. Der Täter muß nicht nur auf die nach seinem Tatplan noch bevorstehenden Leistungen verzichten, sondern auch das bereits Erlangte preisgeben (vgl. Blei JA 1972, StR 57; Dreher 12; Lackner 6). Ist er zur Rückgabe nicht mehr in der Lage (z. B. bei Verlust oder Verbrauch), so kommt eine Strafmilderung nur dann in Betracht, wenn sich das Unvermögen lediglich auf einen unwesentlichen Teil des Erlangten bezieht (vgl. Ber. S. 3; 746
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
§ 239 b
Dreher 12; Lackner 6; a. A. Bohlinger JZ 1972, 230, 233; Müller-Emmert/Maier MDR 1972,97). 4. Auf die Freiwilligkeit der Freilassung des Opfers kommt es dem Zweck der Vorschrift entsprechend (Rettung des gefährdeten Opfers) grundsätzlich nicht an (vgl. Blei JA 1972, StR 40; Lackner 6 sowie die entsprechende Regelung in § 158). X. Tateinheit ist möglich mit den §§ 211 ff., 223 ff., 235 ff, 253, 255. Gegenüber § 239 b geht § 239 a, wenn der Täter nur eine Bereicherung, nicht noch weitere Zwecke anstrebt, als das speziellere Gesetz vor (vgl. BGH 26, 24). § 222 wird durch § 239 a Abs. 2 verdrängt (vgl. § 18 Anm. 4; Dreher 13; Lackner 7).
§ 239 b
Geiselnahme
(1) Wer einen anderen entführt oder sich eines anderen bemächtigt, um einen Dritten durch die Drohung mit dem Tode oder einer schweren Körperverletzung (§ 2 2 4 ) des Opfers zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen, oder wer die von ihm durch eine solche Handlung geschaffene Lage eines anderen zu einer solchen Nötigung ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft. (2) § 2 3 9 a Abs. 2 , 3 gilt entsprechend. 1. Die durch das 12. StrRÄndG neu eingefügte Vorschrift bringt eine wesentliche Ergänzung des § 239 a, dessen Neufassung ebenfalls auf das 12. StrRÄndG zurückgeht. Über Anliegen, Gesetzesmaterialien und Schrifttum siehe I zu § 239 a. 2. Geschütztes Rechtsgut ist - wie in § 239 a - in erster Linie die persönliche Freiheit und Integrität des entführten Opfers, außerdem die Dispositionsfreiheit des Adressaten der beabsichtigten Nötigung. Dagegen kann die Vorschrift nicht als Vermögensdelikt angesehen werden, selbst wenn es im Einzelfall als Folge der beabsichtigten Nötigung zu einem Vermögensschaden kommen sollte. 3. Angriffsobjekt kann wie in § 239 a (s. dort Anm. III) jeder Mensch sein, und zwar ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht und Familienstand. Auch die Tathandluiig entspricht in allen Punkten der in § 239 a getroffenen Regelung. Auf die Ausführungen zu § 239 a (Anm. IV, V) kann insoweit verwiesen werden. 4. Der entscheidende Unterschied gegenüber § 239 a liegt im subj. Tatbestand: a) Ziel der Tat ist keine Erpressung, sondern nur eine Nötigung, d. h. eine Handlung, Duldung oder Unterlassung, die zwar vermögensschädigende Auswirkungen haben kann, aber nicht muß. Ziel der Tat kann es z. B. sein, die Ehefrau durch die Entführung des gemeinsamen Kindes zur Einwilligung in die Scheidung zu zwingen; oder: ein nach einem Attentat geflüchteter Terrorist entführt einen prominenten Politiker, um die Freilassung seines bereits inhaftierten Komplizen zu erreichen. 747
§ 239 c
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
b) Nötigungsmittel ist die Drohung mit dem Tode oder einer schweren Körperverletzung (§ 224) des Opfers. Die Androhung geringerer Übel (z. B. längerer Freiheitsentzug, sexueller Mißbrauch, Beeinträchtigung der körperlichen oder seelischen Integrität) genügt - anders als bei § 239 a - nicht. Andererseits ist - auch insoweit abweichend von der in § 239 a getroffenen Regelung - nicht erforderlich, daß sich die dem Opfer angedrohte Tötung oder schwere Körperverletzung für den Adressaten der Nötigung als empfindliches Übel darstellt. Der Adressat der Nötigung muß also keine sog. Sympathieperson sein. Beispiel: A fordert einen Zeitungsverleger auf, für die Freilassung eines sonst dem sicheren Tod verfallenen Kindes aus eigenen Mitteln oder durch einen Spendenaufruf einen größeren Geldbetrag als Lösegeld bereitzustellen (vgl. Blei JA 1972, StR 57 f.). Unerheblich ist, ob der Täter die Drohung ernst meint und ob er in der Lage ist, sie zu realisieren; Entscheidend ist allein, daß der Adressat ihre Realisierung für möglich halten soll (BGH 26, 309 m. krit. Bespr. Backmann JuS 1977,444). 5. Vollendet ist die Tat bei der 1. Tatbestandsaltemative mit der in Nötigungsabsicht erfolgten Entführung bzw. in dem Augenblick, in dem sich das Opfer in der Herrschaftsgewalt des Täteis befindet, bei der 2. Tatbestandsalternative (zweiaktiges Delikt, vgl. § 239 a Anm. V) erst mit Beginn der Nötigung, d. h. mit deren Versuch (vgl. Dreher 5). 6. Rechtswidrig ist die Tat auch dann, wenn der Täter oder ein Dritter, in dessen Interesse die Tat begangen wird, einen Anspruch auf die abgenötigte Handlung, Duldung oder Unterlassung haben sollte (z. B. Anspruch eines Untersuchungsgefangenen auf Freilassung). Einer besonderen Prüfung des § 240 Abs. 2 bedarf es wegen der offensichtlichen Rechtswidrigkeit des Nötigungsmittels nicht (vgl. Ber. S. 3; Lackner 2). 7. Zu Abs. 2 gelten die Ausführungen zu § 239 a (siehe dort Anm. VIII, IX) entsprechend. Verzicht auf die erstrebte Leistung bedeutet im Rahmen des § 239 b Aufgabe der Nötigungsabsicht. Hatte der Täter bereits einen Teilerfolg erreicht, z. B. Freilassung eines Gefangenen, so muß er diesen Teilerfolg wieder rückgängig machen. 8. Wegen der Konkurrenzen siehe § 239 a Anm. X. Mit § 239 a ist Tateinheit nur möglich, wenn der Täter neben der Bereicherung einen weiteren Zweck verfolgt, z. B. einen größeren Geldbetrag als Lösegeld für die Freigabe der entführten Person, außerdem noch die Freilassung eines Terroristen. Sonst jedoch ist § 239 b gegenüber § 239 a subsidiär (BGH 26, 24).
§ 239 c
Führungsaufsicht
In den Fällen der §§ 239 a und 239 b kann das Gericht Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1 Nr. 2). 1. Die durch das EGStGB neu eingefügte Vorschrift geht davon aus, daß Straftaten nach den §§ 239 a, 239 b häufig Ausdruck einer tiefgreifenden „sozialen Desorientierung" sind und die Eingliederung solcher Täter deshalb besonders nachhaltiger und langfristiger Bemühungen bedarf (vgl. RegE S. 246 BT-Drucks. 7/550). 2. Zur Ausgestaltung der Führungsaufsicht siehe §§ 68 a ff. 3. Siehe auch § 145 a. 748
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
§ 240
§ 240
Nötigung
(1) Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe, in besonders schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. (3) Der Versuch ist strafbar. 1. Geschützt sind sowohl die Freiheit der Willensbetätigung als auch die Freiheit der Willensbildung. Eine Nötigung kann daher auch dadurch begangen werden, daß der Täter sein Opfer betäubt, so daß es gar nicht mehr in der Lage ist, einen Entschluß zu fassen. 2. Ziel der Nötigung ist es, das Opfer zu einem Handeln, Dulden oder Unterlassen zu veranlassen, das nicht seinem freien Willen entspricht. Nur wenn dieses Ziel erreicht wird, ist das Delikt vollendet. Vernich liegt vor, wenn der Täter entweder sein Ziel nicht erreicht oder wenn das Opfer zu dem ihm angesonnenen Verhalten auch ohne die Nötigung schon entschlossen war. Beispiel: A fordert den B mit vorgehaltener Pistole auf, den Raum zu verlassen. B geht; er hätte den Raum aber auch ohne die Drohung verlassen. 3. Mittel der Nötigung sind Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel. a) Gewalt ist jede als körperlicher oder psychischer Zwang empfundene Einwirkung zur Ausschaltung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands. Unerheblich ist, ob die Einwirkung unmittelbar oder nur mittelbar als Zwang empfunden wird. Es macht also keinen Unterschied, ob ein Vermieter seinen unliebsamen Mieter mit Körpergewalt vor die Tür setzt oder ob er ihm die Möbel auf die Straße stellt (RG 61, 157), ob er die Zimmertür mit einem Schloß versieht, zu dem der Mieter keinen Schlüssel hat, oder ob er die Fenster aushängt, so daß ein weiteres Wohnen unmöglich wird (RG 7, 269), oder ob er die Wasser- und Stromzufuhr abschneidet (vgl. Krhe MDR 1959, 233). Gewalt kann auch in der Weise verübt werden, daß der Täter bei nur geringem körperlichem Kraftaufwand eine psychische Zwangslage herbeiführt (BGH 23, 46 ff.; Str.). Deshalb kann sich auch ein Sitzstreik auf der Fahrbahn oder den Schienen einer Bahn als Gewalt darstellen (BGH aaO.). Der betroffene Fahrzeugführer empfindet eine solche Aktion sogar als unwiderstehliche Gewalt, weil er zwangsläufig anhalten muß, um sich nicht dem Vorwurf des Totschlags auszusetzen (BGH aaO.). Gewalt verübt schließlich auch, wer durch Sprechchöre oder ständiges lautes Dazwischenreden den Abbruch eines Vortrags oder einer Vorlesung erzwingen will (Krhe Urt. v. 31. 7. 1975, 3 Ss 175/74). Zum Ganzen siehe auch Anm. 5 a sowie Müller-Dietz, Zur Entwicklung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs, GA 1974, 33. Eine zunehmende Bedeutung hat die Nötigung im Straßenverkehrsrecht erhalten. Beispiele: A fährt auf einen Fußgänger zu, der sich in eine Parklücke gestellt hat, um diese für einen anderen Pkw freizuhalten (BayObLG NJW 1961, 2074; 1963, 824; Stgt JR 1966, 228; Hamm NJW 1970, 2074); - oder: A hindert planmäßig den ihm nachfolgenden B am Überholen, indem er absichtlich langsam fährt und die Überholfahrbahn blok-
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kiert (BGH 18, 389); - oder: anhaltendes oder wiederholtes dichtes Auffahren unter ständiger Abgabe von Licht- oder Ton'signalen, um die Freigabe der Überholfahrbahn zu erzwingen (BGH 19, 263; Ddf VM 1970 Nr. 56; Krhe VM 1972 Nr. 43; NJW 1972,962); - oder: Beschädigung der Bereifung, so daß der Pkw nicht mehr benutzt werden kann (Eser in Schönke-Schröder 9 a vor § 234); - oder: Versperren der Einfahrt eines Hofes, in dem ein Unbefugter seinen Pkw abgestellt hat, weil er keinen anderen Parkplatz finden konnte (BayObLG NJW 1963, 1261); - oder: beharrliches Blockieren einer Ausfahrt (Koblenz MDR 1975, 243); - oder: Abdrängen eines Fußgängers, der sich in die Fahrbahn eines Lkw gestellt hat, um dessen Fahrer bis zum Eintreffen der Polizei aufzuhalten (Hamm NJW 1972, 1826). b) Die Drohung mit einem empfindlichen Übel muß nicht ernst gemeint sein. Es genügt, daß der Bedrohte die Ausführung der Drohung für möglich halten soll (BGH 26, 310). Empfindlich ist jedes Übel, das bei Würdigung aller Umstände geeignet ist, einen besonnenen Menschen zu beeindrucken und zum Nachgeben zu veranlassen. Beispiele: Drohung mit einer Strafanzeige, mag sie begründet sein oder nicht. - Oder: Drohung mit der Bekanntgabe peinlicher Tatsachen. - Oder: Drohung mit ungesetzlichem Streik. - Oder: Drohung mit einer entstellenden Presseveröffentlichung. - Nicht ausreichend ist dagegen die Ankündigung von nicht näher konkretisierten „Schwierigkeiten" oder „Weiterungen", die üblicherweise als leere Drohung eingeschätzt werden (BGH NJW 1976, 760). Auch die Ankündigung einer Dienstaufsichtsbeschwerde reicht grundsätzlich nicht aus (BGH aaO. mit Nachw.). Unerheblich ist, ob das angedrohte Übel dem Bedrohten selbst oder einer ihm nahestehenden Person (sog. Sympathieperson) zugefügt werden soll (BGH 16, 316, 318; Maurach BT 116; Eser in Schönke-Schröder 10). Ob sich die Drohung mit Selbstmord als empfindliches Übel darstellt, hängt von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere von dem persönlichen Verhältnis der beteiligten Personen ab. So macht es z. B. einen Unterschied, ob eine dem Bedrohten nahestehende Person (Sympathieperson) mit Selbstmord droht oder ob die Drohung von einem Landstreicher ausgeht, dem die erbetene Unterkunft versagt wird. 4. Der Rechtswidrigkeit kommt im Rahmen der Nötigung besondere Bedeutung zu. Wie bereits unter B VI 2 b vor § 1 dargelegt, gehört die Nötigung zu den sog. offenen oder ergänzungsbedürftigen Tatbeständen, d. h. ein strafrechtlich beachtliches Verhalten liegt nicht schon dann vor, wenn jemand zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt wird. Zu diesen vom Gesetz hervorgehobenen Merkmalen müssen vielmehr noch weitere Umstände hinzutreten, die die Gewaltanwendung bzw. Androhung eines empfindlichen' Übels als verwerflich erscheinen lassen. Mit anderen Worten: Eine Nötigung ist erst dann tatbestandsmäßig, wenn Tatumstände vorliegen, die das Vorgehen im Einzelfall als verwerflich erscheinen lassen. Diese besonderen Tatumstände sind Merkmale des objektiven Tatbestands, auf die sich der Vorsatz des Täters erstrecken muß. Der Vorsatz bleibt dagegen bestehen, wenn der Täter in Kenntnis aller Tatumstände lediglich eine falsche rechtliche Wertung vornimmt. Ein derartiger Irrtum läßt nur das Unrechtsbewußtsein entfallen und ist nach den für den Verbotsirrtum entwickelten Grundsätzen zu behandeln (vgl. BGH 2,194). 5. Verwerflich i. S. von § 240 Abs. 2 ist die Tat nicht schon dann, wenn der Täter sich auf keinen der anerkannten gesetzlichen oder übergesetzlichen Rechtfertigungsgründe berufen kann. Strafwürdiges Unrecht liegt vielmehr erst dann vor, wenn das Vorgehen des
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Täters unter Berücksichtigung aller Umstände eindeutig so anstößig ist, daß es als grober Angriff auf die Entschlußfreiheit einen erhöhten Grad sittlicher Mißbilligung aufweist (BGH 17, 329, 332). Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat es der BGH aaO. als nicht rechtswidrig, d. h. nicht verwerflich angesehen, daß ein „Freier", der sich von einer Prostituierten betrogen fühlt, dieser das bereits hingegebene Geld wieder mit Gewalt wegnimmt, obwohl er sich weder auf erlaubte Selbsthilfe (§ 229 BGB) noch auf einen anderen rechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrund berufen kann. Sehr weitgehend ist andererseits die bereits oben (Anm. 3 a) erwähnte Entscheidung des 2. Senats im Verfahren um die Kölner Straßenbahnblockade (BGH 23, 46 ff.), wonach bereits jede Gewaltanwendung „praktisch indiziell" für die Verwerflichkeit ist und nur besondere Umstände das Verwerflichkeitsurteil ausschließen können. Diese Formulierung erscheint - selbst wenn man der Entscheidung im Ergebnis folgt, s. u. Anm. 5 a - zumindest dann bedenklich, wenn man der extensiven Interpretation des Gewaltbegriffs durch die neuere Rspr. folgt. Wollte man nämlich die Ansicht des 2. Senats auch auf das Verkehrsstrafrecht übertragen, so hätte dies zwangsläufig zur Folge, daß jede gewaltsame Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer - entgegen der derzeitigen höchstrichterlichen Rspr. - ohne Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls strafbare Nötigung wäre: ein äußerst unbefriedigendes Ergebnis, das der derzeitigen Tendenz des Gesetzgebers, das Verkehrsrecht zu „entkriminalisieren", bestimmt entgegenlaufen würde. So hat der Bundesgerichtshof in der bereits erwähnten Entscheidung BGH 18, 389 ausgesprochen, daß nicht jede absichtliche Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer, die als Ordnungswidrigkeit angemessen geahndet werden kann, sozial so unerträglich ist, daß sie als verwerflich angesehen werden muß. Die Entscheidung darf daher nicht dahingehend verstanden werden, daß schlechthin jedes Blockieren der Überholfahrbahn als Nötigung strafbar ist. Wer z. B. in vorübergehender Unmutsaufwallung einen schnelleren Wagen zeitweise nicht überholen läßt, oder wer, obwohl es ihm möglich wäre, auf schmaler Straße nicht ganz rechts fährt und dadurch das Überholen zeitweise verhindert, begeht zwar eine Verkehrsordnungswidrigkeit, aber keine Nötigung. Anders jedoch, wer auf breiter, übersichtlicher Straße, für die keine Geschwindigkeitsbegrenzung besteht, absichtlich langsam fährt und jedesmal, wenn sein Hintermann zum Überholen ansetzt, ohne vernünftigen Grund nach links ausschert und so auf mehrere Küometer jedes Überholen und jede zügige Fahrweise verhindert. In diesen Fällen kommt Nötigung selbst dann in Betracht, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer nicht vorliegt (BGH aaO. 393; Ddf VM 1970 Nr. 56; KG JR 1969, 389 m. zust. Anm. Möhl). Auch länger anhaltendes oder wiederholtes dichtes Auffahren unter ständiger Abgabe von Signalen, um die Freigabe der Überholfahrbahn zu erzwingen, ist generell und nicht nur dann verwerflich, wenn damit eine Gefahr verbunden ist (vgl. BGH 19, 263; Krhe VM 1972 Nr. 43; NJW 1972, 62; Schleswig VM 1973 Nr. 116; zu eng dagegen Köln NJW 1963, 2383). Kommt es aufgrund des bedrängenden Auffahrens zu einer nicht unerheblichen Gefährdung des Vorausfahrenden, so kann bereits eine Strecke von mehreren hundert Metern Fahrweg den Tb. der Nötigung erfüllen (Hamm DAR 1974, 76). Dasselbe gilt, wenn ein Kraftfahrer sich mit seinem Pkw gewaltsam die Einfahrt in eine Parklücke erzwingt, die vom Beifahrer eines anderen Fahrzeugs freigehalten wird (vgl. Möhl JR 1966, 229; a. A. Stgt JR 1966, 228; VM 1973 Nr. 94). Die Rechtswidrigkeit der Gewalt wird in diesem Fall auch nicht dadurch berührt, daß der Beifahrer seinerseits nicht berechtigt war, die Parklücke zu „belegen" (vgl. Möllers DAR 1971, 7; Hamm NJW 1970, 2075). Andererseits stellt nicht schon jedes kurze Blockieren der Fahrbahn eines anhaltenden Kraftfahrers zum Zwecke der Belehrung oder Beschimpfung eine strafbare Nötigung dar. Verwerflich ist ein solches Verhalten nur dann, wenn damit 751
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eine Gefahr für den betroffenen Kraftfahrer verbunden ist oder wenn der Sperrende dem Haltenden auf Verlangen die Weiterfahrt nicht unverzüglich freigibt (Köln NJW 1968, 1892). Auch verkehrsbehinderndes Parken kann grundsätzlich nicht als verwerflich angesehen werden, es sei denn, daß der Täter vorsätzlich oder gar absichtlich andere Verkehrsteilnehmer für längere Zeit an der Weiterfahrt hindert, nicht dagegen, wenn er nur aus Gedankenlosigkeit falsch parkt oder die Behinderung nur einige Minuten dauert. Schlechthin verwerflich ist dagegen jede Gewaltanwendung, durch die andere Verkehrsteilnehmer in einer das Leben oder die Gesundheit gefährdenden Weise zu einem bestimmten Verkehrsverhalten genötigt werden, z. B. das Abdrängen einer Person, die sich vor einem Kraftfahrzeug auf die Fahrbahn gestellt hat, um dessen Fahrer oder Beifahrer bis zum Eintreffen der Polizei aufzuhalten (vgl. Hamm NJW 1972,1826), oder der Versuch, einen in Fahrt befindlichen Pkw zwecks Belehrung des Fahrers durch Schneiden oder Blockieren der Fahrbahn zum Halten zu zwingen. Weitere Beispiele aus der höchstrichterlichen Rspr.: Nicht rechtswidrig handelt ein Taxifahrer, dem durch einen unbefugt parkenden Kraftfahrer die Benutzung eines Droschkenplatzes unmöglich gemacht wird, wenn er dem Kraftfahrer droht, er werde ihm, falls er nicht weiterfahre, die Luft aus den Reifen ablassen (BayObLG NJW 1971,768). Die Drohung mit einem empfindlichen Übel kann selbst dann rechtswidrig sein, wenn ihre Realisierung für sich allein nicht rechtswidrig wäre, wohl aber gerade die willkürliche Verknüpfung von Mittel und Zweck den eigentlichen Unrechtsgehalt begründet. Dies gilt besonders für Drohung mit Strafanzeigen. Auch hier kommt es auf die Umstände des Einzelfalls und deren Gesamtwürdigung an. Wenn A beispielsweise seiner Hausangestellten H mit Anzeige wegen Diebstahls droht, falls diese ihm nicht die gestohlene Uhr zurückgibt, so ist eine derartige Willensbeeinflussung nicht zu beanstanden. Anders jedoch, wenn A der H erklärt, er könne von einer Anzeige nur dann Abstand nehmen, wenn die H sich ihm geschlechtlich preisgebe. Weitere Beispiele aus der höchstrichterlichen Rspr.: Nicht rechtswidrig ist die gegen einen Mieter ausgesprochene Drohung mit einer Strafanzeige wegen Herbeiführung einer Brandgefahr (§ 310 a), falls der Mieter sich nicht sofort nach einer anderen Wohnung umsieht und das Anwesen sobald wie möglich räumt (BGH 5, 254). Rechtswidrig ist dagegen die Drohung mit Strafanzeige, falls der Gegner nicht sofort vorbehaltlos alle gegen ihn erhobenen Ansprüche anerkennt und auf gerichtliche Prüfung verzichtet (BGH NJW 1957, 596).
5a. Schwierigkeiten besonderer Art ergeben sich bei der strafrechtlichen Beurteilung von Nötigungseffekten durch Auswirkungen von Demonstrationen. Wie die Erfahrungen der letzten Zeit zeigen, geht es hier in der Regel um die Verfolgung von politischen Interessen, die in ihrem Anliegen zwar durchaus berechtigt sein können, in ihrer Durchsetzung jedoch o f t m i t erheblichen Eingriffen in berechtigte Interessen anderer verbunden sind. Auf der einen Seite steht die verfassungsrechtlich geschützte Demonstrationsfreiheit, die eine wesentliche Garantie für einen möglichst demokratischen Willensbildungsprozeß darstellt; auf der anderen Seite steht das mindestens ebenso berechtigte Interesse der Allgemeinheit an der Aufrechterhaltung von Sicherheit, Ruhe und Ordnung. Werden diese Rechtsgüter im Rahmen einer Demonstration in erheblicher Weise beeinträchtigt, so muß im Wege einer Güterabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls geprüft werden, ob der durch die Demonstration entstandene Nötigungseffekt als verwerflich anzusehen ist oder ob er als sozialadäquat hingenommen werden muß. Hierbei kommt es nicht nur auf den Umfang des Nötigungseffekts an (z. B. Umfang und Dauer einer Verkehrsblockade), sondern auch auf die Bedeutung des Anlie752
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gens der Demonstranten für die Öffentlichkeit, auf die Aussichtslosigkeit milderer Kampfmaßnahmen und auf das vorausgegangene Verhalten der Personen oder Gruppen, die durch die Demonstration in bestimmter Weise beeinflußt werden sollen. Die inzwischen bekannt gewordenen höchstrichterlichen Entscheidungen lassen deutlich erkennen, daß die Obergerichte im Gegensatz zu einzelnen unteren Gerichten (vgl. LG Köln JZ 1969, 80; A G Eßlingen JZ 1968, 800; AG Bremen JZ 1969, 79; AG Ffm ZRP 1969, 21) und verschiedenen Stimmen im Schrifttum (Denninger ZRP 1968, 42; Ott NJW 1969, 454; Janknecht GA 1969, 33) nicht gewillt sind, gewaltsame Verkehrsblockaden als legale Kampfmittel zur Durchsetzung politischer Interessen anzuerkennen. So hat bereits das BayObLG in einem Urteil vom 26. 11. 1968 (NJW 1969, 63) die durch einen gegen die Vietnam-Politik der USA gerichteten Sitzstreik auf einer Fahrbahn der Innenstadt verursachte Verkehrsblockade als Gewalttätigkeit beurteilt und die durch das Amtsgericht ausgesprochene Verurteilung wegen Landfriedensbruchs bestätigt. In die gleiche Richtung gehen der Beschluß des BayObLG vom 14. 4. 1969 (NJW 1969, 1127) sowie die Urteile des OLG Stgt vom 9. 7. 1969 (NJW 1969, 1543) und des OLG Celle vom 21. 10. 1969 (NJW 1970, 206), die sich mit den im Rahmen der Osterunruhen 1968 erfolgten Verkehrsblockaden gegen die Auslieferung der „Bild"-Zeitung befassen. Die genannten Gerichte kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß die Errichtung von Barrikaden, um Kraftfahrzeuge aufzuhalten und Berufstätigen eines bestimmten Betriebs den Weg zu versperren, weder durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit noch durch das der Versammlungsfreiheit und das hieraus abgeleitete Demonstrationsrecht gedeckt sind. Eine Meinungsäußerung in der Form einer gewaltsamen Blockade ist keine im Grundgesetz geschützte Argumentationsart. Eine Menschenmenge, die sich zusammenrottet und Barrikaden errichtet, kann auch nicht mehr als „friedliche Versammlung" i. S. von Art. 8 I GG angesehen werden. Zu Recht weist das OLG Stgt aaO. darauf hin, daß Aktionen dieser Art stets den Keim zu weiteren Gewalttaten in sich bergen und schon deshalb als verwerflich i. S. von § 240 Abs. 2 angesehen werden müssen. Auf der gleichen Linie liegt auch das Urteil des BGH vom 8. 8. 1969 (BGH 23, 46 ff.), das sich mit den Demonstrationen im Oktober 1966 aus Anlaß der Tariferhöhungen bei den Kölner Verkehrsbetrieben befaßt. Unter Aufhebung des verschiedentlich als „bahnbrechend" bezeichneten Urteils des LG Köln vom 31. 10. 1968 (JZ 1969, 80) sieht der BGH in der Blockade von Straßenbahnschienen selbst für nur vorübergehende Zeit eine mit Gewalt begangene Nötigung, die mit den Grundsätzen einer freiheitlich demokratischen Grundordnung nicht zu vereinbaren und daher schlechthin rechtswidrig i. S. von § 240 Abs. 2 ist. Aus dem Recht zu friedlicher Versammlung kann kein Recht zu unfriedlicher Demonstration abgeleitet werden. Das Demonstrationsrecht darf nicht dazu mißbraucht werden, in die Rechte anderer einzugreifen, insbesondere Gewalt zu verüben, um auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen und den eigenen Interessen oder Auffassungen Nachdruck zu verleihen (BGH aaO.). Das Recht der freien Meinungsäußerung schließt auch nicht das Recht ein, sich zwangsweise ein Publikum für diese Meinungsäußerung zu verschaffen (BayObLG NJW 1969, 1127; Krhe NJW 1970, 64).
6. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Der Täter muß wissen, daß sein Vorgehen als Gewalt oder als Drohung mit einem empfindlichen Übel empfunden wird. Nicht erforderlich ist, daß der Täter die Drohung ernst meint. Es genügt, wenn er weiß, daß sie von dem anderen ernst genommen wird und geeignet ist, diesen zu einem Handeln, Dulden oder Unterlassen zu nötigen, das seinem Willen nicht entspricht (BGH 26, 310). Der Täter 753
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muß ferner die Tatumstände kennen, die die Tat als verwerflich i. S. von § 240 Abs. 2 erscheinen lassen. Beispiel: A droht B mit Strafanzeige wegen Diebstahls, falls B nicht sofort die gestohlene Uhr zurückgibt und außerdem eine Buße von DM 20,- an das DRK zahlt. Ein derartiges Verlangen wäre, wenn B tatsächlich die Uhr gestohlen hätte, nicht rechtswidrig. Hieraus folgt: Ergibt sich, daß B gar nicht der Dieb war, so kann sich A hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Nötigung auf einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum gemäß § 16 berufen. Der Vorsatz bleibt jedoch bestehen, wenn der Täter in Kenntnis aller Tatumstände lediglich aufgrund einer falschen rechtlichen Wertung annimmt, sein Verhalten sei nicht verwerflich (Verbotsirrtum, vgl. BGH [GrSen] 2, 194; Braunschweig NJW 1976,60,62). 7. Konkurrenzen: Tatbestände, die Sonderfälle der Nötigung enthalten, gehen vor. Dies gilt vor allem für die Tatbestände der §§ 105, 106, 113, 121, 125, 177, 178, 249, 253, 343. Auch die Freiheitsberaubung ist ein Sonderfall der Nötigung. IdK. zwischen beiden Tatbeständen ist daher nur möglich, wenn die Freiheitsberaubung dazu dient, das Opfer zu einer weiteren Handlung zu nötigen. IdK. ist ferner möglich mit §§ 123, 132, 315 b Abs. 1 Nr. 3, 315 c Abs. 1 Nr. 2 b.
§ 241
Bedrohung
(1) Wer einen anderen mit der Begehung eines gegen ihn oder eine ihm nahestehende Person gerichteten Verbrechens bedroht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer wider besseres Wissen einem anderen vortäuscht, daß die Verwirklichung eines gegen ihn oder eine ihm nahestehende Person gerichteten Verbrechens bevorstehe. 1. Die durch das 14. StrRÄndG neu gefaßte Vorschrift schützt den „subjektiven Rechtsfrieden" des einzelnen, d. h. das Gefühl der Rechtssicherheit (h. M., vgl. Laufhütte MDR 1976, 441, 443 m. Nachw.). Uber Gesetzesgeschichte und Gesetzesmaterialien zum 14. StrRÄndG siehe § 88 a Anm. 1. 2. Die Tathandlung des Abs. 1 besteht in der Bedrohung eines anderen mit einem Verbrechen. a) Bedrohen ist wie in § 126 (siehe dort Anm. 3) die Ankündigung einer Tat, die vom Willen des Täters abhängig ist. Beispiel: A droht dem B, er werde ihn durch „seine Leute" umbringen lassen. b) Über Verbrechen siehe § 12 Abs. 1. Unerheblich ist, ob die angedrohte Handlung schuldhaft begangen wird. Beispiel: A droht dem B, er werde sein Haus durch einen Geisteskranken in die Luft sprengen lassen. Mangels Rechtswidrigkeit der angedrohten Handlung nicht ausreichend wäre andererseits die Drohung, man werde einen anderen, falls dieser angreife, in Notwehr niederschießen. 754
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
§ 241 a
c) Wie die Neufassung durch das 14. StrRÄndG klarstellt, ist es unerheblich, ob sich das angedrohte Verbrechen gegen den Adressaten der Drohung oder gegen eine ihm nahestehende Person richtet. Über nahestehende Person („Sympathieperson") siehe § 35 Anm. 2 a. d) Ob der Bedrohte die Drohung emst nimmt, ist unerheblich. Es genügt, daß er ihren Sinn versteht und der Täter weiß oder damit rechnet, die Drohung sei geeignet, in dem Bedrohten Furcht vor ihrer Verwirklichung hervorzurufen (BGH 26, 310). Hierzu genügt, daß der Bedrohte die Ausführung der Drohung nur für möglich halten soll (BGH aaO.). Nicht ausreichend sind andererseits bloße Verwünschungen, derbe Flüche (z. B. „Du sollst verrecken"), wüste Beschimpfungen, prahlerische Redensarten (z. B. „ich werde Euch alle noch unter den Boden bringen") sowie allgemein gehaltene Drohungen (h. A.; vgl. Eser inSchönke-Schröder 1 m. Nachw.; Laufhütte MDR 1976,441,443). 3. Die Tathandlung des Abs. 2 (neu eingefügt durch das 14. StrRÄndG) besteht im Vortäuschen eines bevorstehenden Verbrechens. Siehe hierzu § 126 Anm. 5 a und b. Abweichend von § 126 Abs. 2 ist es bei § 241 Abs. 2 unerheblich, ob das Vorgehen des Täters geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören; entscheidend ist allein, daß die Tat geeignet ist, den einzelnen ernsthaft zu beunruhigen. Sachverhaltsschilderungen, die bei nüchterner Beurteilung nicht geeignet sind, den Adressaten in seinem Rechtsgefühl zu beunruhigen (z. B. „morgen werden die Russen kommen und Euch alle niederknallen") reichen zur Tatbestandsverwirklichung nicht aus. 4. Der subj. Tb. des Abs. 1 erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. Nicht erforderlich ist, daß der Täter die Drohung emst meint. Es genügt, daß er weiß oder damit rechnet, die Bedrohung sei geeignet, in dem Bedrohten Furcht vor ihrer Verwirklichung auszulösen (vgl. BGH 26, 310). Nicht erforderlich ist weiter, daß der Täter das angedrohte Verbrechen zutreffend als Verbrechen quaüfiziert; es genügt vielmehr die Kenntnis der Tatumstände, aus denen sich die rechtliche Einordnung als Verbrechen ergibt (BGH 17, 307; str.). Über „wider besseres Wissen" i. S. von Abs. 2 siehe § 126 Anm. 5 a. 5. Tateinheit ist insbesondere möglich mit § 126, aber auch mit §§ 185, 223 ff. Gegenüber den spezielleren §§ 113, 240 und 253 tritt Abs. 1 zurück. 6. Prozessual beachte § 374 Abs. 1 Nr. 5 StPO (Privatklagedelikt).
§ 241 a
Politische Verdächtigung
(1) Wer einen anderen durch eine Anzeige oder eine Verdächtigung der Gefahr aussetzt, aus politischen Gründen verfolgt zu werden und hierbei im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen durch Gewalt- oder Willkürmaßnahmen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, der Freiheit beraubt oder in seiner beruflichen oder wirtschaftlichen Stellung empfindlich beeinträchtigt zu werden, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 755
§ 241 a
Achtzehnter Abschnitt: Straftaten gegen die persönliche Freiheit
(2) Ebenso wird bestraft, wer eine Mitteilung über einen anderen macht oder übermittelt und ihn dadurch der in Absatz 1 bezeichneten Gefahr einer politischen Verfolgung aussetzt. (3) D e r Versuch ist strafbar. (4) Wird in der Anzeige, Verdächtigung oder Mitteilung gegen den anderen eine unwahre Behauptung aufgestellt oder ist die Tat in der Absicht begangen, eine der im Absatz 1 bezeichneten Folgen herbeizuführen, oder liegt sonst ein besonders schwerer Fall vor, so kann auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren erkannt werden. 1. Die Vorschrift entspricht sowohl ihrem Zweck als auch ihrem Aufbau nach der bereits erörterten Verschleppung des § 234 a. Im Gegensatz zu § 234 a handelt es sich jedoch bei § 241 a immer nur um ein Vergehen (also kein Verbrechen), und zwar auch unter den strafschärfenden Voraussetzungen des Abs. 4 (vgl. BGH 20, 184 sowie BGH NJW 1967, 1330 unter Aufgabe von BGH 20,140). 2. Im Gegensatz zu Abs. 4 ist in den Fällen des Abs. 1 und Abs. 2 nicht erforderlich, daß die Anzeige, Verdächtigung oder Mitteilung objektiv falsch ist. 3. Beispiel: A will verhindern, daß sein in Leipzig wohnender Schwiegersohn seiner bereits in die Bundesrepublik geflüchteten Tochter nachfolgt. Er schreibt daher einen Brief an die zuständigen Dienststellen in Leipzig, in dem er diese auf die „Republikfluchtpläne" seines Schwiegersohns hinweist (vgl. BGH 14, 104). 4. IdK. ist möglich mit §§ 164, 186-187 a sowie mit versuchter Freiheitsberaubung, soweit diese strafbar ist (vgl. § 239 Abs. 2 und 3). 5. Prozessual beachte §§ 74 a Abs. 1 Nr. 6, 120 Abs. 2, 142a GVG (Zuständigkeit) und §§ 153 c, d StPO (Opportunitätsprinzip).
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Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung (§§ 242-248 c) Vorbemerkungen 1. Der 19. Abschnitt wurde durch die Reformgesetzgebung der letzten Jahre, insbesondere durch das 1. StrRG und das EGStGÖ, grundlegend umgestaltet. Echte Tatbestände enthalten jetzt nur noch die §§ 242, 244 und 246 (Diebstahl und Unterschlagung) sowie die in den §§ 248 b und 248 c erfaßten Sonderregelungen über den unbefugten Gebrauch eines Fahrzeugs und die Entziehung elektrischer Energie. § 243 bringt unter Aufführung sog. Regelbeispiele eine erhöhte Strafdrohung für besonders schwere Fälle des Diebstahls; § 245 befaßt sich mit der Möglichkeit der Anordnung von Führungsaufsicht, während die durch das EGStGB völlig neu konzipierten §§ 247 und 248 a unter bestimmten privilegierenden Voraussetzungen die Strafverfolgung von der Stellung eines Strafantrags abhängig machen.
2. Abweichend von der früheren Rechtslage gelten gemäß Art. 4 Abs. 4 EGStGB landesrechtliche Vorschriften über den Feld- und Forstdiebstahl nur noch insoweit, als sie bestimmte, unbedeutend erscheinende Fälle von der Strafbarkeit ganz ausnehmen oder ein Verfolgungshindernis vorsehen. So werden z. B. in Art. 6 des Bayrischen Forststrafgesetzes das Sammeln von Beeren und das sog. Stoppeln (Nachlese auf dem Feld) von der Strafbarkeit wegen Diebstahls ausgenommen. Von einem weitergehenden Gesetzesvorbehalt zugunsten landesrechtlicher Vorschriften wurde jedoch im Interesse der Rechtsvereinheitlichung bewußt Abstand genommen (vgl. RegE S. 201 BT-Drucks. 7/550).
3. Die früher in § 4 EdelMetG und § 17 UnedelMetG enthaltenen Sonderregelungen betr. Diebstahl von Edelmetallen sowie unedlen Metallen i. S. dieser Gesetze wurden bereits durch das 1, StrRG aufgehoben, so daß auch insoweit nur die allgemeinen Bestimmungen der §§ 242 ff. Anwendung finden.
4. Die früher in § 370 Abs. 1 Nr. 5 als Übertretung unter Strafe gestellte Entwendung von Nahrungs- und Genußmitteln sowie anderen Gegenständen des hauswirtschaftlichen Verbrauchs (sog. Mundraub) fällt seit der Neuregelung des Komplexes durch das EGStGB unter die allgemeine Regelung des neu gefaßten § 248 a, wobei zur Vermeidung unbilliger Härten gerade in diesen Fällen die gleichzeitig neu gefaßten §§ 153, 153 a StPO zu beachten sind. Die diebstahlsähnlichen Ubertretungstatbestände in § 370 Abs. 1 Nr. 1 (Grundstücksverringerung durch Abgraben und Abpflügen), § 370 Abs. 1 Nr. 2 (Wegnahme von Bodenbestandteilen usw.) und § 370 Abs. 1 Nr. 6 (Futterwegnahme zugunsten des Eigentümers), die in der Praxis ohnehin kaum Bedeutung hatten, wurden durch das EGStGB ersatzlos aufgehoben. So ist z. B. die Wegnahme von Bodenbestandteilen usw. jetzt nur noch strafbar (und zwar als Diebstahl), wenn sie in Zueignungsabsicht erfolgt und keine die Strafbarkeit einschränkende Vorschrift des Landesrechts (s. o. 2) eingreift. 757
§ 242
§ 242
Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
Diebstahl
(1) Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. I. Geschütztes Rechtsgut ist sowohl das Eigentum als auch der Gewahrsam. Hieraus folgt: Ist ein Diebstahl nur auf Antrag verfolgbar (§§ 247, 248 a), so ist Verletzter und damit Antragsberechtigter nicht nur der Eigentümer, sondern auch der Gewahrsamsinhaber. II. Gegenstand eines Diebstahls kann nur eine Sache sein, d. h. ein körperlicher Gegenstand, nicht dagegen Forderungen oder sonstige Rechte. Im einzelnen: 1. Unerheblich ist, ob die Sache einen wirtschaftlichen Wert besitzt. Bei wertlosen Sachen wird es allerdings oft am Vorsatz fehlen, wenn nämlich der Täter irrig annimmt, die Sache sei herrenlos oder der Eigentümer sei mit der Wegnahme einverstanden. 2. Unerheblich ist weiter der Aggregatzustand der Sache. Wasser kann ebenso Gegenstand eines Diebstahls sein wie Wasserdampf, Gas, Eis oder Schnee. 3. Keine körperliche Sache ist die elektrische Energie. Ihre unbefugte Nutzbarmachung ist nur unter den Voraussetzungen des § 248 c strafbar. 4. Teile des menschlichen Körpers, z. B. Haare, werden erst mit ihrer Abtrennung zu Sachen im Rechtssinn, wobei nach h. A. ihr bisheriger Träger zugleich mit der Trennung Eigentum und Gewahrsam erlangt. Wer also einen Zopf abschneidet, um ihn für Geld an einen Friseur oder Perückenhersteller zu verkaufen, begeht nicht nur Körperverletzung, sondern auch Diebstahl. Perücken, Prothesen usw. haben immer Sacheigenschaft. 5. Leichen und Leichenteile werden erst dann zu eigentumsfähigen Sachen, wenn sie nicht mehr zur Beisetzung oder Verbrennung bestimmt sind, etwa durch Überlassung an eine Anatomie. Bis dahin ist die menschliche Leiche keine Sache, sondern „Rückstand der Persönlichkeit". Ihrem Schutz dient § 168 (vgl. Maurach BT 198 m. weit. Nachw.). III. Die Sache muß beweglich sein. Unerheblich ist, ob sie erst durch den Täter zu einer beweglichen gemacht wird. Diebstahl begeht daher auch, wer Steine aus einem Steinbruch haut, Bäume fällt oder Bretter aus einem Zaun reißt, sofern er hierbei mit Zueignungsabsicht handelt. In diesen Fällen kommt außerdem noch Sachbeschädigung in Betracht. Die früheren Übertretungstatbestände betreffend Grundstücksverringerung durch Abpflügen oder Abgraben (§ 370 Abs. 1 Nr. 1) und Wegnahme von Erde, Steine usw. von Wegen oder aus Grundstücken (§ 370 Abs. 1 Nr. 2) wurden durch das EGStGB ersatzlos aufgehoben (vgl. Vorbem. 4). IV. Die Sache muß fremd sein, d. h. vom Täter aus betrachtet in fremdem Eigentum stehen. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, richtet sich ausschließlich nach zivilrechtlichen Gesichtspunkten. Im einzelnen: 758
Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
§ 242
1. Diebstahl wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Täter sich eine Sache aneignet, an der er selbst Miteigentum hat, z. B. einen von ihm und seinem Nachbarn gemeinsam gefällten Grenzbaum (§ 923 Abs. 1 BGB). 2. Durch Verpfändung oder Beschlagnahme geht das Eigentum nicht verloren. Hier kommt jedoch je nach den Umständen Strafbarkeit gemäß §§ 136,289 in Betracht. 3. Sicherungsübereignete und unter Eigentumsvorbehalt gekaufte Sachen sind zwar fremd; hier kommt jedoch mangels Bruchs fremden Gewahrsams bei rechtswidriger Zueignung durch Verkauf usw. nicht Diebstahl, sondern Unterschlagung in Betracht. 4. Die Übereignung einer Sache wird nicht dadurch unwirksam, daß der ihr zugrundeliegende Vertrag (Kaufvertrag, Werkvertrag usw.) sitten- oder gesetzwidrig ist. Diebstahl kann daher auch begehen, wer einer Prostituierten das zuvor für den Verkehr gegebene Geld wieder abnimmt (BGH 6, 377). 5. Keine tauglichen Diebstahlsobjekte sind eigene Sachen des Täters, es sei denn, daß der Täter durch die Aneignung fremdes Miteigentum verletzt (s. o. IV 1). Siehe auch § 289. 6. Auch heirenlose Sachen können nicht Gegenstand eines Diebstahls sein. Herrenlos sind: a) Wilde Tiere und Fische, solange sie sich in Freiheit befinden (§ 960 Abs. 1 BGB). Für sie gelten die Sonderbestimmungen der §§ 292-295. Tiere in Tiergärten und Fische in Teichen oder anderen geschlossenen Privatgewässern sind dagegen nicht herrenlos. Ihre Wegnahme ist Diebstahl. Zahme Tiere (Haustiere, z. B. Hunde, Katzen, Pferde) werden, auch wenn sie entlaufen, nicht herrenlos, jedoch kann u. U. der Gewahrsam verloren gehen, so daß sich der unehrliche Finder nicht eines Diebstahls, sondern einer Unterschlagung schuldig macht. Von den zahmen Tieren zu unterscheiden sind die gezähmten Tiere, d. h. Tiere, die von Natur wild sind, aber ohne besondere Schutzmaßnahme gehalten werden, z. B. gezähmte Falken. Diese werden herrenlos, wenn sie die Gewohnheit abgelegt haben, an den ihnen bestimmten Ort zurückzukehren (§ 960 Abs. 3 BGB). Wieder anders ist die Rechtslage bei gefangenen wilden Tieren, z. B. einem Reh im Privatgehege eines Försters. Diese werden herrenlos, wenn der Eigentümer sie nicht unverzüglich verfolgt oder wenn er die Verfolgung aufgibt (§ 960 Abs. 2 BGB). Ähnlich ist die Rechtslage bei ausgezogenen Bienenschwärmen (§ 961 BGB); b) Sachen, an denen der Eigentümer den Besitz aufgegeben hat in der Absicht, auf das Eigentum zu verzichten (sogenannte derelinquierte Sachen, vgl. § 959 BGB), z. B. der in der Mülltonne befindliche Hausmüll, nicht dagegen eine nur versehentlich in die Mülltonne geratene Brieftasche mit Geld und Papieren; c) Sachen, die einer Leiche mit ins Grab gegeben werden, können grundsätzlich nicht als derelinquiert angesehen werden. Das gilt insbesondere für solche Gegenstände, die in einem Mausoleum aufbewahrt werden. Kränze stehen im Eigentum der Hinterbliebenen, solange das Grab gepflegt wird (s. auch § 168 Anm. 4). V. Unter Wegnahme versteht man den Bruch fremden Gewahrsams unter gleichzeitiger Begründung neuen, nicht notwendig eigenen Gewahrsams.
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§ 242
Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
1. Gewahrsam ist das von einem Herrschaftswillen getragene tatsächliche Herrschaftsverhältnis eines Menschen über eine Sache (Herrschaftswille + Herischaftsmöglichkeit). Im einzelnen: a) Ob jemand Gewahrsam an einer Sache hat, ist ausschließlich nach den tatsächlichen Gegebenheiten zu beurteilen, und zwar ohne Bindung an den Besitzbegriff des bürgerlichen Rechts. Die Begriffe „Besitz" i. S. des BGB und „Gewahrsam" i. S. des StGB sind nicht identisch. Beispiele: aa) Nach § 857 BGB geht der Besitz auf den Erben über, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Erbe Kenntnis von dem Erbfall erlangt hat oder nicht. Der Erbe hat sogar selbst dann Besitz i. S. des BGB, wenn er von dem Erblasser noch nie etwas gehört hat. Gewahrsam i. S. des StGB übt der Erbe dagegen erst dann aus, wenn er in Kenntnis des Erbfalls die Möglichkeit hat, jederzeit ungehindert auf den Nachlaß einzuwirken. bb) Nach § 855 BGB hat der Besitzdiener keinen Besitz. Es wäre jedoch abwegig, wollte man etwa einer Hausangestellten den Gewahrsam an der Einkaufstasche absprechen, mit der sie die täglichen Einkäufe zu besorgen hat. Daß möglicherweise auch die Hausfrau Gewahrsam an der Tasche hat, steht dem nicht entgegen. cc) Der Vermieter einer Schreibmaschine hat zivilrechtlich betrachtet nach wie vor Besitz (§ 868 BGB); Gewahrsamsinhaber ist dagegen ausschließlich der Mieter. b) Der Herrschaftswille muß nicht ständig wach sein. Durch Schlaf oder Bewußtlosigkeit wird die Fortdauer des einmal begründeten Gewahrsamswillens nicht aufgehoben, sondern nur gelockert. Wer also einem sinnlos Betrunkenen in Zueignungsabsicht die Uhr abnimmt, begeht einen Diebstahl, nicht etwa nur eine Unterschlagung. c) Ein Wissen um die einzelnen Gegenstände, die sich in den vom Herrschaftswillen allgemein umfaßten Räumen üblicherweise befinden, ist nicht erforderlich. Dies gilt z. B. für Fische im Netz, Briefe im Briefkasten, Waren im Lager, nicht dagegen für von Unbekannten im Garten versteckte Sprengkörper. d) Bestehender Gewahrsam endet, wenn der ursprüngliche Gewahrsamsinhaber seinen Herrschaftswillen-aufgegeben hat oder nicht mehr ungehindert betätigen kann. e) Eine gelegentliche Lockerung, ja sogar vorübergehende Aufhebung des Sachherrschaftsverhältnisses schließt bestehenden Gewahrsam dann nicht aus, wenn sie nach den Gepflogenheiten des täglichen Lebens üblich ist. Das gilt z. B. für den vor dem Haus abgestellten Pkw, den Pflug auf dem Feld, den Hund während seines Abendspaziergangs, die Wohnungseinrichtung während der Urlaubsreise, auch wenn diese sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Nach den Anschauungen des täglichen Lebens stehen auch Waren, die morgens vor Geschäftseröffnung für den Ladeninhaber mit dessen Einverständnis vor der noch verschlossenen Ladentür abgestellt werden, bereits im Gewahrsam des Ladeninhabers (BGH JR NJW 1968, 662 m. Anm. Schmitt JZ 1968, 307). Dagegen liegt nach BGH GA 1969, 25 nicht Diebstahl, sondern Unterschlagung vor, wenn jemand sich eine Mappe zueignet, die dem Eigentümer auf dem Hof seines Arbeitgebers unbemerkt aus dem Pkw gefallen und neben dem Pkw auf dem Boden liegen geblieben war. Der BGH hat in diesem Fall sowohl den Fortbestand des Eigentümergewahrsams als auch Gewahrsam des Grundstückbesitzers verneint (siehe auch unten 2 a).
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Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
§ 242
2. Für die Abgrenzung von Diebstahl und Unterschlagung sehr bedeutsam sind die Gewahrsamsvertiältnisse an verlorenen, verlegten, vergessenen und versteckten Sachen. a) Wer eine Sache außerhalb seiner Raumgewalt (z. B. im Wald) verliert, hat keinen Gewahrsam mehr. Der unehrliche Finder macht sich wegen Unterschlagung, nicht wegen Diebstahls strafbar. Anders jedoch, wenn der Gewahrsamsinhaber die Sache innerhalb seines eigenen Herrschaftsbereichs verliert und die dadurch entstandene Lockerung des Gewahrsams noch im Rahmen des sozial üblichen liegt (vgl. BGH GA 1969, 25; siehe auch oben 1 e). b) Wer eine Sache innerhalb seines Herrschaftsbereichs (z. B. in der Wohnung oder im Garten) verlegt, hat nach wie vor Gewahrsam. Der Gewahrsam ist lediglich gelockert. Der unehrliche Finder begeht in diesem Fall Diebstahl. c) Auch bei vergessenen Sachen tritt grundsätzlich kein Verlust des Gewahrsams ein, sofern der Gewahrsamsinhaber den Aufenthalt der Sache kennt und seinen Gewahrsamswillen ohne äußere Schwierigkeiten realisieren kann. Kennt er dagegen den Aufenthaltsort nicht, so spricht man besser nicht von einer vergessenen, sondern von einer verlorenen Sache. Der unehrliche Finder einer vergessenen Sache macht sich eines Diebstahls schuldig, wenn er die tatsächlichen Umstände, die zu der Gewahrsamslockerung geführt haben, kennt. Beispiel: A beobachtet, daß B beim Verlassen der Waldbank seine Jacke liegen läßt, aber bereits nach wenigen Minuten den Verlust entdeckt und zur Waldbank zurückeilt. Wenn A nun vor der Rückkehr des B die Jacke in Zueignungsabsicht an sich nimmt, kommt nur Diebstahl in Betracht. Kennt der unehrliche Finder die näheren Umstände des Einzelfalls nicht, so wird er in den meisten Fällen auch eine vergessene Sache für eine verlorene halten. Das bedeutet für die rechtliche Beurteilung, daß nur eine Bestrafung wegen Unterschlagung in Betracht kommt. Eine Verurteilung wegen Diebstahls kann nur erfolgen, wenn der Finder weiß, daß er fremden Gewahrsam bricht. d) Bei versteckten Sachen ist zu unterscheiden, wer versteckt hat. Wird die Sache vom Berechtigten versteckt, so hat dieser nach wie vor Gewahrsam, und zwar selbst dann, wenn er sie außerhalb seiner eigenen Raumgewalt versteckt, z. B. im Wald vergräbt. Eine vom Berechtigten versteckte Sache kann jedoch zu einer verlorenen oder verlegten Sache werden, wenn der Berechtigte nicht mehr weiß, wo er seine Sache versteckt hat. Bei Sachen, die ein anderer versteckt hat, kommt es darauf an, wo die Sachen versteckt wurden. Gegenstände, die in den Räumen des Gewahrsamsinhabers versteckt werden, verbleiben nach wie vor in dessen Gewahrsam. Der Gewahrsam ist zwar gelockert, aber noch nicht gebrochen. Anders zu beurteilen sind lediglich die Fälle, bei denen der Rauminhaber nach natürlicher Anschauung nicht mit dem neuen, der Sache vom Täter zugewiesenen Aufenthaltsort rechnen kann. Beispiel: Gewahrsamsbruch und somit vollendeter Diebstahl ist anzunehmen, wenn eine Hausangestellte einen ihrer Herrschaft gehörenden silbernen Löffel in ihrem eigenen Koffer oder im Gebüsch des Vorgartens versteckt, um ihn beim nächsten Ausgang ganz wegzuschaffen. Der Gewahrsam der Dienstherrschaft ist dagegen noch nicht gebrochen, wenn die Hausangestellte den Löffel unter den Küchenschrank legt, um ihn später unbeobachtet in ihr Zimmer bringen zu können. 3. Diebstahl, nicht Unterschlagung liegt vor, wenn der Täter fremden Mitgewahrsam bricht. Unterschlagung kommt nur dann in Betracht, wenn der Täter Alleingewahrsam oder übergeordneten Gewahrsam hat. Im einzelnen: 761
§ 242
Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
a) Der Hauptmieter einer Wohnung hat regelmäßig Alleingewahrsam. Er begeht daher keinen Diebstahl, sondern Unterschlagung, wenn er beim Auszug Einrichtungsgegenstände des Vermieters mitnimmt. Anders bei möblierten Zimmern und Hotelzimmern. Hier wird man Mitgewahrsam des Vermieters bzw. Gastwirts annehmen müssen, so daß bei rechtswidriger Zueignung nicht Unterschlagung, sondern Diebstahl vorliegt. Dies gilt jedoch nicht, wenn der Mieter - wenn auch eigenmächtig - den Raum, in dem sich das Eigentum des Vermieters befindet, durch eigene Sicherheitsschlösser usw. so absichert, daß der Vermieter praktisch keine Möglichkeit mehr hat, seinen Gewahrsamswillen jederzeit ungehindert zu verwirklichen (vgl. Celle JR 1968,432 m. Anm. Schröder). b) Hausangestellte, Kellner, Lagerarbeiter und Ladenverkäufer haben höchstens untergeordneten Mitgewahrsam an den ihnen anvertrauten Gerätschaften, Waren, Geldern usw. Rechtswidrige Zueignung ist daher als Diebstahl zu behandeln. c) Bei Kraftfahrern und Spediteuren kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an. Bei Fernfahrten wird man Alleingewahrsam des Fahrers annehmen müssen. Andere jedoch im Ortsverkehr, wenn der Fahrer für seinen Geschäftsherrn jederzeit erreichbar ist (vgl. Hamm, Urt. vom 11. 2. 1970- 4 Ss 1187/69). d) Bei Verwahrungsverträgen hat i. d. R. sowohl der Verwahrer Gewahrsam als auch der, für den er verwahrt. Wer seinen Mantel in der Theatergarderobe abgibt, verliert dadurch ebensowenig seinen Gewahrsam wie derjenige, der seinen Pkw in einer bewachten Sammelgarage abstellt (BGH 18,221). e) Der Besitzer eines verschlossenen Behältnisses hat an dem Inhalt jedenfalls dann uneingeschränkten Gewahrsam, wenn er auch den Schlüssel dazu besitzt. Nicht einheitlich beurteilt werden können jedoch die Fälle, in denen der Besitzer des Behältnisses keine Verfügungsgewalt über den Schlüssel hat. In diesen Fällen ist wie folgt zu unterscheiden (vgl. BGH 22, 180): aa) Verwahrt jemand Gegenstände in einem Behältnis, das fest mit einem Gebäude verbunden ist, so betrachtet die Verkehrsauffassung nur den als Gewahisamsinhaber, der den Schlüssel zu dem Behältnis hat. Daher begeht Diebstahl, wer den in seiner Wohnung angebrachten Gasautomaten der Stadtwerke öffnet und das von ihm oder anderen eingeworfene Geld entnimmt. Dasselbe gilt für den von einem Automatenaufsteller in einem Gasthaus fest montierten Zigaretten- oder Spielautomaten. bb) Der Schlüsselbesitzer hat auch dann Gewahrsam am Inhalt eines Behältnisses, wenn dieses zwar nicht fest mit einem Gebäude verbunden, aber infolge seiner Größe oder seines Gewichts nur sehr schwer beweglich ist. Hierher gehören z. B. Panzerschränke, größere Spiel- oder Musikautomaten. Diebstahl, nicht Unterschlagung begeht daher ein Gastwirt, der Geld aus einem in seiner Gaststube aufgestellten Musikautomaten entnimmt, zu dem er keinen Schlüssel besitzt. cc) Der Schlüsselbesitzer hat schließlich auch dann Gewahrsam am Inhalt eines Behältnisses, wenn dieses zwar weder mit einem Gebäude fest verbunden (aa) noch schwer beweglich ist (bb), zu dem er jedoch jederzeit freien Zutritt hat. Diebstahl, nicht Unterschlagung begeht daher, wer in dem von ihm gemieteten Ferienhaus einen Schrank aufbricht, in dem der Hauseigentümer seine persönlichen Sachen verwahrt hat. dd) Der Schlüsselbesitzer hat dagegen keinen Gewahrsam, wenn er nicht ohne weiteres in der Lage ist, an sein Behältnis heranzukommen, oder wenn er gar nicht weiß, wo sich das Behältnis gerade befindet. Dies gilt z. B. für Frachtgüter, die einem Spediteur zur
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Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
§ 242
Beförderung anvertraut werden. Hier hat nur der Spediteur Gewahrsam. Unterschlagung, nicht Diebstahl begeht daher auch der ungetreue Sammler, der in seiner Wohnung die ihm anvertraute Sammelbüchse aufbricht. ee) Der Schlüsselbesitzer hat schließlich auch dann keinen Gewahrsam am Inhalt des Behältnisses, wenn das in fremdem Gewahrsam befindliche Behältnis so beschaffen ist, daß sein Besitzer jederzeit frei darüber verfügen kann, z. B. dadurch, daß er es verkauft oder sonst wegschafft. Daher Unterschlagung, nicht Diebstahl, wenn der Käufer eines Fernsehgerätes mit Münzautomatik unbefugt Geld aus der am Gerät angebrachten Kassette entnimmt (so der Sachverhalt der Entscheidung BGH 22,180). 4. Vollendet ist der Diebstahl, wenn es dem Täter gelungen ist, fremden Gewahrsam zu brechen und neuen (nicht notwendigen eigenen) Gewahrsam zu begründen (sog. Apprehensionstheorie). Der Täter muß die Herrschaft über die Sache in der Weise erlangt haben, daß er sie ohne Behinderung durch den alten Gewahrsamsinhaber ausüben kann. Ob dies der Fall ist, richtet sich nach den Anschauungen des täglichen Lebens (BGH 16, 271, 273; 23,254; zusammenfassend Gössel ZStW 85, 591). Im einzelnen: a) Ein flüchtiges Berühren der Sache begründet noch keinen Gewahrsamsbruch. Andererseits ist es nicht erforderlich, daß die Sache aus dem Herrschaftsbereich des bisherigen Gewahrsamsinhabers entfernt oder gar vom Täter endgültig in Sicherheit gebracht wird. Entscheidend ist vielmehr, daß der Täter die tatsächliche Verfügungsgewalt erlangt hat und der Gewahrsam des Bestohlenen - sei es auch nur vorübergehend bis zur Entdeckung oder Festnahme - ausgeschlossen wird. Vollendeter Diebstahl liegt daher schon dann vor, wenn der Täter in einem Warenhaus oder Selbstbedienungsladen mit Zueignungsabsicht Waren in seine Kleidung oder in eine mitgeführte Tasche steckt. Dies gilt selbst dann, wenn das Personal den Vorgang beobachtet hat und die Entfernung der gestohlenen Ware aus den Geschäftsräumen ohne Schwierigkeiten verhindern kann (BGH 16, 271; GA 1969, 61; Welzel GA 1960, 257; a. A. Eser in Schönke-Schröder 35). Der Diebstahl ist also nicht erst in dem Augenblick vollendet, wenn es dem Täter gelingt, ungehindert die Kasse zu passieren. (Beachte: Derselbe Vorgang ist nicht zusätzlich als vollendeter oder versuchter Betrug strafbar, wenn der Täter an der Kasse nur die ordnungsgemäß erworbene Ware zur Bezahlung vorlegt und den Besitz der verborgenen Ware verheimlicht, vgl. BGH 17, 205.) Vollendeter, nicht nur versuchter Diebstahl liegt aus den dargelegten Gründen in der Regel auch dann vor, wenn der Täter in Wegnahmeabsicht in fremde Räume eindringt und dort kleinere, leicht bewegliche Gegenstände in seiner Kleidung oder in mitgebrachten Taschen, Koffern usw. verstaut. Dies gilt auch dann, wenn es dem Eigentümer oder einer anderen Person wenig später gelingt, den Täter noch am Tatort zu stellen und ihm die Beute wieder abzunehmen (BGH 23,254 m. Nachw. und Beispielen; übereinstimmend BGH 26, 24 m. krit. Bespr. Blei JA 1975, StR 38 für die Vollendung beim Raub). Ein vollendeter Gewahrsamsbruch ist nur für die Fälle abzulehnen, in denen der Täter nicht die geringste Möglichkeit hat, mit seiner Beute zu entkommen, z. B. weil er in dem Gebäude, in dem er gestohlen hat, eingeschlossen worden ist (RG 53, 144; in BGH 26,26 offen gelassen). Bei größeren Gegenständen, die man nicht ohne weiteres in der Tasche verstauen und dadurch dem unmittelbaren Zugriff des Berechtigten entziehen kann, gelten die soeben entwickelten Grundsätze nur beschränkt. So hat das OLG Celle in JR 1965, 68 zu Recht Gewahrsamsbruch abgelehnt für den Fall, daß der Täter auf dem Werksgelände des Eigentümers einen Tapetenballen versteckte, um ihn später mit seinem Pkw wegzubrin763
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Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
gen, wobei ér noch einen bewachten Eingang zu passieren hatte. Zum Ganzen siehe auch Otto ZStW 79, 59 ff., dessen Auffassung sich mit dem hier vertretenen Standpunkt in allen wesentlichen Punkten deckt. Richtet sich bei einem Ladendiebstahl der Tätervorsatz auf Aneignung einer aus zwei Teilen bestehenden einheitlichen Sache (Pullover mit Gürtel), so ist der Diebstahl noch nicht vollendet, wenn der Täter bis zu seiner Entdeckung lediglich Gewahrsam an einem Teil der Sache erlangt hat (vgl. Krhe Justiz 1972, 361). b) Es ist nicht erforderlich, daß der Täter den fremden Gewahrsam selbst bricht. Er kann sich hierzu auch eines gutgläubigen Dritten bedienen. In diesem Fall liegt Diebstahl in mittelbarer Täterschaft vor. Beispiel: A beauftragt den Gepäckträger B, ihm aus dem soeben eingefahrenen D-Zug „seinen", in Wirklichkeit aber dem X gehörenden Koffer zu holen. c) Es ist weiter nicht erforderlich, daß der Täter eigenen Gewahrsam begründet. Beispiel: A verkauft dem B für 1000,- DM ein auf „seiner", in Wirklichkeit dem X gehörenden Koppel stehendes Pferd und gibt B gleichzeitig die „Erlaubnis", sich das Pferd selbst zu holen. Holt sich der gutgläubige B das Pferd, so liegt wiederum Diebstahl in mittelbarer Täterschaft vor, außerdem (in IdK., § 52) Betrug zum Nachteil des um seine 1000,- DM geprellten B (RG 70, 212). d) Gewahrsamsbruch und Begründung neuen Gewahrsams können sich zeitlich in mehreren Phasen vollziehen (vgl. Eser in Schönke-Schröder 37). Beispiel: A wirft von einem fahrenden Zug Waren in ein abgelegenes Waldstück, um sie dort demnächst abzuholen. Vollendet ist in diesen Fällen der Diebstahl erst, wenn es dem Täter gelingt, die Waren später auch tatsächlich in seine Verfügungsgewalt zu bringen. Bis dahin liegt nur Versuch vor (vgl. Frank VI 1 ; Eser in Schönke-Schröder 37 ; str.).
5. Die Beispiele unter Anm. 4 b und 4 c zeigen, daß Diebstahl auch dann möglich ist, wenn die Wegnahme dadurch bewirkt wird, daß sie von einem Dritten vorgenommen wird, den der Täter über die wahre Sach- und Rechtslage getäuscht hat. Nicht Diebstahl, sondern Betrug liegt dagegen vor, wenn der getäuschte Dritte entweder tatsächlich oder rechtlich in der Lage ist, über die bereits in seinem Gewahrsam oder Mitgewahrsam befindliche Sache zu verfügen. Unerheblich ist dabei, ob er dem Eigentümer gegenüber zu der Verfügung berechtigt ist und ob der Eigentümer die Verfügung rechtlich gegen sich gelten lassen muß. Beispiel: A spiegelt dem Parkwächter W vor, X habe ihn beauftragt, seinen Pkw abzuholen. Wenn W dem A Vertrauen schenkt und den Wagen des X herausgibt, so liegt nach BGH 18, 221 nur Betrug, nicht auch Diebstahl vor. Der BGH verkennt nicht, daß durch die Herausgabe des Pkw durch W der bis dahin bestehende Mitgewahrsam des X gebrochen wird, weist aber darauf hin, daß es bei derartigen Gewahrsamsverhältnissen allein auf die Willensentschließung des gutgläubigen Mitgewahrsamsinhabers ankommt, der der Sache am nächsten steht und die unmittelbar räumliche Einwirkungsmöglichkeit hat. Ebenso wäre zu entscheiden, wenn es A durch Täuschung gelingt, die Garderobefrau B zu veranlassen, ihm den von ihr verwahrten Mantel des X herauszugeben (vgl. Otto aaO. 79, 82). - Gegenbeispiel: Nicht Betrug, sondern Diebstahl liegt vor, wenn die A dem 11 jährigen Sohn (S) der X vorspiegelt, seine Mutter habe ihr die Erlaubnis erteilt, einige Kleidungsstücke aus der Wohnung mitzunehmen. Wenn S die A gewähren läßt, so liegt hierin keine Vermögensverfügung. S wollte weder über seinen Gewahrsam noch über den seiner
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Mutter verfügen. Er hat lediglich geduldet, daß die A den Gewahrsam seiner Mutter brach. Dies reicht als Vermögensverfügung i. S. des § 263 nicht aus (vgl. BGH bei DallingerMDR 1974,15; Blei JA 1974 StR 63). 6. Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von Diebstahl und Betrug können sich auch dann ergeben, wenn sich der Täter und der Eigentümer unmittelbar gegenüberstehen und es dem Täter gelingt, den Eigentümer durch Täuschung zur Herausgabe der Sache zu veranlassen. Es wäre verfehlt, hier in allen Fällen Betrug anzunehmen. Insbesondere kommt es nicht auf das äußere Bild (Geben - Nehmen) an. Entscheidend für die Grenzziehung zwischen Betrug und Diebstahl ist allein die Willensrichtung des Verletzten. Verliert der bisherige Gewahrsamsinhaber den Gewahrsam gegen seinen Willen, so liegt Diebstahl vor; bei freiwilligem Gewahrsamsverlust kommt Betrug in Betracht (BGH 18, 223 sowie bei Daliinger MDR 1974,15; Hamm NJW 1969, 620; Schröder ZStW 60, 38 ff.). Beispiele: a) Diebstahl, nicht Betrug liegt vor, wenn A als Kriminalbeamter auftritt und von B die Herausgabe einer Sache fordert: gibt B die Sache heraus, so tut er dies nicht freiwillig, sondern nur unter dem Druck der Verhältnisse, die für einen eigenen freien Willensentschluß keinen Raum lassen (BGH 18, 223 m. weit. Nachweisen; einschränkend BGH GA 1965, 107). b) Ebenso ist zu entscheiden, wenn B sich von A überzeugen läßt, daß ein im Wald lagernder Holzstapel ihm (A) gehört, während es sich in Wirklichkeit um das Holz des B handelt. Fährt A das Holz ab, so begeht er selbst dann Diebstahl, wenn B ihm beim Aufladen geholfen hat. Entscheidend ist auch hier, daß B seinen Gewahrsam nicht freiwillig aufgegeben hat (vgl. Schröder aaO. 44; Otto aaO. 69). c) Diebstahl liegt ferner vor, wenn der Täter sich die erstrebte Sache zur Besichtigung vorlegen läßt, um dann in einem geeigneten Augenblick damit zu verschwinden. Auch in diesem Fall will der Verkäufer, etwa der Juwelier, der einen wertvollen Ring auf den Ladentisch legt, seinen Gewahrsam nicht aufgeben. Dasselbe gilt, wenn der Täter sich ein Fahrrad geben läßt, um damit „eine Runde ums Quadrat" zu fahren, von der er dann nicht mehr zurückkommt. - Oder: A erschleicht sich die Schlüssel eines Lieferwagens unter dem Vorwand, diesen nur zum Umkleiden benutzen zu wollen. Anschließend fährt er vorgefaßter Absicht entsprechend mit dem Pkw weg (Stgt Justiz 1973, 396). - Oder: A veranlaßt in der Tiefgarage eines Kaufhauses den X durch die wahrheitswidrige Behauptung, er wolle sein Fahrzeug im Rahmen einer Werbeaktion des Kaufhauses an dessen Tankstelle kostenlos waschen, zur Herausgabe der Fahrzeugschlüssel, mit deren Hilfe er dann den Pkw entführt (BGH DAR 1975, 46). - Oder: A entfernt sich unter Mitnahme einer Brieftasche, die X ihm für einen kurzen Augenblick zum Halten gegeben hatte, unter dem Vorwand, er wolle im selben Gebäude telefonieren und Zigaretten holen (vgl. Köln JZ 1974, 156 m. krit. Anm. Bittner). In all diesen Fällen liegt zwar ein Gewahrsamsverlust, aber keine Gewahrsamsverfügung vor (vgl. Otto aaO. 65). d) Als Diebstahl ist auch folgender, vom OLG Hamm in NJW 1969, 620 entschiedene Sachverhalt zu beurteilen: An der Kasse eines Selbstbedienungsladens sieht die Kundin X eine Geldbörse, die von der Kundin Y versehentlich liegen gelassen worden war. Sie nimmt die Geldbörse in die Hand und fragt die neben ihr stehende A, ob ihr die Geldbörse gehöre. Die A bejaht und nimmt die von der X inzwischen wieder abgelegte Geldbörse ohne Widerspruch der Kassiererin K an sich. Das OLG Hamm führt in der 765
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angeführten Entscheidung zu Recht aus, daß Betrug nur dann in Betracht kommt, wenn der Getäuschte den Gewahrsam an einer Sache bewußt als eigenen oder den des Berechtigten überträgt. Hier aber wollten weder die X noch die K über eigenen oder fremden Gewahrsam verfügen (vgl. Otto aaO. 66). e) Betrug liegt dagegen in folgendem Fall vor: B hat an X seinen Pkw verkauft. Der Pkw soll abends um 20.00 Uhr von X abgeholt werden. A, der hiervon weiß, ruft im Laufe des Tages bei B an, stellt sich als X vor und erklärt, er wolle den Wagen schon um 19.00 Uhr durch seinen Bruder abholen lassen. B hat hiergegen nichts einzuwenden. Wenn A dann um 19.00 Uhr erscheint und den Wagen abholt, so liegt Betrug, nicht Diebstahl vor: B hat seinen Gewahrsam freiwillig aufgegeben. VI. Der subjektive Tatbestand erfordert neben dem Vorsatz die Absicht rechtswidriger Zueignung. 1. Der Vorsatz des Täters muß sich darauf erstrecken, daß er fremde Eigentumsrechte verletzt und fremden Gewahrsam bricht. Der Vorsatz entfällt daher, wenn der Täter irrig annimmt, a) er sei selbst Eigentümer der Sache, b) der Gewahrsamsinhaber sei mit der Besitzergreifung durch ihn einverstanden, c) er habe einen Anspruch auf Übereignung der Sache. In all diesen Fällen ist sich der Täter eines Verstoßes gegen die Eigentumsordnung nicht bewußt (vgl. BGH 17, 88). Er kann daher auch dann nicht wegen Diebstahls bestraft werden, wenn der Irrtum auf Fahrlässigkeit beruht. Der Vorsatz bleibt dagegen bestehen, wenn der Täter weiß, daß er eine fremde Sache wegnimmt, auf deren Übereignung er keinen Anspruch hat, er vielmehr lediglich glaubt, er dürfe zu seiner Befriedigung eine andere, gleichwertige Sache wegnehmen. Ein derartiger Irrtum ist als Verbotsirrtum zu behandeln (BGH 17, 88). 2. In Zueignungsabsicht handelt, wer den Willen hat, über die entwendete Sache unter dauerndem Ausschluß des Berechtigten wie ein Eigentümer zu verfügen ( = se ut dominum gerere, vgl. BGH 24, 119 m. abl. Anm. DeubnerNJW 1971,1469; BGH NJW 1977, 1460; Welzel 344; Wessels NJW 1965,1152). Die Zueignungsabsicht ist somit, wie schon ihr Name sagt, am Eigentum ausgerichtet (sog. Eigentumstheorie). a) Eine Bereicherungsabsicht ist ebensowenig erforderlich wie die Absicht, sich längere Zeit im Besitz der Sache zu halten. Zueignungsabsicht liegt daher auch dann vor, wenn der Täter die Absicht hat, die entwendete Sache unmittelbar im Anschluß an die Tat einem anderen zu überlassen. Dies gilt unbestritten für die Fälle, in denen der Täter wenigstens irgendeinen wirtschaftlichen Vorteil für sich erstrebt, z. B. wenn er sich eine Gegenleistung gewähren läßt, wenn er freigebig erscheinen will, ohne eigene Mittel aufwenden zu müssen (BGH 4, 236, 238), oder wenn er sich sonstige Vorteile erhalten oder sichern will (vgl. BGH 17, 88 betr. einen Kellner, dem es darum ging, von seinem Wirt nicht mit der Zeche eines Gastes, der nicht gezahlt hatte, belastet zu werden). Entgegen der h. A. (vgl. Stgt NJW 1970, 66; Krhe Justiz 1975, 314; Eser in Schönke-Schröder 62 m. weit. Nachw.) kommt es jedoch auf das Streben nach einem wirtschaftlichen Vorteil nicht an. Es genügt vielmehr, daß der Täter die Sache - sei es auch nur vorübergehend - seiner
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eigentümerahnlichen Verfügungsgewalt unterwerfen will (vgl Lackner 5 a; Rudolphi GA 1965, 41 f., 51 f.; ferner Busch LK 14 zu § 47 aF und Maurach AT 658 für die Fälle der Mittäterschaft). Von einer Verfügungsgewalt in diesem Sinn kann nur dort nicht gesprochen werden, wo der an der Wegnahme Beteiligte sich bei der Tatausführung dem Willen eines Dritten dergestalt unterordnet, daß er nicht mehr als Täter, sondern nur als tatausführendes Werkzeug angesehen werden kann. - Wieder anders zu beurteilen ist folgender Fall: Dem Soldaten A werden seine Dienststiefel entwendet. Er entwendet darauf seinerseits die Stiefel seines Kameraden B, die er, um der drohenden Ersatzpflicht zu entgehen, als die von ihm erhaltenen Stiefel beim Kammerverwalter abgibt. Auch hier strebt A nach einem wirtschaftlichen Vorteil. Trotzdem ist Diebstahl abzulehnen, da sich die Handlung des A nicht gegen das Eigentum der Bundeswehr, sondern nur gegen deren Vermögensinteressen sowie gegen die Besitzrechte des Soldaten B richtet (BGH 19, 387; Eser in Schönke-Schröder 49 m. weit. Nachw.). Dadurch bleibt die Tat allerdings nicht schlechthin straflos. Gelingt die Täuschung des Kammerverwalters, so liegt Betrug zum Nachteil der Bundeswehr vor, die es unterläßt, ihren Ersatzanspruch gegen A geltend zu machen. - Nicht ausreichend als Zueignungsabsicht ist auch die Absicht, die einem tatsächlichen oder vermeintlichen - Dieb weggenommene Sache einem Bestohlenen als Schadensersatz zur Verfügung zu stellen (Stgt NJW 1970, 66). b) Die Absicht, eine Sache sofort nach der Wegnahme zu zerstören, ist nur dann eine Zueignungsabsicht, wenn sich die Zerstörung als die bestimmungsgemäße Verwertung darstellt. Nur dann will der Täter sich die Sache aneignen, d. h. seinem eigenen Vermögen zuführen. Die Zueignungsabsicht fehlt jedoch, wenn der Täter an der Sache überhaupt kein Interesse hat, wenn es ihm vielmehr lediglich darum geht, den Eigentümer zu schädigen, indem er ihm die Sache entzieht, sie vernichtet oder sonst unbrauchbar macht (BGH NJW 1977, 1460 betr. Entwendung von Akten aus den Räumen des Amtsgerichts, um durch ihre alsbaldige Vernichtung das weitere Verfahren zu sabotieren). In Fällen dieser Art kommt nur Strafbarkeit wegen Urkundenunterdrückung (§ 274 Abs. 1 Nr. 1) oder Sachbeschädigung in Betracht. - Weiteres Beispiel: Die Zueignungsabsicht ist gegeben, wenn A dem B Feuerwerkskörper wegnimmt, um damit ein Feuerwerk zu veranstalten. Sie fehlt jedoch, wenn A die Feuerwerkskörper in einen Bach versenken will, um den B zu ärgern. Hier kommt lediglich Sachbeschädigung in Betracht. c) Die Absicht, die Sache nach vorübergehendem Gebrauch wieder zurückzugeben, reicht als Zueignungsabsicht nicht aus und ist nur unter den Voraussetzungen des § 248 b (unbefugter Gebrauch eines Fahrzeugs) strafbar. Fraglich kann nur sein, wie lange man noch von einem „vorübergehenden Gebrauch" sprechen kann. Wenn A beispielsweise dem B ein Leghuhn wegnimmt in der Absicht, das Tier nach einigen Jahren, wenn es keine Eier mehr legen kann, wieder zurückzugeben, so kann er sich nicht auf fehlende Zueignungsabsicht berufen. Weitere Beispiele, bei denen nicht nur straflose Gebrauchsabsicht, sondern strafbegründende Zueignungsabsicht vorliegt: Entzüg von Heizungsdampf zur Gewinnung von Wärme (RG 44, 335), Benutzung von Batterien, Transistoren oder Reifen über eine nicht nur unerhebliche Zeit hinaus, Bemalen einer Zeichenleinwand, Benutzung einer Tageszeitung über den Tag ihres Erscheinens hinaus. In allen diesen Fällen kann man nicht mehr von einem reinen „Gebrauch" sprechen. Es liegt vielmehr ein ganzer oder teilweiser „Verbrauch" vor. Die Sache hat nach ihrer Rückgabe an den Eigentümer ihren Wert ganz oder teilweise verloren. Die Wegnahme eines Buchs zum Lesen ist dagegen entgegen Celle NJW 1967, 1921 ( = JR 1967, 389) zumindest dann als straflose Gebrauchsentwen-
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dung zu behandeln, wenn der Täter bei der Wegnahme die Absicht hat, das Buch innerhalb kürzester Zeit zurückzugeben und in der Zwischenzeit so schonend zu behandeln, daß es seinen bisherigen wirtschaftlichen Zweck nach wie vor erfüllen, z. B. als neues Buch verkauft werden kann (vgl. Deubner NJW 1967, 1921; Schröder JR 1967, 391). Zum Ganzen siehe auch Rudolphi GA 1965,33,46. d) Zueignungsabsicht ist auch dann gegeben, wenn der Täter die Sache zunächst für sich verwenden und später vernichten oder ihrem Schicksal überlassen will. Beispiel: A entwendet einen Pkw in Heidelberg, um damit nach Hamburg zu fahren und den Pkw dort irgendwo stehen zu lassen. Hier kommt nicht § 248 b, sondern Diebstahl in Betracht. Siehe hierzu ausführlich BGH 22, 45: Diebstahl, nicht nur ein Vergehen gem. § 248 b liegt vor, wenn der Täter den Gewahrsam des Berechtigten nicht wiederherstellen will. An einem solchen Willen fehlt es, wenn das entwendete Fahrzeug nicht mehr an eine Stelle zurückgeführt werden soll, wo es dem Berechtigten ohne besondere Mühe möglich ist, seine ursprüngliche Verfügungsgewalt wieder zu erlangen. Ebenso ist zu entscheiden, wenn ein aus dem Gefängnis ausbrechender Gefangener die Gefängnisschlüssel entwendet, um sie nach Gebrauch irgendwo außerhalb des Anstaltsbereichs wegzuwerfen (BGH MDR 1960, 689). - Oder: A entwendet eine Handtasche, um sie als Transportmittel für eine in ihr vermutete Geldbombe zu verwenden und anschließend wegzuwerfen (BGH bei Dallinger MDR 1975, 22, 543; Eser in Schönke-Schröder 50). e) Mit Zueignungsabsicht handelt der Täter auch dann, wenn er bei der Wegnahme die Absicht hat, die entwendete Sache später wieder an den ahnungslosen Eigentümer zu verkaufen (BGH 24, 119; BayObLG JR 1965, 26 m. abl. Anm. Schröder; Welzel 343; Wessels NJW 1965, 1152; a. A. Eser in Schönke-Schröder 49). Auch in diesem Fall liegt ein „se ut dominum gerere" vor. Der Täter strebt danach, die entwendete Sache - wenn auch nur vorübergehend - seinem Vermögen einzuverleiben. Der Eigentümer erhält lediglich die Möglichkeit, sie durch einen neuen Erwerbsakt wieder in seine Verfügungsgewalt zu bekommen. Kommt der bei der Wegnahme beabsichtigte Verkauf an den Eigentümer zustande, so liegt außerdem Betrug vor. Dieser stellt sich nicht als mitbestrafte Nachtat, sondern als rechtlich selbständige Handlung dar (vgl. RG 57, 199; h. L.). f) Zueignungsabsicht liegt schließlich auch dann vor, wenn der Täter sogenannte Legitimationspapiere (Sparbücher, Gepäckscheine usw.) entwendet. Hier will der Täter die an den Besitz geknüpfte, nur dem Eigentümer zustehende Rechtsposition ausüben. Wenn A das Sparbuch des B entwendet, um es nach Abhebung des Geldbetrags dem B zurückzugeben, so erfolgt auch hier die Wegnahme in der Absicht, den B völlig und auf Dauer aus der ihm zustehenden Eigentümerstellung zu verdrängen. Das Sparbuch ist nach Abhebung des Geldbetrags praktisch wertlos. Schwieriger zu beurteilen ist die Frage, ob eine Zueignungsabsicht auch dann angenommen werden kann, wenn der Täter ein Sparbuch entwendet, das kein Guthaben mehr ausweist, dem Täter aber die Möglichkeit bietet, es durch Fälschung mit einem scheinbaren Guthaben zu versehen und dann zu Betrügereien zu verwenden. Die reine Sachwerttheorie müßte hier eine Zueignungsabsicht schon deshalb verneinen, weil das Sparbuch in diesem Fall keinen Wert mehr repräsentiert und es zur Annahme einer Zueignungsabsicht nicht ausreicht, den Vermögenswert einer Sache allein darin zu sehen, daß sie sich verfälschen und zu Täuschungszwecken gebrauchen läßt (vgl. Stgt NJW 1970,672 m. Anm. Widmaier; siehe auch Bockelmann ZStW 65, 575: nur der Gewinn „ex re", nicht der Gewinn „ex negotio cum re" begründet die Zueignungsabsicht). Die hier vertretene Eigentums- oder se-ut-dominum-gerere-Theorie könnte in
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diesem Fall eine Zueignungsabsicht nur dann bejahen, wenn der Täter die Absicht hatte, das von ihm entwendete Sparbuch zunächst zu Täuschungszwecken zu verwenden und dann wegzuwerfen oder sonst seinem Schicksal zu überlassen. Nur dann hat er über die Sache unter dauerndem Ausschluß des Berechtigten wie ein Eigentümer verfügt. Die Absicht, das entwendete Sparbuch lediglich zur Fälschung und zu anschließenden Täuschungshandlungen zu mißbrauchen, dann aber wieder dem Berechtigten zurückzugeben, reicht dagegen als Zueignungsabsicht nicht aus, weil die Absicht fehlt, den Berechtigten auf Dauer aus seiner Stellung als Eigentümer zu verdrängen. g) Nutzung und Gebrauch einer Sache sind - sofern sie nicht in Abnutzung und Verbrauch umschlagen (s. o. lit. c) - nur dann Zueignung, wenn sie unter Leugnung des fremden Eigentums erfolgen (vgl. Eser JuS 1964, 481 sowie in Schönke-Schröder 46 m. weit. Nachw.). Wer z. B. einen fremden Hund einfängt, um ihn gegen Finderlohn dem Eigentümer zurückzubringen, maßt sich keine eigentümerähnliche Stellung an; er handelt daher ohne Zueignungsabsicht und ist nicht wegen Diebstahls, sondern wegen Betrugs zu bestrafen, da er einen Fund vorgetäuscht hat (RG 55, 59). Entgegen dem OLG Stgt (NJW 1970,672 m. abl. Anm. Widmaier) ist deshalb auch folgender Fall nicht als Diebstahl und versuchter Betrug, sondern nur als versuchter Betrug zu beurteilen: Der Angeklagte A, der Lottokarten des „Esso-Tiger-Lottos" zu sortieren hatte, entnahm einem Karton mit Nieten eine Lottokarte, die weder einen Absender noch Lottozahlen, sondern nur einen Poststempel und den Eingangsvermerk der Lottostelle enthielt. Vorgefaßtem Tatplan entsprechend füllte er zu Hause die Karte aus, indem er die ihm bekannte Gewinnzahl und die Anschrift einer Bekannten als Absender einsetzte. In der nächsten Nachtschicht legte er die Lottokarte in einen Karton mit noch nicht ausgewerteten Karten. Die Täuschung wurde jedoch aufgedeckt. Da die bei den Nieten liegende Karte wirtschaftlich ohne jeden Wert war, kann die Zueignungsabsicht keinesfalls damit begründet werden, A habe sich ihren Wert zueignen wollen. Die Möglichkeit, die Karte zu fälschen und zu Täuschungszwecken zu benutzen, reicht nach der Sachwerttheorie zur Annahme einer Zueignungsabsicht nicht aus (siehe oben c). Aber auch nach der se-ut-dominum-gerereFormel muß eine Zueignungsabsicht verneint werden. Die Ansicht des OLG Stgt, A habe die Lottokarte „wie ein Eigentümer benutzen" und sich damit in ihrer Substanz zueignen wollen, weil seine Absicht darauf gerichtet gewesen sei, mit ihr „so zu verfahren wie jeder Mitspieler der Lotterie", geht schon deshalb fehl, weil sämtliche eingegangenen Karten nach dem Willen der Absender bereits in das Eigentum der ESSO übergegangen waren. A konnte es demnach nicht darauf abgesehen haben, sich die Eigentumsrechte eines der Absender anzumaßen. Er hat durch sein Verhalten lediglich vorgetäuscht, daß er der ursprüngliche Eigentümer gewesen sei. Aber auch die Eigentumsrechte der ESSO wurden nicht in einer durch § 242 erfaßbaren Weise verletzt. Der Fall ist nicht anders zu beurteilen, wie wenn jemand nachts in seine Bank eindringt und seinen Kontostand durch Eintragungen auf dem Kontoblatt verbessert (vgl. Widmaier aaO.). In Betracht kommen nur Urkundenfälschung und Betrug. Hätte A die Karte nicht nach Hause mitgenommen, sondern an Ort und Stelle ausgefüllt, wäre sicher niemand auf den Gedanken gekommen, die Tat unter dem Gesichtspunkt eines Diebstahls oder einer Unterschlagung zu würdigen. h) Die erstrebte Zueignung ist rechtswidrig, wenn der Täter keinen Anspruch auf Ubereignung hat. Ein fälliger und einredefreier Anspruch auf Ubereignung einer Sache schließt die Rechtswidrigkeit der Zueignung auch dann aus, wenn die Voraussetzungen des Selbsthilferechts nicht gegeben sind (vgl. BGH 17, 88; Dreher 21; Lackner 5 d; 25
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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Schröder DRiZ 1956, 69 und JR 1962, 47; a. A. Hirsch JZ 1963, 149; Welzel 324, 329). Hierbei ist im einzelnen folgendes zu beachten: aa) Wer seinem Schuldner eine ihm geschuldete bestimmte Sache, z. B. einen gebrauchten Pkw, wegnimmt, handelt nicht rechtswidrig i. S. der Eigentumsordnung, weil er den von ihr gewollten Zustand herbeiführt. Auf das Vorliegen eines Selbsthilferechts kann es daher insoweit nicht ankommen. Andererseits bestehen keine Bedenken, den Gläubiger, der seinen Herausgabeanspruch dadurch erzwingt, daß er in die Geschäftsräume seines Schuldners eindringt und diesem die geschuldete Sache mit Gewalt wegnimmt, wegen Nötigung (§ 240) und Hausfriedensbruchs (§ 123) zu bestrafen. Diebstahl oder Raub liegen dagegen nicht vor, da die Zueignung als solche nicht der Eigentumsordnung widerspricht, ein Verstoß gegen die Eigentumsordnung aber zum Tatbestand aller Zueignungsdelikte gehört (BGH 17, 88). bb) Anders ist die Rechtslage bei einer Gattungsschuld oder einer Geldschuld. Hier hat der Schuldner das Recht, seinerseits aus der Gattung die zur Erfüllung seiner Schuld erforderlichen Sachen auszuwählen und zu leisten (vgl. § 243 BGB). Der Gläubiger einer Gattungsschuld eignet sich demnach rechtswidrig zu, wenn er zu seiner Befriedigung seinem Schuldner einfach eine beliebige Sache der geschuldeten Art wegnimmt. Auch hier kann es nicht darauf ankommen, ob die Voraussetzungen erlaubter Selbsthilfe vorliegen oder nicht. Die Zueignung ist auf jeden Fall rechtswidrig. cc) Über die Behandlung der Irrtumsprobleme siehe oben Anm. VI 1 sowie OLG Hamm MDR 1969, 499: vorsatzausschließender Tb.-Irrtum, wenn sich ein Gläubiger Geld des Schuldners rechtswidrig zueignet in der irrigen Vorstellung, er habe Anspruch auf dieses Geld und dürfe sich durch dessen Einbehaltung wegen seiner Forderung befriedigen. i) Aus dem neueren Schrifttum siehe insbesondere Maiwald, Der Zueignungsbegriff im System der Eigentumsdelikte, Heidelberger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, 26. Abhandlung, 1971; ferner Baumann GA 1971,306.
VII. Strafbarer Versuch liegt vor, 1. wenn die Wegnahme mißlingt, 2. wenn der Täter eine eigene oder eine herrenlose Sache wegnimmt in der irrigen Meinung, es handle sich um eine fremde Sache, 3. wenn der Täter nicht weiß, daß der Gewahrsamsinhaber mit der Wegnahme einverstanden ist oder daß er einen Anspruch auf Übereignung hat, 4. bei vergeblicher Einwirkung auf einen gutgläubigen Dritten, der die Sache wegnehmen soll (versuchte mittelbare Täterschaft, vgl. § 25 Anm. III 5).
VIO. Konkurrenzen: Über das Verhältnis zum Betrug s. o. Anm. V 5, 6. IdK. ist möglich mit §§ 132-136, 146, 266 sowie mit Urkundenfälschung und Fahren ohne Fahrerlaubnis (BGH 18, 66).
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Besonders schwerer Fall des Diebstahls
(1) In besonders schweren Fällen wird der Diebstahl mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. zur Ausführung der Tat in ein Gebäude, eine Wohnung, einen Dienst- oder Geschäftsraum oder in einen anderen umschlossenen Raum einbricht, einsteigt, mit einem falschen Schlüssel oder einem anderen nicht zur ordnungsmäßigen Öffnung bestimmten Werkzeug eindringt oder sich in dem Raum verborgen hält, 2. eine Sache stiehlt, die durch ein verschlossenes Behältnis oder eine andere Schutzvorrichtung gegen Wegnahme besonders gesichert ist, 3. gewerbsmäßig stiehlt, 4. aus einer Kirche oder einem anderen der Religionsausübung dienenden Gebäude oder Raum eine Sache stiehlt, die dem Gottesdienst gewidmet ist oder der religiösen Verehrung dient, 5. eine Sache von Bedeutung für Wissenschaft, Kunst oder Geschichte oder für die technische Entwicklung stiehlt, die sich in einer allgemein zugänglichen Sammlung befindet oder öffentlich ausgestellt ist, 6. stiehlt, indem er die Hilflosigkeit eines anderen, einen Unglücksfall oder eine gemeine Gefahr ausnutzt. (2) Ein besonders schwerer Fall ist ausgeschlossen, wenn sich die Tat auf eine geringwertige Sache bezieht. I. Vorbemerkung: In weitgehend sachlicher Ubereinstimmung mit § 236 E 1962 wurde § 243 durch das 1. StrRG einer grundlegenden Neufassung unterzogen. Abs. 2 wurde durch das EGStGB neu eingefügt. Aus dem Schrifttum siehe besonders Blei, HeinitzFestschr. S. 419; Corves, JZ 1970,156 f.; Wessels, Maurach-Festschr. S. 295. 1. Die starre kasuistische Regelung des früheren § 243, die zu einer sehr differenzierten Rechtsprechung und oft auch zu unbefriedigenden Ergebnissen geführt hat, wurde aufgegeben. Die Neufassung bringt sechs Regelbeispiele, bei deren Vorliegen grundsätzlich auf Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 10 Jahren zu erkennen ist. 2. Der hauptsächliche Vorteil der Neufassung besteht darin, daß der Richter einerseits Taten, die sich nicht unter die sechs Regelfälle einordnen lassen, diesen aber ihrem Unrechts- und Schuldgehalt nicht nachstehen, ebenfalls aus dem erhöhten Strafrahmen des § 243 aburteilen kann, er aber andererseits nicht gezwungen ist, jede Tat, die unter eines der sechs Regelbeispiele fällt, aus dem für die „besonders schweren Fälle" vorgesehenen Strafrahmen zu bestrafen. Auf jeden Fall aber sind die Regelbeispiele mit derselben Sorgfalt und mit derselben Art der Darstellung zu erörtern wie echte Qualifikationstatbestände (vgl. Blei JA 1971, StR S. 34). Die Ablehnung eines besonders schweren Falls bedarf bei Vorliegen eines Regelbeispiels einer ausführlichen Begründung im Urteil (vgl. Maurach, 1. Nachtrag 18). Sie kann nicht nur auf den geringen Wert der entwendeten Sache gestützt werden (vgl. Abs. 2), sondern z. B. auch auf besondere Sorglosigkeit des Geschädigten (vgl. BayObLG NJW 1973, 1808; Maurach aaO.). 25*
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3. Die Einordnung der Tat als Vergehen wird durch die Annahme eines besonders schweren Falls nicht berührt (vgl. § 12 Abs. 3). Die Strafbarkeit des Versuchs ergibt sich unmittelbar aus § 242 Abs. 2, da § 243 nur besondere Strafzumessungsgründe (d. h. keine eigenen Tatbestände) enthält. 4. Prozessual ist zu beachten, daß die Tat jetzt, da nur noch Vergehen, auch vom Amtsrichter als Einzelrichter abgeurteilt werden kann, sofem im Einzelfall keine höhere Strafe als 1 Jahr zu erwarten ist (vgl. § 25 Nr. 3 GVG). Die Kennzeichnung als besonders schwerer Fall ist im Urteilstenor zwar nicht geboten (vgl. BGH 23, 254), andererseits aber auch nicht falsch (vgl. BGH JR 1971, 29). Die Fassung der Urteilsformel liegt insoweit im Ermessen des Gerichts. Zur Klarstellung sollte man deshalb auf die besondere Kennzeichnung nicht verzichten und schon im Urteilstenor eindeutig zum Ausdruck bringen, daß der Angeklagte sich eines Diebstahls in einem besonders schweren Fall schuldig gemacht hat (vgl. Börtzler NJW 1971,682; Dreher 5 m. weit. Nachw.).
II. Die einzelnen Regelbeispiele: 1. Zu Nr. 1 (Einbruchs-, Einsteige- und Nachschlüsseldiebstahl): a) Dem besonderen Schutz der Vorschrift unterliegen Gegenstände, die sich in einem umschlossenen Raum befinden. Umschlossener Raum ist jedes Raumgebilde, das dazu geeignet und bestimmt ist, von Menschen betreten zu werden, und das mit Vorrichtungen umgeben ist, die das Eindringen Unbefugter verhindern sollen (vgl. BGH [GrSen] 1, 163). Die im Gesetz weiter erwähnten Gebäude, Wohnungen, Dienst- und Geschäftsräume sind lediglich Beispiele für einen umschlossenen Raum. Des weiteren wird man u. a. auch Schiffe und Eisenbahngüterwagen sowie Wohn- und Bürowagen hierher zu rechnen haben (vgl. BGH 1, 166; 2, 215). Auch der Fond eines Pkw ist ein umschlossener Raum, nicht dagegen der Kofferraum (vgl. BGH 2,214; 4, 16; 13, 81). Dieser ist lediglich ein Behältnis, das unter bestimmten Voraussetzungen dem besonderen Schutz der Nr. 2 unterliegt. Ein umzäunter Viehpferch ist dann ein umschlossener Raum, wenn der Zaun nicht nur das Entlaufen der Tiere, sondern auch das unbefugte Eindringen von Menschen verhindern soll (Köln MDR 1969,237). b) Der Täter muß sich durch Einbruch, Einsteigen, Verwendung falscher Schlüssel oder anderer, nicht zur ordnungsgemäßen Öffnung bestimmter Werkzeuge Zugang zu dem umschlossenen Raum verschafft haben. Dem gleich steht der Fall, daß sich der Täter zum Zwecke der Tatausführung in dem umschlossenen Raum verborgen gehalten hat. Im einzelnen: aa) Das Tatbestandsmerkmal Einbrechen setzt weder eine Substanzbeschädigung noch einen erhöhten Kraftaufwand voraus. Nach der Rechtsprechung genügt vielmehr eine körperliche Anstrengung nicht unerheblicher Art, durch die das Hindernis überwunden wird. Der Tb. ist daher schon dann erfüllt, wenn der Täter das nicht gesicherte, aber schwer bewegliche Lüftungsfenster eines Pkw aufdrückt, um von innen die Tür öffnen zu können (BGH NJW 1956, 389). Nicht erforderlich ist, daß der Täter selbst in den gewaltsam geöffneten Raum eindringt. Es genügt, daß er den erstrebten Gegenstand mit der Hand oder einem Gerät herausholt oder ein in dem Raum befindliches Tier durch die Öffnung herauslockt (RG 54, 211; 56, 48). Die Neufassung (Einbrechen „in" einen umschlossenen Raum) kann an dieser Auslegung nichts geändert haben. Sinn und Zweck
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§ 243
der Vorschrift ist es, alle Fälle zu erfassen, in denen sich der Täter in diebischer Absicht gewaltsam Zugang zum Innern eines umschlossenen Raums verschafft hat. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage ist auch nicht mehr erforderlich, daß der Täter „aus" einem umschlossenen Raum stiehlt. Es genügt, daß er den Einbruch „zur Ausführung der Tat" begeht. Es macht jetzt also keinen Unterschied mehr, ob der Täter einen Pkw aufbricht, um ein Gepäckstück zu entwenden, oder ob er es auf den Pkw als solchen abgesehen hat. In beiden Fällen liegen die Voraussetzungen der Nr. 1 vor. Unbeachtlich ist schließlich, ob der Täter berechtigt ist, sich in dem Gebäude oder umschlossenen Raum aufzuhalten, aus dem er mittels Einbruchs einen Diebstahl begeht (BGH 22, 127 m. abl. Anm. Säcker NJW 1968, 2116). Der Täter muß also nicht unbedingt ein „Hausfremder" sein (Maurach, 1. Nachtrag 20). Nicht ausreichend ist andererseits das Aufbrechen eines Raumes, um die zuvor qualifikationslos gestohlene Beute dort einstweilen unterzubringen (vgl. Dreher 14; Mäurach, 1. Nachtrag 19; a. A. Lackner 4 a). bb) Einsteigen ist das Eindringen in ein Gebäude oder einen umschlossenen Raum unter Überwindung von Hindernissen oder Schwierigkeiten, die sich aus der Eigenart des Gebäudes oder der Umfriedung des umschlossenen Raumes ergeben (BGH 10, 132). Ein Einsteigen liegt z. B. vor, wenn der Täter über einen Zaun oder eine Mauer klettert, um in einen Hof zu gelangen, oder wenn er durch ein offenstehendes Fenster in das Innere des Gebäudes eindringt. Nicht ausreichend ist dagegen, wenn sich der Täter lediglich durch ein Fenster, Oberlicht oder eine andere, von ihm nicht geschaffene Öffnung (sonst Einbruch) in das Innere hineinbeugt und auf diese Weise eine Sache herausholt (BGH 10, 132; NJW 1968, 1887). Der Richter ist allerdings nicht gehindert, auch in diesen Fällen einen besonders schweren Fall anzunehmen, wenn er sich auf den Standpunkt stellt, daß der Fall in seinem Unrechts- und Schuldgehalt einem Einsteigediebstahl gleichkommt. Wie beim Einbruchsdiebstahl ist auch beim Einsteigediebstahl nicht mehr erforderlich, daß der Täter „aus" einem umschlossenen Raum stiehlt. Ein besonders schwerer Fall liegt daher i.d. R. auch dann vor, wenn der Täter z. B. einen verschlossen abgestellten Pkw stiehlt, zu dem er sich durch das versehentlich nicht gesicherte Schiebedach Zugang verschafft hat. cc) Ein besonders schwerer Fall liegt i.d. R. femer vor, wenn der Täter zur Tatausführung mit einem falschen Schlüssel oder einem anderen, zur ordnungsmäßigen Öffnung nicht bestimmten Werkzeug in einen umschlossenen Raum eindringt. a) Ob ein Schlüssel falsch ist, richtet sich ausschließlich nach dem Willen desjenigen, dem die Verfügungsgewalt über den Raum zusteht (BGH 14, 292). Falsch sind daher nicht nur solche Schlüssel, die sich der Täter ohne Wissen des Berechtigten selbst gefertigt hat, sondern auch solche, die ursprünglich einmal zur ordnungsgemäßen Öffnung gedient haben, diese Bestimmungen aber z. Z. der Tat nach dem Willen des Berechtigten verloren haben, z. B. der Schlüssel, den der Mieter nach seinem Auszug nicht zurückgegeben hat (BGH 13, 15), oder der verlorene Schlüssel, für den ein anderer in Benutzung genommen wurde, aber auch der in einem Behältnis eingeschlossene Ersatzschlüssel (BGH 14, 291). Ein gestohlener Schlüssel wird erst dadurch zu einem falschen Schlüssel, daß ihm der Berechtigte die Bestimmung zur ordnungsgemäßen Eröffnung entzieht (BGH 21, 189). Dies ist in der Regel bereits dann der Fall, wenn der Berechtigte den Diebstahl bemerkt hat. ß) Ob ein Werkzeug zur ordnungsgemäßen Eröffnung bestimmt ist, richtet sich ebenfalls nach dem Willen des Berechtigten. Kein besonders schwerer Fall liegt deshalb vor, wenn 773
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jemand zum öffnen einer Kellertür dieselbe Bauklammer verwendet, die auch der Berechtigte benutzt. Weiter ist darauf zu achten, daß das Werkzeug gegen den Schließmechanismus angewandt werden muß. Hieran fehlt es z. B., wenn der Täter mit einem Schraubenzieher das Lüftungsfenster eines Pkw eindrückt, um die Tür von innen öffnen zu können. In diesem Fall liegt jedoch ein Einbruch i. S. der 1. Alternative vor. y) Im Gegensatz zur früheren Rechtslage liegt ein Nachschlüsseldiebstahl jetzt nur noch dann vor, wenn der Täter in den umschlossenen Raum eindringt. Nicht erforderlich ist jedoch, daß er mit seinem ganzen Körper in das Innere eindringt. Von der Gefährlichkeit und Intensität des verbrecherischen Willens aus gesehen kann es keinen Unterschied machen, ob der Täter in den von ihm mit einem Nachschlüssel geöffneten Pkw einsteigt, weil die Aktentasche, auf die er es abgesehen hat, zufällig auf dem Rücksitz liegt, oder ob er sich nur hineinbeugen muß, weil die Tasche auf dem Fahrersitz liegt. Ähnlich wie beim Einbruchsdiebstahl (s. o. aa) ist allein entscheidend, daß der Täter sich durch falsche Schlüssel usw. Zugang zum Innern verschafft hat. 8) Die letzte Alternative der Nr. 1 erfaßt den Fall, daß der Täter sich zur Tatausführung in dem umschlossenen Raum verborgen hält, z. B. wenn sich der Täter in einem Warenhaus einschließen läßt, um dann nachts in aller Ruhe seine Beute auswählen zu können. Unerheblich ist, wie der Täter in das Gebäude gelangt ist, in dem er sich verborgen hält. Insbesondere ist nicht erforderlich, daß der Täter sich schon in diebischer Absicht eingeschlichen hat. Der früher in § 243 Nr. 7 ebenfalls erfaßte Einschleichdiebstahl wurde nicht mehr übernommen. Dem Richter bleibt es jedoch unbenommen, auch auf der Grundlage des neuen Rechts einen Einschleichdiebstahl als besonders schweren Fall im Sinne von § 243 zu behandeln, obwohl es sich um kein Regelbeispiel handelt. c) Die oben unter lit. b) näher erörterten Erschwerungen müssen zur Ausführung der Tat erfüllt worden sein. Der Täter muß also bereits beim Einbrechen, Einsteigen usw. den zumindest bedingten Vorsatz gehabt haben, einen Diebstahl zu begehen. Unerheblich ist dagegen, ob etwas „aus" dem umschlossenen Raum entwendet wird oder ob der Täter den umschlossenen Raum als ganzen stiehlt. Es macht daher z. B. keinen Unterschied, ob der Täter einen Pkw aufbricht, um eine Aktentasche daraus zu entwenden, oder ob es ihm um das ganze Fahrzeug geht. Unerheblich ist auch, ob er aus dem Gebäudeteil oder umschlossenen Raum stiehlt, in den er in qualifizierter Weise eingedrungen ist (vgl. Maurach, Nachtrag 22). Beispiel: A verschafft sich mit Hilfe eines Nachschlüssels Zugang zu einem Zimmer, in dem sich der ordnungsmäßige Schlüssel zu dem Raum befindet, den eröffnen will (vgl. RG40, 153; Maurach aaO.; a. A. Eserin Schönke-Schröder 16). d) Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich über den eigentlichen Diebstahlsvorsatz hinaus auch auf alle Erschwerungen erstrecken. Hierbei ist erforderlich, daß der Täter - wie bereits oben unter lit. c) erwähnt - bereits beim Einbrechen, Einsteigen usw. mit Diebstahlsvorsatz gehandelt hat. Kein besonders schwerer Fall liegt vor, wenn der Täter den Diebstahlsvorsatz erst in dem umschlossenen Raum faßt, in den er zunächst aus anderen Gründen, z. B. um darin zu übernachten, eingedrungen ist. § 243 wird dagegen nicht dadurch ausgeschlossen, daß jemand eine andere Sache mitnimmt, als er ursprünglich beabsichtigt hatte. Dies gilt selbst dann, wenn sich der ursprüngliche Tatplan auf eine geringwertige Sache i. S. des Abs. 2 erstreckt hat, der Täter es sich dann aber anders überlegt und beispielsweise nicht nur Brot und Wurst, sondern auch Geld und Wertsachen mitgehen läßt. Die in BGH 9, 253 zum früheren Recht entwickelten Grundsätze gelten insoweit entsprechend. Beim Nachschlüsseldiebstahl ist ergänzend folgendes zu beachten: Handelt es sich um einen Nachschlüsseldiebstahl mit Hilfe eines 774
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entwendeten oder abhandengekommenen Schlüssels, so muß der Täter wissen, zumindest aber damit rechnen und in Kauf nehmen, daß der Berechtigte den Verlust bereits bemerkt hat (BGH 21, 189). 2. Die Erschwerungsformen der Nr. 2 zeichnen sich (ähnlich wie die Fälle der Nr. 1) dadurch aus, daß der Täter sich rücksichtslos über fremde Eigentumsrechte hinwegsetzt, obwohl er erkennt, daß der Eigentümer auf die Erhaltung gerade dieser Sachen besonderen Wert legt. a) Ein Behältnis ist ein zur Aufnahme von Sachen dienendes und sie umschließendes Raumgebilde. Ist sein Umfang so erheblich, daß es auch von Menschen betreten werden kann, so spricht man nicht mehr von einem Behältnis, sondern von einem umschlossenen Raum. In diesem Fall ist § 243 Nr. 1 zu prüfen. Andererseits kann auf ein gewisses Volumen nicht verzichtet werden, da man sonst nicht mehr von einem „Raumgebilde" sprechen kann. Ein Briefumschlag ist daher noch kein Behältnis (vgl. Köln JR 1956, 469; Stgt NJW 1964, 738). Typische Beispiele für Behältnisse sind Schmuck- und Geldkassetten sowie Warenautomaten. b) Das Behältnis muß verschlossen sein. Die Art des Verschlusses ist unerheblich. Es macht daher z. B. keinen Unterschied, ob eine Geldkassette durch ein mechanisch wirkendes Schloß oder durch eine besondere Verriegelung gesichert ist. c) Der Ort der Wegnahme ist unerheblich. Das Behältnis muß sich insbesondere nicht in einem Gebäude oder umschlossenen Raum befinden (wichtig für Schaukästen und Zigarettenautomaten, die an der Außenfront eines Gebäudes angebracht sind). Unerheblich ist auch, wann, wo und auf welche Weise das Behältnis geöffnet wird, um den Inhalt zu entnehmen. Ein besonders schwerer Fall liegt daher in der Regel auch dann vor, wenn der zu einer Party eingeladene A aus der Wohnung seines Gastgebers dessen verschlossene Geldkassette entwendet und sie mit nach Hause nimmt, um sie dort aufzubrechen (vgl. BGH 24, 248 m. abl. Anm. Schröder NJW 1972, 778 sowie Blei JA 1972, StR 49; übereinstimmend jedoch Dreher 25; Heimann-Trosien LK 24; Lackner 4 b, cc). Hierbei ist es auch völlig unerheblich, ob A die Kassette mit einem Brechwerkzeug oder einem Nachschlüssel öffnet. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn er sie mit dem zufällig im Schloß steckenden richtigen Schlüssel öffnen würde. In diesem Fall wäre nämlich ihr Inhalt nicht gegen Wegnahme „besonders gesichert" gewesen. d) Als andere Schutzvorrichtungen haben insbesondere Sicherheitsschlösser und Sicherungsketten mit entsprechenden Verschlüssen zu gelten. Hierher gehören vor allem die vielfältigen Vorrichtungen, mit denen man abgestellte Fahrräder zu sichern pflegt. e) Zweck der Vorrichtung muß immer die Sicherung gegen Wegnahme sein. Nicht hierher gehört der Fall, daß die Sicherung nur dazu dient, eine Sache vor dem Auseinanderfallen, vor dem Umstürzen oder schlechthin vor Verlust zu schützen. Wer z. B. in einer überfüllten Straßenbahn seiner Nachbarin durch einen geschickten Griff die Armbanduhr, das Armband oder die Halskette abstreift, begeht grundsätzlich nur einen einfachen Diebstahl, da die genannten Gegenstände nicht speziell gegen Wegnahme, sondern nur allgemein gegen Verlust gesichert waren. Nicht unter § 243 Abs. 1 Nr. 2 fällt auch der Diebstahl aus einer fest verankerten Registrierkasse, da durch die Verankerung nur die Kasse, nicht auch ihr Inhalt gegen Wegnahme besonders gesichert ist (BGH NJW 1974, 567 m. zust. Bespr. Blei JA 1974, StR 87). Dies gilt unabhängig davon, ob die Kasse beim öffnen ein bestimmtes Geräusch (z. B. ein Klingelzeichen) von sich gibt, da es sich 775
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insoweit um keine „besondere" Sicherungskonstruktion handelt (BGH aaO.). - Auch die während des Transports auf dem Gepäckträger eines Fahrrads festgeschnallte Aktentasche ist nicht speziell gegen Diebstahl gesichert. Ob der Diebstahl eines verschnürten Pakets unter die erhöhte Strafdrohung fällt, ist Tatfrage. Dient die Verschnürung nur der besseren Verwahrung (z. B. bei alten Büchern, Zeitschriften oder Kleidern, die auf dem Speicher gelagert werden), so liegt kein Regelfall i. S. der Nr. 2 vor. Anders dagegen bei Paketen, die zur Post gegeben werden. f) Der Ort der Wegnahme ist auch hier unerheblich. Es macht also keinen Unterschied, wo der Täter z. B. das verschlossen abgestellte Fahrrad entwendet. Unerheblich ist auch, wann, wo und wie er die Sicherungsvorrichtungen beseitigt. Ein besonders schwerer Fall liegt z. B. auch dann vor, wenn der Täter ein auf der Straße verschlossen abgestelltes Fahrrad einfach wegträgt, um erst zu Hause das Schloß aufzubrechen. Unerheblich ist dabei schließlich, ob er überhaupt noch dazu kommt, das Schloß zu Hause aufzubrechen, oder ob ihm das Fahrrad schon vorher wieder abgenommen werden kann. 3. Der in Nr. 3 unter erhöhte Strafdrohung gestellte gewerbsmäßige Diebstahl findet im früheren Recht keine Parallele. Erfaßt werden vor allem Personen, die sich auf Hotel-, Eisenbahn- und Taschendiebstähle spezialisiert haben. Aber auch die berufsmäßigen Automarder sind hierher zu rechnen. Über gewerbsmäßig siehe § 260 Anm. 2. 4. Der in Nr. 4 behandelte Kirchendiebstahl wurde unter eine erhöhte Strafdrohung gestellt, weil er das religiöse Empfinden breiter Volksschichten verletzt. Außerdem erfordern die dem Gottesdienst gewidmeten oder der religiösen Verehrung dienenden Gegenstände deshalb einen besonderen Schutz, weil sie in der Regel einen hohen Wert besitzen und sich oft an leicht zugänglicher Stelle in Kirchen befinden, die dauernd geöffnet sind und nicht ständig bewacht werden können. Nicht selten handelt es sich auch um unersetzliche Kunstwerke. Im einzelnen: a) Zu den Kirchen müssen auch solche gerechnet werden, in denen keine Gottesdienste abgehalten werden, in denen Gläubige aber zu beten oder sonst sich zur stillen Andacht zurückzuziehen pflegen. Zu den anderen der Religionsausübung dienenden Gebäuden und Räumen gehören vor allem Kapellen und Betsäle. Auf die Art der Religion kommt es nicht an. Der besondere Schutz der Vorschrift beschränkt sich insbesondere auch nicht auf Räumlichkeiten der im Bundesgebiet bestehenden und anerkannten Religionsgesellschaften. b) Dem Gottesdienst gewidmet sind alle Gegenstande, die unmittelbar dazu dienen, daß an oder mit ihnen gottesdienstliche Handlungen vorgenommen werden (BGH 21, 64 zu § 243 Nr. 1 aF). Hierher gehören nicht nur die im kirchenrechtlichen Sinn geweihten und für gottesdienstliche Verrichtungen bestimmten Gegenstände (z. B. Abendmahlsgerätschaften, Monstranzen, Kruzifixe, Altäre nebst Schmuck und Zubehör), sondern auch Gegenstände religiöser Verehrung, z. B. Madonnenbilder und -statuen in einer Kapelle oder Votivtafeln in einer Wallfahrtskirche (vgl. BGH 21, 64 zu § 243 Nr. 1 aF). Nicht hierher gehören dagegen das Inventar, Gesangbücher, religiöse Schriften sowie die Opferstöcke nebst Inhalt. Der Diebstahl aus einem Opferstock dürfte jedoch in aller Regel unter Nr. 2 fallen. 5. Die in Nr. 5 enthaltene Strafdrohung für den Diebstahl aus öffentlichen Sammlungen usw. trägt dem Gedanken Rechnung, daß Gegenstände von wissenschaftlicher, kulturel776
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ler, historischer oder technischer Bedeutung in Sammlungen und Ausstellungen, die der Allgemeinheit zugänglich sind, einen erhöhten Strafschutz genießen müssen. Sie sind der Gefahr des Diebstahls besonders ausgesetzt. Außerdem handelt es sich vielfach um unersetzliche Werte. a) Die Sache muß für Wissenschaft, Kunst oder Geschichte oder für die technische Entwicklung von Bedeutung sein. Wann dies der Fall ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Nicht jedes Ausstellungsstück ist durch § 243 Nr. 5 besonders geschützt. Der Rahmen sollte jedoch nicht zu eng gezogen werden. Aus dem Bereich der Kunst beispielsweise müssen alle Originale von Gemälden und Plastiken hierher gerechnet werden, ohne daß es darauf ankommt, ob sie älteren oder neueren Datums sind und ob sie von der Allgemeinheit als künstlerisch besonders wertvoll anerkannt werden. Nicht hierher gehören andererseits Ausstellungsstücke, die jederzeit ohne großen Aufwand wieder beschafft werden können, z. B. mechanisch hergestellte Kopien von Kunstwerken, deren Originale sich an anderer Stelle befinden; auch nicht jeder Stein einer Mineraliensammlung und nicht jedes Modell einer technischen Ausstellung kann unter die Vorschrift subsumiert werden. b) Eine Sammlung ist allgemein zugänglich, wenn sie von jedermann besucht werden kann. Die Eigentumsverhältnisse sind unerheblich. Unerheblich ist weiter, ob der Besuch von einem Eintrittsgeld abhängig ist und ob zum Besuch im Einzelfall eine besondere Genehmigung erforderlich ist, die aber in der "Regel auf entsprechenden Antrag gewährt wird. Die Vorschrift erfaßt daher z. B. auch den Diebstahl von wertvollen Handschriften und alten Büchern, die sich in Bibliotheken befinden, zu denen üblicherweise nur bestimmte Personengruppen Zutritt haben, die aber auf Antrag auch von Außenstehenden besichtigt werden können. c) Öffentlich ausgestellt ist eine Sache entweder, wenn sie sich in einer allgemein zugänglichen Ausstellung befindet oder wenn sie sonst an einem öffentlich zugänglichen Ort zur Besichtigung freigegeben ist. Zu der letztgenannten Gruppe gehören insbesondere Plastiken, die vor öffentlichen Gebäuden, auf öffentlichen Plätzen oder in öffentlichen Parks aufgestellt sind. Andererseits genügt es nicht, daß sich die Sache nur in einem öffentlichen Gebäude, z. B. in einem Rathaus oder in einer Kirche, befindet. Sie muß vielmehr „ausgestellt", d. h. zur Besichtigung aufgestellt oder angebracht sein. Bei einer gotischen Madonna oder einem barocken Altar in einer Kirche würden diese Voraussetzungen nicht zutreffen. Hier käme jedoch § 243 Nr. 4 in Betracht. 6. Die in Nr. 6 enthaltene Strafdrohung für den Diebstahl unter Ausnutzung der Hilflosigkeit usw. erfaßt eine Gruppe von Fällen, die sich durch besonders niedrige Gesinnung auszeichnen und deshalb in erhöhtem Maße strafbedürftig sind. a) Hilflos ist, wer infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht in der Lage ist, für sich und seine Habe zu sorgen. Es kommt dabei nicht darauf an, ob die Hilflosigkeit verschuldet oder unverschuldet ist. Es macht also keinen Unterschied, ob der Diebstahl an einem Ohnmächtigen oder einem Betrunkenen begangen wird. Unerheblich ist ferner, ob es sich um eine dauernde Hilflosigkeit handelt (z. B. bei einem Gelähmten) oder ob der Zustand nur vorübergehender Art ist (z. B. bei einem epileptischen Anfall). Entscheidend ist allein, daß der Bestohlene aufgrund seiner verminderten Abwehrmöglichkeit dem Zugriff des Täters schutzlos preisgegeben ist (BayObLG NJW 1973, 1808 m. Anm. Schröder JR 1973,427 betr. Diebstahl gegenüber einem Blinden). 777
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b) Unglücksfall ist wie in § 145 und in § 330 c jedes plötzliche Ereignis, das erheblichen Personen- oder Sachschaden verursacht hat oder unmittelbar befürchten läßt. Die Ursache des Unglücksfalls ist unerheblich (Einzelheiten siehe § 330 c Anm. 2 a). Zu beachten ist, daß § 243 Nr. 6 nicht nur dann eingreift, wenn derjenige bestohlen wird, dem der Unglücksfall zugestoßen ist. Die Vorschrift greift vielmehr auch dann ein, wenn sich die Tat gegen eine Person richtet, die bei einem Unglücksfall pflichtgemäß Hilfe leistet (vgl. Dreher 35). c) Auch der Begriff der gemeinen Gefahr ist dem entsprechenden Begriff in § 330 c nachgebildet, so daß auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden kann. Die Vorschrift kommt vor allem dann in Betracht, wenn sich kriminelle Elemente bei Naturkatastrophen, Bränden und Überschwemmungen an der ungesicherten Habe derer vergreifen, die entweder selbst unmittelbar durch die Katastrophe betroffen sind oder anderen Personen, die sich in Gefahr befinden, Hilfe leisten. DI. Die subjektive Tatseite erfordert in allen Fällen Vorsatz. Wegen Besonderheiten siehe oben II 1 d sowie unten VI (Irrtum über die Geringwertigkeit). IV. Weitere schwere Fälle des Diebstahls waren früher in § 4 EdelMetG und § 17 UnedelMetG enthalten. Diese Vorschriften wurden jedoch durch Art. 86 Nr. 10 und 11 des 1. StrRG mit Wirkung v. 1. 4. 1970 aufgehoben. V. Ein nach § 242 Abs. 2 strafbarer Versuch liegt in der Regel immer schon dann vor, wenn der Täter mit der Ausführung eines erschwerenden Merkmals begonnen hat, z. B. wenn er den falschen Schlüssel in das Schloß gesteckt hat (vgl. Blei JA 1971, StR S. 36). Ob die Strafe dem Strafrahmen des § 243 zu entnehmen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Da die besonderen Merkmale des § 243 keine Tatbestandsmerkmale sind, führt ihr Vorliegen nicht automatisch zur Anwendung des erweiterten Strafrahmens (vgl. Dreher 43). VI. Abs. 2, der sich nur auf Tatobjekte mit einem Verkehrswert bezieht (nicht etwa auch auf Akten, BGH, NJW 1977, 1460), will sicherstellen, daß die unter § 248 a fallenden Bagatellfälle, die bis zum Inkrafttreten des 2. StrRG und des EGStGB teilweise noch Übertretungen nach § 370 Abs. 1 Nr. 5 waren, nicht nur zu Vergehen aufgewertet, sondern gleichzeitig sogar noch dem erhöhten Strafrahmen des § 243 Abs. 1 unterstellt werden (vgl. Ber. S. 17 BT-Drucks. 7/1261). Die Ausschlußwirkung gilt allerdings nur für die Fälle, in denen sich der Täter im Ergebnis tatsächlich auf geringwertige Gegenstände beschränkt. § 243 Abs. 1 findet jedoch Anwendung, wenn es der Täter beim Einbrechen, Eindringen usw. zwar zunächst nur auf geringwertige Sachen abgesehen hatte, es sich dann aber anders überlegt und z. B. nicht nur geringwertige Lebensmittel, sondern Geld und Wertsachen wegnimmt. Die in BGH 9, 253 zum früheren Recht entwickelten Grundsätze gelten insoweit entsprechend. Andererseits kommt die Ausschlußwirkung des Abs. 2 voll zur Geltung, wenn der Täter zunächst wertvolle Sachen entwenden wollte, von diesem Plan jedoch freiwillig zurücktritt und nur geringwertige Gegenstände entwendet. Beschränkt er sich dagegen nur deshalb auf geringwertige Gegenstände, weil er die zunächst erstrebten Gegenstände nicht gefunden hat, so bestehen gegen eine Strafschärfung nach Abs. 1 keine Bedenken; auch für § 248 a ist kein Raum (BGH 26, 106 m. abl. Anm. Braunsteffer NJW 1975, 1570 und zust. Anm. Gribbohm NJW 1975, 2213; h. L„ vgl. Lackner 3 b). 778
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§ 244
Irrtumsprobleme sind wie folgt zu entscheiden: Da Abs. 2 an dem geringen objektiven Unrechtsgehalt der Tat anknüpft, entfällt eine Strafschärfung nach Abs. 1 auch dann, wenn der Täter eine geringwertige Sache für wertvoll hält (a. A. Gribbohm NJW 1975, 1154, der Abs. 2 als bloßen Schuldmilderungsgrund wertet und deshalb ausschließlich auf die Vorstellung des Täters abstellt). Im umgekehrten Fall - irrige Annahme, eine wertvolle Sache sei geringwertig - entfällt eine Strafschärfung in analoger Anwendung von § 1 6 Abs. 2 (übereinstimmend Dreher 41; Lackner 3 b; zum Ganzen siehe auch Krhe MDR 1976,335 = Justiz 1976, 304).
VII. Konkurrenzen: § 123 wird in den Fällen des § 243 Nr. 1 als typische Begleittat konsumiert. Bei Sachbeschädigung kann nur im Falle des Einbruchsdiebstahls Konsumtion angenommen werden. Zu den übrigen schweren Fällen des Diebstahls steht die Sachbeschädigung dagegen in Idealkonkurrenz. Gegenüber § 244 tritt § 243 als eine nur auf § 242 bezogene Strafzumessungsregel zurück (vgl. BGH 25,18 f.). Über das Verhältnis zu § 248 a s. o. VI. Bei einem fortgesetzten Diebstahl kann die Verurteilung nur einheitlich gemäß § 242 oder § 243 erfolgen: Liegen die Voraussetzungen des § 243 auch nur bei einem einzigen Teilakt vor, so ist die Tat als Ganze nach § 243 zu beurteilen (Krhe MDR 1976, 335 = Justiz 1976, 304).
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Diebstahl mit Waffen; Bandendiebstahl
(1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer 1. einen Diebstahl begeht, bei dem er oder ein anderer Beteiligter eine Schußwaffe bei sich führt, 2. einen Diebstahl begeht, bei dem er oder ein anderer Beteiligter eine Waffe oder sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand eines anderen durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden, oder 3. als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Raub oder Diebstahl verbunden hat, unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitgliedes stiehlt. (2) Der Versuch ist strafbar.
I. Die durch das 1. StrRG neu gefaßte Vorschrift stellt in Anlehnung an § 237 E 1962 zwei Erscheinungsformen des Diebstahls wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit unter eine erhöhte Strafdrohung. Im Gegensatz zu den Fällen des § 243 handelt es sich bei den in § 244 erfaßten Fällen des besonders schweren Diebstahls um keine Regelbeispiele, sondern um echte Qualifikationstatbestande. Ist einer der drei Tatbestände des § 244 erfüllt, so muß die Strafe dem Strafrahmen des § 244 entnommen werden, d. h. die gesetzliche Mindeststrafe von sechs Monaten darf nicht unterschritten werden. 779
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Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
II. Die einzelnen Tatbestände: 1. Nr. 1 erfaßt den Diebstahl unter Mitführen einer Schußwaffe. a) Der Begriff der Schußwaffe ist im Strafgesetzbuch selbst nicht definiert. Es bestehen jedoch keine durchgreifenden Bedenken, auf die Definition in § 1 WaffG zurückzugreifen (übereinstimmend Dreher 3; sehr Str.). Demzufolge gilt als Schußwaffe jedes Gerät, das zum Angriff, zur Verteidigung, zu Sport und Spiel oder zur Jagd bestimmt ist und bei dem Geschosse durch den Lauf getrieben werden können. Hierbei ist nicht erforderlich, daß feste Geschosse verwendet werden können (vgl. § 2 Abs. 3 WaffG). Demnach gehören auch Gaspistolen zu den Schußwaffen (vgl. BGH 24, 136 mit abl. Anm. Schröder JR 1971, 382; Dreher 3; a. A. BayObLG NJW 1971, 392; Eser in Schönke-Schröder 4; Lackner 2 b, wonach § 244 Nr. 1 nur bei festen, mechanisch wirkenden Geschossen zur Anwendung kommen soll). Der Besitz einer Schußwaffe bei Tatbegehung kann nur dann zu einer Strafschärfung führen, wenn sie einsatzbereit ist. Nur dann ist der Besitz der Waffe so gefährlich, daß auch ohne Hinzutreten weiterer Umstände ein Bedürfnis nach einer erhöhten Strafdrohung gegenüber der Strafdrohung der §§ 242, 243 besteht. Der Tb. des § 244 Nr. 1 ist daher nicht erfüllt, wenn der Täter z. B. keine Munition für seine Waffe hat oder die Waffe aus einem sonstigen Grunde (z. B. wegen eines Defekts) nicht gebrauchsbereit ist (BGH 24, 339; h. L.). Zu der umstrittenen Frage, ob in diesen Fällen § 244 Nr. 2 zur Anwendung kommt, wenn der Täter die Absicht hat, die zum Schießen nicht gebrauchsbereite Waffe notfalls zum Schlagen oder Stoßen oder wenigstens zum Einschüchtern des Opfers zu verwenden, s. u. 2 c. b) Wie die verschiedene Fassung von Nr. 1 und Nr. 2 klarstellt, ist bei Schußwaffen nicht erforderlich, daß der Täter die Absicht hat, die Waffe notfalls zu gebrauchen. Es genügt vielmehr bereits das Bewußtsein des Täters, daß er oder ein Teilnehmer bei der Tatbegehung eine Waffe mit sich führt. Dieses Bewußtsein gibt dem Täter üblicherweise ein Gefühl stärkerer Sicherheit. Er wird auch leicht in Versuchung geraten, die Waffe bei auftretenden Schwierigkeiten notfalls zu benutzen, selbst wenn er dies zunächst gar nicht beabsichtigt hat. Bereits diese Erwägungen lassen die Tat als so gefährüch erscheinen, daß eine gesetzliche Mindeststrafe von sechs Monaten angebracht erscheint. 2. Nr. 2 erfaßt den Diebstahl mit sonstigen Waffen und Werkzeugen oder Mitteln. a) Da die Schußwaffen bereits in Nr. 1 genannt sind, gehören zu den Waffen i. S. der Nr. 2 alle sonstigen Waffen im technischen Sinn. Dieser Begriff umfaßt alle Werkzeuge, die nach der Art ihrer Anfertigung nicht nur geeignet, sondern auch allgemein dazu bestimmt sind, Menschen auf mechanischem oder chemischem Weg zu verletzen (BGH 4, 127). Hierher gehören nicht nur Hieb- und Stichwaffen (Dolche, Bajonette usw.), sondern auch mit Tränengas gefüllte Sprühdosen (vgl. BGH 22, 230). b) Zu den im Gesetz weiter erwähnten sonstigen Werkzeugen und Mitteln gehören alle Gegenstände, die zwar nicht auf Grund ihrer eigentlichen Bestimmung, wohl aber durch die vom Täter gewählte Verwendungsart geeignet sind, Körperverletzungen nicht unerheblicher Art zu verursachen (sog. Waffen im nichttechnischen Sinn). Hierher gehören vor allem Stöcke, Knüppel, Stangen und Flaschen, mit denen das Opfer geschlagen werden soll; aber auch Pfeffer, der dem Opfer in die Augen gestreut werden soll, und Salzsäure, mit der das Opfer überschüttet werden soll, müssen hierher gerechnet werden
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Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
§ 244
(vgl. BGH 1, 1), ferner Betäubungsmittel wie Äther oder Chloroform (vgl. Dreher 7 m. weit. Nachw.). Unter Umständen kann sogar ein abgerichteter Hund als gefährliches Werkzeug angesehen werden (vgl. BGH 14,152 zu § 223 a). c) Für Schemwaffen und nicht gebrauchsbereite Schußwaffen, die mangels besonderer objektiver Gefährlichkeit nicht unter Nr. 1 fallen (s. o. Anm. 1 a), gilt im Rahmen der Nr. 2 folgendes: Führt der Täter die genannten Gegenstände in der Absicht mit, sie notfalls zum Schlagen, Werfen oder Stoßen zu verwenden, so führt er Werkzeuge mit sich, um den Widerstand eines anderen mit Gewalt zu verhindern. Hat er die Absicht, eine derartige Gewaltanwendung nur anzudrohen, so handelt er ebenfalls tatbestandsmäßig, da er Werkzeuge mit sich führt, um den Widerstand eines anderen durch Drohung mit Gewalt zu verhindern. Diese Fälle dürften heute unstreitig sein. Dasselbe muß aber auch dann gelten, wenn der Täter die bestimmungsgemäße Gebrauchsbereitschaft der nicht einsatzbereiten Schußwaffe (oder Scheinwaffe, z. B. Spielzeugpistole) vortäuschen will, um das Opfer auf diese Weise einzuschüchtern. Aus der Sicht des Opfers macht es nämlich keinen Unterschied, ob der Täter ihm mit Niederschlagen oder mit Erschießen droht. Es besteht so gesehen kein Anlaß, den letztgenannten Fall milder zu beurteilen. § 244 Nr. 2 kommt deshalb auch für diesen Fall zur Anwendung (vgl. BGH 24, 339; Heimann-Trosien LK 10; Dreher 8; Mäurach BT Nachtrag 128; a. A. die h. L., vgl. Lackner 2 cm. Nachw.). d) Im Gegensatz zu dem in Nr. 1 erfaßten Diebstahl mit Schußwaffen genügt in den Fällen der Nr. 2 das Bewußtsein des Waffenbesitzes noch nicht. Erforderlich ist vielmehr eine zumindest bedingte Gebrauchsabsicht. Bei mehreren Tätern oder Teilnehmern genügt es, wenn ein Beteiligter die Absicht hat, den Widerstand eines anderen mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden. Hierbei genügt es, wenn der Täter oder Teilnehmer sich erst während der Tatausführung entschließt, zu einer Waffe oder einem sonstigen Werkzeug zu greifen, um dieses notfalls zu verwenden (vgl. BGH 13, 259). Der Tb. kann schließlich auch dadurch verwirklicht werden, daß der Täter die Waffe usw. mitnimmt, um damit notfalls den Rückzug zu sichern (vgl. BGH 22, 230; NJW 1971,473). e) Auf der subj. Tatseite ist erforderlich, daß derjenige, um dessen Bestrafung es geht, entweder selbst beabsichtigt, die mitgeführte Waffe notfalls zu gebrauchen, oder aber, daß er die Gebrauchsabsicht der anderen Tatbeteiligten kennt. Kennt er diese strafschärfenden Umstände nicht, so sind sie ihm auch nicht zuzurechnen (vgl. § 16). Die Bestrafung erfolgt in diesem Fall nur aus § 242 oder § 243. 3. Der in Nr. 3 geregelte Bandendiebstahl erscheint deshalb als besonders strafbedürftig, weil die Ausführung durch mehrere Beteiligte der Tat regelmäßig eine besondere Gefährlichkeit verleiht. a) Täter kann nur ein Mitglied der Bande sein. Bande ist eine enge Verbindung von mindestens zwei Personen (BGH 23, 239 m. zust. Anm. Schröder JR 1970, 388 f. sowie Blei JA 1970, StR S. 228; a. A. Dreher NJW 1970, 1802). Die Mitgliedschaft in der Bande ist ein besonderer persönlicher Umstand. Sie unterliegt damit der Regelung des § 28 Abs. 2. Wer z. B. einer Bande seinen Wagen zur Verfügung stellt, ohne selbst zur Bande zu gehören, kann nicht wegen Bandendiebstahls bestraft werden. Die abweichende Entscheidung BGH 8,209 ist durch die Neufassung gegenstandslos geworden. 781
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b) Die fortgesetzte Begehung von Raub oder Diebstahl muß Zweck der Verbindung sein. Es genügt daher nicht, wenn mehrere Beteiligte wiederholt die sich ihnen bietende Gelegenheit zur Begehung von Raub oder Diebstahl ausnutzen. Erforderlich ist vielmehr der von mehreren Personen gemeinschaftlich gefaßte Entschluß, künftig gemeinsam eine Reihe von Diebstählen zu begehen. Unter fortgesetzter Begehung ist die Begehung mehrerer selbständiger, im einzelnen noch ungewisser Taten zu verstehen (BGH bei Dallinger MDR 1972, 752). Nicht ausreichend ist die Begehung nur eines fortgesetzten Diebstahls, z. B. wenn A, B und C vorgefaßtem Tatentschluß entsprechend an drei Wochenenden den Weinkeller eines Gastwirts ausräumen. Die einzelnen Taten müssen vielmehr nach Ort, Zahl und Zeit unbestimmt sein (vgl. BörtzlerNJW 1971, 682 f.). c) Die Tat muß von einem Bandenmitglied unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds begangen werden. Es genügt also nicht, daß der Diebstahl von einem Bandenmitglied allein oder unter Mitwirkung eines nicht zur Bande gehörenden Beteiligten begangen wird. Mitwirkung ist jedes an Ort und Stelle gleichzeitige, wenn auch nicht notwendig körperliche Zusammenwirken (vgl. Begründung zu § 237 E 1962). Bandenmitglieder, die selbst nicht an Ort und Stelle mitwirken, trotzdem aber aufgrund ihres engen Verhältnisses zur Tat Mittäter sind (vgl. BGH 16, 12), können nur wegen Anstiftung oder Beihilfe zum Bandendiebstahl bestraft werden. Der in Mittäterschaft begangene Diebstahl steht hierzu in Tateinheit (vgl. BGH 25, 18 m. zust. Anm. Blei JA 1973, StR S. 28). Beispiel: Bandenmitglied A stellt den Bandenmitgliedern B und C zur Begehung eines Diebstahls seinen Pkw zur Verfügung; außerdem bewacht A den gemeinsamen Lagerplatz. Dagegen liegt auch für A ein gemeinschaftlich begangener Bandendiebstahl vor, wenn er seinen Komplizen B und C aus sicherer Entfernung mittels Sprechfunk Regieanweisungen gibt. d) Mehrere bandenmäßig begangene Fälle von Raub oder Diebstahl stehen grundsätzlich als rechtlich selbständige Handlungen in Realkonkurrenz (§ 53). Sie werden durch die bandenmäßige Begehung nicht zu einer rechtlichen Handlungseinheit zusammengefaßt (Heimann-Trosien LK 15; Lackner 3 d). Ol. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich über den Diebstahlsvorsatz hinaus auf alle tatbestandsmäßigen Erschwerungen beziehen. IV. Wegen der Konkurrenzen siehe § 243 Anm. VII, wegen Führungsaufsicht § 245.
§ 245
Führungsaufsicht
In den Fällen der §§ 242 bis 244 kann das Gericht Führungsaulsicht anordnen (§ 68 Abs. 1 Nr. 2). 1. Die durch das EGStGB neu eingefügte Vorschrift trägt der Erfahrung Rechnung, daß Diebstähle häufig die Folge von persönlichen Fehlentwicklungen und schädlichen Umwelteinflüssen sind, insbesondere aber der Verkehr mit früheren Mittätern und die Zusammenballung ähnlich gefährdeter Personen in bestimmten Großstadtvierteln die Rückfallgefahr fördern (vgl. Ber. S. 46 BT-Drucks. V/4095). Dieser Gefahr soll durch die Führungsaufsicht begegnet werden.
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Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
§ 246
2. Zur Ausgestaltung der Führungsaufsicht, die nur neben einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten zulässig ist, siehe §§ 68 a ff. 3. Siehe auch § 145 a.
§ 246
Unterschlagung
(1) Wer eine fremde bewegliche Sache, die er in Besitz oder Gewahrsam hat, sich rechtswidrig zueignet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe und, wenn die Sache ihm anvertraut ist, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Die Unterschlagung gehört, ebenso wie der Diebstahl, zu den Eigentumsdelikten. Der Unterschied zum Diebstahl besteht darin, daß der Dieb zum Zwecke der Zueignung fremden Gewahrsam brechen muß, während sich der Täter der Unterschlagung die Sache ohne Bruch fremden Gewahrsams zueignet. Bricht der Täter fremden Mitgewahrsam, so kommt Diebstahl, nicht Unterschlagung in Betracht. Die sich in diesem Zusammenhang ergebenden Zweifelsfragen wurden bereits ausführlich bei der Erörterung des Diebstahls behandelt (vgl. § 242 Anm. V 3). 2. Uber „fremd", „beweglich" und „Sache" siehe ausführlich § 242 Anm. V 2. 3. Der Täter muß die Sache im Zeitpunkt der Zueignungshandlung im Besitz oder Gewahrsam haben. a) Nach fast einhelliger Ansicht sind beide Begriffe identisch (vgl. RG 37, 200; Eser in Schönke-Schröder 8 m. Nachw.). Unter Besitz ist nichts anderes zu verstehen als Gewahrsam in dem unter § 242 Anm. V 1 dargelegten Sinn. Besitz bedeutet also nicht Besitz i. S. der bürgerlich-rechtlichen Bestimmungen. Täter einer Unterschlagung kann demnach nur sein, wer im Zeitpunkt der Zueignung die alleinige tatsächliche Herrschaftsgewalt über die Sache ausüben kann und will. b) Üben mehrere die tatsächliche Herrschaftsgewalt aus, so kommt Unterschlagung nur in Betracht, wenn entweder alle Gewahrsamsinhaber sich die Sache gemeinsam zueignen, oder wenn zwar nur einer sie sich zueignet, die übrigen aber nicht widersprechen, so daß Bruch von Mitgewahrsam ausscheidet. c) Es genügt, wenn Besitzerlangung und Zueignung zeitlich zusammenfallen (sog. kleine berichtigende Auslegung, vgl. BGH 4, 76; h. L.). Nicht erforderlich ist, daß der Täter bereits vor der Zueignung den Gewahrsam ausüben konnte. Beispiel: A findet auf seinem Spaziergang einen Fotoapparat, den ein anderer Spaziergänger kurz zuvor verloren hat. Nimmt er den Apparat mit Zueignungsabsicht an sich, so stellt sich bereits die Besitzergreifung als vollendete Unterschlagung dar, nicht erst das spätere Verhalten (Nichtabliefem, Benutzung). d) Unterschlagung entfällt, wenn der Täter im Zeitpunkt der Zueignung keinen Gewahrsam an der Sache hat. Beispiel: A leiht B ein Buch, das dieser an C weiterverleiht, ohne zu 783
§ 246
Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
sagen, daß das Buch nicht ihm, sondern A gehört. Verkauft B das Buch später an C, so kommt nur Betrug zum Nachteil des C in Betracht (vgl. BGH 15, 83), nicht jedoch Unterschlagung. (Anders nur die Vertreter der sog. großen berichtigenden Auslegung des § 246, derzufolge als Unterschlagung jede Zueignung ohne Gewahrsamsbruch gilt. Diese im Schrifttum vor allem von Welzel 345; JZ 1952, 617; Maurach BT 226; Dreher 10 und Eser in Schönke-Schröder 1 vertretene Ansicht läßt sich jedoch mit dem Gesetz nicht vereinbaren, vgl. Bockelmann MDR 1953, 3; sie wurde auch von der Rspr. bisher nicht übernommen, vgl. BGH 2, 317; abl. auch Lackner 3; Schünemann JuS 1968, 114). Abwandlung: Wenn B das Buch an C verschenkt, so entfällt auch Betrug, da C keinen Schaden erleidet. B geht daher straflos aus. Diese Lücke im Gesetz muß hingenommen werden. Sie zu schließen ist Aufgabe des Gesetzgebers, nicht des Richters (vgl. BGH 2, 319 sowie Samson SK 21). - Weitere Abwandlung: Wußte C über die Eigentumsverhältnisse Bescheid, so begeht er Unterschlagung; B ist Gehilfe. 4. Die tatbestandsmäßige Handlung besteht in der Zueignung. Der Begriff Zueignung ist hier ebenso auszulegen wie in § 242 (siehe dort Anm. VI 2). a) Eine typische Zueignungshandlung ist der Verkauf einer gemieteten, geliehenen oder unter Eigentumsvorbehalt gekauften Sache. Die Verpfändung ist nur dann Zueignung, wenn der Täter unter Umständen handelt, die eine rechtzeitige Wiedereinlösung des Pfandes nicht gewährleisten. Die Einlösung ist dabei immer dann verspätet, wenn sie nicht mit Sicherheit sofort erfolgen kann, sobald der Eigentümer die verpfändete Sache benötigt (BGH 12 , 299). Weiter kommen als Zueignungshandlungen in Betracht: die Sicherungsübereignung, soweit der Täter sie als wirksam ansieht (sonst Betrug), die widerspruchslose Duldung der Pfändung durch den Gerichtsvollzieher (vgl. Oldenburg NJW 1952, 1267; Maurach BT 242; str.) sowie das Ableugnen oder Verschweigen des Besitzes gegenüber dem Eigentümer (BayObLG JR 1955, 271). Die Vermischung fremder Sachen mit eigenen gemäß §§ 947 ff. BGB stellt sich nur dann als Zueignung dar, wenn jemand über den Mischbestand entweder ganz oder zu einem seinen Anteil übersteigenden Betrag wie über eine eigene Sache verfügen will, ohne willens und in der Lage zu sein, die Wertsumme des fremden Anteils jederzeit zu ersetzen (vgl. Celle NJW 1974, 1833; Heimann-Trosien LK 30; Roxin, Mayer-Festschr. 1966, S. 477; ders., WelzelFestschr. 1974, S. 462). Keine Zueignungshandlung liegt vor, wenn jemand, ohne den wirtschaftlichen Wert der Sache für sich auszunutzen, eigenmächtig über eine fremde Sache verfügt, indem er sie preisgibt oder vernichtet (vgl. BGH NJW 1970, 1753 betr. einen Angeklagten, der einen unter Eigentumsvorbehalt gekauften, reparaturbedürftig gewordenen Pkw ohne Kennzeichen auf einer abgelegenen Straße stehen ließ und einem Grundstückseigentümer erklärte, er könne ihn verschrotten). b) Die Zueignung muß in einer nach außen erkennbaren Handlung betätigt werden (sog. Manifestierungstheorie). Der bloße Wille, die Sache für sich zu behalten, genügt nicht (BayObLG JR 1955, 271; h. L.). Beispiel: A hat von B auf unbestimmte Zeit ein Buch geliehen. Da das Buch ihm gefällt, beschließt er, es zu behalten. Er hofft, daß B die Rückforderung vergißt. Diese inneren Vorgänge erfüllen noch nicht den Tb. der Unterschlagung. Dieser ist vielmehr erst dann erfüllt, wenn A dem B gegenüber die Herausgabe des Buchs verweigert oder den Besitz leugnet oder das Buch verkauft, verpfändet, verschenkt, zur Sicherung übereignet usw. Beim Verkauf ist zu beachten, daß nicht erst die Übergabe den Tb. verwirklicht, sondern bereits das Verkaufsangebot bzw. die Erklärung, 784
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zum Verkauf bereit zu sein. Ob der Verkauf zustande kommt, ist unerheblich. Entsprechendes gilt für die Schenkung, die Verpfändung (Krhe Justiz 1972, 319) und die Sicherungsübereignung. c) Wer eine Sache bereits durch strafbare Handlung (z. B. durch Diebstahl, Raub, Erpressung oder Betrug) in seinen Besitz gebracht hat, kann sie sich nicht nochmals zueignen. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß Zueignung schon nach dem Wortsinn nur die Herstellung der Herrschaft über die Sache, nicht dagegen die bloße Ausnutzung der Herrschaftsstellung ist (BGH [GrSen] 14, 38; Dreher 11; Haß GA 1972, 176; Lackner 4 a, bb; Maiwald, Der Zueignungsbegriff im System der Eigentumsdelikte, 1970, S. 261; Otto, Die Struktur des strafrechtlichen Vermögensschutzes, 1970, S. 107; a. A. Bockelmann JZ 1960, 621; Schröder JZ 1960, 308). Dies gilt jedoch uneingeschränkt nur dann, wenn der Täter bereits bei Besitzerlangung in Zueignungsabsicht gehandelt hat. Anders jedoch, wenn der Täter sich zunächst durch die strafbare Handlung, etwa durch Betrug, nur den Fremdbesitz verschafft und dann aufgrund eines neuen Tatentschlusses die ihm überlassene Sache verkauft (BGH 16, 280). Beispiel: A kauft unter Vortäuschung seiner in Wirklichkeit nicht vorhandenen Zahlungsfähigkeit eine Sache unter Eigentumsvorbehalt und verkauft sie dann später aufgrund eines neuen,, bei Vertragsabschluß noch nicht gefaßten Tatenschlusses. Hier treffen Betrug und Unterschlagung als rechtlich selbständige Handlungen zusammen (BGH 16, 280). Über die Möglichkeit einer Wahlfeststellung zwischen Betrug und Unterschlagung siehe Saarbrücken NJW 1976, 65. d) Unterschlagung wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß sich zuvor schon ein anderer die Sache zugeeignet hat. Wer daher in Kenntnis des Sachverhalts ein bereits gestohlenes und vom Dieb aufgegebenes Kraftfahrzeug an sich bringt, um es zu benutzen und später an beliebigerstelle stehen zu lassen, begeht Unterschlagung (BGH 13,43). 5. Die Rechtswidrigkeit der Zueignung (Tatbestandsmerkmal) kann vor allem durch Einwilligung oder mutmaßliche Einwilligung entfallen, ferner dann, wenn ein fälliger Anspruch auf Übereignung besteht. Die Ersatzbereitschaft kann die Rechtswidrigkeit nach den Grundsätzen der mutmaßlichen Einwilligung nur dann beseitigen, wenn es sich um vertretbare Sachen handelt, die der Täter jederzeit ersetzen kann und will (Eser in Schönke-Schröder 17; Mäurach BT 243; Lackner 5; gegen Ausschluß der Rechtswidrigkeit auch in diesen Fällen Welzel 345). 6. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Hier gelten die gleichen Grundsätze wie beim Diebstahl. Insbesondere muß sich auch bei der Unterschlagung der Täter eines Verstoßes gegen die Eigentumsordnung bewußt sein. Wer also irrig annimmt, er habe ein Recht auf Zueignung, handelt nicht vorsätzlich (vgl. BGH 17, 88; Hamm NJW 1969, 619). Beispiel: Ein Baustellenleiter verbraucht die ihm anvertraute Baukasse zu eigenen Zwecken, wozu er sich seiner Firma gegenüber mit Rücksicht auf die seiner Meinung nach unbegründeten Lohnabzüge für berechtigt hält. Auf die Ausführungen unter § 242 Anm. VI 1 wird im übrigen verwiesen. 7. Einen erschwerten Fall der Unterschlagung enthält die sog. Veruntreuung, d. h. die Unterschlagung anvertrauter Sachen. a) Anvertraut ist eine Sache, wenn der Täter den Besitz erlangt hat mit der Verpflichtung, die Sache entweder nach bestimmter Zeit zurückzugeben oder sonst mit ihr im 785
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unmittelbaren oder mittelbaren Interesse des Anvertrauenden zu verfahren. Eine Rückgabepflicht besteht z. B. bei geliehenen und gemieteten Sachen; eine Verwahrungspflicht kann z. B. bei unter Eigentumsvorbehalt gekauften oder zur Sicherung übereigneten Sachen angenommen werden. b) Eine Sache ist auch dann anvertraut, wenn die Pflicht zur Rückgabe oder Verwahrung auf einem sittenwidrigen Rechtsgeschäft beruht, jedoch darf das Anvertrauen nicht die Interessen des Eigentümers verletzen (vgl. RG 40, 222; BGH Urt. v. 7. 11. 1962, 2 StR 277/62; Dreher 27; Heimann-Trosien LK 38). So liegt z.B. kein erschwerter Fall des § 246 vor, wenn jemand die ihm von einem Dieb zwecks sicherer Verwahrung überlassene Beute auf eigene Rechnung verkauft. c) Teilnehmer, denen die Sache selbst nicht anvertraut ist, werden nur aus dem Grundtatbestand bestraft (§ 28 Abs. 2). 8. Die Strafbestimmungen wurden durch das 1. StrRG neugefaßt. Über privilegierte Fälle siehe §§ 247, 248 a (Antragserfordernis). Die früheren Tatbestände der Amtsunterschlagung (§§ 350,351) wurden durch das EGStGB aufgehoben. 9. IdK. kommt vor allem mit §§ 133, 136 Abs. 1, 263 in Betracht. Gegenüber § 266 tritt § 246 als subsidiär zurück (vgl. § 266 Anm. V). Uber das Verhältnis zum Diebstahl und anderen Zueignungsdelikten siehe Anm. 1 und 4 c . - RK. mit Diebstahl kommt nur dann in Betracht, wenn sich die Zueignungsabsicht des Täters bei mehreren gleichzeitig weggenommenen Sachen zunächst nicht auf alle erstreckt hat. Wer z. B. einen fremden Kraftwagen wegnimmt, um ihn zu benutzen und dann irgendwo stehen zu lassen, jedoch an den im Wagen vorgefundenen Sachen zunächst kein Interesse hat, begeht nur Diebstahl am Wagen. Eignet er sich dann später beim Verlassen des Wagens doch noch den Inhalt an, so begeht er insoweit eine rechtlich selbständige Unterschlagung (BGH 16,190).
§ 247
Haus- und Famüiendiebstahl
Ist durch einen Diebstahl oder eine Unterschlagung ein Angehöriger oder der Vormund verletzt oder lebt der Verletzte mit dem Täter in häuslicher Gemeinschaft, so wird die Tat nur auf Antrag verfolgt. 1. Die durch das EGStGB grundlegend umgestaltete Vorschrift bezieht sich entgegen der offiziellen Überschrift nicht nur auf alle Fälle des Diebstahls (§§ 242-244), sondern auch auf die Unterschlagung (§ 246). In Anlehnung an § 247 Abs. 1 aF werden Taten, die gegen einen Angehörigen, den Vormund oder innerhalb einer häuslichen Gemeinschaft begangen wurden, nur auf Antrag des Verletzten verfolgt. Der Kreis der privilegierten Personen wurde dabei den heutigen sozialen Verhältnissen und Anschauungen angepaßt; insbesondere macht es jetzt innerhalb einer Hausgemeinschaft keinen Unterschied mehr, wer wen bestiehlt. Außerdem besteht das Antragserfordernis abweichend von der früheren Rechtslage unabhängig vom Wert der entwendeten oder unterschlagenen Sache. 786
Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
§ TAI
Ein weiterer wesentlicher Unterschied gegenüber der früheren Rechtslage (vgl. § 247 Abs. 2 aF) besteht darin, daß Verwandte aufsteigender Linie, die einen Diebstahl oder eine Unterschlagung gegen einen Verwandten absteigender Linie begehen, sowie Ehegatten, die die Tat gegen den anderen Ehegatten begehen, sich nicht mehr auf einen persönlichen Strafausschließungsgrund berufen können. Auch ihre Privilegierung besteht jetzt ausschließlich darin, daß die Tat nur auf Antrag verfolgbar ist. In der Tat ist nicht einzusehen, daß der Enkel, der seinem Großvater einen geringen Betrag gestohlen hat, auf Strafantrag hin bestraft werden muß, während der Großvater (unbeschadet einer Strafbarkeit nach § 266) straflos das gesamte Vermögen seines Enkels unterschlagen darf (vgl. RegE S. 247 BT-Drucks. 7/550). Auch bei Eigentumsdelikten unter Eheleuten kann durchaus ein echtes Strafbarkeitsbedürfnis bestehen. 2. Über Diebstahl und Unterschlagung siehe §§ 242 bis 244 und § 246. Der Wert der gestohlenen oder unterschlagenen Gegenstände ist unerheblich. 3. Die Tat muß begangen worden sein entweder a) gegen einen Angehörigen (siehe hierzu § 11 Abs. 1 Nr. 1), oder b) gegen den Vormund (siehe hierzu §§ 1773 ff. BGB), oder c) gegen eine Person, die mit dem Täter in häuslicher Gemeinschaft lebt. Als „häusliche Gemeinschaft" sind nur auf einem freien Entschluß beruhende Gemeinschaften anzusehen, insbesondere Familiengemeinschaften, aber auch sonstige freiwillig begründete Wohngemeinschaften, z. B. wenn mehrere Studenten gemeinsam ein Appartement mieten oder wenn junge Leute sich zu einer Wohngemeinschaft („Kommune") zusammenschließen. Studentenwohnheime, Altenwohnheime und ähnliche Institutionen können nur dann als häusliche Gemeinschaften angesehen werden, wenn die Bewohner durch gemeinschaftliche Hausveranstaltungen untereinander engeren Kontakt pflegen, als dies z. B. bei den Gästen eines Hotels oder einer Pension üblicherweise der Fall ist. Entsprechendes gilt für die Bewohner eines Prostituiertenwohnheims. Nicht hierher gehören dagegen reine Hotel- und Pensionsbetriebe, bei denen die Gäste rein zufällig unter einem Dach wohnen, so daß nicht von einer „Gemeinschaft" gesprochen werden kann (anders jedoch, wenn ein Hotel oder eine Pension \on einer Jugendgruppe oder einem Sportverein zu einer Gemeinschaftsveranstaltung gemietet wird, z. B. als Trainingslager für eine Fußballmannschaft). Nicht hierher gehören femer solche Gruppierungen, die mehr oder weniger zufällig, zum Teil auch unfreiwillig unter einem Dach zusammengefaßt sind, z. B. die gemeinsam in einer Kaserne untergebrachten Soldaten, die in einem Auffanglager untergebrachten Flüchtlinge oder die in einer Strafanstalt Untergebrachten (vgl. RegE S. 247 BT-Drucks. 7/550; Dreher 4; Lackner 2).' 4. Privilegiert ist jeder Beteiligte (Täter oder Teilnehmer), bei dem die privilegierenden Beziehungen der Vorschrift tatsächlich bestehen (über Irrtumsfragen s. u. 5). Dies kann im Falle 3 c jedes Mitglied der häuslichen Gemeinschaft sein, ohne Rücksicht auf seine Stellung und seine Aufgaben innerhalb der Gemeinschaft. Hinsichtlich des Antragserfordernisses macht es deshalb keinen Unterschied, ob die Hausangestellte den Hausherrn bestiehlt oder ob dieser die ihm anvertrauten Ersparnisse der Hausangestellten unterschlägt. 5. Ein Irrtum über die Eigentumsverhältnisse ist grundsätzlich unbeachtlich. Da die privilegierenden persönlichen Verhältnisse und Beziehungen zwischen Täter und Opfer, die 787
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die Tat zum Antragsdelikt machen, keine Tatbestandsmerkmale sind, sondern nur die Verfolgbarkeit der Tat berühren, begründet die irrige Annahme, die entwendete Sache gehöre dem Angehörigen oder Hausgenossen, keinesfalls einen Tb.-Irrtum i. S. von § 16 (vgl. BGH 18, 123; 23, 281; Backmann JuS 1973, 299 f.; Dreher 6; Lackner 3). Auch ein Verbotsirrtum dürfte nur ausnahmsweise in Betracht kommen, da das Vertrauen darauf, daß der Geschädigte keinen Strafantrag stellen werde, nicht mit fehlendem Unrechtsbewußtsein gleichgestellt werden darf. 6. Unabhängig von der unter 5. erörterten Behandlung der Irrtumsprobleme ist die weitere Frage, ob die Tat auch dann Antragsdelikt ist, wenn Eigentum und Gewahrsam auseinanderfallen und der Täter nur entweder zu dem Eigentümer oder zu dem Gewahrsamsinhaber in einem privilegierenden Verhältnis steht. Beispiel: A entwendet aus der Schmuckkassette seiner Frau einen Ring, der noch im Vorbehaltseigentum des Juweliers J steht. In Ubereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der h. L. unter der früheren Rechtslage (vgl. BGH 10, 400 f.; Heimann-Trosien LK 2, 11 m. Nachw.) ist diese Frage auch unter der neuen Rechtslage wie folgt zu entscheiden: Das Interesse des Staates an der Verfolgung einer Straftat tritt durch die Rücksichtnahme auf besondere persönliche Verhältnisse zwischen den Beteiligten nur dann zurück, wenn geschützte Rechtspositionen Dritter durch die Tat nicht verletzt worden sind. Hieraus folgt, daß § 247 nicht anwendbar ist, wenn - wie im Beispielsfall - der Gewahrsam eines Angehörigen gebrochen, aber das Eigentum eines Dritten verletzt wird; ist umgekehrt der Eigentümer der Sache ein Angehöriger des Täters, so ist sein etwa bestehendes Interesse an der Nichtverfolgung des Täters jedenfalls dann unbeachtlich, wenn der Gewahrsamsinhaber eine besonders geschützte Rechtsposition hat (z. B. als Pfandgläubiger oder Mieter). Die Anwendbarkeit der Vorschrift wird andererseits nicht dadurch berührt, daß Eigentümer der Sache zwar ein Angehöriger oder Hausgenosse des Täters ist, ein Dritter jedoch untergeordneten Mitgewahrsam hat (vgl. BGH 10, 400; Heimann-Trosien LK 2). An dieser Ansicht kann auch auf der Grundlage des neuen Rechts festgehalten werden (übereinstimmend Lackner 2, während Dreher 5 und Eser in Schönke-Schröder 9 einseitig auf das Verhältnis des Täters zum Eigentümer abstellen). 7. Antragsberechtigt ist bei der Unterschlagung nur der Eigentümer oder sein Beauftragter, beim Diebstahl auch der Gewahrsamsinhaber, sofern es sich nicht um untergeordneten Gewahrsam handelt (vgl. Anm. 6). Bei mehreren Berechtigten (z. B. Miteigentümern oder antragsberechtigten Mitgewahrsamsinhabern) kann jeder sein Antragsrecht unabhängig von den übrigen Berechtigten ausüben (Eser in Schönke-Schröder 12). Das Antragserfordernis entfällt jedoch, wenn nur einer der Verletzten nicht zu dem in § 247 genannten Personenkreis gehört. 8. Über die Ausgestaltung des Antragsrechts siehe §§ 77 ff., insbesondere § 77 b (Antragsfrist) und § 77 d (Zurücknahme des Antrags). 9. Prozessual beachte besonders §§ 153,153 a StPO (Opportunitätsprinzip).
§ 248 788
[aufgehoben; siehe jetzt § 245]
Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
§ 248 a
§ 248 a
Diebstahl und Unterschlagung geringwertiger Sachen
Der Diebstahl und die Unterschlagung geringwertiger Sachen werden in den Fällen der §§ 242 und 246 nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, daß die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält. 1. Die durch das EGStGB grundlegend umgestaltete Vorschrift ersetzt den ehemaligen § 370 Abs. 1 Nr. 5, der durch Art. 19 Nr. 206 EGStGB aufgehoben wurde. Entgegen den Vorstellungen des Bundesrats (vgl. S. 473 f. BT-Drucks. 7/550) hat sich der Bundestag im Anschluß an den RegE (S. 24, 247 aaO.) und den Antrag des Sonderausschusses (vgl. S. 52 BT-Drucks. 7/1232, S. 17 BT-Drucks. 7/1261) dazu entschlossen, Diebstahl und Unterschlagung geringwertiger Sachen nicht mehr durch einen Privilegierungstatbestand, sondern durch das Antragserfordernis von den jeweiligen Grundtatbeständen abzugrenzen. Auch der verschiedentlich im Schrifttum unterbreitete Vorschlag, die in Frage stehenden Bagatelldelikte als Ordnungswidrigkeiten oder „Verfehlungen" besonderer Art einzustufen, hat sich in den parlamentarischen Beratungen nicht durchgesetzt. Um zu verhindern, daß die früher unter die privilegierenden Tatbestände der §§ 248 a, 370 Abs. 1 Nr. 5 fallenden Bagatelldelikte strenger als erwünscht und geboten beurteilt werden, wurde durch die gleichzeitig neu konzipierten §§ 153, 153 a StPO die Möglichkeit geschaffen, solche Bagatelldelikte, deren Schuldgehalt im untersten Bereich liegt oder bei denen aus sonstigen Gründen kein Strafbedürfnis besteht, in einem schnellen, zweckmäßigen Verfahren auch ohne gerichtliche Bestrafung einem sachgerechten Ergebnis zuzuführen. Außerdem wurde durch die Einfügung von § 243 Abs. 2 klargestellt, daß der erhöhte Strafrahmen des § 243 Abs. 1 für die unter § 248 a fallende Bagatellkriminalität keine Anwendung findet. Andererseits tritt gegenüber der früheren Rechtslage insoweit eine nicht unbeachtliche Verschärfung ein, als die Staatsanwaltschaft bei Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung die Tat auch ohne Strafantrag verfolgen kann. Die Geringwertigkeit der entwendeten oder gestohlenen Sache macht die Tat also - ähnlich wie in den Fällen der §§ 183, 232 - nur zu einem relativen Antragsdelikt. Auf ein zum völligen Strafausschluß führendes Angehörigenprivileg wurde aus den gleichen Gründen wie bei § 247 bewußt verzichtet. Aus den Gesetzesmaterialien siehe besonders die bereits oben erwähnten BT-Drucksachen sowie den Zweiten Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses, S. 49 f. BTDrucks. V/4095. Schrifttum: Baumann, Über die notwendigen Veränderungen im Bereich des Vermögensschutzes, JZ 1972, 1; - ders., Grabgesang für das Legalitätsprinzip, ZRP 1972, 273; - Dencker, Die Bagatelldelikte im Entwurf eines EGStGB, JZ 1973, 144; - Dreher, Die Behandlung der Bagatellkriminalität, Welzel-Festschrift S. 917 ff; - Eckl, Neue Verfahrensweisen zur Behandlung der Kleinkriminalität, JR 1975, 99; - Lange, Privilegierung des Ladendiebs?, JR 1976, 177; - Geerds, Ladendiebstahl. Gegenwärtige Situation und mögliche Konsequenzen für Rechtsanwendung und Gesetzgebung, Dreher-Festschr., 1977, 533 ff.; - Meurer, Die Bekämpfung des Ladendiebstahls, 1976. 2. Privilegiert werden alle Fälle des Diebstahls (§ 242) und der Unterschlagung (§ 246). Der Diebstahl geringwertiger Sachen unterliegt auch dann dem Anwendungsbereich der Vorschrift, wenn die Tatausführung unter eines der in § 243 Abs. 1 aufgeführten Regelbeispiele fällt, z. B. wenn der Diebstahl durch Einbruch in einen umschlossenen Raum 789
§ 248 a
Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
bewirkt wird. Einzelheiten siehe § 243 Anm. VI. Auf die Fälle des § 244 ist die Vorschrift ebensowenig anwendbar wie auf die Fälle der §§ 249 ff. 3. Die Geringwertigkeit richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. a) Ausgangspunkt für die Beurteilung ist der Verkehrswert der Sache. Die besonderen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters und des Geschädigten bleiben zwar nicht völlig außer Betracht, sind jedoch erst nachrangig zu berücksichtigen (vgl. BGH 5, 263, 256; 6, 41, 43; GA 1960, 181; Heimann-Trosien LK 2 a zu § 248 a [aF]; Lackner 2; a. A. Dreher 5 sowie Kleinknecht 6 A zu § 153 StPO: entscheidend ist nur der Verkehrswert). An der früheren Wertgrenze von 20,- DM kann angesichts der ständigen Geldentwertung nicht festgehalten werden. Unter Berücksichtigung der derzeitigen Verhältnisse bestehen keine Bedenken, die Wertgrenze auf ca. 50,- DM anzuheben (vgl. Eckl JR 1975, 99), was etwa dem Netto-Tagesverdienst eines durchschnittlichen Arbeiters entspricht (zu eng dagegen Hamm MDR 1977, 424, wonach ein Betrag von DM 35,60 nicht mehr geringwertig sein soll). b) Bei fortgesetzter Tat sowie in den Fällen der Mittäterschaft kommt es auf die Gesamtmenge an (vgl. BGH 5, 263; NJW 1964, 117; NJW 1969, 2210; Stgt NJW 1963, 1415 m. Anm. Philipp NJW 1963, 2087 und Mittelbach JR 1963,471; Hamm NJW 1971,1954 m. abl. Anm. Schröder JR 1972, 253; Krhe Justiz 1973, 55; h. L.). Wer also vorgefaßtem Tatentschluß entsprechend seinem Arbeitgeber monatelang jede Woche Werkzeuge im Wert von jeweils ca. 10,- DM entwendet, ist im Falle seiner Entdeckung auch ohne Strafantrag zu verfolgen. Dasselbe gilt, wenn eine aus mehreren Mitgliedern bestehende Familie aufgrund gemeinschaftlichen Tatentschlusses in einem Kaufhaus in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken Lebensmittel im Wert von 80,- DM entwendet. Kann dem diebischen Treiben in den beiden letztgenannten Fällen ein Ende bereitet werden, bevor die z. Z. bei 50,- DM liegende kritische Wertgrenze überschritten wird, so hat es ungeachtet des weitergehenden Täterplans bei dem grundsätzlichen Antragserfordernis zu verbleiben (vgl. Blei JA 1975, StR 182; Dreher 9 zu § 243). c) Ein Irrtum über die Geringwertigkeit ist grundsätzlich unerheblich (Dreher 7; Lackner 2). Die Ausführungen zu § 247 (siehe dort Anm. 5) gelten entsprechend. Da die Geringwertigkeit kein privilegierendes Tb.-Merkmal ist, sondern lediglich die Verfolgbarkeit der Tat berührt, handelt es sich um keinen Tb.-Irrtum nach § 16 Abs. 1; auch § 16 Abs. 2 findet keine Anwendung. Ein als Tb.-Irrtum zu behandelnder Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Zueignung liegt jedoch vor, wenn der Täter aufgrund einer Fehleinschätzung des tatsächlichen Werts irrig glaubt, zur Zueignung berechtigt zu sein (vgl. § 242 Anm. VI 2 h, § 246 Anm. 6). d) Abweichend von der früheren Rechtslage ist die Privilegierung unabhängig von der Art des entwendeten oder unterschlagenen Gegenstands und vom Motiv des Täters. Die Privilegierung ist also nicht auf Nahrungs- und Genußmittel sowie Gegenstände des hauswirtschaftlichen Verbrauchs besphränkt; auch ist nicht erforderlich, daß der Täter aus Not gehandelt hat.
4. Über den Kreis der Antragsberechtigten siehe § 247 Anm. 7, über die Ausgestaltung des Antragsrechts § § 7 7 ff., insbesondere § 77 b (Antragsfrist) und § 77 d (Zurücknahme des Strafantrags).
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Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
§ 248 b
5. Entsprechend der in den §§ 183 und 232 für den Bereich dieser Delikte getroffenen Regelung wird die StA bei fehlendem Strafantrag ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung nur ausnahmsweise bejahen, z. B. wenn es sich um einen rückfälligen Täter handelt, wenn die Tat unter erschwerenden Umständen i. S. eines der in § 243 aufgeführten Regelbeispiele begangen wurde (der erhöhte Strafrahmen des § 243 Abs. 1 kommt allerdings keinesfalls in Betracht, vgl. § 243 Abs. 2), wenn durch die Tat Interessen der Allgemeinheit berührt werden (z. B. bei nicht völlig unbedeutenden Ladendiebstählen, vgl. Dreher 10 sowie in Welzel-Festschr. S. 917 ff.) oder wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der Geschädigte nur unter dem Druck des Täters oder eines Dritten auf die Ausübung seines Antragsrechts verzichtet hat. Wegen der Nachprüfbarkeit der von der StA im Rahmen ihres Ermessensspielraums getroffenen Entscheidung und weiterer Einzelheiten siehe § 232 Anm. 2. 6. Prozessual beachte insbesondere §§ 153, 153 a StPO (Opportunitätsprinzip) und § 172 Abs. 2 S. 3 StPO (Ausschluß des Klageerzwingungsverfahrens, wenn das Verfahren nach §§ 153,153 a StPO eingestellt wird). § 248 b
Unbefugter Gebrauch eines Fahrzeuges
(1) Wer ein Kraftfahrzeug oder ein Fahrrad gegen den Willen des Berechtigten in Gebrauch nimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) D i e Tat wird nur auf Antrag verfolgt. (4) Kraftfahrzeuge im Sinne dieser Vorschrift sind die Fahrzeuge, die durch Maschinenkraft bewegt werden, Landkraftfahrzeuge nur insoweit, als sie nicht an Bahngleise gebunden sind. I. Unter den Anwendungsbereich der durch das EGStGB neu gefaßten Vorschrift fallen alle Schwarzfahrten mit einem Kraftfahrzeug oder einem Fahrrad. 1. Tatobjekt muß ein Kraftfahrzeug oder ein Fahrrad sein. Als Kraftfahrzeug gelten nach der Legaldefinition des Abs. 4 alle Fahrzeuge, die durch Maschinenkraft betrieben werden, sofern sie nicht an Bahngleise gebunden sind. Geschützt sind also nicht nur Automobile, Motorräder usw., sondern auch Flugzeuge und Motorboote, nicht dagegen Fahrzeuganhänger (RG JW 1937,3095). 2. Als Tathandlung genügt jede Benutzung des Fahrzeugs gegen den Willen der Berechtigten (BGH 11, 47). Ein Ingebrauchnehmen liegt nicht nur dann vor, wenn jemand ein fremdes Fahrzeug gegen den Willen des Berechtigten wegnimmt. Der Tatbestand ist vielmehr auch dann erfüllt, wenn der Täter das Fahrzeug vor Antritt der Fahrt bereits in Besitz hatte, aber nicht berechtigt war, es zu einer Fahrt zu benutzen. Beispiele: a) Ein Mechaniker benutzt einen Wagen, der ihm nur zur Reparatur anvertraut war, zu einer Wochenendfahrt ins Gebirge. 791
§ 248 b
Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
b) A leiht sich einen Wagen. Während der Fahrt erfährt er, daß der Verleiher gar nicht berechtigt war, über den Wagen zu verfügen. In diesem Fall ist A verpflichtet, den Wagen stehen zu lassen oder sofort zurückzubringen. Benutzt er ihn weiter zu eigenen Zwecken, so macht er sich gemäß § 248 b strafbar. Das Beispiel zeigt, daß es unerheblich ist, ob der Täter seine mangelnde Berechtigung schon bei der ersten Inbetriebnahme des Fahrzeugs kennt oder ob sie ihm erst während der Fahrt ins Bewußtsein kommt (BGH 11,47,50). c) Ein Taxifahrer benutzt den ihm anvertrauten Wagen heimlich, gegen den Willen seines Arbeitgebers, zu Privatfahrten (BGH 11,47, 50; Str.). d) Der Mieter eines Mietwagens benutzt diesen vorsätzlich über die vereinbarte Mietzeit hinaus (Ddf VM 1975 Nr. 79; a. A. Dreher 5). 3. Da die Vorschrift nur dazu dient, Schwarzfahrten zu bekämpfen, ist der Tatbestand nicht erfüllt, wenn der Täter das Fahrzeug auf andere Weise rechtswidrig benutzt, z. B. wenn er a) in einem parkenden Fahrzeug unbefugt nächtigt, oder b) in einem Autobus als blinder Passagier mitfährt (siehe jedoch § 265 a), oder c) sein eigenes Fahrzeug unbefugt an ein fremdes Fahrzeug anhängt. 4. Nicht erforderlich ist, daß der Täter bei der Fahrt die dem Fahrzeug eigentümlichen Triebkräfte benutzt (vgl. BGH 11, 44). Der Tatbestand ist daher auch dann erfüllt, wenn der Täter unbefugt mit einem Pkw eine abfallende Straße hinunterfährt, ohne den Motor in Gang zu setzen. II. Berechtigter i. S. der Vorschrift ist nicht nur der Eigentümer, sondern jeder Gebrauchsberechtigte, d. h. jeder, der das Recht hat, das Kraftfahrzeug als Fortbewegungsmittel zu benutzen, z. B. der Mieter oder Entleiher eines Fahrzeugs, aber auch der angestellte Fahrer, solange er sich im Rahmen seiner eigenen Befugnisse hält. Aus dem Gesagten folgt, daß u. U. sich auch der Eigentümer selbst nach § 248 b strafbar machen kann, z. B. wenn er das Fahrzeug vermietet hat und nunmehr ohne Wissen und Wollen des Mieters zu eigenen Zwecken benutzt. Ist im Mietvertrag vereinbart worden, daß nur der Mieter das Fahrzeug führen darf, so tritt dieser als Berechtigter neben den Vermieter, nicht an dessen Stelle. Hieraus folgt, daß sich ein Dritter, der diese Vertragsklausel kennt, selbst dann eines Vergehens gemäß § 248 b schuldig macht, wenn der Mieter ihm das Fahrzeug überlassen hatte (Ddf VM 1972 Nr. 79). III. Der subjektive Tatbestand erfordert Vorsatz. Der Täter muß insbesondere wissen, daß er zur Benutzung nicht berechtigt ist. Bedingter Vorsatz genügt. Handelt der Täter mit Zueignungsabsicht, so erfolgt die Bestrafung mit Rücksicht auf die in § 248 b enthaltene Subsidiaritätsklausel nur wegen Diebstahls oder Unterschlagung. Siehe hierzu ausführlich § 242 Anm. V 2 d. IV. Der Versuch ist strafbar (Abs. 2). V. Mittäter kann auch sein, wer an der Schwarzfahrt nur als Fahrgast teilnimmt, diese aber dadurch fördert, daß er das Benzin bezahlt oder auf andere Weise sein enges Verhältnis zur Tai bekundet (vgl. BGH 16,12). 792
Neunzehnter Abschnitt: Diebstahl und Unterschlagung
§ 248 c
VI. Die Strafverfolgung tritt nur auf Antrag ein. Die früher in Abs. 4 geregelte Straflosigkeit für den Fall, daß die Tat gegen einen Verwandten absteigender Linie (z. B. den Sohn) oder gegen den Ehegatten begangen wurde, ist durch das EGStGB ersatzlos beseitigt worden. Zur Begründung siehe § 247 Anm. 1. VII. Konkurrenzen: Infolge der Subsidiaritätsklausel tritt § 248 b zurück, wenn der Täter sich durch Diebstahl, Betrug, Raub oder Erpressung in den Besitz des Fahrzeugs gesetzt hat. Diese Delikte sind mit einer schwereren Strafdrohung ausgestaltet. Gegenüber § 246 ist § 248 b nur dann subsidiär, wenn das unterschlagene Fahrzeug dem Täter anvertraut war. Andernfalls können beide Tatbestände in Idealkonkurrenz stehen. Auch mit Fahren ohne Fahrerlaubnis ( § 2 1 StVG) besteht die Möglichkeit der Idealkonkurrenz. Dagegen ist Realkonkurrenz (§ 53) anzunehmen, wenn der Täter das unbefugt benutzte Fahrzeug vorsätzlich beschädigt (§ 303) oder wenn er mit dem Fahrzeug einen Unfall verschuldet und sich anschließend unerlaubt von der Unfallstelle entfernt (§ 142).
§ 248 c
Entziehung elektrischer Energie
(1) Wer einer elektrischen Anlage oder Einrichtung fremde elektrische Energie mittels eines Leiters entzieht, der zur ordnungsmäßigen Entnahme von Energie aus der Anlage oder Einrichtung nicht bestimmt ist, wird, wenn er die Handlung in der Absicht begeht, die elektrische Energie sich rechtswidrig zuzueignen, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) Wird die im Absatz 1 bezeichnete Handlung in der Absicht begangen, einem anderen rechtswidrig Schaden zuzufügen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe. D i e Tat wird nur auf Antrag verfolgt. 1. Die zuletzt durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift schließt die Lücke, die dadurch entsteht, daß elektrische Energie keine Sache i. S. der §§ 242, 246 ist. 2. Fremd ist die Energie für jeden, der kein Recht zur Entnahme hat (vgl. Celle MDR 1969, 597; Eser in Schönke-Schröder 6). 3. Die Energie ist entzogen, wenn dem Berechtigten ein Energieverlust entsteht. Als Tatmittel kommen nur Leiter in Betracht, die von dem Berechtigten zur ordnungsmäßigen Entnahme von Energie aus der betreffenden Anlage nicht bestimmt sind. 4. Beispiele: Anschließen eines elektrischen Geräts (Heizofen, Rasierapparat u. a.) an eine fremde Leitung. - Oder: Abnahme von Strom hinter dem Zähler (vgl. Celle MDR 1969, 597). - Nicht dagegen: Abnahme von Strom durch Beschädigung oder Mißbrauch eines Münzautomaten (siehe jedoch §§ 265 a, 303). - Oder: Betrieb von nicht angemeldeten Rundfunk- oder Fernsehgeräten (siehe jedoch §§ 15, 20 FAG). 5. Beispielzu Abs. 3: Herbeiführen eines Kurzschlusses (nur auf Antrag verfolgbar). 793
Zwanzigster Abschnitt: R a u b und Erpressung (§§ 2 4 9 - 2 5 6 )
Vorbemerkungen 1. Der 20. Abschnitt enthält mit dem Raub (§ 249), dem räuberischen Diebstahl (§ 252) und der räuberischen Erpressung (§ 255) drei selbständige Tatbestände, die ungeachtet ihrer strukturellen Verschiedenheit auf einem gemeinsamen Grundtatbestand aufbauen, nämlich dem der Erpressung (§ 253), die ihrerseits wiederum einen Sonderfall der Nötigung darstellt. 2. Durch das einheitliche Strafmaß hat der Gesetzgeber eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Diebstahl in rechtsethischer und psychologischer Hinsicht keine unterschiedliche Bewertung zulassen. Der Bundesgerichtshof hat es daher als zulässig angesehen, wahlweise wegen Raubs oder räuberischer Erpressung zu verurteilen (sog. Wahlfeststellung, vgl. BGH 5, 280). Entsprechendes muß auch für das Verhältnis von Raub und räuberischer Erpressung zum räuberischen Diebstahl gelten. 3. Die Straffolgeverweisungen in §§ 252, 255 („gleich einem Räuber") beziehen sich nicht nur auf den Strafrahmen des § 249, sondern auch auf die erhöhten Strafdrohungen der §§ 250, 251. 4. Die Diebstahlsprivilegierungen der §§ 247, 248 a (Antragserfordernis) finden bei keinem der Tatbestände des 20. Abschnitts Anwendung. Auch eine dem § 243 Abs. 2 entsprechende Vorschrift fehlt (krit. hierzu Burkhardt NJW 1975, 1687). Umgekehrt kommen aber auch die Diebstahlsqualifizierungen nicht in Betracht. Nicht Gesetzeskonkurrenz, sondern Tateinheit liegt vor, wenn ein vollendeter Einbruchsdiebstahl mit einem nur versuchten Raub zusammentrifft (BGH 21, 78). Beispiel: A bricht in die Wohnung des B ein und verstaut verschiedene Gegenstände, die er im Wohnzimmer findet, in seiner Rocktasche. Als er auch das Schlafzimmer durchsuchen will, stößt er auf B, der ihn fragt, was er will. A bedröht ihn mit einem Werkzeug und verlangt Geld. Als B um Hilfe ruft, ergreift A die Flucht. In diesem Fall könnte eine Bestrafung nur wegen versuchten Raubs den obj. Unrechtsgehalt der Tat, nämlich die Wegnahme der im Wohnzimmer gefundenen Gegenstände, nicht erfassen. 5. Beachte ferner §§ 138 Abs. 1 Nr. 8 (Anzeigepflicht) und 256 (Führungsaufsicht).
§ 249
Raub
(1) Wer mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, sich dieselbe rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. 794
Zwanzigster Abschnitt: Raub und Erpressung
§ 249
1. Der Raub setzt zunächst objektiv und subjektiv alle Merkmale des Diebstahls voraus. Auf die Ausführungen zu § 242 kann insoweit verwiesen werden. Die Besonderheit des Raubs besteht darin, daß der Täter die Wegnahme mit den spezifischen Mitteln der Nötigung erzwingt. 2. Gewalt ist wie bei der Nötigung (vgl. § 240 Anm. 3 a) jede vom Opfer als körperlicher Zwang empfundene Einwirkung zur Ausschaltung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands. a) Nicht erforderlich ist, daß der Täter erhebliche körperliche Kraft gegen das Opfer anwendet (BGH 1, 145). Gewalt liegt deshalb z. B. auch dann vor, wenn der Täter das Opfer in ein Zimmer einschließt, um ungestört die Wohnung ausräumen zu können (vgl. BGH 20, 194 f.), oder wenn er die Widerstandsfähigkeit des Opfers durch ein - offen oder heimlich beigebrachtes - Betäubungsmittel ausschaltet (BGH 1, 145; Maurach BT 250). Auch die lähmende Wirkung eines Schreckschusses wird von der Rechtsprechung schon seit Jahrzehnten als Gewalt anerkannt (vgl. RG 60, 157; 66, 335; BGH 1, 146; 25, 227; h. L.). Umstritten ist nach wie vor die Behandlung des Handtaschenraubs. Während nach BGH 18, 329 (ähnlich Saarbrücken NJW 1969, 621) ein überraschendes Aus-derHand-Schlagen der Tasche auch dann als Gewalt anzusehen ist, wenn dazu keine besondere Kraft nötig war, verlangt der BGH in GA 1968, 337 zu Recht, daß der Täter einen Widerstand des Opfers in Rechnung stellt und deshalb mehr Kraft aufwendet, als zur bloßen Wegnahme nötig gewesen wäre (einschränkend auch BGH bei Dallinger MDR 1975, 22 mit zust. Bespr. Blei JA 1975, StR S. 30). Dagegen reicht es zur Annahme von Gewalt aus, wenn der Täter dem Opfer die erstrebte Halskette mit einem Ruck vom Hals reißt (Hamm MDR 1975,772). b) Gewalt gegen eine Sache erfüllt nur dann den Tb., wenn sie auf das Opfer als körperlicher Zwang wirkt, z. B. wenn der Täter sein Opfer in einen Raum einschließt, um dann die Wohnung in aller Ruhe ausräumen zu können (vgl. BGH 20, 194 f.; Eser in SchönkeSchröder 4 a; zu eng BGH 18, 330, wo beiläufig ausgeführt wird, daß der Zwang unmittelbar körperlich empfunden werden müsse). c) Nicht erforderlich ist, daß das Opfer die Gewalt als solche empfindet. Gewaltanwendung liegt deshalb auch dann vor, wenn der Täter einen Betrunkenen, der sich später an nichts mehr erinnern kann, in eine Seitenstraße schleppt, um ihm dort die Brieftasche wegnehmen zu können (vgl. BGH 4, 210), oder wenn ein Bewußtloser gegen seinen mutmaßlichen Willen mit dem Pkw in eine abgelegene Gegend gefahren wird (BGH 25, 237 zu § 237). d) Ziel der Gewaltanwendung muß immer die Wegnahme sein. Nicht erforderlich ist jedoch, daß der Täter bereits zu Beginn der Gewaltanwendung die Absicht hat, fremde Sachen wegzunehmen. Es genügt, wenn er die Gewalt zunächst zu anderen Zwecken anwendet, z. B. um sein Opfer unsittlich zu belästigen, dann aber die noch fortdauernde Gewalteinwirkung dazu benutzt, dem Opfer eine Sache wegzunehmen (BGH 20, 32). Hierbei kommt es nicht darauf an, ob das sich wehrende Opfer die Wegnahme sofort bemerkt und sich gerade gegen die drohende Wegnahme wehrt (BGH aaO. unter Bestätigung der oben unter c) erwähnten Entscheidung BGH 4, 210). Andererseits kann von einem räuberischen Vorgehen nicht die Rede sein, wenn der Täter nur eine mit anderer Zielsetzung durch Gewaltanwendung geschaffene Lage dazu ausnutzt, dem Betroffenen ohne dessen Wissen und Widerstand eine Sache wegzunehmen (BGH bei Dallinger MDR
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§ 249
Zwanzigster Abschnitt: Raub und Erpressung
1968,17 f.) oder wenn das durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben herbeigeführte widerstandslose Verhalten des in seiner Geschlechtsehre angegriffenen Opfers dem Täter lediglich die Gelegenheit zur unbemerkten Wegnahme von irgendwelchen Gegenständen gibt (BGH NJW 1969, 619). In den beiden letztgenannten Fällen liegt nur Diebstahl vor. 3. Uber Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben siehe § 34 Anm. 2. Drohung mit einem empfindlichen Übel genügt hier nicht. Insoweit gehen die Mittel des Raubes über die von Nötigung und Erpressung hinaus. 4. Subjektiv ist neben dem Vorsatz wie beim Diebstahl die Absicht rechtswidriger Zueignung erforderlich. Raub entfällt daher, wenn der Täter beispielsweise mit Gewalt einen Taxifahrer nötigt, ihm seinen Wagen zu einer Spazierfahrt zu überlassen (vgl. BGH 14, 386, wo jedoch auf die Möglichkeit hingewiesen wird, in einem derart gelagerten Fall wegen räuberischer Erpressung zu verurteilen). Auf die Ausführung zur subjektiven Tatseite beim Diebstahl (§ 242 Anm. VI) und bei der Nötigung (§ 240 Anm. 6) wird im übrigen verwiesen. 5. Umstritten ist die Abgrenzung von Raub und räuberischer Erpressung. Nach Auffassung des BGH kommt es hierbei entscheidend auf das äußere Bild an: Raub, wenn der Täter sich die Sache nimmt; räuberische Erpressung, wenn er das Opfer zwingt, die Sache herauszugeben (BGH 7, 252; NJW 1967, 61). Diese Abgrenzung führt zwar zu klaren Ergebnissen, hat aber den Nachteil, daß das Tatbestandsmerkmal „wegnehmen" anders ausgelegt wird als beim Diebstahl, wo es nach einhelliger Ansicht nicht auf das äußere Bild (geben - nehmen) ankommt (vgl. § 242 Anm. V 6). Dementsprechend wird im Schrifttum überwiegend vorgeschlagen, auch bei der Abgrenzung von Raub und räuberischer Erpressung auf die innere Einstellung des Opfers abzustellen (vgl. Maurach BT 251 f. m. weit. Nachweisen). Die bei der Abgrenzung von Diebstahl und Betrug entwikkelten Kriterien lassen sich jedoch nicht ohne weiteres auf Raub und räuberische Erpressung übertragen, da im Grunde weder beim Raub noch bei der räuberischen Erpressung der Besitzverlust auf eine innere Zustimmung des Opfers zurückzuführen ist. Es ist daher schon vorteilhafter, die verschiedene Auslegung des Merkmals „wegnehmen" in Kauf zu nehmen und mit dem BGH auf das äußere Bild abzustellen. Die weitere Schwierigkeit besteht darin, daß das „Dulden der Wegnahme" genau genommen nicht nur unter den Tatbestand des Raubs, sondern auch unter den der Erpressung und damit auch der räuberischen Erpressung subsumiert werden kann. Diese Schwierigkeit läßt sich jedoch gesetzestechnisch dadurch ausräumen, daß man den Raub als Sonderfall der Erpressung ansieht (BGH 14, 386; 25, 224 m. krit. Bespr. Tenckhoff JR 1974, 489). Nur so besteht auch die Möglichkeit, bei dem oben (Anm. 4) erwähnten Fall räuberische Erpressung anzunehmen, wenn der Täter alle Raubmerkmale erfüllt mit Ausnahme der Zueignungsabsicht, an deren Stelle jedoch die Absicht tritt, sich zu Unrecht zu bereichern. Beachtenswert ist der Abgrenzungsvorschlag von Otto in ZStW 79, 59, 86 f.: Fügt sich das Opfer der Gewalt oder Drohung, weil es keinen anderen Ausweg sieht, so ist es grundsätzlich unerheblich, ob der Täter sich die Sache nimmt oder ob das Opfer ihm die Sache gibt. Auch bei Übergabe der Sache kann man in solchen Fällen nicht von einer als Vermögensverfügung zu qualifizierenden Selbstschädigung des Opfers sprechen. Beide Fälle sind vielmehr in ihrem sozialen Sinngehalt gleich und daher einheitlich als Raub zu beurteilen. Anders jedoch, wenn das Opfer eine zur Vermögensschädigung notwendige
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Zwanzigster Abschnitt: Raub und Erpressung
§ 250
Handlung vornimmt, z. B. wenn es gezwungen wird, den Panzerschrank zu öffnen, den der Täter nicht öffnen kann, weil er den Schlüssel nicht hat oder weil er die Geheimziffer nicht kennt. Otto kommt damit, wenngleich mit anderer Begründung, im wesenüichen zu den gleichen Ergebnissen wie die herrschende Lehre. Seine Ansicht kann für sich in Anspruch nehmen, daß sie eine unterschiedliche Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Wegnehmen" in § 242 und § 249 vermeidet. 6. Idealkonkurrenz mit räuberischer Erpressung ist dann möglich, wenn der Täter sich eine Sache selbst nimmt und gleichzeitig eine andere Sache geben läßt. Über die Zulässigkeit von Wahlfeststellung siehe Vorbem. 2 vor § 249. 7. Die Diebstahlsprivilegierungen der §§ 247 und 248 a (Antragserfordernis) finden keine Anwendung. Tateinheit ist möglich mit §§ 223, 223 a, 239, 316 a, nicht dagegen mit §§ 242 ff., da ein mit den Mitteln des Raubs begangener Diebstahl eben kein Diebstahl mehr ist, sondern ein Raub. Dies gilt auch dann, wenn der Täter mehr wegnimmt, als er ursprünglich beabsichtigt hatte (BGH 22, 350).
§ 250
Schwerer Raub
(1) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn 1. der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raube eine Schußwaffe bei sich führt, 2. der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raube eine Waffe oder sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand eines anderen durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden, 3. der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raube durch die Tat einen anderen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Körperverletzung (§ 224) bringt oder 4. der Täter den Raub als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Raub oder Diebstahl verbunden hat, unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds begeht. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift greift in Anlehnung an die in § 244 für den Bereich des Diebstahls getroffene Regelung einige Fälle hinaus, die teils wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit, teils wegen der erhöhten Schutzbedürftigkeit des Opfers einer schwereren Bestrafung bedürfen. 2. Die Nr. 1, 2 und 4 des Abs. 1 wurden den Nr. 1, 2 und 3 des § 244 Abs. 1 nachgebildet. Auf die Ausführungen zu § 244 (Anm. II, III) kann deshalb insoweit verwiesen werden. Durch die Gleichschaltung beider Vorschriften ist jetzt wegen schweren Raubs nach § 250 Abs. 1 Nr. 2 auch strafbar, wer bei dem Raub eine nicht gebrauchsbereite Schußwaffe oder eine sog. Schein waffe (z. B. Spielzeugpistole) in der Absicht mit sich führt, das Opfer durch Vortäuschen der Gebrauchsbereitschaft einzuschüchtern (vgl. 797
§ 250
Zwanzigster Abschnitt: Raub und Erpressung
BGH [GrSen] 26, 167, 173; NJW 1976, 248; Dreher 5). Die abweichende Entscheidung BGH 24, 276 ist durch die Neufassung des § 250 gegenstandslos geworden (a. A. Blei JA 1974, StR 57, Braunsteffer NJW 1975, 623 und Tröndle GA 1973, 328, die allerdings auch die zu § 244 Abs. 1 Nr. 2 ergangene Entscheidung BGH 24, 339 ablehnen). Den Kritikern der hier vertretenen Ansicht ist zuzugeben, daß sich bei Verwendung einer Scheinwaffe die Tat nicht durch besondere Gefährlichkeit auszeichnet. Andererseits läßt der Wortlaut der Vorschrift eine andere Auslegung gar nicht zu. Auch eine Scheinwaffe kann ein Werkzeug oder Mittel sein, um durch Drohung mit Gewalt Widerstand zu verhindern oder zu überwinden. Im übrigen muß die Tat auch aus der Sicht des Opfers beurteilt werden, das nicht in der Lage ist, den Gegenstand, durch den es bedroht wird, näher zu untersuchen, und das deshalb besonders schutzbedürftig ist. Unerheblich ist, ob sich der Täter bereits vor der Tat bewaffnet hat oder ob er sich erst während der Tat entschließt, einen Gegenstand, den er am Tatort findet, z. B. eine leere Bierflasche, als Schlagwaffe zu gebrauchen (BGH 13,259). Der Tb. kann schließlich noch dann verwirklicht werden, wenn die Wegnahme der Sache zwar vollendet, aber noch nicht beendet ist (BGH 20, 194 m. abl. Anm. Isenbeck NJW 1965, 2326). Beispiel: A schlägt B nieder und nimmt ihm die Uhr ab. Als B wieder aufstehen will und um Hilfe ruft, schlägt A ihm mit einer am Tatort gefundenen Eisenstange erneut nieder. (Beachte: Die gleichen Grundsätze gelten auch für die räuberische Erpressung, vgl. BGH 22,227.) 3. Der gefährliche Raub des Abs. 1 Nr. 3 ist der in den §§ 113 Abs. 2 Nr. 2 und 125 a Nr. 3 getroffenen Regelung nachgebildet (siehe hierzu § 113 Anm. V 2). Die Vorschrift übernimmt einen Teil der Fälle, die früher durch den jetzt enger gefaßten § 251 erfaßt wurden. Tatbestandsmäßig sind jedoch nicht nur die Fälle, in denen es tatsächlich zu einer schweren Folge i. S. von § 224 gekommen ist; es genügt vielmehr bereits die (konkrete) Gefahr einer solchen Folge. a) Der in Todesgefahr gebrachte „andere" muß nicht mit der Person identisch sein, gegen die sich die Mittel des Raubs richten. Tatbestandsmäßig ist deshalb z. B. auch der Fall, daß ein gegen den Täter einschreitender Polizeibeamter oder ein unbeteiligter Passant in die Gefahr des Todes gerät (Dreher 7; Eser in Schönke-Schröder 22; siehe auch § 251 Anm. 2). Nur die Tatbeteiligten selbst scheiden aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift nach deren Schutzzweck aus. b) Durch die Tat muß die Todesgefahr verursacht worden sein. Anders als bei den enger gefaßten Vorschriften der §§113 Abs. 2 Nr. 2 und 125 a Nr. 3 ist nicht erforderlich, daß die Gefährdung unmittelbar auf die Anwendung der Raubmittel oder einen Exzeß bei der Wegnahmehandlung zurückzuführen sind. Tatbestandsmäßig ist vielmehr jede Gefährdung, die im Zusammenhang mit der Tatbegehung steht, angefangen vom Beginn des Versuchs bis zur Beendigung der Tat (Dreher 7; Eser in Schönke-Schröder 23). Die Ausführungen zu § 251 (siehe dort Anm. 2) gelten insoweit entsprechend. c) Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich-wie bei §§ 113 Abs. 2Nr. 2 und 125 a S. 2 Nr. 3 - auch auf die Gefahr des Todes erstrecken. Bedingter Vorsatz genügt, Fahrlässigkeit dagegen nicht (vgl. BGH 26,176,244; h. L.). d) Tateinheit ist möglich mit §§ 113, 125, 223 a-225. Gegenüber § 251 tritt § 250 Nr. 3 zurück. 4. Ein minder schwerer Fall (Abs. 2) kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Täter nur geringwertige Sachen erbeutet hat oder wenn die Gefährlichkeit der Tatausfüh798
Zwanzigster Abschnitt: Raub und Erpressung
§ 251
rung an der unteren Grenze liegt, z. B. wenn der Täter das Opfer nur mit einer nicht einsatzbereiten Schußwaffe oder einer sog. Scheinwaffe bedroht hat (Alternative Mitsichführen eines Mittels, um den Widerstand durch Drohung mit Gewalt zu überwinden). 5. Konkurrenzen: Bei gleichzeitiger Verwirklichung mehrerer Tb.-Alternativen liegt nur ein schwerer Raub vor (also keine Tateinheit zwischen den einzelnen Erscheinungsformen, vgl. Baldus LK 2; Lackner § 244 Anm. 4 a; Eser in Schönke-Schröder 27). Tateinheit ist möglich mit §§ 123 ff., 223-226, 239, 316 a. - § 251 geht vor (vgl. BGH 21, 183 sowie § 251 Anm. 1).
§ 251
Raub mit Todesfolge
Verursacht der Täter durch den Raub (§§ 249, 250) leichtfertig den Tod eines anderen, so ist die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren. 1. Die durch das EGStGB in Anlehnung an §§ 239 a Abs. 2, 239 b Abs. 2 und 316 c Abs. 2 neu gefaßte Vorschrift gehört zu den sog. erfolgsqualifizierten Delikten (siehe hierzu § 18 nebst Anm.). Der entscheidende Unterschied gegenüber der früheren Fassung besteht darin, daß die Vorschrift nur noch für solche Fälle eine über die §§ 249 und 250 hinausgehende Qualifizierung bringt, in denen durch den Raub der Tod eines anderen leichtfertig verursacht worden ist. Nicht mehr erfaßt wird dagegen der Fall, daß es durch die Tat zu einer schweren Körperverletzung (§ 224) gekommen ist (siehe jedoch § 250 Abs. 1 Nr. 3). Auch der sog. Raub mit Marterung fällt nicht mehr unter die erhöhte Strafdrohung des § 251. 2. Wie bei § 316 c Abs. 2 (siehe dort Anm. VI 1) ist es unerheblich, ob der Tod eines anderen unmittelbar auf eine Handlung des Täters zurückzuführen ist (z. B. Niederschlagen des Opfers zur Ermöglichung des Gewahrsamsbruchs) oder ob das Vorgehen des Täters für den Tod nur mittelbar kausal war (z. B. Fehlschüsse der Polizei). Unerheblich ist weiter, ob der Getötete identisch ist mit dem Beraubten oder ob es sich um eine völlig unbeteiligte Person handelt, die rein zufällig in die Auseinandersetzungen verwickelt wurde. Lediglich der Tod eines Tatbeteiligten führt nicht zu einer besonderen Strafschärfung (vgl. § 316 c Anm. VI 1 m. Nachw.). Durch den Raub verursacht ist der Tod auch dann, wenn bereits die versuchte Tat zum Tod führt (dann allerdings Strafmilderung gemäß § § 2 3 Abs. 2, 49 Abs. 1 möglich), z. B. wenn bereits die Gewaltanwendung zum Tod führt, die Wegnahme jedoch durch das Eingreifen Dritter scheitert, oder wenn das Opfer auf der Flucht vor dem angreifenden Täter in einen Abgrund stürzt oder vor Aufregung einen Herzschlag erleidet. (Im letztgenannten Fall kann allerdings zweifelhaft sein, ob der Täter den Tod „leichtfertig" verursacht hat.) Auf jeden Fall aber ist erforderlich, daß gerade die spezifische Tathandlung des Raubs, nämlich die Gewalt bzw. Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, unmittelbar oder mittelbar zum Tod einer Person geführt haben. Nicht ausreichend ist deshalb der Fall, daß der Täter beim Bergen der Beute (z. B. beim Abseilen aus einem Fenster, vgl. Blei JA 1974, StR 58, einen anderen leichtfertig tötet). Dasselbe gilt, wenn das Opfer nach dem Überfall bei der Verfolgung des Täters in der Dunkelheit stürzt und sich erst hierdurch tödliche Verletzungen zuzieht (BGH 22,362 m. Anm. Maurach JR 1970,70). 799
§ 252
Zwanzigster Abschnitt: Raub und Erpressung
3. Der Täter handelt leichtfertig, wenn er sich „grob fahrlässig" (vgl. C 1 c vor § 1), d. h. besonders leichtsinnig oder gleichgültig, über die naheliegende Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs hinwegsetzt, z. B. durch brutale Behandlung des Opfers oder dadurch, daß er sich mit der Polizei auf ein Feuergefecht einläßt. Nicht hierher gehört jedoch der Fall, daß eine für den Täter nicht erkennbar herzkranke Person infolge der psychischen Belastung einen Herzschlag erleidet. 4. Konkurrenzen: Die Tatbestände der §§ 222, 223, 226 werden konsumiert, da sie die regelmäßigen Erscheinungsformen der in § 251 erfaßten Gewaltanwendung mit Todesfolge darstellen (vgl. BGH NJW 1965,2116 sowie § 18Anm. 4). Ebenso wird § 250inall seinen Erscheinungsformen konsumiert (BGH 21, 183). Das Gesamtbild der Tat wird immer von der schwersten Begehungsform bestimmt (BGH aaO., Welzel 236, 361). Hat der Täter bei einem besonders schweren Raub Waffen benutzt oder liegt sonst ein Erschwerungsgrund des § 250 vor, so ist dies nicht im Urteilstenor, sondern nur bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Bei vorsätzlicher Tötung stehen die §§ 211, 212 mit den §§ 249, 250 in Tateinheit. Ein Rückgriff auf § 251 ist in diesen Fällen weder erforderlich noch zulässig (BGH 26, 175 m. zust. Anm. Rudolphi JR 1976, 74; Lackner 4; Rudolphi SK § 18 Rn. 9; Tenckhoff ZStW 88, 897, 912; a. A. Baumann AT 208, 509; Dreher 6). Die Mindeststrafe des § 251 darf jedoch nicht unterschritten werden (vgl. Lackner 4; Tenckhoff aaO. 914 ff.).
§ 252
Räuberischer Diebstahl
Wer, bei einem Diebstahl auf frischer Tat betroffen, gegen eine Person Gewalt verübt oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben anwendet, um sich im Besitz des gestohlenen Gutes zu erhalten, ist gleich einem Räuber zu bestrafen. 1. § 252 bringt ein raubähnliches Sonderdelikt, das wie der Raub alle Elemente des Diebstahls und der Nötigung enthält, sich vom Raub jedoch darin unterscheidet, daß die spezifischen Mittel der Nötigung die Wegnahme nicht ermöglichen, sondern sichern sollen. Aus der Gleichstellung mit dem Raub ergibt sich im einzelnen folgendes: a) Der Täter ist gleich einem Räuber zu bestrafen. § 252 enthält keinen eigenen Strafrahmen, sondern verweist auf die Strafdrohung des Raubs (§§ 249 bis 251). b) Die Qualifizierungen und Privilegierungen des Diebstahls (§§ 244, 247, 248 a) finden keine Anwendung. 2. Der Täter muß bei einem Diebstahl auf frischer Tat betroffen werden. a) Diebstahl ist jede Wegnahme einer fremden beweglichen Sache in der Absicht rechtswidriger Zueignung. Unerheblich ist, ob der Diebstahl unter qualifizierenden oder privilegierenden Umständen erfolgt. Vortat kann schließlich auch ein Raub sein (BGH 21, 377). Dieser verliert dann gegenüber § 252 seine rechtlich selbständige Bedeutung (BGH aaO.). b) Auf frischer Tat betroffen ist der Täter auch dann noch, wenn er alsbald nach der Tat in der Nähe des Tatorts wahrgenommen wird. Es genügt, daß ein enger örtlicher und
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Zwanzigster Abschnitt: Raub und Erpressung
§ 252
zeitlicher Zusammenhang mit der Tat besteht (BGH 9, 255). Nicht erforderlich ist, daß der Täter erst nach Vollendung der Tat überrascht oder entdeckt wird. Es genügt, wenn er schon bei der Tat beobachtet worden ist und alsdann, nach Vollendung der Tat, Widerstand leistet, um sich im Besitz der Beute zu halten (BGH NJW 1958,1547). Auf frischer Tat „betroffen" ist der Täter schließlich auch dann, wenn er unmittelbar nach dem Diebstahl noch im Bereich des Tatorts von einer Person überrascht wird, die ihn noch gar nicht bemerkt hat (BGH 26, 95). c) Der Diebstahl muß vollendet sein. Ist der Gewahrsam noch nicht gebrochen, so kommt nicht räuberischer Diebstahl, sondern Raub in Betracht (st. Rspr., siehe zuletzt BGH 26, 95 m. Nachw.). Zur Frage, wann der Gewahrsam gebrochen ist, gelten die zu § 242 herausgearbeiteten Grundsätze entsprechend (vgl. § 242 Anm. V 4 sowie BGH 26,95). d) Der Gewahrsam des Täters darf noch nicht gesichert sein (vgl. Hamm MDR 1969, 238). Ist der Diebstahl nicht nur rechtlich vollendet, sondern auch tatsächlich beendet, so ist der Täter nicht mehr „auf frischer Tat betroffen". Die gewaltsame Verteidigung der Diebesbeute kann dann nicht mehr als räuberischer Diebstahl bestraft werden, sondern stellt sich gegenüber dem bereits abgeschlossenen Diebstahl als rechtlich selbständige Nötigung dar (vgl. OLG Hamm aaO. betr. einen Angeklagten, der ein Kaninchen entwendet hatte und 10 Minuten später vom Eigentümer gestellt wurde, nachdem er das Tier bereits in dem von seiner Schwester bewohnten Nachbarhaus geschlachtet hatte). 3. Die Mittel zur Sicherung der Diebesbeute sind dieselben wie beim Raub, nämlich Gewalt gegen eine Person oder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben. 4. Subjektiv ist neben dem Vorsatz die Absicht erforderlich, sich im Besitz der Beute zu halten. Diese Absicht fehlt, wenn es dem Täter nur darum geht, die Feststellung seiner Person und den späteren (also nicht sofortigen) Verlust des Diebesguts zu verhindern, z. B. wenn er einen Tatzeugen niederschlägt, der nur das polizeiliche Kennzeichen seines Kraftfahrzeugs notieren will (BGH 9, 162). Nicht ausreichend ist auch die Absicht, mit der Beute zu fliehen, um diese alsbald vernichten zu können, damit sie als Beweismittel nicht mehr zur Verfügung steht (vgl. Schröder NJW 1967, 1335 gegen Köln NJW 1967, 739). Andererseits braucht die Absicht, sich im Besitz des gestohlenen Guts zu halten, nicht der einzige Beweggrund für die Gewaltanwendung zu sein (BGH 13, 64; 26, 95, 97; BaldusLK 12). 5. Als Täter kommt nicht nur der Dieb selbst, sondern auch der Diebesgehilfe in Betracht, sofern dieser sich im Besitz des Diebesguts befindet (BGH 6, 248). Andererseits ist der Täter des Diebstahls auch dann gemäß § 252 zu bestrafen, wenn nicht er selbst, sondern einer seiner Gehilfen mit seinem Wissen und Wollen Gewalt anwendet, um ihm die Flucht mit der Beute zu ermöglichen. Der gewalttätige Gehilfe ist in diesem Fall wegen Beihilfe zum räuberischen Diebstahl zu bestrafen (BGH aaO.). 6. IdK. ist möglich mit §§ 113, 223 ff., 211, 212. Über das Verhältnis zum Diebstahl s. o. 1. 7. Abschließendes Beispiel: A entwendet auf dem Marktplatz einem Händler (H) aus dessen Stand 2 Apfelsinen zum Preis von 1,- DM. Als H ihn verfolgt, schlägt A mit einem Schirm auf ihn ein, um sich im Besitz der Apfelsinen zu halten. Hätte A sich auf die 26
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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§ 253
Zwanzigster Abschnitt: Raub und Erpressung
Wegnahme beschränkt und auf die spätere Gewalt verzichtet, so läge nur ein einfacher Diebstahl vor, der nur auf Antrag zu verfolgen wäre (siehe hierzu § 248 a sowie die Möglichkeit, das Verfahren nach §§ 153, 153 a StPO einzustellen). So aber liegt ein Verbrechen des räuberischen Diebstahls vor, dessen Strafbarkeit sich aus § 250 Abs. 1 Nr. 2 ergibt, da A eine „Waffe" benutzt hat. Er ist also - selbst bei Annahme eines minder schweren Falles (§ 250 Abs. 2) - mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr zu bestrafen.
§ 253
Erpressung
(1) Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe, in besonders schweren Fällen mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. (3) D e r Versuch ist strafbar. 1. Die durch das EGStGB nur im Strafrahmen neu gefaßte Vorschrift enthält einen Sonderfall der Nötigung. Sie unterscheidet sich von dieser lediglich dadurch, daß das abgenötigte Verhalten bei dem Genötigten oder einem Dritten zu einem Vermögensnachteil führen muß und subjektiv die Absicht des Täters erforderlich ist, sich oder einen Dritten zu Unrecht auf Kosten des durch die Tat geschädigten Vermögens zu bereichern. Geschütztes Rechtsgut ist somit nicht nur die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung, sondern auch das Vermögen. 2. Die Mittel der Erpressung sind die gleichen wie bei der Nötigung, nämlich Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel. Siehe hierzu § 240 Anm. 3. Bei Gewalt gegen eine Person oder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben kommt - je nach Sachlage, vgl. § 249 Anm. 5 - Raub oder räuberische Erpressung in Betracht. Der Anwendungsbereich des § 253 beschränkt sich daher auf die Fälle, in denen der Täter Gewalt gegen Sachen verübt oder mit einem empfindlichen Übel droht, das mit einer Gefahr für Leib oder Leben nicht verbunden ist. Beispiele: A droht seiner ehemaligen Geliebten G mit der Enthüllung ihrer außerehelichen Beziehungen zu ihm und anderen Männern, falls sie ihm nicht sofort 1000,- DM zukommen lasse. - Oder: A droht dem B mit Strafanzeige wegen eines schon länger zurückliegenden, aber noch nicht verjährten Diebstahls, falls er ihm nicht sofort ein Darlehen gewähre. - Oder: A stellt die Möbel seines Mieters M auf die Straße, um diesen entweder zum sofortigen Auszug oder zur Zahlung einer höheren, objektiv nicht angemessenen Miete zu bewegen. 3. Folge der Nötigung muß ein Vermögensnachteil sein. Dieses Tatbestandsmerkmal hat dieselbe Bedeutung wie der Vermögensschaden beim Betrug. Der Tb. ist daher erst erfüllt, wenn der Gesamtwert des Vermögens vermindert ist. Hieran fehlt es z. B., wenn 802
Zwanzigster Abschnitt: Raub und Erpressung
§ 253
ein Gläubiger seinen Schuldner zur Erfüllung einer Verbindlichkeit zwingt (BGH 20, 138). In diesem Fall kommt allenfalls Nötigung in Betracht. Nur Versuch liegt vor, wenn der Bedrohte die schädigende Handlung ohnehin vorgenommen hätte oder sich durch die Nötigung nicht beeindrucken läßt. Andererseits liegt ein tatbestandsmäßiger Schaden immer schon dann vor, wenn jemand eine Leistung für eine Sache erbringt, die er auch ohne Gegenleistung beanspruchen kann. Geschädigt ist deshalb auch der Eigentümer einer gestohlenen Sache, der dem Dieb oder Hehler für die Rückgabe der Sache ein Lösegeld zahlen muß (BGH 26, 346 m. zust. Anm. Gössel JR 1977, 32 gegen Hbg JR 1974, 473 m. abl. Anm. Jakobs; übereinstimmend Blei JA 1974, StR S. 100; Eser in Schönke-Schröder 9; Lackner 3 a; Mohrbotter JZ 1975,102). Nicht erforderlich ist, daß der Genötigte zu einer Vermögensverfügung gezwungen wird (BGH 25,224, 227; Baldus LK 13 zu § 249; Str.). Es genügt, daß er sich durch die Gewalt oder die Drohung zu einem rein passiven Verhalten zwingen läßt, das einen Veimögensnachteil auslöst (z. B. Veizicht, eine Forderung durchzusetzen, vgl. BGH aaO. m. krit. Bespr. Tenckhoff JR 1974, 489). Nur so ist es möglich, die Erpressung nicht nur als Grundtatbestand der räuberischen Erpressung, sondern auch als Grundtatbestand des Raubs anzusehen (vgl. BGH 7, 252; 14, 386; 25, 224, 228; Str.; siehe auch § 249 Anm. 5). 4. Hinsichtlich der Rechtswidrigkeit gelten die zu § 240 Anm. 4, 5 entwickelten Grundsätze. Nicht rechtswidrig sind insbesondere frist- und formgerechte Kündigung von Vertragsverhältnissen mit dem Ziel höherer Gehalts- oder Mietzahlungen usw. sowie der legale Streik. 5. Subjektiv ist neben dem Vorsatz die Absicht erforderlich, sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern. a) Hinsichtlich des Vorsatzes gelten die Ausführungen zur Nötigung entsprechend. Siehe hierzu § 240 Anm. 6. Außerdem ist folgendes zu beachten: Zum Vorsatz gehört auch das Bewußtsein, daß der erstrebte Vorteil rechtswidrig ist. Hieran fehlt es, wenn der Täter irrig glaubt, er habe einen Anspruch auf die erstrebte Bereicherung (vgl. BGH 4, 105). Die Rechtslage ist hier dieselbe wie bei Diebstahl und Raub, wenn der Täter sich über die Rechtswidrigkeit der erstrebten Zueignung irrt (vgl. BGH 17, 88; GA 1968, 121 sowie §242 Anm. V I I ) . b) Für die Frage, ob die erstrebte Bereicherung der Rechtsordnung widerspricht, ist allein das mit der Handlung verfolgte Endziel maßgebend. Entspricht dieses der Rechtsordnung, so wird es nicht dadurch rechtswidrig, daß zu seiner Verwirklichung rechtswidrige Mittel angewandt werden (BGH 3, 160; 20, 136 f.). Beispiel: A wird von B wegen einer nicht mehr bestehenden Forderung in Anspruch genommen. Um nicht gerichtlich belangt werden zu können, zwingt er B durch Androhung von Schlägen, ihm schriftlich zu bestätigen, daß die Forderung getilgt ist. Hier kommt keine Erpressung, sondern nur Nötigung in Betracht (BGH aaO.). 6. Die Strafbarkeit der Teilnahme richtet sich nach allgemeinen Grundsätzen. Beruht die Drohung auf einer Täuschung, so ist ein Teilnehmer, der von der Drohung nichts weiß, aber alle übrigen Tatumstände, insbesondere die Täuschung, kennt, wegen Anstiftung bzw. Beihilfe zum Betrug zu bestrafen, wenn die Tat ohne die Drohung als Betrug strafbar wäre (BGH 11, 66). Beispiel: A gibt sich dem Ganoven G gegenüber als Kriminalbeamter aus und droht ihm mit Festnahme, läßt aber durchblicken, daß er beide Augen 26'
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§ 255
Zwanzigster Abschnitt: Raub und Erpressung
zudrücken wolle, falls G eine bestimmte Summe zahle. Zahlt G unter dem Druck dieser Drohung den geforderten Betrag, so hat sich A der Erpressung schuldig gemacht. Für etwaige Teilnehmer, die zwar nichts von der Drohung, wohl aber darüber Bescheid wußten, daß A als Kriminalbeamter auftreten würde, kommt dagegen nur Betrug in Betracht (übereinstimmend Lackner LK 29). 7. Konkurrenzen: §§ 249, 255 gehen vor. Mit Betrug (§ 263) ist Tateinheit nur möglich, wenn die Drohung selbständig neben die Täuschung tritt, z. B. wenn A den B zur Gewährung eines Darlehens bewegt, indem er ihm bewußt der Wahrheit zuwider die Absicht baldiger Rückzahlung vorspiegelt und gleichzeitig verspricht, eine strafbare Handlung des B nicht zur Anzeige zu bringen (vgl. BGH 9, 245). Dagegen liegt nur Erpressung vor, wenn die Täuschung die Drohung nur verstärken soll, so daß für eine innerlich freie Entscheidung kein Raum mehr bleibt (vgl. BGH 23, 294 m. Anm. Küper NJW 1970, 2253). Beispiel: A spiegelt den Angehörigen eines entführten Kindes vor, er habe als Entführer das Schicksal des Kindes in der Hand; gleichzeitig verlangt er das vom wirklichen Entführer unter Androhung von Lebensgefahr geforderte Lösegeld (Sachverhalt von BGH 23, 294). Hier scheidet Betrug schon tatbeständsmäßig (also nicht erst bei Prüfung der Konkurrenz) aus: Betrug und Erpressung unterscheiden sich zwar nicht in der Vermögensverfügung, wohl aber in der spezifischen Art ihrer Herbeiführung durch den Täter. Der Betrogene verfügt, weil er sich infolge der Täuschung des vermögensschädigenden Charakters seiner Verfügung nicht bewußt ist; der Erpreßte dagegen verfügt im Bewußtsein der Selbstschädigung, weil er aus Furcht keinen anderen Ausweg sieht (vgl. Blei JA 1971, StR S. 27). Das gleiche gilt für das oben unter 6 erörterte Beispiel (vgl. Lackner LK 29). - Tateinheit ist auch mit Bestechlichkeit (§ 332) möglich (BGH 9, 245). - Von einer nur als Nötigung strafbaren Sicheningserpressung spricht man, wenn der Täter seine durch Betrug, Unterschlagung usw. erlangte Beute mit den Mitteln der Nötigung verteidigt (vgl. Lackner LK 30; Schröder SJZ 1950, 99; MDR 1950, 398). Dagegen liegt eine rechtlich selbständige Erpressung vor, wenn der Dieb den Eigentümer mit der Vernichtung oder weiteren Vorenthaltung der gestohlenen Sache droht, falls er diese nicht gegen einen bestimmten Geldbetrag auslöse (BGH 26, 346 m. zust. Anm. Gössel JR 1977, 32; a. A. Hbg JR 1974,473 m. abl. Anm. Jakobs). 8. Für das Opfer der Erpressung siehe § 154 cStPO (Absehen von Strafe).
§ 254
[aufgehoben]
§ 255
Räuberische Erpressung
Wird die Erpressung durch Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben begangen, so ist der Täter gleich einem Räuber zu bestrafen. 1. § 255 enthält einen erschwerten Fall der Erpressung und geht dieser vor. Andererseits liegt nicht räuberische Erpressung, sondern Raub vor, wenn der Täter mit Zueignungsabsicht sein Opfer zwingt, die Wegnahme einer für ihn fremden Sache zu dulden. Siehe hierzu ausführlich § 249 Anm. 5. 804
Zwanzigster Abschnitt: Raub und Erpressung
§ 256
2. Die Mittel der räuberischen Erpressung entsprechen grundsätzlich denen des Raubs. Nicht erforderlich ist, daß die Gewalt mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben des Opfers verbunden ist (BGH 18, 75). Wie beim Raub genügt jede Gewalt gegen eine Person. 3. Ebenso wie der räuberische Diebstahl enthält § 255 keine eigene Strafdrohung, sondern verweist auf die Strafdrohung des Raubs (§§ 249-251). Wegen der Konkurrenzen siehe § 249 Anm. 6, 7 und § 252 Anm. 6.
§ 256
Führungsaufsicht
In den Fällen der §§ 249 bis 255 kann das Gericht Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1 Nr. 2). Die Ausführungen zu § 245 (Anm. 1 und 2) gelten entsprechend.
805
Einundzwanzigster Abschnitt: Begünstigung und Hehlerei (§§257-262) § 257
Begünstigung
(1) Wer einem anderen, der eine rechtswidrige Tat begangen hat, in der Absicht Hilfe leistet, ihm die Vorteile der Tat zu sichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) D i e Strafe darf nicht schwerer sein als die für die Vortat angedrohte Strafe. (3) Wegen Begünstigung wird nicht bestraft, wer wegen Beteiligung an der Vortat strafbar ist. Dies gilt nicht für denjenigen, der einen an der Vortat Unbeteiligten zur Begünstigung anstiftet. (4) D i e Begünstigung wird nur auf Antrag, mit Ermächtigung oder auf Strafverlangen verfolgt, wenn der Begünstiger als Täter oder Teilnehmer der Vortat nur auf Antrag, mit Ermächtigung oder auf Strafverlangen verfolgt werden könnte. § 248 a gilt sinngemäß. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift enthält im Gegensatz zu § 257 aF nur den Fall der sog. sachlichen Begünstigung. Die sog. persönliche Begünstigung ist jetzt in § 258 unter der neuen Bezeichnung „Strafvereitelung" geregelt. Bei der Begünstigung will der Täter dem Vortäter die Vorteile der Tat sichern und dadurch die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands verhindern (Begünstigung als Restitutionsvereitelung, vgl. BGH 24, 166 m. zust. Anm. Maurach JR 1972, 70). Unter diesem Gesichtspunkt wäre es zu eng, nur die staatliche Rechtspflege als geschütztes Rechtsgut zu betrachten. Die Vorschrift dient vielmehr auch dem Schutz des Einzelnen, nämlich seinem Anspruch auf Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands (vgl. Dreher 2 vor § 257; Lackner 1; Stree JuS 1976, 137 sowie in Schönke-Schröder 2 m. weit. Nachw.). Schrifttum zur Neufassung: Blei JA 1974, StR 1 ff.; Stree JuS 1976, 137 ff. 2. Im Gegensatz zu Anstiftung und Beihilfe kommt Begünstigung erst nach vollendetem Delikt in Betracht. Andererseits wird Begünstigung nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Vortat zwar rechtlich vollendet, aber noch nicht tatsächlich abgeschlossen ist. Überschneidungen zwischen Beihilfe und Begünstigung können sich deshalb vor allem bei Dauerdelikten, aber auch bei Diebstahl und Raub ergeben. Ob in diesen Fällen Beihilfe oder Begünstigung vorliegt, hängt jeweils von der Vorstellung des Täters ab. Will er die Vortat beenden helfen, so liegt Beihilfe vor; Begünstigung dagegen, wenn es ihm darum geht, dem Vortäter die Vorteile der Tat zu sichern (BGH 4, 133; Baumann JuS 1963, 54; Lackner 2 b zu § 27; Maurach BT 727). Erfüllt er subjektiv sowohl die Voraussetzungen der Beihilfe als auch die der Begünstigung, so erfolgt die Bestrafung nur wegen Beihilfe (vgl. Mäurach BT 727; Stree in Schönke-Schröder 8; für Tateinheit jedoch Dreher 15). Zum Ganzen siehe auch Isenbeck NJW 1965, 2326 und Furtner MDR 1965,431. 3. Die Vortat muß eine rechtswidrige Tat sein (siehe hierzu § 11 Abs. 1 Nr. 5). Dabei kommt anders als bei der Hehlerei als Vortat nicht nur ein Vermögensdelikt, sondern jede 806
Einundzwanzigster Abschnitt: Begünstigung und Hehlerei
§ 257
Straftat in Betracht; nicht ausreichend sind Ordnungswidrigkeiten. Unter „Tat" ist auch der Tatbeitrag eines Teilnehmers zu einer Straftat eines anderen zu verstehen, außerdem der Versuch einer Straftat, sofem der Täter durch den Versuch bereits einen Vorteil erlangt hat. Die Tat muß rechtswidrig sein. Nicht erforderlich ist, daß der Täter schuldhaft gehandelt hat und daß die Vortat verfolgbar ist. Ob die Vortat tatbestandsmäßig ist, muß das mit der Sache befaßte Gericht selbständig prüfen (RG 58, 290). Eine Ausnahme ist nur in den Fällen zu machen, in denen der Vortäter im Zeitpunkt der Begünstigungshandlung bereits rechtskräftig verurteilt ist. Hier darf das Urteil nicht nochmals überprüft werden (RG 73, 333; a. A. Stree in Schönke-Schröder 13). 4. Die Tathandlung besteht im Hilfeleisten. Hierzu genügt jede Handlung, die nach der Vorstellung des Täters geeignet ist, die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands zu vereiteln oder zu erschweren (sog. unechtes Unternehmensdelikt, vgl. Stree in SchönkeSchröder 15). Hieraus folgt, daß Begünstigung nur solange in Betracht kommt, als der Vortäter sich noch im Genuß des durch die Tat erlangten Vorteils befindet (BGH 24, 166). Hieran fehlt es, wenn der Vortäter sich des Vorteils bereits entledigt hat, z. B. wenn er eine unterschlagene Sache verschenkt hat. Daher begeht der Beschenkte keine Begünstigung, wenn er dem Vortäter nach Aufdeckung der Tat die Sache wieder zurückgibt (BGH aaO. m. zust. Anm. Maurach JR 1972, 70; Stree in Schönke-Schröder 23). Demgegenüber sind als typische Beispiele der Begünstigung zu nennen: Aufbewahrung der Beute für den flüchtigen oder inhaftierten Täter, Abheben eines Geldbetrags von dem gestohlenen oder unterschlagenen Sparbuch, Verschenken eines Gegenstands im Auftrag des Diebs, Verbergen der Beute vor dem drohenden Zugriff der Polizei oder des Eigentümers, nicht dagegen Bergung der Beute, um sie vor Naturgewalten (Regen, Schnee, Sturm, Hochwasser) zu schützen, oder die Versorgung eines gestohlenen Tieres, damit es nicht verhungert (Stree in Schönke-Schröder 24). 5. Der subj. Tb. erfordert neben dem Vorsatz die Absicht, dem Vortäter die Vorteile der Tat zu sichern. a) Der Vorsatz muß die Kenntnis der Vortat umfassen. Nicht erforderlich ist allerdings, daß der Täter alle Einzelheiten der Vortat kennt und diese richtig wertet. Es genügt, daß er sich Tatumstände vorstellt, bei deren Vorliegen eine rechtswidrige Tat begangen worden ist (vgl. BGH 4, 224); anders jedoch, wenn er sich Umstände vorstellt, bei deren Vorliegen der Vortäter durch Notwehr oder andere Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt gewesen wäre. b) Die für den Vortäter erstrebten Vorteile brauchen keine Vermögensvorteile zu sein (vgl. RegE S. 248 BT-Drucks. 7/550). Die Absicht der Vorteilssicherung muß nicht der Beweggrund sein. Es genügt, daß es dem Täter auf diesen Erfolg zur Erreichung eines anderen Ziels ankommt (BGH 4, 107). Ein Taxifahrer kann sich daher nicht darauf berufen, er habe den Dieb und seine Beute nur befördert, um den üblichen Fahrlohn zu verdienen (BGH aaO.). 6. Der Versuch ist zwar als solcher nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt, jedoch ist andererseits zur Tatbestandsverwirklichung nicht erforderlich, daß die vom Täter für den Vortäter erstrebte Sicherung der Vorteile tatsächlich erreicht wird. Nach Art der Unternehmensdelikte (siehe hierzu § 11 Abs. 1 Nr. 6) genügt vielmehr zur Tatbestandsverwirklichung jede Handlung, die auf eine Vorteilssicherung abzielt (vgl. RG 50, 364; BGH
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26, 362; Dreher 6; Stree in Schönke-Schröder 16, 27; Schröder NJW 1962, 1039; Welzel 519). So liegt z. B. vollendete Begünstigung und nicht nur strafloser Versuch vor, wenn A ein von X gestohlenes Moped für X in seinem Keller versteckt, ohne zu wissen, daß die Polizei dem X gefolgt war und das Haus schon umstellt hat. Dagegen liegt nur (strafloser) Versuch vor, wenn das Moped entgegen der Vorstellung des A gar nicht aus einer rechtswidrigen Tat stammt, sondern X es nur vor seinen Eltern in Sicherheit bringen wollte. Ist die Begünstigung durch Vornahme der auf Vorteilssicherung abzielenden Hilfeleistung vollendet, so ist ein strafbefreiender Rücktritt nach § 24 nicht mehr möglich. Auch eine analoge Anwendung der bei einigen echten Unternehmungsdelikten enthaltenen Rücktrittsregelungen (vgl. z. B. §§ 83 a, 316 a Abs. 2) kommt wegen deren Ausnahmecharakter nicht in Betracht (vgl. Busch LK 7 zu § 46 a aF; a. A. Burkhardt JZ 1971, 352; Stree in Schönke-Schröder 27). 7. Teilnahme ist, soweit sich aus § 257 Abs. 3 nichts anderes ergibt, nach allgemeinen Grundsätzen strafbar. a) Die früher so umstrittene Frage, ob und inwieweit ein an der Vortat Beteiligter wegen Begünstigung eines anderen Beteiligten strafbar sein kann, ist jetzt in Abs. 3 gelöst. Nach dieser Vorschrift wird wegen Begünstigung (auch Teilnahme an einer Begünstigung) nicht bestraft, wer sich in strafbarer Weise an der Vortat beteiligt hat. Der Tb. der Begünstigung ist zwar erfüllt; das Verhalten ist auch rechtswidrig und schuldhaft, es entfällt jedoch die Strafbarkeit (persönlicher Strafausschließungsgrund). Dieser Regelung liegt der Gedanke zugrunde, daß derjenige, der durch die Beteiligung an einer Straftat einem anderen zu Vorteilen verholfen hat, nicht auch noch deshalb bestraft werden kann, weil er diese Vorteile nachträglich zu sichern versucht (vgl. RegE S. 248 BT-Drucks. 7/550). Die Begünstigungshandlung des an der Vortat Beteiligten stellt somit eine mitbestrafte Nachtat dar. Die Strafbarkeit bleibt deshalb unberührt, wenn der Begünstiger für seine Mitwirkung an der Vortat nur deshalb nicht verantwortlich gemacht werden kann, weil er ohne Schuld gehandelt hat (z. B. weil er im Zeitpunkt der Vortat schuldunfähig war). Dasselbe gilt, wenn die Vortat wegen eines Verfahrenshindernisses (z. B. fehlender Strafantrag oder Verjährung) nicht mehr verfolgt werden kann (übereinstimmend Blei JA 1974, StR S. 2; a. A. Stree JuS 1976,137,139 sowie in Schönke-Schröder 31). b) Der persönliche Strafausschließungsgrund des Abs. 3 S. 1 bezieht sich, wie sich aus der Formulierung „wegen Begünstigung . . ." ergibt, nur auf den Tb. des § 257. Hieraus folgt, daß sich die Straflosigkeit nicht auch auf andere Tatbestände erstreckt, die mit der Begünstigung in Idealkonkurrenz stehen. Lediglich für den Bereich der Strafvereitelung findet sich in § 258 Abs. 5 eine dem § 257 Abs. 3 S. 1 entsprechende Regelung. Wenn z. B. der Mittäter eines Diebstahls dem Geschädigten nach Abschluß der Tat droht, er werde ihn zusammenschlagen, falls er etwas unternehme, um die gestohlenen Gegenstände wieder in seinen Besitz zu bekommen oder gar Strafanzeige zu erstatten, so bleibt die Strafbarkeit wegen (vollendeter oder versuchter) Nötigung durch die in § 257 Abs. 3 S. 1 und § 258 Abs. 5 getroffene Regelung unberührt. Lediglich eine Bestrafung wegen Begünstigung und Strafvereitelung ist ausgeschlossen. c) Immer strafbar ist nach Abs. 3 S. 2 der Fall, daß ein an der Vortat Unbeteiligter durch einen ehemaligen Tatbeteiligten zur Begünstigung angestiftet wird. Der Gesetzgeber hat sich insoweit - abweichend von der in § 258 Abs. 5 für den Bereich der Strafvereitelung getroffenen Regelung - auf den (kriminalpolitisch zweifelhaften) Standpunkt gestellt, daß kein ausreichender Grund zur Annahme einer mitbestraften Nachtat besteht, wenn ein
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bisher Unbeteiligter in das strafbare Geschehen hineingezogen wird, ohne daß sich der Anstifter in einer notstandsähnlichen Lage befindet (vgl. RegE S. 249 BT-Drucks. 7/550). Straflos bleibt jedoch die seitens eines an der Vortat Beteiligten geleistete Beihilfe zur Begünstigung (vgl. RegE aaO.). 8. Abs. 2 schränkt den Strafrahmen dahin ein, daß die Strafe für die Begünstigung nicht höher sein darf als die für die Vortat angedrohte Strafe. Nimmt der Begünstiger irrig eine leichtere Vortat an, so ist in entsprechender Anwendung von § 16 Abs. 2 deren Strafrahmen maßgeblich. 9. Auf die Übernahme des früheren Abs. 3, wonach die vor der Tat zugesagte Begünstigung als Beihilfe zu bestrafen ist, wurde ersatzlos verzichtet. Soweit eine solche Zusage als Hilfeleistung zur Vortat zu werten ist, ist sie auch ohne ausdrückliche Vorschrift als Beihilfe strafbar (wobei dann zu beachten ist, daß die in der Begünstigung liegende Realisierung der Zusage nur noch eine mitbestrafte Nachtat darstellt, vgl. Abs. 3 sowie oben Anm. 7 a). Soweit eine psychische Beihilfe nicht vorliegt oder nicht nachweisbar ist, fehlt es an einem ausreichenden Grund für eine strengere Bestrafung (vgl. RegE S. 248 BT-Drucks. 7/550). Die Realisierung der Zusage ist vielmehr lediglich als Begünstigung strafbar. 10. Abs. 4 gestaltet die Vorschrift zu einem relativen Antragsdelikt, d. h. die Begünstigung ist nur auf Antrag, mit Ermächtigung oder auf Strafverlangen verfolgbar, wenn dies auch für die Vortat gilt. Durch die Verweisung auf § 248 a wird sichergestellt, daß in den Fällen, in denen es sich bei der Vortat um ein geringfügiges Vermögensdelikt handelt, die Strafverfolgung auch ohne Strafantrag dann zulässig ist, wenn die StA ein besonderes öffentliches Interesse bejaht (siehe auch die entsprechende Regelung in §§ 259 Abs. 2, 263 Abs. 4, 265 a Abs. 3 und 266 Abs. 3). Die Verweisung auf § 248 a will dagegen nicht alle Begünstigungen, die der Sicherung geringwertiger Vorteile dienen, zu relativen Antragsdelikten machen (vgl. Dreher 14; Stree JuS 1976, 137, 139 sowie in SchönkeSchröder 38; a. A. Lackner 8). Dies ergibt sich aus dem engen Zusammenhang mit Satz 1. 11. Konkurrenzen: Über das Verhältnis zur Beihilfe s. o. Anm. 2, 9. Tateinheit ist möglich mit §§ 258, 258 a, 259 (vgl. § 259 Anm. I 2), außerdem mit §§ 113, 153 ff., 223 ff., 240, 253, 263. Im Verhältnis zum Diebstahl besteht die Möglichkeit der Wahlfeststellung (vgl. BGH 23,360 m. Anm. Hruschka NJW 1971,1392 und Schröder JZ 1971,141).
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Strafvereitelung
(1) Wer absichtlich oder wissentlich ganz oder zum Teil vereitelt, daß ein anderer dem Strafgesetz gemäß wegen einer rechtswidrigen Tat bestraft oder einer Maßnahme ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 8) unterworfen wird, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer absichtlich oder wissentlich die Vollstreckung einer gegen einen anderen verhängten Strafe oder Maßnahme ganz oder zum Teil vereitelt. 809
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(3) Die Strafe darf nicht schwerer sein als die für die Vortat angedrohte Strafe. (4) Der Versuch ist strafbar. (5) Wegen Strafvereitelung wird nicht bestraft, wer durch die Tat zugleich ganz oder zum Teil vereiteln will, daß er selbst bestraft oder einer Maßnahme unterworfen wird oder daß eine gegen ihn verhängte Strafe oder Maßnahme vollstreckt wird. (6) Wer die Tat zugunsten eines Angehörigen begeht, ist straffrei. I. Das EGStGB hat die früher unter der Bezeichnung persönliche Begünstigung bekannten Fälle der Verfolgungs- und Vollstreckungsvereitelung aus dem jetzt ausschließlich der sog. sachlichen Begünstigung vorbehaltenen Bereich des § 257 herausgenommen und in § 258 einer grundlegenden Umgestaltung unterzogen. Abs. 1 behandelt die Verfolgungsvereitelung, Abs. 2 die Vollstreckungsvereitelung; in § 258 a wird die früher in § 346 behandelte Strafvereitelung im Amt unter Strafe gestellt (unechtes Amtsdelikt). Geschütztes Rechtsgut ist in allen Tatbeständen die staatliche Rechtspflege, in § 258 a außerdem das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Integrität der Amtsführung. Abs. 3 bringt eine Einschränkung des Strafrahmens, in Abs. 4 wird der Versuch unter Strafe gestellt, Abs. 5 enthält einen persönlichen Strafausschließungsgrund für den Täter oder Teilnehmer der Vortat, Abs. 6 enthält einen persönlichen Strafausschließungsgrund für Angehörige. Aus den Gesetzesmaterialien zur Neufassung siehe insbesondere die Begründung des RegE (S. 249 BT-Drucks. 7/550) und den Ber. d. Sonderausschusses (S. 18 BT-Drucks. 7/1261). Aus dem Schrifttum zur Neufassung siehe Blei J A 1974, StR S. 3 sowie Stree JuS 1976, 137,139. Die Verfolgungsvereitelung des Abs. 1 erfaßt nicht nur die Vereitelung Bestrafung, sondern auch die Vereitelung der Anordnung einer Maßnahme.
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1. Z u den im Strafgesetz vorgesehenen Strafen gehören sowohl die sog. Hauptstrafen (Freiheitsstrafe und Geldstrafe, vgl. §§ 38 ff.) als auch die Nebenstrafen und Nebenfolgen (vgl. §§ 44 ff.), nicht dagegen Disziplinarmaßnahmen, Geldbußen nach dem OWiG, prozessuale Ordnungsmittel sowie die nach dem J G G zulässigen Rechtsfolgen. Auf eine Übernahme der in § 447 Abs. 7 E 1962 vorgesehenen Regelung, wonach der Jugendarrest einer Maßnahme gleichsteht, wurde bedauerlicherweise verzichtet. Zu den Maßnahmen gehören nach § 11 Abs. 1 Nr. 8 alle Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 63 ff.), außerdem Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung (§§ 73ff.). Die Einbeziehung des Verfalls führt in diesem Zusammenhang zu kriminalpolitisch unbefriedigenden Konsequenzen (vgl. Stree JuS 1976, 137, 140 sowie in SchönkeSchröder 15). 2. Über rechtswidrige Tat siehe § 11 Abs. 1 Nr. 5. Die Vortat muß also mindestens tatbestandsmäßig und rechtswidrig gewesen sein. O b sie auch schuldhaft begangen und verfolgbar sein muß, hängt davon ab, ob die Vereitelung der Bestrafung oder die Vereitelung einer Maßnahme in Frage steht. Die Vereitelung der Bestrafung setzt eine volldeliktisch begangene Vortat voraus, bei der weder ein persönlicher Strafausschließungsgrund noch ein Verfolgungshindernis eingreift; bei der Vereitelung einer Maßnahme (siehe
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hierzu § 11 Abs. 1 Nr. 8 sowie oben II 1) kommt es dagegen vielfach auf ein schuldhaftes Handeln des Vortäters nicht an. Beispiel: A versteckt einen geisteskranken Brandstifter X bei sich in der Wohnung, um zu verhindern, daß X gemäß § 63 in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wird.
3. Die Tathandlung besteht darin, daß die Verfolgung ganz oder teilweise vereitelt wird. Entgegen der früheren Rechtslage handelt es sich also nicht mehr um ein Unternehmensdelikt, sondern um ein Erfolgsdelikt, bei dem der Versuch jedoch unter Strafe gestellt ist (Abs. 4). a) Vereitelt ist die Bestrafung bzw. Anordnung einer Maßnahme nicht erst dann, wenn sie überhaupt nicht mehr ausgesprochen werden kann (z. B. wegen Eintritts der Verjährung); in Anlehnung an die Rspr. und Lehre zu § 346 aF genügt es vielmehr, daß die erforderlichen staatlichen Maßnahmen infolge des Verhaltens des Täters „für geraume Zeit" nicht getroffen werden können (vgl. RegE S. 249 BT-Drucks. 7/550; Blei JA 1973, StR S. 4; kritisch zur Neufassung Fr. Chr. Schroeder NJW 1976, 980). Beispiel: X wird auf Grund eines Meineids freigesprochen, in der Berufungsinstanz dann aber nach einigen Monaten doch verurteilt; - oder: A stellt dem aus U-Haft entflohenen X einen Pkw zur Verfügung, mit dem X seine Flucht fortsetzt, sich nach 10 Tagen aber wieder stellt (Stgt Justiz 1976, 439; enger dagegen Stree JuS 1976, 137, 140 sowie in Schönke-Schröder 16 unter Bezugnahme auf BGH NJW 1959, 495). Aus der Rspr. zur vergleichbaren Rechtslage in § 346 aF siehe RG 70,254; BGH 15,21; GA 1959,178; Celle JR 1947,125. b) Teilweise vereitelt ist der staatliche Strafanspruch bzw. das staatliche Interesse an der Anordnung einer Maßregel, wenn der Vortäter durch das Verhalten des Täters besser „aus der Sache herauskommt", als dies der materiellen Rechtslage entspricht, z. B. wenn er nur wegen eines Vergehens anstatt wegen eines Verbrechens verurteilt wird oder wenn - z. B. aufgrund einer unrichtigen oder gefälschten Auskunft aus dem BZR oder der VZK - auf eine mildere Strafe oder eine kürzere Sperrfrist für die Wiedererteilung einer entzogenen Fahrerlaubnis erkannt wird. c) Weitere Beispiele und Sonderfälle: aa) Typische Beispiele für Vereitelungshandlungen sind das Verbergen des Täters auf der Flucht vor der Polizei, die Einwirkung auf einen Polizeibeamten, keine Anzeige zu erstatten (RG 9, 242), die Vernichtung von Beweismitteln sowie falsche Aussagen eines Zeugen vor Polizei und Gericht. bb) Die Zeugnisverweigerung ist nur dann als Strafvereitelung strafbar, wenn eine Pflicht zur Aussage besteht, also nur vor Gericht und Staatsanwaltschaft (sofern kein Zeugnisverweigerungsrecht nach § § 5 2 ff. StPO besteht), nicht gegenüber der Polizei. Die wahrheitswidrige Behauptung, nichts zu wissen, geht über eine Zeugnisverweigerung hinaus und kann daher als Strafvereitelung strafbar sein (RG 54, 41; BayObLG NJW 1966, 2177; Ruß LK 12; Stree in Schönke-Schröder 17). Die Einwirkung auf eine zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigte Person, von ihrem Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, ist nur dann als Strafvereitelung strafbar, wenn dabei unlautere Mittel, z. B. Täuschung, Drohung oder Bestechung, angewandt werden (vgl. BGH 10, 393 m. Anm. Ackermann MDR 1958, 48; Ruß LK 15). Entsprechendes gilt für die Einwirkung auf den Geschädigten, von einer Strafanzeige abzusehen (vgl. Ruß LK 12; a. A. RG 14, 88; 23,105). 811
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cc) Der Tb. kann auch durch Unterfassen verwirklicht werden, sofern eine Rechtspflicht zum Handeln besteht, z. B. bei Polizeibeamten, die pflichtwidrig keine Anzeige vorlegen, oder bei Bediensteten der Staatsanwaltschaft, die durch Nichtbearbeitung der Akten die Sache bewußt verjähren lassen, aber auch bei Ärzten die sich unter Verletzung vertraglicher oder dienstrechtlicher Pflichten weigern, bei einem Verkehrssünder eine Blutprobe zu entnehmen (vgl. Händel BA 1977, 193). Eine allgemeine Anzeigepflicht besteht dagegen selbst bei Kapitalverbrechen nicht. Keine strafbare Strafvereitelung liegt deshalb vor, wenn A es unterläßt, die Polizei darauf hinzuweisen, daß sich ein steckbrieflich gesuchter Mörder in der Scheune seines Nachbarn aufhält. (Duldet A allerdings, daß X in seiner eigenen Scheune übernachtet, so liegt Strafvereitelung durch aktives Tun vor, so daß sich die Frage nach einer Garantenstellung nicht erhebt.) Selbst ein Warenhausdetektiv, dessen vertragliche Aufgabe darin besteht, Diebstähle seitens der Kundschaft oder der Angestellten aufzuklären und zur Anzeige zu bringen, macht sich weder der Begünstigung noch der Strafvereitelung schuldig, wenn er einen von ihm gestellten Dieb - gleich aus welchem Grund - pflichtwidrig mit der Beute entweichen läßt. Er verletzt in diesem Fall nur seine Treupflicht gegenüber seinem Geschäftsherrn, was eine Bestrafung wegen Untreue nach sich ziehen kann; eine Rechtspflicht zum Schutz der staatlichen Rechtspflege (geschütztes Rechtsgut sowohl in § 257 als auch in § 258) ist dagegen abzulehnen (vgl. Stree in Schönke-Schröder 19). Auch Dienstvorgesetzte sind, sofern es sich nicht um den in § 258 a genannten Personenkreis handelt, nur dann zur Anzeige verpflichtet, wenn es sich im Falle der Nichtanzeige um einen offensichtlichen Ermessensmißbrauch handelt (vgl. BGH 4, 167, 170; Dreher 4 zu § 258 a; Lackner 2; Stree in Schönke-Schröder 19). dd) Die ärztliche Behandlung eines flüchtigen Täters ist selbst dann keine strafbare Strafvereitelung, wenn nur durch sie die Flucht gelingt. Es entfällt in diesem Fall nicht erst die Rechtswidrigkeit oder die Schuld, sondern bereits die Tatbestandsmäßigkeit, da die ärztliche Behandlung ihrem sozialen Sinn nach keine Strafvereitelung, sondern die Erfüllung einer humanitären Pflicht ist. Daß der Arzt keine Anzeigepflicht hat, ergibt sich Bereits aus den Ausführungen unter lit. cc). Im Falle einer Anzeige würde sich der Arzt u. U. sogar eines Vergehens gemäß § 203 (Verletzung eines Privatgeheimnisses) schuldig machen. ee) Auch eine korrekt geführte Strafverteidigung erfüllt schon ihrem sozialen Sinn nach nicht den Tb. der Strafvereitelung, so daß nicht erst nach Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgründen gesucht werden muß, wenn ein Anwalt für seinen Mandanten auf Freispruch plädiert, obwohl er von seiner Schuld überzeugt ist (vgl. BGH 2, 375 sowie bei Daliinger MDR 1957, 267). Im Rahmen einer zulässigen Verteidigung liegt es auch, wenn ein Verteidiger seinem Mandanten den Rat gibt, von einer Selbstanzeige Abstand zu nehmen (BGH 2, 378) oder die Aussage zu verweigern (abzulehnen deshalb Oldenburg GA 1956, 189). Entsprechendes gilt für die Einwirkung auf Zeugen (s. o. lit. bb). Der Rahmen zulässiger Strafverteidigung wird jedoch verlassen, wenn ein Verteidiger mit dem Ziel, seinen Mandanten der Bestrafung zu entziehen, Beweismittel fälscht oder beiseiteschafft, wenn er Kassiber aus der Haftanstalt herausschmuggelt und dadurch die Verdunkelung der Sache gefährdet (vgl. LG Hamburg JW 1938, 448; Ruß LK 15), wenn er bewußt das Beweisergebnis verzerrt (RG 66, 325) oder Zeugen benennt, von denen er weiß, daß sie zur Falschaussage bereit sind. Siehe hierzu auch §§ 138 a ff. StPO sowie Köln NJW1975,459. 812
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III. Die VoUstreckungsvereitelung des Abs. 2 erfaßt ebenfalls nicht nur die Fälle der Strafvereitelung, sondern auch die Vereitelung einer gerichtlich angeordneten Maßnahme. Die Vorschrift übernimmt damit die Funktion des früheren § 257 a. 1. Über Strafen und Maßnahmen s. o. II 1. Bei Maßnahmen ist nicht erforderlich, daß die Maßnahme sich gegen den richtet, der die Tat begangen hatte. Beispiel: Der Abschleppunternehmer A, auf dessen Gelände die Polizei einem dem Y gehörenden Pkw abgestellt hat, den das Gericht in einem Verfahren gegen X gemäß § 74 a eingezogen hat, gibt den Pkw pflichtwidrig an Y heraus, so daß dieser ihn an einen gutgläubigen Dritten verkaufen und dadurch der staatlichen Verwertung entziehen kann. 2. Die gerichtliche Entscheidung, auf der die Strafe bzw. Maßnahme beruht, muß rechtskräftig sein (bis zur Rechtskraft kommt nur Abs. 1 in Betracht). Das mit dem Verfahren wegen Vollstreckungsvereitelung befaßte Gericht ist weder berechtigt noch verpflichtet, die materiellen Voraussetzungen des wegen der Vortat ergangenen Urteils zu überprüfen (vgl. RG 73, 333; RegE S. 250 BT-Drucks. 7/550; Lackner 4). 3. Die Tathandlung entspricht der des Abs. 1. Auf Anm. II 3 kann insoweit verwiesen werden. Als typische Beispiele für Vereitelungshandlungen nach der rechtskräftigen Verurteilung sind zu nennen das Verbergen des Täters (RG 73, 331), die Förderung seiner Flucht sowie seine Befreiung aus der Vollzugsanstalt. Auch die Verbüßung einer Freiheitsstrafe für den Verurteilten wird allgemein als tatbestandsmäßig angesehen (vgl. RG 8, 366; h. L.). Differenziert behandelt wird jedoch die Frage, ob auch die Zahlung einer Geldstrafe eine Strafvereitelung darstellt. Nahezu unbestritten liegt keine Strafvereitelung vor, wenn der zu Strafe Verurteilte sich verpflichtet, das für ihn eingezahlte oder ihm zur Verfügung gestellte Geld wieder zurückzuzahlen, wenn es sich also nur um ein Darlehen handelt (vgl. Ruß LK 12; Stree JZ 1964, 588 m. weit. Nachw.). Dagegen soll strafbare Strafvereitelung vorliegen, wenn eine solche Verpflichtung des Verurteilten fehlt und sein Gönner die Strafe unmittelbar bezahlt (vgl. RG 30, 232; Mäurach BT 731; Ruß LK 12; Stree in Schönke-Schröder 28). Dazwischen liegt der Fall, daß der Gönner dem Verurteilten den erforderlichen Betrag schenkt (für Strafbarkeit auch in diesem Fall BGH NJW 1964, 1272). Diese Differenzierung kann nicht überzeugen. Die Rechtsordnung kann es weder verbieten noch verhindern, daß jemand einen straffällig Gewordenen aus Mitleid oder einem anderen Grund finanziell unterstützt. Ein solches Verhalten ist sozial adäquat und damit nicht tatbestandsmäßig. Strafbarkeit gemäß § 258 ist deshalb abzulehnen (vgl. Dreher 9; zum Ganzen siehe auch Blei JA 1969, StR 48, 78; Brüggemann GA 1968, 161; Lange, Engisch-Festschr. S. 621; Stree JZ 1964, 588). IV. Der subj. Tb. erfordert sowohl in Abs. 1 als auch in Abs. 2 hinsichtlich der Strafvereitelung mindestens direkten, d. h. unbedingten Vorsatz („absichtlich oder wissentlich"). Es genügt also nicht, daß jemand die Strafvereitelung als Folge seines Verhaltens nur für möglich hält und sich damit abfindet (vgl. RegE S. 250 BT-Drucks. 7/550). Hinsichtlich der übrigen Tatbestandsmerkmale genügt allgemein Vorsatz, damit auch bedingter Vorsatz (Blei JA 1974, StR S. 99; Dreher 10; Lackner 5). Dies gilt insbesondere für das Vorliegen einer rechtswidrigen Tat in Abs. 1 und das Vorliegen eines rechtskräftigen Urteils in Abs. 2. Nicht erforderlich ist, daß der Täter die Einzelheiten der Vortat kennt und diese richtig wertet. Es genügt, daß er sich Tatumstände vorstellt, bei deren Vorliegen eine rechtswidrige Tat (siehe hierzu § 11 Abs. 1 Nr. 5 sowie oben Anm. II 2) gegeben ist. Macht sich der Täter keine Gedanken darüber, ob sich die Sache noch im Erkenntnisver813
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fahren oder schon im Vollstreckungsverfahren befindet, so reicht sein Vorsatz sowohl für eine Bestrafung wegen Verfolgungs- als auch wegen Vollstreckungsvereitelung aus. Da der Vorsatz des Abs. 1 dem des Abs. 2 gleichwertig ist, ist auch ein Irrtum über den Stand des Verfahrens unerheblich. Wer z. B. einen rechtskräftig verurteilten Täter, dessen Tat er kennt, auf der Flucht vor der Polizei unterstützt, ohne zu wissen, daß schon ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, wird ungeachtet dieses Irrtums wegen Vollstreckungsvereitelung nach Abs. 2 bestraft. Unerheblich ist schließlich auch ein Irrtum über die Person des Vortäters, sofern dieser nur individualisierbar ist. Beispiel: A stellt sich einem Polizeibeamten in den Weg, der offensichtlich einen flüchtigen Verbrecher verfolgt. Gelingt diesem durch das Dazwischentreten des A die Flucht, so liegt eine Strafvereitelung nach Abs. 1 oder Abs. 2 auch dann vor, wenn A weder den Flüchtigen noch seine Taten gekannt hat. Es genügt, daß es ihm darauf ankam, ihn vor der drohenden Bestrafung wegen einer rechtswidrigen Tat oder vor der Vollstreckung einer bereits rechtskräftigen Strafe zu bewahren. Weitergehende Vorstellungen sind nicht erforderlich. V. Die Beschränkung des Strafrahmens in Abs. 3 entspricht der für die Begünstigung in § 257 Abs. 2 getroffenen Regelung. Die Strafvereitelung soll nicht schwerer bestraft werden als die Tat, auf die sie sich bezieht. - Auf eine dem früheren § 257 Abs. 3 entsprechende Vorschrift für die vor der Tat zugesagte Strafvereitelung wurde bewußt verzichtet. Auf die Ausführungen zu § 257 (siehe dort Anm. 9) wird insoweit verwiesen. VI. Die Strafdrohung für den Versuch (Abs. 4) ergibt sich daraus, daß die Tatbestände der Abs. 1 und 2 entgegen der früheren Regelung in § 257 aF nicht mehr als Unternehmens-, sondern als Erfolgsdelikte konzipiert sind. Die neue Regelung ist insofern täterfreundlicher, als der Täter nunmehr die Möglichkeit hat, mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch zurückzutreten. VII. Täterschaft und Teilnahme sind nach allgemeinen Grundsätzen strafbar. Besonderheiten sind für den Täter oder Teilnehmer der Vortat zu beachten. Dieser bleibt nach Abs. 5 straflos, wenn er durch die Tat sich selbst der Bestrafung oder der Vollstreckung einer bereits rechtskräftig ausgesprochenen Strafe oder Maßnahme entziehen will (persönlicher Strafausschließungsgrund, siehe auch Anm. 7 a zu § 257). Unerheblich ist, ob dem Begünstigten tatsächlich oder nur vermeintlich strafrechtliche Sanktionen drohen. Entscheidend ist allein die Vorstellung des Begünstigers (. . . „vereiteln will", vgl. Stree JuS 1976, 137, 141 sowie in Schönke-Schröder 35). Da eine dem § 257 Abs. 3 S. 2 entsprechende Vorschrift in § 258 Abs. 5 fehlt, bleibt der an der Vortat Beteiligte auch dann straflos, wenn er einen an der Vortat Unbeteiligten zur Strafvereitelung anstiftet (Krhe Justiz 1975, 351). Die entgegenstehende, vom Schrifttum überwiegend abgelehnte Entscheidung BGH 17,236 ist gegenstandslos geworden. Unerheblich ist, ob der Wille, sich selbst der strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen, das überwiegende oder gar ausschließliche Motiv gewesen ist. Es genügt, daß es für die Tat mitbestimmend gewesen ist. Weiter ist zu beachten, daß ein Zusammenhang mit der eigenen Tat und der begünstigten Tat nicht erforderlich ist (so schon RG 63, 233 ff., 240 ff.); vielmehr bleibt jede Strafvereitelung straflos, die in der Absicht geschieht, sich drohenden strafrechtlichen Sanktionen zu entziehen. VIII. Bei dem Angehörigenprivileg des Abs. 6 handelt es sich ebenfalls um einen persönlichen Strafausschließungsgrund.
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Einundzwanzigster Abschnitt: Begünstigung und Hehlerei
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1. Nach BGH 14, 172 (übereinstimmend RegE S. 251 BT-Drucks. 7/550) bleibt der Angehörige auch dann straflos, wenn er die Strafvereitelung nicht selbst vornimmt, sondern Dritte dazu anstiftet. Dasselbe gilt, wenn durch die Vereitelungshandlung nicht nur eigene Angehörige, sondern zugleich unbeteiligte Dritte begünstigt werden (vgl. Celle NJW 1973, 1937 zu § 257 aF). 2. Wird durch die Strafvereitelung ein weiterer Tatbestand verwirklicht, mit dem § 258 in Tateinheit steht, so bleibt die Strafbarkeit wegen dieses anderen Delikts unberührt. Wenn z. B. A seinen Bruder B aus der Vollzugsanstalt gewaltsam befreit, schließt § 258 Abs. 6 nur die Strafbarkeit wegen Strafvereitelung aus. Die Strafbarkeit wegen Gefangenenbefreiung, Körperverletzung, Nötigung, Sachbeschädigung usw. bleibt hiervon jedoch unberührt. 3. Da Abs. 6 eine notstandsähnliche Konfliktsituation berücksichtigt, sind auftretende Irrtumsprobleme entsprechend der Rechtslage bei einem Irrtum über das Vorliegen einer schuldausschließenden Notstandslage zu behandeln (vgl. Wessels AT 91; a. A. RG 61, 270 sowie die h. L., wonach ausschließlich auf die objektive Lage abzustellen ist). Der Täter bleibt also in analoger Anwendung von § 35 Abs. 2 auch dann straflos, wenn er den Begünstigten aufgrund eines unverschuldeten Irrtums für einen Angehörigen hält; war der Irrtum vermeidbar, so ist die Strafe gemäß § 49 Abs. 1 zu mildern (weitergehend Stree JuS 1976, 137, 141 sowie in Schönke-Schröder 39: in entsprechender Anwendung der zu Abs. 5 entwickelten Grundsätze bleibt der Begünstigte auch bei vermeidbarem Irrtum straflos). Im umgekehrten Fall (der Täter weiß nicht, daß der von ihm Begünstigte ein naher Angehöriger ist), findet § 258 Abs. 6 keine Anwendung, da das Angehörigenverhältnis für die Willensbildung nicht entscheidend war. IX. M i t i s t möglich mit §§ 120 f., 153 f., 164, 223 ff., 240, 257,259, 267, 271, 303.
§ 258 a
Strafvereitelung im Amt
(1) Ist in den Fällen des § 258 Abs. 1 der Täter als Amtsträger zur Mitwirkung bei dem Strafverfahren oder dem Verfahren zur Anordnung der Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) oder ist er in den Fällen des § 258 Abs. 2 als Amtsträger zur Mitwirkung bei der Vollstreckung der Strafe oder Maßnahme berufen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) § 258 Abs. 3,6 ist nicht anzuwenden. 1. Die durch das EGStGB an dieser Stelle neu eingefügte Vorschrift tritt an die Stelle des früheren § 346. Im Gegensatz zu § 346, der überwiegend als echtes Amtsdelikt behandelt wurde (vgl. BGH 5, 76 m. Nachw.), handelt es sich bei der Neufassung um einen unselbständigen Erschwerungstatbestand der in § 258 unter Strafe gestellten Strafvereitelung. Für Beteiligte, die selbst nicht zum Täterkreis des Abs. 1 gehören, ist deshalb § 28 Abs. 2 zu beachten. Eine weitere wesentliche Abweichung gegenüber dem früheren Recht besteht darin, daß die Tat jetzt nur noch als Vergehen mit Strafe bedroht ist. 815
§ 258 a
Einundzwanzigster Abschnitt: Begünstigung und Hehlerei
2. Täter kann nur ein Amtsträger sein (siehe hierzu § 11 Abs. 1 Nr. 2), der zur Mitwirkung an dem jeweiligen Verfahren berufen ist. a) Zur Mitwirkung bei einem Strafverfahren oder Verfahren zur Anordnung einer Maßnahme (siehe § 258 Anm. II 1) berufen sind insbesondere Beamte des Polizeidienstes nach den §§ 161, 163 StPO, Staatsanwälte, Strafrichter, Amtsträger der Finanzverwaltung in Steuer- und Zollstrafsachen (vgl. RegE S. 251 BT-Drucks. 7/550), außerdem Beamte des Bahnpolizeidienstes (RG 57, 19) sowie Bürgermeister, soweit sie nach Landesrecht (z. B. in Bad.-Wttbg) als Ortspolizeibehörde tätig sind (BGH 12, 277). b) Täter einer Vollstreckungsvereitelung können nur Amtsträger sein, die zur Mitwirkung bei der Vollstreckung einer Strafe oder Maßnahme berufen sind. In Betracht kommen insbesondere das Vollzugspersonal in Straf- und Unterbringungsanstalten, außerdem Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger, die mit der Vollstreckung betraut sind. c) Unerheblich ist, ob es sich um einen Amtsträger in verantwortlicher Stellung handelt und ob der Amtsträger gerade für den konkreten Fall zuständig ist (vgl. BayObLG JZ 1961, 453 m. abl. Anm. Geerds; RegE S. 251 BT-Drucks. 7/550). Tatbestandsmäßig handeln deshalb auch ein Polizeifreiwilliger, der es bei der Fahrzeugkontrolle pflichtwidrig unterläßt, gegen den offensichtlich betrunkenen Kraftfahrer einzuschreiten, oder ein Vollzugsbeamter, der einem außerhalb seines eigenen Zuständigkeitsbereichs untergebrachten Strafgefangenen die Möglichkeit zur Flucht gibt. Tauglicher Täter ist auch der jeweilige Amtsvorgesetzte des zuständigen Amtsträgers. 4. Die Tathandlung entspricht in beiden Tatbestandsalternativen der des § 258, so daß auf die dortigen Ausführungen (Anm. II 3, III 3) verwiesen werden kann. a) Beispiele für Fälle der Verfolgungsvereitelung: Der Polizeibeamte P unterläßt es, gegen seinen Freund F Strafanzeige wegen Trunkenheit am Steuer vorzulegen. - Oder: P legt zwar Anzeige vor, aber unter einem milderen rechtlichen Gesichtspunkt, z. B. nur als Ordnungswidrigkeit anstatt als Straßenverkehrsgefährdung. - Oder: Staatsanwalt S stellt das Verfahren gegen seinen Freund F pflichtwidrig ein. - Oder: S beantragt zwar den Erlaß eines Strafbefehls, setzt aber eine so niedrige Strafe ein, daß von einer pflichtgemäßen Ermessensentscheidung nicht mehr gesprochen werden kann. - Über säumige Aktenbearbeitung s. u. lit. c. b) Beispiele für Fälle der Vollstreckungsvereitelung: Die Strafe oder Maßnahme wird überhaupt nicht vollstreckt, ohne daß hierfür ein rechtfertigender Grund vorliegt. Oder: Der Vollzug wird in ungesetzlicher Weise verzögert, verkürzt oder erleichtert, z. B. einem Gefangenen wird unzulässiger „Wochenendurlaub" gewährt. Nicht ausreichend sind dagegen sonstige unzulässige Vergünstigungen, die das Leben in der Anstalt erleichtern, z. B. bessere Verpflegung, leichtere Arbeit, bequemere Zelleneinrichtung, großzügigere Regelung der Besuchserlaubnis. Derartige Vergünstigungen können nur disziplinarrechtlich geahndet werden. c) Der Tb. kann auch durch Unterlassen verwirklicht werden, sofern eine Rechtspflicht zum Handeln besteht. So ist ein Polizeibeamter gemäß § 163 StPO verpflichtet, strafbare Handlungen zu erforschen und alle Anordnungen zu treffen, um die Verdunkelung der Sache zu verhüten (Abs. 1). Alsdann hat er die Akten unverzüglich der StA oder dem Richter am Amtsgericht vorzulegen (Abs. 2). Für den Staatsanwalt ergeben sich entsprechende Pflichten aus §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 StPO. Diese Bestimmungen gelten 816
Einundzwanzigster Abschnitt: Begünstigung und Hehlerei
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jedoch uneingeschränkt nur dann, wenn der Amtsträger dienstlich von seiner Straftat Kenntnis erlangt. Private Kenntnis verpflichtet nur dann zum Einschreiten, wenn es sich um schwere, die Öffentlichkeit besonders berührende Straftatenhandelt (BGH 5,225,229; 12, 280; h. L„ vgl. Stree in Schönke-Schröder 11; weitergehend Stgt NJW 1950, 198; abzulehnen andererseits auch Krause GA 1964, 110 und Wagner, Amtsverbrechen, 1975, S. 294, die bei privat erlangter Kenntnis eine Pflicht zum Einschreiten überhaupt ablehnen). Hierher wird man alle in § 138 genannten Kapitalverbrechen rechnen müssen; darüber hinaus nur solche Verbrechen und Vergehen, die sich z. B. durch besondere Brutalität oder durch das Ausmaß des Schadens auszeichnen. Läßt ein Richter, StA oder Polizeibeamter Akten monatelang unbearbeitet liegen, so daß die Beschuldigten für geraume Zeit ihrer Bestrafung entzogen werden, so steht dieses Unterlassen der aktiven Strafvereitelung dann gleich, wenn der Amtsträger seine Pflicht, Straftäter ihrer gerechten Strafe zuzuführen, in vorwerfbarer Weise verletzt hat. Beruht die Nichtbearbeitung auf Überlastung, so ist der Amtsträger verpflichtet, seinen Vorgesetzten auf diesen Zustand und die sich hieraus ergebenden Folgen hinzuweisen (BGH 15,18, 22; LG Kiel DRiZ 1976,217; Stree in Schönke-Schröder 10). 5. Der subj. Tb. entspricht dem des § 25 8 (siehe dort Anm. IV). 6. Die Rechtswidrigkeit kann durch rechtfertigenden Notstand entfallen. Beispiele: Bei einer Demonstration werden von einzelnen Demonstranten Straftaten von geringerer Bedeutung begangen. Die Polizei unterläßt die an sich gebotene vorläufige Festnahme der Störer, da die Gefahr besteht, daß im Falle der Festnahme die aufgehetzte Menge Gewalttätigkeiten erheblicher Art begeht, die von der Polizei nicht oder nur unter Gebrauch von Schußwaffen verhindert werden könnten. - Oder: Die Polizei unterläßt die Festnahme eines Bankräubers, um einen Schußwechsel zu vermeiden, bei dem Geiseln oder unbeteiligte Personen getötet oder erheblich verletzt werden können. - Oder: Entlassung von Strafgefangenen, um das Leben einer entführten Geisel zu retten (Fall Peter Lorenz; aus dem Schrifttum hierzu siehe insbesondere Krey ZRP 1975, 97). 7. Das Angehörigenprivileg des § 258 Abs. 6 gilt für den Bereich des § 258 a nicht (Abs. 3). Der Amtsträger kann demnach keinen persönlichen Strafausschließungsgrund für sich in Anspruch nehmen, wenn er die Tat zugunsten eines Angehörigen begeht (BGH NJW 1955, 1488). Das sich aus § 258 Abs. 6 ergebende Angehörigenprivileg sonstiger Tatbeteiligter, die selbst nicht zu dem Personenkreis des § 258 a gehören, bleibt gemäß § 28 Abs. 2 unberührt. 8. Da sich die Ausschlußwirkung des Abs. 3 nicht auch auf § 258 Abs. 5 bezieht, ist die Selbstbegünstigung auch im Bereich des § 258 a grundsätzlich straflos. Der Amtsträger wird also nicht wegen Strafvereitelung im Amt bestraft, wenn er die Tat begeht, um sich selbst wegen seiner Beteiligung an der Vortat der strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen. Ein Polizeibeamter, der an der Vortat selbst als Täter, Teilnehmer, Hehler oder Begünstiger beteiligt war, ist deshalb nicht verpflichtet, an der Aufklärung dieser Tat mitzuwirken und die übrigen Teilnehmer zur Anzeige zu bringen (BGH 6, 20). Strafbar bleiben jedoch die Fälle, in denen der Amtsträger sich nicht seiner strafrechtlichen Verfolgung, sondern nur einem Disziplinarverfahren entziehen will (RG 70, 251). Wie bei § 258 Abs. 3 ist nicht erforderlich, daß die Vortat, auf die sich die Strafvereitelung bezieht, mit der eigenen Tat, deren strafrechtliche Ahndung der Amtsträger fürchtet, 817
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Einundzwanzigster Abschnitt: Begünstigung und Hehlerei
identisch ist. In Übereinstimmung mit der früheren Rspr. zu § 346 aF (vgl. RG 70, 253; B G H 4 , 167;5, 155, 167) bleiben jedoch die Fälle strafbar, in denen sich der Amtsträger erst nach der Tat, auf die sich die Strafvereitelung bezieht, schuldhaft in eine Zwangslage versetzt, z. B. dadurch, daß er sich von der anzuzeigenden Person bestechen läßt (vgl. RegES. 252 BT-Drucks. 7/550; Blei JA 1974,StR28; Stree JuS 1976, 137,142). 9. Der Versuch ist nach Abs. 2 strafbar. Beispiel: Ein Polizeibeamter unterläßt eine Anzeige gegen einen guten Bekannten, von dem er nur irrig annimmt, er habe sich strafbar gemacht. Hier liegt ein strafbarer untauglicher Versuch vor, nicht etwa ein Wahndelikt, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Irrtum auf unzutreffenden tatsächlichen oder rechtlichen Erwägungen beruht (BGH 15, 210). Ein Wahndelikt liegt dagegen vor, wenn ein Polizeibeamter irrig glaubt, er sei auch zur Anzeige von Bagatelldelikten verpflichtet, von denen er nur privat Kenntnis erlangt. 10. Die Strafdrohung ist unabhängig vom Strafrahmen der Vortat, auf die sich die Strafvereitelung bezieht. § 258 Abs. 3 findet keine Anwendung (vgl. § 258 a Abs. 3). 11. Für Teilnehmer, die selbst nicht unter den Täterkreis des Abs. 1 fallen, ist § 28 Abs. 2 zu beachten (unechtes Amtsdelikt, s. o. 1). Abs. 3 findet auf sie keine Anwendung. 12. IdK. ist u. a. möglich mit §§ 120 Abs. 2,133, 136 Abs. 2, 267, 274 Abs. 1 Nr. 1.
§ 259
Hehlerei
(1) Wer eine Sache, die ein anderer gestohlen oder sonst durch eine gegen fremdes Vermögen gerichtete rechtswidrige Tat erlangt hat, ankauft oder sonst sich oder einem Dritten verschafft, sie absetzt oder absetzen hilft, um sich oder einen Dritten zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Die §§ 247 und 248 a gelten sinngemäß. (3) Der Versuch ist strafbar. I. Die Neufassung der Vorschrift durch das EGStGB hat das Wesen der Hehlerei grundsätzlich nicht berührt. Das erklärte Ziel der Reform (siehe hierzu RegE S. 252 BTDrucks. 7/550) bestand vielmehr einmal darin, eine klarere Grenze zum ebenfalls neu gefaßten Tb. der Begünstigung zu ziehen; außerdem wurde sichergestellt, daß der früher so umstrittene Fall des Erwerbs einer deliktisch erlangten Sache zugunsten eines Dritten jetzt eindeutig unter den Tb. der Hehlerei subsumiert werden kann. Von größerer Bedeutung ist auch der neu geschaffene Abs. 2, der die Tat unter bestimmten Voraussetzungen zum Antragsdelikt macht. Aus dem Schrifttum zur Neufassung siehe insbesondere Stree JuS 1976,137,142). 1. Das Wesen der Hehlerei besteht in der Aufrechterhaltung der durch die Vortat geschaffenen rechtswidrigen Vermögenslage im einverständlichen Zusammenwirken mit
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dem Vortäter (sog. Perpetuierungstheorie, vgl. BGH [GrSen] 7, 134; 10, 151; h. L.). Früher vertretene Mindermeinungen, die das Wesen der Hehlerei entweder in der Restitutionsvereitelung (vgl. Miehe, Honig-Festschr. S. 91, 103, 113; Schönke-Schröder 17. Aufl. Rn. 1; Stree JuS 1961, 52; GA 1961, 36) oder in der Ausbeutung der durch die Vortat entstandenen rechtswidrigen Vermögenslage gesehen haben (sog. Nutznießungstheorie, vgl. Geerds GA 1958, 129, 131), sind durch die Neufassung der Vorschrift gegenstandslos geworden (vgl. RegE S. 252 BT-Drucks. 7/550). 2. Der Unterschied zur Begünstigung des § 257 besteht zunächst darin, daß die Hehlerei ein Vermögensdelikt ist, während sich die Begünstigung primär gegen die staatliche Rechtspflege richtet (vgl. § 257 Anm. 1 m. Nachw.). Die tatbestandsmäßigen Unterschiede liegen hauptsächlich in folgenden Punkten: Vortat der Hehlerei kann nur ein Vermögensdelikt sein, Vortat der Begünstigung dagegen auch ein sonstiges Delikt, z. B. eine Falschmünzerei; ein (einverständliches) Zusammenwirken mit dem Vortäter ist nur bei der Hehlerei, nicht auch bei der Begünstigung erforderlich (letztere kann auch gegen den Willen des Vortäters begangen werden); eine Bereicherungsabsicht ist nur bei der Hehlerei, nicht auch bei der Begünstigung erforderlich; schließlich können bei der Hehlerei nur bestimmte, im Gesetz näher bezeichnete Handlungen den Tb. verwirklichen, während bei der Begünstigung als „Hilfe" jede Handlung genügt, die nach der Vorstellung des Täters geeignet ist, dem Vortäter die Vorteile der Tat zu sichern. Ungeachtet dieser Unterschiede ist es allerdings durchaus denkbar, daß eine Handlung objektiv und subjektiv beide Tatbestände verwirklicht. In diesem Fall stehen Hehlerei und Begünstigung in Tateinheit (vgl. BGH 11, 316; h. L.). II. Gegenstand der Hehlerei können nur Sachen, d. h. körperliche Gegenstände, sein (vgl. § 90 BGB), und zwar ohne Rücksicht auf ihren Aggregatzustand und ihren wirtschaftlichen Wert. Die Eigentumsverhältnisse sind unerheblich. Auch eine herrenlose Sache (z. B. ein gewilderter Hase) kann Gegenstand der Hehlerei sein. III. Die Sache muß durch eine rechtswidrige Vortat erlangt worden sein. Im einzelnen sind an die Vortat folgende Anforderungen zu stellen: 1. Die Vortat muß fremde Eigentums- oder Vermögensinteressen verletzt haben. In Betracht kommen neben dem ausdrücklich hervorgehobenen Diebstahl insbesondere Unterschlagung, Erpressung, Betrug und Untreue, aber auch Pfandkehr und Wilderei sowie Konkursdelikte, die gegen die Vermögensinteressen der Konkursgläubiger gerichtet waren (BGH GA 1977, 145). Auch Hehlerei kann Vortat einer weiteren Hehlerei sein (sog. Kettenhehlerei), nicht dagegen Verwahrungs- und Verstrickungsbruch, Geldfälschung und Bestechlichkeit, da es sich bei diesen Delikten nicht um Vermögensdelikte handelt. 2. Die Vortat muß tatbestandsmäßig und rechtswidrig gewesen sein. Ist die Vortat nur bei vorsätzlicher Tatbegehung mit Strafe bedroht, muß der Vortäter vorsätzlich gehandelt haben; eine fahrlässige Vortat genügt nur dort, wo die Vortat ausnahmsweise (vgl. z. B. § 1 8 UnedelMetG) auch bei fahrlässiger Tatbegehung mit Strafe bedroht ist (vgl. BGH 4, 76; Lackner 3 a; Stree JuS 1976, 137, 143 sowie in Schönke-Schröder 10). Unerheblich ist dagegen, ob der Vortäter strafmündig und strafrechtlich voll verantwortlich war, ob er sich auf einen Schuldausschließungsgrund berufen kann und ob seine Tat verfolgbar ist
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(vgl. BGH 1, 47; 4, 78; Neustadt NJW 1962, 2312; h. L.; einschränkend für die Fälle des Verbotsirrtums Hamburg NJW 1966, 2228; Bockelmann NJW 1950, 852; Geerds GA 1958, 135; Maurach BT 368). Ausreichend aber auch erforderlich ist immer ein einverständliches Zusammenwirken mit dem Vorbesitzer (s. u. IV 1 c). Hieran kann es z. B. bei einem Kleinkind fehlen (vgl. Stree JuS 1963,429; 1976, 137, 143). 3. Die Vortat muß beim Tätigwerden des Hehlers abgeschlossen sein. Zweifelsfragen können sich ergeben, wenn es sich bei der Vortat um eine Unterschlagung handelt. Erfolgt die Zueignung seitens des Vortäters erst durch die Übergabe der Sache an einen anderen, so ist dieser nach h. A. (bestätigt im RegE S. 252 BT-Drucks. 7/550) nicht wegen Hehlerei, sondern wegen Beteiligung an der Unterschlagung strafbar (BGH 13, 403; h. L.; a. A. Stgt JR 1960,108; Mezger-Blei BT 176; Stree in Schönke-Schröder 15). Außerdem erfüllt er durch die Übernahme der Sache selbst den Tb. der Unterschlagung, was zur weiteren Folge hat, daß die Teilnahme an der Unterschlagung des Veräußerers durch die eigene Täterschaft konsumiert wird. Zu beachten ist jedoch, daß im Regelfall die den Tb. der Unterschlagung verwirklichende Zueignungshandlung des Veräußerers nicht erst in der Ubergabe der Sache liegt, sondern tatbestandsmäßig schon jede Willensäußerung ist, durch die der Zueignungswille nach außen erkennbar in Erscheinung tritt (sog. Manifestirungstheorie, vgl. § 246 Anm. 4 b). So ist z. B. bei einer rechtswidrigen Veräußerung von Kraftstoff durch einen ungetreuen Lagerverwalter der Tb. spätestens in dem Augenblick verwirklicht, in dem der Lagerverwalter den Kraftstoff aus dem Behälter pumpt (BGH NJW 1959, 1377; Krhe Justiz 1972, 319). In diesen Fällen begeht der Erwerber Hehlerei; die gleichzeitig vorliegende Unterschlagung wird als typische Begleittat konsumiert (RG 56, 336; 64, 327; Ruß LK 35; Stree in Schönke-Schröder 63). 4. Die Sache muß unmittelbar durch eine rechtswidrige Tat erlangt worden sein. Hieran kann es fehlen, wenn der Vortäter (oder ein Dritter) die deliktisch erworbene Sache gegen eine andere Sache eingetauscht hat (sog. Ersatzhehlerei oder Hehlerei an Ersatzsachen oder „Surrogaten"). In diesen Fällen kommt Hehlerei nur in Betracht, wenn auch das Tauschgeschäft eine rechtswidrige Tat darstellt (vgl. BGH 9, 137, 139; NJW 1969, 1260; Dreher 9; Lackner 3 d, bb; Maurach BT 366; Ruß LK 10; Stree JuS 1961, 51 ff., 83 ff. sowie in Schönke-Schröder 14; a. A. Gribbohm NJW 1968, 240; Mezger-Blei BT 172; Roxin, Mayer-Festschr. S. 467, wonach zumindest bei gewechseltem Geld trotz Änderung der „Nämlichkeit" Sachidentität vorliegen soll; krit. auch Miehe, HonigFestschr. S. 91, 118). Zu grundsätzlich anderen Ergebnissen käme man nur bei Zugrundelegung der oben (1 a) abgelehnten Nutznießungstheorie. Beispiele: Verkauft A einen gestohlenen Ring an einen gutgläubigen Juwelier für 100,- DM, so begeht er diesem gegenüber einen Betrug, da J kein Eigentum erwerben kann. Verschenkt er anschließend das von J erhaltene Geld, so begeht dieser, wenn er die Herkunft des Geldes aus dem gegenüber J begangenen Betrug kennt, Hehlerei. - Keine Hehlerei dagegen, wenn A den gestohlenen Geldschein auf der Bank einwechselt und das Wechselgeld an seine Freunde verteilt. Das Wechselgeld stammt in diesem Fall nicht aus einer strafbaren Handlung. Eine solche wäre nur dann gegeben, wenn der entwendete Schein falsch gewesen wäre und A dies gewußt hätte; dann hätte die Bank durch das Einwechseln einen Schaden erlitten, so daß als strafbare Vortat, wie im ersten Beispiel, Betrug in Betracht käme. 5. Die Sache muß noch „makelbehaftet" sein. Hieran fehlt es, wenn der Vortäter oder ein Dritter nach der Tat unanfechtbares Eigentum erworben hat. In diesem Fall kann
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Einundzwanzigster Abschnitt: Begünstigung und Hehlerei
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nicht mehr von der Aufrechterhaltung einer rechtswidrigen Vermögenslage gesprochen werden (Ruß LK 6; Stree in Schönke-Schröder 8). Beispiel: A schenkt dem nichtsahnenden B einen gewilderten Hasen. Als B am nächsten Tag den wahren Sachverhalt erfährt, schenkt er den Hasen dem in den Sachverhalt eingeweihten C. Hier hatte B im Zeitpunkt der Weitergabe des Hasen an C bereits gutgläubig Eigentum erworben; der Hase ist damit nicht mehr tauglicher Gegenstand einer Hehlerei; auch Unterschlagung kommt bei den gegebenen Eigentumsverhältnissen nicht in Betracht. Nach wie vor „makelbehaftet" sind jedoch die Sachen, an denen der Vorbesitzer nur anfechtbares Eigentum erworben hat, z. B. wenn er eine Sache durch Betrug oder Erpressung in seine Verfügungsgewalt bekommen hat. IV. Der Kreis der Tathandlungen wurde durch das EGStGB neu gefaßt. 1. Die Alternative sich oder einem Dritten Verschaffen ist an die Stelle des früheren „Ansichbringens" getreten, um sicherzustellen, daß nicht nur die Begründung eigener Verfügungsgewalt, sondern auch die Begründung fremder Verfügungsgewalt den Tb. erfüllen kann. Täter einer Hehlerei kann deshalb z. B. auch der für den Geschäftsherm Diebesgut ankaufende Gewerbegehilfe sein (so schon BGH 2, 262, 355, durch die Neufassung auf eine sichere Rechtsgrundlage gestellt, vgl. RegE S. 252 BT-Drucks. 7/550). Im übrigen kann die frühere Rspr. zum „Ansichbringen" grundsätzlich übernommen werden (ähnlich Schleswig NJW 1975, 2217). a) Erforderlich und ausreichend ist jede Handlung, durch die der Hehler im Einverständnis mit dem Vorbesitzer die Verfügungsgewalt über die Sache in der Weise erlangt, daß er (oder ein Dritter, für den er tätig wird) über die Sache wie über eine eigene Sache verfügen kann (BGH 15, 56; NJW 1976, 1950; 1977, 205). Das Sichverschaffen entspricht damit dem Begriff der Zueignung bei Diebstahl, Unterschlagung und Raub, jedoch mit dem Unterschied, daß der Hehler die Verfügungsgewalt im Einverständnis mit dem Vorbesitzer erlangen muß (s. u. c). Der Erwerb des Pfandscheins über eine gestohlene Sache, die der Dieb im Pfandhaus versetzt hat, begründet eine Verfügungsgewalt über die gestohlene Sache jedenfalls dann, wenn dem Erwerber durch die Übergabe der Urkunde ermöglicht werden soll, über den verpfändeten Gegenstand zu eigenem Nutzen zu verfügen (BGH 27, 160 m. zust. Anm. Sonnen JA 1977, 482; h.L.; a. A. Schleswig NJW 1975, 2217: In Betracht kommt nur Hehlerei am Pfandschein, falls der Dieb bei der Verpfändung das Pfandhaus betrogen hatte). b) Nicht erforderlich ist, daß der Vorbesitzer mit dem Vortäter identisch ist (BGH 15,53, 57; Stree in Schönke-Schröder 13). Hehlerei ist auch hinsichtlich solcher Sachen möglich, die nach der Tat bereits durch mehrere Hände gegangen sind (es sei denn, daß einer der Vorbesitzer unanfechtbares Eigentum erworben hat, s. o. III 5). Beispiel: A erwirbt in Kenntnis der deliktischen Herkunft von B eine gestohlene Uhr, die B von dem Dieb erworben hat, ohne seinerseits jedoch die deliktische Herkunft gekannt zu haben. Hier begeht A Hehlerei, obwohl er mit X selbst keinerlei unmittelbaren Kontakt hatte. c) Ein einverständliches Zusammenwirken mit dem Vorbesitzer ist nur insoweit erforderlich, als der Hehler die Verfügungsgewalt über die Sache mit dem erklärten oder mutmaßlichen Einverständnis erlangen muß. Hieran fehlt es, wenn die Verfügungsgewalt über die Sache durch Diebstahl, Unterschlagung oder Raub begründet wird. In diesen Fällen kommt Hehlerei nicht in Betracht. Andererseits liegt eine zur Annahme von Hehlerei ausreichende Willensübereinstimmung auch dann vor, wenn der Vorbesitzer durch Täu821
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schung oder Drohung veranlaßt wird, seine deliktisch erlangte Verfügungsgewalt über die Sache auf den Erwerber zu übertragen (vgl. RG 35, 281; Maurach BT 370; Ruß LK 12; Stree in Schönke-Schröder 42). In diesen Fällen besteht dann die Möglichkeit einer Tateinheit zwischen Hehlerei einerseits und Betrug bzw. Erpressung andererseits (vgl. Welzel 398). Verfehlt ist es, das beschriebene Einvernehmen zwischen Hehler und Vorbesitzer als „kollusives" Zusammenwirken zu bezeichnen. Wollte man ein über das Einvernehmen hinausgehendes „kollusives" Zusammenwirken verlangen, so würde der Anwendungsbereich der Vorschrift erheblich eingeengt. Nicht erfaßt werden könnten zunächst die Fälle, in denen sich der Vortäter in einem (unvermeidbaren oder vermeidbaren) Verbotsirrtum befindet oder aus sonstigen Gründen ohne Strafbarkeitseinsicht handelt; nicht erfaßt werden könnte weiter der Fall, daß der Hehler die Sache von einem gutgläubigen Zwischenerwerber erlangt (s. o. b). Eine solche Einschränkung, wie sie nur von einer Mindermeinung gefordert wird (vgl. Hbg NJW 1966,2228; Bockelmann NJW 1950,852; Geerds GA 1958,135; Maurach BT 368, 370), ist weder wünschenswert noch sachlich geboten. d) Keine Verfügungsgewalt wird begründet, wenn dem Erwerber die erforderliche Selbständigkeit fehlt. Nicht als Hehlerei strafbar ist deshalb der bloße Mitgenuß der Beute in der Form des unmittelbaren Verbrauchs (vgl. BGH 9, 137; h. L.; a. A. Stree in Schönke-Schröder 24 m. Nachw.). Keine Hehlerei liegt deshalb z. B. vor, wenn Frau A ein von ihrem Mann entwendetes Huhn zubereitet und selbst am gemeinsamen Mahl teilnimmt. Die erforderliche Selbständigkeit wäre jedoch gegeben, wenn die A eine größere Anzahl Hühner erhielte, über deren Verwendung sie frei entscheiden könnte. Ausreichend ist auch die Annahme von deliktisch erlangtem Geld als Darlehen (vgl. BGH NJW 1958, 1244; Dreher 15; Lackner 4 a bb), desgleichen der Erwerb von Pfand- oder Gepäckscheinen, mit denen die Sache später abgeholt werden kann (str., s. o. 1 a). 2. Ankaufen ist lediglich eine Unterform des Sichverschaffens und setzt wie dieses die Begründung einer eigenen oder fremden Verfügungsgewalt voraus. Nicht ausreichend ist deshalb der Abschluß eines Kaufvertrags ohne gleichzeitige Begründung einer Verfügungsgewalt (h. L.; a. A. Maurach BT 371). 3. Das früher als weitere Unterform des Ansichbringens hervorgehobene Inpfandnehmen stellt auch auf der Grundlage der Neufassung einen Unterfall des Sichverschaffens dar. Auf die besondere Hervorhebung dieses Merkmals wurde lediglich aus Gründen der Vereinfachung verzichtet (vgl. RegE S. 252 BT-Drucks. 7/550). Auf das frühere Merkmal des Vertieimlichens wurde dagegen im Interesse einer klareren Abgrenzung gegenüber der Begünstigung verzichtet. Das Verheimlichen erfüllt grundsätzlich nur den Tb. der Begünstigung. Hehlerei kommt daneben nur ausnahmsweise in Betracht, nämlich dann, wenn sich dieselbe Handlung zugleich als Sichverschaffen oder Absatzhilfe darstellt (vgl. RegE aaO.). 4. Absetzen ist die im Einverständnis mit dem Vortäter und auf dessen Rechnung erfolgende, im übrigen aber selbständig vorgenommene Übertragung der Verfügungsgewalt über die Sache auf einen Dritten. Als Erscheinungsformen kommen insbesondere Verkauf, Umtausch und Verpfändung in Betracht, nicht dagegen unentgeltliche Verfügungen (h. A.; a. A. Stree in Schönke-Schröder 32 m. Nachw.; hier die Voraufl.). Erforderlich ist dabei stets, daß das erzielte Entgelt gerade für die Sache entrichtet wird, die Gegenstand der Vortat war. Hieran fehlt es, wenn die Sache ihren für die wirtschaftliche Verwertung
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Einundzwanzigster Abschnitt: Begünstigung und Hehlerei
§ 259
entscheidenden Wert erst nachträglich erlangt hat, z. B. wenn ein gestohlenes Scheckformular erst durch spätere Fälschung wirtschaftlich verwertbar geworden ist (BGH NJW 1976, 1950 m. Anm. Meyer MDR 1977, 372). Mißlingt der Absatz, so liegt nur ein nach Abs. 3 strafbarer Versuch vor (BGH NJW 1976, 1698 m. Bespr. Küper NJW 1977, 58; Lackner 4 b; Stree JuS 1976, 137, 143 sowie in Schönke-Schröder 32; für Vollendung jedoch BGH 27, 45 m. weit. Nachw. unter Bezugnahme auf die Gesetzesgeschichte). Das bloße Verwahren einer Sache zwecks späterer Verwertung stellt allerdings noch keinen Versuch, sondern nur eine straflose Vorbereitungshandlung dar (BGH 2, 137; h. L.). In Betracht kommt jedoch u. U. Strafbarkeit gemäß § 257 oder § 258. Umstritten ist, ob der Verkauf der gestohlenen Sache an den Bestohlenen unter dem Gesichtspunkt des Absetzens als Hehlerei strafbar ist. Hierbei handelt es sich zwar um eine wirtschaftliche Verwertung der Sache; die durch die Vortat entstandene rechtswidrige Vermögenslage wird aber nicht aufrechterhalten, sondern im Gegenteil wieder beseitigt. Daß der Bestohlene für den Rückerwerb seiner eigenen Sache Mittel aufwenden muß, kann unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten, z. B. durch die Tatbestände des Betrugs und der Erpressung, ausreichend erfaßt werden. Hehlerei ist dagegen abzulehnen (vgl. Lackner 4 b; Stree GA 1961, 39 sowie in Schönke-Schröder 33; a. A. RG 30, 401; 54, 124; Maurach BT 373; Ruß LK 20). 5. Mithilfe beim Absatz ist jede im einverständlichen Zusammenwirken mit dem Vortäter oder einem für diesen tätigen Hehler entfaltete Tätigkeit, die auf die wirtschaftliche Verwertung der Sache abzielt. Die Ausführungen in Anm. 4 gelten entsprechend. Insbesondere ist der Tb. der Absatzhilfe erst vollendet, wenn es tatsächlich zum Absatz der Sache kommt. Bis dahin liegt nur Versuch vor (Köln NJW 1975, 987 m. zust. Bespr. Blei JA 1975, StR 128; Fezer NJW 1975, 1982; Küper JuS 1975, 635; Lackner 4 b; Stree JuS 1976, 137, 143 sowie in Schönke-Schröder 38; a. A. BGH 26, 358; 27, 45; Dreher 19; D. Meyer MDR 1975, 721). Ergänzend ist zu beachten: a) Das bloße Mitverprassen des durch die Vortat erbeuteten Geldes ist keine Mithilfe beim Absatz. Wer sich einladen läßt, hilft zwar mit, das Geld unter die Leute zu bringen; er fördert aber nicht den Absatz des Geldes im Interesse des Vortäters (BGH 9, 137; h. L., vgl. Stree in Schönke-Schröder 39). Ausreichend ist jedoch die Beratung des Vortäters, wo und wie er das erbeutete Geld schnell und unauffällig ausgeben oder anlegen kann (BGH 9, 139; 10, 1; Lackner 4 b; Ruß LK 20; a. A. Mäurach BT 373; JZ 1957,183; Stree in Schönke-Schröder 39). b) Handlungen, die der wirtschaftlichen Erhaltung oder Verbesserung der Sache dienen, z. B. „Umfrisieren" oder Reparieren eines gestohlenen Pkw, stellen sich nur dann als Mithilfe beim Absatz dar, wenn sie gleichzeitig dazu dienen, die Sache verkäuflich zu machen, nicht dagegen, wenn der Vortäter den Pkw ausschließlich selbst benutzen möchte (in diesem Fall kommt allerdings Begünstigung in Betracht). c) Nicht hierher gehören die Fälle, in denen nicht der Vortäter, sondern der Erwerber der deliktisch erlangten Sache unterstützt wird (vgl. Ruß LK 21). Hier kommt dann allerdings Beihilfe zur Hehlerei des Erwerbers in Betracht, und zwar ohne Rücksicht auf die eigene Vorteilsabsicht (vgl. Stree in Schönke-Schröder 37). V. Der subj. Tb. erfordert neben dem Vorsatz die Absicht, sich oder einen Dritten zu bereichern. 823
§ 259
Einundzwanzigster Abschnitt: Begünstigung und Hehlerei
1. Der Voisatz muß das Bewußtsein umfassen, daß die Sache durch eine rechtswidrige Handlung (s. o. 3) erlangt ist, und daß durch die eigene Tätigkeit die rechtswidrige Vermögenslage aufrechterhalten wird. a) Nicht erforderlich ist, daß der Täter die Einzelheiten der Vortat kennt. Es genügt, wenn er sich eine Tat vorstellt, durch die eine rechtswidrige Vermögenslage geschaffen wurde (vgl. Krhe Justiz 1972, 319; Lackner 5; Stree in Schönke-Schröder 45). Der Voisatz wird z. B. nicht dadurch berührt, daß die Vortat entgegen der Vorstellung des Hehlers kein Diebstahl, sondern ein Betrug oder eine Unterschlagung war (anders, wenn der Täter sich als Vortat lediglich ein Zolldelikt oder eine Ordnungswidrigkeit vorstellt). Auch hinsichtlich der Person des Vortäters muß der Hehler sich keine konkreten Vorstellungen machen. b) Der Vorsatz muß im Zeitpunkt des Sichverschaffens usw. vorliegen. Beispiel: Nicht Hehlerei, sondern Unterschlagung liegt vor, wenn der Täter die Sache zunächst gutgläubig erwirbt und später, nachdem er die strafbare Handlung erfahren hat, auf eigene Rechnung verkauft (BGH 10, 151; Stree in Schönke-Schröder 45). Verkauft er sie im Einvernehmen mit dem Vortäter auf dessen Rechnung, so liegt Hehlerei in der Form des Absetzens vor. c) Bedingter Vorsatz genügt in allen Fällen. Die frühere gesetzliche Beweisregel, durch die in der Praxis der Nachweis des Vorsatzes erleichtert werden sollte, wurde bei der Neufassung der Vorschrift durch das EGStGB als rechtsstaatlich bedenklich ersatzlos gestrichen. 2. Entgegen der früheren Rechtslage genügt nicht mehr das Streben nach irgendeinem Vorteil, sondern nur noch das Streben nach einem Vermögensvorteil. a) Wie bei Betrug und Erpressung genügt als Absicht der zielgerichtete Wille. Der erstrebte Vorteil muß nicht der hauptsächliche oder gar ausschließliche Beweggrund gewesen sein. Zielgerichtetes Handeln genügt (Lackner 6; Stree in Schönke-Schröder 46). Anders läßt sich das bei der Neufassung der Vorschrift verfolgte Ziel, auch den Gewerbegehilfen wegen Hehlerei bestrafen zu können, wenn er den Vermögensvorteil nicht für sich, sondern für seinen Geschäftsherrn erstrebt, nicht erreichen. Dem Gewerbegehilfen wird es in der Praxis nur selten nachzuweisen sein, daß der Vorteil seines Geschäftsherrn für ihn die Triebfeder seiner Tätigkeit war. b) Der unter lit. a) beschriebenen Erweiterung des Anwendungsbereichs der Vorschrift steht andererseits eine Einschränkung insofern gegenüber, als das Streben nach sonstigen Vorteilen (z. B. die Absicht, eine drohende Strafverfolgung abzuwenden oder sich die Gunst des Vortäters zu erhalten) nicht mehr ausreicht. c) Der erstrebte Vermögensvorteil muß - entgegen der Rechtslage bei Betrug und Erpressung - nicht rechtswidrig sein. Ausreichend ist deshalb z. B. die Absicht, eine Aufbesserung der Bezüge zu erreichen oder eine drohende Entlassung zu verhindern. Nicht erforderlich ist auch ein außergewöhnlicher Gewinn; der übliche Geschäftsgewinn genügt (RG 58,122; Lackner 6; Stree JuS 1976, 137, 144 sowie in Schönke-Schröder 47). d) Der erstrebte Vermögensvorteil muß mit dem Gegenstand der Hehlerei nicht stoffgleich sein (Lackner 6; Stree in Schönke-Schröder 48). Es ist also nicht erforderlich, daß der Hehler seinen Vorteil unmittelbar oder mittelbar aus der gehehlten Sache zieht.
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Einundzwanzigster Abschnitt: Begünstigung und Hehlerei
§ 259
Tatbestandsmäßig ist deshalb auch der Fall, daß jemand einen Posten Ware, für den er keine Verwendung hat, dem Vortäter nur abnimmt, weil er auf spätere günstigere Angebote hofft (vgl. Stree in Schönke-Schröder aaO.). VI. Täter kann jeder sein mit Ausnahme des Vortäters. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß die Hehlerei wesensmäßig die Anschlußtat an die Tat eines anderen ist und einverständliches Zusammenwirken mit dem Vortäter voraussetzt. Anstifter und Gehilfen der Vortat können dagegen auch dann Hehler sein, wenn sie bereits im Zeitpunkt der Teilnahme darauf abzielen, später Teile der Beute in ihren Besitz zu bringen (vgl. BGH [GrSen] 7, 134; 13, 403). Für sie ist die Vortat die Tat eines anderen (vgl. BGH aaO.; RegE S. 252 BT-Drucks. 7/550). Für den Mittäter der Vortat ist die Tat zunächst eine eigene, so daß Hehlerei ausscheidet. Dieser Grundsatz gilt aber nach BGH 3, 193 nur bis zur Verteilung der Beute. Nach diesem Zeitpunkt haben die Mittäter Verfügungsgewalt nur noch über die ihnen bei der Verteilung zugefallenen Beutestücke. Hinsichtlich der übrigen Beutestücke ist jedoch Hehlerei möglich (vgl. BGH aaO.; Dreher 26; Maurach BT 376; Str.). VII. Teilnahme ist nach allgemeinen Gesichtspunkten strafbar. Auch der Vortäter kann an der Hehlerei beteiligt sein. Für ihn ist die Teilnahme jedoch immer mitbestrafte Nachtat, da ein neues Rechtsgut nicht verletzt wird (vgl. BayObLG NJW 1958, 1597; Lackner 7). Eine Bereicherungsabsicht ist bei Anstiftern und Gehilfen nicht erforderlich; es genügt grundsätzlich, daß sie Vorliegen der Bereicherungsabsicht beim Hehler kennen und durch ihre Mitwirkung bewußt fördern. § 28 Abs. 1 findet keine Anwendung, da die Bereicherungsabsicht mehr das Tatgeschehen als das Täterbild prägt, somit als tatbezogenes Merkmal einzustufen ist (vgl. Stree JuS 1976,137,144 sowie in Schönke-Schröder 59). V i n . Strafbarer Veisuch (Abs. 3) liegt insbesondere vor, wenn der Erwerb der Sache scheitert (vgl. BGH bei Daliinger MDR 1971, 546), wenn der angestrebte Absatz nicht zustandekommt oder wenn der Täter nur irrig annimmt, die Sache sei durch eine rechtswidrige Tat erlangt worden. IX. Der durch das EGStGB neu eingefügte Abs. 2 stellt klar, daß die Hehlerei nur auf Antrag verfolgt wird, wenn durch sie ein Angehöriger oder der Vormund des Täters verletzt wird oder wenn der Verletzte mit dem Täter in häuslicher Gemeinschaft lebt (vgl. § 247). Dasselbe gilt, wenn die Hehlerei sich auf geringwertige Sachen bezieht, es sei denn, daß die StA ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bejaht (vgl. § 248 a). Prozessual sind in diesen Fällen die §§ 153, 153 a StPO zu beachten (Opportunitätsprinzip). X. Konkurrenzen: Im Verhältnis zur Teilnahme an der Vortat kommt je nach Sachlage IdK. oder RK. in Betracht (BGH 13, 404). Bei Anstiftung liegt i. d. R. Realkonkurrenz vor, und zwar auch dann, wenn der Täter schon im Zeitpunkt der Ans'tiftung einen Anteil an der Beute erstrebte (BGH 22, 206 = JZ 1969, 32 m. Anm. Schröder). Bei Beihilfe kann IdK. mit Hehlerei vorliegen, letzteres vor allem dann, wenn ein enger zeitlicher Zusammenhang gegeben ist, der die Annahme einer sog. natürlichen Handlungseinheit rechtfertigt (vgl. BGH aaO. m. zust. Anm. Blei JA 1969, StR S. 47 f., 72). - Mit Begünstigung und Strafvereitelung kommt ebenfalls je nach Sachlage IdK. oder RK. in Betracht. 825
§ 260
Einundzwanzigster Abschnitt: Begünstigung und Hehlerei
Siehe auch Anm. I 2. Über das Verhältnis zur Unterschlagung siehe Anm. III 3, über das Verhältnis zu Betrug und Erpressung siehe Anm. IV 1 c. XI. Beachte ergänzend § 260 (gewerbsmäßige Hehlerei), § 262 (Führungsaufsicht) sowie § 5 EdelMetG, § 18 UnedelMetG und § 374 AO (Steuerhehlerei).
§ 260
Gewerbsmäßige Hehlerei
(1) Wer die Hehlerei gewerbsmäßig begeht, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift enthält einen qualifizierten Fall des § 259. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage wird der Fall der gewohnheitsmäßigen Tatbegehung nicht mehr als straferschwerend hervorgehoben. Straferschwerend ist jetzt nur noch die gewerbsmäßige Tatbegehung. Ein weiterer Unterschied gegenüber der früheren Rechtslage besteht darin, daß die Tat, da nicht zur „Hochkriminalität" gehörend (vgl. RegE S. 253 BT-Drucks. 7/550), nicht mehr als Verbrechen, sondern nur noch als Vergehen eingestuft ist. 2. Gewerbsmäßig handelt, wer sich durch wiederholte Tatbegehung eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle verschaffen möchte (vgl. BGH 1, 383; GA 1955, 212; h. L.). Ist diese Absicht vorhanden, so genügt bereits eine einzige Handlung, um den Tb. zu verwirklichen (vgl. RG 54, 230; 58, 20; h. L.). Dies gilt auch dann, wenn die einzelnen Erwerbsakte untereinander nicht in Realkonkurrenz, sondern in Fortsetzungszusammenhang stehen (vgl. BGH 26, 5 unter ausdrücklicher Aufgabe der bei Dallinger MDR 1966, 24 mitgeteilten Entscheidung; Lackner IV 2 b vor § 52; Ruß LK 4; Stree in SchönkeSchröder 2). Unerheblich ist, ob der Täter die gehehlte Ware gewerbsmäßig weiterveräußern oder im eigenen Haushalt oder Betrieb verwenden will (RG 54, 184 f.; Ruß LK 2; Stree in Schönke-Schröder 2). 3. Die Einzelakte der gewerbsmäßig begangenen Hehlerei bilden keine sog. rechtliche Handlungseinheit, sondern stehen untereinander, wenn nicht gleichzeitig die Voraussetzungen des Fortsetzungszusammenhangs vorliegen, in Realkonkurrenz (vgl. BGH 1, 41; h. L.; zw.). 4. Die Strafbarkeit des Versuchs ergibt sich aus Abs. 2. 5. Für Teilnehmer, die selbst nicht gewerbsmäßig handeln, gilt § 28 Abs. 2. 6. Wegen Führungsaufsicht siehe § 262.
§ 261 826
[aufgehoben]
Einundzwanzigster Abschnitt: Begünstigung und Hehlerei § 262
§ 262
Führungsaulsicht
In den Fällen der §§ 2 5 9 und 2 6 0 kann das Gericht Führungsaufsicht anordnen (§ 6 8 Abs. 1 Nr. 2). Die Ausführungen zu § 245 (siehe dort Anm. 1-3) gelten entsprechend.
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Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue (§§ 263-266) § 263
Betrug
(1) Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrükkung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. (4) § 2 4 3 Abs. 2 sowie die §§ 2 4 7 und 2 4 8 a gelten entsprechend. (5) Das Gericht kann Führungsaufsicht anordnen (§ 6 8 Abs. 1 Nr. 2)
I. Geschütztes Rechtsgut der durch das EGStGB teilweise neu gefaßten Vorschrift (siehe besonders Abs. 4 und 5) ist das Vermögen, nicht etwa die Freiheit der Willensentschließung. Unter Veimögen versteht man die Gesamtheit aller wirtschaftlichen Güter, die der Verfügungsgewalt einer Person unterstehen (wirtschaftlicher Vermögensbegriff, st. Rspr. seit RG 16, 1; h. L.). Die Besonderheit des Betrugs gegenüber anderen Vermögensdelikten besteht darin, daß der Täter die vermögensschädigende Handlung nicht selbst vornimmt, sondern einen anderen veranlaßt, sich selbst oder einen Dritten, auf dessen Vermögen er einwirken kann, zu schädigen. Damit weist der Betrug dieselbe Struktur auf wie die Erpressung, mit deren Tatbestand sich der Betrug auch subjektiv deckt. In beiden Fällen geht es dem Täter darum, sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichem. Der Unterschied beider Tatbestände besteht darin, daß die Vermögensverfügung beim Betrug zwar durch Irrtum bedingt, im übrigen aber innerlich frei getroffen wird; der Täter steht beim Betrug nicht unter Druck. Die oft schwierige Abgrenzung zwischen Betrug und Diebstahl wurde bereits ausführlich unter § 242 Anm. V 5, 6 dargelegt. Auch dort ist klar erkennbar, welche Bedeutung der Vermögensverfügung, die selbst nur ein ungeschriebenes (aber allgemein anerkanntes) Tatbestandsmerkmal ist, bei der Abgrenzung des Betrugs von verwandten Tatbeständen zukommt.
II. Die Täuschungshandlung besteht in der Vorspiegelung falscher oder in der Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen. 1. Zu den Tatsachen gehören nicht nur alle objektiv feststellbaren Geschehnisse und Zustände in Vergangenheit und Gegenwart, z. B. Wert und Beschaffenheit einer Sache oder die Zahlungsfähigkeit eines Schuldners, sondern auch sog. innere Tatsachen, z. B. eine vorhandene bzw. fehlende Zahlungsbereitschaft oder die Absicht, einem auf frischer Tat ertappten Ladendieb trotz Zahlung der „Bearbeitungsgebühr" zur Anzeige zu bringen (Koblenz NJW 1976, 63 m. Nachw.). 828
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue
§ 263
a) Keine Tatsachen sind reine Werturteile, z. B. die Erklärung eines Autoverkäufers, er sei mit dem Wagen immer zufrieden gewesen und der Wagen sei bestimmt sehr preisgünstig. Hier liegt selbst dann kein Betrug vor, wenn der Verkäufer verschweigt, daß er ab und zu auch Ärger mit dem Wagen gehabt hat und den Preis an sich gar nicht so günstig findet. b) Keine Tatsachen sind ferner Zukunftsprognosen, z. B. die Erklärung, ein bestimmtes Wertpapier werde bald im Kurs steigen oder der Käufer eines Pkw werde mit diesem bestimmt zufrieden sein. In derartigen Fällen kommt Betrug nur dann in Betracht, wenn es dem Getäuschten gerade auf die Überzeugung des Erklärenden ankommt. Diese wäre dann eine innere Tatsache. c) Nicht hierher gehören schließlich Rechtsausfiihrungen einer Partei im Zivilprozeß (vgl. BGH JR 1958, 106 m. Anm. Schröder). Es hegt daher kein Betrug vor, wenn jemand mit einer Forderung aufrechnet, von der er weiß, daß sie gar nicht wirksam zustandegekommen ist, oder wenn jemand entgegen seiner eigenen Überzeugung behauptet, ein bestimmter Vertrag sei nicht wirksam zustandegekommen. 2. Das Vorspiegeln einer falschen Tatsache kann sowohl durch ausdrückliche Erklärung als auch durch schlüssiges („konkludentes") Verhalten erfolgen. a) Eine ausdrückliche Erklärung liegt z. B. vor, wenn jemand bewußt der Wahrheit zuwider erklärt, der von ihm verkaufte Pkw habe noch nie einen Unfall gehabt. Hierher gehört auch die Behauptung eines insolventen Kaufmanns, er werde den ihm gewährten Kredit für neue Investitionen verwenden, während er in Wirklichkeit die Absicht hat, alte Schulden zu begleichen. b) Eine Tatsache kann auch durch schlüssiges Verhalten vorgespiegelt werden. Wer z. B. in einem Gasthaus Platz nimmt und Speisen und Getränke bestellt, bringt damit schlüssig zum Ausdruck, daß er zur Begleichung seiner Zeche nicht nur willens, sondern auch in der Lage ist. - Oder: Wer eine Sache zum Verkauf anbietet, bringt damit schlüssig zum Ausdruck, daß er zum Verkauf berechtigt ist. - Oder: Wer eine vertragliche Verpflichtung übernimmt, bringt damit schlüssig zum Ausdruck, daß er emsthaft gewillt ist, sie zu erfüllen; wird ihm hierzu eine Frist gewährt, insbesondere Kredit eingeräumt, so liegt in dem Versprechen, den Vertrag zu erfüllen, zwar nicht immer die Behauptung gegenwärtiger Zahlungsfähigkeit, wohl aber die Erklärung, die gegenwärtigen Verhältnisse stünden der vereinbarten Erfüllung des Vertrags nicht im Weg (BGH NJW 1954, 1414). - Oder: Wer eine Lotterie veranstaltet, bringt damit schlüssig zum Ausdruck, daß er alle Gewinnlose unter die Lose gemischt hat. Betrug begeht daher, wer zur Steigerung des Losverkaufs das Gewinnlos für den Hauptgewinn bis zur letzten Ausspielung zurückhält, damit der Hauptgewinn nicht vorzeitig gezogen und damit der Lotterie der Anreiz genommen wird (BGH 8, 289). - Oder: Wer einen Spielautomaten aufstellt, erklärt dadurch schlüssig, daß der Apparat den üblichen Bedingungen entspricht. Betrug begeht daher, wer heimlich eine die Gewinnchancen erhöhende Bremsvorrichtung ausschaltet und dadurch die Gewinnchancen eines geschickten Spielers mindert (vgl. Hamm NJW 1957, 1162). Oder: Wer mit einem Scheck bezahlt, bringt damit schlüssig zum Ausdruck, daß der Scheck einlösbar ist (BGH 3, 69). - Oder: Die Hingabe eines Wechsels zur Diskontierung bei einer Bank enthält in der Regel die schlüssige Erklärung, es handele sich um einen Handelswechsel, nicht um einen sog. Finanzierungs- oder gar Reitwechsel (BGH NJW 1976,2028).
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§ 263
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue
3. Eine Entstellung wahrer Tatsachen liegt vor, wenn durch Zusätze oder Weglassungen die wirkliche Sachlage nicht mehr richtig erkannt werden kann. Hierher gehört z. B. der Fall, daß ein Gesellschafter seinem Mitgesellschafter gegenüber den derzeitigen schlechten Geschäftsgang so stark übertreibt, daß dieser sich zu einem überstürzten Verkauf seiner Anteile entschließt. 4. Die Unterdrückung wahrer Tatsachen kann sowohl durch Tun als auch durch Unterlassen erfolgen. a) Hebt ein Bankkunde von seinem Konto Geld ab, das ihm - wie er weiß - versehentlich gutgeschrieben worden ist, so liegt hierin die schlüssige Erklärung, daß er Geld von dem ihm zustehenden Guthaben abheben wolle. Er unterdrückt also durch positives Tun die wahre Tatsache, daß die Bank den Betrag nicht schuldig ist, und unterhält dadurch bei der Bank den dort bereits bestehenden Irrtum (vgl. Köln NJW 1961, 1735; siehe auch BGH bei Dallinger MDR 1975,22 m. Bespr. Blei JA 1975, StR S. 30). b) Durch Verschweigen wahrer Tatsachen kann der Tb. nur erfüllt werden, wenn eine Rechtspflicht zur Offenbarung besteht. Eine solche Pflicht kann sich nicht nur aus Gesetz oder Vertrag, sondern auch aus Treu und Glauben ergeben. aa) Ein Zeuge ist gesetzlich verpflichtet, die reine Wahrheit zu sagen und nichts zu verschweigen (vgl. § 392 ZPO, §§ 57, 66c StPO). Die Kindesmutter begeht daher vollendeten oder versuchten Betrug, wenn sie in dem Prozeß ihres nichtehelichen Kindes gegen den mutmaßlichen Erzeuger bewußt der Wahrheit zuwider verschweigt, daß sie auch mit anderen Männern Verkehr gehabt hat. (Beachte: Hier kommt außerdem noch Bestrafung gemäß §§ 153, 169 in Betracht.) - Oder: Der Empfänger von Arbeitslosenunterstützung ist gemäß § 183 Nr. 2 AVAVG verpflichtet, jeden Verdienst anzuzeigen. Er begeht daher Betrug, wenn er sich weiter Unterstützung zahlen läßt und dabei verschweigt, daß er inzwischen Arbeit gefunden hat. Hier könnte man auch Betrug durch positives Tun annehmen: Wer den Antrag auf Fortzahlung von Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe, Kindergeld, Krankengeld usw. stellt, bringt damit schlüssig zum Ausdruck, daß die materiellen Voraussetzungen hierfür nach wie vor gegeben sind. Oder: Im Versicherungsrecht ergeben sich bestimmte Offenbarungspflichten aus §§ 16, 27 W G . bb) Fehlen gesetzliche Bestimmungen oder besondere vertragliche Vereinbarungen, so kann sich die Rechtspflicht zur Offenbarung bestimmter für das Vertragsverhältnis wesentlicher Tatsachen mit Rücksicht auf die Verkehrssitte aus Treu und Glauben ergeben. Wer z. B. unter Hinweis auf ein Gutachten ein Bild als Werk eines bekannten Meisters anbietet, darf nicht verschweigen, daß die Echtheit äußerst bestritten ist (RG 68, 213). - Oder: Wer noch keinen Fahrschein besitzt, ist verpflichtet, sich auf die Frage des Schaffners, ob noch jemand ohne Fahrschein ist, zu melden. - Oder: Wer nach Abschluß eines Vertrags erkennt, daß sich seine Vermögensverhältnisse so sehr verschlechtert haben, daß er den Vertrag nicht mehr erfüllen kann, ist verpflichtet, seinen vorleistungspflichten Vertragspartner hierauf hinzuweisen (vgl. BGH 6, 198). - Oder: Ein gemäß § 140 StPO vom Gericht bestellter Offizialverteidiger ist verpflichtet, seinen Mandanten darauf hinzuweisen, daß das Honorar vom Staat übernommen wird (BGH LM Nr. 40). Oder: Ein Versicherungsnehmer, der von dem Versicherer für einen Diebstahl entschädigt worden ist, ist verpflichtet, diesem das Wiederauffinden der entwendeten Gegenstände zu melden (vgl. RG 70, 225). - Oder: Wer einen Kredit aufnimmt oder eine Sache 830
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue
§ 263
unter Eigentumsvorbehalt kauft, ist verpflichtet, alle an ihn mündlich oder schriftlich gestellten Fragen, die sich auf seine Kreditwürdigkeit beziehen, wahrheitsgemäß zu beantworten. Er ist dagegen nicht verpflichtet, von sich aus darauf hinzuweisen, daß er bereits eine eidesstattliche Versicherung nach § 807 ZPO abgegeben und erhebliche anderweitige Verpflichtungen hat. Anders nur im Rahmen länger bestehender Geschäftsbeziehungen, die bereits ein besonderes Vertrauensverhältnis begründet haben. - Oder: Ein Gebrauchtwagenhändler, der einen durch einen Unfall schwer beschädigten, jedoch wiederhergestellten Kraftwagen verkauft, hat dem Kaufinteressenten auch ungefragt zu offenbaren, daß es sich bei dem Fahrzeug um ein „Unfallfahrzeug" handelt (vgl. Nürnberg MDR 1964, 693). - Für die Praxis von besonderer Bedeutung ist auch die Entscheidung Hbg NJW 1969, 335 m. zust. Anm. Schröder JR 1969, 110 betr. einen Angeklagten, der weiter Hotelleistungen entgegengenommen hatte, obwohl sich während seines Aufenthalts (also nicht schon von Anfang an) Umstände ergeben hatten, die einer Begleichung der Hotelrechnung beim Auszug entgegenstanden. Das OLG verneinte einen Betrug mit der Begründung, anders als beim üblichen Zechbetrug gebe der Gast durch die Annahme der im Rahmen des ordnungsgemäß zustandegekommenen Beherbergungsvertrags erbrachten Leistungen noch keine schlüssige Erklärung dahin ab, daß er beim Auszug die Rechnung pünktlich begleichen werde; es bestehe grundsätzlich auch keine Rechtspflicht, den Hotelier auf die veränderte Lage hinzuweisen (sehr zw., vgl. Hirsch NJW 1969, 853; übereinstimmend jedoch BGH bei Dallinger MDR 1973, 729; GA 1974, 284; Dreher 12; Lackner 3 b aa). cc) Keine Rechtspflicht zur Aufklärung eines Irrtums besteht, wenn sich jemand durch eigenes Verschulden selbst in den Irrtum versetzt hat. Beispiele: A legt der X-Bank einen Scheck über 100,- DM vor, den ihm sein Kunde K in Zahlung gegeben hat. Zahlt der Bankbeamte versehentlich 1000,- DM aus, so begeht A keinen Betrug, wenn er den Irrtum nicht aufklärt (vgl. Ddf NJW 1969, 624). Insbesondere kann aus Treu und Glauben keine Rechtspflicht zur Aufklärung des Irrtums abgeleitet werden (vgl. Deubner NJW 1969, 624). - Oder: A kauft bei B eine Flasche Wein zum Preis von 4,80 DM und zahlt mit einem 10,—DM-Schein. B paßt nicht auf und gibt nicht 5,20 DM, sondern 15,20 DM zurück. Klärt A den Irrtum nicht auf, so macht er sich hierdurch nicht strafbar. Er ist nicht verpflichtet, dafür zu sorgen, daß B auf sein Geld aufpaßt. Er hat weder einen Irrtum erregt noch einen Irrtum „unterhalten", sondern lediglich einen Irrtum ausgenutzt. Anders jedoch, wenn B nicht mehr weiß, ob A ihm 10,- oder 20,- DM gegeben hat, und A auf entsprechende Frage erklärt, er habe 20,- DM gegeben, oder er wisse selbst nicht mehr, welchen Schein er hingegeben habe. Hier käme Betrug durch positives Tun in Betracht (s. u. Anm. III 3). III. Durch die Täuschungshandlung muß in dem Getäuschten ein Irrtum erregt oder unterhalten werden. 1. Irrtum ist jede falsche Vorstellung über Tatsachen, die für die Entscheidung von maßgeblicher Bedeutung sind. Eine präzise und substantiierte Fehlvorstellung ist nicht erforderlich. Es genügt vielmehr, wenn sich jemand ganz allgemein falsche Vorstellungen macht, z. B. der Zugschaffner, der glaubt, alles sei „in Ordnung" (Celle MDR 1957, 436; Mezger-Blei BT 187 f.; Cramer in Schönke-Schröder 29). Kein Irrtum liegt dagegen vor, wenn sich jemand überhaupt keine Gedanken macht. Die Diskussion über die Bedeutung des Irrtums beim Betrug ist in letzter Zeit durch die Entscheidungen BGH 24, 257 (Prozeßbetrug im Mahnverfahren) und BGH 24, 386 (Scheckkartenmißbrauch) neu belebt worden. Nach BGH 24, 257 wird eine Täuschung des Rechtspflegers im Mahnver831
§ 263
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue
fahren nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Rechtspfleger den Antrag auf Erlaß eines Mahn- oder Vollstreckungsbescheids nur auf seine Schlüssigkeit, nicht auch auf seine Begründetheit zu prüfen hat, sich also in der Regel über die Begründetheit keine Gedanken macht; nach BGH 24, 386 liegt bei Mißbrauch einer Scheckkarte Betrug ungeachtet des Umstands vor, daß der Schecknehmer sich auf die mit der Scheckkarte verbundene Garantieerklärung der ausstellenden Bank verläßt, den Scheck bei Vorlage auch dann einzulösen, wenn das Konto keine Deckung aufweist. Beide Entscheidungen sind im Schrifttum auf berechtigte Kritik gestoßen. Wenn der BGH in BGH 24, 257, 261 ausführt, der Rechtspfleger müßte den Erlaß des Mahnbescheids ablehnen, wenn der Antragsteller die seiner geltend gemachten Forderung entgegenstehenden Tatsachen selbst vorgetragen hätte, so geht dies an der Tatsache vorbei, daß der Rechtspfleger sich über die Begründetheit des Anspruchs gerade keine Gedanken machen muß und deshalb in der Regel auch nicht macht, ein Irrtum also tatsächlich nicht vorliegt. Keinesfalls aber wäre ein etwaiger Irrtum für seine Entscheidung kausal, da er den Mahnbescheid auch dann erlassen und bei fehlendem Widerspruch des Schuldners auch dann für vollstreckbar erklären muß, wenn er an der Berechtigung der geltend gemachten Forderung Zweifel hat (Cramer in Schönke-Schröder 53; Gross NJW 1973, 600; zum Ganzen siehe auch Amelung, Irrtum und Zweifel des Getäuschten beim Betrug, GA 1977,1 sowie Giehring, Prozeßbetrug im Säumnis- und Mahnverfahren, GA 1973, 1). Entsprechendes gilt für den in BGH 24, 386 behandelten Scheckkartenmißbrauch: Stimmt die Unterschrift auf Scheck und Scheckkarte überein, so macht sich der Schecknehmer in der Regel über die Deckung des Schecks keine Gedanken. Entscheidend für ihn ist vielmehr die Vorstellung, daß die ausstellende Bank aufgrund der von ihr durch Ausstellung der Scheckkarte gegebenen Garantieerklärung verpflichtet ist, den Scheck einzulösen. Keinesfalls aber wäre ein etwaiger Irrtum über die Deckung des Schecks für dessen Annahme kausal. Betrug ist deshalb abzulehnen (vgl. Schröder JZ 1972, 707; Zahrnt NJW 1972, 277; 1973, 63; Gross NJW 1973, 600; Seebode JR 1972; 117; Gössel MDR 1973, 177; Sennekamp BB 1973, 1005). Eine befriedigende Lösung läßt sich nur über § 266 finden (vgl. D. Meyer JuS 1973, 214; Blei JA 1973, StR 97). Zur Problematik des Mißbrauchs von Abbuchungsaufträgen und Einziehungsermächtigungen im Verkehr der Kreditinstitute siehe Hamm NJW 1977, 1835. 2. Einen Irrtum erregt, wer selbst die falsche Vorstellung hervorruft, sei es durch positives Tun, sei es durch pflichtwidriges Unterlassen (s. o. II 2 - 4 ) . Betrug, nicht nur ein Vergehen gemäß § 265 a liegt daher vor, wenn ein Fahrgast auf die Frage des Schaffners: „Wer noch ohne Fahrschein?" pflichtwidrig schweigt. Nur § 265 a dagegen, wenn der Schaffner in der Vorstellung, alles sei in Ordnung, auf seinen Rundgang verzichtet. Er befindet sich zwar auch hier in einem Irrtum; dieser wurde aber nicht durch eine Täuschung des Fahrgasts erregt. Zum Problem des „Schwarzfahrens" siehe auch den umfassenden Aufsatz von Bilda in MDR 1969,434. 3. Einen Irrtum unterhält, wer verhindert, daß die falsche Vorstellung aufhört. Auch hier kommt sowohl aktives Tun als auch Unterlassen in Betracht (s. o. II 2 - 4 ) . Ein Unterhalten durch aktives Tun liegt z. B. vor, wenn A dem B eine Quittung über 10,- DM ausstellt, obwohl B ihm versehentlich 20,- DM anstatt 10,- DM gegeben hat. Dasselbe gilt, wenn A auf die Frage des B, ob es „stimmt", zustimmend nickt oder sich schweigend entfernt (vgl. Kaiser NJW 1971, 601). Keinen Betrug begeht dagegen, wer lediglich einen fremden Irrtum ausnutzt, zu dessen Aufklärung er nicht verpflichtet ist. Siehe hierzu Anm. II 4 b. 832
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue
§ 263
IV. Zu vollendeter Tat führt ein Irrtum nur dann, wenn er eine Vermögensverfügung des Getäuschten zur Folge hat. Mißlingt die Täuschung oder hätte der Verfügende die Verfügung auch ohne die Täuschung vorgenommen, so liegt nur Versuch vor. Die Vermögensverfügung ist somit als notwendiges Bindeglied zwischen Irrtum und Schaden ein ungeschriebenes Merkmal des objektiven Tatbestands. Schrifttum: Hansen, Die subjektive Seite der Vermögensverfügung beim Betrug, MDR 1975, 533. 1. Definition: Unter Vermögensverfügung versteht man jedes Handeln, Dulden oder Unterlassen, das unmittelbar zu einem Schaden führt. 2. Eine bewußte Vermögensverfügung ist grundsätzlich nicht erforderlich (BGH 14, 170). Der Getäuschte braucht sich weder über die Tragweite seiner Verfügung noch überhaupt darüber im klaren zu sein, daß er über eigenes oder fremdes Vermögen verfügt (Krhe Justiz 1973, 396). So genügt es z. B., wenn A einen ihm vorgelegten Kaufvertrag unterschreibt in der irrigen Vorstellung, er unterschreibe nur eine Empfangsbestätigung (Hamm NJW 1965, 702, wo weiter ausgeführt wird, daß der Betrug in diesem Fall schon mit der Erlangung der Unterschrift vollendet ist, da von diesem Zeitpunkt an die einem Vermögensschaden gleichkommende Gefahr besteht, daß der Getäuschte auf Grund seiner Unterschrift auf Erfüllung oder Schadensersatz in Anspruch genommen wird). Auf eine bewußte Verfügung kann nur in den Fällen nicht verzichtet werden, in denen der Vermögensschaden im Vertust einer Sache und die Verfügung im Uberlassen dieser Sache besteht. In diesen Fällen liegt eine den Betrugstatbestand erfüllende Vermögensverfügung nur dann vor, wenn der Getäuschte den Willen hat, eigenen Gewahrsam zugunsten des Täters oder eines Dritten aufzugeben (vgl. Hamm NJW 1969,620; Krhe aaO.). Diese Einschränkung ergibt sich aus der Erwägung, daß es bei der Abgrenzung von Diebstahl und Betrug nicht auf das äußere Bild (Geben - Nehmen), sondern auf die Willensrichtung des Opfers ankommt. Einzelheiten und Beispiele siehe § 242 Anm. V 6 sowie Geppert JuS 1977,69 und Herzberg ZStW 89, 367. 3. Der Geschädigte und der Getäuschte müssen nicht identisch sein. Es ist demnach nicht erforderlich, daß der Getäuschte über eigenes Vermögen verfügt. Hieraus ergibt sich u. a. die Strafbarkeit des Prozeßbetrugs. Beispiel: Schuldner A täuscht im Rechtsstreit gegen seinen Gläubiger B das Gericht durch Vorlage einer gefälschten Quittung und erreicht auf diese Weise, daß die Klage abgewiesen wird. - Nicht Betrug, sondern Diebstahl in mittelbarer Täterschaft liegt dagegen vor, wenn der getäuschte Dritte weder rechtlich noch tatsächlich über fremdes Vermögen verfügen kann, sondern selbst nur dadurch an die vom Täter erstrebte Sache herankommt, daß er fremden Gewahrsam bricht. Beispiel: A beauftragt den Gepäckträger B, ihm aus dem soeben eingefahrenen D-Zug „seinen", in Wirklichkeit aber dem X gehörenden Koffer zu holen. B nimmt hier keine Vermögensverfügung vor. Siehe hierzu ausführlich § 242 Anm. V 4 b, c, und V 5. 4. Keine Vermögensverfügung liegt vor, wenn die von dem Getäuschten vorgenommene Handlung den späteren Schaden nicht unmittelbar herbeiführt, dieser vielmehr erst durch eine weitere Handlung des Täters eintritt. Beispiel (vgl. Celle NJW 1975 , 2218): A veranlaßt den Kunden K zur Unterschrift auf einem Bestellschein, auf dem er dann vorgefaßtem Tatplan entsprechend weitere Gegenstände als angeblich bestellt einträgt. Hierher gehören außerdem alle Fälle, in denen der Täter den Diebstahl dadurch vorbereitet, daß er den Gewahrsamsinhaber durch Täuschung zu einer Gewahrsamslockerung veranlaßt (vgl. Saarbrücken NJW 1968, 262; Krhe Justiz 1973, 396). Beispiel: A'lockt 27
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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den B durch einen fingierten Telefonanruf aus dem Haus, um dann die Abwesenheit des B dazu zu benutzen, dessen Wohnung in aller Ruhe auszuräumen. - Oder: A verschafft sich unter der bewußt wahrheitswidrigen Behauptung, er komme vom E-Werk, um den Zähler zu reparieren, Zutritt zu den Geschäftsräumen des B. Während dieser wieder seiner Arbeit nachgeht, begeht A einen Diebstahl. - Wegen weiterer Beispiele siehe § 242 Anm. V 6. 5. Eine Vermögensverfügung kann auch in einem Unterlassen liegen (h. A.; kritisch Hansen MDR 1975, 533). Beispiele: A täuscht dem B vor, er habe das ihm gewährte Darlehen bereits zurückgezahlt. B verzichtet hierauf auf die Geltendmachung seiner Ansprüche. - Oder: Ein Gläubiger wird davon abgehalten, rechtzeitig die Zwangsvollstreckung zu betreiben (Stgt NJW 1963, 825). - Oder: Der Buchhalter A hat seinem Geschäftsherrn B im Laufe des Jahres 10 000 DM unterschlagen. Am Jahresende legt er B eine „frisierte" Abrechnung vor. Da B glaubt, alles sei in Ordnung, unterläßt er die Rückforderung des unterschlagenen Betrags. Auch hier kommt Betrug in Betracht. Daß B seine Ansprüche nicht kennt, steht der Annahme einer Vermögensverfügung nicht entgegen (s. o. 2). Man kann auch nicht sagen, B habe sich „keine Gedanken gemacht". Es genügt, daß er gedacht hat, alles sei „in Ordnung" (s. o. III 2). Betrug ist also tatbestandsmäßig gegeben; die Tat hat jedoch als sogenannter Sicherungsbetrug gegenüber der Unterschlagung keine rechtlich selbständige Bedeutung, sondern stellt sich als mitbestrafte Nachtat dar (vgl. III 2 E vor § 52). V. Als Folge der Verfügung muß ein Vermögensschaden eintreten. 1. Vermögen ist die Gesamtheit aller wirtschaftlichen Güter, die der Verfügungsgewalt einer Person unterstehen (Anm. I). Hierher gehören vor allem a) das Eigentum; b) der Besitz, auch wenn er nicht rechtmäßig erworben ist, z. B. der Besitz des Diebes an seiner Beute; c) Forderungen, auch wenn sie nicht einklagbar, das gesetz- oder sittenwidrig sind; d) die menschliche Arbeitskraft; e) Anwartschaftsrechte, z. B. das Recht des Vorbehaltskäufers auf Übereignung der Sache nach Zahlung des Restkaufpreises; f) der Kundenstamm eines Geschäftsmanns (RG 71, 334). 2. Ein Schaden tritt ein, wenn das Vermögen durch die Verfügung in seinem wirtschaftlichen Wert vermindert worden ist. Ob dies zutrifft, ist durch einen Vergleich der Vermögenslage vor und nach der Verfügung zu ermitteln. Hierbei sind alle Aktiva und Passiva vor und nach der Verfügung zu berücksichtigen und einander gegenüberzustellen (sog. Saldiernngstheorie). Beispiel: Wenn A in Erfüllung einer Verbindlichkeit 1000,DM zahlt, so erleidet er hierdurch keinen Schaden. Er hat zwar die 1000,- DM verloren, andererseits ist er von seiner Verbindlichkeit befreit. Bei der Saldierung außer Betracht bleiben Schadensersatz- und Rückgewähransprüche, die erst durch die Tat selbst entstehen. Wenn A z. B. an B für 10 000,- DM ein wertloses Bild verkauft unter der Vorspiegelung, es handle sich um einen „unbekannten" Rubens, so kann A nachher nicht 834
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sagen, dem B sei gar kein Schaden entstanden, da er sein Geld jederzeit zurückverlangen könne. Auch das Unternehmerpfandrecht hat außer Betracht zu bleiben (vgl. BayObLG JZ 1974, 189 m. Anm. Blei JA 1974, StR 87). Ein Schaden liegt auch dann vor, wenn der Eigentümer einer entwendeten Sache durch Täuschung oder Drohung veranlaßt wird, diese vom Dieb oder Hehler wieder zurückzukaufen (BGH 26, 346 m. Anm. Gössel JR 1977, 32). 3. Trotz scheinbar gleichwertiger Gegenleistung kann in Sonderfällen ein Schaden und damit Betrug vorliegen, wenn die Gegenleistung nicht dem entspricht, was der Getäuschte aufgrund Vereinbarung oder Treu und Glauben nach der Verkehrssitte erwarten durfte. a) Ein Schaden kann z. B. darin liegen, daß zweckgebundene staatliche Mittel fehlgeleitet werden, so daß der erstrebte sozialpolitische Zweck nicht erreicht wird. Betrug begeht daher, wer sich durch falsche Angaben ein zinsverbilligtes Darlehen aus öffentlichen Mitteln erschleicht, auf das er nach den bestehenden Richtlinien aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse keinen Anspruch hat (BGH 19, 37, 45; KG JR 1962, 26). Dies gilt selbst dann, wenn der RückZahlungsanspruch nicht gefährdet ist und die verfügbaren Mittel so groß sind, daß trotz ihrer teilweisen Fehlleitung allen anderen Kreditanträgen entsprochen werden kann. Es genügt, daß überhaupt öffentliche Mittel fehlgeleitet werden (KG aaO.). Auf der Grundlage dieser Rspr. hat es der BGH in der 2. VW-Aktien-Entscheidung (BGH 19, 37) als versuchten Betrug angesehen, wenn jemand unter Umgehung der geltenden Bestimmungen bei mehreren Banken Anträge auf Zuteilung von je 5 Aktien stellte, obwohl er mit Rücksicht auf die übrigen Bewerber nur einen Antrag einreichen durfte. Die abweichende Ansicht des OLG Hbg (NJW 1962, 1407) wurde zutreffend abgelehnt. b) Auch die sinn- und zwecklose Fehlleitung privater Mittel kann sich als Schaden darstellen. Hierher gehört vor allem der Bettelbetrug (BGH 19, 45). Wer einem blinden Bettler eine Spende gibt, verfolgt damit einen bestimmten sozialen Zweck. Dieser wird verfehlt, wenn der Spender der Täuschung eines weder blinden noch bedürftigen Asozialen zum Opfer fällt, dem er bei Kenntnis der wahren Sachlage keinen Pfennig gegeben hätte. Ebenso ist geschädigt, wer einem angeblichen Studenten oder Blinden eine Hausierware (z. B. Postkarten oder Rasierklingen), für die er an sich gar keine Verwendung hat oder die er sonst viel billiger kaufen könnte, nur deshalb abkauft, weil er dadurch einen sozialen Zweck anstrebt (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 74 m. weit. Nachweisen; siehe auch Lackner LK 155-164). c) Ist eine Ware objektiv ihren Preis wert, so kann ein Schaden darin liegen, daß ihr besonders zugesicherte Eigenschaften fehlen, auf deren Vorliegen es dem Käufer ankommt, ohne die er die Ware nicht gekauft hätte. Auch wenn der Schaden objektiv, nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu beurteilen ist, so sind doch immer die persönlichen Bedürfnisse und Verhältnisse des Einzelnen zu berücksichtigen. Dieselbe Sache kann bei gleichem Preis für den einen brauchbar, für den anderen unbrauchbar sein (BGH 16, 325). Geschädigt ist z. B., wer ein Buch kauft, weil ihm vorgetäuscht wird, es werde an seiner Schule verwendet, für das er aber sonst weder Interesse noch Verwendung hat (vgl. Köln JR 1957, 351), oder wer eine Zeitschrift abonniert, die für ihn aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse und seines Bildungsstands praktisch wertlos ist (vgl. BGH 23, 300 mit Anm. Schröder JR 1971, 74). Auch beim Verkauf von Gebrauchtwagen kommt es nicht nur auf den objektiven Marktwert, sondern auch auf die 27'
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besonderen Verhältnisse des Käufers an (BayObLG JR 1962, 65). Wer z. B. weiß, daß der Käufer nur an einem neuwertigen, unfallfreien Fahrzeug interessiert ist, ihm aber trotzdem einen Unfallwagen mit falschem Tachometerstand „andreht", begeht demnach auch dann Betrug, wenn der Preis an sich nicht übersetzt ist (BayObLG aaO.; Stgt Justiz 1967, 56; Hamm NJW 1968, 903; Ddf NJW 1971, 158 m. krit. Anm. Blei JA 1971, StR 127). - Ebenso begeht Betrug, wer einem Landwirt eine Melkmaschine für 2-3 Kühe verkauft, obwohl er genau weiß, daß dem Landwirt nur mit einer Maschine für mindestens 10-15 Kühe gedient ist (BGH 16, 321). Hierher gehören auch die Fälle, in denen unsolide Automatenvertreter kleine Gewerbetreibende durch Täuschung veranlassen, ihre Unterschrift unter einen Kaufvertrag über einen kostspieligen Warenautomaten zu setzen, der zwar objektiv den Kaufpreis wert ist, für den sie aber mit Rücksicht auf ihren geringen Umsatz und die Lage ihres Geschäftes keine Verwendung haben (vgl. KG JR 1966, 391 m. zust. Anm. Schröder). Es wäre andererseits verfehlt, Betrug bei jedem Fehlen einer zugesicherten Eigenschaft anzunehmen. Betrug entfällt jedenfalls dann, wenn die Sache auch ohne die zugesicherte Eigenschaft ihr Geld wert ist und die Zwecke des Käufers erfüllt (vgl. BGH 16,220 gegen Köln NJW 1959, 1980). So muß der Kauf eines Teppichs, der anstatt 100% nur 70% Wolle enthält, nicht ohne weiteres zu einem Schaden führen; ebensowenig der Kauf einer Hose aus Zellwolle, die als wollene Gabardinehose angepriesen wird, aber nur 26,- DM kostet (BGH aaO.). Auch beim Kauf eines Gebrauchtwagens muß nicht jedes Fehlen einer zugesicherten Eigenschaft zu einem Schaden führen. Weitere Beispiele aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung: kein Betrug, wenn ein Vertreter von Kindemahrungsmitteln, die durchaus brauchbar und preiswert sind, zur Förderung seines Umsatzes wahrheitswidrig behauptet, er käme im Auftrag des Gesundheitsamts und die Kinder benötigten unbedingt die von ihm vertriebene Ware; hier liegt zwar eine Täuschung, aber kein wirtschaftlich meßbarer Schaden vor (vgl. Köln NJW 1968, 1893). - Oder: Kein Schaden, wenn ein Hausbesitzer aufgrund der wahrheitswidrigen Behauptung, er sei hierzu gesetzlich verpflichtet, eine Wartung seines Heizöltanks vornehmen läßt (Stgt NJW 1971, 633 m. zust. Anm. Blei JA 1971, StR 128 sowie krit. Stellungnahme von Cramer JZ 1971, 415), oder wenn jemand durch unwahre Behauptungen zur Bestellung einer für seine Zwecke durchaus brauchbaren Zeitschrift veranlaßt wird (Hamm NJW 1969, 624, 1778). Betrug jedoch, wenn die Zeitschrift für den Bezieher aufgrund seines niedrigen Bildungsstands praktisch wertlos ist (vgl. BGH 23, 300 m. Anm. Schröder JR 1971, 74 sowie KG JR 1972, 28 betr. Mitgliedschaft in einem Buchclub; Köln NJW 1976, 1222 betr. Bezugsverpflichtung für eine Lexikonbibliothek). d) Ein Vermögensschaden liegt nicht schon dann vor, wenn der Erwerber einer Sache, die ihren Kaufpreis objektiv wert ist, durch die Anschaffung in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit beeinträchtigt wird. Die Erschleichung der Unterschrift unter einen Bestellschein begründet vor allem nicht schon deshalb einen Schaden, weil der Kunde an sich gar nichts bestellen wollte (BGH 22, 88; KG JR 1972, 28). In solchen Fällen kommt nach BGH 16, 321 (ebenso KG JR 1966, 391 m. zust. Anm. Schröder) Betrug nur in Betracht, wenn aa) die erworbene Sache für die Zwecke des Käufers entgegen der Behauptung des Verkäufers nicht brauchbar ist (s. o. Anm. c), oder bb) Der Käufer durch die Verpflichtung, die er bei Kenntnis der wahren Sachlage nicht eingegangen wäre, zu vermögensschädigenden Maßnahmen genötigt wird (Beispiel: A muß ungünstig Wertpapiere verkaufen, um die Mittel zur Anschaffung einer angeblich besonders preisgünstigen Maschine flüssig zu machen); oder 836
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cc) der Käufer nicht mehr über die Mittel verfügen kann, die zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner sonstigen Verbindlichkeiten oder für eine angemessene Wirtschaftsoder Lebensführung unerläßlich sind. Bei einem Illustriertenabonnement wird dies in der Regel nicht der Fall sein (vgl. Hamm NJW 1969, 1778). Siehe andererseits Celle MDR 1969, 158: Monatsraten von 7-10 DM können bei Kleinverdienern für die Wirtschaftsführung bereits eine Rolle spielen; dd) ein Minderjähriger, der noch ohne Einkommen und Vermögen ist, mit einer erheblichen Forderung belastet wird (vgl. BayObLG NJW 1973, 633 mit zujt. Anm. Berz NJW 1973, 1337 betr. Erschleichung einer Wäschebestellung im Wert von 1115,- DM für eine Schülerin). e) Beim Erwerb einer gestohlenen Sache besteht der Schaden des Erwerbers darin, daß dieser, auch wenn er gutgläubig ist, an der Sache kein Eigentum erwerben kann (§ 935 BGB). Betrug kann aber auch durch Veräußerung einer durch Unterschlagung oder Betrug erlangten Sache begangen werden (BGH 1,93; 15, 83; Köln MDR 1966, 253; str., vgl. Cramer in Schönke-Schröder 82; Lackner LK 186, jeweils mit weit. Nachw.). Der Schaden des Erwerbers besteht in diesen Fällen in der Gefahr, vom ursprünglichen Eigentümer des bösgläubigen Erwerbs oder gar der Hehlerei bezichtigt zu werden. Kommt es zu einem Rechtsstreit, so ist die Rechtsposition des Erwerbers besonders durch § 932 Abs. 2 BGB gefährdet, da er befürchten muß, daß ihm grobe Fahrlässigkeit beim Erwerb nachgewiesen wird (Hbg NJW 1956, 392). Es können aber auch gesellschaftliche Rücksichtnahme oder wirtschaftliche Erwägungen sein, die ihn veranlassen, dem Herausgabeverlangen des ursprünglichen Eigentümers zu entsprechen (BGH 15, 83, 87). f) Ein Schaden kann auch darin liegen, daß einer an sich brauchbaren Sache die vom Verkäufer vorgespiegelten marktpreiserhöhenden Eigenschaften fehlen, auf die es dem Käufer ankommt und ohne die er die Sache entweder gar nicht oder nur zu einem geringeren Preis gekauft hätte. Beispiele: Ein Eierimporteur verkauft unter Verwendung falscher Kontrollmarken 4 - 6 Wochen alte holländische Eier als Frischeier zu einem Preis, den er ohne die Täuschung nicht hätte erzielen können (BGH JR 1955, 229). Richtet sich der Marktpreis einer Ware, z. B. Hopfen, nach der Herkunft aus einem bestimmten Anbaugebiet, so begeht Betrug, wer vorspiegelt, die von ihm verkaufte Ware stamme aus dem Anbaugebiet mit dem höheren Marktpreis. Dies gilt auch dann, wenn ein wirklicher Güteunterschied nicht besteht (BGH 8,46). g) Bei Kreditgeschäften hegt ein Schaden nicht nur bei Zahlungsunfähigkeit, sondern auch dann vor, wenn ein zahlungsfähiger Schuldner zahlungsunwillig ist. Fehlt nämlich der Zahlungswille, so ist die Darlehensforderung gefährdet, weil der rechtzeitige und vollständige Eingang der Darlehenssumme fast immer durch den schlechten Willen des Schuldners beeinträchtigt wird (BGH 15, 24, 27). Dies gilt auch dann, wenn die Forderung zwar wertmäßig gesichert ist, die Verwertung der Sicherheit aber von der Mitwirkung des zahlungsunwilligen Schuldners abhängt, z. B. wenn die zur Sicherung übereignete Sache im Besitz des Schuldners verblieben ist (BGH aaO.). Eine schadensgleiche Vermögensgefährdung liegt weiter dann vor, wenn eine Forderung nur durch sog. Finanz- oder Reitwechsel abgesichert wird, obwohl der Kreditgeber einen im Geschäftsverkehr allgemein höher bewerteten Handels- oder Warenwechsel erwarten durfte (BGH NJW 1976,2028). h) Nicht einheitlich beurteilt werden kann der sog. Anstellungsbetrug. Erschleicht sich der Täter durch falsche Angaben über seine Ausbildung, seinen Werdegang usw. eine 837
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Stellung, der er leistungsmäßig nicht gewachsen ist, so liegt ein Schaden immer vor. Auf die Art des Anstellungsverhältnisses kommt es in diesen Fällen nicht an. Anders jedoch, wenn der Täter seine Aufgaben zufriedenstellend erfüllen kann und der Schwindel nur durch Zufall an den Tag kommt. Hier muß auf die besondere Eigenart des jeweiligen Anstellungsverhältnisses abgestellt werden. aa) Wer sich eine Beamtenstelle erschleicht, obwohl seiner beruflichen Vorbildung nach nicht die Voraussetzungen erfüllt sind, die das jeweilige Besoldungsgesetz verlangt, fügt der Anstellungsbehörde auch dann einen Vermögensschaden zu, wenn seine Leistungen befriedigend sind. Der Schaden ist in diesem Fall darin zu sehen, daß der Täter Bezüge und Versorgungsleistungen erhält, auf die er nach dem allein maßgeblichen Standpunkt der Behörde keinen Anspruch hat. Auf die fachlichen Leistungen allein kommt es bei Anstellung und Besoldung nicht an (BGH 5, 358). bb) Auf Angestellte des öffentlichen Dienstes sind diese Grundsätze nur dann anwendbar, wenn die gestellten Aufgaben besondere Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit erfordern oder wenn Anstellung und Höhe der Bezüge - ähnlich wie bei Beamten - eine abgeschlossene Ausbildung voraussetzen oder von der Art und Dauer früherer Beschäftigungen abhängen (BGH 17, 254; NJW 1961, 2027). cc) Die für Angestellte des öffentlichen Dienstes entwickelten Grundsätze gelten auch für Angestellte der Privatwirtschaft, sofem es dem Arbeitgeber erkennbar auf eine besonders zuverlässige und vertrauenswürdige Persönlichkeit ankommt (Celle BB 1960, 627). i) Als Schaden gilt auch der Verlust von Erwerbs- und Gewinnaussichten, sofem ihnen der Geschäftsverkehr bereits wirtschaftlichen Wert beimißt, weil sie mit Wahrscheinlichkeit einen Vermögenszuwachs erwarten lassen (BGH 17, 147; 19, 42). So zählen zum Vermögen der feste Kundenkreis eines Kaufmanns, die gesicherte Anwartschaft auf Verleihung einer Stelle oder auf Zuteilung einer Ware oder einer Aktie im Rahmen der Privatisierung des Bundesvermögens (BGH 19, 37, 42), aber auch die Aussicht, im Wettbewerb um einen Auftrag in einem geordneten Verfahren nach bestimmten Regeln den Zuschlag zu erlangen (BGH 17, 147). - (Beachte: Der Teilnehmer einer Ausschreibung, der ein angemessenes Angebot abgibt, begeht nicht schon dadurch einen Betrug oder Betrugsversuch, daß er Mitbewerber veranlaßt, nicht ernst gemeinte höhere Angebote einzureichen, vgl. BGH 16,367.) k) Auch der Mietwert eines Hauses stellt einen Vermögenswert dar. Zweifelhaft erscheint allerdings eine Entscheidung des LG Mannheim (NJW 1977, 160 m. abl. Anm. Beulke NJW 1977, 1073), wonach eine schadensgleiche Vermögensgefährdung schon dann vorliegen soll, wenn der Vermieter eines Appartementhauses durch Täuschung über den tatsächlichen Beruf der Dame veranlaßt wird, eine Wohnung an ein Callgirl zu vermieten. Hier müßte zunächst einmal abgewartet werden, ob durch die Vermietung tatsächlich ernsthafte Vermögensnachteile entstehen, die dann in der Regel durch eine Kündigungsklage beseitigt werden könnten. 1) Ein Schaden kann schließlich auch dann vorliegen, wenn der Getäuschte keinen Rechtsanspruch auf die Gegenleistung hat, weil das abgeschlossene Rechtsgeschäft gesetzoder sittenwidrig ist. Betrug begeht daher, wer z. B. ein untaugliches Abtreibungsmittel liefert (RG 44, 230) oder wer als Hehler den Dieb um den Erlös der Beute prellt (BGH 2, 364), wer eine Prostituierte um ihren Lohn prellt (a. A. BGH 4, 373 m. abl. Anm. Kohlhaas JR 1954, 97) oder wer im umgekehrten Fall den Freier um den von ihm 838
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vorausgezahlten Dirnenlohn prellt (vgl. Hamburg NJW 1966, 1525; Köln NJW 1972, 1823; Krhe NJW 1976, 903). m) Schrifttum: Bockelmann, Zum Begriff des Vermögensschadens beim Betrug, JZ 1952, 461; - Cramer, Grenzen des Vermögensschutzes im Strafrecht, JuS 1966, 472; ders., Vermögensbegriff und Vermögensschaden im Strafrecht, 1968; - Gallas, Der Betrug als Vermögensdelikt, Eb. Schmidt-Festschr. 1961, S. 401; - Gutmann, Der Vermögensschaden beim Betrug im Licht der neueren höchstrichterl. Rspr., MDR 1963, 3 ff., 91 ff.; - Jakobs, Die objektiv-individuelle Schadensermittlung beim Betrug - OLG Köln NJW 1977, 1222, JuS 1977, 228; - Meurer, Betrug als Kehrseite des Ladendiebstahls?, JuS 1976, 300; - Mohrbotter, Der Bettel-, Spenden-und Subventionserschleichungsbetrug, GA 1969, 225; - ders., Grenzen des Vermögensschadens beim Betrug, GA 1975, 41; - Otto, Die Struktur des strafrechtlichen Vermögensschutzes, 1970; - Puppe, Vermögensverfügung und Vermögensschaden bei Eingehung unwirksamer Verbindlichkeiten, MDR 1973, 12; - Schröder, Grenzen des Vermögensschutzes im Strafrecht, NJW 1962, 721; - Steinke, Vermögensdelikte im Bundesligaskandal, Kriminalistik 1975, 402; - Triffterer, Vermögensdelikte im Bundesligaskandal, NJW 1975, 612. VI. Der subjektive Tatbestand erfordert neben dem Vorsatz die Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen. 1. Der Vorsatz muß sich auf alle Merkmale des objektiven Tatbestands erstrecken. Der Täter muß also wissen, daß er einen Irrtum erregt bzw. unterhält und daß der Getäuschte aufgrund dieses Irrtums eine vermögensschädigende Verfügung trifft. Darüber hinaus muß der Täter wissen, daß der von ihm für sich oder einen Dritten erstrebte Vermögensvorteil rechtswidrig ist. Die Ausführungen zur subjektiven Tatseite der Erpressung (vgl. § 253 Anm. 5) gelten entsprechend. Hinsichtlich aller Tb.-Merkmale genügt bedingter Vorsatz. Dies ist von besonderer Bedeutung für den Vorsatz der Vermögensschädigung, da in den meisten Fällen der Einwand des Täters, er habe nicht die Absicht gehabt, jemanden zu schädigen, nicht widerlegt werden kann. Es genügt hier der Nachweis, daß der Täter mindestens mit der Möglichkeit gerechnet hat, daß jemand einen Schaden erleiden könne, und daß er diesen für den Fall seines Eintritts in Kauf genommen hat. Auch hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des erstrebten Vermögensvorteils genügt bedingter Vorsatz (vgl. Koblenz NJW 1976, 63 betr. Geltendmachung zweifelhafter Schadensersatzansprüche gegen Ladendiebe). 2. Die Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, muß nicht die eigentliche Triebfeder oder das in erster Linie erstrebte Ziel des Täters sein; es genügt, daß es dem Täter auf den rechtswidrigen Vermögensvorteil als sichere Folge seines Handelns ankommt, um ein anderes Ziel zu erreichen (BGH 16, 1). Ein Schwarzfahrer bei der Bundesbahn kann sich daher nicht darauf berufen, er habe die Bundesbahn nur deshalb um den Fahrpreis geprellt, weil er seine „Sechserkarte" vergessen hatte und auf jeden Fall noch rechtzeitig einen Abendkurs erreichen wollte (BGH aaO.). Keine Bereicherungsabsicht i. S. des § 263 liegt dagegen vor, wenn der durch die Täuschung erlangte Vermögensvorteil für den Täter nur eine unerwünschte, peinliche oder lästige Nebenfolge darstellt (vgl. Köln JR 1970, 468 m. zust. Anm. Schröder). Beispiel: Ein frei praktizierender Tierarzt (Dr. T) hat im Auftrag der zuständigen Behörde gegen eine bestimmte Gebühr bei mehreren Landwirten von insgesamt 58 Rindern Blutproben zu entnehmen und zur Untersuchung einzusenden
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(Sachverhalt der zuletzt zitierten Entscheidung). Als er seine Arbeit bereits weitgehend abgeschlossen hat, stürzt durch ein Mißgeschick ein Kasten mit ungefähr 30 gefüllten Blutkanülen um. Um die zeitraubende Arbeit nicht nochmals durchführen zu müssen, entnimmt Dr. T von dem nächsten Tier, das er - ebenso wie die bisher untersuchten Rinder - für gesund hält, so viel Blut, daß er die 30 fehlenden Blutproben ohne großen Zeitaufwand ersetzen kann. Hierbei kommt es ihm unwiderlegbar nicht auf die - äußerst geringen - Gebühren, sondern ausschließlich darauf an, die lästige Wiederholung seiner Arbeitsleistung zu vermeiden. Er hatte deshalb nicht die „Absicht", sich rechtswidrig den Genuß der Gebühren zu verschaffen. Diese waren weder hauptsächliches noch mitbestimmendes Motiv. Die Bereicherungsabsicht kann auch nicht damit begründet werden, daß die Arbeit, der sich Dr. T. entziehen wollte, einen Vermögenswert darstellt. Dieser Aspekt könnte nur dann zur Annahme eines Betrugs führen, wenn es Dr. T. gerade auf diesen vermögensrechtlichen Aspekt angekommen wäre, was jedoch nicht der Fall war. Wer sich aus Faulheit oder Bequemlichkeit um eine Arbeit „drückt", begeht nicht schon deshalb einen Betrug, weil er für seine mangelhafte Arbeit bezahlt wird (vgl. Schröder aaO. sowie Blei JA 1971, StR 129). 3. Vermögensvorteil ist jede günstigere Gestaltung der Vermögenslage. Eine solche liegt z. B. schon dann vor, wenn sich der Täter in einem Rechtsstreit eine bessere Beweislage verschafft (BGH 3, 162). Auch der Besitz einer Sache ist schlechthin als Vermögensvorteil anzusehen, wie umgekehrt jeder - auch nur vorübergehende - Besitzverlust einen Schaden darstellt (BGH 14, 389). 4. Rechtswidrig ist der erstrebte Vermögensvorteil, wenn der Täter keinen Anspruch darauf hat. Ob dies der Fall ist, richtet sich vor allem nach den Vorschriften des BGB und des HGB. Besteht ein Rechtsanspruch auf den erstrebten Vorteil, so wird dieser nicht dadurch rechtswidrig, daß der Berechtigte sich zu seiner Durchsetzung unlauterer Mittel bedient, z. B. den Richter durch falsche Angaben täuscht, um die Beweislage zu verbessern (BGH 3, 160, 162; 20, 136). Keinen Betrug begeht daher der Bestohlene, der den Dieb durch Täuschung zur Herausgabe der gestohlenen Sache veranlaßt, oder ein Gläubiger, der seinen säumigen Schuldner durch Täuschung zur Rückzahlung des Darlehens veranlaßt. Sehr umstritten und auch auf dem 51. DJT 1976 in Stgt ungeklärt geblieben ist die Frage, ob und in welchem Umfang ein Geschäftsinhaber berechtigt ist, von dem auf frischer Tat betroffenen Ladendieb Schadensersatz in Form von Fangprämien und pauschalierten Bearbeitungsgebühren zu verlangen. Siehe hierzu besonders Koblenz JR 1976, 69 m. abl. Anm. Roxin; OLG Braunschweig NJW 1976, 60; LG Braunschweig NJW 1976, 1640; Canaris NJW 1974, 521; Kramer NJW 1976, 1607; Lange JR 1976, 177, Meurer JuS 1976, 300; Wollschläger NJW 1976, 12. 5. Der vom Täter erstrebte Vermögensvorteil und der verursachte Vermögensschaden müssen einander entsprechen (sog. Stoffgleichheit, vgl. BGH 6, 115; NJW 1961, 685; Braunschweig NJW 1961, 1273). Diese Frage ist vor allem bei Provisionsgeschäften von Bedeutung. Wenn z. B. ein Provisionsvertreter einen Kunden durch Täuschung zu einer Bestellung veranlaßt, um alsdann den Vertrag seiner Firma zur Provisionierung einzureichen, so kommt es ihm zunächst darauf an, einen Vermögensvorteil für seine Firma zu erlangen, da dies Voraussetzung für seinen eigenen Vorteil ist. Der für die Firma erstrebte Vorteil entspricht dann dem Schaden, den der Besteller erlitten hat. Der eigene Vorteil des Vertreters wird erst dann von Bedeutung, wenn der Vertreter den Vertrag zur Provisionierung einreicht und hierbei damit rechnet, daß der Vertrag von Seiten des Bestellers wegen arglistiger Täuschung angefochten wird. Trifft dies zu, so hat
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Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue
§ 263
sich der Vertreter insgesamt in zwei Fällen des Betrugs schuldig gemacht: zunächst gegenüber dem Besteller, dann gegenüber der eigenen Firma (vgl. Braunschweig NJW 1961, 1273; BGH 21, 384). Die beiden Betrugshandlungen sind jedoch in ihrem Verhältnis untereinander keine rechtlich selbständigen Handlungen, sondern bilden eine Handlungseinheit, wobei in BGH 21, 386 offen gelassen wurde, ob Fortsetzungszusammenhang oder natürliche Handlungseinheit vorliegt. Die Rechtsfolgen sind die gleichen. VII. Vollendet ist der Betrug mit Eintritt des Vermögensschadens, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob auch der erstrebte Vermögensvorteil eingetreten ist. In gewissen Fällen wird von der Rspr. bereits die Gefahr eines Schadens selbst als Schaden angesehen. Dies gilt vor allem für die Gefahr, aufgrund einer Verpflichtungserklärung auf Erfüllung oder Schadensersatz in Anspruch genommen zu werden (vgl. Hamm NJW 1965, 702). So liegt vollendeter Betrug schon dann vor, wenn ein Vertreter sich durch Täuschung die Unterschrift unter einen für den Kunden nachteiligen Vertrag erschleicht (Hamm aaO.; KG JR 1972, 28). Ein Schaden des Kunden darf allerdings, wie schon unter V 3 d erwähnt, nicht allein deshalb bejaht werden, weil der Kunde nichts bestellen wollte; entscheidend sind immer die Umstände des Einzelfalls (BGH 22, 88). Zum Vertreterbetrug siehe auch oben V 3 c und VI 5. - Versucht ist der Betrug mit dem Beginn der Täuschungshandlung. Beispiel: A schreibt bewußt der Wahrheit zuwider an seine Versicherungsgesellschaft, sein gegen Diebstahl versichertes Fahrrad sei gestohlen worden. In Wirklichkeit hat A das Fahrrad auf dem Leihhaus versetzt. Deckt die Versicherungsgesellschaft den Schwindel auf und verweigert sie die Auszahlung der Versicherungssumme, so hat A sich wegen versuchten Betrugs zu verantworten. Die Verpfändung des Fahrrads wäre dagegen nur straflose Vorbereitungshandlung (BGH NJW 1952, 430). - Die Gutschrift einer Provision, auf die der Vertreter keinen Anspruch hat, begründet nur dann einen vollendeten Betrug, wenn sie den Vertreter in die Lage versetzt, über den gutgeschriebenen Betrag sofort zu verfügen (BGH 6, 115). Ohne diese Voraussetzung ist die dolose Veranlassung der Gutschrift nur ein versuchter Betrug. VIII. Konkurrenzen: Über das Verhältnis zum Diebstahl siehe § 242 Anm. V 4, 5. Straflose Nachtat liegt vor, wenn der Betrug nur begangen wird, um eine andere Straftat, z. B. einen Diebstahl, zu verdecken (sog. Sicherungsbetrug, s. o. IV 5 und III 2 e vor § 52). Tatmehrheit kommt jedoch in Betracht, wenn der Täter bei der vorausgegangenen Schädigung noch keine Bereicherungsabsicht gehabt hat (BGH NJW 1955, 508; zw.). Der Verbrauch einer betrügerisch erlangten Sache ist nicht mehr als Unterschlagung strafbar (vgl. BGH [GrS] 14, 38 sowie § 246 Anm. 4 c). Bleibt unklar, ob der Täter schon bei der Besitzerlangung mit Betrugsvorsatz gehandelt oder ob er den Entschluß, die Sache sich rechtswidrig zuzueignen, erst später gefaßt hat, so ist Wahlfeststellung zwischen § 263 und § 246 möglich (Saarbrücken NJW 1976, 65). - Tateinheit kommt u. a. in Betracht mit §§ 146 Abs. 1 Nr. 3, 147, 148 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2, 153 ff., 164, 246, 266, 267, 268, 271 sowie mit § 265 b (vgl. § 265 b Anm. 8). § 370 A O (Steuerhinterziehung) geht als lex specialis vor. Über das Verhältnis zu § 264 siehe dort Anm. 13. IX. Die Privilegierung von Angehörigen usw. (Abs. 4) wurde durch das EGStGB der entsprechenden Regelung bei Diebstahl und Unterschlagung angepaßt (vgl. § 247). Die Verweisung auf § 243 Abs. 2 stellt sicher, daß bei betrügerischer Erlangung geringwertiger Sachen und Leistungen Abs. 3 keine Anwendung findet. X. Wegen Führungsaufsicht (Abs. 5) siehe § 245 Anm. 1-3.
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§ 264
§ 264
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue (Freund)
Subventionsbetrug
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. einer für die Bewilligung einer Subvention zuständigen Behörde oder einer anderen in das Subventionsverfahren eingeschalteten Stelle oder Person (Subventionsgeber) über subventionserhebliche Tatsachen für sich oder einen anderen unrichtige oder unvollständige Angaben macht, die für ihn oder den anderen vorteilhaft sind, 2. den Subventionsgeber entgegen den Rechtsvorschriften über die Subventionsvergabe über subventionserhebliche Tatsachen in Unkenntnis läßt oder 3. in einem Subventionsverfahren eine durch unrichtige oder unvollständige Angaben erlangte Bescheinigung über eine Subventionsberechtigung oder über subventionserhebliche Tatsachen gebraucht. (2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. aus grobem Eigennutz oder unter Verwendung nachgemachter oder verfälschter Belege für sich oder einen anderen eine nicht gerechtfertigte Subvention großen Ausmaßes erlangt, 2. seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger mißbraucht oder 3. die Mithüfe eines Amtsträgers ausnutzt, der seine Befugnisse oder seine Stellung mißbraucht. (3) Wer in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 oder 2 leichtfertig handelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (4) Nach den Absätzen 1 und 3 wird nicht bestraft, wer freiwillig verhindert, daß auf Grund der Tat die Subvention gewährt wird. Wird die Subvention ohne Zutun des Täters nicht gewährt, so wird er straflos, wenn er sich freiwillig und ernsthaft bemüht, das Gewähren der Subvention zu verhindern. (5) Neben einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer Straftat nach den Absätzen 1 und 2 kann das Gericht die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, und die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, aberkennen (§ 45 Abs. 2). Gegenstände, auf die sich die Tat bezieht, können eingezogen werden; § 74 a ist anzuwenden. (6) Subvention im Sinne dieser Vorschrift ist eine Leistung aus öffentlichen Mitteln nach Bundes- oder Landesrecht oder nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaften an Betriebe oder Unternehmen, die wenigstens zum Teil 1. ohne marktmäßige Gegenleistung gewährt wird und 2. der Förderung der Wirtschaft dienen soll. Betrieb oder Unternehmen im Sinne des Satzes 1 ist auch das öffentliche Unternehmen. 842
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue (Freund)
§ 264
(7) Subventionserheblich im Sinne des Absatzes 1 sind Tatsachen, 1. die durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes von dem Subventionsgeber als subventionserheblich bezeichnet sind oder 2. von denen die Bewilligung, Gewährung, Rückforderung, Weitergewährung oder das Belassen einer Subvention oder eines Subventionsvorteils gesetzlich abhängig ist. 1. Vorbemerkungen: a) § 264 wurde durch das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (1. WiKG) v. 29. 7. 1976 (BGBl. I S. 2034) in das StGB eingefügt. Gleichzeitig wurde der Tb. des Kreditbetrugs (§ 265 b) geschaffen, die früher in der Konkursordnung enthaltenen Straftatbestände (§§ 239-243 KO aF) wurden als §§ 283-283 d in modifizierter Form wieder in das StGB eingegliedert, und im Bereich des Wuchers wurden die früher in den §§ 302 a-302 f enthaltenen, äußerst differenzierten Regelungen auf einen einheitlichen Tatbestand (§ 302 a) zurückgeführt. Außerdem enthält das 1. WiKG neben der notwendigen Anpassung weiterer Gesetze die Erweiterung der Konkursantragspflicht für die OHG und die KG, sofern keiner der persönlich haftenden Gesellschafter eine natürliche Person ist (§§ 130 a, 130 b, 177 a HGB). b) Der Grund für diese umfangreichen Reformarbeiten lag in der Einsicht begründet, daß der immer stärker um sich greifenden Wirtschaftskriminalität nicht nur durch organisatorische und verfahrensrechtliche Verbesserungen (z. B. Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften und Wirtschaftsstrafkammern, vgl. § 74 c GVG) Einhalt geboten werden kann, sondern es hierzu neuer Tatbestände bedarf, um wenigstens die gröbsten Auswüchse strafrechtlich zu sanktionieren. Die Schaffung neuer Tatbestände war schon deshalb geboten, weil sich durch die rasche wirtschaftliche und technologische Entwicklung für den Intelligenztäter Strafbarkeitslücken ergaben, die mit dem Gleichheits- und Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar sind (Tiedemann ZStW 87, 253). Die vorhandenen Tatbestände, insbesondere der Tb. des Betrugs, konnten der Problematik des „white-collar-crime" nur unzureichend gerecht werden. Die Verabschiedung des 1. WiKG war nur ein erster Schritt auf dem Weg zur wirksamen Eindämmung der Wirtschaftskriminalität. Weitere Maßnahmen, insbesondere auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts, sind für ein 2. WiKG in Aussicht genommen. c) Der im Frühjahr 1975 eingebrachte RegE (BT-Drucks. 7/3441) konnte im wesentlichen auf die vom BJM 1972 eingesetzte „Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität" zurückgreifen (Kommissionsbericht 1. Teil 1976). Aus den Gesetzesmaterialien sind weiter hervorzuheben die BT-Drucks. 7/5291 (Bericht und Antrag des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform [Ber.]) sowie die Niederschriften über die Beratungen des Sonderausschusses, insbesondere über die in der 79. und 80. Sitzung durchgeführte öffentliche Anhörung von Sachverständigen (Prot. VIIS. 2467 ff.). - Schrifttum zum 1. WiKG: Berz, Das 1. WiKG, BB 1976, 1435; - Blei, Das 1. WiKG, JA 1976, StR S. 191; - Dreiss/Eitel-Dreiss, Das 1. WiKG, 1977; - Göhler/Wilts, Das 1. WiKG, DB 1976, 1609, 1657; - Heinz, Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität mit strafrechtlichen Mitteln - unter besonderer Berücksichtigung des 1. WiKG, GA 1977, 193, 225; -Müller-Emmert/Maier, Das 1. WiKG, NJW 1976, 1657;-Tiedemann, Gutachten zum 49. DJT, 1972; - ders., Der Entwurf eines 1. WiKG, ZStW 87, 253; - ders., Erscheinungsformen der Wirtschaftskriminalität und Möglichkeiten ihrer strafrechtlichen
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Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue (Freund)
Bekämpfung, ZStW 88, 231; - ders., Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität, 2 Bde, 1976. - Schrifttum speziell zum Subventionsbetrug: Götz, Bekämpfung der Subventionserschleichung, 1974; - Tiedemann, Subventionskriminalität in der Bundesrepublik, 1974. 2. Die Bezeichnung der Vorschrift als Subventionsbetrug ist insofern ungenau, als der Tatbestand gerade nicht die Verwirklichung aller Betrugsmerkmale, insbesondere nicht den Eintritt eines Vermögensschadens voraussetzt, und auch mit dem Schutzzweck des § 263 nicht voll übereinstimmt (Lackner 1 m. Nachw.). a) Anliegen der Vorschrift ist es zu verhindern, daß öffentliche Mittel durch ungerechtfertigte Inanspruchnahme in sozialschädlicher Weise fehlgeleitet werden. Ihre Notwendigkeit ergab sich nicht zuletzt aus der Erwägung, daß die ungerechtfertigte Inanspruchnahme sog. indirekter Subventionen (Steuervergünstigungen und sonstige Freistellungen von Leistungspflichten, RegE S. 15 BT-Drucks. 7/3441), schon nach früherem Recht durch die Straftatbestände des Steuerstrafrechts (siehe jetzt §§ 369 ff. AO 1977) und anderer Gesetze des Nebenstrafrechts (vgl. z. B. § 31 MOG für EG-Subventionen) strafrechtlich erfaßt werden konnte, während die jetzt in § 264 geschützten direkten Subventionen durch § 263 strafrechtlich nur unzureichend abgesichert waren (RegE S. 15 ff. BTDrucks. 7/3441; Ber. S. 3 BT-Drucks. 7/5291; Blei Prot. VIIS. 2503; Borchers Prot. VII S. 2483; Götz Prot. VII S. 2497). Auf die schweren Schäden, die gerade durch ungerechtfertigte Inanspruchnahme direkter Subventionen entstehen, hat vor allem Tiedemann hingewiesen (Subventionskriminalität, 1974, sowie Prot. VIIS. 2470). b) Geschütztes Rechtsgut ist primär die staatliche Planungs- und Dispositionsfreiheit im Bereich der Wirtschaftsförderung (Ber. S. 5 BT-Drucks. 7/5291; h. L., vgl. Lackner 1 m. Nachw.). Das Vermögen der öffentlichen Kassen ist dagegen nur nachrangig geschützt, da die Vermögensminderung gerade zum Wesen jeder Subvention gehört. Andererseits stellt auch die Fehlleitung zweckgebundener Mittel grundsätzlich einen Schaden dar (vgl. z. B. BGH 19, 37), so daß auch das Vermögen - wenngleich nicht vorrangig - als geschütztes Rechtsgut angesehen werden kann. c) Da der Tatbestand zu seiner Verwirklichung nicht den Eintritt eines bestimmten Erfolgs voraussetzt, sondern bereits dann erfüllt ist, wenn der Täter im Subventionsvergabeverfahren unrichtige Angaben gemacht oder subventionserhebliche Tatsachen pflichtwidrig verschwiegen hat, handelt es sich um ein Gefährdungsdelikt. Im Vordergrund steht nicht der Eintritt eines bestimmten rechtswidrigen Erfolgs, sondern der durch Verletzung des institutionalisierten „abstrakten Vertrauens" in Erscheinung getretene Handlungsunwert (Tiedemann ZStW 87, 253, 273). Die Annahme eines abstrakten Gefährdungsdelikts (so Lackner 1 und Samson SK 7) erscheint allerdings zweifelhaft, da durch Vornahme der Täuschungshandlung der durch das Subventionsverfahren erstrebte Zweck bereits unmittelbar gefährdet wird. Es liegt daher näher, entsprechend den Vorstellungen des Sonderausschusses (Ber. S. 5 BT-Drucks. 7/5291) ein konkretes Gefährdungsdelikt anzunehmen (für die Annahme eines „abstrakt-konkreten" Gefährdungsdelikts Göhler Prot. VHS. 2659; Göhler/Wilts DB 1976,1609, 1613). d) Ergänzend zu beachten ist das Gesetz gegen mißbräuchliche Inanspruchnahme von Subventionen (SubvG) idF des Art. 2 des 1. WiKG v. 29. 7. 1976 (BGBl. I 2034), abgedruckt in Anh. 3. Dieses als „kleine SubventionsvergabeVO" bezeichnete Gesetz (vgl. Göhler/Wilts DB 1976, 1610) gilt sowohl für Leistungen nach Bundesrecht als auch
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für solche nach Landesrecht im Rahmen des § 1 Abs. 2 aaO.), während es für Subventionen aus dem EG-Bereich nur insoweit gilt, als das EG-Recht die Leistung bereits selbst als Subvention ausweist. Ein Einfluß auf materielle EG-Normen ist wegen der fehlenden Gesetzgebungskompetenz nicht möglich (RegE S. 42 BT-Drucks. 7/3441; Götz Prot. VIIS. 2501; Berz BB 1976,1437). 3. Die in Abs. 6 enthaltene Legaldefinition des Subventionsbegriffs bringt keine phänomenologische Beschreibung, sondern eine Eingrenzung dessen, was strafrechtlich geschützt werden soll (Tiedemann ZStW 87, 253, 261). Eine allgemein gültige Definition des Begriffs läßt sich auch kaum finden, weshalb der RegE zunächst von einem rein formellen Subventionsbegriff ausging (S. 4, 22 BT-Drucks. 7/3441). Im Interesse einer klareren Tatbestandsbestimmtheit setzte sich dann jedoch im weiteren Verlauf der Beratungen die jetzt Gesetz gewordene Begriffsbestimmung durch, wonach die in Frage kommenden Subventionen nach materiellen Kriterien abschließend geregelt sind (Ber. S. 9 ff. BT-Drucks. 7/5291; Göhler/Wilts DB 1976, 1609, 1611). Nicht hierher gehören die sog. indirekten Subventionen (Steuervergünstigungen und sonstige Freistellungen von Leistungspflichten), deren strafrechtliche Erfassung bereits durch andere Vorschriften gewährleistet ist (s. o. 2 a). Nur die sog. direkten Subventionen sind tatbestandsrelevant. Im einzelnen: a) Erforderlich ist eine Leistung aus öffentlichen Mitteln. Hierher gehören nicht nur Leistungen der öffentlichen Haushalte (Bund, Länder, Gemeinden, öffentlich-rechtliche Körperschaften, zwischenstaatliche Institutionen u. a. m.), sondern auch Zahlungen aus privat-wirtschaftlich organisierten Ausgleichsfonds, soweit diese als zweckgebundenes Sondervermögen einer öffentlich-rechtlichen Regelung unterliegen (RegE S. 27 BTDrucks. 7/3441; Göhler/Wilts DB 1976, 1609, 1612). In Betracht kommen z. B. Abwrackfonds für die Binnenwirtschaft, Mühlenstillegungsfonds sowie die Schrottausgleichskasse der Montanunion (Tiedemann ZStW 87, 253, 261). b) Die Leistung muß ihre Rechtsgrundlage im Bundes- oder'Landesrecht oder im EGRecht haben. Erforderlich ist ein Gesetz im materiellen Sinn, wobei es genügt, daß die Mittel im Haushaltsplan ausgewiesen sind (Ber. S. 10 BT-Drucks. 7/5291). Steuerrechtliche Vorschriften scheiden nach den Vorstellungen des Sonderausschusses (Ber. S. 11 aaO.) wegen des grundsätzlichen Vorrangs des Steuerstrafrechts auch dann aus, wenn sie nicht in der Form von Steuererleichterungen, sondern als Geldleistungen gewährt werden, wie dies z. B. bei den Berlin-Präferenzen der Fall ist (Lackner 2 b). c) Die Leistung muß an Betriebe oder Unternehmen gewährt werden (siehe hierzu § 14 Anm. III 2 a), wobei ein fingierter Betrieb ausreicht (Ber. S. 12 BT-Drucks. 7/5291). Satz 2 stellt klar, daß auch Leistungen an öffentliche Unternehmen dem Anwendungsbereich der Vorschrift unterliegen, und zwar ohne Rücksicht auf die Rechtsform, in der sie betrieben werden (Ber. S. 12 unter Hinweis auf § 130 Abs. 3 OWiG). d) Die Leistung muß wenigstens zum Teil ohne marktmäßige Gegenleistung gewährt werden. Ohne jede äquivalente Gegenleistung ist z. B. ein verlorener Zuschuß. Eine Subvention liegt aber auch dann vor, wenn ein Darlehen zu einem marktunüblich ermäßigten Zinssatz gewährt wird (RegE S. 22 BT-Drucks. 7/3441; Ber. S. 10 BT-Drucks. 7/5291). Für Leistungen, bei denen ein Markt fehlt (z..B. bei staatlichen Bürgschaften und Garantieübernahmen), ist die hypothetische marktgerechte Gegenleistung maßgeblich (Göhler/Wilts DB 1976,1612). Hierbei bedarf es einer u. U. versicherungsmathema845
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Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue (Freund)
tischen Berechnung und Bewertung des ven der öffentlichen Hand eingegangenen Risikos einerseits und einer etwaigen Gegenleistung andererseits (Ber. S. 10; Lackner 2 c, aa; Müller-Emmert/Maier NJW 1976, 1657, 1659). e) Die Leistung soll der Förderung der Wirtschaft dienen. Die Art des Wirtschaftszweigs (z. B. Forst- oder Landwirtschaft, Weinbau) ist unerheblich. Subventionen in anderen Bereichen, z. B. auf dem Gebiet der Forschung und Technologie sowie im Sozial- und Bildungswesen, sind bewußt aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift herausgenommen worden, da die in diesen Bereichen auftretende Kriminalität durch die allgemeinen Tatbestände des Betrugs und der Untreue adäquat erfaßt werden kann (Müller-Emmert/Maier NJW 1976, 1657, 1659 m. Nachw.). Nicht hierher gehören deshalb typische Sozialsubventionen wie Kinder- und Wohngeld, Sozial- und Arbeitslosenhilfe. Verfolgt eine Subvention mehrere Zwecke, so genügt es, wenn sie nur teilweise der Wirtschaft dient, wie dies z. B. bei der Förderung von Kulturfilmen der Fall ist (Müller-Emmert/Maier aaO.). Auch die Förderung marktnaher Forschungsprojekte dient in der Regel der Wirtschaft, während dies bei der Grundlagenforschung meist nicht zutrifft (Ber. S. 10 f. BT-Drucks. 7/5291). Wegen weiterer Beispiele siehe Göhler/Wilts DB 1976, 1612 sowie Lackner 2 c. 4. Subventionsgeber kann auch eine durch zivilrechtlichen Vertrag eingesetzte private Institution sein, z. B. eine Bank (Ber. S. 6 BT-Drucks. 7/5291). Subventionsnehmer ist gemäß § 2 Abs. 1 SubvG (Anh. 3) jeder, der für sich oder einen anderen eine Subvention beantragt oder eine Subvention oder einen Subventionsvorteil für sich in Anspruch nimmt. 5. Die Tathandlungen des Abs. 1 müssen sich auf subventionserhebliche Tatsachen i. S. von Abs. 7 i. V. mit § 2 SubvG (Anh. 3) beziehen. Im einzelnen: a) Nach Abs. 7 Nr. 1 sind nur solche Tatsachen relevant, die durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes vom Subventionsgeber (Anm. 4) ausdrücklich als subventionserheblich bezeichnet worden sind. Gesetz ist hierbei im materiellen Sinn zu verstehen, so daß auch Rechtsverordnungen und EG-Vorschriften eine ausreichende Rechtsgrundlage darstellen (Ber. S. 13 BT-Drucks. 7/5291; Lackner 3 a). Der Umfang der als subventionserheblich zu bezeichnenden Tatsachen ergibt sich aus § 2 SubvG (Anh. 3). b) Nach Abs. 7 Nr. 2 sind auch solche Tatsachen relevant, die nach dem Gesetz (RechtsVO, EG-Vorschrift) zwar klar und unmißverständlich als subventionserheblich herausgestellt sind, ohne daß ausdrücklich unter Bezugnahme auf § 264 die Subventionserheblichkeit als solche bezeichnet wird. Abs. 7 Nr. 2 ist vor allem für solche Subventionen anwendbar, die nach Landesrecht oder unmittelbar von einer EG-Stelle gewährt werden, für die die Regelung des SubvG nicht verbindlich ist (§ 1 SubvG). Weist das Gesetz die subventionserheblichen Tatsachen nicht aus und erfolgt auch keine Bezeichnung nach § 2 SubvG, so liegt eine bewußt in Kauf genommene Strafbarkeitslücke vor (Göhler/Wilts DB 1976, 1614), die durch § 263 nur teilweise geschlossen werden kann (s. u. Anm. 13). 6. Die Tathandlungen: a) Unrichtig i. S. von Nr. 1 ist eine Angabe, wenn sie hinsichtlich einer subventionserheblichen Tatsache (Anm. 5) mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt; sie ist unvollständig,
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wenn sie den Sachverhalt nur teilweise und dadurch in seiner tatsächlichen Bedeutung entstellt wiedergibt. Die unrichtigen bzw. unvollständigen Angaben müssen für den Täter (oder einen Dritten) vorteilhaft, d. h. geeignet sein, Subventionen zu Unrecht zu erlangen (Göhler/Wilts DB 1976, 1613). Hieran fehlt es z. B., wenn der Täter falsche Angaben macht, die ihm ungünstig sind oder zur Versagung einer Subvention für einen anderen führen könnten (RegE S. 25 BT-Drucks. 7/3441; Müller-Emmert/Maier NJW 1976, 1357,1360). - Gemacht ist eine Angabe, wenn sie im Rahmen des Subventionsverfahrens - nicht etwa nur im Rahmen vorbereitender Erkundigungen (Müller-Emmert/Maier aaO.) - entweder bei dem Subventionsgeber (Anm. 4) oder einer von diesem eingeschalteten zuständigen Stelle schriftlich eingegangen oder mündlich vorgetragen worden sind (Lackner 5 a). Ob es auf Grund der unrichtigen oder unvollständigen Angaben zu einem Irrtum kommt, ist für die Tatbestandsverwirklichung unerheblich. b) Bei Nr. 2 handelt es sich um ein echtes Unterlassungsdelikt (RegE S. 25 BT-Drucks. 7/3441; Lackner 5 b). Die Verpflichtung zur Offenbarung subventionerheblicher Tatsachen (Anm. 5) setzt eine dahingehende Rechtsvorschrift (Gesetz, Verordnung, auch aus dem EG-Bereich) voraus. Als solche kommt zunächst die gesetzliche Regelung in Betracht, die der jeweiligen Subventionsvergabe zugrundeliegt (RegE S. 26 BT-Drucks. 7/3441). Beim Fehlen einer solchen speziellen gesetzlichen Regelung kommt den §§ 3-5 SubvG (Anh. 3) besondere Bedeutung zu. Der in § 3 SubvG aufgestellte Grundsatz der Subventionsehrlichkeit (Göhler/Wilts DB 1976, 1614) erhält vor allem dann Bedeutung, wenn die Vergabevoraussetzungen nachträglich wegfallen. Der dem Steuerrecht (§§ 41, 42 AO 1977) nachgebildete § 4 SubvG begründet i. V. mit § 3 SubvG die Pflicht, bei Scheingeschäften, beim Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten sowie bei Umgehung von Verwendungsbeschränkungen (siehe hierzu BVerwG NJW 1969, 809) den wahren Sachverhalt offenzulegen. Ein Verstoß gegen diese Offenbarungspflicht führt dazu, daß praktisch jede mißbräuchliche Umgehung des mit der Subventionsvergabe verbundenen Gesetzeszwecks durch § 264 Abs. 1 Nr. 2 strafbewehrt ist (RegE S. 43 f. BT-Drucks. 7/3441). Entsprechendes gilt für den Fall, daß eine Ware oder eine Geldleistung, deren Verwendung durch den Subventionsgeber im Hinblick auf eine Subvention beschränkt ist, entgegen dieser Beschränkung verwendet wird. Ein Verstoß gegen die Verwendungsbeschränkung löst nicht nur die Herausgabepflicht gemäß § 5 SubvG, sondern zugleich auch Strafbarkeit gemäß § 264 Abs. 1 Nr. 2 i. V. mit § 3 Abs. 2 SubvG aus (RegE S. 44 f.). c) Nr. 3 bringt eine Ergänzung der Nrn. 1 und 2. Die Vorschrift wird dann von praktischer Bedeutung, wenn jemand im Subventionsverfahren eine unrichtige oder unvollständige Bescheinigung gebraucht, an deren Entstehung er selbst nicht, zumindest nicht nachweisbar mitgewirkt hat. Bescheinigung ist die schriftliche Erklärung einer für die Feststellung der subventionserheblichen Tatsachen zuständigen Stelle, die selbst nicht Bewilligungsstelle im Subventionsverfahren ist (RegE S. 26 BT-Drucks. 7/3441). Über unrichtig und unvollständig s. o. lit. a). „In einem Subventionsveffahren gebraucht" ist die Bescheinigung, wenn sie dem Subventionsgeber (Anm. 4) oder einer von diesem eingeschalteten zuständigen Stelle vorgelegt wird (BerzBB 1976, 1437). 7. Der nach Abs. 1 subjektiv erforderliche Vorsatz muß sich insbesondere auf die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Angaben erstrecken, außerdem auf die Subventionserheblichkeit der vorgetäuschten oder pflichtwidrig nicht offenbarten Tatsachen und den Widerspruch zu den Vergabevorschriften (vgl. Lackner 6 a). Bedingter Vorsatz genügt. Nicht zum Vorsatz gehört dagegen das Bewußtsein, zur Offenbarung der subventionserheblichen Tatsachen verpflichtet zu sein. Ein dahingehender Irrtum stellt sich nicht
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Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue (Freund)
als ein die Strafbarkeit nach Abs. 1 Nr. 2 ausschließender Tatbestandsirrtum, sondern als ein dem Verbotsirrtum gleich zu behandelnder Gebotsirrtum dar. 8. Nach Abs. 3 ist der Täter in den Fällen des Abs. 1 Nr. 1 und 2 (nicht Nr. 3) auch dann strafbar, wenn er leichtfertig gehandelt hat. Leichtfertigkeit bedeutet einen erhöhten Grad an Fahrlässigkeit, der in etwa der groben Fahrlässigkeit des bürgerlichen Rechts entspricht, im Gegensatz dazu aber auch auf die persönlichen Fähigkeiten des Täters abstellt (Dreher 20 zu § 15; siehe auch C l c v o r § 1). Die Einbeziehung der leichtfertigen Tatbegehung gehört zu den wesentlichen Kernstücken der Reform (vgl. Botz Prot. VII S. 2493; Tiedemann Prot. VII S. 2469 ff.). Ihre Notwendigkeit ergab sich aus der Tatsache, daß sonst ein weiter Bereich gravierend sozialschädlichen Verhaltens strafrechtlich nicht erfaßt werden könnte (Tiedemann aaO.). Hierbei ist folgendes zu berücksichtigen: Durch die Subventionsvergabe sollen unter Einbeziehung von Privatpersonen Ziele des Gemeinwohls realisiert werden. Die Subventionsempfänger werden somit in die Erfüllung öffentlicher Aufgaben integriert (RegE S. 27 BT-Drucks. 7/3441). Die daraus resultierende besondere Pflichtenstellung ist stärker als die des Steuerrechts, so daß eine unterschiedliche Bewertung der Leichtfertigkeitstatbestände (im Steuerrecht nur Ordnungswidrigkeit, vgl. § 378 A O 1977) durchaus gerechtfertigt ist (RegE S. 27; Tiedemann Prot. VIIS. 2469). Durch die Tatbestandsbeschränkung auf Subventionen zur Förderung der Wirtschaft wird auch ein Personenkreis angesprochen, der in der Regel bereits auf Grund seiner Ausbildung und Tätigkeit einer erhöhten Pflichtstellung gerecht werden kann (RegE S. 27; Ber. S. 8 BT-Drucks. 7/5291). Hinzu kommt, daß die strafrechtliche Sanktionierung der Leichtfertigkeit im Wirtschaftsnebenstrafrecht durchaus üblich ist (Tiedemann ZStW 87, 253, 275 m. Nachw.). Die Praxis sollte allerdings nicht der Versuchung unterliegen, bei auftretenden Beweisschwierigkeiten vorschnell auf die Verfolgung der Vorsatztat zu verzichten und auf die Leichtfertigkeitstatbestände auszuweichen. Ein derartiges Ausweichen könnte zu einer ähnlichen Entwicklung führen, wie sie im Bereich der §§ 315 c und 316 sowie bei der Verfolgung der Steuerhinterziehung zu beklagen ist. 9. Abs. 2 sieht in Anlehnung an die in § 370 Abs. 3 A O 1977 für den Bereich der Steuerhinterziehung getroffene Regelung einen erhöhten Strafrahmen für besonders schwere Fälle vor. Zu den einzelnen Regelbeispielen: a) Nr. 1 setzt zunächst voraus, daß der Täter eine Subvention großen Ausmaßes erlangt hat, es also nicht bei der tatbestandsmäßigen Gefährdung geblieben, sondern ein Verletzungserfolg eingetreten ist. Ob das Ausmaß der zu Unrecht erlangten Subvention „groß" ist, richtet sich nach dem Umfang der ohne äquivalenten Ausgleich erlangten Leistung, bei einem subventionierten Kredit z. B. nicht nach dessen Höhe, sondern nach dem Umfang der Zinsermäßigung gegenüber dem marktüblichen Zins. Aus grobem Eigennutz handelt, wer seinen Erwerbssinn in einem ungewöhnlichen, ungesunden und sittlich anstößigen Maß betätigt (RegE S. 37 BT-Drucks. 7/3441 unter Hinweis auf BGH GA 1953, 154 zu dem vergleichbaren Merkmal Gewinnsucht). - Nachgemachte oder verfälschte Belege sind unechte oder verfälschte Urkunden i. S. von § 267 (Lackner 7 a). Ein hinsichtlich seines Unrechts- und Schuldgehalts mit dem Regelbeispiel Nr. 1 vergleichbar besonders schwerer Fall kann aber auch dann angenommen werden, wenn der Täter mit echten, aber fingierten Belegen oder mit gefälschten technischen Aufzeichnungen i. S. von § 268 manipuliert hat. b) Nr. 2 gibt die Möglichkeit der Strafschärfung bei einem Amtsträger ( § 1 1 Anm. II), der unter Mißbrauch seiner Befugnisse oder seiner Stellung als Täter oder Teilnehmer an 848
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue (Freund)
§ 264
dem Subventionsvergabeverfahren mitwirkt. § 28 Abs. 2 gilt entsprechend (Lackner 7 b). Durch Nr. 2 erfaßt werden kann z. B. der Fall, daß ein Amtsträger wider besseres Wissen zwecks Vorlage im Subventionsvergabeverfahren eine Bescheinigung ausstellt, die unrichtige oder unvollständige Angaben über subventionserhebliche Tatsachen enthält, und damit an einer Tat i. S. von Abs. 1 Nr. 3 mitwirkt. Nicht hierher gehört andererseits der Fall, daß der Amtsträger, ohne am Antragsverfahren beteiligt gewesen zu sein, lediglich den Bewilligungsbescheid erläßt. Hier kommt nur § 266 in Betracht (Ber. S. 7 f. BTDrucks. 7/5291). c) Nr. 3 erfaßt vor allem den Fall, daß der Täter einen Amtsträger dazu verleitet hat, seine Befugnisse oder seine Stellung zu mißbrauchen. Es genügt allerdings, wenn er ohne vorher auf die Verletzung der Amtspflichten hingewirkt zu haben - die sich ihm durch die Amtspflichtverletzung bietende Gelegenheit zur Erlangung ungerechtfertigter Subventionen in Kenntnis aller Tatumstände wahrnimmt. 10. Abs. 4 enthält einen Sonderfall des Rücktritts nach vollendetem Delikt. Über freiwillig siehe § 24 Anm. 5 a. In den Fällen des Abs. 1 Nr. 2 kommt es entscheidend darauf an, daß der Täter gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 SubvG (Anh. 3) „unverzüglich" alle subventionserheblichen Tatsachen mitteilt. Abs. 4 S. 2 ist der in § 24 Abs. 1 S. 2 enthaltenen Regelung nachgebildet. Bei Tatbeteiligung mehrerer gilt § 24 Abs. 2 entsprechend (Ber. S. 9 BTDrucks. 7/5291; Göhler/Wilts DB 1976,1609,1615). 11. Wegen der nach Abs. 5 möglichen Nebenfolgen siehe § 45 ff. nebst Anm. Das Stimmrecht wird durch S. 1 nicht berührt. S. 2 ist eine besondere Vorschrift i. S. von § 74 Abs. 4. Die erweiterte Einziehungsmöglichkeit ist vor allem für Gegenstände bedeutsam, die entgegen einer Verwendungsbeschränkung verwertet worden sind (Ber. S. 9 BTDrucks. 7/5291). Durch diese Regelung wird die sich aus § 5 SubvG (Anh. 3) ergebende Herausgabepflicht ergänzt. 12. Die Strafbarkeit der Teilnahme bestimmt sich nach allgemeinen Gesichtspunkten. Handelt ein Tatbeteiligter aus grobem Eigennutz (Abs. 2 Nr. 1) oder wirkt ein Amtsträger unter den Voraussetzungen des Abs. 2 Nr. 2 mit, so ist § 28 Abs. 2 analog anwendbar. 13. Konkurrenzen: Gegenüber § 263 geht § 264 als die speziellere Vorschrift vor (RegE S. 25 f. BT-Drucks. 7/3441; Ber. S. 5 BT-Drucks. 7/5291; h. L., vgl. Lackner 10 m. Nachw.). Dies gilt auch dann, wenn es auf Grund der Tathandlung zu einer vermögensschädigenden Subventionsvergabe kommt, was der Tb. des § 264 an sich nicht voraussetzt. Die Vorschrift will nicht nur das Vorfeld des Betrugs abdecken, sondern auch die Fälle erfolgreicher Subventionserschleichung erfassen. Die Rechtslage ist damit dieselbe wie bei dem vergleichbaren Verhältnis des Betrugs zu den Straftatbeständen des Steuerstrafrechts, die ebenfalls gegenüber dem allgemeinen Tatbestand des Betrugs vorgehen (Müller-Emmert/Maier NJW 1976, 1657, 1661). Tateinheit zwischen § 264 und 263 ist deshalb nur möglich, wenn der Täter durch dieselbe Handlung außer der ungerechtfertigten Subvention noch weitere Vermögensvorteile erschleicht (Lackner 10). Selbständige Bedeutung kann § 263 bei einem Subventionsbetrug erlangen, wenn § 264 aus formalen Gründen entfällt, insbesondere wenn die subventionserheblichen Tatsachen entgegen § 264 Abs. 7 nicht ausreichend gekennzeichnet sind.
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§ 265
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und bntreue
14. Ergänzend beachte § 6 Nr. 8 (Auslandstaten), dessen Bedeutung vor allem bei Subventionen aus dem EG-Bereich liegt (RegE S. 22 BT-Drucks. 7/3441), § 6 SubvG (Anzeigepflicht) und § 74 c Abs. 1 Nr. 5 GVG (Zuständigkeit).
§ 265
Versicherungsbetrug
(1) Wer in betrügerischer Absicht eine gegen Feuersgefahr versicherte Sache in Brand setzt oder ein Schiff, welches als solches oder in seiner Ladung oder in seinem Frachtlohn versichert ist, sinken oder stranden macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. 1. Die durch das EGStGB in der Strafdrohung neu gefaßte Vorschrift stellt bestimmte Vorbereitungshandlungen des Betrugs als Verbrechen selbständig unter Strafe. Aus dem neueren Schrifttum siehe besonders Geerds, Versicherungsmißbrauch, Welzel-Festschr. 1974, S. 841 ff. mit weit. Nachw. auf S. 856 aaO. 2. Die Vorschrift enthält zwei Tatbestände: den Brandversicherungsbetrug und den Seeversicherungsbetrug. In beiden Fällen kann nur eine versicherte Sache Gegenstand der Handlung sein. „Versichert" i. S. von § 265 ist eine Sache auch dann, wenn der Versicherungsvertrag nichtig (etwa wegen betrügerischer Überversicherung, vgl. § 51 Abs. 3 W G ) oder anfechtbar ist (BGH 8, 343). Es genügt, daß ein förmlicher Versicherungsvertrag zustande gekommen und rechtsgeschäftlich nicht wieder aufgehoben worden ist (BGH aaO.). 3. Beim Brandversicherungsbetrug besteht die tatbestandsmäßige Handlung darin, daß der Täter die versicherte Sache in Brand setzt. Eine Zerstörung auf andere Weise genügt nicht. Die Vorschrift entfällt daher, wenn jemand eine nicht versicherte Sache (z. B. Stroh oder Holzwolle) in Brand setzt, um anschließend durch Löschmaßnahmen eine versicherte Sache zu zerstören und von dem Versicherer Ersatz für den Löschschaden zu fordern (BGH 6, 252). § 265 entfällt auch, wenn die versicherte Sache bereits bei der Vorbereitung des Brandes durch eine vom Täter nicht gewollte Explosion des Zündstoffs vernichtet wird, wobei es unerheblich ist, ob die Sache nach den Feuerversicherungsbedingungen auch gegen Explosionsschäden versichert war (BGH NJW 1965,1923). 4. Beim Seeversicherungsbetrug besteht die Handlung darin, daß der Täter das Schiff sinken oder stranden läßt. 5. Betrügerische Absicht ist wie in § 263 die Absicht, sich oder einem Dritten durch die Inanspruchnahme der Feuer- oder Schiffsunfallversicherung (nicht auch einer anderen Versicherung, z. B. einer gleichzeitig abgeschlossenen Diebstahlsversicherung, BGH 25, 261, 263 m. krit. Anm. Schroeder JR 1975, 71) einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen (BGH 1, 209). Die Rechtswidrigkeit des Vorteils entfällt, wenn der Versicherungsnehmer einen Anspruch auf die Versicherungssumme hat. Ob dies der Fall ist,
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§ 265 a
richtet sich nach bürgerlichem Recht, insbesondere den Bestimmungen des W G . So entfällt gemäß § 61 W G der Anspruch auf die Versicherungssumme, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat. Wer Versicherungsnehmer ist, bestimmt sich nach dem jeweiligen Versicherungsvertrag. Ist der Versicherungsnehmer gutgläubig, so kommt für den Dritten, der die Tat begeht, um dem Versicherungsnehmer den Genuß der Versicherungssumme zu verschaffen, eine Bestrafung gemäß § 265 nicht in Betracht. Dies gilt selbst dann, wenn der Dritte in einem engen Verhältnis zu dem Versicherungsnehmer steht und selbst wirtschaftlich an der Tat interessiert ist (BGH 1, 209; str.). Es genügt also nicht, wenn der Sohn das Haus seiner nichtsahnenden Mutter anzündet, um diese mit Hilfe der Versicherungssumme von ihrer Schuldenlast zu befreien (BGH aaO.). Anders nur, wenn der Täter ein „Repräsentant" des Versicherungsnehmers ist, z. B. wenn ein Gesellschafter einer GmbH deren Geschäftsräume in Brand setzt. Zur Repräsentanteneigenschaft im Verhältnis von Ehegatten siehe B G H N J W 1976, 2271 m. Bespr. Blei JA 1977,46. 6. Vollendet ist die Tat bereits mit dem Inbrandsetzen bzw. Sinkenlassen. Nicht erforderlich ist, daß der Täter den Schaden auch anmeldet oder gar die Versicherungssumme ausgezahlt bekommt. Ist letzteres der Fall, so liegt Realkonkurrenz mit Betrug vor (BGH 11, 398). - Mit §§ 306 ff. ist Tateinheit möglich.
§ 265 a
Erschleichen von Leistungen
(1) Wer die Leistung eines Automaten, die Beförderung durch ein Verkehrsmittel oder den Zutritt zu einer Veranstaltung oder einer Einrichtung in der Absicht erschleicht, das Entgelt nicht zu entrichten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) Die §§ 247 und 248 a gelten entsprechend. 1. Die zuletzt durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift enthält eine Ergänzung des Betrugstatbestands, deren Notwendigkeit sich daraus ergibt, daß die hier aufgeführten Fälle nur dann als Betrug erfaßt werden können, wenn der Täter bei einer Aufsichtsperson usw. einen Irrtum erregt hat. Hieran fehlt es aber, wenn sich jemand unbemerkt in ein Stadion oder ein Verkehrsmittel einschleicht. Auch ein Automat kann sich nicht irren. 2. Die 1. Alt. des Tb. enthält den sogenannten Automatenmißbrauch. Sie bezieht sich nach h. M. nur auf sogenannte Leistungsautomaten, z. B. Wiegeautomaten, Münzfernsprecher, Musikboxen, aber auch auf Fernsehapparate, die auf Abzahlung gekauft sind in der Weise abbezahlt werden, daß bei jeder Benutzung in bestimmten Abständen eine Münze einzuwerfen ist (vgl. Stgt MDR 1963, 236). Bei Warenautomaten, z. B. Zigaretten-, Strumpf-, Benzinautomaten, kommt dagegen nur Diebstahl in Betracht (BGH MDR 1952, 563 m. abl. Anm. Dreher; h. L., vgl. Cramer in Schönke-Schröder 3), wobei jedoch die §§ 243 Abs. 2 und 248 a mit den sich hieraus ergebenden Privilegierungen besonders zu beachten sind.
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§ 265 b
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue (Freund)
3. Die 2. Alt. bezieht sich auf den blinden Passagier, dem es gelingt, ohne Täuschung einer bestimmten Person unbemerkt ein Beförderungsmittel (Bahn, Straßenbahn, Omnibus usw.) zu benutzen. Über die oft schwierige Abgrenzung gegenüber dem Betrug siehe § 263 Anm. III 1, 2. Nicht hierher gehört der Fall, daß der Täter sich offen weigert, den Fahrpreis zu entrichten; in diesem Fall kann nämlich nicht vom „Erschleichen" einer Leistung gesprochen werden (vgl. BayObLG NJW 1969, 1042 betr. Demonstranten, die ohne Zahlung des Fahrpreises Straßenbahnzüge betreten hatten, um während der Fahrt Flugblätter zu verteilen). 4. Nach der 3. Alt. wird bestraft, wer den Zutritt zu einer Veranstaltung oder Einrichtung erschleicht, z. B. wer unbemerkt über den Zaun in das Sport-Stadion klettert, um den Eintrittspreis zu sparen, oder wer aus gleichem Grund durch die Toilette in das Museum einsteigt. 5. Zu beachten ist die Subsidiaritätsklausel, die sich vor allem gegenüber dem Betrug auswirkt. Wer den freien Eintritt usw. durch Täuschung bewirkt, z. B. durch Vorzeigen einer gefälschten, verfallenen oder auf einen anderen ausgestellten Eintrittskarte, begeht Betrug; § 265 a tritt als subsidiär zurück. Tateinheit ist dagegen mit § 147 (Inverkehrbringen von Falschgeld) möglich, ferner mit § 123 (Hausfriedensbruch). - Ergänzend zu beachten ist § 15 FAG betr. Schwarzhörer bei Rundfunk und Fernsehen. 6. Der Versuch ist strafbar (Abs. 2). 7. Die Privilegierung von Angehörigen usw. (Abs. 3) wurde durch das EGStGB der entsprechenden Regelung bei Diebstahl und Unterschlagung angepaßt (vgl. § 247). Durch die Verweisung auf § 248 a wurde sichergestellt, daß die Tat bei Bagatellcharakter grundsätzlich nur auf Antrag verfolgbar ist (siehe auch die entsprechende Regelung in §§ 259 Abs. 2,263 Abs. 4 und 266 Abs. 3).
§ 265 b
Kreditbetrug
(1) Wer einem Betrieb oder Unternehmen im Zusammenhang mit einem Antrag auf Gewährung, Belassung oder Veränderung der Bedingungen eines Kredites für einen Betrieb oder ein Unternehmen oder einen vorgetäuschten Betrieb oder ein vorgetäuschtes Unternehmen 1. über wirtschaftliche Verhältnisse a) unrichtige oder unvollständige Unterlagen, namentlich Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen, Vermögensübersichten oder Gutachten vorlegt oder b) schriftlich unrichtige oder unvollständige Angaben macht, die für den Kreditnehmer vorteilhaft und für die Entscheidung über einen solchen Antrag erheblich sind, oder 2. solche Verschlechterungen der in den Unterlagen oder Angaben dargestellten wirtschaftlichen Verhältnisse bei der Vorlage nicht mitteilt, die für die Entscheidung über einen solchen Antrag erheblich sind, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 852
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§ 265b
(2) Nach Absatz 1 wird nicht bestraft, wer freiwillig verhindert, daß der Kreditgeber auf Grund der Tat die beantragte Leistung erbringt. Wird die Leistung ohne Zutun des Täters nicht erbracht, so wird er straflos, wenn er sich freiwillig und ernsthaft bemüht, das Erbringen der Leistung zu verhindern. (3) Im Sinne des Absatzes 1 sind 1. Betriebe und Unternehmen unabhängig von ihrem Gegenstand solche, die nach Art und Umfang einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordern; 2. Kredite Gelddarlehen aller Art, Akzeptkredite, der entgeltliche Erwerb und die Stundung von Geldforderungen, die Diskontierung von Wechseln und Schecks und die Übernahme von Bürgschaften, Garantien und sonstigen Gewährleistungen.
1. Vorbemerkungen: a) Die Vorschrift wurde durch das 1. WiKG vom 29. 7. 1976 (BGBl. I 2034) neu eingefügt (über dessen Anliegen und Entstehungsgeschichte siehe § 264 Anm. 1). Die Bezeichnung als Kreditbetrug ist - ähnlich wie die Bezeichnung Subventionsbetrug in § 264 (siehe dort Anm. 2) - insofern ungenau, als der Tb. nicht die Verwirklichung aller Betrugsmerkmale voraussetzt. Insbesondere ist nicht erforderlich, daß es auf Grund der Tathandlungen zu einem Vermögensschaden kommt. Auch die Schutzrichtung der Vorschrift stimmt mit der des § 263 nicht voll überein. b) Anliegen der Vorschrift ist es zu verhindern, daß wirtschaftlich nicht vertretbare Wirtschaftskredite an Kreditunwürdige vergeben werden. Kredite an Kreditunwürdige begründen nicht nur eine Gefahr für den Kreditgeber, sondern auch - vor allem bei größeren Kreditausfällen - für dessen Gläubiger. Durch derartige „Kettenreaktionen" werden im übrigen nicht nur die Vermögensinteressen der Gläubiger, sondern auch die Interessen der Arbeitnehmer berührt, deren Arbeitsplätze durch einen wirtschaftlichen Zusammenbruch ihres Arbeitgebers gefährdet sind. Da der Betrugstatbestand (vor allem wegen der Beweisschwierigkeiten auf der subjektiven Tatseite) nicht immer in der Lage ist, alle strafbedürftigen Fälle befriedigend zu erfassen, erschien es geboten, durch die Einführung eines Sondertatbestands im Vorfeld des Betrugs dem Kreditnehmer die Pflicht zur rückhaltlosen und wahrheitsgemäßen Offenbarung der wirtschaftlichen Verhältnisse aufzuerlegen (Einzelheiten siehe S. 17 RegE BT-Drucks. 7/3441; Ber. S. 14 BT-Drucks. 7/5291; Blei Prot. VIIS. 2505; Tiedemann Prot. VIIS. 2472). c) Geschütztes Rechtsgut ist, wie sich aus dem unter b) dargelegten Anliegen der Vorschrift ergibt, nicht nur das Vermögen des jeweiligen Kreditgebers, sondern auch (und zwar vorrangig) das Interesse der Allgemeinheit an der Erhaltung einer funktionsfähigen Kreditwirtschaft, deren Zusammenbruch die gesamte Volkswirtschaft in Gefahr bringen kann. Da der Tatbestand zu seiner Verwirklichung nicht den Eintritt eines Schadens voraussetzt, handelt es sich wie bei § 264 um ein (konkretes) Gefährdungsdelikt (str.; für die Annahme eines abstrakten Gefährdungsdelikts Lackner 1 und Samson SK 28; Einzelheiten siehe § 264 Anm. 2 b). Erfüllt ist der Tb. bereits durch Vornahme einer in Abs. 1 näher bezeichneten Handlung. 853
§ 265 b
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue (Freund)
d) Über Gesetzesmaterialien und Schrifttum siehe § 264 Anm. 1 c; ergänzend: Prost, JZ 1975, 18; - Haft. Die Lehre vom bedingten Vorsatz unter besonderer Berücksichtigung des wirtschaftlichen Betrugs, ZStW 88, 365. 2. Um eine kriminalpolitisch unerwünschte Ausuferung strafrechtlicher Sanktionen zu vermeiden und nur schwerwiegend sozialschädliches Verhalten zu erfassen, wurde der Anwendungsbereich des Abs. 1 erheblichen Beschränkungen unterworfen (siehe hierzu vor allem Tiedemann ZStW 87, 253, 262 ff. m. Nachw.). a) Sowohl auf Kreditgeber- als auch auf Kreditnehmerseite muß ein Betrieb oder Unternehmen eingeschaltet sein, und zwar ohne Rücksicht auf die Rechtsform (vgl. § 14 Anm. III 2 a). Durch die Beschränkung auf Betriebskredite wird eine gewisse Größenordnung der in Betracht kommenden Kredite gewährleistet. Der Ausschluß der Privatkredite aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift beruhte u. a. auch auf der Erwägung, daß hier häufig kleinere Kredite in Frage stehen, die auf Grund persönlicher Beziehungen gewährt werden und deshalb im Rahmen des Betrugstatbestands keine besonderen Beweisschwierigkeiten aufwerfen (Einzelheiten Ber. S. 15 BT-Drucks. 7/5291). Besondere strafrechtliche Sanktionen zum Schutz privater Anleger wurden einem 2. WiKG vorbehalten (Ber. S. 16). Nach der Legaldefinition des Abs. 3 Nr. 1 fallen nur solche Betriebe und Unternehmen unter den Anwendungsbereich der Vorschrift, die nach Art und Umfang einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Betrieb erfordern. Die Erforderlichkeit eines in kaufmännischer Weise eingerichteten Betriebs richtet sich nach dem Handelsrecht, insbesondere nach den § § 2 und 4 HGB und der zu diesen Vorschriften entwickelten Rechtsprechung. Das Gesamtbild muß so beschaffen sein, daß zur Gewährleistung von Ordnung und Ubersicht kaufmännische Einrichtungen wie die Führung von Handelsbüchem (§ 38 HGB), Errichtung von Inventaren und Bilanzen (§ 39 HGB) und ähnliche Einrichtungen notwendig sind (vgl. Hildebrandt in Schlegelberger, HGB, 5. Aufl. 1973, § 2 Rdnr. 3). Eine feste Grenzziehung ist nicht möglich, so daß jeweils die Umstände des Einzelfalls entscheidend sind. Betriebe von sog. Minderkaufleuten i. S. von § 4 HGB fallen jedenfalls nicht unter den Anwendungsbereich der Vorschrift. Andererseits werden - insoweit abweichend von § 2 HGB - nicht nur gewerbliche Betriebe und Unternehmen erfaßt. Wie sich aus der Formulierung unabhängig von ihrem Gegenstand ergibt, werden auch land- und forstwirtschaftliche Betriebe, gemeinnützige Einrichtungen sowie die Angehörigen der freien Berufe (Ärzte, Anwälte, Architekten, Wirtschafts- und Steuerberater usw.) erfaßt, sofern ihre Praxis vom Umfang her einen kaufmännisch eingerichteten Betrieb erfordert (RegE S. 32; Ber. S. 15; Lackner 2 a; Müller-Emmert/Maier NJW 1976, 1657, 1662). Zu beachten ist, daß auf der Seite des Kreditnehmers auch ein nur vorgetäuschtes Unternehmen die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen erfüllen kann. Es handelt sich dann zwar nur um einen Privatkredit, dessen Gewährung jedoch bei entsprechender Höhe und Zielsetzung dieselben Gefahren enthält (Göhler/Wilts DB 1976,1658). b) Die in Abs. 3 Nr. 2 enthaltene, im wesentlichen mit § 19 Abs. 1 Nr. 1 - 4 KWG übereinstimmende Legaldefinition des Kredits i. S. der Vorschrift vermeidet eine allgemeine Definition des Begriffs, sondern beschränkt sich darauf, die für die Wirtschaft wesentlichen Kredite zu erfassen. In Betracht kommen nicht nur Bankkredite, sondern auch Warenkredite von Lieferanten sowie alle sonstigen Kreditvorgänge im Wirtschaftsverkehr (Göhler/Wilts DB 1976, 1658).
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§ 265 b
3. Täter kann jeder sein, der an der Gewährung des Kredits interessiert ist. In Betracht kommen neben dem Inhaber des Betriebs oder Unternehmens vor allem dessen Beauftragte, aber auch Bürgen und Geschäftspartner (RegE S. 30 BT-Drucks. 7/3441; Ber.S. 15 BT-Drucks. 7/5291).
4. Die Tathandlung beinhaltet bestimmte Formen der schriftlichen Lüge (Lampe Prot. VIIS. 2513). Sie muß im Zusammenhang mit einem Kreditantrag vorgenommen werden, d. h. in einer engen sachlichen und zeitlichen Beziehung zu einem Antrag auf Gewährung, Belassung oder Veränderung der Bedingungen eines Kredits stehen. Ist dieser Zusammenhang gegeben, so ist es unerheblich, ob die Tathandlung dem Kreditantrag vorausgeht, zeitlich mit ihm zusammenfällt oder nachfolgt. Nicht ausreichend sind jedoch Täuschungshandlungen im Rahmen von Vorverhandlungen, denen kein Kreditantrag nachfolgt (Ber. S. 14 BT-Drucks. 7/5291; Müller-Emmert/Maier NJW 1976, 1657, 1662). Zu den Tathandlungen im einzelnen: a) Zu den wirtschaftlichen Verhältnissen (Nr. 1) gehören nicht nur die des Täters oder des Betriebs, für den der Täter den Antrag stellt; für die Entscheidung über den Kreditantrag erheblich kann u. a. auch die Täuschung über die Verhältnisse eines Sicherungsgebers, Bürgen oder Geschäftspartners sein. Ob und in welchem Umfang eine Tatsache „erheblich" ist, bemißt sich danach, was nach der Art des Geschäfts im Einzelfall von einem verständigen, durchschnittlich vorsichtigen Kreditgeber für wesentlich erachtet wird (Ber. S. 16 BT-Drucks. 7/5291). Entscheidend sind dabei alle wirtschaftlichen Faktoren, die den RückZahlungsanspruch des Kreditgebers berühren wie Höhe des Eigenkapitals, Bonität und Höhe der Außenstände, Art und Umfang der Verschuldung, Rücklagen sowie die wirtschaftliche Entwicklung des Betriebs oder Unternehmens. Strafrechtlich relevant ist eine vorgetäuschte Tatsache nur, wenn sie für den Kreditnehmer vorteilhaft ist, d. h. die Grundlage für eine Entscheidung zugunsten des Kreditnehmers positiver als in Wirklichkeit erscheinen läßt (Müller-Emmert/Maier NJW 1976,1657, 1662). Die zwecks Täuschung vorgelegten Unterlagen (Abs. 1 Nr. 1 a) müssen unrichtig oder unvollständig sein (siehe hierzu § 264 Anm. 6 a). Unerheblich ist dagegen, ob sie echt oder unecht sind. Aus der beispielhaften Aufzählung der Unterlagen ergibt sich, daß die Unterlagen nicht die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse umfassen müssen, sondern auch Unterlagen in Betracht kommen, die sich nur auf einen Teil der wirtschaftlichen Verhältnisse beziehen, z. B. Bewertungsgutachten bei Beleihung einzelner Vermögensbestandteile (RegE S. 31 BT-Drucks. 7/3441). Die Frage der Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit ist dann auf dieses einzelne Objekt beschränkt (Göhler/Wilts DB 1976, 1658). Die Begriffe „Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung" bestimmen sich nach handels- und steuerrechtlichen Gesichtspunkten (vgl. § 283 Anm. 6 g, bb). Vorgelegt ist die Unterlage, sobald sie in den Einflußbereich des Kreditgebers gelangt ist. Wird die Unterlage von einem anderen als dem vorgelegt, der sie erstellt hat, so können sich in subjektiver Hinsicht erhebliche Beweisschwierigkeiten ergeben, da abweichend von der in § 264 getroffenen Regelung leichtfertige Begehungsweise nicht unter Strafe gestellt ist (vgl. Tiedemann Prot. VIIS. 2475). Abs. 1 Nr. 1 b erweitert den Anwendungsbereich der Vorschrift auf schriftlich unrichtige oder unvollständige Angaben über wirtschaftliche Verhältnisse. In Betracht kommen Angaben im Kreditantrag, die Bezeichnung eines Finanz- oder sog. Reitwechsels als 855
§ 265 b
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue (Freund)
Warenwechsel sowie unrichtige oder unvollständige Selbstauskünfte (RegE S. 31). Die Abgrenzung gegenüber den Fällen des Abs. 1 Nr. 1 a ist fließend, Überschneidungen sind möglich. Gemacht sind die Angaben, wenn sie in den Einflußbereich des Kreditgebers gelangen. Werden sie auf Grund mündlicher Angaben des Täters von einem durch den Kreditgeber beauftragten Dritten in Schriftform gebracht und sodann dem Kreditgeber vorgelegt, so kommt mittelbare Täterschaft in Betracht (RegE aaO.). b) Die in Abs. 1 Nr. 2 enthaltene Verpflichtung zur Mitteilung eingetretener Verschlechterungen der wirtschaftlichen Verhältnisse beruht auf der Erwägung, daß die zur Vorlage bei dem Kreditgeber bestimmten Unterlagen, insbesondere die Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen, u. U. schon längere Zeit vor dem Kreditantrag erstellt worden sind und deshalb nicht mehr den tatsächlichen Stand der wirtschaftlichen Verhältnisse im Zeitpunkt des Kreditantrags wiedergeben. Die Vorschrift, die sich als echtes Unterlassungsdelikt darstellt, bezieht sich auf beide Alternativtatbestände des Abs. 1 Nr. 1. Die Verschlechterungen sind dabei nur insoweit mitteilungspflichtig, als sie bis zur Vorlage der Unterlagen oder Angaben eingetreten sind (RegE S. 31 BT-Drucks. 7/3441). Außerdem müssen sie entscheidungserheblich sein (s. o. lit. a). Die erforderliche Mitteilung bedarf nicht der Schriftform, wenngleich eine solche den Vertragspartnern zur Vermeidung von Beweisschwierigkeiten zu empfehlen ist (MüllerEmmert/Maier NJW 1976, 1957, 1962). Die unterlassene Mitteilung einer erst nach Vorlage der Unterlagen eingetretenen Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse fällt nicht unter den Anwendungsbereich der Vorschrift, kann jedoch, wenn eine Mitteilungspflicht vertraglich vereinbart war, Strafbarkeit wegen Betrugs nach § 263 begründen (Lackner 3 b). 5. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich insbesondere auf die Unrichtigkeit oder UnVollständigkeit der Unterlagen oder Angaben beziehen, außerdem auf ihre Entscheidungserheblichkeit und die sich aus ihnen ergebende vorteilhafte Situation für den Kreditnehmer. Im Falle des Abs. 1 Nr. 2 muß sich der Vorsatz auch auf die eingetretene Verschlechterung und ihre Entscheidungserheblichkeit erstrecken. Bedingter Vorsatz genügt, Leichtfertigkeit dagegen (abweichend von § 264) nicht. 6. Täterschaft und Teilnahme bestimmen sich nach allgemeinen Gesichtspunkten. Mittelbare Täterschaft kommt vor allem dann in Betracht, wenn die unrichtigen Unterlagen oder Angaben dem Kreditgeber über einen gutgläubigen Dritten vorgelegt werden (s. o. 4 a). 7. Abs. 2 enthält einen Sonderfall der tätigen Reue nach vollendetem Delikt. Die Ausführungen zu § 264 Abs. 4 (siehe dort Anm. 10) gelten entsprechend. 8. Konkurrenzen: Kommt es auf Grund einer in Abs. 1 unter Strafe gestellten Täuschungshandlung zu einer vermögensschädigenden Kreditgewährung, so steht § 265 b mit § 263 in Tateinheit (Ber. S. 16 BT-Drucks. 7/5291; Blei Prot. VII S. 2508; Tiedemann Prot. VII S. 2482; Wilts Prot. VII S. 2772; Müller-Emmert/Maier NJW 1976, 1657, 1662). Der Annahme einer Subsidiarität zugunsten des § 263 (so Lackner 5) steht entgegen, daß § 265 b nicht nur das Vermögen, sondern auch das Interesse der Allgemeinheit an der Erhaltung einer funktionsfähigen Kreditwirtschaft schützt (s. o. 1 c). Eine Gesetzeskonkurrenz zugunsten des § 265 b scheidet schon wegen dessen geringerer Strafdrohung aus.
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Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue
§ 266
9. Beachte ergänzend § 74 c Abs. 1 Nr. 5 (Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammern) sowie § 130 OWiG (Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen).
§ 266
Untreue
(1) Wer die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, mißbraucht oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eines Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt und dadurch dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. (3) § 2 4 3 Abs. 2 sowie die §§ 247 und 2 4 8 a gelten entsprechend. I. Die durch das EGStGB neugefaßte Vorschrift enthält zwei selbständige Tatbestände, die sich teilweise überschneiden: den Mißbrauchstatbestand und den Treubruchstatbestand. Geschütztes Rechtsgut ist in beiden Fällen das Vermögen. Über den Vermögensbegriff siehe § 263 Anm. I und V 1. II. Der Mißbrauchstatbestand, der nach h. A. ein Unterfall des Treubruchstatbestands ist (vgl. Hamm NJW 1968, 1940; 1973, 1809; Burkhardt NJW 1973, 2190; Maurach BT 399; a. A. RG 69, 59; BGH NJW 1954, 1616; Cramer in Schönke-Schröder 2), setzt voraus, daß dem Täter die Befugnis zusteht, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten. 1. Die Vertretungsbefugnis kann beruhen: a) auf Gesetz, z. B. Eltern, Vormund, Gegenvormund, Gerichtsvollzieher (BGH 13, 275), Pfleger, Konkursverwalter; b) auf behördlichem Auftrag, z. B. Beamte einer Beschaffungsstelle der Bundeswehr, Postbeamte, Schalterbeamte der Bundesbahn (BGH 13, 316); c) auf Rechtsgeschäft, z. B. Prokuristen einer Bank, aber auch einfache Ladenverkäufer. 2. Die Handlung besteht darin, daß der Täter die ihm eingeräumte Vertretungsbefugnis zum Nachteil seines Auftraggebers mißbraucht, und zwar durch eine rechtsgeschäftliche Einwirkung; rein tatsächliche Einwirkungen genügen hier nicht, können aber den Treubruchstatbestand verwirklichen. Beispiele: Ein Schalterbeamter der Bundesbahn macht sich der Untreue in der Form des Mißbrauchstatbestands schuldig, wenn er Fahrkarten ohne Bezahlung oder unter Preis abgibt. Er mißbraucht nämlich die ihm durch dienstlichen Auftrag eingeräumte Befugnis, über die Fahrkarten, somit über fremdes Vermögen, zu verfügen (vgl. BGH 13, 316). Daß hier auch die Voraussetzungen des 857
§ 266
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue
Treubruchstatbestands gegeben sind, steht der Verwirklichung des Mißbrauchstatbestands nicht entgegen. Dagegen kommt nur der Treubruchstatbestand in Betracht, wenn der Schalterbeamte das vereinnahmte Geld unterschlägt; über dieses hat er nämlich nicht zu verfügen. - Oder: Wenn eine Verkäuferin die zu verkaufende Ware an ihre Freundin unter Preis abgibt, so macht sie sich der Untreue in der Form des Mißbrauchstatbestands schuldig. Dagegen liegt nur Unterschlagung vor, wenn sie die ihr anvertraute Ware im eigenen Haushalt verbraucht: Der Verbrauch ist keine rechtsgeschäftliche Verfügung. - Oder: Hingabe ungedeckter Schecks unter Verwendung einer Scheckkarte, durch die das Bankinstitut gegenüber dem jeweiligen Scheckinhaber zur Einlösung des Schecks verpflichtet ist (Hamm NJW 1972, 298; Meyer MDR 1971, 893; Blei JA 1971, StR 81; 1972, StR 66; Cramerin Schönke-Schröder 4 a; Schröder JZ 1972, 707; Gross NJW 1973, 600; Bringewat GA 1973, 353; Lackner 3 b; a. A. BGH 24, 286, wonach sich der Scheckkartenmißbrauch als Betrug darstellen soll, sowie Zahrnt NJW 1972, 277, 1098; 1973, 63; Sennekamp BB 1973, 1005; Hübner JZ 1973, 410 und Seebode JR 1973, 117, die sowohl Untreue als auch Betrug ablehnen und damit zu einem äußerst unbefriedigenden Ergebnis kommen). Beachte: Beim Mißbrauchstatbestand ist es im Gegensatz zum Treubruchstatbestand (s. u. III 2) nicht erforderlich, daß der Täter über eine gewisse Selbständigkeit verfügt oder daß er über größere Beträge verfügen kann (vgl. RG JW 1938, 2336; Braunschweig NJW 1947, 71; Bringewat GA 1973, 353; Heinitz, H. Mayer-Festschrift, 1966, 434; Cramer in Schönke-Schröder 4 a; a. A. BGH 24, 386 f. m. zust. Anm. Hübner JZ 1973, 407 und Seebode JR 1973, 117, 119; neuerdings auch Lackner 2 bm. weit. Nachw.). Der Tb. kann deshalb z. B. auch dadurch verwirklicht werden, daß eine Ladenverkäuferin eine Ware 10% unter Preis abgibt, oder dadurch, daß eine Kassiererin in einem SBGroßmarkt ihren Kolleginnen durch unerlaubte Manipulationen zu „verbilligten Einkäufen" behilflich ist (Hamm NJW 1973, 1809). Der Mißbrauch der Verfügungsbefugnis kann auch in einem Unterlassen bestehen. Beispiel: Ein Prokurist unterläßt es, eine Forderung geltend zu machen. 3. Der Mißbrauch der Vertretungsbefugnis muß zu einem Nachteil desjenigen führen, dessen Vermögensinteressen der Täter zu betreuen hatte. Als Nachteil gilt jeder Vermögensschaden. Siehe hierzu § 263 Anm. V 2. III. Der Treubruchstatbestand setzt voraus, daß der Täter die Pflicht hat, fremde Vermögensinteressen zu betreuen. 1. Die Pflicht zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen kann beruhen: a) auf Gesetz, behördlichem Auftrag oder Rechtsgeschäft; insoweit decken sich die Voraussetzungen des Treubruchstatbestands mit denen des Mißbrauchstatbestands; b) auf einem rein tatsächlichen Treueverhältnis. Diese Alternative des Tb. kommt auch dann in Betracht, wenn die Beziehungen zwischen dem Täter und dem, dessen Vermögensinteressen er wahrzunehmen hat, auf einem gesetz- oder sittenwidrigen Rechtsgeschäft beruhen, so daß die erste Alternative des Tatbestands keine Anwendung finden kann (BGH 8, 254). Es gibt kein wegen seiner Herkunft, Entstehung oder Verwendung schlechthin ungeschütztes Vermögen. Ebenso wie es strafbar ist, den Dieb zu bestehlen, zu berauben oder zu betrügen, ist auch die dem Dieb gegenüber begangene Untreue strafbar. Die Allgemeinheit kann es nicht dulden, daß sich jemand an unrecht
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Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue
§ 266
erworbenem Gut eigenmächtig bereichert oder daß gesetzlose Zustände einreißen, die zu Gewalttaten führen und den Nährboden weiterer Verbrechen bilden können (BGH aaO.). Hieraus folgt: Ein Hehler, der das ihm zum Absatz anvertraute Diebesgut veruntreut, macht sich nicht nur der Unterschlagung (§ 246), sondern auch der Untreue (§ 266) schuldig. 2. Um eine uferlose Ausweitung des äußerst weit gefaßten Tatbestands zu verhindern, verlangt dieser eine einengende Auslegung. Die Rechtsprechung hat hierzu folgende Grundsätze herausgearbeitet: a) Die Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, muß den typischen und wesentlichen Inhalt des Treueverhältnisses ausmachen. Dies gilt insbesondere für Vertragsverletzungen. Es wäre verfehlt, jede mit einem Vermögensschaden verbundene Vertragsverletzung als strafbare Untreue anzusehen. § 266 will den Kampf gegen Schiebertum und Korruption verschärfen und Treu und Glauben im Verkehr sichern (RG 69, 61), aber nicht das gesamte Vertragsrecht unter Strafdrohung stellen. So hegt z. B. keine Untreue vor, wenn ein Händler den Erlös für Waren, die ihm zur Weiterveräußerung unter Eigentumsvorbehalt verkauft und geliefert wurden, entgegen den Verkaufs- und Lieferungsbedingungen weder sofort an den Lieferanten abführt noch getrennt von seinem anderen Vermögen aufbewahrt (BGH NJW 1968, 1938 = JR 1969, 190 m. zust. Anm. Schröder). Weitere Einzelheiten und Beispiele: aa) Aus dem das Arbeitsrecht beherrschenden Grundsatz gegenseitiger Treupflicht folgt zwar, daß jeder Arbeitnehmer gehalten ist, im Rahmen seiner Tätigkeit die Interessen seines Arbeitgebers zu wahren; die Verletzung dieser Pflicht ist aber für sich allein noch keine Untreue i. S. des Treubruchstatbestands (BGH 4, 170; 5, 187). Wenn z. B. ein städtischer Arbeiter A, dessen Aufgabe darin besteht, Kies zu verladen, einige Wagenladungen Kies auf eigene Rechnung verkauft oder zu eigenen Zwecken verwendet, so begeht er zwar Diebstahl oder Unterschlagung, nicht aber Untreue. Dasselbe gilt aber auch für den Vorarbeiter V, der die Arbeit des A einzuteilen und zu beaufsichtigen hat. Duldet er die Unregelmäßigkeiten des A, so kann er zwar - je nach Sachlage - wegen Mittäterschaft oder Beihilfe zum Diebstahl, wegen Hehlerei oder Begünstigung, nicht aber wegen Untreue belangt werden. Eine andere Beurteilung könnte nur dann eingreifen, wenn V auch die Aufgabe hätte, den Verkauf des Materials (Kies, Sand usw.) zu organisieren oder abzuwickeln. Dann käme u. U. sogar der Mißbrauchstatbestand in Betracht. Umgekehrt begeht ein Arbeitgeber nicht schon dadurch Untreue, daß er pflichtwidrig zum Nachteil der Arbeitnehmer handelt, z. B. keine „Urlaubsmarken" klebt (BGH 6, 314) oder keine vermögenswirksamen Leistungen nach dem 3. VermögensbildungsG entrichtet (Braunschweig NJW 1976, 1903 m. zust. Anm. Mertens NJW 1977, 562). Die Verletzung derartiger Nebenpflichten reicht zur Tatbestandsverwirklichung nicht aus. Dasselbe gilt, wenn ein Arbeitgeber Lohnbeträge, die er aufgrund eines gerichtlichen Pfändungs- und Uberweisungsbeschlusses einbehalten hat, pflichtwidrig nicht an den Gläubiger des Arbeitnehmers abführt (BayObLG NJW 1957,1683). bb) Auch die Pflicht eines Mieters, pünktlich den Mietzins zu entrichten und die Sache nach Beendigung des Mietverhältnisses zurückzugeben, begründet noch keine Treupflicht im Sinne des § 266. Eignet sich der Mieter die Mietsache, z. B. eine Schreibmaschine, rechtswidrig zu, so begeht er zwar Unterschlagung, aber keine Untreue (Oldenburg NJW 1952, 1267). Dasselbe gilt für Unterschlagungen durch Pfandgläubiger und Vorbehaltskäufer.
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§ 266
Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue
cc) Auch eine Sicherungsübereignung begründet nicht ohne weiteres ein Treueverhältnis (BGH 5, 61, 63). Nur Unterschlagung, nicht auch Untreue liegt vor, wenn der Sicherungsgeber, wie dies im Normalfall zutrifft, lediglich die Pflicht hat, die in seinem Besitz verbliebene Sache, z. B. eine als Sicherheit für ein Darlehen übereignete Maschine, ordnungsgemäß zu verwahren und schonend zu behandeln. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Sicherungsgeber weitergehende Rechte und Pflichten hat, z. B. wenn er die übereignete Sache im Interesse des Sicherungsnehmers bestmöglich veräußern soll, um auf diese Weise den Gläubiger zu befriedigen (BGH aaO.). dd) Allgemein bejaht werden die Voraussetzungen des Treubruchstatbestands bei der Verwaltung von Baukostenzuschüssen (BGH 8, 271; 13, 330; Braunschweig NJW 1953, 1604), bei der Verwaltung von Kassen, Mündelgeldern, Mandantengeldern eines Rechtsanwalts oder Notars, für die diese sogenannte Anderkonten anzulegen haben (RG 73, 157; BGH NJW 1953, 1600; NJW 1960, 1629), ferner für den „Geschäftsführer" einer Toto- oder Lottogemeinschaft, bei der sich die Mitglieder zur regelmäßigen Leistung von Beiträgen zum gemeinsamen Wetteinsatz verpflichtet haben (BayObLG JR 1971,429). ee) Auch Kommissionsverträge begründen im allgemeinen für den Kommissionär die Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen (BGH 1, 189; LM § 266 Nr. 11). Die früher in § 95 BörsG enthaltene Sonderregelung für die Untreue des Kommissionärs wurde durch Art. 126 EGStGB beseitigt. Zur Problematik des Mißbrauchs von Abbuchungsaufträgen und Einziehungsermächtigungen im Verkehr der Kreditinstitute siehe Hamm NJW 1977, 1835. ff) Hauptaufgabe des Führers einer militärischen Einheit ist die Ausbildung und Führung seiner Truppe, nicht die Pflicht zur Verwaltung von Ausrüstungsgegenständen. Diese ist nur eine Nebenaufgabe, die keine Treuepflicht i. S. von § 266 begründet (Stgt Justiz 1965,360). b) Untergeordnete Arbeits- und Dienstverhältnisse, bei denen der Verpflichtete nur mechanische Tätigkeiten zu verrichten hat (z. B. Kanalarbeiten, BGH 4, 170) scheiden aus. Andererseits wäre es verfehlt, den Treubruchstatbestand auf Treueverhältnisse gehobener Art zu beschränken. Ob der Täter über eine gewisse Selbständigkeit, Bewegungsfreiheit und Verantwortung verfügt, ist ebenso wie Dauer und Umfang seiner Tätigkeit nur ein Anhaltspunkt für das Vorliegen eines Treueverhältnisses i. S. von § 266. Ein solches ist nach BGH 13, 315, 318 immer schon dann gegeben, wenn jemand fremde Gelder zu kassieren, zu verwalten oder abzuliefern hat, z. B. Schalterbeamte der Bundesbahn, Postbeamte, Angestellte einer Sparkasse, inkassobevollmächtigte Handelsvertreter sowie Kassiererinnen in einem SB-Großmarkt (Hamm NJW 1973, 1809). 3. Die Handlung besteht in der Verletzung der dem Täter obliegenden Pflichten. Keine Pflichtverletzung liegt vor, wenn der Verpflichtete einen Ermessensspielraum hat, innerhalb dessen er auch ein gewisses Risiko eingehen kann. Eine unglückliche, aber an sich nicht pflichtwidrige Spekulation mit fremden Wertpapieren erfüllt daher nicht ohne weiteres den Tb. der Untreue. Im Gegensatz zum Mißbrauchstatbestand ist beim Treubruchstatbestand eine rechtsgeschäftliche Einwirkung (Verkauf, Schenkung, Belastung usw.) nicht erforderlich. Es genügen vielmehr auch Einwirkungen rein tatsächlicher Art, z. B. Verbrauch und Vernichtung. Weitere Beispiele aus der Rechtsprechung: Der Leiter eines Auslieferungslagers führt Kaufverträge, die er im Namen seiner Firma geschlossen hat, nicht auch für deren Rechnung, sondern für Rechnung einer anderen Firma aus (BGH 20, 143), ödere.r
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Zweiundzwanzigster Abschnitt: Betrug und Untreue
§ 266
vereitelt den sicher bevorstehenden Abschluß mit einem Kunden, um diesen einer anderen Firma zuzuführen (BGH aaO.). 4. Wie beim Mißbrauchstatbestand muß die Pflichtverletzung zu einem Vermögensschaden geführt haben. Dieses Merkmal hat die gleiche Bedeutung wie beim Betrug (BGH 15, 343). Siehe dort Anm. V 2. Ergänzend ist zu beachten: Die Ersatzfähigkeit des Täters schließt den Eintritt eines Nachteils nur dann aus, wenn auch der Ersatzwille festgestellt werden kann (BGH aaO. m. Anm. Schröder JR 1961, 267; KG NJW 1972, 218; Cramerin Schönke-Schröder 43). IV. Der subjektive Tatbestand erfordert Vorsatz. Der Täter muß wissen, daß er seine Befugnisse pflichtwidrig überschreitet bzw. daß er seine Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt. Außerdem muß sich der Vorsatz auf den Schaden erstrecken. Bedingter Vorsatz genügt in jeder Hinsicht. V. IdK. ist möglich mit Diebstahl und Betrug. Gegenüber § 246 geht § 266 vor (vgl. Stgt NJW 1973, 1385 m. Anm. Krämer/Ringwald; Cramer in Schönke-Schröder 60 m. weit. Nachw.). VI. Der durch das EGStGB neu gefaßte Abs. 3 entspricht der in § 263 Abs. 4 für den Bereich des Betrugs getroffenen Regelung (siehe dort Anm. IX).
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Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung (§§ 2 6 7 , 2 6 8 , 2 7 1 - 2 8 2 ) Vorbemerkung Geschütztes Rechtsgut aller Urkundendelikte ist die Sicherheit des Rechtsverkehrs, also ein Rechtsgut der Allgemeinheit, die ein Interesse daran hat, daß die im Umlauf befindlichen Urkunden echte und zuverlässige Beweismittel sind (BGH 2, 52). Der strafrechtliche Schutz erstreckt sich teils auf die Echtheit der Urkunde (§ 267), teils auf die Wahrheit ihres Inhalts (§§ 271-273, 278 ff., 348), teils auf ihre Unversehrtheit (§§ 133, 274 Ziff. 1). Durch das 1. StrRG neu eingeführt wurde § 268. Aus dem neueren Schrifttum siehe insbesondere Kienapfel, Urkunden im Strafrecht, 1967; - ders., Neue Horizonte des Urkundenstrafrechts, Maurach-Festschr. S. 431; - Puppe, Die Bedeutung der Geistigkeitstheorie für die Feststellung des Urkundenausstellers, NJW 1973, 1870; - Samson, Urkunde und Beweiszeichen, 1968; - Fr.-Chr. Schroeder, Die Herbeiführung einer Unterschrift durch Täuschung oder Zwang, GA 1974, 225 m. krit. Bespr. Blei JA 1974, StR 173; weitere Nachweise im Text.
§ 267
Urkundenfälschung
(1) Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr eine unechte Urkunde herstellt, eine echte Urkunde verfälscht oder eine unechte oder verfälschte Urkunde gebraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr. I. Urkunde ist jede verkörperte Gedankenerklärung, die den Aussteller erkennen läßt sowie geeignet und bestimmt ist, eine rechtserhebliche Tatsache zu beweisen (BGH 24, 140, 141 m. Anm. Schröder JR 1971,469). 1. Als Urkunden kommen vor allem Schriftstücke in Betracht, z. B. Verträge, Quittungen, Ausweispapiere (vgl. Hamm NJW 1969, 625 betr. Führerschein), aber auch Klassenarbeiten (BGH 17, 297). 2. Keine Urkunden sind sogenannte Augenscheinsobjekte, die zwar zum Beweis einer Tatsache dienen können, aber keine verkörperte Gedankenerklärung enthalten, z. B. Fußspuren, ein abgerissener Knopf, das Loch in einer Schießscheibe, ein Blutfleck, Aufzeichnungen eines Fahrtenschreibers (vgl. Stgt NJW 1959, 1379; Hamm NJW 1959, 1380). Letztgenannte fallen jedoch unter den Schutz des § 268. 3. Keine Urkunden sind auch die sog. Kennzeichen, d. h. Gegenstände, die nur zur Sicherung, zur Unterscheidung oder zum Verschluß von Sachen dienen, ohne daß sie zugleich dazu geeignet und bestimmt sind, konkrete Rechtsbeziehungen zu beweisen. 862
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
§ 267
Hierher gehören z. B. Visitenkarten, Spielmarken, Biermarken und Garderobemarken, Wäschezeichen sowie Herkunfts- und Warenbezeichnungen. Die letztgenannten Fälle werden teilweise durch Sondervorschriften erfaßt. Wer z. B. einen Kopierstift unbefugt mit dem Warenzeichen der Fa. A. W. Faber-Castell versieht, macht sich zwar eines Verstoßes gegen § 24 WarenzeichenG, nicht aber einer Urkundenfälschung schuldig (BGH 2, 370). 4. Von den Kennzeichen nicht immer leicht zu unterscheiden sind die sog. Beweiszeichen. Diese sind Urkunden, wenn sie in Verbindung mit dem Gegenstand, an dem sie angebracht sind, nach Gesetz, Vereinbarung oder Herkommen geeignet und bestimmt sind, für bestimmte rechtliche Beziehungen Beweis zu erbringen. Hierher gehören z. B. Plomben an Stromzählern (RG 50, 191), das Künstlerzeichen des Malers auf seinem Bild (RG 76, 29; Ffm NJW 1970, 674), Poststempel auf der Briefmarke (RG 62, 12), der Korkbrand des Weinguts (RG 76, 186), Striche der Kellnerin auf dem Bierdeckel, die Preisauszeichnung einer Ware (Hamm NJW 1968, 1895), Fahrgestellnummer, Motornummer, Typenschild und amtliche Kennzeichen eines Kraftfahrzeugs (BGH 9, 235; 16, 94) sowie die farbige TÜV-Prüfplakette (BGH 26, 9,11; BayObLG NJW 1966,748). 5. Für Geldscheine, Wertzeichen und Beitragsmarken gelten die Sonderbestimmungen der §§ 146 ff. Für technische Aufzeichnungen siehe § 268. 6. Von einer Absichtsiirkunde spricht man, wenn eine Urkunde bereits bei ihrer Errichtung zu Beweiszwecken bestimmt ist (Normalfall). Erhält eine Gedankenäußerung erst später eine Beweisbestimmung, so spricht man von einer Zufallsurkunde. Hierher gehören z. B. die im Scheidungsprozeß dem Gericht vorgelegten Liebesbriefe. Umgekehrt ist denkbar, daß eine Gedankenerklärung ihren Urkundencharakter nachträglich wieder verliert, z. B. Fahrkarten, die am Zielbahnhof abgegeben wurden und nur zum Einstampfen gesammelt werden (BGH 4, 285). Anders jedoch, wenn sich der Beweiszweck nur ändert, z. B. wenn die Fahrkarten für Zwecke der Überwachung des inneren Dienstes aufbewahrt werden (BGH aaO.). 7. Von einer Gesamturkunde spricht man, wenn mehrere Einzelurkunden dergestalt miteinander verbunden werden, daß sie eine einheitliche und umfassende Übersicht über gewisse fortdauernde oder wiederkehrende Geschäftsbeziehungen geben (BGH 4, 61). Als Gesamturkunden gelten z. B. die Handelsbücher eines Kaufmanns (RG 50, 421; 69, 398), das Trödlerbuch (BGH MDR 54, 309), das Einwohnerverzeichnis einer Meldebehörde (BGH JR 1954, 308), Sparbücher (BGH 19, 21), Quittungsblöcke usw., nicht dagegen die Handakten eines Anwalts (BGH 3, 399) und Postanweisungen (BGH 4, 60). 8. Von den Gesamturkunden zu unterscheiden sind die zusammengesetzten Urkunden. Von einer zusammengesetzten Urkunde spricht man, wenn mehrere Gegenstände, die für sich allein keine Urkunden sein müssen, dergestalt miteinander verbunden werden, daß sie in ihrer Verbindung den Aussteller erkennen lassen und eine rechtserhebliche Erklärung abgeben. Gerade hierauf muß der Zweck der Verbindung gerichtet sein. Hieran fehlt es z. B. bei einer Blutprobe, die zusammen mit dem ärztlichen Untersuchungsbericht in ein Kästchen verpackt wird (BGH 5, 76). Eine zusammengesetzte Urkunde ist dagegen der Stempel einer Kfz-Zulassungsstelle i. V. mit einem bestimmten amtlichen Kennzeichen (nicht auch Überführungskennzeichen, Stgt Justiz 1974, 189) und 863
§ 267
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
dem dazugehörigen Pkw. Hier wird rechtsverbindlich erklärt, daß dieser Pkw unter diesem Kennzeichen für den im Zulassungsregister eingetragenen Halter zum Verkehr zugelassen ist (BGH bei Dallinger MDR 1970, 731; Hbg NJW 1966, 1827; Stgt Justiz 1974,18). Entsprechendes gilt für die von den Versicherungsgesellschaften ausgegebenen Versicherungskennzeichen für Mopeds und Mofas sowie für die vom Werk angebrachte Rahmen- und Motornummer sowie für das Typenschild (BGH 9, 235; 16, 94), nicht dagegen für die an der Windschutzscheibe angebrachte schriftliche Aufforderung, wegen verbotswidrigen Parkens bei der nächsten Polizeiwache vorzusprechen (Hbg NJW 1964, 736 = JR 1964, 228 m. Anm. Schröder). Weitere Beispiele aus der Rspr., in denen das Vorliegen einer zusammengesetzten Urkunde angenommen wurde: Lichtbildausweise (RG 46, 412), Verschlußplomben an Versandbehältern (RG 75, 306), Korkbrände i. V. mit der gefüllten Flasche (RG 76,186), die an einer Ware angebrachte Preisauszeichnung (vgl. Hamm NJW 1968, 1894 m. Anm. Peters NJW 1968, 1894; Köln NJW 1973, 1807). Zum Ganzen siehe auch Lampe NJW 1965,1746 und GA 1964,321). 9. Abschriften, Durchschläge und Fotokopien sind sind nur Urkunden, wenn sie nach Gesetz, Vereinbarung oder Herkommen dem Original gleichstehen oder dieses ersetzen sollen. Fehlt diese besondere Beweisbestimmung, so ist Urkundeneigenschaft abzulehnen. Keine Urkundenfälschung begeht daher, wer eine „Abschrift" eines nie vorhanden gewesenen Originals herstellt und in Verkehr bringt (BGH 1, 117; 2, 51). Für die Fotokopie gilt grundsätzlich nichts anderes. Auch sie ist keine Urkunde, sondern nur deren Abbild, das lediglich darauf schließen läßt, daß ein Original dieses Aussehens vorhanden ist (BGH 5, 291; 24, 140 m. Anm. Schröder JR 1971, 469; Kienapfel, Urkunden im Strafrecht, 1967, S. 359 f. sowie NJW 1971, 1781). Eine Urkundenfälschung in der Form des Gebrauchmachens kann jedoch darin gesehen werden, daß von einer unechten Urkunde eine Fotokopie gefertigt und vorgelegt wird (BGH aaO.). Hierbei kommt es nicht darauf an, ob die vorgelegte Abschrift beglaubigt ist oder nicht (BGH NJW 1965, 642 = JR 1965, 232 m. Anm. Schröder). Zu der Frage, ob Fotokopien dem strafrechtlichen Schutz des § 268 unterliegen, siehe § 268 Anm. 3 c. Wird eine Abschrift usw. mit einem Beglaubigungsvermerk versehen, so ist dieser als Urkunde anzusehen. Die maßgebliche Erklärung liegt in diesem Fall in der Erklärung der beglaubigenden Person, daß Original und Abschrift (Durchschlag, Fotokopie) übereinstimmen. Auf den Urkundencharakter des Originals kommt es dagegen nicht an. Nach Gesetz, Vereinbarung oder Verkehrssitte als Urkunden anzusehen sind z. B. die Kopien von Handelsbriefen (RG 35, 145; 43, 52), die von allen Partnern unterschriebenen Ausfertigungen eines Vertrags, die Durchschriften von Lieferscheinen und Quittungsblöcken (vgl. BGH 2, 35 sowie Hamm NJW 1973, 1809, wo jedoch ausgeführt wird, daß keine Urkundenfälschung begeht, wer eine „Durchschrift" nur vortäuscht). n . Die 1. Alternative des Tatbestands stellt die Herstellung einer unechten Urkunde unter Strafe. Eine Urkunde ist unecht, wenn sie nicht von dem stammt, der als ihr Aussteller erscheint. Unerheblich ist dagegen, ob ihr Inhalt unzutreffende Erklärungen enthält. Auch eine inhaltlich unrichtige Urkunde kann echt sein, wie umgekehrt auch eine inhaltlich richtige Urkunde unecht sein kann. § 267 schützt nicht den Inhalt, sondern die Echtheit der Urkunde. Schriftliche Lügen werden durch § 267 nicht erfaßt. Im einzelnen: 1. Die Verwendung eines fremden Namens erfüllt den Tb. nur dann, wenn der Täter über die Identität des Ausstellers täuschen will (BGH 1, 118). Keine Urkundenfälschung begeht daher,
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Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
§ 267
a) wer nur über seinen Namen und seinen Personenstand täuschen will, aber im übrigen zu der von ihm abgegebenen Erklärung steht. Beispiele: Ein bekannter Filmschauspieler unterschreibt den Meldezettel eines Hotels mit falschem Namen, um während seines Urlaubs von Reportern unbehelligt zu bleiben. - Oder: Frl. F trägt sich in einem Hotel als Frau A ein, um mit A zusammen ein Doppelzimmer beziehen zu können. - Anders jedoch, wenn ein flüchtiger Verbrecher sich unter falschem Namen in einem Hotel einträgt, um der Polizei nicht in die Hände zu fallen oder um das Hotel unter Hinterlassung der Mietschuld verlassen zu können, ohne daß der Hotelier weiß, mit wem er es zu tun hat und wie er zu seinem Geld kommen soll; b) wer einen anderen mit dessen Vollmacht in der Abgabe der Erklärung vertreten will, z. B. wenn Frau A für ihren Mann mit dessen Vollmacht den Empfang der Miete quittiert. Hier kommt Urkundenfälschung nur dann in Betracht, wenn die Unterschrift mit fremdem Namen nach Gesetz, Vereinbarung oder Verkehrssitte unzulässig ist, z. B. bei testamentarischen Erklärungen (vgl. § 2247 Abs. 1 BGB), bei der Abgabe eidesstattlicher Versicherungen, bei Prüfungsarbeiten sowie bei eigenhändigen Lebensläufen (Oldenburg JR 1952, 410). Bei testamentarischen Erklärungen soll nach Ddf NJW 1966, 749 eine Urkundenfälschung auch dann vorliegen, wenn der Täter im Einverständnis mit dem Erblasser nur den Text der letztwilligen Verfügung niederschreibt und der Erblasser die Erklärung selbst unterschreibt. Diese Ansicht kann jedoch nicht überzeugen, weil es für die Frage der Echtheit einer Urkunde entscheidend auf die Echtheit der Unterschrift ankommt. Das Testament ist daher nicht unecht, sondern nur unwirksam (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 59; Lackner 3 a; Mohrbotter NJW 1966, 1421; Tröndle LK24); c) wer eine zwar unwahre, aber nicht unechte Urkunde herstellt, z. B. wer nur falsche Angaben über Ort und Zeit der Urkundenerrichtung macht, ohne gleichzeitig über die Person des Ausstellers zu täuschen (BGH 9, 44) oder wer durch Manipulationen mit Pauspapier angebliche Durchschriften nicht vorhandener oder anderslautender Quittungen herstellt (vgl. Hamm NJW 1973, 1809). Hierbei macht es keinen Unterschied, ob die gesamte „Durchschrift" erst nachträglich hergestellt wird oder ob lediglich der zu quittierende Betrag erst nachträglich auf einer im übrigen ordnungsgemäß hergestellten Durchschrift eingesetzt wird (Hamm aaO.). 2. Handelt der Täter unter Umständen, die auf eine andere Person gleichen Namens hinweisen, so kann ausnahmsweise auch die Unterschrift mit eigenem Namen zu einer unechten Urkunde führen, z. B. wenn sich jemand, um eine nicht vorhandene Kreditwürdigkeit vorzutäuschen, als Sohn eines bekannten Industriellen ausgibt, der zufällig den gleichen Namen hat, oder wenn der Täter bestimmte charakteristische Schriftzüge seines „Namensvetters" nachahmt oder durch Zusätze besonders auf diesen hinweist. 3. Eine Urkundenfälschung kommt weiter dann in Betracht, wenn der Täter zwar nicht über seine Identität, aber über seine Vertretungsbefugnis täuscht und dadurch den Anschein erweckt, eine zur Vertretung berechtigte Person habe die Urkunde ausgestellt (BGH 17, l i m . weit. Nachw.). Beispiele: A akzeptiert Wechsel, indem er zwar seinen eigenen Namen verwendet, aber durch Verwendung eines bestimmten Firmenstempels den Anschein erweckt, er handle im Auftrag dieser Firma. Unerheblich ist, ob es diese Firma überhaupt gibt (BGH 1, 121; 5, 151). - Oder: Wer seinem Namen unbefugt einen Behördenstempel beifügt, stellt dadurch nicht nur die unwahre Behauptung auf, die 28
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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§267
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
Behörde vertreten zu dürfen, sondern täuscht vor, es handle sich um eine Erklärung dieser Behörde (BGH 7,150). 4. Keine unechte Urkunde stellt her, wer sich - befugt oder unbefugt - eine fremde Erklärung zu eigen macht, z. B. wenn A im Bewußtsein, daß seine eigene Prüfungsarbeit mißlungen ist, sich die Arbeit des B aneignet, dessen Namen ausradiert und durch den eigenen Namen ersetzt. A täuscht in diesem Fall nicht über seine Eigenschaft als Aussteller, sondern darüber, daß er selbst sich diese Losung ausgedacht und niedergeschrieben hat (BGH NJW 1954, 1375). Urkundenfälschung gemäß § 267 entfällt somit. In Betracht kommt jedoch Strafbarkeit gemäß § § 242,274 Nr. 1. 5. Als Urkundenfälschung strafbar ist auch die sog. Blankettfälschung (BGH 5, 295; Saarbrücken NJW 1975, 658; Cramer in Schönke-Schröder 62; Tröndle LK 137 ff.). Beispiele: A befindet sich im Besitz einer Blankounterschrift des B. Ohne dessen Willen schreibt er über die Unterschrift ein Schuldanerkenntnis. - Oder: A soll für B einen gebrauchten Pkw kaufen. Da der Preis noch nicht bekannt ist, gibt B ihm einen Blankoscheck mit. A kauft schließlich einen Pkw zum Preis von 1500,- DM, setzt aber auf den Scheck abrede widrig nicht 1500,- DM, sondern 2000,- DM ein und läßt sich vom Verkäufer die Differenz von 500,- DM auszahlen. DI. Die 2. Alternative des Tatbestands stellt das Verfälschen einer echten Urkunde unter Strafe. Eine Urkunde ist verfälscht, wenn die ursprüngliche Erklärung des Ausstellers so geändert oder ergänzt wird, daß sie etwas anderes zum Ausdruck bringt, als der Aussteller ursprünglich zum Ausdruck gebracht hatte. Im einzelnen: 1. Keine Verfälschung liegt vor, wenn die Urkunde nur beschädigt oder unleserlich gemacht wird, ohne daß die ursprüngliche Erklärung durch eine andere ersetzt wird. Beispiele: A macht in seinem Führerschein der Klasse 4 die Klassenbezeichnung durch Radieren unleserlich, um bei etwaigen Kontrollen behaupten zu können, er besitze den Führerschein Klasse 3, die Klassenbezeichnung sei aber durch das Alter des Führerscheins schlecht leserlich geworden. Hier kommt weder Urkundenfälschung noch Urkundenvernichtung, sondern nur ein Vergehen gemäß § 21 StVG in Betracht (Braunschweig NJW 1960, 1120). 2. Wer sich eine fremde Erklärung dadurch zu eigen macht, daß er die fremde Unterschrift durch seine eigene ersetzt, verfälscht nicht, sondern stellt eine neue echte Urkunde her (s. o. II 4). 3. Täter kann auch der Aussteller selbst sein, sofern er die Verfügungsgewalt über die Urkunde verloren hat. Beispiel: A dringt in die Wohnung seines Gläubigers B ein und nimmt an dem von ihm unterschriebenen Schuldschein eigenmächtig eine Änderung vor. - Oder: Eine Kassiererin ändert nachträglich den Inhalt einer von ihr gefertigten Quittungsdurchschrift (nicht hierher gehört dagegen das nachträgliche Fertigen einer „Durchschrift" von einem nicht vorhandenen oder anderslautenden Original, s. o. II 1 c). - Sonderbestimmungen gelten für Handelsbücher eines Kaufmanns. Gemäß § 43 Abs. 3 HGB darf der ursprüngliche Inhalt einer Eintragung nicht unleserlich gemacht oder ausradiert werden; unzulässig sind ferner alle Änderungen, deren Beschaffenheit es ungewiß läßt, ob sie bei der ursprünglichen Eintragung oder erst später gemacht worden sind. 866
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
§ 267
4. Gesamturkunden (s. o. 17) können dadurch verfälscht werden, daß sie durch Änderungen, Streichungen oder Hinzufügungen einen falschen Überblick über die in Frage stehenden Geschäftsbeziehungen geben. Beispiel: Ein Kaufmann entfernt aus seinem Kassenbuch einige Blätter, um dem Finanzamt gegenüber seinen tatsächlichen Umsatz zu verschleiern. (Hier kommt außerdem noch § 274 Nr. 1 in Betracht.) 5. Eine zusammengesetzte Urkunde (s. o. I 8) kann dadurch verfälscht werden, daß die wesentlichen Einzelteile vertauscht werden, so daß ein falscher Eindruck entsteht. Beispiel: A bringt das amtliche Kennzeichen seines alten Goggomobils an einem nicht zugelassenen Mercedes an, um vorzutäuschen, der Mercedes sei unter diesem Kennzeichen zum Verkehr zugelassen. Das gleiche gilt, wenn die Motornummer verändert oder der Rahmen ausgetauscht wird. Dagegen begeht keine Urkundenfälschung, wer ohne Veränderung der Motornummer nur den Motor eines Fahrzeugs austauscht. Der Motor ist für die Identität eines Fahrzeugs nicht so wesentlich wie Kennzeichen, Typenschild und Rahmen (vgl. BGH 16, 94 unter Berufung auf die einschlägigen Bestimmungen der StVZO). 6. Sonderfälle: Die als Beweiszeichen und damit als Urkunde anerkannte TÜV-Prüfplakette ist bereits dann verfälscht, wenn lediglich die Farbe verändert wird, um dadurch eine längere Gültigkeit vorzutäuschen (BGH 26, 9,11; BayObLG NJW 1966,748). IV. Die 3. Alternative des Tatbestands stellt den Gebrauch einer unechten oder verfälschten Urkunde unter Strafe. Gebraucht ist eine Urkunde, wenn ein Dritter in die Lage versetzt wird, ohne weiteres vom Inhalt der Urkunde Kenntnis zu nehmen. Beispiel: A legt die gefälschte Urkunde dem Gericht zur Einsichtnahme vor. Gebrauchmachen in diesem Sinn liegt auch dann vor, wenn jemand mit einem Pkw, dessen amtliches Kennzeichen, Typenschild oder Rahmen ausgetauscht worden ist (s. o. III 5), am öffentlichen Verkehr teilnimmt, oder wer von einer unechten Urkunde eine Fotokopie anfertigt und vorlegt (BGH 5, 293). Nicht ausreichend ist dagegen das bloße Mitsichführen eines gefälschten Führerscheins, um ihn im Falle einer polizeilichen Kontrolle vorzeigen zu können (BGH GA 1973, 179 sowie bei Spiegel DAR 1977, 141, 142). Mangels Täuschungsabsicht (s. u. V 2) nicht tatbestandsmäßig ist auch der Fall, daß jemand, der im Besitz einer Fahrerlaubnis der Klasse 3 ist, als Fahrer eines Pkw bei einer Kontrolle seinen in Klasse 2 verfälschten Führerschein vorzeigt (Hamm NJW 1976, 2222 m. abl. Anm. Blei JA 1977, 94). Unerheblich ist, wer die Urkunde hergestellt oder verfälscht hat. V. Der subjektive Tatbestand erfordert neben dem Vorsatz die Absicht, im Rechtsverkehr zu täuschen. 1. Der Vorsatz muß sich insbesondere auf die Tatumstände erstrecken, aus denen sich die Urkundeneigenschaft ergibt. Der Täter muß wissen, daß er einen Gegenstand vor sich hat, der nach Gesetz, Vereinbarung oder Verkehrssitte dazu geeignet und bestimmt ist, eine Gedankenäußerung seines Urhebers darzustellen und für bestimmte rechtliche Beziehungen Beweis zu erbringen. Kennt der Täter diese Umstände, so kann er sich nicht mit vorsatzausschließender Wirkung darauf berufen, er habe diesen Gegenstand, etwa eine Fahrkarte, ein abgestempeltes amtliches Kennzeichen oder die von ihm geänderte Motornummer, nicht für eine Urkunde gehalten, sondern sich unter einer Urkunde immer „etwas ganz anderes" vorgestellt, z. B. ein Schriftstück mit Unterschrift, Stempel und Siegel. Umgekehrt liegt kein nach Abs. 2 strafbarer Versuch, sondern ein strafloses 28'
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§ 268
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
Wahndelikt vor, wenn der Täter in Kenntnis aller Tatumstände einen Gegenstand, der objektiv keine Urkunde darstellt, z. B. weil der Aussteller nicht ersichtlich ist oder die Beweisbestimmung fehlt, lediglich auf Grund falscher Wertung für eine Urkunde hält (BGH 13, 235). 2. Zur Täuschung im Rechtsverkehr handelt, wer erreichen will, daß ein anderer die Urkunde für echt hält und durch diese irrige Annahme zu einem rechtserheblichen Verhalten bewogen wird (BGH 5, 149, 152; BayObLG MDR 1958, 264), z.B. wenn der Täter eine Behörde oder einen Gläubiger von Zwangsmaßnahmen abhalten will. Ausreichend ist auch die Absicht, ein drohendes Strafverfahren abzuwenden (BGH LM § 267 Nr.18). Der erstrebte Erfolg muß nicht rechtswidrig sein. Zur Täuschung im Rechtsverkehr handelt auch, wer die echte Quittung verloren hat und, um den Prozeß doch noch zu gewinnen, eine gefälschte Quittung vorlegt. Die Täuschungsabsicht fehlt, wenn der Täter nur „angeben" will oder wenn eine Frau sich in ihrem Paß um 10 Jahre jünger macht, um ihre Reisebekanntschaft nicht abzuschrecken (BayObLG MDR 1958, 264). Sie macht sich in dem letztgenannten Fall auch dann nicht strafbar, wenn sie den gefälschten Paß der Grenzpolizei vorlegt. Wer nämlich von einer nur teilweise verfälschten Urkunde Gebrauch macht, handelt nur dann zur Täuschung im Rechtsverkehr, wenn gerade der verfälschte Teil für das Verhalten desjenigen, dem die Urkunde vorgelegt wird, von Bedeutung ist (BayObLG aaO.). Deshalb genügt es auch nicht, wenn jemand, der im Besitz einer Fahrerlaubnis der Klasse 3 ist, als Fahrer eines Pkw bei einer Kontrolle seinen in Klasse 2 verfälschten Führerschein vorzeigt (Hamm NJW 1976, 2222 m. abl. Anm. Blei JA 1977, 94). VI. Konkurrenzen: Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr eine unechte Urkunde hergestellt oder eine echte Urkunde verfälscht hat, kann sich durch einen Gebrauch, der nicht auf seinem ursprünglichen Plan, sondern auf einem neuen, andersartigen Tatentschluß beruht, erneut nach § 267 strafbar machen (BGH 5, 291). Dagegen liegt eine einheitliche Handlung im Rechtssinn vor, wenn der Täter die Urkunde so gebraucht, wie er dies bereits bei ihrer Herstellung oder Verfälschung geplant hat. Gebraucht er sie dann mehrmals zu dem ursprünglich geplanten Zweck, so liegt eine fortgesetzte Tat vor (BGH 17, 97). Dagegen genügt nicht, daß er die spätere Verwendung bei der Fälschungshandlung nur in allgemeinen Umrissen kennt. Wenn beispielsweise A seinen Paß fälscht, um sich mit diesem bei Kontrollen ausweisen, vor allem aber bei der Anmietung von Kraftfahrzeugen über seine Identität täuschen zu können, so liegen nach Auffassung des BGH mehrere rechtlich selbständige Handlungen vor (BGH 17, 99). - IdK. ist möglich mit Wahlfälschung (§ 107 a), Betrug (§ 263), Fälschung technischer Aufzeichnungen (§ 268), ferner mit Diebstahl (§ 242) und Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG). Beispiel: A entwendet ein Fahrzeug, bringt an diesem das Kennzeichen eines anderen Kfz an und fährt dann ohne Fahrerlaubnis (vgl BGH 18, 66).
§ 268
Fälschung technischer Aufzeichnungen
(1) Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr 1. eine unechte technische Aufzeichnung herstellt oder eine technische Aufzeichnung verfälscht oder 868
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
§ 268
2. eine unechte oder verfälschte technische Aufzeichnung gebraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Technische Aufzeichnung ist eine Darstellung von Daten, Meß- oder Rechenwerten, Zuständen oder Geschehensabläufen, die durch ein technisches Gerät ganz oder zum Teil selbsttätig bewirkt wird, den Gegenstand der A u f zeichnung allgemein oder für Eingeweihte erkennen läßt und zum Beweis einer rechtlich erheblichen Tatsache bestimmt ist, gleichviel ob ihr die Bestimmung schon bei der Herstellung oder erst später gegeben wird. (3) Der Herstellung einer unechten technischen Aufzeichnung steht es gleich, wenn der Täter durch störende Einwirkung auf den Aufzeichnungsvorgang das Ergebnis der Aufzeichnung beeinflußt. (4) Der Versuch ist strafbar. (5) § 2 6 7 Abs. 3 ist anzuwenden. 1. Die durch das 1. StrRG neu eingeführte Vorschrift ist am 1. 4. 1970 in Kraft getreten. Aus dem Schrifttum siehe besonders Kienapfel, Urkunden und technische Aufzeichnungen, JZ 1971, 163;- deis., Neue Horizonte des Urkundenstrafrechts, Maurach-Festschr., 1972, S. 431; - Lampe, Fälschung technischer Aufzeichnungen, NJW 1970, 1079; - ders., Die strafrechtliche Behandlung der sog. Computer-Kriminalität, GA 1975, 1; - Puppe, Die Fälschung technischer Aufzeichnungen, 1972; - dies., Einwirkung auf einen Aufzeichnungsvorgang, NJW 1974, 1174; - Schilling, Die Fälschung technischer Aufzeichnungen, 1970; - Schneider, Das Fälschen technischer Aufzeichnungen, JurA 1970, 243; - Steinke, Die Kriminalität durch Beeinflussung von Rechnerabläufen, NJW 1975,1867. 2. Anliegen der Vorschrift ist es, den auf technischem Wege hergestellten Beweismitteln, die in den letzten Jahren immer mehr Eingang in das Rechtsleben gefunden haben, strafrechtlich den gleichen Schutz wie den Urkunden zukommen zu lassen. Diese Gleichstellung rechtfertigt sich aus der Erwägung, daß die auf technischem Wege hergestellten Beweismittel in zunehmendem Maße an die Stelle von bisher durch Menschenhand gefertigten Aufzeichnungen getreten sind. 3. Der Begriff der technischen Aufzeichnungen ist in Abs. 2 definiert. a) Daten sind nach dem derzeitigen Erkenntnisstand „durch Zeichen oder kontinuierliche Funktionen auf Grund bekannter oder unterstellter Abmachungen zum Zwecke der Verarbeitung dargestellte Informationen" (vgl. Nr. 16 Entwurf 1968 der Norm DIN 44300 - „Informationsverarbeitung"). Sie betreffen nach der Begründung des Sonderausschusses hauptsächlich speicherbare Informationen, die einer weiteren Verarbeitung in einer Datenverarbeitungsmaschine unterliegen. b) Bei den MeB- oder Rechenweiten handelt es sich insbesondere um Aufzeichnungen selbsttätiger Meßgeräte. Hierher gehören z. B. Waagen mit selbsttätigem Druckwerk, Thermographen zur Aufzeichnung der Temperatur von Flüssigkeiten, automatische Zählwerke mit selbsttätigem Druckwerk, automatische Schreibgeräte bei Manometern sowie Registriergeräte zur Ermittlung von Energieleistungen bei Wasser, Gas und Strom. Für 869
§268
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
das Straßenverkehrsrecht von besonderer Bedeutung sind Meßgeräte in Kraftfahrzeugen, durch deren Einsatz die zurückgelegte Wegstrecke, die Geschwindigkeit sowie die Fahrtund Haltezeiten aufgezeichnet werden (Fahrtschreiber, EG-Kontrollgeräte, aber auch Kilometerzähler, vgl. LG Marburg MDR 1973, 65 sowie Blei JA 1973, StR 44; a. A. Ddf VM 1975 Nr. 69), ferner fotografische Aufnahmen einer mit Radar festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung. c) Zu den technischen Aufzeichnungen von Zuständen und Geschehensabläufen gehören z. B. fotografische Aufnahmen und Filme, mit denen Verkehrsvorgänge, insbesondere Verkehrsübertretungen, mittels automatisch ausgelöster Kameras festgehalten werden. Aber auch die schon unter b) erwähnten Aufzeichnungen eines Fahrtschreibers sind hierher zu rechnen. Aus dem Bereich der Medizin bedürfen vor allem Röntgenaufnahmen, Elektrokardiogramme und Elektroenzephalogramme der besonderen Erwähnung. Auch hier ergeben sich zwangsläufig Überschneidungen mit den unter die Gruppe b) fallenden Beispielen. d) Die Aufzeichnung muß durch ein technisches Gerät ganz oder zum Teil selbsttätig bewirkt sein. Zu den ganz selbsttätig wirkenden technischen Geräten gehören alle vollautomatischen Geräte, z. B. die bereits oben erwähnten Fahrtschreiber. Zu den nur teilweise selbsttätig wirkenden technischen Geräten gehören auch solche, die von einem erklärenden Willen geleitet und in einem einfachen Mechanismus durch bewußte menschliche Tätigkeit unmittelbar ausgelöst werden, z. B. Kontrolluhren und Registrierkassen. Die Bestrebungen der Rechtsprechung, Aufzeichnungen solcher halbautomatischer Geräte als Urkunden dem Schutz des § 267 zu unterstellen (vgl. z. B. RG 34, 435, sog. Nachtwächterfall), können jetzt durch § 268 als gegenstandslos angesehen werden. Sehr umstritten ist, ob auch Fotokopien und Xerokopien dem Schutz der Vorschrift unterliegen. Während der BGH die Anwendbarkeit des § 268 ohne weitere Begründung ablehnt (vgl. BGH 24, 140, 142), wird die Frage von einem Teil des Schrifttums bejaht unter Hinweis darauf, daß es sich auch hier um die „Darstellung von Zuständen" handelt, nämlich um die Fixierung des Zustands einer Urkunde oder eines sonstigen Schriftstücks (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 17; Schilling aaO. 16 ff.; Schröder JR 1971, 469). Demgegenüber ist jedoch zu beachten, daß ein Kopiergerät die Wiedergabe des Originals nicht „selbsttätig" vornimmt, die richtige Wiedergabe vielmehr entscheidend davon abhängt, welches Material die Bedienungsperson verwendet und wie sie das Gerät einstellt (vgl. Blei JA 1972, StR 16). Mit Rücksicht auf die Vielzahl der Möglichkeiten, bei der Wiedergabe des Originals zu manipulieren, kann deshalb eine Fotokopie oder Xerokopie nicht den Vertrauensschutz beanspruchen, den das Gesetz in § 268 den Aufzeichnungen durch selbsttätig arbeitende Geräte beimißt (vgl. Kienapfel NJW 1971, 1781). Aus den gleichen Gründen unterliegen auch durch handgesteuerte Geräte hergestellte Tonaufnahmen, Fotografien und Filme nicht dem Schutz des § 268 (vgl. Dreher 7; Lackner 3 b; Tröndle LK 23). Geschützt sind vielmehr nur solche Aufnahmen, die durch automatisch arbeitende Geräte hergestellt werden (z. B. bei der automatischen Verkehrsüberwachung, s. o. lit. c sowie Kienapfel JZ 1971, 164; Puppe MDR 1973, 460, 463; Tröndle LK 23). e) Der Gegenstand der Aufzeichnung muß. allgemein oder für Eingeweihte erkennbar sein. Geschützt sind demnach nur solche Aufzeichnungen, deren Beziehung zu einem bestimmten Gegenstand zumindest für den Fachmann verständlich wird. Wie bei den durch § 267 geschützten schriftlichen Aufzeichnungen ist es hierbei nicht erforderlich, daß die Aufzeichnung aus sich selbst heraus verständlich ist. Es genügt, wenn ihre Bezie-
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Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
§ 268
hung zu einem bestimmten Gegenstand in Verbindung mit anderen Anhaltspunkten wenigstens für Eingeweihte erkennbar ist. f) Wie bei § 267 muß die Aufzeichnung zum Beweis einer rechtlich erheblichen Tatsache bestimmt sein. Bei vielen Aufzeichnungen, z.B. bei den Tachogrammen eines Fahrtschreibers, ergibt sich diese Beweisbestimmung bereits aus dem Grund ihrer Herstellung. Eine solche Beweisbestimmung schon im Zeitpunkt der Aufzeichnung ist jedoch nicht erforderlich. Wie bei den sog. Zufallsurkunden (siehe hierzu § 267 Anm. I 6) ist es ausreichend, daß die Aufzeichnungen erst nachträglich zum Beweis einer rechtlich erheblichen Tatsache bestimmt werden. Nach § 268 macht sich daher auch strafbar, wer ein Elektrokardiogramm, das im Rahmen einer Heilbehandlung gefertigt wurde, erst später zur Täuschung seines Arbeitgebers oder eines Versicherungsträgers fälscht. 4. Die Tathandlung des Abs. 1 Nr. 1 besteht entsprechend der in § 267 getroffenen Regelung in der Herstellung einer unechten oder in der Verfälschung einer echten technischen Aufzeichnung. Erfaßt werden alle Manipulationen, durch die der falsche Eindruck entsteht, die Aufzeichnung stamme aus einem Herstellungsvorgang, der in seinem Ablauf durch die selbsttätige Arbeitsweise des betreffenden technischen Geräts zwangsläufig vorgegeben ist und bei richtig in Gang gesetztem und ordnungsgemäß arbeitendem Gerät die Zuverlässigkeit der Aufzeichnung verbürgt (vgl. Begründung zu § 306 E 1962). Beispiel: A nimmt an dem Tachogramm seines ordnungsgemäß arbeitenden Fahrtschreiber nachträglich Radierungen und handschriftliche Änderungen vor. Uber wichtige Sonderfälle siehe Abs. 3 (unten Anm. 6). 5. Die Tathandlung des Abs. 1 Nr. 2 entspricht dem in der letzten Alternative des § 267 unter Strafe gestellten Gebrauch unechter oder verfälschter Urkunden. Auf die Ausführungen zu § 267 (Anm. IV) kann grundsätzlich verwiesen werden. Ergänzend ist zu bemerken, daß der Gebrauch von Aufzeichnungen, die zwar inhaltlich unrichtig, aber echt sind, nicht nach § 268 strafbar ist. Niehl hierher gehört femer der Fall, daß zur Täuschung im Rechtsverkehr echte Aufzeichnungen ausgewechselt oder unterschoben werden, ohne daß an der Aufzeichnung oder ihrer Beschriftung irgendwelche Änderungen vorgenommen werden. Werden an der Beschriftung oder am Begleittext einer echten Aufzeichnung nachträglich Änderungen vorgenommen, so können diese möglicherweise unter dem Gesichtspunkt der Urkundenfälschung nach § 267 strafbar sein. 6. Die in Abs. 3 erfaßte störende Einwirkung auf den Aufzeichnungsvorgang erfaßt alle Manipulationen, die den ungehinderten Aufzeichnungsvorgang eines selbsttätigen Geräts beeinträchtigen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie vor oder erst während der Aufzeichnung vorgenommen werden. Diese Fälle könnten zwar bei extensiver Auslegung auch unter Abs. 1 Nr. 1 eingeordnet werden (vgl. Lampe NJW 1970, 1097, 1103); um ihre Strafbarkeit zu sichern und jeden Zweifel auszuschließen, wurden sie jedoch in einem Sondertatbestand zusammengefaßt (Begr. zu § 308 E 1962). Beispiele: A nimmt am Kilometerzähler des von ihm gemieteten Pkw Manipulationen vor, um bei der Abrechnung einen niedrigeren Kilometerstand vortäuschen zu können (vgl. LG Marburg MDR 1973, 65 sowie Blei JA 1973, StR 44). - Oder: Der Mieter M entfernt für einige Wochen die an seinem Heizkörper angebrachten Wärmemesser, um bei der späteren Abrechnung einen niedrigeren Verbrauch vortäuschen zu können. - Oder: A verändert den Fahrtschreiber seines Lkw so, daß die auf dem Tachogramm ausgewiesene
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§271
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
Geschwindigkeit immer um 5 km/h unter der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit liegt. Nicht hierher gehören jedoch die Verwendung eines nicht zu dem betreffenden Fahrtschreibertyp passenden Schaublatts (vgl. BayObLG VM 1974 Nr. 2; Tröndle LK 33; str.) und das zeitweilige Abschalten des Geräts während der Fahrt (vgl. BayObLG NJW 1974, 325; Tröndle LK 33). In beiden Fällen entstehen zwar unrichtige Ergebnisse, der Aufzeichnungsvorgang als solcher wird aber nicht beeinträchtigt, so daß nur eine OWi gemäß §§ 57 a Abs. 2, 69 a Abs. 3 Nr. 25 StVZO in Betracht kommt. - Nicht tatbestandsmäßig ist ferner der Fall, daß ein Computer bewußt mit unrichtigen Daten „gefüttert" wird. Hier wird das Ergebnis zwar falsch, aber nicht unecht. Es liegt auch keine störende Einwirkung auf die Technik des Aufzeichnungsvorgangs vor. 7. Der subj. Tb. erfordert neben dem Vorsatz die Absicht, im Rechtsverkehr zu täuschen. Siehe hierzu § 267 Anm. V. 8. Der Versuch ist - wie auch bei § 267 - strafbar (vgl. Abs. 4). 9. Die in Abs. 5 enthaltene Verweisung auf § 267 Abs. 3 gibt die Möglichkeit, bei besonders schweren Fällen auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr zu erkennen. 10. IdK. ist vor allem mit §§ 242, 263,266, 267 möglich.
§§ 2 6 9 , 2 7 0
§ 271
[aufgehoben]
Mittelbare Falschbeurkundung
(1) Wer bewirkt, daß Erklärungen, Verhandlungen oder Tatsachen, welche für Rechte oder Rechtsverhältnisse von Erheblichkeit sind, in öffentlichen Urkunden, Büchern oder Registern als abgegeben oder geschehen beurkundet werden, während sie überhaupt nicht oder in anderer Weise oder von einer Person in einer ihr nicht zustehenden Eigenschaft oder von einer anderen Person abgegeben oder geschehen sind, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) D e r Versuch ist strafbar. 1. Die durch das 1. StrRG neu gefaßte durch das EGStGB nur redaktionell geänderte Voischrift will verhindern, daß unwahre Tatsachen in einer öffentlichen Urkunde aufgenommen werden, auf deren Richtigkeit sich jedermann verläßt. Geschütztes Rechtsgut ist damit die Beweiskraft öffentlicher Urkunden. 2. Ist der beurkundende Amtsträger bösgläubig, d. h. weiß er, daß er eine unrichtige Eintragung vornimmt, so macht er sich selbst eines Vergehens gemäß § 348 Abs. 1 schuldig. Derjenige, der ihn vorsätzlich zur Tat bestimmt hat, ist wegen Anstiftung zu bestrafen (§§ 348, 26, 28 Abs. 1). Eines Rückgriffs auf § 271 bedarf es nicht. § 271 will vielmehr in 872
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
§ 271
erster Linie die Fälle erfassen, in denen jemand einen gutgläubigen Beamten zu einer unrichtigen Eintragung durch Täuschung veranlaßt oder wenn der Beamte zwar nicht gutgläubig, aber geisteskrank ist und der Hintermann, der ihn zur Tat bestimmt, dies weiß. In beiden Fällen käme normalerweise mittelbare Täterschaft in Betracht. Da aber die Tat als echtes Amtsdelikt in mittelbarer Täterschaft nicht begangen werden kann, bedurfte es der Sonderbestimmung des § 271, um auch diese Fälle zu erfassen. Die Vorschrift erfüllt somit dieselbe Funktion wie § 160 für den Bereich der Aussagedelikte. 3. Wegen Urkunde siehe § 267 Anm. I. Die weiterhin erwähnten Bücher und Register sind lediglich besondere Erscheinungsformen einer Urkunde. 4. Öffentlich ist eine Urkunde, wenn sie von einer öffentlichen Behörde (z. B. Gericht, Staatsanwaltschaft, Universität, Polizeipräsidium, Stadtverwaltung) oder einer mit öffentlichem Glauben versehenen Person (z. B. Notar, Gerichtsvollzieher, Standesbeamter) innerhalb ihrer Zuständigkeit in der vorgeschriebenen Form aufgenommen wird (vgl. § 415 Abs. 1 ZPO). Aus dem Zweck der Vorschrift, gerade die Beweiskraft öffentlicher Urkunden zu schützen, folgt weiter, daß nur solche Urkunden dem Schutz der Vorschrift unterliegen, die Beweiskraft für und wider jedermann haben. Diese Eigenschaft fehlt solchen Erklärungen einer Behörde, die entweder a) nur für den innerdienstlichen Betrieb von Bedeutung sind, z. B. polizeiliche Anzeigen und Vernehmungsprotokolle (vgl. Stgt NJW 1956, 1082), die bei der Staatsanwaltschaft geführte Liste der Überführungsstücke, das Melderegister der Polizei (RG 74, 292; BGH JR 1954, 308), das Dienstregister des Gerichtsvollziehers (RG 68, 201), das Bundeszentralregister (BGH GA 1965, 92), die Zustellvermerke auf Paketkarten (RG 53, 224) und Postanweisungen (RG 67, 256), oder b) in keinem inneren Zusammenhang mit der eigentlichen Amtstätigkeit stehen, z. B. Mietverträge, Materialbestellungen, Quittungen über Materiallieferungen, oder c) schlichte Mitteilungen und Auskünfte enthalten. Als öffentliche Urkunden mit Beweiskraft für und wider jedermann werden dagegen anerkannt: gerichtliche Sitzungsprotokolle und Urteile, das Gefangenenbuch einer Vollzugsanstalt, Steuerkarten (RG 60, 162), die Standesregister und ihre Auszüge, Fahrkarten, Gepäckscheine und Frachtbriefe, das Abiturzeugnis (nicht dagegen das Schuljahrzeugnis, vgl. RG 43, 274; 60, 375), die Zweitausfertigung der Originalurkunde des Abschlußzeugnisses einer staatlichen Ingenieurschule (Hamm NJW 1977, 640), Pfandscheine städtischer Leihhäuser (RG 36, 363), amtliche Wiegebescheinigungen (RG 74, 370), Eingangsstempel, soweit sie zum Nachweis der Wahrung von Fristen von Bedeutung sind (RG 42, 162), Beglaubigungsvermerke, Sparbücher öff. Sparkassen (BGH 19, 19), der Kfz-Schein (BGH 20, 188; 22, 201; 26, 9), nicht dagegen der KfzBrief (BGH LM § 271 Nr. 2), femer nicht die sog. Handwerksrolle (BayObLG NJW 1971,634). 5. Die Handlung besteht darin, daß eine unrichtige Eintragung bewirkt wird, auf die sich der öffentliche Glaube der Urkunde bezieht. Nicht jede in einer öffentlichen Urkunde enthaltene Erklärung hat Beweiskraft für und gegen jedermann (BGH 17, 66 m. weit. Nachw.). Dies gilt insbesondere für Angaben über eine bestimmte Person hinsichtlich deren Identität. Von einem Gesetz, das - stillschweigend - den öffentlichen Glauben
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§271
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
einer Urkunde auf Angaben über eine bestimmte Person erstrecken will, muß erwartet werden, daß es die Eintragung von Angaben vorschreibt, die eine Verwechslung mit einer anderen Person weitgehend ausschließen (BGH 20, 296). Beispiele: a) Nach § 60 PStG beweisen die Eintragungen im ersten Teil des Familienbuchs bei dessen ordnungsgemäßer Führung die Heirat und die darüber gemachten näheren Angaben, über deren Inhalt § 11 PStG einzelne Bestimmungen enthält. So erstreckt sich die Beweiskraft des Familienbuchs gemäß §§ 60, 11 PStG u. a. auch auf die Vor- und Familiennamen der Eheschließenden. Hieraus folgt: Wer eine Ehe unter falschem Namen schließt und den Standesbeamten durch Täuschung veranlaßt, den falschen Namen in das Familienbuch einzutragen, macht sich einer mittelbaren Falschbeurkundung gemäß § 271 schuldig. Dagegen entfällt der Tb., wenn jemand bewußt der Wahrheit zuwider erklärt, er sei geschieden und wolle eine zweite Ehe eingehen. Diese Erklärungen sind in § 11 PStG zur Eintragung nicht vorgesehen und werden daher vom öffentlichen Glauben des Familienbuchs nicht erfaßt (BGH 6, 380). Entsprechendes gilt für das Geburten- und Sterbebuch. b) Ein Sitzungsprotokoll im Zivil- oder Strafprozeß beweist lediglich, daß eine bestimmte Person unter dem von ihr angegebenen Namen erschienen ist und Prozeßerklärungen abgegeben hat (Hamm NJW 1977, 592 m. Nachw.). Es beweist dagegen nicht, daß der Erschienene mit dem eigentlichen Prozeßbeteiligten identisch ist und den Namen trägt, unter dem er auftritt. Wer sich also für einen anderen verurteilen läßt oder wer sich wegen seiner Vorstrafen unter falschem Namen verurteilen läßt, macht sich nur einer Ordnungswidrigkeit nach § 111 OWiG, nicht aber eines Vergehens gemäß § 271 schuldig (RG 11, 188). Entsprechendes gilt für das Urteil (RG 11, 126; 41, 201) und das BZR (BGH GA, 1965, 92). c) Der notarielle Kaufvertrag beweist zwar mit Beweiskraft für und wider jedermann, daß die Vertragsparteien das beurkundete Rechtsgeschäft unter ständiger Anwesenheit des Notars abgeschlossen haben (BGH 26, 47); er beweist aber nicht, daß der von den Parteien angegebene Kaufpreis auch der richtige ist (BayObLG NJW 1955, 1567). Hier kommt also, wenn der Kaufpreis zu niedrig angegeben wird, um Steuern zu sparen, nur Steuerhinterziehung, nicht aber § 271 in Betracht. d) Die von einer als Anstalt des öffentlichen Rechts betriebenen Sparkasse ausgestellten Sparbücher sind öffentliche Urkunden. Ihre erhöhte Beweiskraft bezieht sich aber gemäß §418 ZPO nur auf die im Rahmen des Sparverkehrs vorgenommenen Eintragungen der Sparkasse, insbesondere auf die bescheinigten Ein- und Auszahlungen. Sie beweisen dagegen nicht die Identität des Sparers mit der im Sparbuch als verfügungsberechtigt bezeichneten Person (BGH 19,19). e) Der Kraftfahrzeugschein beweist lediglich, daß das nach seinen der Verwaltungsbehörde erkennbaren Merkmalen beschriebene Fahrzeug unter Zuteilung eines bestimmten amtlichen Kennzeichens zum öffentlichen Verkehr zugelassen worden ist. Auch die Eintragung des Termins für die nächste Hauptuntersuchung wird vom öffentlichen Glauben des Kfz-Scheins mitumfaßt (BGH 26, 9). Der Kfz-Schein hat dagegen nicht die Aufgabe, zu öffentl. Glauben mit Wirkung für und wider jedermann zu beurkunden, daß die angegebenen Fahrgestell- und Motornummern nicht verändert wurden, seit das Fahrzeug das Werk verlassen hat (BGH 20, 186), und daß die Eintragungen über die Person des Zulassungsinhabers richtig sind (BGH 20,294; 22, 201 [GrSen]). 874
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
§ 272
f) Der bei Verlust des Führerscheins ausgestellte sog. Zwischenausweis ist zwar eine öff. Urkunde, erbringt aber nicht Beweis für und wider jedermann, daß der Inhaber zum Führen von Kraftfahrzeugen berechtigt ist, sondern befreit lediglich den Inhaber von den sich aus § 4 Abs. 2 StVZO ergebenden Pflichten (vgl. Köln VM 1972 Nr. 72). Auch der Ersatzführerschein kann nur beweisen, daß die Fahrerlaubnis einmal erteilt wurde, nicht aber, daß sie noch vorhanden ist (Köln aaO.). 6. Der subjektive Tb. erfordert Vorsatz. Der Täter muß wissen, daß er eine unrichtige Beurkundung von rechtserheblicher Bedeutung bewirkt. Außerdem ist erforderlich, daß er den Beamten für gutgläubig oder geisteskrank hält und sich infolgedessen im Besitz der Tatherrschaft wähnt (s. o. 2). Für Irrtümer in dieser Hinsicht gelten die Ausführungen unter § 160 Anm. 4 entsprechend, jedoch mit der Maßgabe, daß eine versuchte Anstiftung zu dem Vergehen des § 348 Abs. 1 nicht strafbar ist. - Bei Bereicherungsabsicht und Schädigungsvorsatz siehe § 272. 7. Ein nach Abs. 2 strafbarer Versuch liegt bereits dann vor, wenn jemand eine Hilfsperson des für die Ausstellung der öffentlichen Urkunde zuständigen Amtsträgers täuscht (Hamm NJW 1977, 640). 8. Tateinheit kommt vor allem mit §§ 169, 171, 258 und 263 in Betracht, aber auch mit § 267, falls die Falschbeurkundung durch Vorlage gefälschter Urkunden bewirkt wird (RG61,410; 72, 228; Dreher 17; Lackner 7).
§ 272
Schwere mittelbare Falschbeurkundung
(1) Wer die vorbezeichnete Handlung in der Absicht begeht, sich oder einem anderen einen VermögensvorteU zu verschaffen oder einem anderen Schaden zuzufügen, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Der Versuch ist strafbar. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe. 1. Die durch das 1. StrRG im Strafrahmen neu gefaßte, durch das EGStGB nur noch redaktionell geänderte Vorschrift enthält einen qualifizierten Fall des § 271. 2. Die Bereicherungsabsicht muß nicht das einzige oder hauptsächliche Tatmotiv gewesen sein. Auf die Ausführungen zu § 263 (siehe dort Anm. VI 2) wird insoweit Bezug genommen. Nicht erforderlich ist, daß der erstrebte Vorteil rechtswidrig ist. 3. Als Schädigungsabsicht genügt wie bei § 274 Nr. 1 (siehe dort Anm. 4), daß der Schaden nach der Vorstellung des Täters die erstrebte oder zumindest notwendige Tatfolge ist ( = dolus directus, vgl. Schröder JR 1970, 471 m. weit. Nachw.). Schaden ist jeder Nachteil, nicht nur ein Vermögensschaden. Der Schaden muß sich jedoch - unmittelbar oder mittelbar - gerade aus der unrichtigen Beurkundung ergeben (vgl. Schröder aaO.).
875
§§ 273,274
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
4. Beispiel: Der Arbeitslose A verbüßt für den Fabrikanten F, der ihm hierfür eine Belohnung versprochen hat, eine Freiheitsstrafe wegen Trunkenheit am Steuer. Er bewirkt dadurch, daß eine öffentliche Urkunde, nämlich das Gefangenenbuch, einen unrichtigen Eintrag erhält. Hier liegt neben § 272 noch Strafvereitelung gemäß § 258 vor.
§ 273
Gebrauch falscher Beurkundungen
Wer von einer falschen Beurkundung der in § 271 bezeichneten Art zum Zwecke einer Täuschung Gebrauch macht, wird nach § 271 und, wenn die Absicht dahin gerichtet war, sich oder einem anderen einen Vermögensvorteil zu verschaffen oder einem anderen Schaden zuzufügen, nach § 272 bestraft. 1. Unerheblich ist, ob die öffentliche Urkunde durch eine strafbare Handlung gemäß §§ 271, 348 Abs. 1 unrichtig geworden ist. Die Vorschrift kommt auch dann in Betracht, wenn der Fehler nur auf einem Versehen des die Urkunde ausstellenden Beamten beruht (RG 68, 300; Cramer inSchönke-Schröder 3; Tröndle LK 2). 2. Über „Gebrauchmachen" siehe § 267 Anm. IV. Auf der subj. Tatseite genügt, wie sich aus der Streichung des Worts „wissentlich" durch das EGStGB jetzt zweifelsfrei ergibt, bedingter Vorsatz (vgl. RegE S. 192 BT-Drucks. 7/550). 3. Der Versuch ist in allen Fällen strafbar (vgl. § 271 Abs. 2). 4. Konkurrenzen: Tateinheit ist mit § 263 möglich. Für das Verhältnis zu §§ 271, 272 gelten die Ausführungen unter § 267 Anm. VI entsprechend.
§ 274
Urkundenunterdrückung; Veränderung einer Grenzbezeichnung
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. eine Urkunde oder eine technische Aufzeichnung, welche ihm entweder überhaupt nicht oder nicht ausschließlich gehört, in der Absicht, einem anderen Nachteil zuzufügen, vernichtet, beschädigt oder unterdrückt oder 2. einen Grenzstein oder ein anderes zur Bezeichnung einer Grenze oder eines Wasserstandes bestimmtes Merkmal in der Absicht, einem anderen Nachteil zuzufügen, wegnimmt, vernichtet, unkenntlich macht, verrückt oder fälschlich setzt. (2) Der Versuch ist strafbar. I. Die in § 274 Nr. 1 unter Strafe gestellte Urkundenvernichtung bzw. -Unterdrückung richtet sich gegen die Brauchbarkeit der Urkunde als Beweismittel im Rechtsverkehr. 1. Der Begriff Urkunde deckt sich mit dem Urkundenbegriff in § 267 (vgl. Celle NJW 1960, 880). Siehe dort Anm. I. Wegen technischer Aufzeichnungen siehe § 268.
876
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
§ 274
2. Für die Frage, wem die Urkunde oder technische Aufzeichnung gehört, sind nicht die Eigentumsverhältnisse des bürgerlichen Rechts entscheidend, sondern das Beweisinteresse (h. L., vgl. Cramer in Schönke-Schröder 5 m. Nachw.). Täter kann demnach auch der Eigentümer sein, soweit er durch die Tat die Interessen eines anderen verletzt, der die Urkunde benutzen oder einsehen darf (BayObLG NJW 1968, 1896). Beispiel: Ein Kaufmann vernichtet sein Kassenbuch, um es der Einsicht des Finanzamts zu entziehen. 3. Über Vernichten und Beschädigen siehe § 133 Anm. 3 a, b. Ein Datenträger i. S. von § 268 kann auch dadurch „beschädigt" werden, daß sein Inhalt gelöscht wird (vgl. Blei JA 1975, StR 44; Cramer in Schönke-Schröder 7; a. A. Lampe GA 1975, 1, 16). Ein Unterdrücken liegt vor, wenn eine Urkunde - sei es auch nur vorübergehend — der Benutzung des Berechtigten entzogen wird. Beispiel: A entfernt in einem Kaufhaus an einer Lederjacke, die er entwenden will, die Preisauszeichnung, um auf diese Weise vortäuschen zu können, er habe die Jacke schon vor längerer Zeit gekauft (vgl. Köln NJW 1973,1807). Siehe auch das Beispiel unter § 267 Anm. II 4. 4. Subjektiv ist neben dem Vorsatz die Absicht erforderlich, einem anderen Nachteil zuzufügen. Nachreil ist jede Beeinträchtigung des Gebrauchs der Urkunde im Rechtsverkehr. Als Absicht genügt das Bewußtsein, daß der Nachteil die notwendige Folge der Tat ist (BayObLG NJW 1968,1896). Siehe hierzu das Beispiel unter § 267 Anm. II 4. 5. Der Versuch ist strafbar (Abs. 2). Kein Versuch, sondern ein strafloses Wahndelikt ist gegeben, wenn der Täter eine Urkunde unkenntlich macht in der irrigen Meinung, er beeinträchtige die Beweisinteressen eines anderen, während er in Wirklichkeit nur seinen eigenen Interessen schadet. Siehe hierzu das Beispiel unter § 267 Anm. III 1. 6. Konkurrenzen: Mit §§ 242, 246 ist Tateinheit möglich, wenn das Unterdrücken gleichzeitig eine Zueignung enthält (RG 47, 215; Tröndle LK 29; für Gesetzeskonkurrenz zu Gunsten der §§ 242, 246 dagegen Cramer in Schönke-Schröder 20). Folgt die Zueignung dem Unterdrücken zeitlich nach, so ist Tatmehrheit anzunehmen. Tateinheit mit versuchtem Diebstahl liegt vor, wenn jemand in der Absicht, eine Ware zu entwenden, das Preisschild entfernt (vgl. Köln NJW 1973, 1807). Auch mit § 133 kommt Tateinheit in Betracht. Wird die Tat von einem Amtsträger begangen, so ist §§ 133 Abs. 3 zu beachten. Gegenüber §§ 267,268 ist § 274 subsidiär. 7. Abschließendes Beispiel (vgl. BayObLG NJW 1966, 557; NJW 1968, 1896 sowie OLG Celle JR 1966, 110): Frau A hat mit dem Pkw ihres Ehemanns beim Verlassen eines Parkplatzes den Pkw des X leicht gestreift und beschädigt. Nach Feststellung des Schadens bringt sie unter dem Scheibenwischer des beschädigten Pkw einen Notizzettel mit einem kurzen Hinweis auf ihre Person, ihr Fahrzeug und ihr Verschulden an. Als sie wenig später hiervon ihrem Ehemann berichtet, zeigt sich dieser wegen des drohenden Verlusts seines Anspruchs auf Prämienrückgewähr für unfallfreies Fahren äußerst verärgert. Im Einverständnis mit seiner Frau, die nicht zu widersprechen wagt, begibt er sich unverzüglich zur Unfallstelle und entfernt dort den Zettel. Hierbei wird er jedoch beobachtet. A kann sich in diesem Falle nicht auf das Einverständnis seiner Frau berufen. Auch diese wäre nämlich nicht mehr berechtigt gewesen, den von ihr angebrachten Zettel zu entfernen. Durch das Anbringen des Zettels am Pkw des X hatte sie dem X das Recht eingeräumt, den Zettel als Beweismittel zu benutzen. Dieses Recht konnte sie ihm nicht 877
§275
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
mehr einseitig entziehen, wobei es unerheblich ist, daß X von der Existenz des Zettels noch nichts wußte. Es genügt, daß der Zettel objektiv in seinen Machtbereich gelangt war. Auch subjektiv ist der Tb. des § 274 erfüllt. Die Schädigung des X war zwar nicht das Motiv. Dies ist aber auch nicht erforderlich. Es genügt, daß A, um seinen Anspruch auf Prämienrückgewähr nicht zu verlieren, die Schädigung des X als notwendige Tatfolge erkannte. II. § 274 Nr. 2 schützt Grenzmerkmale, und zwar auch dann, wenn sie die wahren Grenzverhältnisse nicht richtig wiedergeben. Die Absicht, einem anderen einen Nachteil zuzufügen, ist schon dann gegeben, wenn die Beweislage verschlechtert wird. Sie wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Täter die bisherige, von ihm geänderte Markierung für falsch hält. In diesen Fällen fehlt nicht der Vorsatz, sondern nur das Unrechtsbewußtsein. Tateinheit ist möglich mit Diebstahl. Beispiel: A fällt den Grenzbaum, der sein Grundstück von dem des B trennt. Handelt er dabei in der Absicht, den Baum als Brennholz zu verheizen, so liegt neben § 274 Abs. 1 Nr. 2 Diebstahl vor (vgl. § 242 Anm. IV 1). Für die Strafbarkeit gemäß § 274 Abs. 1 Nr 2 ist unerheblich, ob die Grenze nach Entfernung des Baums auch auf andere Weise bestimmt werden kann.
§ 275
Vorbereitung der Fälschung von amtlichen Ausweisen
(1) Wer eine Fälschung von amtlichen Ausweisen vorbereitet, indem er 1. Platten, Formen, Drucksätze, Druckstöcke, Negative, Matrizen oder ähnliche Vorrichtungen, die ihrer Art nach zur Begehung der Tat geeignet sind, oder 2. Papier, das einer solchen Papierart gleicht oder zum Verwechseln ähnlich ist, die zur Herstellung von amtlichen Ausweisen bestimmt und gegen Nachahmung besonders gesichert ist, herstellt, sich oder einem anderen verschafft, feilhält, verwahrt, einem anderen überläßt oder in den räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes einführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) § 1 4 9 Abs. 2 , 3 gilt entsprechend. 1. Die früher an dieser Stelle behandelte Fälschung von Wertzeichen wird seit Inkrafttreten des EGStGB in den §§ 148, 149 erfaßt. Der neue § 275 beschränkt sich darauf, die Vorbereitung der Fälschung amtlicher Ausweise unter Strafe zu stellen. Die Erfassung gerade dieser Fälle erschien deshalb geboten, weil falsche Ausweise erfahrungsgemäß recht häufig hergestellt werden, z. B. für Agenten, Terroristen oder illegal einreisende Ausländer sowie für solche Personen, die zur Begehung von Straftaten oder zut Erschwerung ihrer strafrechtlichen Verfolgung auf falsche Ausweise angewiesen sind. Da MRtUctlt Ausweise in der Regel durch Verwendung besonderer Papierarten und durch besondere» Druck gegen Nachahmung gesichert sind und die Herstellung falscher Ausweise durch Verwendung nachgemachter Vordrucke wesentlich erleichtert wird, stellen die in § 275 erfaßten Vorbereitungshandlungen eine erhebliche Gefahr des Mißbrauchs dar, so daß es geboten erschien, diese Handlungen selbständig unter Strafe zu stellen. 878
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
§ 277
2. Amtlicher Ausweis ist jeder von einer amtlichen Stelle im Rahmen ihrer Zuständigkeit ausgestellte Identitätsnachweis. Amtliche Stelle ist jede mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattete Dienststelle, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie zur gesetzgebenden Gewalt, zur Rechtsprechung oder zur vollziehenden Gewalt (z. B. Polizei, Bundeswehr, Bundesgrenzschutz) gehört. Auch Gemeindeverwaltungen und Körperschaften des öffentlichen Rechts gehören hierher. Als amtliche Ausweise kommen insbesondere Reisepässe, Personalausweise und Führerscheine in Betracht, aber auch Dienstausweise, Studenten- und Schülerausweise. 3. Die Tathandlung entspricht der Tathandlung in den §§ 148 und 149, so daß auf die Ausführungen zu diesen Vorschriften verwiesen werden kann. Zusätzlich aufgeführt ist lediglich die Einfuhr, was sich daraus ergibt, daß § 275 im Gegensatz zu den §§ 148 und 149 nicht in den Katalog des § 6 (Auslandstaten) aufgenommen wurde. 4. Die Möglichkeit strafbefreienden Rücktritts ergibt sich aus Abs. 2 i. V. mit § 149 Abs. 2 und 3. 5. IdK. ist möglich mit §§ 98, 99.
§ 276
[aufgehoben durch das EGStGB; siehe jetzt § 148 Abs. 2]
§ 277
Fälschung von Gesundheitszeugnissen
Wer unter der ihm nicht zustehenden Bezeichnung als Arzt oder als eine andere approbierte Medizinalperson oder unberechtigt unter dem N a m e n solcher Personen ein Zeugnis über seinen oder eines anderen Gesundheitszustand ausstellt oder ein derartiges echtes Zeugnis verfälscht und davon zur Täuschung von Behörden oder Versicherungsgesellschaften Gebrauch macht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Gesundheitszeugnisse sind alle Erklärungen über den derzeitigen, früheren oder zukünftigen Gesundheitszustand eines Menschen. Unerheblich ist, ob der Gesundheitszustand richtig oder unrichtig dargestellt wird. Zu den Gesundheitszeugnissen gehört u. a. auch das Gutachten des Instituts für gerichtl. Medizin über den Blutalkoholgehalt eines Kraftfahrers im Zeitpunkt der Fahrt (BGH 5, 76, 84). 2. Die Vorschrift enthält drei Alternativen, von denen die beiden letzten privilegierte Sonderfälle der Urkundenfälschung sind, während die erste ausnahmsweise eine schriftliche Lüge unter Strafe stellt. a) Die 1. Alt. setzt voraus, daß jemand unter eigenem Namen ein Gesundheitszeugnis ausstellt, wobei er sich, ohne hierzu berechtigt zu sein, als Arzt oder andere approbierte Medizinalperson ausgibt. Wer sich als Arzt bezeichnen darf, ergibt sich aus § 2 BÄO. Zu den anderen approbierten Medizinalpersonen gehören Zahnärzte, Hebammen, Heilprak879
§ 278
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
tiker, Krankenpfleger, Wochenpflegerinnen, medizinisch-technische Assistentinnen, Krankengymnastinnen u. a. (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 3; Tröndle LK 6). b) Der Täter der 2. Alt. stellt das Zeugnis unter dem Namen eines anderen aus, der Arzt oder eine sonstige approbierte Medizinalperson ist. Ob dieser andere existiert, ist unerheblich. c) Nach der 3. Alt. macht sich strafbar, wer ein echtes Zeugnis verfälscht. Wegen Verfälschen siehe § 267 Anm. III. 3. Vollendet ist der Tatbestand erst, wenn der Täter von dem unechten bzw. verfälschten Zeugnis in Täuschungsabsicht Gebrauch macht. Bis dahin liegt strafloser Versuch vor. Es handelt sich somit - anders als bei § 267 - um ein zweiaktiges Delikt. Über Gebrauchmachen siehe § 267 Anm. IV. 4. Subjektiv ist neben dem Vorsatz die Absicht erforderlich, eine Behörde oder Versicherungsgesellschaft zu täuschen. Zu den Behörden gehören z. B. Schulen, Ortskrankenkassen und Berufsgenossenschaften; zu den Versicherungsgesellschaften gehören auch private Unternehmen. 5. Konkurrenzen: Gegenüber § 267 geht § 277 als das speziellere Gesetz vor. Tateinheit ist dagegen möglich mit §§ 132 a, 258,268, bei Bereicherungsabsicht auch mit Betrug. 6. Beispiel: Um den Familienurlaub verlängern zu können, schreibt der Handelsvertreter A für seinen schulpflichtigen Sohn S unter dem Namen des Dr. B, dessen Namen er irgendwo gelesen hat, eine Bescheinigung, aus der sich ergibt, daß S schwer an Grippe erkrankt ist und daher die Rückreise noch nicht antreten kann. Diese Bescheinigung schickt er mit einem entsprechenden Begleitschreiben an die Schule des S.
§ 278
Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse
Ärzte und andere approbierte Medizinalpersonen, welche ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft wider besseres Wissen ausstellen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Hier geht es im Gegensatz zu § 277 nicht um die Echtheit, sondern um die Richtigkeit des Inhalts. Die Vorschrift dient vor allem dem Kampf gegen Gefälligkeitsatteste. Nach h. A. soll ein Zeugnis schon dann unrichtig sein, wenn es ohne die gebotene persönliche Untersuchung ausgestellt wurde (Ffm NJW 1977, 2128; zw.; siehe auch § 219 a Anm. 2). 2. Der Täterkreis entspricht dem des § 277 (siehe dort Anm. 2 a). Bei Teilnehmern ist § 28 Abs. 1 zu beachten (vgl. Dreher 6; Lackner 1; str.). 3. Vollendet ist das Delikt bereits mit dem Ausstellen eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses. Im Gegensatz zu § 277 ist also nicht erforderlich, daß jemand von dem Zeugnis Gebrauch macht. 880
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
§ 279
4. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Der Täter muß wissen, daß das Zeugnis unrichtig und zur Vorlage an eine Behörde oder Versicherung bestimmt ist. Bedingter Vorsatz genügt nur hinsichtlich des beabsichtigten Gebrauchs. Hinsichtlich der Unrichtigkeit des Inhalts ist unbedingter Vorsatz erforderlich. 5. Tateinheit ist möglich mit §§ 258, 268 sowie mit Beihilfe zum Betrug. Ist der Täter eine Amtsperson, so ist § 348 Abs. 1 zu beachten. Diese Bestimmung geht gegenüber § 278 als das speziellere Gesetz vor (h. L., vgl. Cramer in Schönke-Schröder 7). 6. Abwandlung des Beispiels zu § 277: A stellt das erforderliche Attest über die angebliche Erkrankung seines Sohnes nicht selbst her, sondern bittet den Dr. B, ihm die Bescheinigung gefälligkeitshalber zu erteilen. Gibt Dr. B dem Verlangen des A nach, so macht er sich gemäß § 278 als Täter, A als Anstifter strafbar. Da der Tb. bereits mit der Ausstellung des Zeugnisses vollendet ist (s. o. 3), bleibt die Strafbarkeit von A und Dr. B auch dann unberührt, wenn A sich später doch entschließt, das Zeugnis nicht abzuschikken, sondern rechtzeitig zum Schulbeginn zurückzufahren, oder wenn S tags darauf tatsächlich erkrankt.
§ 279
Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse
Wer, um eine Behörde oder eine Versicherungsgesellschaft über seinen oder eines anderen Gesundheitszustand zu täuschen, von einem Zeugnis der in den §§ 277 und 278 bezeichneten Art Gebrauch macht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Es genügt, daß der Täter von einem objektiv unrichtigen Zeugnis Gebrauch macht. Der Tb. kommt daher auch dann in Betracht, wenn jemand einen Arzt durch Vortauschung oder Verheimlichung von körperlichen Beschwerden zu einer falschen Diagnose veranlaßt und das auf diese Weise erschlichene, objektiv unzutreffende Zeugnis einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft vorlegt (vgl. BGH 5, 76, 85; h. L.). 2. Subjektiv ist neben dem Vorsatz die Absicht erforderlich, eine Behörde oder Versicherungsgesellschaft über seinen Gesundheitszustand zu täuschen. Diese Voraussetzungen sind bei Zeugnissen der in § 277 bezeichneten Art nicht immer gegeben, da § 277 anders als § 278 - nicht auf die Richtigkeit des Inhalts, sondern auf die Echtheit abstellt. 3. Täter kann auch sein, wer an den Vergehen gemäß §§ 277, 278 als Teilnehmer beteiligt war. Für den Täter der „Vortat" ist der Gebrauch dagegen straflose Nachtat. 4. Mit Betrug ist IdK. möglich. - Wegen Einziehung siehe § 282.
§ 280
[aufgehoben]
881
§281 § 281
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung Mißbrauch von Ausweispapieren
(1) Wer ein Ausweispapier, das für einen anderen ausgestellt ist, zur Täuschung im Rechtsverkehr gebraucht, oder wer zur Täuschung im Rechtsverkehr einem anderen ein Ausweispapier überläßt, das nicht für diesen ausgestellt ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Der Versuch ist strafbar. (2) Einem Ausweispapier stehen Zeugnisse und andere Urkunden gleich, die im Verkehr als Ausweis verwendet werden. 1. Die durch das 1. StrRG im Strafrahmen neu gefaßte Vorschrift erfaßt den Mißbrauch von Ausweispapieren. a) Über Ausweispapiere siehe § 275 Arnn. 1. Für Reisepässe gilt die Sonderregelung des § 11 PaßG vom 4. 3. 1952 (BGBl. 1290). b) Einem Ausweispapier gleichgestellt sind nach Abs. 2 Zeugnisse und andere Urkunden, die im Verkehr als Ausweis verwendet werden. Hierunter fallen Schul- und Universitätszeugnisse, Geburtsurkunden (BGH 20, 17), Taufscheine, Steuerkarten, Arbeitsbücher, Werkausweise und Ernennungsurkunden. c) Fotokopien unterliegen zumindest dann nicht dem Schutz der Vorschrift, wenn sie nicht beglaubigt sind (BGH 20,17). 2. Als Tathandlung sind unter Strafe gestellt: a) der Gebrauch eines Ausweises, der für einen anderen ausgestellt ist; b) das Überlassen eines Ausweises an einen anderen, für den er nicht ausgestellt ist, wobei unerheblich ist, ob derjenige, der den Ausweis überläßt, identisch ist mit dem, für den der Ausweis ausgestellt wurde. Bei dieser Tatbestandsalternative handelt es sich nicht nur um eine zum Sonderdelikt erhobene Beihilfehandlung (so aber R. Schmitt NJW 1977, 1811 m. Nachw.), sondern gleichzeitig um eine wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit selbständig unter Strafe gestellte Vorbereitungshandlung. 3. Der subjektive Tatbestand erfordert Vorsatz sowie die Absicht, im Rechtsverkehr zu täuschen. Fehlt diese Absicht, so kommt nach Aufhebung des § 3 Abs. 1 b PersonalausweisG durch das 1. StrRG nur eine OWi gemäß § 111 OWiG in Betracht. 4. Die Strafbarkeit von Täterschaft und Teilnahme bestimmt sich nach allgemeinen Grundsätzen. Beispiel: Der kaufmännische Angestellte A besorgt sich mit dem Studentenausweis seines Freundes S eine verbilligte Theaterkarte. In diesem Fall haben sich beide (A und S) eines Vergehens gemäß § 281 schuldig gemacht: S, weil er den Ausweis dem A überlassen hat; A, weil er ihn benutzt hat. Die beiderseits geleistete Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe) wird durch die eigene Täterschaft konsumiert (abzulehnen dagegen R. Schmitt NJW 1977, 1811, der strafbare Teilnahme nicht erst im Bereich der Konkurrenzen, sondern bereits auf Tatbestandsebene ausschließen möchte). Nicht konsumiert wird dagegen der gleichzeitig vorliegende Betrug. Dieser steht zu § 281 882
Dreiundzwanzigster Abschnitt: Urkundenfälschung
§ 282
in Tateinheit, wobei A als Täter, S als Gehilfe anzusehen ist. - Abwandlung: A bekommt rechtzeitig Bedenken und kauft seine Karte ordnungsgemäß. In diesem Fall bleibt die Strafbarkeit des S gemäß § 281 unberührt, weil das Überlassen bereits abgeschlossen war. Für A kommt Anstiftung in Betracht. Die abweichende Ansicht von R. Schmitt aaO, der strafbare Anstiftung unter dem Gesichtspunkt der sog. notwendigen Teilnahme ablehnt, ist rechtssystematisch nicht zwingend, wenn man das Überlassen eines Ausweispapiers nicht nur als verselbständigte Beihilfe, sondern als eine wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit selbständig unter Strafe gestellte Vorbereitungshandlung ansieht; sie führt vor allem zu einer kriminalpolitisch unerwünschten Verkürzung des Strafbarkeitsbereichs.
§ 282
Einziehung
Gegenstände, auf die sich eine Straftat nach den §§ 267, 268, 273 oder 279 bezieht, können eingezogen werden. In den Fällen des § 275 werden die dort bezeichneten Fälschungsmittel eingezogen. Die durch das EGOWiG 1968 eingeführte, zuletzt durch das EGStGB geänderte Vorschrift gibt die Möglichkeit, die sog. Beziehungsgegenstände einzuziehen. Die Einziehung ist nur unter den Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 zulässig (vgl. § 74 Abs. 4).
883
Vierundzwanzigster Abschnitt: Konkursstraftaten (§§ 283 — 283 d)
Vorbemerkungen 1. Die Konkursstraftatbestände sind durch Artikel 1 Nr. 5 des 1. WiKG vom 29. 7. 1976 (BGBl. I 2034) neu gestaltet worden. Wegen ihrer allgemeinen Bedeutung und ihres schwerwiegenden Unrechtsgehalts wurden sie aus der KO (§§ 239-243 aF) herausgenommen und wieder an der Stelle in das StGB eingefügt, an der sie bereits bis zum Inkrafttreten der KO am 1. 10. 1879 geregelt waren. Einzelheiten zum 1. WiKG siehe § 264 Anm. 1. a) Die früheren Straftatbestände der KO erfaßten bestimmte Bankrotthandlungen zum Nachteil der Gläubiger, sobald die Insolvenz als objektive Bedingung der Strafbarkeit eingetreten war. Subjektiv waren teilweise die Absicht der Gläubigerbenachteiligung oder -begünstigung (§§ 239, 241 KO aF), teilweise aber auch nur Vorsatz oder Fahrlässigkeit bezüglich der Bankrotthandlungen (§ 240 KO aF) vorausgesetzt. b) Geschütztes Rechtsgut der Straftatbestände der KO waren die individuellen Vermögensinteressen der Gläubiger des Insolventen (Stree in Schönke-Schröder 1 zu § 239 KO aF). Hieran hat die Neugestaltung nichts geändert (RegE S. 33). Sie bezweckt vielmehr einen wirksameren Rechtsgüterschutz mit rechtsstaatlich bedenkenfreien Mitteln als Beitrag zur intensiveren Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (RegE S. 14). Darüber hinaus werden durch § 283 a Nr. 2 die Arbeitnehmer des Insolventen in ihrer Abhängigkeit vom Arbeitsplatz in den geschützten Rechtskreis einbezogen (RegE S. 38). Nicht zuletzt aber dient die strafrechtliche Erfassung unsolider Geschäftspraktiken auch dem Schutz der Allgemeinheit, die - schon zur Erhaltung des Sparwillens der Bevölkerung - ein berechtigtes Interesse an der Funktionsfähigkeit der Kreditwirtschaft hat (so schon Tiedemann zum früheren Recht, vgl. ZRP 1975,129, 133). c) Anlaß zur inhaltlichen Neugestaltung waren zum einen Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit des früheren Rechts mit dem Schuldprinzip, zum anderen die mit dem Tatbestandsmerkmal der Gläubigerbenachteiligungsabsicht (§ 239 KO aF) verbundenen Beweisschwierigkeiten in der Praxis. Schon bei den Beratungen der Großen Strafrechtskommission wurde das aus den Rechtsstaatsgrundsätzen abzuleitende Schuldprinzip (vgl. § 46 Abs. 1 Satz 1; BVerfG 20, 331) beispielsweise in Fällen des § 240 Abs. 1 Nr. 1 KO aF als verletzt angesehen (Dünnebier in den Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission Bd. 8 S. 82). Unbefriedigend war in der Tat, daß strafrechtlich wertneutrale Bankrotthandlungen (z. B. übermäßiger Aufwand eines zahlungsfähigen Kaufmanns) nach Hinzutreten der Konkurseröffnung oder Zahlungseinstellung als schuldunabhängiger objektiver Bedingung der Strafbarkeit zur Tatbestandserfüllung führten, ohne daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Bankrotthandlung und Insolvenz vorhanden sein mußte. Erste Lösungsvorschläge wurden in Anlehnung an den E 1962 (§§ 271-275) im Sinne einer einengenden Gesetzesauslegung gemacht (Stree, JuS 1965, 470 ff.). Im RegE zum EGStGB vom 11. 5. 1973 waren die Konkursstraftatbestände als konkrete Gefährdungsdelikte konzipiert (Art. 18 Nr. 135). Die Vermögensinteressen der Gläubiger wurden als gefährdet angesehen, wenn der Täter durch die Bankrotthandlung eine wirtschaftliche Krise seines Unternehmens herbeiführt. Dem884
Vierundzwanzigster Abschnitt: Konkursstraftaten (Bieneck)
Vor § 283
gegenüber betonte die 1972 vom BJM eingesetzte Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität die Strafwürdigkeit der während einer Krisensituation vorgenommenen wirtschaftlich sinnlosen oder gefährlichen Handlungen. Sie wies gleichzeitig zu Recht auf die Beweisschwierigkeiten hinsichtlich der ursächlichen Verknüpfung von Bankrotthandlung und Krise hin. Ihr Lösungsvorschlag gestaltete die Konkursstraftatbestände als sog. abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte aus (Tiedemann ZRP 1975, 134). Wegen der seinerzeit nicht abgeschlossenen Diskussion wurde das EGStGB unter Ausklammerung des Konkursstrafrechts verabschiedet. d) Die nunmehr vorliegende Neugestaltung des 1. WiKG folgt weitgehend den Kommissionsvorschlägen. Strafbar sind danach die in der Krise vorgenommenen Bankrotthandlungen (§§ 283 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 1, 283 a). Als Krise - dieser Begriff ist im Gesetz selbst nicht enthalten - gilt die Überschuldung sowie die drohende oder eingetretene Zahlungsunfähigkeit. Demgegenüber entfällt das Tatbestandsmerkmal der Gläubigerbenachteiligungsabsicht des früheren § 239 KO. Lediglich die als besonders sozialschädlich eingestuften Buchführungs- und Bilanzdelikte sind auch nach neuem Recht unabhängig von einer Krisensituation strafbar und damit als abstrakte Gefährdungsdelikte ausgestaltet (§ 283 b). Der Grundgedanke des Entwurfs des EGStGB, die Strafbarkeit der Herbeiführung der Krise, findet in § 283 Abs. 2, Abs. 4 Nr. 2, Abs. 5 Nr. 2 seinen Niederschlag. Bei der Beschreibung der einzelnen Bankrotthandlungen lehnt sich das 1. WiKG weitgehend an das frühere Recht an (Müller-Emmert/Maier NJW 1976, 1663), weshalb insoweit Rspr. und Schrifttum zu §§ 239-242 KO aF nach wie vor Gültigkeit besitzen. Auch die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit wurden aus dem alten Recht übernommen und durch eine weitere Alternative ergänzt. Sie haben jedoch nunmehr ausnahmslos den Charakter strafbarkeitseinschränkender Bedingungen im engeren Sinne (vgl. Jescheck AT 422 f.; Tiedemann ZRP 1975,132). 2. Aus den Gesetzesmaterialien siehe den E 1962 (BR-Drucks. 200/62), den Regierungsentwurf des EGStGB vom 11. 5. 1973 (BT-Drucks. 7/550), den Regierungsentwurf des 1. WiKG vom 1. 4. 1975 (BT-Drucks. (7/3441), Bericht und Antrag des BT-Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vom 3. 6. 1976 (BT-Drucks. 7/5291) sowie die Ausschußprotokolle (Prot. VIIS. 2467 ff.). 3. Schrifttum: Berz, Das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, BB 1976, 1435; - Blei, Das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, JA 1976 StR, 207; - Göhler-Wilts, Das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, DB 1976, 1609; - Müller-Emmert/Maier, Das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, NJW 1976, 1657; - Tiedemann, Der Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, ZStW 87, 253; - ders., Objektive Strafbarkeitsbedingungen und die Reform des deutschen Konkursstrafrechts, ZRP 1975, 129; - ders., Grundfragen bei der Anwendung des neuen Konkursstrafrechts, NJW 1977,777. 4. Übergangsregelung: Das 1. WiKG enthält keine Übergangsvorschriften. Daher muß für Taten, die vor Inkrafttreten des 1. WiKG begangen worden sind, auf die allgemeine Regelung des § 2 zurückgegriffen werden. Es ist also in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Vorschrift für den Täter zu einer günstigeren Rechtsfolge führt (BGH 20, 22, 885
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121). Ist ein Unterschied nicht festzustellen, so kommt nach § 2 Abs. 1 das alte Recht zur Anwendung. In den übrigen Fällen ist gemäß § 2 Abs. 3 das mildeste Gesetz zugrundezulegen. § 2 Abs. 3 ist jedoch nur anwendbar, wenn das neue Recht in seinem typischen Unrechtsgehalt vom früheren Recht nicht abweicht (BGH [GrSen] 26, 167). Diese Voraussetzung ist für das Konkursstrafrecht gegeben, da es in seiner Zielrichtung, den Schutz der Gläubigerinteressen zu gewährleisten, nicht verändert wurde. Zweifel könnten allerdings hinsichtlich des § 283 a bestehen, dessen Regelbeispiele für die Annahme eines besondere schweren Falles im früheren Recht nicht enthalten waren und dessen rückwirkende Anwendung trotz geringerer Strafdrohung gegenüber § 239 KO aF durch die Garantiefunktion des Art. 103 Abs. 2 GG ausgeschlossen sein könnte (so Tiedemann NJW1977,777; a.A. offenbar BGH 1 StR 154/76). Jedenfalls ist § 283 Abs.l wegen seiner gegenüber § 239 KO aF niedrigeren Strafdrohung als mildestes Gesetz anzusehen und daher der Beurteilung früherer Taten zugrundezulegen. Bedenken hiergegen könnten mit dem Argument erhoben werden, § 239 KO aF sei wegen seines Tatbestandsmerkmals der Gläubigerbenachteiligungabsicht, das den Strafbarkeitsbereich gegenüber dem in § 283 an seine Stelle getretenen Merkmal der Krise einengt, mildestes Gesetz. Der Herabsetzung des Strafrahmens kommt jedoch größere Bedeutung zu als der engeren Tatbestandsumschreibung. Um dem in § 1 verankerten Rückwirkungsverbot zu genügen, wird jedoch in den Fällen des § 239 Abs. 1 Nr. 1 und 2 KO aF die Gläubigerbenachteiligungsabsicht zusätzlich zu den Merkmalen des § 283 Abs. 1 festzustellen sein (so im Ergebnis auch Tiedemann aaO.). Die Straftatbestände der §§ 283 b und 283 Abs. 4 stellen sich gegenüber § 240 KO aF als mildestes Gesetz i.S. des § 2 Abs. 3 dar; die in § 283 Abs. 1 und Abs. 5 aufgeführten Delikte enthalten dagegen die gleichen Strafrahmen wie § 240 Abs. 1 und Abs. 2 KO aF, so daß gemäß § 2 Abs. 1 das alte Recht anwendbar bleibt. § 283 d ist wegen seiner geringeren Strafdrohung gegenüber § 242 KO aF als mildestes Gesetz anzuwenden, während § 283 c bei einem mit § 241 KO aF übereinstimmenden Strafrahmen zwar - abstrakt gesehen - wegen seiner engeren Tatbestandsfassung milder erscheint, da die Gläubigerbegünstigung nach neuem Recht den tatsächlichen Eintritt der Begünstigung voraussetzt. Im konkreten Einzelfall tritt § 283 c jedoch dann hinter § 241 KO aF zurück, wenn die Begünstigung eingetreten war. Dann sind sowohl der Tatbestand des alten als auch der des neuen Rechts erfüllt, so daß nach § 2 Abs. 1 altes Recht zur Anwendung kommt (BGH 1 StR 196/76). War die Gläubigerbegünstigung dagegen noch nicht eingetreten, sondern nur beabsichtigt, so ist der nur zur Versuchsstrafbarkeit führende § 283 c mildestes Gesetz.
5. Zur Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammern siehe § 74 c Abs. 1 Nr. 5 GVG idF des Art. 6 Nr. 1 des 1. WiKG.
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Bankrott
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer bei Überschuldung oder bei drohender oder eingetretener Zahlungsunfähigkeit 1. Bestandteile seines Vermögens, die im Falle der Konkurseröffnung zur Konkursmasse gehören, beiseite schafft oder verheimlicht oder in einer den 886
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2.
3.
4. 5. 6.
7.
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Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft widersprechenden Weise zerstört, beschädigt oder unbrauchbar macht, in einer den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft widersprechenden Weise Verlust- oder Spekulationsgeschäfte oder Differenzgeschäfte mit Waren oder Wertpapieren eingeht oder durch unwirtschaftliche Ausgaben, Spiel oder Wette übermäßige Beträge verbraucht oder schuldig wird, Waren oder Wertpapiere auf Kredit beschafft und sie oder die aus diesen Waren hergestellten Sachen erheblich unter ihrem Wert in einer den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft widersprechenden Weise veräußert oder sonst abgibt, Rechte anderer vortäuscht oder Erdichtete Rechte anerkennt, Handelsbücher, zu deren Führung er gesetzlich verpflichtet ist, zu führen unterläßt oder so führt oder verändert, daß die Übersicht über seinen Vermögensstand erschwert wird, Handelsbücher oder sonstige Unterlagen, zu deren Aufbewahrung ein Kaufmann nach Handelsrecht verpflichtet ist, vor Ablauf der für Buchführungspflichtige bestehenden Aufbewahrungsfristen beiseite schafft, verheimlicht, zerstört oder beschädigt und dadurch die Übersicht über seinen Vermögensstand erschwert, entgegen dem Handelsrecht a) Bilanzen so aufstellt, daß die Übersicht über seinen Vermögensstand erschwert wird, oder b) es unterläßt, die Bilanz seines Vermögens oder das Inventar in der vorgeschriebenen Zeit aufzustellen, oder in einer anderen, den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft grob widersprechenden Weise seinen Vermögensstand verringert oder seine wirklichen geschäftlichen Verhältnisse verheimlicht oder verschleiert.
(2) Ebenso wird bestraft, wer durch eine der in Absatz 1 bezeichneten Handlungen seine Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit herbeiführt. (3) Der Versuch ist strafbar. (4) Wer in den Fällen 1. des Absatzes 1 die Überschuldung oder die drohende oder eingetretene Zahlungsunfähigkeit fahrlässig nicht kennt oder 2. des Absatzes 2 die Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit leichtfertig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (5) Wer in den Fällen 1. des Absatzes 1 Nr. 2, 5 oder 7 fahrlässig handelt und die Überschuldung oder die drohende oder eingetretene Zahlungsunfähigkeit wenigstens fahrlässig nicht kennt oder 887
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2. des Absatzes 2 in Verbindung mit Absatz 1 Nr. 2, 5 oder 7 fahrlässig handelt und die Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit wenigstens leichtfertig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (6) Die Tat ist nur dann strafbar, wenn der Täter seine Zahlungen eingestellt hat oder über sein Vermögen das Konkursverfahren eröffnet oder der Eröffnungsantrag mangels Masse abgewiesen worden ist. 1. Anliegen der durch das 1. WiKG eingefügten Vorschrift ist es, die Gesamtheit der Gläubiger eines insolventen Täters vor Beeinträchtigungen ihrer Befriedigung zu schützen. Eine konkrete Gefahr oder ein Schaden muß nicht eingetreten sein. Strafbar sind bestimmte während einer wirtschaftlichen Krisensituation vorgenommene Bankrotthandlungen des Schuldners sowie die Herbeiführung der Krise durch solche Handlungen. Voraussetzungen der Strafbarkeit im Sinne objektiver Bedingungen sind die Zahlungseinstellung des Täteis, die Eröffnung des Konkursverfahrens über sein Vermögen oder die Ablehnung des Konkursverfahrens mangels Masse. Uber besonders schwere Fälle des Bankrotts i. S. der Absätze 1-3 siehe § 283 a. 2. Der Tatbestandsaufbau: Absatz 1 beschreibt die Tatbestandsmerkmale der Krise und der Bankrotthandlungen (Nr. 1-8). Seine Strafandrohung gilt für vorsätzliche Handlungen während erkannter Krise. Absatz 2 betrifft die Herbeiführung der Krise durch die in Absatz 1 beschriebenen Bankrotthandlungen. Subjektiv wird Vorsatz vorausgesetzt. Absatz 3 begründet die Strafbarkeit des Versuchs. Absatz 4 erfaßt vorsätzliche Bankrotthandlungen, die in fahrlässiger Unkenntnis der Krise begangen werden (Nr. 1) oder durch welche die Krise leichtfertig verursacht worden ist (Nr. 2). Absatz 5 stellt einzelne fahrlässige Bankrotthandlungen unter Strafe, soweit sie in wenigstens fahrlässiger Unkenntnis der Krise begangen werden (Nr. 1) oder durch welche die Krise zumindest leichtfertig verursacht worden ist (Nr. 2). Absatz 6 umschreibt die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit. Er gilt kraft Verweisung auch für die Verletzung der Buchführungspflicht und die Gläubigerbegünstigung (§§ 283 b Absatz 3; 283 c Absatz 3). 3. Täter kann nur ein Schuldner sein. Dieser Begriff ist zwar in der Neufassung des Tatbestands nicht mehr enthalten, er bestimmt jedoch nach dem Sinn der Konkursstraftatbestände weiterhin die Täterqualifikation (sog. Sonderdelikt, vgl. B I 7 vor § 1 sowie § 25 Anm. III 4 b und IV 2 b). Schuldner ist, wer einem anderen, gleich aus welchem Rechtsgrund, zu einer Vermögenswerten Leistung (§ 241 BGB) oder zur Duldung der Zwangsvollstreckung verpflichtet ist. Kaufmannseigenschaft wird - außer bei den in Absatz 1 Nr. 5 und 7 beschriebenen Bankrotthandlungen - nicht gefordert. Über Besonderheiten der Täterqualifikation beim wirtschaftlichen Zusammenbruch einer OHG, KG, GmbH usw. s. u. 4 d. 4. Die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit des Absatzes 6 wurden aus dem früheren Recht als strafbarkeitseinschränkende Bedingungen im engeren Sinne übernommen (vgl. Vorbem. 1 d). Sie sollen wirtschaftlich schwache Unternehmer vor Strafverfahren bewahren, die möglicherweise erst zum Zusammenbruch und der damit verbundenen Gläubigerschädigung führen würden'. Außerdem ging es dem Gesetzgeber um die Indizwirkung der Bedingungen für das Vorhandensein der Krise (RegE S. 33). Vorsatz oder Fahrlässig-
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keit des Schuldners brauchen sich auf diese Strafbarkeitsbedingungen nicht zu beziehen. Er muß sie auch nicht durch seine Bankrotthandlungen verursacht haben; die Bankrotthandlungen können vielmehr der Zahlungseinstellung, Konkurseröffnung oder -ablehnung vorausgehen oder nachfolgen. Es genügt ein äußerer Zusammenhang in dem Sinne, daß zumindest ein Gläubiger sowohl von der Bankrotthandlung als auch von der Zahlungseinstellung usw. betroffen ist. a) Die Zahlungseinstellung liegt vor, wenn der Schuldner wegen eines tatsächlichen oder angeblichen dauernden Mangels an Mitteln nach außen erkennbar aufhört, seine fälligen Geldschulden im wesentlichen zu erfüllen (RG 41, 312). Im materiellen Konkursrecht (§ 30 KO) wird der Begriff der Zahlungseinstellung enger ausgelegt. Sie ist hier nur anzunehmen, wenn eine tatsachliche, also nicht nur angebliche Zahlungsunfähigkeit vorliegt (Böhle-Stamschräder 2 a zu § 283 StGB; vgl. zur Zahlungsunfähigkeit Anm. 5 b). Für das Konkursstrafrecht kann die Zahlungseinstellung demgegenüber auch auf mangelndem Zahlungswillen des Schuldners beruhen (BGH bei Herlan GA 1953, 73; Stree in Schönke-Schröder 7 zu § 239 KO aF). Eine vorübergehende Zahlungsstockung genügt ebensowenig wie die Nichtbezahlung einzelner Verbindlichkeiten. Der Mangel an Zahlungsmitteln muß für eine längere unbestimmte Zeit bestehen und es dem Schuldner unmöglich machen, einen wesentlichen Teil seiner Schulden zu begleichen. Die Einstellung aller Zahlungen ist jedoch nicht erforderlich (RG 41, 314). Das Vorliegen der Zahlungseinstellung hat der Strafrichter selbständig zu prüfen, wobei es für die Person des Schuldners auf den wirklichen Sachverhalt ankommt. Statt eines Strohmannes ist der tatsächliche Unternehmer als Schuldner anzusehen, auch wenn nur der Strohmann im Handelsregister eingetragen ist (Stree in Schönke-Schröder 4 zu § 239 KO aF). b) Die Eröffnung des Konkursverfahrens ist mit der Rechtskraft des amtsgerichtlichen Beschlusses nach § 108 KO für den Strafrichter bindend erfolgt. Auch die Person des Schuldners ist damit für das Strafverfahren vorgegeben. Während eine Aufhebung des Eröffnungsbeschlusses nach sofortiger Beschwerde gemäß § 109 KO die objektive Bedingung wieder beseitigt, ist die Einstellung des Konkursverfahrens nach §§ 202, 204 KO oder seine Aufhebung nach §§ 163, 190 KO ohne Bedeutung (Böhle-Stamschräder 2 b zu § 283 StGB). c) Die Abweisung des Konkursantrags mangels Masse nach § 107 KO ist als weitere objektive Bedingung der Strafbarkeit in das Konkursstrafrecht aufgenommen worden. Sie macht den in solchen Fällen früher erforderlichen Nachweis der Zahlungseinstellung entbehrlich. Der Abweisungsbeschluß des Konkursrichters entfaltet die gleiche Bindungswirkung für das Strafverfahren wie der Konkurs-Eröffnungsbeschluß. d) Hat jemand als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person oder sonst für einen anderen gehandelt, bezüglich dessen eine objektive Bedingung der Strafbarkeit vorliegt, so ist § 14 anwendbar. Die Zahlungseinstellung, die Eröffnung des Konkursverfahrens oder seine Abweisung mangels Masse sind besondere persönliche Merkmale i. S. von § 14 (BayObLG NJW 1969, 1495). Liegt eines dieser Merkmale bei einer GmbH vor, so sind die §§ 283-283 c nach § 14 Absatz 1 Nr. 1 auf den Geschäftsführer als vertretungsberechtigtes Organ anwendbar, wenn er Bankrotthandlungen begangen hat (BGH NJW 1969, 1494). Für den Geschäftsführer einer GmbH-Vorgesellschaft gilt entsprechendes (BGH 3, 25). Dabei ist Geschäftsführer auch, wer, ohne förmlich dazu bestellt oder im Handelsregister eingetragen zu sein, im Einverständnis der Gesellschafter tatsächlich als solcher tätig ist (BGH 3, 33). Bei einer GmbH und Co KG, deren 889
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persönlich haftender Gesellschafter die G m b H ist, kommt das Konkursstrafrecht gegen den Geschäftsführer der G m b H zur Anwendung, wenn er auch die Geschäfte der KG führt ( B G H 19, 174). Für eine Personenhandelsgesellschaft (z. B. OHG oder KG) sind nach § 14 Absatz 1 Nr. 2 die vertretungsberechtigten Gesellschafter strafrechtlich verantwortlich. Die Kommanditisten einer K G sind nur dann als Täter anzusehen, wenn sie als Beauftragte nach § 14 Absatz 2 für die Gesellschaft gehandelt haben. Außer § 14 Absatz 2 ist auch § 14 Absatz 1 Nr. 3 zur Bestimmung des persönlichen Anwendungsbereichs der §§ 283-283 c heranzuziehen. Danach können beispielsweise auch Testamentsvollstrecker oder Konkursverwalter strafrechtlich verantwortlich sein. e) Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 14 ist, daß der Täter in seiner Eigenschaft als Organ der juristischen Person, als vertretungsberechtigter Gesellschafter der Personenhandelsgesellschaft, als gesetzlicher Vertreter oder Beauftragter gehandelt hat und nicht nur bei Gelegenheit seiner Geschäftsführung eigennützig und außerhalb seiner Befugnisse vorgegangen ist ( B G H NJW 1969, 1494). Wer etwa als GmbH-Geschäftsführer Vermögensgegenstände der Gesellschaft an sich bringt, ohne einen gleichwertigen Anspruch gegen die Gesellschaft zu haben, ist wegen Diebstahls, Untreue oder Unterschlagung zu bestrafen, nicht aber wegen Bankrotts. Dies gilt auch dann, wenn er mit Zustimmung aller Gesellschafter handelt, da deren Dispositionsbefugnis begrenzt ist ( B G H 3, 39). Entsprechendes gilt für den Geschäftsführer, dem sämtliche GmbHAnteile gehören ( R G 42, 283). Wegen der eigenständigen Rechtspersönlichkeit der G m b H entfällt die Strafbarkeit eigennütziger Handlungen als Untreue nicht etwa deshalb, weil der Täter mit seiner Gesellschaft wirtschaftlich gesehen identisch wäre. Die gegenteilige Auffassung von Dreher (Rn. 4) und Stree in Schönke-Schröder (13 zu § 239 KO aF) findet in den zitierten Entscheidungen BGH 6, 3 16 und bei Herlan G A 1958, 47 jedenfalls keine Stütze. f) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Zurechnung nach § 14 ist der der Bankrotthandlung, nicht des Eintritts der objektiven Bedingung (Lackner 8). 5. Die Krise besteht nach Absatz 1 bei Überschuldung oder bei drohender oder eingetretener Zahlungsunfähigkeit des Schuldners. Es handelt sich um Tatbestandsmerkmale, auf die sich Vorsatz oder Fahrlässigkeit des Schuldners beziehen müssen. Gleichwohl sieht der RegE (S. 20) den eigentlichen Unrechtsgehalt nicht in der Herbeiführung oder dem Vorhandensein der Krise, sondern in der Vornahme der Bankrotthandlungen. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Bankrotthandlung und Krise wird in § 283 Absatz 1 nicht gefordert. Auch die Gläubigergefährdung ist nicht konkret nachzuweisen, sie wird vielmehr durch das Vorhandensein der Krise - ohne Möglichkeit des Gegenbeweises - indiziert. Bei Auslegung der Krisenmerkmale ist auf andere Gesetze zurückzugreifen, die diese Begriffe seit langem enthalten (RegE S. 34). Das ist vor allem die KO, welche die Zahlungsunfähigkeit als allgemeinen Konkursgrund (§§ 102, 207, 209) und die Uberschuldung als weiteren Konkursgrund der Kapitalgesellschaften (§§ 207, 209) kennt. a) Die Überschuldung ist als ein Zustand zu verstehen, in dem das Vermögen nicht mehr die Schulden deckt (§§ 92 Absatz 2 Satz 2 AktG, 64 Absatz 1 Satz 1 G m b H G ) . Dies ist durch eine Veimögensbilanz festzustellen, in der die Aktiva und Passiva mit ihren Verkehrswerten zu bewerten sind (Blumers BB 1976 S. 1442). Die Erfolgsbilanz (§§ 153 ff.
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AktG, 42 GmbHG) oder die Konkurs-Eröffnungsbilanz (§ 124 KO) sind demgegenüber nicht unmittelbar zur Feststellung der Uberschuldung geeignet, da sie gewisse Werte lediglich mit schematischen Abschreibungen oder Wertberichtigungen aus vorhergehenden Bilanzen übernehmen bzw. von der Verwertung des Vermögens in einem Konkursverfahren ausgehen (Blumers aaO.). Die Erfolgs- oder Handelsbilanzen sind aber gleichwohl wichtige Beweismittel, da aus ihnen in der Regel der wahre Vermögensstand abgeleitet werden kann. Vermögensbilanzen werden in einem Wirtschaftsuntemehmen normalerweise nicht erstellt. Bei Anzeichen für eine möglicherweise bevorstehende oder bereits eingetretene Krisensituation des Unternehmens ist jedoch die Aufstellung auch einer Vermögensbilanz zu fordern. Reine Rechnungsposten auf der Passivseite der Erfolgsbilanz, wie das Stammkapital der GmbH, Gesellschaftereinlagen oder offene Rücklagen, sind nicht zu berücksichtigen (Berz BB 1976, 1440). Ob bei der Bewertung von einer Fortführung des Unternehmens ausgegangen werden soll oder lediglich die Versilberungswerte zugrunde gelegt werden dürfen, ist streitig. Nach richtiger Ansicht von Blumers (aaO.) ist diese Tatfrage durch betriebswirtschaftliche Analyse der Lebensfähigkeit des Unternehmens anhand seiner Rentabilität und begründeten Zukunftserwartungen zu klären, wobei der später eingetretenen Insolvenz eine starke Indizwirkung für die bereits vorher gegebene Notwendigkeit der Unternehmensaufgabe zukommt. Die Indizwirkung entfällt nur dann, wenn die Insolvenz durch Umstände herbeigeführt worden ist, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über die anzuwendende Bewertungsart nicht vorhergesehen werden konnten. b) Zahlungsunfähigkeit ist eingetreten, wenn der Täter mangels bereiter Mittel auf Dauer nicht mehr in der Lage ist, seine fälligen Geldschulden zu begleichen (Stree in Schönke-Schröder 3 zu § 241 KO aF). Vorübergehende Zahlungsstockungen genügen nicht. Wer die begründete Erwartung hat, seine im Augenblick ganz oder teilweise nicht abdeckbaren Verbindlichkeiten in absehbarer Zeit, etwa nach Krediterlangung oder Vermögensversilberung, begleichen zu können, ist nicht zahlungsunfähig. Indizien für die Zahlungsunfähigkeit sind eine Häufung von Mahnungen, Wechselprolongationen und Vollstreckungsmaßnahmen sowie die Nichtbezahlung wiederkehrender Verbindlichkeiten für betriebsnotwendige Lieferungen und Leistungen wie Löhne, Gehälter, Telefongebühren, Mieten, Zinsen usw. Beachte: Die Zahlungsunfähigkeit ist von der Zahlungseinstellung als objektiver Bedingung der Strafbarkeit nach Absatz 6 zu unterscheiden (vgl. Anm. 4 a). c) Das Drohen der Zahlungsunfähigkeit ist nach den gleichen Grundsätzen zu beurteilen, die auch sonst für die Feststellung einer konkreten Gefahr maßgebend sind (RegE S. 34; §315 Anm. 4 a). Es muß eine nach den Umständen des Einzelfalles naheliegende Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit gegeben sein. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn der Täter erkennt, daß er bestimmte in naher Zukunft fällig werdende oder entstehende Verbindlichkeiten auf absehbare Zeit nicht mehr wird bezahlen können. 6. Die einzelnen Bankrotthandlungen sind in Absatz 1 Nr. 1-8 festgelegt. Sie entsprechen weitgehend denjenigen der früheren §§ 239 und 240 KO. Lediglich Nr. 8 enthält als Neuregelung eine generalklauselartige Umschreibung sozialschädlicher Verhaltensweisen eines in der Krise befindlichen Schuldners, die sich einer Typisierung noch entziehen (Ber.S. 18). a) Nr. 1 umschreibt die Bankrotthandlungen des Beiseiteschaffens, Verheimlichens, Zerstörens, Beschädigens oder Unbrauchbarmachens von Vermögensbestandteilen, die im
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Falle der Konkurseröffnung zur Konkursmasse gehören würden. Während das Beiseiteschaffen und Verheimlichen bereits in § 239 Absatz 1 Nr. 1 KO aF enthalten war, sind die übrigen Handlungsweisen neu in den Tatbestand eingefügt worden. aa) Die zur Konkursmasse gehörenden VermögensbestandteQe sind in § 1 KO aufgeführt. Es handelt sich vor allem um die beweglichen und unbeweglichen Sachen, Forderungen, Rechte und Geschäftsbücher (z. B. die Kundenkartei) des Schuldners, soweit sie einen wirtschaftlichen Wert haben. Unpfändbare Gegenstände (vgl. §§ 811, 850 ff., 852, 859 ff. ZPO) mit Ausnahme der in § 811 Nr. 4 und 9 ZPO genannten scheiden aus (§ 1 Absätze 2 und 4 KO). Gegenstände, die erst nach der Konkurseröffiiung erworben wurden oder der Aussonderung ( § 4 3 KO) unterliegen, gehören nicht zur Masse. Daher kann eine vom Schuldner unter Eigentumsvorbehalt gekaufte und noch nicht ganz bezahlte Sache nicht Vermögensstück im Sinne des § 283 sein, wohl aber sein Anwartschaftsrecht auf den Erwerb des Volleigentums nach Bezahlung des Restkaufpreises, soweit es wegen der Höhe der bereits geleisteten Kaufpreisanzahlung einen wirtschaftlichen Wert hat (BGH 3, 36). Eine dem Schuldner zur Sicherheit übereignete Sache unterliegt ebenfalls dem Aussonderungsrecht des Sicherungsgebers, da sie diesem zwar nicht zivilrechtlich, aber doch wirtschaftlich noch gehört (BGH NJW 1959, 1224). Gegenstände, die der Schuldner einem Gläubiger verpfändet (BGHBB 1955,110) oder zur Sicherheit übereignet hat, geben dem Gläubiger im Konkurs über das Vermögen des Schuldners kein Aussonderungsrecht, sondern nur ein Recht auf abgesonderte Befriedigung aus dem Gegenstand (§§ 47 ff. KO). Diese Gegenstände gehören zur Konkursmasse und sind zumindest dann zweifelsfrei als Vermögensstücke nach § 283 anzusehen, wenn ihr Wert die Höhe der gesicherten Forderung übersteigt (BGH 3, 32; Einzelheiten siehe BöhleStamschräder 5 b zu § 283 StGB). bb) Das Beiseiteschaffen von Vermögensbestandteilen ist in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht begehbar. Es besteht im Verbringen einer Sache an einen den Gläubigem unbekannten Ort oder in einer Veränderung der rechtlichen Lage des Gegenstandes, wodurch der Gläubigeizugriff vereitelt oder erschwert wird (RG 64, 140). Der Gläubigerbeeinträchtigung wird zwar in der Regel eine Bereicherung des Täters oder eines Dritten entsprechen; dies ist jedoch für die Tatbestandserfüllung nicht erforderlich. Deshalb ist auch das Zerstören, Beschädigen oder Unbrauchbarmachen von Vermögensbestandteilen strafbar, wenn es in einer den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft widersprechenden Weise geschieht. § 283 Absatz 1 Nr. 1 enthält nunmehr ausdrücklich diese Tatbestandsaltemativen, die von der Literatur bereits nach dem früheren Recht als strafbar angesehen worden waren (Stree in Schönke-Schröder 13 zu § 239 KO aF). Durch die Tathandlung muß die Konkursmasse und damit die Gesamtheit der Gläubiger beeinträchtigt werden. Eine Gläubigerbenachteiligungsabsicht im Sinne eines direkten Vorsatzes (Stree in Schönke-Schröder 35 zu § 239 KO aF) wird vom neuen Recht zwar nicht mehr verlangt; die Beeinträchtigung der Gläubigergesamtheit als Folge der Bankrotthandlungen ist jedoch auch nach neuem Recht Tatbestandsmerkmal, auf das sich zumindest der bedingte Vorsatz des Täters beziehen muß. Die Gläubigergesamtheit ist nicht beeinträchtigt, wenn der Schuldner einem oder mehreren einzelnen Gläubigern Vermögensbestandteile, die zur Masse gehören, überläßt (BGH GA 1962, 146). In diesen Fällen kann eine mit geringerer Strafe bedrohte Gläubigerbegünstigung nach § 283 c vorliegen, sofern die dem Gläubiger gewährte Befriedigung oder Sicherung inkongruent ist, wenn also der Gläubiger sie nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu
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beanspruchen hatte (vgl. § 30 Nr. 2 KO und § 283 c Anm. 5). Die kongruente Befriedigung oder Sicherung eines Gläubigers ist demgegenüber strafrechtlich nicht relevant. Wer einzelnen Gläubigern nur das zukommen läßt, worauf sie Anspruch haben, und dies auch nicht vorzeitig, beeinträchtigt zwar die Konkursquote der übrigen Gläubiger, begeht aber selbst dann keine strafbare Handlung, wenn er später seine Handlungsweise verheimlicht, um den Konkursverwalter an einer Anfechtung nach § 30 KO zu hindern. Besonderheiten sind zu beachten, wenn der Täter, etwa als Geschäftsführer einer GmbH, nach § 14 für den Schuldner einzutreten hat und sich selbst als Gläubiger eine Befriedigung oder Sicherung gewährt. Der BGH hat einen solchen Sachverhalt - der Geschäftsführer einer GmbH hatte sich zur Sicherung eines der Gesellschaft gewährten Darlehens Maschinen, ein Fahrzeug und Büroeinrichtungsgegenstände übereignet - nicht als Gläubigerbegünstigung nach § 241 KO aF, sondern als betrügerischen Bankrott nach § 239 KO aF angesehen. Die Gläubigerbegünstigung sei zwar ein mit Rücksicht auf das Verschulden des Täters geringer zu bestrafender Sonderfall des betrügerischen Bankrotts. Wenn der Schuldner aber, wie in diesem Fall, nicht (nur) einen Gläubiger begünstigen, sondern sich selbst auf Kosten der Masse einen Vorteil verschaffen wolle, sei eine solche Schuldmilderung nicht gegeben, die Anwendung des § 241 KO aF müsse deshalb entfallen (BGH NJW 1969, 1495). Diese für den Fall der inkongruenten Befriedigung getroffene Entscheidung läßt die Frage offen, was für die kongruente Befriedigung eines Gläubigers mit Schuldnerqualifikation zu gelten hat, wenn also beispielsweise der GmbH-Geschäftsführer zur Deckung seines fälligen Gehaltsanspruchs Geld aus der Gesellschaftskasse an sich nimmt. Es dürfte richtig sein, diese Handlung nicht nach § 283 zu bestrafen, da mangels Inkongruenz eine Strafbarkeit auch nach dem milderen Tatbestand der Gläubigerbegünstigung entfallen würde (BGH bei Herlan GA 1958,47). Die Abgrenzungskriterien zwischen der Strafbarkeit nach den §§ 283 und 283 c sowie zur Straflosigkeit gelten auch für die Fälle, in denen der Schuldner einzelnen Gläubigern darunter auch sich selbst - über die kongruente oder inkongruente Befriedigung von Ansprüchen hinaus ungerechtfertigte Vorteile zukommen läßt. Das ist z. B. der Fall, wenn der Schuldner einem Gläubiger über geschuldete 1000 DM hinaus noch weitere 500 DM zahlt (kongruente Deckung in Höhe von 1000 DM plus Überdeckung von 500 DM = Beispiel 1) oder zur Abdeckung einer Verbindlichkeit von 1000 DM Maschinen im Wert von 1500 DM übereignet (inkongruente, weil artverschiedene Deckung in Höhe von 1000 DM plus Überdeckung von 500 DM = Beispiel 2). Hinsichtlich der Uberdeckung liegt immer ein Beiseiteschaffen zum Nachteil aller Gläubiger vor, da der Begünstigte insoweit kein Gläubiger mehr ist, als er über seine Forderung hinaus etwas erhält. In Tateinheit damit kann bezüglich des den Anspruch nicht übersteigenden Betrags bei inkongruenter Befriedigung (Beispiel 2) eine Gläubigerbegünstigung nach § 283 c vorliegen. Hat der Schuldner den Gläubiger oder sich selbst im übrigen kongruent begünstigt, so ist er insoweit straffrei (Beispiel 1). Hat er sich selbst als Gläubiger eine inkongruente Deckung gewährt, so liegt zusammen mit der Uberdeckung ein einheitliches Beiseiteschaffen nach § 283 vor. Die Straflosigkeit kongruenter Gläubigerbefriedigung sowie die mildere Bestrafung der inkongruenten Gläubigerbegünstigung nach § 283 c setzt das Vorhandensein eines Anspruchs voraus (siehe hierzu Hendel NJW 1977, 1943). Hat der Schuldner nur einen Scheingläubiger als Strohmann vorgeschoben, um sich letztlich doch selbst Vorteile zu verschaffen, auf die er keinen fälligen Anspruch hat, so ist er nach § 283 Absatz 1 Nr. 1 strafbar. Hat der Schuldner eine ungerechtfertigte Forderung nur erst vorgetäuscht oder anerkannt, aber nocht nicht befriedigt, so liegt eine der in § 283 Absatz 1 Nr. 4 beschriebenen Bankrotthandlungen vor (s. u. Anm. d). 893
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Nach der Rechtsprechung zu § 239 Absatz 1 Nr. 1 KO aF ist ein Beiseiteschaffen beispielsweise in der Scheinveräußerung eines Vermögensgegenstandes (RG JW 1936, 3006), in der Veräußerung ohne Empfang eines entsprechenden Entgelts (BGH NJW 1953, 1153) sowie in der Belastung eines Grundstücks ohne Gegenwert (RG 66, 131) zu sehen. Entscheidend ist, ob die Verfügungen des Schuldners den Rahmen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft überschreiten und zum Nachteil der Gläubigergesamtheit führen. Aufwendungen des Schuldners für seinen angemessenen Lebensunterhalt (RG 66, 89) oder nach der Zahlungseinstellung vorgenommene Notverkäufe zur Befriedigung dringendster Lebensbedürfnisse (BGH NJW 1952, 898) sind nicht tatbestandsmäßig. Besteht das Beiseiteschaffen in der Veränderung der rechtlichen Lage eines Gegenstandes, so ist die Handlung erst mit der Wirksamkeit der Rechtsänderung vollendet. Die darauf gerichteten schuldrechtlichen Vereinbarungen sind lediglich Versuchshandlungen. Das ist beispielsweise der Fall, wenn der Täter sein Kraftfahrzeug zum Schein an seinen Freund „verkauft", es aber noch nicht an ihn übereignet. Zum Ganzen siehe auch Hendel NJW 1977,1943. cc) Das Verheimlichen kann in einem Tun oder Unterlassen des Schuldners bestehen, z. B. wenn der Täter das Vorhandensein eines Gegenstandes gegenüber Gläubigern oder dem Konkurs- oder Vergleichsverwalter ableugnet oder der Wahrheit zuwider behauptet, er sei veräußert worden. Das bloße Verschweigen reicht aus, wenn eine Auskunftspflicht besteht. So hat der Schuldner dem Konkursverwalter von sich aus nachträglich solche Vermögensstücke anzugeben, die in den Unterlagen seines Antrags auf Eröffnung des Konkursverfahrens nicht verzeichnet sind (BGH GA 1956, 123). Auch eine nach Konkurseröffnung an ihn gelangte und der Masse zustehende Zahlung ist anzugeben. Hat der Schuldner im Konkurs- oder Vergleichsverfahren eine eidesstattliche Versicherung nach §§ 125 KO, 3 Abs. 4 VerglO abgegeben, so liegt ein in Tateinheit mit § 283 Absatz 1 Nr. 1 begangenes Vergehen nach § 156 vor. dd) Das Zerstören, Beschädigen oder Unbrauchbarmachen von Vermögensbestandteilen im Sinne ihrer Funktionsaufhebung oder -beeinträchtigung kann durch Substanzveränderung oder in anderer Weise bewirkt werden (siehe auch § 133 Anm. 3 sowie § 303 Anm. 2, 3). Die Tathandlung muß den Anforderungen ordnungsgemäßer Wirtschaft widersprechen, was z. B. bei der Verschrottung technisch veralteter Maschinen nicht immer der Fall ist. b) Nr. 2 bezeichnet als Bankrotthandlungen das Eingehen von Verlust-, Spekulations-und Differenzgeschäften in einer den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft widersprechenden Weise sowie das Verbrauchen oder Schuldigwerden übermäßiger Beträge durch unwirtschaftliche Ausgaben, Spiel und Wette. Diese Handlungen waren mit Ausnahme der Verlust- und Spekulationsgeschäfte bereits in § 240 Absatz 1 Nr. 1 KO aF enthalten und ohne weiteres strafbar, wenn die Zahlungseinstellung oder die Eröffnung des Konkursverfahrens als objektive Bedingung der Strafbarkeit hinzukam. Wegen der hiergegen nach dem Schuldprinzip zu erhebenden Bedenken (vgl. Vorbem. 1 c) wurde die Krise als zusätzliches Tatbestandsmerkmal eingeführt. aa) Ein Verlustgeschäft muß schon nach der Vorauskalkulation bei Gegenüberstellung der Einnahmen und Ausgaben zu einer Vermögensminderung führen und auch geführt haben (RegE S. 35 BT-Drucks. 7/3441). Geschäfte, die sich erst nachträglich als Verlustgeschäfte herausstellen, sollen also nicht erfaßt sein (Ber. S. 18 BT-Drucks. 7/5291). Darüber hinaus muß es den Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft widerspre-
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•hen. Diese Einschränkung soll beispielsweise Fälle ausschließen, in denen ein Unternehmer durch Verlustgeschäfte während eines Konjunkturtiefs Arbeitsplätze zu erhalten sucht. bb) Spekulationsgeschäfte sind besonders risikoreiche Aktivitäten, die einen ungewöhnlich hohen Gewinn versprechen, aber im Fall ihres Scheiterns auch einen entsprechend großen Verlust verursachen können, wie beispielsweise die Beteiligung an unseriösen Unternehmen (RegE S. 35 BT-Drucks. 7/3441). Die Rechtsprechung zu § 240 Absatz 1 Nr. 1 KO aF, wonach Spekulationsgeschäfte, die auf dem Ausnützen von Marktschwankungen beruhen, kein strafbarer Aufwand seien (RG 73, 229), wird insoweit ihre Bedeutung verloren haben. cc) Der Begriff des Differenzgeschäfts ist in § 764 BGB definiert. Es muß dem Täter beim Vertragsabschluß auf die Zahlung der Differenz zwischen dem An- und späteren Verkaufspreis ankommen, nicht auf die Lieferung der Ware selbst. Dabei sind auch Devisengeschäfte erfaßt, da ausländisches Bargeld als Ware und ausländische Wechsel oder Schecks als Wertpapiere zu bezeichnen sind (Ber. S. 18 BT-Drucks. 7/5291). Die nach den §§ 50 ff. BörsG statthaften Termingeschäfte sind wegen der Erweiterung des Tatbestands um Verlust- und Spekulationsgeschäfte, die nicht nach § 762 BGB nur eingeschränkt wirksam sind, nunmehr ebenfalls als strafbare Differenzgeschäfte anzusehen (Böhle-Stamschräder 6 a zu § 283 StGB), soweit sie den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft widersprechen, was z. B. bei einem zugelassenen Börsenmakler in der Regel nicht der Fall sein wird. Durch das Differenzgeschäft wird nach § 764 BGB lediglich eine nicht einklagbare Naturalobligation begründet. Dies wurde von der Rechtsprechung noch nicht als „Schuldigwerden" im Sinne des § 240 Absatz 1 Nr. 1 KO aF und damit als vollendete Bankrotthandlung angesehen (BGH 22, 360; a. A. Dreher 5 zu § 240 KO aF). In § 283 Absatz 1 Nr. 2 ist zwar demgegenüber bereits das „Eingehen" des Differenzgeschäfts Tatbestandsmerkmal, der Gesetzgeber hat den Strafbarkeitsbereich jedoch durch diese Formulierung wohl nicht erweitern wollen. Die Tathandlung ist daher auch nach neuem Recht erst dann vollendet, wenn die Naturalobligation in ein verbindliches Rechtsgeschäft umgewandelt oder getilgt worden ist (übereinstimmend Lackner 4 b). dd) Der Begriff der unwirtschaftlichen Ausgaben ist an die Stelle des Aufwands in § 240 Absatz 1 Nr. 1 KO aF getreten. Der frühere Rechtszustand sollte durch die Neuformulierung nicht verändert werden (Ber. S. 18 BT-Drucks. 7/5291). Durch unwirtschaftliche Ausgaben werden übermäßige Beträge verbraucht, wenn sie das Maß des Notwendigen und Üblichen überschreiten und zum Gesamteinkommen und -vermögen des Schuldners in keinem angemessenen Verhältnis stehen (BGH NJW 1953, 1481). Die Angemessenheit ist für den Zeitpunkt der Ausgaben und aus dieser Sicht für einen Zeitraum zu beurteilen, den auch der Schuldner bei vernünftigem Wirtschaften ins Auge gefaßt hätte (BGH Herlan GA 1956, 348). Es kann sich um geschäftliche oder private Ausgaben aller Art handeln (BGH 3, 26). Der Schuldner muß sogar für Ausgaben seiner Familienangehörigen oder Angestellten einstehen, wenn er sie nicht genügend beaufsichtigt hat (RG 31, 151). Alle Ausgaben müssen aber aus einem Vermögen stammen, das im Falle eines Konkursverfahrens zur Masse gehören würde. Ein für die Ausgabe in das Schuldnervermögen gelangender Gegenwert beseitigt die UnWirtschaftlichkeit nur, wenn er geeignet ist, die Befriedigung der Gläubiger annähernd im Umfang der Ausgabe zu gewährleisten (Stree in Schönke-Schröder 8 zu § 240 KO aF). Handelt der Täter nach § 14 für einen anderen, so ist die Angemessenheit
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des Aufwands nicht nach seinen eigenen Einkommens- und Vermögensverhältnissen zu beurteilen, sondern nach der wirtschaftlichen Situation der juristischen Person, Personenhandelsgesellschaft usw., für die er Verfügungen getroffen hat. Voraussetzung für die Strafbarkeit unwirtschaftlicher Ausgaben ist deren Vermeidbarkeit, die bei vor der Krise langfristig vereinbarten Aufwendungen, wie beispielsweise für Löhne, Gehälter und Mieten, jedenfalls bis zum Zeitpunkt der nächstmöglichen Vertragskündigung oder -aufhebung nach Eintritt der Krise nicht gegeben ist. ee) Spiel und Wette i. S. von § 762 BGB sind strafbare Bankrotthandlungen, soweit sie, wie die unwirtschaftlichen Ausgaben, zum Verbrauch oder Schuldigwerden übermäßiger Beträge führen. Auch hier ist die Tatbestandsverwirklichung erst gegeben, wenn die unvollkommene Verbindlichkeit getilgt oder ein klagbarer, die Gläubigergesamtheit beeinträchtigender Anspruch entstanden ist (BGH 22, 360; vgl. auch Anm. 6 b, cc), zumal der Gesetzeswortlaut hier nicht geändert wurde. Zu Spiel und Wette gehört auch die Beteiligung an Lotterien sowie am Zahlenlotto und Fußballtoto (vgl. Lackner 4 b). c) Nr. 3 erfaßt die Veräußerung oder sonstige Abgabe von auf Kredit beschafften Waren oder Wertpapieren erheblich unter ihrem Wert in einer den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft widersprechenden Weise. Die Verschleuderung von Waren war früher nach § 240 Abs. 1 Nr. 2 KO strafbar, wobei an die Stelle der Konkursverschleppungsabsicht nunmehr das Handeln in der Krise oder deren Herbeiführung getreten ist. Der Tatbestand wurde durch die Einbeziehung solcher Sachen erweitert, die aus den auf Kredit beschafften Waren hergestellt worden sind. aa) Gegenstand der Verschleuderung können Waren und Wertpapiere sein, die der Täter ohne volle Bezahlung oder Erfüllung der sonst vereinbarten Gegenleistung rechtsgeschäftlich erworben und in Besitz genommen hat. Er muß nicht Eigentümer sein, weshalb die umstrittene Frage zu bejahen ist, ob unter Eigentumsvorbehalt gekaufte und nicht voll bezahlte Waren erfaßt werden (BGH 9, 84; Dreher 15 unter Aufgabe der noch in der 36. Aufl. zu § 240 KO aF vertretenen Ansicht). Praktisch bedeutsam ist die Ausdehnung des Tatbestandes auf Sachen, die aus den auf Kredit beschafften Waren hergestellt worden sind, wobei es sich auch um eine Herstellung aus Rohstoffen handeln kann (RegE S. 35 BT-Drucks. 7/3441). Die nach § 240 KO aF früher zu prüfende Identität von entnommener und veräußerter Ware (RG 72,188) ist insoweit unbeachtlich geworden. bb) Veräußern ist die völlige Aufgabe der Verfügungsgewalt über den Gegenstand, sonstiges Weggeben die Besitzübertragung ohne Aufhebung des Eigentums (z. B. Verpfändung) . Die Abgrenzung im einzelnen ist umstritten (vgl. Stree in Schönke-Schröder 13 zu § 240 KO aF). cc) Der Täter muß die Gegenstände erheblich unter dem Wert in einer den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft widersprechenden Weise veräußert oder sonst weggegeben haben. Als Wert ist der Marktpreis oder übliche Handelspreis zur Zeit der Veräußerung anzusetzen (BGH bei Herlan GA 1955, 365). Der Einkaufspreis ist nicht maßgebend. Lag er jedoch so niedrig, daß der Weiterverkauf unter dem Marktpreis noch einen Gewinn brachte, so kann das Verhalten des Schuldners ausnahmsweise den Grundsätzen ordnungsgemäßer Wirtschaft entsprechen. Auch bei verderblicher Ware oder einem bevorstehenden Preisverfall kann ein Verkauf unter dem Marktpreis ordnungsgemäße Wirtschaftsführung sein (Stree in Schönke-Schröder 15 zu § 240 KO aF).
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d) Nr. 4 erfaßt das Vortäuschen von Rechten und das Anerkennen von erdichteten Rechten anderer. Während das Anerkennen bereits in § 239 Absatz 1 Nr. 2 KO aF enthalten war, ist das Vortäuschen an die Stelle des Aufstellens getreten. Eine Rechtsänderung sollte dadurch nicht bewirkt werden, wie überhaupt Nr. 4 mit § 239 Absatz 1 Nr. 2 KO aF sachlich übereinstimmt (RegE S. 35 BT-Drucks. 7/3441). aa) Unter dem umfassenden Begriff Rechte sind sowohl schuldrechtliche Forderungen als auch dingliche Rechte zu verstehen (RegE aaO.). Der Schuldner muß sie der wahren Rechtslage zuwider als Rechte Dritter gegenüber der geschützten Vermögensmasse angegeben haben. Dabei genügt auch die Angabe eines in Wahrheit nicht bestehenden Konkursvorrechts (BGH BB 1955, 552). bb) Vortäuschen ist das Geltendmachen des scheinbaren Rechts gegenüber Dritten, z. B. gegenüber dem Konkursverwalter oder Gläubigem. Eine entsprechende Buchung kann bereits ausreichen, wenn die Geschäftsbücher danach dem Konkursverwalter zugänglich gemacht werden (BGH bei Herlan GA 1953, 74). cc) Anerkennen ist jede Handlung des Schuldners, durch die er im Zusammenwirken mit dem angeblichen Gläubiger das Bestehen des Rechts in einer Weise bestätigt, die geeignet ist, die wirklichen Gläubiger zu benachteiligen (BGH bei Herlan GA 1953, 74). Dies kann beispielsweise durch eine falsche eidesstattliche Versicherung nach § 125 KO oder durch ein Anerkenntnis im Zivilprozeß geschehen. Ein den Formvorschriften des § 781 BGB entsprechender Vertrag ist nicht erforderlich. Die Forderung muß jedoch erdichtet, d. h. als existent dargestellt werden, weshalb eine Anerkennung aus Kulanzgriinden nicht vom Tatbestand erfaßt wird (RegE S. 35 BT-Drucks. 7/3441). dd) Die Erfüllung einer fingierten oder verjährten Verbindlichkeit ist nicht nach Nr. 4, aber möglicherweise nach Nr. 1 strafbar. Das Vortäuschen einer inzwischen getilgten Verbindlichkeit, beispielsweise durch Eintragungen in den Geschäftsbüchern, wird ebenfalls nicht von Nr. 4 erfaßt, da hiernach nur das Vortäuschen oder Anerkennen noch bestehender Rechte strafbar ist (Böhle-Stamschräder 8 c zu § 283 StGB). Derartige Buchungen können aber der Verschleierung eines Beiseiteschaffens nach Nr. 1 dienen. Ein GmbH-Geschäftsführer, der im Konkursverfahren der Gesellschaft unberechtigte eigene Forderungen gegen sie geltend macht, ist nicht nach Nr. 4 strafbar. Sein eigennütziges Handeln schließt es aus, ihm nach § 14 die Schuldnereigenschaft zuzurechnen (vgl. Anm. 4 e). Während dieser Fall früher als Schuldnerbegünstigung nach § 242 Absatz 1 Nr. 2 KO aF angesehen wurde (Stree in Schönke-Schröder 15 zu § 239 KO aF), dürfte nach Streichung dieser Strafvorschrift die Strafbarkeit wegen Betrugs nach § 263 verbleiben. e) Nr. 5 behandelt die früher nach §§ 239 Absatz 1 Nr. 3 und 4 und 240 Absatz 1 Nr. 3 KO aF strafbaren Bankrotthandlungen der unterlassenen oder unordentlichen Buchführung. aa) Täter können nur Personen sein, die gesetzlich zur Führung von Handelsbüchem verpflichtet sind. Dies ergibt sich aus dem Vergleich der Formulierung in Nr. 5 und 6, wonach einmal Handelsbücher Tatgegenstand sind, zu deren Führung „er", d. h. der Täter, gesetzlich verpflichtet ist, zum anderen um solche, „zu deren Aufbewahrung ein Kaufmann nach Handelsrecht verpflichtet ist". Nach früherem Recht war die Buchführungspflicht nur für die Tathandlung der unterlassenen Buchführung (§ 239 Absatz 1 Nr. 3 KO aF) erforderlich, während das unordentliche Führen oder Verändern von 29
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Handelsbüchern nach Nr. 4 auch dann strafbar war, wenn der Täter Bücher führte, ohne dazu verpflichtet zu sein (BGH 2, 386). Anders war es wiederum bei § 240 Absatz 1 Nr. 3 KO aF, wo eine Buchführungspflicht auch für das unordentliche Führen vorausgesetzt wurde. Die gesetzliche Buchführungspflicht wird in § 38 Absatz 1 HGB an den Kaufmannsbegriff geknüpft, der in den §§ 1, 2, 3 und 6 HGB eingegrenzt ist. Danach sind die Inhaber der in § 1 Absatz 2 HGB aufgeführten Gewerbebetriebe (Grundhandelsgewerbe) buchführungspflichtige Kaufleute, es sei denn, sie würden nach Art und Umfang ihres Gewerbes einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb, also vor allem eine kaufmännische Buchführung, nicht benötigen (§ 4 Absatz 1 HGB). Ist ein solcher Geschäftsbetrieb erforderlich, so sind auch nicht unter § 1 Absatz 2 HGB fallende handwerkliche und sonstige gewerbliche Unternehmer Kaufleute, soweit ihre Firma im Handelsregister eingetragen ist (§ 2 HGB). Diese müssen, auch wenn sie ihrer Verpflichtung zur Firmeneintragung noch nicht nachgekommen sind, nach § 47 b HGB wie ein Kaufmann Bücher führen. § 47 b HGB ist als flankierende Maßnahme zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität durch Artikel 4 Nr. 2 des 1. WiKG eingeführt worden, um Gewerbetreibenden, die in größerem Umfang am Wirtschaftsleben teilnehmen, die Möglichkeit zu nehmen, sich ihrer Buchführungspflicht durch eine Verzögerung der Handelsregistereintragung zu entziehen. Andererseits wird ein Gewerbetreibender nicht schon mit Eintragung seiner Firma im Handelsregister buchführungspflichtig. Hinzukommen muß der nach Art und Umfang des Gewerbes erforderliche kaufmännische Geschäftsbetrieb. § 5 HGB hat somit keinerlei Rechtsscheinwirkung gegenüber dem Strafrichter (Böhle-Stamschräder 9 a zu § 283 StGB; Baumbach-Duden 1 F zu § 5 HGB; a. A. Stree in Schönke-Schröder 18 zu § 239 KO aF ohne nähere Begründung). Nach § 6 Absatz 1 HGB haben auch Handelsgesellschaften (OHG, KG, AG, KGaA, GmbH und eGen) Kaufmannseigenschaft, wobei allerdings bei der OHG und der KG ein in kaufmännischer Weise eingerichteter Geschäftsbetrieb vorausgesetzt wird (§§6 Absatz 2 i. V. m. 4 Absatz 1 und 2 HGB). Die Notwendigkeit eines kaufmännischen Geschäftsbetriebes hängt von der Zahl der Beschäftigten, der Höhe des Umsatzes und Betriebsvermögens, der Vielfalt des Waren- und Dienstleistungsangebots sowie davon ab, ob in nennenswertem Umfang Waren- oder Geldkredit in Anspruch genommen wird und ob Wechselverkehr sowie mehrere Bankverbindungen bestehen (vgl. BaumbachDuden 2 zu § 2 HGB). Die Tätigkeit der freien Berufe wird unabhängig von ihrem Umfang nicht als Gewerbeausübung angesehen. Rechtsanwälte, Steuerberater, Ärzte, Architekten, Künstler usw. sind nach Handelsrecht nicht buchführungspflichtig und können sich somit nicht nach Nr. 5 strafbar machen (Baumbach-Duden 1 c zu § I HGB). Daß sie nach Steuerrecht Bücher zu führen haben, ist für das Konkursstrafrecht unerheblich. bb) Die Buchführungspflichten hat der Geschäftsinhaber wahrzunehmen. Bei juristischen Personen und Handelsgesellschaften trifft die Pflicht zur Führung der Handelsbücher diejenigen, denen die Insolvenz der Gesellschaft nach § 14 zugerechnet wird, z. B. die GmbH-Geschäftsführer ( § 4 1 GmbHG) und die Komplementäre einer KG, soweit sie nicht von der Geschäftsführung durch Gesellschaftsvertrag ausgeschlossen sind. Der Buchführungspflichtige kann die Aufgabe Mitgesellschaftern, Mitgeschäftsführem und Angestellten, aber auch Außenstehenden, z. B. Steuerberatern, übertragen. Er ist hierzu verpflichtet, wenn er die Bücher wegen Arbeitsüberlastung, Unfähigkeit oder Krankheit nicht selbst ordnungsgemäß führen kann. Das befreit ihn jedoch nicht von der Pflicht, die Hilfspersonen sorgfältig auszuwählen und zu überwachen (RG 58, 305). Auch die Unfä898
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higkeit des Geschäftsinhabers, seine Hilfspersonen für die Führung oder Weiterführung der Bücher zu bezahlen, entlastet ihn nicht. Er muß der Aufgabe unter allen Umständen nachkommen oder das Unternehmen aufgeben. cc) Zu den Handelsbüchern gehören nach §§ 39 HGB, 148 AktG, 41 GmbHG und 33 GenG zunächst das Inventar und die Bilanzen. Für ihre Aufstellung gilt jedoch die spezielle Strafvorschrift der Nr. 7. Darüber hinaus sind alle Aufzeichnungen des Geschäftsinhabers als Handelsbücher anzusehen, die nach § 38 HGB seine Handelsgeschäfte und die Lage seines Vermögens nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung ersichtlich machen (BGH 14, 264). Entscheidend sind nicht die Bezeichnung, die äußere Form oder ein bestimmtes System der Aufzeichnungen, sondern ihre Aufgabe und Eignung, die Geschäfte und das Vermögen ohne besondere Mühe, wenn auch vielleicht mit einigen Schwierigkeiten, kenntlich zu machen. Das können beispielsweise Eintragungen auf Karteikarten oder in Lieferscheinblocks über Warenbewegungen sein (BGH aaO.). Das Baubuch des Bauunternehmers nach § 2 des Gesetzes zur Sicherung der Bauforderungen vom 1. 6. 1909 (RGBl. 449) ist jedoch kein Handelsbuch (Stree in Schönke-Schröder 19 zu § 239 KO aF). dd) Die Tathandlung besteht im Unterlassen jeglicher Buchführung, im unordentlichen Führen oder im Verändern der Bücher mit der Folge, daß die Ubersicht über den Vermögensstand unmöglich gemacht oder erschwert wird. Ein Unterlassen liegt nur vor, wenn überhaupt keine Bücher geführt worden sind. Bei teilweiser oder unvollständiger Buchführung ist die Handlungsaltemative des unordentlichen Führens von Handelsbüchern gegeben. Dazu genügen einzelne für die Gesamtvermögenslage unerhebliche Falschbuchungen jedoch nicht (RG 29, 304). Nicht nur der Buchführungspflichtige selbst, sondern jeder sachverständige Dritte muß die Vermögenslage ohne große Mühe erkennen können. Eine ordnungsgemäße Buchführung muß über das Zahlenwerk hinaus die Art der Geschäfte sowie die Namen der Gläubiger und Schuldner enthalten und durch geordnet aufbewahrte Belege untermauert sein (BGH bei Herlan GA 1961, 358). Andererseits ersetzt eine Belegsammlung allein nicht die Buchhaltung, es sei denn, diese Buchungsweise entspricht den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung (§ 43 Absatz 4 HGB idF von Artikel 56 Nr. 3 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) vom 14. 12. 1976 (BGBl. I 3341), oder es handelt sich um wenige leicht nachbuchbare Geschäftsvorgänge (BGH bei Herlan GA 1959,341). Die Bücher müssen den Ordnungsvorschriften des § 43 Absatz 1-3 HGB idF des EGAO 1977 sowie den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung entsprechen. Diese sind gesetzlich nicht definiert, obwohl in zahlreichen Vorschriften auf sie Bezug genommen wird. Es ist umstritten, ob es sich um Gewohnheitsrecht, Handelsbrauch, Standesrecht der Kaufleute oder um betriebswirtschaftliche Fachnormen handelt (vgl. hierzu BaumbachDuden 5 A zu § 38 HGB). Ihr Inhalt läßt sich aus den Richtlinien zur Organisation der Buchßhrung des Reichswirtschaftsministers vom 11. 11. 1937 (MinBlfWi 239) entnehmen (abgedruckt bei Baumbach-Duden aaO.), die zwar seit 1945 nicht mehr rechtsverbindlich sind, aber in der Praxis auch heute noch weitgehend befolgt werden. Ein strafbares Verändern von Handelsbüchern ist vor allem in Verstößen gegen § 43 Absatz 3 HGB idF des E G A O 1977 zu sehen, soweit dadurch die Übersicht über den Vermögensstand erschwert wird. Das Verändern muß nicht notwendig auch ein Verfälschen im Sinne des § 267 sein (Lackner 4 e). ee) Die Buchführungsmängel müssen zum Zeitpunkt des Eintritts der objektiven Bedingung der Strafbarkeit vorliegen oder sich zumindest noch auswirken. Werden vorher 29*
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fehlende Buchungen nachgetragen oder falsche Buchungen berichtigt, so wird der Schuldner straffrei, wenn zum Zeitpunkt etwa der Zahlungseinstellung die Übersichtlichkeit wieder hergestellt ist (Böhle-Stamschräder 9 d zu § 283 StGB). In diesem Zusammenhang ist die für alle Konkursstraftaten zu stellende umstrittene Frage nach dem Zeitpunkt der Deliktsvollendung von Bedeutung. Ist die Tat erst mit Eintritt der objektiven Bedingung der Strafbarkeit vollendet (so R G 16, 190; JW 1936, 3007), so kann der Täter z. B. durch Nachbuchungen wirksam vom Versuch zurücktreten. Sieht man die Vollendung aber bereits mit der Bankrotthandlung als gegeben an (so zutreffend Dreher 34; Lackner 8 sowie Stree in Schönke-Schröder 37 zu § 239 und 28 zu § 240 KO aF), so ist lediglich noch der äußere Zusammenhang zwischen Bankrotthandlung und objektiver Strafbarkeitsbedingung zu prüfen (vgl. Anm. 4). Unabhängig von dieser dogmatischen Streitfrage wird der Täter jedenfalls dann straffrei, wenn es ihm gelingt, vor Eintritt der objektiven Strafbarkeitsbedingung alle Wirkungen der zurückgenommenen Bankrotthandlung zu beseitigen. Das ist allerdings schon dann nicht der Fall, wenn ein GmbH-Geschäftsführer wegen seiner unordentlichen Buchführung und der daraus folgenden Unkenntnis der Vermögenslage der Gesellschaft die Pflicht versäumt hat, rechtzeitig nach § 64 GmbHG Konkursantrag zu stellen. Er ist vielmehr auch dann nach § 283 strafbar, wenn er zum Zeitpunkt der Zahlungseinstellung der Gesellschaft die Buchführung wieder in Ordnung gebracht hat (BGH bei Herlan GA 1954,311). ff) Mehrere Einzelverstöße gegen die Buchführungspflicht bilden eine einheitliche Straftat, da sie die Buchführung insgesamt unübersichtlich machen und der Täter hierfür durch ein fortgesetztes Handeln oder Unterlassen verantwortlich ist (BGH 3, 26). Das gilt auch dann, wenn er teils vorsätzlich, teils fahrlässig handelt und sogar dann, wenn er teils vor (283 b), teils nach Kriseneintritt seine Bücher unordentlich führt, wobei er zunächst in fahrlässiger Unkenntnis und später in Kenntnis der Krise handeln kann. Alle Verstöße sind insgesamt nach § 283 Absatz 1 als der Vorschrift mit der schwersten Strafdrohung zu ahnden (so BGH bei Herlan GA 1956, 347 zum Verhältnis zwischen § 239 und § 240 KO aF). f) Nr. 6 erfaßt das Beiseiteschaffen, Verheimlichen, Zerstören und Beschädigen von Handelsbüchern mit der Folge der Unübersichtlichkeit. Das Verheimlichen war bereits nach den §§ 239 Absatz 1 Nr. 4 und 240 Absatz 1 Nr. 3 a KO aF strafbar, während an die Stelle des früher dort aufgeführten Vemichtens das Zerstören getreten ist. aa) Täter kann auch ein nicht buchführungspflichtiger Schuldner sein, der seine Bücher freiwillig führt (RegE S. 36 BT-Drucks. 7/3441; Lackner 4 f; siehe auch Anm. 6 e, aa). bb) Tatgegenstand sind die Handelsbücher, wozu auch Bilanzen und Inventare sowie die zu ihrem Verständnis erforderlichen Arbeitsanweisungen und sonstigen Organisationsunterlagen gehören, und die übrigen nach § 44 HGB (idF des E G A O 1977) aufzubewahrenden Unterlagen, also die empfangenen und abgesandten Handelsbriefe (diese in Kopien) sowie die Buchungsbelege. Durch die Neufassung ist klargestellt worden, daß die Tathandlungen solange strafbar begangen werden können, wie die gesetzliche Aufbewahrungsfrist nach § 44 Absatz 4 HGB läuft. Das sind 6 Jahre für Handelsbriefe und Buchungsbelege, 10 Jahre für die übrigen Unterlagen. cc) Über Beiseiteschaffen s. o. Anm. 6 a, bb, über Verheimlichen s. o. Anm. 6 a, cc. Das Tatbestandsmerkmal Zerstören erfaßt - insoweit über das nach früherem Recht strafbare
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Vernichten als völlige Substanzveränderung hinaus - auch die sonstige Funktionsaufhebung der Geschäftsunterlagen, z. B. die völlige und irreparable Auflösung der Ordnung einer Loseblattsammlung (RegE S. 36 BT-Drucks. 7/3441; vgl. auch Anm. 6 a, dd). Auch durch die Aufnahme des Tatbestandsmerkmals Beschädigen wird der frühere Strafbarkeitsbereich ausgeweitet. Erfaßt wird nicht nur die Gesamtvernichtung aller Handelsbücher, sondern auch die teilweise Funktionsbeeinträchtigung, wenn sie zur Unübersichtlichkeit führt (vgl. auch Anm. 6 a, dd). g) Nr. 7 enthält die unordentliche und verspätete Bilanzaufstellung sowie die verspätete Inventaraufstellung. Während die unordentliche Bilanzaufstellung früher als unordentliche Buchführung nach den §§ 239 Absatz 1 Nr. 4 und 240 Absatz 1 Nr. 3 KO aF strafbar war, befand sich die Tathandlung der verspäteten Bilanzaufstellung bereits als solche in § 240 Absatz 1 Nr. 4 KO aF. Die unordentliche Bilanzaufstellung (Nr. 7 a) ist ein Sonderfall der Nr. 5, da auch die Bilanz zu den Handelsbüchern gehört. aa) Täter kann nur ein nach § 39 HGB bilanzierungspflichtiger Kaufmann sein. Zum Umfang der Pflicht bei Beauftragung Dritter s. o. Anm. 6 e, bb. bb) Die unordentliche Bilanzaufstellung ist in Verstößen gegen die in den §§ 39 ff. HGB, 149 ff. AktG, 42 GmbHG und 33 b ff. GenG festgelegten Bilanzierungsvorschriften zu sehen, durch welche die Vermögensübersicht erschwert wird. Ergänzend sind die in den Richtlinien des Reichswirtschaftsministers vom 11. 11. 1937 aufgeführten Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung zu beachten (s. o. Anm. 6 e, dd). Als Bilanz ist nur eine aus ordnungsmäßiger Buchführung und einem Inventar entwickelte, vom Schuldner geprüfte und anerkannte Gegenüberstellung der Aktiva und Passiva anzusehen (BGH bei Herlan GA 1956, 348). cc) Die Bilanzaufstellung ist verspätet, wenn sie überhaupt nicht oder nicht innerhalb der einem ordnungsgemäßen Geschäftsgang entsprechenden Zeit vorgenommen worden ist (§ 39 Absatz 2 HGB). Die in § 39 Absatz 2 HGB allgemein umschriebene Bilanzierungsfrist ist für Kapitalgesellschaften in den §§ 148 AktG, 41 Absatz 2 GmbHG und 33 GenG festgelegt. Diese Höchstfristen von 3 bzw. 6 Monaten sind auf den Einzelkaufmann, die OHG und die KG nicht ohne weiteres anwendbar. Entscheidend ist der im Einzelfall nach dem Geschäftsumfang für die Bilanzerstellung erforderliche Zeitaufwand, der in den meisten Fällen kürzere Fristen von etwa 8-10 Wochen erlaubt (BGH bei Herlan GA 1961, 359). Dabei ist zu beachten, daß die vom Tatbestand vorausgesetzte Krisensituation den Geschäftsinhaber nach Handelsrecht ohnehin dazu verpflichtet, die Bilanz unverzüglich, also ohne schuldhaftes Zögern, aufzustellen (Ber. S. 18 BT-Drucks. 7/5291). Eine Berufung auf irgendwelche Höchstfristen ist nicht zulässig. Eine im RegE in Abänderung des § 39 Absatz 2 HGB vorgeschlagene allgemeine Bilanzierungsfrist von 9 Monaten ist wegen der im Hearing aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten nicht Gesetz geworden (Ber. S. 22). dd) Endet die Bilanzierungsfrist erst nach dem Eintritt der objektiven Bedingung der Strafbarkeit, so kann der Schuldner gleichwohl wegen verspäteter Bilanzaufstellung strafbar sein, wenn er die notwendigen Bilanzierungsvorbereitungen versäumt hatte (BGH GA 1956, 356; Lackner 4 g; a. A. Böhle-Stamschräder 11 b zu § 283 StGB unter Berufung auf RegE S. 36). Dieser Rechtsprechung folgend ist die verspätete Inventarerstellung ausdrücklich in den Tatbestand aufgenommen worden. Auch das Inventar ist nach § 39
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§ 283
Vierundzwanzigster Abschnitt: Konkursstraftaten (Bieneck)
Absatz 2 HGB in der einem ordnungsgemäßen Geschäftsgang entsprechenden Zeit aufzustellen. ee) Mehrere Verstöße gegen die Bilanzierungspflichten stellen sich, anders als bei Nr. 5, regelmäßig als selbständige Handlungen dar (BGH bei Herlan GA 1956, 348). Es kann jedoch auch Fortsetzungszusammenhang mit Bankrotthandlungen nach Nr. 5 gegeben sein, wenn der Schuldner von vornherein in Kauf genommen hatte, daß ihn die Buchführungsdelikte außerstande setzen würden, auch seinen Bilanzierungspflichten nachzukommen (BGH JZ 1954, 56). h) Nr. 8 stellt eine neu in den Tatbestand eingefügte geneialklauselartige Tatbestandsumschreibung für gravierende Bankrotthandlungen dar. Strafbar sind das Verringern des Vermögensstandes sowie das Verheimlichen oder Verschleiern der wirklichen geschäftlichen Verhältnisse in einer den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft grob widersprechenden Weise. aa) Verringern des Vermögensstandes ist jede Verminderung der Aktiva oder Erhöhung der Passiva. Über Verheimlichen s. o. Anm. 6 a, cc. Verschleiern ist ein irreführendes Verhalten, durch das die wirklichen Vermögensverhältnisse vor den Gläubigern oder dem Konkursverwalter verborgen werden (Lackner 4 h). bb) Im Gesetzgebungsverfahren ist eingehend diskutiert worden, ob ein Bedürfnis für eine solche Strafbestimmung besteht und ob sie wegen ihrer großen Spannweite mit dem die Bestimmtheit einer Strafnorm fordernden Schuldprinzip vereinbar ist. Den Bedenken hinsichtlich ihrer Bestimmtheit wurde entgegengehalten, daß es um vorsätzliche, den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft grob widersprechende Handlungen gehe, die besonders gefährlich oder verwerflich seien. Außerdem knüpfe die Formulierung „in anderer Weise" an die in den Nr. 1-7 beschriebenen Verhaltensweisen an (RegE S. 36 BT-Drucks. 7/3441). Gleichwohl soll die Vorschrift eine selbständige Bedeutung in dem Sinne haben, daß der Strafrichter bei einem die Tatbestandsmerkmale der Nr. 8 erfüllenden Verhalten nicht noch ausdrücklich darlegen müsse, warum es einer der übrigen Fallgruppen an Unrechtsgehalt und im Tatgeschehen gleichstehe. Die Generalklausel soll vielmehr sozialschädliche Verhaltensweisen erfassen, die sich einer Typisierung (noch) entziehen (Ber. S. 18 BT-Drucks. 7/5291), und damit eine wirksamere Bekämpfung der immer neue Wege gehenden Wirtschaftskriminalität ermöglichen. Die Notwendigkeit der Vorschrift hat Eitel im Hearing durch seinen Hinweis auf Manipulationen mit dem Konkursausfallgeld gezeigt (Prot. VIIS. 2547). 7. Absatz 2 stellt das Herbeiführen der Krise durch die Bankrotthandlungen des Absatzes 1 unter Strafe. Die neu in das Konkursstrafrecht eingeführte Vorschrift geht auf die im Entwurf des EGStGB enthaltenen Lösungsvorschläge zurück (vgl. Vorbem. 1 c). Zu beachten ist, daß nicht schon die Verursachung der drohenden, sondern nur der tatsächlich eingetretenen Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit strafbar ist. 8. Auf der subj. Tatseite ist bei den Absätzen 1 und 2 Vorsatz erforderlich. Dieser muß sich sowohl auf die Bankrotthandlungen als auch auf das Vorhandensein der Krise (Abs. 1) oder ihre Verursachung (Abs. 2) beziehen, nicht jedoch auf die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit. Bedingter Vorsatz ist in allen Fällen ausreichend. 9. Absatz 3 begründet die Strafbarkeit des Versuchs der Taten nach Abs. 1 und 2. Zur Abgrenzung von Versuch und Vollendung s. o. Anm. 6 e, ee.
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Vierundzwanzigster Abschnitt: Konkursstraftaten (Bieneck)
§ 283
10. Absatz 4 betrifft die Fälle, in denen der Täter vorsätzliche Bankrotthandlungen in fahrlässiger Unkenntnis der Krise begeht (Nr. 1) oder durch sie die Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit leichtfertig verursacht (Nr. 2). Eine fahrlässige Verkennung der Krise wird in der Regel vorliegen, wenn der Schuldner es unterläßt, sich durch ordentliche Buchführung und Bilanzaufstellung eine klare Vorstellung von der wirtschaftlichen Situation seines Unternehmens zu verschaffen (RegE S. 37 BT-Drucks. 7/3441). Bei Abs. 4 Nr. 2 handelt es sich um eine Vorsatz/Fahrlässigkeitskombination i. S. von § 11 Abs. 2. Uber leichtfertig siehe C 1 c vor § 1. 11. Absatz 5 stellt die fahrlässig begangenen Bankrotthandlungen der Nr. 2, 5 und 7 des Absatzes 1 unter Strafe, wenn der Täter in Kenntnis oder fahrlässiger Unkenntnis der Krise gehandelt (Nr. 1) oder durch sie die Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit vorsätzlich oder leichtfertig herbeigeführt hat (Nr. 2). 12. Täterschaft und Teilnahme bestimmen sich nach allgemeinen Grundsätzen. Mit Rücksicht auf die Sonderrechtsnatur der Vorschrift (s. o. 3) kann Mittäter nur sein, wer entweder selbst Schuldner ist oder als verantwortliches Organ oder als Vertreter i. S. des § 14 für den Schuldner tätig ist. Außenstehende kommen nur als Teilnehmer in Betracht, wobei § 28 Abs. 1 wegen der Rechtsgutbezogenheit der Schuldnereigenschaft keine Anwendung findet (Lackner 7; Stree in Schönke-Schröder 44 zu § 239 KO aF; a. A. Dreher 38). Trifft Beihilfe zu einer Tathandlung nach § 283 Abs. 1 Nr. 1 mit einer Schuldnerbegünstigung gemäß § 283 d zusammen, so geht § 283 d vor (Lackner 7; siehe auch § 283 d Anm. 10). Wegen der Möglichkeit strafbarer Teilnahme an der in Abs. 4 Nr. 2 unter Strafe gestellten Vorsatz/Fahrlässigkeitskombination siehe § 11 Anm. X 2. 13. Konkurrenzen: Mehrere Bankrotthandlungen werden nicht schon deshalb zu einer Handlungseinheit verbunden, weil sie im Zusammenhang mit der gleichen wirtschaftlichen Krise stehen oder es zu einer der in Abs. 6 vorausgesetzten objektiven Strafbarkeitsbedingungen gekommen ist. Ob Tateinheit oder Tatmehrheit vorliegt, richtet sich vielmehr nach allgemeinen Grundsätzen. So stellen sich, wie bereits unter Anm. 6 e, ff dargelegt, mehrere Einzelverstöße gegen die Buchführungspflicht in der Regel als einheitliche Tat dar. Entsprechendes gilt für wiederholte unwirtschaftliche-Ausgaben i. S. von Abs. 1 Nr. 2. Eine einheitliche Tat ist im übrigen nicht nur dann denkbar, wenn die gleiche Bankrotthandlung aufgrund eines einheitlichen Tatentschlusses wiederholt vorgenommen wird, sondern auch dann, wenn gleichartige Begehungsweisen zusammentreffen, z. B. Verheimlichen und Beiseiteschaffen oder Zerstören und Beschädigen. Tateinheit ist insbesondere möglich zwischen Abs. 1 Nr. 1 und §§ 136, 156 und 288 (RG 20, 214; BGH 11,145 sowie bei Herlan GA 1971, 38), zwischen Abs. 1 Nr. 2 und §§ 263 und 266 (BGH 3, 23, 27 sowie bei Herlan GA 1954, 311) sowie zwischen Abs. 1 Nr. 6 und § 274 Abs. 1 Nr. 1. Gegenüber § 283 d tritt Beihilfe zu Abs. 1 Nr. 1 als subsidiär zurück. 14. Die Frist für die Verfolgungsverjährung beginnt nicht schon mit der Beendigung der Bankrotthandlung, sondern erst mit dem Eintritt der objektiven Bedingung der Strafbarkeit, da die Tat erst ab diesem Zeitpunkt verfolgbar ist (Stree in Schönke-Schröder 51 zu § 239 KOaF; Lackner 8).
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§§ 283 a, b § 283 a
Vierundzwanzigster Abschnitt: Konkursstraftaten (Bieneck)
Besonders schwerer Fall des Bankrotts
In besonders schweren Fällen des § 2 8 3 Abs. 1 bis 3 wird der Bankrott mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. aus Gewinnsucht handelt oder 2. wissentlich viele Personen in die Gefahr des Verlustes ihrer ihm anvertrauten Vermögenswerte oder in wirtschaftliche Not bringt. 1. Die durch das 1. WiKG eingefügte Vorschrift sieht für besonders schwere Erscheinungsformen des Bankrotts einen erhöhten Strafrahmen vor. Sie enthält zwei Regelbeispiele für besonders schwere Fälle, die dem Strafrichter als Leitbild dienen, aber andere Fallgestaltungen nicht ausschließen sollen. 2. Gewinnsucht (Nr. 1) ist gegeben, wenn der Täter seinen Erwerbssinn in einem ungewöhnlichen, ungesunden und sittlich anstößigen Maß betätigt (BGH 1, 388). 3. Das Regelbeispiel der Gefährdung anvertrauter Vermögenswerte oder der Verursachung wirtschaftlicher Not vieler Personen (Nr. 2) bezieht sich vor allem auf Bankrotthandlungen beim Zusammenbruch von Unternehmen, die fremdes Geld verwalten und mit ihm arbeiten, wie z. B. Banken, Sparkassen, Genossenschaftskassen und Bausparkassen. Neben den Spareinlagen sollen auch Kapitalanlagen in gesellschaftsrechtlichen Formen geschützt werden. Es genügt eine konkrete Gefährdung der Vermögenswerte, der endgültige Verlust braucht nicht eingetreten zu sein. Ein erhöhter Unrechtsgehalt kann weiter darin liegen, daß die Arbeitnehmer eines insolventen Schuldners durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes in wirtschaftliche Not geraten (RegE S. 38 BT-Drucks. 7/3441). Das ist dann der Fall, wenn ihr notwendiger Lebensunterhalt ohne Hilfe Dritter nicht mehr gewährleistet ist, wobei nicht nur die existenznotwendigen Bedürfnisse gemeint sind, sondern die nach heutigem Lebensstandard der Mehrzahl der Bevölkerung zur Verfügung stehenden Güter (Böhle-Stamschräder 2 b zu § 283 a StGB). 4. Der Täter muß die in Nr. 2 aufgeführten Folgen (Gefährdung der Vermögenswerte oder Verursachung wirtschaftlicher Not) wissentlich verursacht, d. h. als sicher eintretend vorausgesehen haben. Bedingter Vorsatz genügt nicht (vgl. § 15 Anm. 1).
§ 283 b
Verletzung der Buchführungspflicht
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. Handelsbücher, zu deren Führung er gesetzlich verpflichtet ist, zu führen unterläßt oder so führt oder verändert, daß die Übersicht über seinen Vermögensstand erschwert wird, 2. Handelsbücher oder sonstige Unterlagen, zu deren Aufbewahrung er nach Handelsrecht verpflichtet ist, vor Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfristen beiseite schafft, verheimlicht, zerstört oder beschädigt und dadurch die Übersicht über seinen Vermögensstand erschwert, 904
Vierundzwanzigster Abschnitt: Konkursstraftaten (Bieneck)
§ 283 b
3. entgegen dem Handelsrecht a) Bilanzen so aulstellt, daß die Übersicht über seinen Vermögensstand erschwert wird, oder b) es unterläßt, die Bilanz seines Vermögens oder das Inventar in der vorgeschriebenen Zeit aufzustellen. (2) Wer in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 oder 3 fahrlässig handelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (3) § 283 Abs. 6 gilt entsprechend. 1. Die mit § 240 Abs. 1 Nr. 3-4 KO aF weitgehend übereinstimmende, durch das 1. WiKG hier eingestellte Vorschrift stellt die in § 283 Absatz 1 Nr. 5-7 enthaltenen Bankrotthandlungen unter Strafe, wenn sie außerhalb einer Krisensituation begangen worden sind. Es handelt sich um einen als abstraktes Gefährdungsdelikt konzipierten Auffangtatbestand im Vorfeld des Bankrotts, der auch dann erfüllt ist, wenn die Krise möglicherweise vorhanden, aber nicht nachweisbar ist oder den Täter insoweit kein Schuldvorwurf trifft. Der besondere strafrechtliche Schutz der Buchführungs- und Bilanzierungspflichten entspricht ihrer erheblichen Bedeutung für die gesamte Wirtschaftsordnung. Der seine Buchführungs- und Bilanzierungspflichten vernachlässigende Kaufmann ist häufig nicht in der Lage, drohende Krisen rechtzeitig genug zu erkennen, um sie noch wirksam abwenden zu können. Der Zusammenbruch seines Unternehmens schädigt nicht nur seine Gläubiger, sondern kann, besonders in Zeiten allgemeiner wirtschaftlicher Rezession, weitere Unternehmenszusammenbrüche mit erheblichen Folgen für einen ganzen Wirtschaftszweig nach sich ziehen. 2. Täter kann nur sein, wer nach Handelsrecht zur Buchführung und Bilanzaufstellung verpflichtet ist. Das gilt, abweichend von § 283 Absatz 1 Nr. 6, auch für die vergleichbare Nr. 2. Zur Abgrenzung dieses Personenkreises sowie zum Umfang der Pflichten bei Beauftragung Dritter vgl. § 283 Anm. 6 e, aa und bb. 3. Die Tathandlungen entsprechen denen des § 283 Absatz 1 Nr. 5 bis 7, weshalb auf diese Vorschriften insoweit verwiesen werden kann. 4. Während Verstöße gegen Abs. 1 Nr. 2 auf der subj. Tatseite Vorsatz voraussetzen, sind Verstöße gegen Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 auch bei fahrlässiger Begehung mit Strafe bedroht. Fahrlässig handelt z. B. auch, wer den von ihm mit der Buchführung beauftragten Buchhalter oder sonstigen Angestellten nicht mit der erforderlichen Sorgfalt überwacht. 5. Nach Absatz 3 müssen Zahlungseinstellung, Konkurseröffnung oder -einstellung mangels Masse als objektive Bedingung der Strafbarkeit vorliegen (vgl. § 283 Anm. 4). 6. Bezüglich der Konkurrenzen siehe zunächst § 283 Anm. 6 e, ff und g, ee. § 283 geht als speziellere Vorschrift dem § 283 b vor. § 130 OWiG tritt gemäß § 21 OWiG als subsidiär zurück, wenn Abs. 2 anwendbar ist.
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§ 283 c
Vierundzwanzigster Abschnitt: Konkursstraftaten (Bieneck)
§ 283 c
Gläubigerbegünstigung
(1) Wer in Kenntnis seiner Zahlungsunfähigkeit einem Gläubiger eine Sicherheit oder Befriedigung gewährt, die dieser nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hat, und ihn dadurch absichtlich oder wissentlich vor den übrigen Gläubigem begünstigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) § 283 Abs. 6 gilt entsprechend. 1. Die mit § 241 KO aF weitgehend übereinstimmende, durch das 1. WiKG hier eingestellte Vorschrift enthält einen privilegierten Fall des Beiseiteschaffeiis von Vermögensbestandt eilen (RegE S. 39 BT-Drucks. 7/3441). Wer die nach dem Konkursrecht vorgeschriebene Verteilung der Masse nur zugunsten eines Gläubigers hintertreiben, nicht aber die Gläubigergesamtheit durch Verringerung der Masse schädigen will, soll wegen seines geringeren Verschuldens milder bestraft werden. Abweichend von der früher in § 241 KO getroffenen Regelung ist der Tatbestand jetzt als Erfolgsdelikt aufgebaut. Hieraus ergab sich die Notwendigkeit, in Abs. 2 den Versuch unter Strafe zu stellen. 2. Täter kann, wie bei § 283, nur ein Schuldner (oder ein für ihn nach § 14 verantwortlich Handelnder) sein, für den die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit vorliegen (Abs. 3). Siehe hierzu § 283 Anm. 3 und 4. Kaufmannseigenschaft ist nicht erforderlich. Der Täter muß weiterhin zum Zeitpunkt der Tathandlung zahlungsunfähig sein (siehe hierzu § 283 Anm. 5 b). 3. Die Tathandlung besteht im Begünstigen eines Gläubigers vor den übrigen durch Gewährung einer Sicherheit oder Befriedigung, die dieser nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hat. a) Gläubiger ist, wer vom Täter eine Leistung fordern kann, gleichgültig, ob er Konkursoder Massegläubigur (§§ 3,57 KO), aus- oder absonderungsberechtigt ist (§§ 43,47 KO; RG 40, 112). Auch ein Bürge ist als bedingt berechtigter Gläubiger anzusehen (RG 30, 73). Der sich selbst als Gläubiger begünstigende Schuldner ist jedoch nach § 283 Absatz 1 Nr. 1 zu bestrafen (vgl. § 283 Anm. 6 a, bb). b) Dem Gläubiger wird eine Sicherheit gewährt, wenn ihm der Schuldner eine bevorzugte Rechtsstellung für seine Befriedigung aus dem zur Konkursmasse gehörenden Vermögen verschafft. Das ist z. B. der Fall, wenn der Gläubiger ein Pfandrecht erhält, wenn ihm eine Sache zur Sicherheit übereignet oder für ihn ein Zurückbehaltungsrecht vereinbart wird (Stree in Schönke-Schröder 6 zu § 241 KO aF). Die Verschaffung eines Vollstreckungstitels reicht jedoch noch nicht aus (RG 30,48). c) Befriedigt ist der Gläubiger, wenn er eine Leistung des Schuldners aus seinem zur Konkursmasse gehörigen Vermögen als Erfüllung (§ 362 BGB) oder an Erfüllungs Statt (§ 364 BGB) annimmt. Auch ein Scheinverkauf an den Gläubiger zur Ermöglichung der Aufrechnung (§§ 387 ff. BGB) ist als Befriedigung anzusehen (RG 6,149), nicht dagegen bereits die Hingabe eigener Schecks oder Wechsel erfüllungshalber (RG GA 39, 230).
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Vierundzwanzigster Abschnitt: Konkursstraftaten (Bieneck)
§ 283 c
d) Ein Unterlassen genügt, wenn eine Handlungspflicht besteht, z. B. wenn der Schuldner seiner Konkursantragspflicht nicht nachkommt, um dem Gläubiger noch Pfändungen zu ermöglichen (RG 48, 20). e) Eine Mitwirkung des begünstigten Gläubigers ist nicht erforderlich (Stree in SchönkeSchröder 8 zu § 241 KO aF; a. A. RG 62, 280). Eine Überweisung auf das Konto des Gläubigers ist deshalb bereits dann tatbestandsmäßig, wenn der Betrag dem Konto gutgeschrieben ist, auch wenn der Gläubiger von dem Vorgang noch keine Kenntnis erlangt hat (a. A. Lackner 3 a, der hier nur Versuch annimmt). f) Die Sicherung oder Befriedigung muß von dem abweichen, was dem Gläubiger nach bürgerlichem Recht zum Zeitpunkt der Leistung geschuldet wird (RG 66, 90). Sie muß inkongruent im Sinne des § 30 Nr. 2 KO sein. aa) Eine vom Gläubiger nicht zu beanspruchende Sicherheit oder Befriedigung wird gewährt, wenn dem Schuldner und damit auch dem Konkursverwalter ein Anfechtungsrecht z. B. nach §§ 119 ff. BGB (nicht jedoch nach §§ 29 ff. KO) oder eine dauernde Einrede (z. B. der Verjährung) zusteht oder sonst die Möglichkeit einer Leistungsverweigerung oder Anspruchsbeseitigung gegeben ist. Das Tatbestandsmerkmal ist auch erfüllt, wenn es sich um eine unvollkommene Verbindlichkeit handelt (z. B. § 762 BGB). Eine Forderung muß aber wenigstens vorhanden sein. Geht der Täter bei einem nicht zustande gekommenen oder nichtigen Schuldverhältnis irrtümlich vom Bestehen einer Forderung aus, so liegt eine versuchte Gläubigerbegünstigung vor. bb) Eine nicht in der Art zu beanspruchende Sicherheit oder Befriedigung ist in der Regel bei Hingaben an Erfüllungs Statt oder erfüllungshalber anzunehmen, was beispielsweise für die Tilgung einer Geldschuld durch Kundenwechsel oder -schecks zutrifft (BGH 16, 279), für die Tilgung durch Warenlieferung, Forderungsabtretung, nicht aber für die Banküberweisung (vgl. Böhle-Stamschräder 4 b und c zu § 30 KO). Der Gegenstand der geschuldeten Leistung ist jeweils mit dem tatsächlich Geleisteten zu vergleichen. Bei Wahlschulden nach §§ 262 ff. BGB oder einer Ersetzungsbefugnis des Gläubigers (z. B. § 249 Satz 2 BGB) ist jede vom Gläubiger wählbare Leistung kongruent. Es ist jedoch zu prüfen, ob nicht bereits die Vereinbarung des Wahlrechts inkongruente Sicherung ist (RG 63, 79). Die Befriedigung durch Konkursverzögerung sowie durch Schaffung einer Aufrechnungslage (s. o. Anm. 3 c und d) ist ebenfalls artverschiedene Erfüllung. cc) Nicht zu der Zeit besteht der Anspruch, wenn er noch nicht fällig oder aufschiebend bedingt ist. Wird die Fälligkeit einer bereits bestehenden Forderung später vereinbart, wie beispielsweise bei der nachträglichen Rückzahlungsvereinbarung bezüglich eines Gesellschafterdarlehens, so ist bei der Kongruenzprüfung bereits hier anzusetzen. g) Vollendet ist die Tat - insoweit abweichend von § 241 KO aF - nicht schon, wenn die Begünstigung beabsichtigt ist, sondern erst dann, wenn sie tatsächlich eingetreten ist. Eine spätere Konkursanfechtung ist für die Tatbestandserfüllung unbeachtlich. 4. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich zunächst auf die Zahlungsunfähigkeit und die Inkongruenz der Deckung erstrecken. Bedingter Vorsatz genügt nur bezüglich der inkongruenten Befriedigung (Lackner 5; Stree in Schönke-Schröder 17 zu § 241 KO aF; a. A. BGH bei Herlan GA 1959, 341). Hinsichtlich der Gläubigerbegünstigung ist dagegen in Übereinstimmung mit der Rspr. zu § 241 KO aF erforderlich, daß der Täter absichtlich oder wissentlich handelt. Danach reicht der bedingte Vorsatz nicht
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§ 283 d
Vierundzwanzigster Abschnitt: Konkursstraftaten (Bieneck)
aus, der Täter muß vielmehr die Begünstigung des Gläubigers bestimmt wollen oder zumindest als zwingende Folge seines Handelns hinnehmen, ohne daß es ihm gerade darauf ankommen muß, diesen bestimmten Gläubiger zu bevorzugen, dessen Drängen nach vorzeitiger Sicherung er beispielsweise nur nachgibt. Hinzukommen muß der bestimmte Wille des Täters, die anderen Gläubiger zu benachteiligen. Dies wird zwar in der Regel die notwendige Folge der Begünstigung eines einzelnen Gläubigers sein. Nicht hierher gehört jedoch der Fall, daß der Schuldner hofft, durch seine Begünstigungshandlung weitere Kredite zu erlangen, dadurch die Krise zu überwinden und die übrigen Gläubiger doch noch zu befriedigen (BGH BB 1953, 955). 5. Hinsichtlich Täterschaft und Teilnahme gelten die Ausführungen zu § 283 (siehe dort Anm. 12) entsprechend. Der bevorzugte Gläubiger bleibt unter dem Gesichtspunkt der sog. notwendigen Teilnahme jedenfalls dann straflos, wenn er sich darauf beschränkt hat, die ihm gewährte Sicherheit oder Befriedigung anzunehmen (Lackner 6 m. Nachw.). Dagegen liegt nach st. Rspr. strafbare Anstiftung vor, wenn er von sich aus an den Schuldner mit dem Ansinnen auf bevorzugte Sicherung oder Befriedigung herangetreten ist (RG 65, 417; BGH bei Herlan GA 1967, 265; h. L., vgl. Stree in Schönke-Schröder 19 zu§ 241KOaF). 6. Konkurrenzen: Mehrere Begünstigungshandlungen können in Tateinheit oder in Tatmehrheit stehen. Die Ausführungen zu § 283 (siehe dort Anm. 13) gelten entsprechend. Gegenüber § 283 Abs. 1 Nr. 1 geht § 283 c als die speziellere Vorschrift vor (BGH 8, 55 f.). Tateinheit ist nur möglich, wenn dem bevorzugten Gläubiger höhere Werte zugewendet werden, als ihm zustehen (BGH bei Herlan GA 1953, 76; Lackner 8; Stree in Schönke-Schröder 20 zu § 241 KO aF). Weitere Einzelheiten über das Verhältnis beider Vorschriften, zwischen denen auch Wahlfeststellung zulässig ist, siehe § 283 Anm. 6 a, bb. Tateinheit ist möglich mit § 283 Abs. 1 Nr. 5 und mit § 288.
§ 283 d
Schuldnerbegünstigung
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. in Kenntnis der einem anderen drohenden Zahlungsunfähigkeit oder 2. nach Zahlungseinstellung, in einem Konkursverfahren, in einem gerichtlichen Vergleichsverfahren zur Abwendung des Konkurses oder in einem Verfahren zur Herbeiführung der Entscheidung über die Eröffnung des Konkurs- oder gerichtlichen Vergleichsverfahrens eines anderen Bestandteile des Vermögens eines anderen, die im Falle der Konkurseröffnung zur Konkursmasse gehören, mit dessen Einwilligung oder zu dessen Gunsten beiseite schafft oder verheimlicht oder in einer den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft widersprechenden Weise zerstört, beschädigt oder unbrauchbar macht. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Mona908
Vierundzwanzigster Abschnitt: Konkursstraftaten (Bieneck)
§ 283 d
ten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. aus Gewinnsucht handelt oder 2. wissentlich viele Personen in die Gefahr des Verlustes ihrer dem anderen anvertrauten Vermögenswerte oder in wirtschaftliche Not bringt. (4) Die Tat ist nur dann strafbar, wenn der andere seine Zahlungen eingestellt hat oder über sein Vermögen das Konkursverfahren eröffnet oder der Eröffnungsantrag mangels Masse abgewiesen worden ist. 1. Die durch das 1. WiKG neu gefaßte Vorschrift tritt an die Stelle des früheren § 242 KO. Sie stellt die von einem Dritten zum Nachteil der Gläubigergesamtheit eines in der Krise befindlichen Schuldners begangenen Bankrotthandlungen des § 283 Abs. 1 Nr. 1 unter Strafe, sobald bezüglich des Schuldners die in Abs. 4 näher bezeichneten objektiven Bedingungen der Strafbarkeit eingetreten sind. Die Fassung des Tatbestands weicht erheblich vom früheren § 242 KO ab. So wurden der sog. Konkursbetrug (§ 242 Abs. 1 Nr. 2 KO aF) und die vergleichbare Strafvorschrift des § 122 VerglO (Art. 6 Nr. 2 des 1. WiKG) abgeschafft, da diese Handlungen ohnehin nach § 263 strafbar sind. Geblieben sind die Bankrotthandlungen des § 242 Abs. 1 Nr. 1 KO aF. Der Täter muß jedoch nunmehr die Krise des Schuldners kennen, um rechtsstaatlichen Bedenken gegen das frühere Recht zu begegnen, wonach auch Tathandlungen strafbar waren, deren akute Gefährlichkeit für die Gläubigerinteressen nicht ersichtlich waren (RegE S. 39 BTDrucks. 7/3441). In Anlehnung an § 283 Abs. 1 Nr. 1 wurden zusätzlich die Bankrotthandlungen des Zerstörens, Beschädigens und Unbrauchbarmachens in den Tatbestand aufgenommen. Dementsprechend mußten auch Handlungen mit Einwilligung des Schuldners in den Tatbestand aufgenommen werden, da von einer Zerstörung usw. „zugunsten" des Schuldners nicht die Rede sein kann. 2. Täter kann jeder außer dem Schuldner selbst oder dem für ihn nach § 14 verantwortlichen Organ oder Vertreter sein. Wegen Teilnahme des Schuldners s. u. Anm. 10. 3. Die Tathandlungen des Abs. 1 (Beiseiteschaffen usw.) und die durch die Tat betroffenen Veimögensbestandteile entsprechen denen des § 283 Abs. 1 Nr. 1 (siehe dort Anm. 6 a, aa-dd). 4. Die Tatbestandsalternative mit Einwilligung des Schuldners ist hauptsächlich für die Tathandlungen Zerstören, Beschädigen und Unbrauchbarmachen von praktischer Bedeutung. Zugunsten des Schuldners handelt, wer diesem auf Kosten der Gesamtheit der Gläubiger durch Beiseiteschaffen oder Verheimlichen eines Vermögensbestandteils einen Vermögensvorteil erhalten oder zuwenden will. Ein gleichzeitig verfolgtes Eigeninteresse ist unschädlich, sofern es nicht zur ausschließlichen Motivation wird (BGH bei Herlan GA 1967,265). 5. Zum obj. Tb. des Abs. 1 gehören weiter als Anzeichen für eine Krisensituation des Schuldners die drohende Zahlungsunfähigkeit (Nr. 1) oder der Eintritt der Insolvenz (Nr. 2). Über drohende Zahlungsunfähigkeit siehe § 283 Anm. 5 b, c; über Zahlungseinstellung siehe § 283 Anm. 4 a.
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§ 283 d
Vierundzwanzigster Abschnitt: Konkursstraftaten (Bieneck)
6. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz setzt zunächst die sichere Kenntnis der in Nr. 1 und Nr. 2 bezeichneten Krisensituation voraus. Der damit verbundene Ausschluß des bedingten Vorsatzes beruht auf der Erwägung, daß ein Außenstehender nicht dieselbe Verantwortung für die Befriedigung der Gläubiger hat wie der Schuldner selbst. Sein Wissen um die schlechte wirtschaftliche Lage des Schuldners muß deshalb bestimmter als dessen Wissen sein (RegE S. 39 BT-Drucks. 7/3441; Müller-Emmert/Maier NJW 1976, 1657, 1663; krit. Lackner 4). Der Vorsatz muß sich weiter darauf erstrecken, daß die Tathandlung mit Einwilligung des Schuldners oder zu dessen Gunsten erfolgt (s. o. 4). Insoweit genügt bedingter Vorsatz. Die Verfolgung eines eigennützigen Zwecks schließt den Tb. nur aus, wenn sie die ausschließliche Motivation darstellt (s. o. 4). 7. Ein in Abs. 2 unter Strafe gestellter Versuch liegt z. B. dann vor, wenn der Täter entweder eine Krisensituation des Schuldners oder dessen Einwilligung in die Tathandlung nur irrig annimmt. Zur Abgrenzung von Vollendung und Versuch siehe § 283 Anm. 6 e, ee. 8. Die in Abs. 3 vorgenommene Erhöhung des Strafrahmens für besonders schwere Fälle entspricht der in § 283 a getroffenen Regelung. 9. Wie bei § 283 (siehe dort Anm. 4) ist die Strafbarkeit gemäß Abs. 4 an den Eintritt bestimmter objektiver Strafbarkeitsbedingungen geknüpft, die vom Vorsatz des Täters nicht umfaßt werden müssen. 10. Für die Teilnahme ergeben sich keine Besonderheiten. Auch der Schuldner, der nicht Täter sein kann (s. o. 2), kommt als Anstifter oder Gehilfe in Betracht, da er nicht sog. notwendiger Teilnehmer ist (h. L., vgl. Stree in Schönke-Schröder 11 zu § 242 KO aF). 11. Konkurrenzen: Mehrere Tathandlungen können, je nach Sachlage, in Tateinheit oder Tatmehrheit stehen (vgl. § 283 Anm. 13). Ist der Täter zugleich Teilnehmer an einem Bankrottdelikt des Schuldners nach § 283 Abs. 1 Nr. 1, so geht § 283 d vor. Die nach früherem Recht überwiegend vertretene Ansicht, beide Tatbestände stünden in Tateinheit, ist mit Rücksicht auf die Unrechtsidentität und die Gleichschaltung der Strafdrohungen gegenstandslos geworden (Lackner 7). Die Teilnahme an einer Bankrotthandlung des Schuldners nach § 283 Abs. 1 Nr. 1 erhält jedoch dann selbständige Bedeutung, wenn der Außenstehende ohne die nach § 283 d erforderliche sichere Kenntnis der Krisensituation handelt (RegE S. 39 BT-Drucks. 7/3441).
910
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz (§§ 284-302 a) § 284
Unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels
(1) Wer ohne behördliche Erlaubnis öffentlich ein Glücksspiel veranstaltet oder hält oder die Einrichtungen hierzu bereitstellt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Als öffentlich veranstaltet gelten auch Glücksspiele in Vereinen oder geschlossenen Gesellschaften, in denen Glücksspiele gewohnheitsmäßig veranstaltet werden. 1. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es, die wirtschaftliche Ausbeutung der natürlichen Spielleidenschaft des Publikums unter staatliche Kontrolle und Zügelung zu nehmen (BGH 11, 209). 2. Unter den Begriff Glücksspiel fallen alle Arten von Spielen, bei denen die Teilnehmer aufgrund bestimmter Vereinbarungen („Spielregeln"), die sie untereinander oder mit einem Dritten (Spielhalter, Veranstalter) treffen, durch die Leistung eines Einsatzes die Aussicht auf einen Gewinn erlangen, der weniger von den Fähigkeiten und Erfahrungen des Durchschnittsspielers abhängt, sondern allein oder hauptsächlich vom Zufall (BGH 2, 276; Stgt NJW 1964, 366; Krhe Justiz 1971, 61). Weiter ist erforderlich, daß zur Herbeiführung der Entscheidung über Gewinn oder Verlust bestimmte Einrichtungen (z. B. Würfel, Spielkarten, Lose, ein Roulette, ein Spielautomat) verwendet und die Gewinne aus der Kasse gezahlt werden, in die Einsätze zu leisten sind, wobei unerheblich ist, wer die Kasse verwaltet. An diesen letztgenannten Voraussetzungen fehlt es z. B. bei den sogenannten Kettenbriefen (Stgt aaO.). a) Bejaht wird die Glücksspieleigenschaft z. B. für Poker, Würfeln um Geld (RG 10, 252), Roulette (BGH 2, 276), Sektorenspiel (BVerwG NJW 1960, 1684), Mauscheln (RG 61, 356), „17 und 4", das Kasinospiel (BVerwG NJW 1955, 1451), das Fingerhütchenspiel (Krhe Justiz 1971, 61), Rennwetten (RG 57, 190), Toto und Lotto sowie die meisten Geldspielautomaten, ferner für das sog. amerikanische Roulette (eine in bestimmter Weise ausgestaltete Kettenbriefaktion, die zur Untergruppe der in § 286 erfaßten Lotterie gehört, vgl. Krhe NJW 1972, 1963). b) Verneint wird die Glücksspieleigenschaft vor allem bei Geschicklichkeitsspielen, d. h. bei Spielen, bei denen es ausschließlich oder überwiegend auf die Kenntnisse, Fähigkeiten, Erfahrungen und die Aufmerksamkeit des Spielers ankommt, z. B. bei Schach, Billard, Skat, Doppelkopf, ferner bei Wetten, deren Zweck in der Austragung eines echten Meinungsstreits besteht, während das Glücksspiel aus Unterhaltungs- oder Gewinnsucht betrieben wird (RG 6,425); ferner bei sogenannten Kettenbriefen (Stgt NJW 1964, 365). c) Eine besondere Erscheinungsform des Glücksspiels ist die in § 286 besonders geregelte Lotterie. 3. Öffentlich ist ein Glücksspiel, wenn für einen größeren, individuell nicht abgegrenzten Personenkreis die Möglichkeit der Beteiligung besteht (Krhe Justiz 1971, 61). Hieran 911
§ 284
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz
fehlt es, wenn die Spieler eindeutig zu erkennen geben, daß sie unter sich bleiben wollen, oder wenn nach Eintritt der Polizeistunde zufällig zurückgebliebene Gäste in einer verschlossenen Wirtschaft spielen (vgl. Ddf GA 1968, 88). Auf die Öffentlichkeit des Orts kommt es nicht an. Nicht jedes in der Öffentlichkeit, z. B. in einer Gastwirtschaft oder einem Eisenbahnabteil, betriebene Glücksspiel ist öffentlich (RG 64, 45; Krhe aaO.). Dem öffentlichen Glücksspiel gleichgestellt sind gemäß Abs. 2 Glücksspiele in Vereinen oder geschlossenen Gesellschaften, in denen Glücksspiele gewohnheitsmäßig veranstaltet werden. Gewohnheitsmäßig handelt, wer einen durch Übung erlangten Hang besitzt, der so tief eingewurzelt ist, daß der Täter bei weiteren Tathandlungen keine sittlichen Bedenken mehr überwinden muß (vgl. BGH 15, 377,380). 4. Als Tathandlungen sieht § 284 drei Möglichkeiten vor: a) Ein Glücksspiel veranstaltet, wer dem Publikum Gelegenheit dazu gibt. Erfüllt ist der Tb. erst, wenn tatsächlich gespielt wird. Daß der Veranstalter selbst mitspielt, ist nicht erforderlich. b) Ein Glücksspiel hält, wer als Unternehmer die Spieleinrichtung zur Verfügung stellt. Auch hier tritt Strafbarkeit erst ein, wenn tatsächlich gespielt wird. Ein Unterschied zum „Veranstalten" besteht praktisch nicht. c) Das Bereitstellen von Einrichtungen ist eine selbständig unter Strafe gestellte Vorbereitungshandlung. Zu den Einrichtungen gehören nicht nur die eigentlichen Spielgeräte (z. B. Würfel, Spielkarten), sondern auch die Räume, in denen gespielt werden soll, die Stühle und die Tische (RG 56, 117,246; Dreher 10; a. A. Welzel 390). Bereitgestellt sind die Einrichtungen, wenn sie den Spielern zur Verfügung gestellt sind. Daß tatsächlich gespielt wird, ist hier nicht erforderlich. Beispiel: Ein Gastwirt weist den Spielern, um kein Aufsehen zu erregen, sein Nebenzimmer zu und kümmert sich dann um nichts mehr. 5. Die behördliche Erlaubnis schließt bereits die Tatbestandsmäßigkeit aus. Zu beachten sind hierbei vor allem die landesrechtlichen Bestimmungen über Toto und Lotto sowie das Rennwett- und LotterieG vom 8. 4. 1922 (RGBl. 393), zuletzt geändert durch ÄndG vom 25. 6. 1969 (BGBl. 1645, 672). Bei Spielautomaten muß die Erlaubnis der Ortspolizeibehörde für jedes einzelne Gerät vorliegen (vgl. § 33 d GewO). Wegen Spielhallen siehe § 33 i GewO, wegen Spielbanken das Ges. vom 14. 7. 1933 (RGBl. I 840) mit seinen Änderungen vom 23. 3. 1934 (RGBl. I 213), 27. 7. 1938 (RGBl. I 955) und 31. 1. 1944 (RGBl. 160) und den in der Nachkriegszeit ergangenen landesrechtlichen Sonderregelungen. 6. Der subjektiv erforderliche Vorsatz muß alle Merkmale des obj. Tb. umfassen. Der Vorsatz entfällt daher, wenn z. B. ein Gastwirt nicht erkennt, daß seine Gäste, die zuerst Skat gespielt haben, inzwischen zum Pokern übergegangen sind, oder wenn die Spieler ein Spiel betreiben, dessen Glücksspielcharakter der Wirt nicht kennt. Der Vorsatz bleibt dagegen bestehen, wenn der Täter alle Tatumstände kennt, aber irrig glaubt, das Spiel sei trotzdem kein Glücksspiel, zumindest kein genehmigungspflichtiges. Kein Tatbestands-, sondern Verbotsirrtum liegt femer vor, wenn der Täter über die Notwendigkeit einer behördlichen Erlaubnis irrt (h. L., vgl. Lackner 6). 7. Tateinheit ist mit § 284 a möglich (RG 62, 172), ferner mit §§ 146 ff., 263. Wegen Einziehung siehe § 285 b. Ergänzend beachte § 7 JgdSchG. 912
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz § 284 a
§ 286
Beteiligung am unerlaubten Glücksspiel
Wer sich an einem öffentlichen Glücksspiel (§ 284) beteiligt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen bestraft. Während sich § 284 gegen die Veranstalter richtet, bestraft § 284 a die Spieler. Spieler ist jeder, der an dem Spiel mit Gewinn- und Verlustaussichten teilnimmt. Dies kann u. U. auch der Veranstalter selbst sein. Im übrigen gelten die Ausführungen zu § 284 entsprechend.
§§ 285, 285 a
§ 285 b
[aufgehoben durch das EGStGB]
Einziehung
In den Fällen der §§ 284 und 284 a werden die Spieleinrichtungen und das auf dem Spieltisch oder in der Bank vorgefundene Geld eingezogen, wenn sie dem Täter oder Teilnehmer zur Zeit der Entscheidung gehören. Andernfalls können die Gegenstände eingezogen werden; § 74 a ist anzuwenden. 1. Die durch das EGOWiG 1968 neu eingefügte Vorschrift läßt über den Anwendungsbereich des § 74 hinaus auch die Einziehung der Spieleinrichtungen (§ 284 Anm 4 c) und des Spielgelds zu. 2. Bei täterfremden Spieleinrichtungen und Geldern ist die Einziehung nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 (Gefahr weiterer Straftaten) oder des § 74 a zulässig (vgl. S. 2 i. V. mit § 74 Abs. 4).
§ 286
Unerlaubte Veranstaltung einer Lotterie und einer Ausspielung
(1) Wer ohne behördliche Erlaubnis öffentliche Lotterien veranstaltet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) D e n Lotterien sind öffentlich veranstaltete Ausspielungen beweglicher oder unbeweglicher Sachen gleichzuachten. 1. Eine Lotterie ist eine besondere Art des Glücksspiels. Ihre Besonderheit besteht darin, daß die Spieler Lose kaufen, die ihnen nach einem bestimmten Spielplan die Aussicht auf einen Geldgewinn geben. Wie beim eigentlichen Glücksspiel entscheidet auch bei der Lotterie der Zufall über Gewinn oder Verlust. 913
§ 286
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz
Unerheblich ist, ob die „Spieler" die Lose unmittelbar kaufen oder ob sie eine Ware, z. B. einen Anzug oder einen Teppich kaufen, dem „gratis" ein Los beiliegt. Da der Preis für das „Gratislos" regelmäßig im Preis der Ware einkalkuliert ist, zahlt der Kunde in diesen Fällen neben der Ware zugleich auch den Preis für die Zugabe (vgl. RG 60, 128, 386; 65, 194, 198; Maurach BT 360). - Schrifttum: Lampe, Strafrechtliche Probleme der „progressiven Kundenwerbung", GA 1977, 33; - Klenk, Der Lotteriebegriff in straf- und steuerrechtlicher Sicht, GA 1976, 361. 2. Die Ausspielung (Abs. 2) unterscheidet sich von der Lotterie nur dadurch, daß nicht Geld, sondern andere Gegenstände ausgespielt werden. Ein typisches Beispiel einer Ausspielung ist die Tombola. Versteckte Formen der Ausspielung finden sich in der „modernen" Kundenwerbung, z. B. beim Verkauf von Waren nach dem sog. Schneeballsystem (vgl. BGH 2, 79, 139) und beim sog. amerikanischen Roulette (in bestimmter Weise ausgestaltete Kettenbriefaktion, vgl. Krhe NJW 1972, 1963). Eine Ausspielung veranstaltet auch der Unternehmer eines Geschicklichkeitsspiels oder eines behördlich genehmigten Glücksspiels, der zur Anregung der Spielleidenschaft (und zur Erhöhung seines Umsatzes!) für die erfolgreichsten Spieler Preise aussetzt (BGH 9, 39). Nicht hierher gehört dagegen die Verteilung von Gratislosen, die nur zum unentgeltlichen Besuch einer Werbeveranstaltung einladen, nach deren Abschluß dann die Gewinne verteilt werden. Hier fehlt es am erforderlichen Einsatz. 3. Die Strafdrohung richtet sich nur gegen den Veranstalter, nicht auch gegen die Spieler. Veranstalter ist, wer das Unternehmen auf eigene Rechnung und im eigenen Namen betreibt. Die Hilfskräfte (Losverkäufer u. a.) können bei entsprechendem Vorsatz wegen Beihilfe belangt werden. Die Spieler selbst bleiben als notwendig Beteiligte straflos, jedoch ist zu beachten, daß nach Landesrecht die Beteiligung an Lotterien und Ausspielungen außerhalb des Landes untersagt werden kann (vgl. Dreher 1 m. Nachw.). 4. Öffentlich ist die Veranstaltung, wenn sich jeder daran beteiligen kann, z. B. Verlosungen auf Straßen, Plätzen, Jahrmärkten. Nicht hierher gehören private Veranstaltungen, z. B. die Weihnachtstombola eines Sportvereins, die nur den Vereinsmitgliedern und ihren Angehörigen offensteht. 5. Wegen der behördlichen Erlaubnis siehe § 284 Anm. 5. Ergänzend sei lediglich bemerkt, daß die behördliche Erlaubnis den Tb. nur dann ausschließt, wenn der Veranstalter sich an den genehmigten Ausspielungsplan hält (BGH 8, 289). Die Zuständigkeit zur Erteilung der Erlaubnis ist in der LotterieVO vom 6. 3. 1937 (RGBl. I 283) und den einschlägigen Landesgesetzen geregelt. 6. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. § 284 Anm. 6 gilt entsprechend. 7. Tateinheit ist möglich mit Betrug sowie §§17, 23 Rennwett- und LotterieG, § 4 UWG, § 3 ZugabeVO. Gegenüber § 284 geht § 286 als das speziellere Gesetz vor (vgl. Krhe NJW 1972, 1963; Dreher 15).
§ 287 914
[aufgehoben]
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz
§ 288
§ 288
Vereiteln der Zwangsvollstreckung
(1) Wer bei einer ihm drohenden Zwangsvollstreckung in der Absicht, die Befriedigung des Gläubigers zu vereiteln, Bestandteile seines Vermögens veräußert oder beiseite schafft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Voischrift dient dem Schutz des Gläubigers bei Einzelzwangsvollstreckung. Kommt es zum Konkurs, so sind die §§ 283 ff. zu beachten. 2. Zwangsvollstreckung ist jede zwangsweise Durchsetzung eines Anspruchs durch das zuständige Vollstreckungsorgan (z.B. Gerichtsvollzieher, Verwaltungsbehörde). Unerheblich ist, ob die Zwangsvollstreckung durch eine Privatperson oder durch eine Behörde (Finanzamt, Ortskrankenkasse usw.) betrieben wird. 3. Die Zwangsvollstreckung droht, wenn sie nahe bevorsteht. Nicht erforderlich ist, daß der Gläubiger bereits einen vollstreckbaren Titel besitzt. Andererseits wird § 288 nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Zwangsvollstreckung bereits eingeleitet, aber noch nicht abgeschlossen ist. Ist bereits gepfändet worden, so kommt Tateinheit mit § 136 Abs. 1 in Betracht. 4. Der Zwangsvollstreckung muß ein durchsetzbarer Anspruch des Gläubigers zugrundeliegen. Diese Voraussetzungen fehlen z. B. bei nichtigen, anfechtbaren oder verjährten Ansprüchen. § 288 entfällt auch, wenn die Zwangsvollstreckung aus einem vorläufig vollstreckbaren, später aber wieder aufgehobenen Titel droht. 5. Bestandteil des Vermögens sind alle Rechte und Sachen, die der Vollstreckung unterliegen, z. B. auch der Besitz des Schuldners, wenn die drohende Vollstreckung gerade darauf abzielt, dem Gläubiger den Besitz der Sache zu verschaffen (BGH 16, 330). Unpfändbare Sachen unterliegen nur dann dem Schutz des § 288, wenn der Gläubiger ihre Herausgabe verlangen kann, z. B. wenn der Verkäufer eines unter Eigentumsvorbehalt gekauften Schlafzimmers seine Eigentümerrechte geltend macht, weil die Raten nicht bezahlt werden. 6. Die Tathandlung besteht im Veräußern oder Beiseiteschaffen. a) Veräußerung ist jede Verfügung, die den Zugriff des Gläubigers auf den Vermögenswert verhindert oder erschwert, ohne daß ein sofort greifbarer Gegenwert zur Verfügung steht. In Betracht kommen vor allem Ubereignung, Verpfändung und Belastung, ferner Abtretung und Erlaß einer Forderung, nicht dagegen Vermietung, Verpachtung, Verkauf ohne gleichzeitige Übereignung. Beim Tausch kommt es darauf an, welches Ziel der Gläubiger mit der Vollstreckung verfolgt. Geht es ihm gerade um den Besitz der vertauschten Sache (z. B. wenn er auf Herausgabe eines bestimmten Rings klagt), so sind die Voraussetzungen des § 288 auch in diesem Fall gegeben; anders jedoch bei Vollstreckung einer Geldforderung.
915
§ 289
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz
b) Beiseitegeschafft ist eine Sache, wenn sie rein tatsächlich dem Zugriff des Gläubigers entzogen wird, z. B. durch Vernichten, Verstecken, aber auch durch vorzeitige Einziehung einer Forderung. 7. Subjektiv ist neben dem Vorsatz die Absicht erforderlich, die Befriedigung des Gläubigers zu vereiteln. a) Zum Vorsatz gehört das Bewußtsein, daß eine Zwangsvollstreckung droht und daß der Gläubiger eine durchsetzbare Forderung hat. Der Vorsatz entfällt z. B., wenn der Schuldner eine Sache veräußert, von der er irrig annimmt, sie unterliege, da unpfändbar, nicht der Zwangsvollstreckung. b) Unter Absicht ist der direkte Vorsatz zu .verstehen. Es genügt also, wenn der Täter die Benachteiligung des Gläubigers als notwendige Folge seines Handelns erkennt. 8. Nicht rechtswidrig ist die Handlung, wenn der Schuldner einen anderen Gläubiger befriedigt, der einen fälligen Anspruch auf Befriedigung hat (Fälle der sog. kongruenten Deckung). 9. Prozessual ist zu beachten, daß die Tat nur auf Antrag des Gläubigers verfolgt wird. 10. Beispiel: A hat bei B ein Radio unter Eigentumsvorbehalt gekauft. Da er die Raten nicht bezahlt, läßt B das Radio durch den Gerichtsvollzieher pfänden. Wenn A nunmehr die Siegelmarke entfernt und das Radio an X verkauft, so verletzt er zunächst die durch § 136 Abs. 1 und 2 geschützten Interessen der staatlichen Autorität, ferner die durch §§ 246, 288 geschützten Rechte seines Gläubigers; schließlich begeht er noch einen Betrug (§ 263) zum Nachteil des X (vgl. § 263 Anm. V 2). Alle Tatbestände stehen in Tateinheit (vgl. BGH GA 1965,309).
§ 289
Piandkehr
(1) Wer seine eigene bewegliche Sache oder eine fremde bewegliche Sache zugunsten des Eigentümers derselben dem Nutznießer, Pfandgläubiger oder demjenigen, welchem an der Sache ein Gebrauchs- oder Zurückbehaltungsrecht zusteht, in rechtswidriger Absicht wegnimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) D e r Versuch ist strafbar. (3) D i e Tat wird nur auf Antrag verfolgt. 1. Die durch das EGStGB teilweise neu gefaßte Vorschrift schützt Nutznießungs-, Pfand-, Gebrauchs- und Zurückbehaltüngsrechte. a) Zu den Nutznießungsrechten gehören z. B. die Nießbrauchsrechte der §§ 1030 ff. BGB und die Rechte der Eltern am Kindesvermögen (§ 1649 Abs. 2 BGB). b) Zu den Pfandrechten gehören nicht nur die vertraglichen (§§ 1204 ff. BGB), sondern auch die gesetzlichen, z. B. das Pfandrecht des Vermieters (§ 559 BGB), des Ver916
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz
§ 290
Pächters (§§ 581, 585 BGB), des Pächters (§ 590 BGB), des Unternehmers (§647 BGB), des Gastwirts (§ 704 BGB), des Kommissionärs (§ 397 HGB), des Spediteurs (§ 410 HGB) und des Lagerhalters (§ 421 HGB). c) Zu den Gebrauchsrechten gehören vor allem die Rechte des Mieters, des Pächters und des Entleihers. d) Zurückbehaltüngsrechte ergeben sich z. B. aus § 273 BGB und § 369 HGB. Ein Zurückbehaltungsrecht hat auch der Finder gegenüber dem Eigentümer (§ 972 BGB) sowie ganz allgemein der Besitzer gegenüber dem Eigentümer, soweit dieser ihm gewisse Aufwendungen zu ersetzen hat (§ 1000 BGB). 2. Als Wegnahme ist hier - anders als beim Diebstahl - jede Handlung zu verstehen, durch die die Sache dem Machtbereich des Berechtigten entzogen wird. Ein Gewahrsamsbruch ist nicht unbedingt erforderlich. Strafbar macht sich daher auch der Mieter, der unter Hinterlassung von Mietschulden unter Mitnahme seiner ganzen Habe heimlich „rückt" und auf diese Weise das Pfandrecht des Vermieters in Frage stellt (RG 38, 174; h. L., vgl. Schäfer LK 8 ff.; a. A. Eser in Schönke-Schröder 8). § 289 entfällt in diesem Fall nur, wenn keine pfändbaren Sachen vorhanden sind. Nicht hierher gehören Zerstörung und Beschädigung. 3. Täter kann der Eigentümer sein oder ein Dritter, der die Sache zugunsten des Eigentümers wegnimmt. 4. Der subjektive Tb. erfordert rechtswidrige Absicht. Unter Absicht ist der direkte Vorsatz zu verstehen. Es genügt, wenn der Täter als erwünschte oder notwendige Folge seines Handelns erkennt, daß die Rechte des Gläubigers beeinträchtigt werden. Hinsichtlich der Rechtswidrigkeit der Wegnahme genügt wie beim Diebstahl bedingter Vorsatz (vgl. Braunschweig NJW 1961,1274). 5. Tateinheit ist möglich mit §§ 136 Abs. 1 (vgl. Schäfer LK 4, Str.), 223, 240, 253, 263. 6. Der früher in Abs. 4 enthaltene persönliche Strafausschließungsgrund für Ehegatten und Angehörige aufsteigender Linie wurde durch das EGStGB in Angleichung an die entsprechende Neuregelung des § 247 (siehe dort Anm. 1) ersatzlos gestrichen. 7. Abschließendes Beispiel: A will die von ihm an B vermietete Schreibmaschine an X verkaufen. Da B sich unter Berufung auf den Mietvertrag weigert, die Maschine herauszugeben, nimmt A sie ihm mit Gewalt weg. Hier kommt neben § 289 in IdK. räuberische Erpressung (§ 255) in Betracht (vgl. RG 25,435, str.).
§ 290
Unbefugter Gebrauch von Pfandsachen
öffentliche Pfandleiher, welche die von ihnen in Pfand genommenen Gegenstände unbefugt in Gebrauch nehmen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. 917
§ 292
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz
Die Vorschrift ergänzt den Tb. der Unterschlagung (§ 246). Ist dieser gegeben, so tritt § 290 als subsidiär zurück (vgl. RG 15, 147; h. L.). - Öffentlich sind alle Pfandleiher, die ein allgemein zugängliches Pfandleihgeschäft betreiben.
§ 291
[aufgehoben]
§ 292
Jagdwilderei
(1) Wer unter Verletzung fremden Jagdrechts dem Wilde nachstellt, es fängt, erlegt oder sich zueignet oder eine Sache, die dem Jagdrecht unterliegt, sich zueignet, beschädigt oder zerstört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) In besonders schweren Fällen, insbesondere wenn die Tat in der Schonzeit, unter Anwendung von Schlingen oder in weidmännischer Weise oder von mehreren mit Schußwaffen Tätern gemeinsam begangen wird, ist auf Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren zu erkennen.
zur Nachtzeit, anderer nicht ausgerüsteten drei Monaten
(3) Wer die Tat gewerbs- oder gewohnheitsmäßig begeht, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in besonders schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. 1. Das Jagdrecht umfaßt gemäß § 1 BJagdG drei hauptsächliche Funktionen: das Hegerecht, das Jagdausübungsrecht und das Aneignungsrecht. a) Das Hegerecht ist die ausschließliche Befugnis, wildlebende jagdbare Tiere in einem bestimmten Bezirk zu hegen. b) Das Jagdausübungsrecht erstreckt sich auf das Aufsuchen, Nachstellen, Erlegen und Fangen jagdbarer Tiere. c) Das Aneignungsrecht erstreckt sich zunächst auf die eigentliche Jagdbeute; außerdem umfaßt es die ausschließliche Befugnis, krankes oder verendetes Wild, Fallwild und Abwurfstangen sowie die Eier jagdbaren Federwilds sich anzueignen. 2. Von diesen drei Rechten sind durch § 292 geschützt: a) das Jagdausübungsrecht mit Ausnahme des Rechts, jagdbares Wild aufzusuchen. b) das Aneignungsrecht. 3. Wild sind wildlebende, jagdbare Tiere. Die jagdbaren Tiere sind in § 2 BJagdG aufgezählt. Nicht hierher gehören solche Tiere, an denen jemand Eigentum erworben hat, nämlich Tiere in Tiergärten, gezähmte Tiere und gefangene wilde Tiere. Siehe hierzu ausführlich § 242 Anm. IV 6 a. Nicht hierher gehören ferner, da nicht mehr wildlebend, die von einem Wilderer gefangenen Tiere (siehe aber Anm. 4 am Ende). 918
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz
§ 292
4. Die Tathandlung der 1. Alt. richtet sich entsprechend den Ausführungen unter Anm. 1, 2 gegen das Jagdausübungsrecht. Sie besteht im Nachstellen, Erlegen, Fangen oder Aneignen von Wild. Das Nachstellen bereitet die übrigen Handlungen vor. Ausreichend ist bereits, wenn der Täter das Gebiet mit gebrauchsbereiter Waffe durchstreift oder Schlingen legt. Eine Zueignungsabsicht ist hier ebenso wie beim Fangen und Erlegen nicht erforderlich. Der Begriff des Aneignens entspricht dagegen dem Begriff der Zueignung bei Diebstahl und Unterschlagung. Die Tathandlung der 2. Alt. richtet sich gegen das Aneignungsrecht an Fallwild, Abwurfstangen usw. (s. o. Anm. 1 c). Sie besteht im Zueignen, Beschädigen oder Zerstören. Eine Zueignung in diesem Sinn liegt auch dann vor, wenn der Täter für sich selbst keinen Vorteil erstrebt, z. B. wenn ein Jagdgast ein von ihm getroffenes Wild, das in das Nachbarrevier geflüchtet und dort verendet ist, zurückholt und dem Jagdveranstalter übergibt (vgl. Hamm NJW 1956, 881). Die sehr umstrittene Frage, ob ein Vergehen gemäß § 292, 2. Alt. auch dann noch möglich ist, wenn ein Unberechtigter (z. B. Wilderer) an dem Wild oder an einer anderen dem Jagdrecht unterliegenden Sache Besitz erlangt hat, wird heute überwiegend bejaht mit der Begründung, daß die Vorschrift schlechthin das Aneignungsrecht des Jagdberechtigten schützt (vgl. BayObLG NJW 1955, 32; Eser in Schönke-Schröder 17; Furtner JR 1962, 414; Schäfer LK 36 m. weit. Nachw.; zw.). 5. Ob eine Verletzung fremden Jagdrechts vorliegt, richtet sich bei der Jagd auf lebendes Wild (§ 292, 1. Alt.) immer nach dem Standort des Wilds, nicht nach dem Standort des Jägers. Schießt dieser von fremdem Bezirk aus auf ein Wild im eigenen Revier, so kommt nur eine OWi nach § 39 Abs. 2 Nr. 6 BJagdG in Betracht. Bei Verstößen gegen die 2. Alt. des Tb. kommt es dagegen auf den Tatort nicht an. Das Aneignungsrecht des Jagdberechtigten kann auch dadurch verletzt werden, daß jemand einem Wilderer das erlegte oder gefangene Reh in dessen Wohnung abnimmt (s. o. 4). Keine Verletzung fremden Jagdrechts liegt vor, wenn jemand als Jagdgast an einer Jagd teilnimmt (es sei denn, daß er seine Rechte überschreitet) oder wenn jemand bei vereinbarter Wildfolge das angeschossene Wild über die Reviergrenze verfolgt. In diesen Fällen entfällt bereits der Tatbestand. Dasselbe gilt, wenn jemand in seinem eigenen, befriedeten Besitztum der Jagd nachgeht. Hier ruht nämlich die Jagd (vgl. § 6 BJagdG), so daß nur eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 39 BJagdG in Betracht kommt. 6. Die Rechtswidrigkeit kann vor allem durch § 228 BGB entfallen, z. B. wenn ein Landwirt Raubwild tötet, das ihn selbst oder seine Hühner angreift und sich nicht verscheuchen läßt. Aneignen darf der Landwirt sich das Wild aber auch in diesem Fall nicht. 7. Der subjektive Tatbestand erfordert Vorsatz. Der Täter muß wissen, daß er durch das Nachstellen usw. ein fremdes Jagdausübungs- oder Aneignungsrecht verletzt. Ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum liegt z. B. vor, wenn sich der Täter über die Reviergrenze irrt, oder wenn ein Jagdgast irrig glaubt, der Jagdpächter habe mit seinem Nachbarn Wildfolge vereinbart, oder wenn sich ein Jagdgast über den Umfang seiner Rechte irrt. Ein Tatbestandsirrtum liegt schließlich auch dann vor, wenn jemand nicht weiß, daß auch Abwurfstangen, Fallwild usw. dem Aneignungsrecht des Jagdberechtigten unterliegen. Hierher gehört auch der Fall, daß ein Autofahrer einen unterwegs angefahrenen Hasen mitnimmt, ohne zu wissen, daß dieser nach wie vor dem Aneignungsrecht des Jagdberechtigten unterliegt (vgl. Dreher 20; Welzel 363). Bedingter Vorsatz genügt in jeder Hinsicht, nicht dagegen Fahrlässigkeit. 919
§ 292
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz
7 a. Schwierigkeiten treten auf, wenn der Täter sich hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse in einem Irrtum befindet. Beispiel: A entwendet aus dem Gehege des B ein von diesem gewildertes Reh. Weiß A von der Wilderei des B nichts, so liegt ein strafbarer Diebstahlsversuch am untauglichen Objekt vor (vgl. RG 39, 427; Dreher 20; Schäfer LK 75; a. A. Welzel 363: vollendete Wilderei, da das gewilderte Reh nach wie vor dem Aneignungsrecht des Jagdausübungsberechtigten unterliegt und der fehlende Vorsatz, fremdes Aneignungsrecht zu verletzen, ersetzt wird durch den weitergehenden Vorsatz, fremde Eigentumsrechte zu verletzen). Nimmt der Täter umgekehrt an, das Wild sei noch herrenlos, während es in Wirklichkeit vom Jagdberechtigten bereits in Besitz genommen worden ist, so liegt ein untauglicher Versuch der Wilderei vor, der jedoch als solcher nicht mit Strafe bedroht ist (vgl. Dreher 20; a. A. Welzel 363: Der Vorsatz, fremdes Aneignungsrecht zu verletzen, reicht auch für eine Bestrafung wegen Diebstahls oder Unterschlagung aus). Beispiel: A nimmt einen Hasen aus der Schlinge, von der er irrig annimmt, sie sei von einem Wilderer gelegt, während sie von dem Jagdpächter selbst gelegt worden ist. Anders zu beurteilen sind nur die Fälle, in denen der Täter einem Tier nachstellt. Da die Tb.-Alt. „dem Wilde nachstellen" zu den sog. unechten Unternehmensdelikten gehört (vgl. Schäfer LK 42), der Versuch also der Vollendung gleichgestellt ist (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 6), sind auch die Fälle des untauglichen Versuchs tatbestandsmäßig. Wegen (vollendeter) Wilderei nach § 292 strafbar ist deshalb auch, wer z. B. ein soeben aus einem Privatgehege entlaufenes, noch in fremdem Eigentum stehendes Reh verfolgt (vgl. Dreher 20; Lackner 4; Löbbecke MDR 1974, 119, 121; Schäfer LK 73). Ob er das Reh schließlich erlegt und sich zueignet, ist dabei unerheblich; tatbestandsmäßig ist schon das Nachstellen als solches, ohne Rücksicht auf den Erfolg. Die Ausdehnung dieser Grundsätze auch auf die Fälle, in denen der Täter ein ohne sein Wissen soeben aus einem Privatgehege entlaufenes Reh erlegt, ohne ihm vorher nachgestellt zu haben (seltener Ausnahmefall), dürfte jedoch eine unzulässige Analogie darstellen (so allerdings Schäfer LK 75; Waider GA 1962,177,183). 8. Für besonders schwere Fälle sieht Abs. 2 eine erhöhte Strafdrohung vor. Sind die im Gesetz beispielhaft aufgezählten Fälle (zur Nachtzeit, mit Schlingen usw.) gegeben, so kommt Abs. 2 auch dann zur Anwendung, wenn die Tat sonst keine besonders schwerwiegenden Umstände aufweist (BGH 5, 211). Wegen der Schonzeiten siehe § 2 2 BJagdG sowie die VO vom 7. 4. 1961 (BGBl. I 411). Bei Fallwild kann es natürlich auf die Schonzeit nicht ankommen. Kennt der Täter die Schonzeit nicht, so kommt nur Abs. 1 in Betracht (§ 16). Nicht weidmännisch ist die Jagdausübung, wenn sie eine empfindliche Schädigung des Wildbestands bedeutet oder geeignet ist, dem Wild besondere Qualen zuzufügen (vgl. BayObLG NJW 1960, 446). Die gleichzeitig vorliegende Tierquälerei wird in diesem Fall konsumiert (BayObLG NJW 1957,720). 9. Wegen Gewerbsmäßigkeit siehe § 260 Anm. 2, wegen Gewolroheitsmäßigkeit § 284 Anm. 3. Die tatbestandsmäßigen Erschwerungsgründe des Abs. 2 (Tat zur Nachtzeit usw.) machen eine gewerbs- oder gewohnheitsmäßig begangene Wilderei nicht notwendig auch zu einem besonders schweren Fall i. S. von Abs. 3 (BGH 22,44). 10. Ergänzend beachte §§ 3 8 - 4 2 BJagdG. - Siehe auch §§ 294, 295 (Strafantrag, Einziehung).
920
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz
§ 293
§§ 293, 294
Fischwilderei
(1) Wer unter Verletzung fremden Fischereirechts fischt oder eine Sache, die dem Fischereirecht unterliegt, sich zueignet, beschädigt oder zerstört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder auf Geldstrafe zu erkennen. Ein besonders schwerer Fall liegt namentlich vor, wenn die Tat zur Nachtzeit, in der Schonzeit, durch Anwendung von Sprengstoffen oder schädlichen Stoffen begangen oder wenn der Fischbestand eines Gewässers durch den Fang von Fischen gefährdet wird, die das für die Ausübung des Fischfangs festgesetzte Mindestmaß noch nicht erreicht haben. (3) Wer die Tat gewerbs- oder gewohnheitsmäßig begeht, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Die Vorschrift entspricht aufbaumäßig in allen Einzelheiten der Jagdwilderei. Auf die Ausführungen zu § 292 kann daher verwiesen werden. Hervorzuheben sind nur folgende, für die Praxis besonders wichtige Punkte: 1. Wer in Privatteichen fischt, ist nicht gemäß § 293, sondern wegen Diebstahls zu bestrafen. Etwaige Irrtümer über die Eigentumsverhältnisse sind nach den unter § 292 Anm. 7 a entwickelten Grundsätzen zu behandeln. 2. Das Tatbestandsmerkmal „Fischen" entspricht dem „Nachstellen" in § 292. Es ist also nicht erforderlich, daß bereits ein bestimmter Erfolg eintritt. 3. Tatobjekt müssen nicht unbedingt Fische sein. Auch Krebse, Austern und ähnliche Wassertiere gehören hierher. 4. Unter die 2. Alt. des Tb. fallen z. B. tote Fische, Muschelschalen, Seemoos. 5. Zu Abs. 3 siehe § 292 Anm. 9. - Siehe auch §§ 294,295 (Strafantrag, Einziehung).
§ 294
Strafantrag
In den Fällen des § 292 Abs. 1 und des § 293 Abs. 1 wird die Tat nur auf Antrag des Verletzten verfolgt, wenn sie von einem Angehörigen oder an einem Ort begangen worden ist, wo der Täter die Jagd oder die Fischerei in beschränktem Umfang ausüben durfte. 1. Privilegiert sind nur Angehörige (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 1) sowie beschränkt zur Jagd bzw. Fischerei Befugte, z. B. ein Jagdgast, der mehr schießt, als er darf. 2. Die schweren Fälle der Wilderei (§§ 292 Abs. 2 und 3, 293 Abs. 2 und 3) sind auch ohne Antrag von Amts wegen zu verfolgen. 921
§§ 295-296 a § 295
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz
Einziehung
Jagd- und Fischereigeräte, Hunde und andere Tiere, die der Täter oder Teilnehmer bei der Tat mit sich geführt oder verwendet hat, können eingezogen werden. § 7 4 a ist anzuwenden. 1. Die durch das EGOWiG 1968 neu gefaßte Vorschrift gibt die Möglichkeit, auch täterfremde Jagdgeräte usw. einzuziehen, wenn die Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 2 (vgl. § 74 Abs. 4) oder des § 74 a vorliegen. Die Einziehung steht grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Von der Einziehung wird vor allem dann abzusehen sein, wenn die Gefahr weiterer Straftaten nicht besteht und die Einziehung außer Verhältnis zu der begangenen Tat stehen würde. 2. Zu den Jagd- und Fischereigeräten gehören insbesondere Gewehre, Ferngläser, Schlingen und Fallen, femer Fischkästen, Netze und Angeln. 3. Die Jagdbeute fällt nicht unter § 295; sie kann auch nicht nach § 74 eingezogen werden, da es sich insoweit weder um Tatwerkzeuge noch um Taterzeugnisse handelt. Die Jagdbeute ist grundsätzlich dem durch die Tat geschädigten Jagdberechtigten auszuliefern. Läßt dieser sich nicht ermitteln, so kommt eine Einziehung nach § 40 Abs. 1 Nr. 2 BJagdG in Betracht, wonach auch die sog. Beziehungsgegenstände eingezogen werden können. 4. Die Entziehung des Jagdscheins ist nach § 41 BJagdG zulässig. 5. Nicht einheitlich beurteilt werden kann die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Kraftwagen als Jagdgerät anzusehen ist. Die Frage ist z. B. zu bejahen, wenn die Scheinwerfer des Fahrzeugs zum Blenden des Wildes verwendet werden (BGH 19, 124), oder wenn der Täter an die Batterie einen Handscheinwerfer anschließt, um so das Wild zu suchen oder zu blenden (BayObLG MDR 1959, 59). § 295 ist dagegen abzulehnen, wenn der Täter den Wagen nur zur Fahrt ins Jagdgebiet und zum Abtransport der Beute benutzt (vgl. Celle NJW 1960, 1873). In diesem Fall besteht jedoch die Möglichkeit einer Einziehung als Tatwerkzeug gemäß § 74, soweit dessen Voraussetzungen vorliegen.
§ 296
§ 296 a
[aufgehoben]
Unbefugte Küstenfischerei durch Ausländer
(1) Ausländer, welche in deutschen Küstengewässern unbefugt fischen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) D i e Fanggeräte, die der Täter oder Teilnehmer bei der Tat mit sich geführt oder verwendet hat, sowie die an Bord des Fahrzeugs befindlichen Fische können eingezogen werden. § 7 4 a ist anzuwenden. 922
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz (Freund)
§§ 297-302 a
1. Die zuletzt durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift dient dem Schutz des einheimischen Fischereigewerbes. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz. Die Strafdrohung wurde durch das EGStGB verschärft. 2. Die Einziehung der Fanggeräte ist nicht zwingend vorgeschrieben, sondern steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Bei täterfremden Fanggeräten ist die Einziehung wie bei § 295 nur unter den Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 2 (vgl. § 74 Abs. 4) oder des § 74 a zulässig. Über § 295 hinausgehend (siehe dort Anm. 3) kann auch der Fang eingezogen werden. Für das Schiff (Tatwerkzeug) gilt unmittelbar die Regelung des § 74.
§ 297
Schiffsgefährdung durch Bannware
Ein Reisender oder Schiffsmann, welcher ohne Vorwissen des Schiffers, desgleichen ein Schiffer, welcher ohne Vorwissen des Reeders Gegenstände an Bord nimmt, welche das Schiff oder die Ladung gefährden, indem sie die Beschlagnahme oder Einziehung des Schiffes oder der Ladung veranlassen können, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Geschützt ist das Vermögen des Reeders (Schiffseigners). 2. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Der Täter muß wissen, daß durch seine Fracht dem Schiff oder der übrigen Fracht Beschlagnahme oder Einziehung droht. Bedingter Vorsatz genügt. 3. Beispiel: Ein Waffenhändler schickt als Schädlingsbekämpfungsspritzen getarnte Flammenwerfer in ein überseeisches Aufstandsgebiet, ohne den Schiffer oder Reeder über die wahre Sachlage aufzuklären.
§ 298-300
[aufgehoben durch das EGStGB, siehe jetzt §§ 201-205]
§ 301, 3 0 2
[durch das EGStGB ersatzlos aufgehoben]
§ 302 a
Wucher
(1) Wer die Zwangslage, die Unerfahrenheit, den Mangel an Urteilsvermögen oder die erhebliche Willensschwäche eines anderen dadurch ausbeutet, daß er sich oder einem Dritten 1. für die Vermietung von Räumen zum Wohnen oder damit verbundene Nebenleistungen, 923
§ 302 a
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz (Freund)
2. für die Gewährung eines Kredites, 3. für eine sonstige Leistung oder 4. für die Vermittlung einer der vorbezeichneten Leistungen Vermögensvorteile versprechen oder gewähren läßt, die in einem auffälligen Mißverhältnis zu der Leistung oder deren Vermittlung stehen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Wirken mehrere Personen als Leistende, Vermittler oder in anderer Weise mit und ergibt sich dadurch ein auffälliges Mißverhältnis zwischen sämtlichen Vermögensvorteilen und sämtlichen Gegenleistungen, so gilt Satz 1 für jeden, der die Zwangslage oder sonstige Schwäche des anderen für sich oder einen Dritten zur Erzielung eines übermäßigen Vermögensvorteüs ausnutzt. (2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. durch die Tat den anderen in wirtschaftliche Not bringt, 2. die Tat gewerbsmäßig begeht, 3. sich durch Wechsel wucherische Vermögensvorteile versprechen läßt. 1. Durch das 1. WiKG (vgl. dazu § 264 Anm. 1) wurden die früheren Wuchertatbestände durch eine einheitliche Norm ersetzt. Grund hierfür war einmal die Tatsache, daß die bestehenden Tatbestände sich als unpraktikabel und nicht ausreichend erwiesen und dadurch bedenkliche Strafbarkeitslücken entstanden (RegE S. 20, 40 BT-Drucks. 7/3441; Ber. S. 20 BT-Drucks. 7/5291). Danach war z.B. beim sog. Kreditwucher (§ 302 a aF) die gewerbs- oder gewohnheitsmäßige Tatbegehung lediglich strafschärfendes Qualifikationsmerkmal (§ 302 d aF), während beim sog. Sachwucher (§ 302 e aF) dieses Merkmal strafbegründend war. Davon machte nun wiederum eine tatbestandsmäßige Sonderregelung des Sachwuchers, der Mietwucher (§ 302 f aF) eine Ausnahme, bei dem die gewerbs- bzw. gewohnheitsmäßige Handlungsweise strafschärfend wirkte und bei dem der Begriff der Zwangslage den sonst verwendeten der Notlage ersetzte. Neben der Tatsache, daß die Unterscheidung zwischen Kredit- und Sachwucher schon nicht recht einsehbar ist (vgl. Eser in Schönke-Schröder 3 zu § 302 aF., Kohlmann, Wirksame strafrechtliche Bekämpfung des Kreditwuchers, 1974, S. 6 f.), führte eine an diese Unterscheidung anknüpfende unterschiedliche Behandlung zu offensichtlich nicht mehr sachgerechten Ergebnissen: Danach wurde der Verkäufer einer Sache, für die er einen wucherischen Preis verlangte, nur bestraft, wenn er gewerbs- oder gewohnheitsmäßig handelte, derjenige aber, der für dieses Geschäft einen Kredit unter denselben Bedingungen gab, immer. Der Grund für die unterschiedlichen Tatbestandsfassungen lag in den sich ändernden wirtschaftspolitischen Grundvorstellungen des Gesetzgebers seit 1880 (vgl. zur Entwicklung RegE S. 20 aaO.; Kohlmann aaO. S. 11 ff.). Bereits durch das Gesetz zur Verbesserung des Mietrechts vom 7. 11. 1971 (BGBl. I S. 1745) sollten die gesamten Wuchervorschriften neu gefaßt werden. Dies konnte jedoch erst durch das 1. WiKG verwirklicht werden, wobei das Gesetz vom 7. 11. 1971 allerdings den § 302 f (Mietwucher) einführte, der in einigen Punkten „Vorbild" für die Neuregelung war (vgl. RegE S. 20 f.). Der Tatbestand des Nachwuchers (§ 302 c aF) wurde mangels praktischer Relevanz ersatzlos gestrichen (RegE S. 42). - Gesetzesmaterialien siehe § 264 Anm. 2. Schrifttum: Kohlmann, Wirksame strafrechtliche Bekämpfung des Kreditwuchers, 1974; 924
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz (Freund)
§ 302 a
- Sasserath, Die überhöhte ortsübliche Miete als Vergleichsmaßstab, NJW 1972, 711; ders., Die neue Mietwuchervorschrift des § 302 f StGB, WM 1972, 3; - SchmidtFutterer, Die Mieterhöhung für nicht preisgebundenen Wohnraum nach neuem Recht, NJW 1972, 86; - ders., Die Wuchermiete für Wohnraum nach neuem Recht, NJW 1972, 135; - ders., Die neuen Vorschriften über den Mietwucher usw., JR 1972, 133; - ders., Wohnraumschutzgesetze, 2. Aufl. 1976; - Sturm, Die Neufassung des Wuchertatbestandes und die Grenzen des Strafrechts, JZ 1977, 84; - wegen des Schrifttums zum 1. WiKG im allgemeinen siehe § 264 Anm. 2. 2. Die Vorschrift schützt den Bewucherten davor, in einer zu seinen Ungunsten ungleichgewichtigen Situation bei einem gegenseitigen Geschäft mit dem Wucherer durch das Erbringen einer übermäßigen Gegenleistung ausgebeutet zu werden. Die z. T. vertretene Unterscheidung zwischen dem sog. Individualwucher, der im StGB geregelt ist und die Ausbeutung der bedrängten Einzelperson oder einer Gruppe von solchen zum Inhalt hat, und dem sog. Sozialwucher, der Ausbeutung allgemeiner Mangellagen, sollte aufgegeben werden, da sie praktisch ohne Erkenntniswert ist und auch im Bereich des § 302 a oft (z. B. beim Fall des Mietwuchers) eine Vielzahl von Personen vorhanden ist, die sich in derselben Situation befinden wie der Bewucherte (vgl. Eser in Schönke-Schröder § 302 a Rdnr. 1 und § 302 f Rdnr. 2; krit. auch Schmidt-Futterer, Wohnraumschutzgesetze Rdnr. D 106). Der Tatbestand soll gröbste Auswüchse von aus wirtschaftlichen Marktungleichgewichten erwachsenden Ausbeutungen verhindern. Danach bestehen beispielsweise für den Bereich der Mietpreisüberhöhungen die OWiTatbestände der §§ 5 und 6 WiStG, deren Anforderungen geringer sind (vgl. LG Mannheim NJW 1977,1729; Schmidt-Futterer, Wohnraumschutzgesetze Rdnr. D 1 ff.). Gerade am Beispiel der Mietpreisüberhöhung zeigt sich, daß erstes Mittel bei der Bekämpfung von Preisauswüchsen das Zivilrecht ist und das Strafrecht als ultima ratio erst dann zur Anwendung kommt, wenn die Mißstände unerträglich geworden sind (vgl. Schmidt-Futterer, Wohnraumschutzgesetze Rdnr. D 23; Kisseler Prot. VII S. 2575 f.; a. A. Tiedemann ZStW 87, 266). Der neuen Fassung angeglichen wurde § 138 Abs. 2 BGB. 3. Der Anwendungsbereich, gekennzeichnet durch die Nummern 1 - 4 im 1. Absatz, betrifft jeden Leistungsaustausch. Dogmatisch entscheidend ist dabei Nr. 3, die als allgemeinste Kennzeichnung eines gegenseitigen Leistungsaustausches an sich auch die Nrn. 1, 2 und 4 erfaßt (RegE S. 4 BT-Drucks. 7/3341). Um eine höhere Plastizität und bessere Verständlichkeit auch aus generalpräventiven Gesichtspunkten zu erreichen, wurden in den Nrn. 1 und 2 mit dem Miet- und Kreditwucher zwei besonders sozialschädliche und praktisch bedeutsame Erscheinungsformen hervorgehoben (RegE S. 21). a) Ob Räume zum Wohnen vermietet werden, entscheidet sich nach der Zweckbestimmung im Einzelfall. Nicht entscheidend ist die zivilrechtliche Kennzeichnung des Wohnraums (Schäfer LK § 302 f Rdnr. 3; Schmidt-Futterer, Wohnraumschutzgesetze, Rdnr. D 107). Nebenleistungen sind Heizung, Strom, Wasser, Beleuchtung, Fahrstuhl, Hausmeistertätigkeit u. ä. (Schäfer LK § 302 f Rdnr. 4; Eser in Schönke-Schröder § 302 f Rdnr. 13). b) Unter Kredit fallen alle Rechtsgeschäfte, die der Befriedigung eines augenblicklichen Geldbedürfnisses dienen sollen (Eser in Schönke-Schröder § 302 a Rdnr. 3; Schäfer LK § 302 a Rdnr. 4).
925
§ 302 a
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz (Freund)
c) Die früher zum Teil schwierige Abgrenzung zwischen Kredit- und Sachwucher, die in einer „Auslegungsakrobatik" (Kohlmann, Prot. VII S. 2568) gipfelte, ist nunmehr überflüssig geworden, da unter die Generalklausel der Nr. 3 jede sonstige Leistung fällt. Die Bedenken, daß die Strafbarkeit dadurch zu weit ausgedehnt würde (Tröndle, Prot. VII S. 2562), sind unbegründet, da der Schutz des Bewucherten nicht auf bestimmte Lebensbereiche beschränkt sein darf. 4. Auf Seiten des Bewucherten müssen bestimmte schutzwürdige Schwächen (RegE S. 41 BT-Drucks. 7/3441) vorhanden sein. Es sind dies, alternativ oder kumulativ: a) Zwangslage. Dieses Merkmal ersetzt den Begriff der Notlage, die von der Rechtsprechung rein wirtschaftlich bestimmt wurde (BGH 11, 182; Kohlmann Prot. VII 5. 2569), und entspricht der Regelung des § 302 f aF. Erforderlich ist eine wirtschaftliche Bedrängnis, die zwar nicht die Existenz des Betroffenen bedroht, aber schwere wirtschaftliche Nachteile mit sich bringt. Es genügt aber auch, wenn Umstände anderer Art ein zwingendes Sach- oder Geldbedürfnis entstehen lassen (RegE S. 40; so auch schon Begr. zu § 265 E 1962; Schmidt-Futterer NJW 1972, 135 f.). Daß eine Existenzbedrohung nicht erforderlich ist, ergibt sich auch daraus, daß der Begriff der wirtschaftlichen Not in Abs. 2 als strafschärfendes Merkmal genannt ist. Wie die Zwangslage entstanden ist, insbesondere ob sie vom Bewucherten verschuldet ist, spielt keine Rolle (Dreher 9). b) Unerfahrenheit ist eine Eigenschaft, die auf einem Mangel an Geschäftskenntnis und Lebenserfahrung im allgemeinen oder auf beschränkten Gebieten des menschlichen Wirkens beruht und ihrem Wesen nach eine Einschränkung der Befähigung zur Wahrnehmung oder richtigen Beurteilung von Zuständen und Geschehnissen irgendwelcher Art zur Folge hat (BGH 11, 182; 13, 233; Schmidt-Futterer NJW 1972, 136). c) Ein Mangel an Urteilsvermögen liegt vor, wenn dem Bewucherten in erheblichem Maße die Fähigkeit fehlt, sich durch vernünftige Beweggründe leiten zu lassen. Bloße Unerfahrenheit im Sinne eines erheblichen Mangels an geschäftlicher Erfahrung reicht nicht aus. Es genügt aber die Unfähigkeit, die beiderseitigen Leistungen und die wirtschaftlichen Folgen des Geschäftsabschlusses richtig zu bewerten (RegE S. 41). d) Willensschwäche ist jede Form einer verminderten Widerstandsfähigkeit, die in der Persönlichkeit und dem Wesen des Bewucherten ihre Ursache hat (RegE S. 41). Diese Schwäche muß allerdings erheblich sein, d. h. ein Maß erreichen, das den übrigen Schwächen entspricht. Es ist eine gravierende, wenn auch nicht krankhafte Schwäche erforderlich (Ber. S. 20 BT-Drucks. 7/5291). 5. Die Tathandlung besteht im Ausbeuten dieser Situation durch das Sichversprechenoder Gewährenlassen von Veimögensvorteilen, die in auffälligem Mißverhältnis zur Leistung des Täters stehen. a) Vermögensvorteil bedeutet wie in § 263 (siehe dort Anm. VI 3 sowie RG 20, 279) jede günstigere Gestaltung der Vermögenslage und beinhaltet die Leistung, die der Bewucherte erbringt (RG 29, 79). Dabei muß der Vorteil nicht in einer Geldleistung bestehen; er muß aber in einer Geldgröße ausgedrückt werden können, also bewertbar sein (RG 11, 388; 20, 279; Dreher 17). 926
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz (Freund)
§ 302 a
b) Versprechenlassen bedeutet die Annahme einer Erklärung, deren zivilrechtliche Gültigkeit unerheblich ist (Schäfer LK § 302 a Rdnr. 18), mit der sich der Schuldner zu einer Leistung verpflichtet mit der Maßgabe, daß die versprochene Leistung wirklich erbracht werden soll (RG 15, 333; 29, 413). - Gewährenlassen ist die Entgegennahme einer Leistung ohne vorherige Verpflichtung (RG 15, 333; 29, 413; 32, 143). Folgt das Gewähren dem Versprechen nach, so ist die Tat mit dem Versprechen bereits vollendet (RG 15, 333).
c) Die Feststellung eines auffälligen Mißverhältnisses setzt einen Vergleich voraus. Verglichen wird dabei aus der Sicht des Gläubigers (RG 11, 398; 39, 126; 60, 219) die Leistung, die er erbringt, mit der, die er erhält. Dabei sind jeweils im Einzelfall schwierige Bewertungsprobleme zu bewältigen. Der Zeitpunkt, auf den bewertet wird, ist grundsätzlich der des Vertragsschlusses (BGH WM 1966, 589; Tröndle Prot. VII S. 2567). Die bewertete Leistung des Täters wird verglichen mit dem, was der Täter insgesamt erhält (RG 20, 279). Dabei muß sich ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung ergeben. Grundsätzlich sind zwei Berechnungsarten möglich: Zum einen kann die Leistung an dem üblichen Entgelt für eine solche Leistung gemessen werden. Diese Berechnung hat sich beim Mietwucher (§ 302 f aF) durchgesetzt. Hier war, jedenfalls bei frei finanziertem Wohnraum, allein die ortsübliche Vergleichsmiete maßgeblich (Köln NJW 1976,119; LG Darmstadt NJW 1972,1244; NJW 1975, 549; LG Mannheim Justiz 1976, 518; Schmidt-Futterer NJW 1972, 135 sowie in Wohnraumschutzgesetze Rdnr. D 116; a. A. Sasserath NJW 1972, 1871). Der Gedanke lag auch dem § 302 a aF zugrunde, der auf den üblichen Zinsfuß abstellte (so jetzt auch zur Neufassung des § 302 a für den Fall des Kreditwuchers BayObLG RReg 3 St 292/76). Zum anderen kann die Leistung des Täters im Rahmen einer konkreten Berechnungsmethode nachkalkuliert werden (z. B. die Kostenmiete bei gesetzlicher Mietpreisbindung, vgl. BGH 11, 187; Schmidt-Futterer, Wohnraumschutzgesetze Rdnr. D 116, 120). Beide Berechnungsarten sind unter Zugrundelegung der von der Rspr. entwickelten Grundsätze zu vereinen. Soweit bei starken Marktungleichgewichten gesetzliche Preisbeschränkungen oder -restriktionen vorhanden sind (z. B. beim Mietzins, vgl. Schmidt-Futterer, Wohnraumschutzgesetze Rdnr. D l 16; Köln NJW 1976, 119), wird die (Orts-)Ublichkeit vorrangig sein. Soweit aber der Preis allein von marktwirtschaftlichen Faktoren gebildet wird, ist grundsätzlich die Gestehungskalkulation maßgeblich, in die neben den eigentlichen Gestehungskosten ein angemessener Gewinn einbezogen werden kann (RG 60, 216; BGH 11, 182; Schäfer LK § 302 a Rdnr. 14; für Wohnraum mit gesetzlicher Mietpreisbindung: vgl. Schmidt-Futterer, Wohnraumschutzgesetze Rdnr. D 116). Dabei ist allerdings eine Einschränkung geboten: Die Gestehungskosten können nur insoweit berücksichtigt werden, als sie wirtschaftlich sinnvollen Aufwendungen entsprechen (RG 60, 216; 74, 345; Schäfer LK § 302 a Rdnr. 4, 14). Die wirtschaftlich unsinnigen Kosten aber sind die, die beim marktüblichen Preis nicht preisbildend wirken. Diese dürfen auch bei der Berechnung nach der üblichen Vergütung insofern nicht berücksichtigt werden, als die Vergleichspreise selbst nicht übermäßig hoch sein dürfen (BGH 11, 182; LG Mannheim Justiz 1976, 518; Schmidt-Futterer NJW 1972, 135). Wenn beispielsweise Wohnräume mit einem völlig unwirtschaftlichen Aufwand wieder instandgesetzt werden und diese Kosten dann überwälzt werden sollen, entsprechen sie im Regelfall weder der ortsüblichen Vergleichsmiete noch sind sie als Gestehungskosten zu berücksichtigen. Beide Berechnungsmethoden führen also in diesen Fällen zu demselben Ergebnis (beide Methoden verwendet auch RG 74, 345). 927
§ 302 a
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz (Freund)
Zu berücksichtigen sind bei der Bewertung im Einzelfall z. B. beim Kredit die Dauer, die gewährten Sicherheiten, das allgemeine Zinsniveau, beim Mietzins neben der Vergleichsmiete die Abnutzung, die Dauer des Mietverhältnisses u. a. Hilfsmittel beim Vergleich bieten neben Mietwerttabellen (vgl. Schmidt-Futterer Wohnraumschutzgesetze Rdnr. D 38 f) auch die VO über Preisangaben vom 10. 5. 1973 (BGBl. I S. 461), nach der bei Krediten der effektive Jahreszins anzugeben ist. Die Besonderheiten des Einzelfalles wirken auch in der Feststellung nach, ob ein auffälliges Mißverhältnis vorliegt. Auffällig ist das Mißverhältnis, wenn es erheblich ist (Eser in Schönke-Schröder § 302 f Rdnr. 21), wenn es für den Kundigen nach Prüfung völlig unangemessen erscheint (Schäfer LK § 302 a Rdnr. 15). So rechtfertigt ein völlig ungesicherter Kredit sicher einen höheren Zins, mit dem das erhöhte Risiko ausgeglichen wird. Aus diesem Grund hat es der Gesetzgeber auch zu Recht vermieden, konkrete Prozentzahlen zu nennen. In der Praxis haben sich gewisse Usancen herausgebildet. Danach wird in der Regel beim Mietwucher eine 50%ige Überschreitung der ortsüblichen Vergleichsmiete (Köln NJW 1976, 119; LG Darmstadt NJW 1972, 1244; LG Mannheim Justiz 1976, 518 [bestätigt durch Beschl. des BGH v. 30. 6. 1976 - 3 StR 115/76]; SchmidtFutterer JR 1972, 133, 1974, 276; Schäfer LK § 302 f Rdnr. 7; a. A. Sasserath NJW 1972, 711), beim Kreditwucher ein effektiver Jahreszins (Zins, Vermittlungsgebühren, Provisionen u. a., vgl. Anm. 6) von 3 5 - 4 0 % (Göhler Prot. VII S. 2574; Heinrichs in Palandt § 138 Anm. 4 a, aa) als auffälliges Mißverhältnis anzusehen sein. d) Der Täter muß ausbeuten. Das bedeutet die bewußte Ausnutzung, den Mißbrauch der bedrängten Lage des anderen zur Erlangung der übermäßigen Vermögensvorteile (BGH 11, 182). Zum Teil wird eine gewinnsüchtige Tendenz der Handlung gefordert (Eser in Schönke-Schröder § 302 a Rdnr. 16; Schäfer LK § 302 a Rdnr. 31). e) Die Vermögensvorteile muß der Täter sich oder einem Dritten zukommen lassen wollen. Es ist also keine Personenidentität zwischen Wucherer und Gläubiger erforderlich, ebensowenig wie zwischen Bewuchertem und Schuldner (Dreher 21; Schäfer LK 302 a Rdnr. 19). Die Mitwirkung des Bewucherten ist eine Form der notwendigen Teilnahme (vgl. 5 vor § 25). 6. Die sog. Additionsklausel (Abs. 1 Satz 2): Wirken mehrere Beteiligte an einem Leistungsgeschäft mit, z. B. bei einer Kreditvergabe Kreditgeber, -vermittler und -Versicherer, so ist zunächst zu prüfen, ob sich jeder, soweit die engen Voraussetzungen der Mittäterschaft nicht gegeben sind, nach Satz 1 strafbar gemacht hat. Zu vergleichen sind dabei seine (Teil-)Leistung und die erhaltene (Teil-)Gegenleistung. Ergibt sich ein auffälliges Mißverhältnis, so ist der Straftatbestand, soweit die übrigen Voraussetzungen vorliegen, erfüllt. Bestimmte Entwicklungen bei der Kreditvermittlung, bei denen eine Vielzahl von Personen eingeschaltet wurden, haben zur Einführung der Additionsklausel Anlaß gegeben (RegE S. 21, 40 BT-Drucks. 7/3441; Ber. S. 20 BTDrucks. 7/5291). Die Behauptung allerdings, daß bei einer derartigen Auffächerung der Leistung des Bewucherten alle auf Wuchererseite Beteiligten den Tatbestand umgehen konnten, obwohl bei Addition aller Leistungen und Gegenleistungen ein auffälliges Mißverhältnis festzustellen war (RegE S. 21, 40; Ber. S. 20; Kohlmann Prot. VII, S. 2570), ist unzutreffend. Wird die Gegenleistung nach Personen aufgefächert, so muß für die Feststellung eines auffälligen Mißverhältnisses dasselbe mit der Leistung geschehen (RG 29, 78). Vergleichsgröße für die Teilgegenleistung kann also nicht die 928
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz (Freund)
§ 302 a
Gesamtleistung sein. Dann aber muß, wenn die Summen zueinander in auffälligem Mißverhältnis stehen, auch mindestens eine Teilleistung zu der entsprechenden Teilgegenleistung in auffälligem Mißverhältnis stehen. Die Additionsklausel bringt aber eine wesentliche Auslegungshilfe bezüglich der Tatbestandsmerkmale „Ausbeuten" und „auffälliges Mißverhältnis" und erleichtert Beweisprobleme (Tröndle Prot. VII S. 2564; Kissler Prot. VII S. 2576). Klargestellt ist, daß bei einem wirtschaftlich einheitlichen Geschäft Leistung und Gegenleistung insgesamt bewertet werden (Ber. S. 20; auch schon RG 29, 78). Das sind beispielsweise beim Kredit Zinsen, Vermittlungsprovisionen, Bearbeitungsgebühren, Versicherungsbeiträge und ähnliche Nebenkosten (RegE S. 40; anders zu § 138 aF BGB München NJW 1977, 152, dagegen Freund NJW 1977, 636 und Reich NJW 1977, 636). Strafbar macht sich jeder, der bei einem solchen Geschäft, das insgesamt wucherische Züge trägt, die Schwäche des Bewucherten mitausbeutet und dabei für sich oder einen Dritten übermäßige Vermögensvorteile erlangt (RegE S. 40; Ber. S. 20). Der Vermögensvorteil braucht also nicht das auffällige Mißverhältnis zu begründen; es genügt, wenn dieses Mißverhältnis durch das Handeln Dritter herbeigeführt wird und eine Diskrepanz zwischen eigener Teilleistung und Teilgegenleistung besteht (Ber. S. 20). Der Schutz ordnungsgemäß Handelnder wird dadurch gewährleistet, daß der Täter ausbeuterisch handeln und im Rahmen seines Vorsatzes die Gesamtzusammenhänge kennen muß (Ber. S. 20). Ein diesbezügliches Informationsdefizit führt zur Straffreiheit (Tröndle Prot. VII S. 2565). Daneben begründet die Additionsklausel die Täterschaft, auch wenn die Voraussetzungen der Mittäterschaft (siehe § 25 Anm. IV) nicht vorliegen (Ber. S. 20). 7. Abs. 2 enthält eine Strafschärfung für besonders schwere Falle. Es sind drei Regelbeispiele genannt, deren Vorliegen die Anwendbarkeit des erhöhten Strafrahmens indiziert (zum Regelbeispiel siehe § 243 Anm. I). Bei anderen Umständen muß ein ähnlich hohes Maß an Unrecht und Schuld bezüglich der Person des Täters, der Begehungsweise oder den Auswirkungen auf den Bewucherten vorliegen. Ein Regelfall liegt vor, a) wenn der Bewucherte in wirtschaftliche Not gebracht wird. Das ist nicht der Fall, wenn lediglich eine bestehende Not verschärft wird (Eser in Schönke-Schröder § 302 f Rdnr. 26; Schmidt-Futterer NJW 1972, 136). Erforderlich ist, daß der Bewucherte als Folge der Tat in eine Mangellage gerät, die im geschäftlichen Bereich seine Daseinsgrundlage gefährdet oder auf Grund deren im persönlichen Bereich der notwendige Lebensunterhalt ohne Hilfe dritter Personen nicht mehr gewährleistet ist (Begr. zu § 266 E 1962); b) wenn die Tat gewerbsmäßig begangen wird (siehe hierzu § 260 Anm. 2); c) wenn der Vermögensvorteil durch Wechsel versprochen wird. Dies deshalb, weil bei einer Weitergabe des Wechsels dem Bewucherten der Einwand der Nichtigkeit des Grundgeschäftes abgeschnitten wird (RegE S. 41). 8. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Es genügt hinsichtlich aller Tatbestandsmerkmale bedingter Vorsatz (Schäfer LK § 302 a Rdnr. 31; Kohlmann, Wirksame strafrechtliche Bekämpfung des Kreditwuchers S. 44). Der Täter muß Kenntnis von der objektiven Sachlage und den Fakten haben, die die Schwäche des Opfers und das Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung begründen (RG 29,79; 60, 216; 71, 325). Zum Teil wird eine dementsprechende Wertung der Situation auf Seiten des Täters verlangt 30
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
929
§ 302 a
Fünfundzwanzigster Abschnitt: Strafbarer Eigennutz (Freund)
(Tiedemann ZStW 87, 278). Zum Vorsatz bei Anwendung der Additionsklausel siehe Anm. 6. 9. Vollendet ist die Tat mit dem Versprechen der Leistung (RG 15, 333). Folgt das Gewähren nach und dauert die wucherische Situation an, so beginnt die Verjährung erst zu diesem Zeitpunkt (RG 32,143; 38,426). 10. Konkurrenzen: Mehrere Wucherfälle gegen verschiedene Personen können in Fortsetzungszusammenhang stehen (BGH 11, 182). Tateinheit ist möglich mit § 263 (RG LZ 17, 1173) und § 253 (RG GA 46, 318). Gegenüber den Tatbeständen der §§ 5, 6 WiStG besteht Vorrang (§ 21 OWiG), die Abschöpfungsmöglichkeit bezüglich des Mehrerlöses nach § 8 WiStG bleibt aber bestehen (LG Mannheim Justiz 1976,518).
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Sechsundzwanzigster Abschnitt: Sachbeschädigung (§§ 3 0 3 - 3 0 5 ) § 303
Sachbeschädigung
(1) Wer rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt. 1. Gegenstand einer Sachbeschädigung kann jede in fremdem Eigentum stehende Sache sein. Wegen Sache siehe § 242 Anm. II, wegen fremd § 242 Anm. IV. Im Gegensatz zu §§ 242, 246, 249 muß die Sache nicht beweglich sein. 2. Die Sache ist beschädigt, wenn sie infolge der Einwirkung des Täters entweder in ihrer Substanz oder in ihrer bestimmungsgemäßen Gebrauchsfähigkeit nicht nur unerheblich beeinträchtigt ist, so daß sie nicht mehr bestimmungsgemäß verwendet werden kann. Die Art der Einwirkung ist unerheblich. Insbesondere ist nicht erforderlich, daß die Substanz verletzt wird. So ist z. B. ein Kraftfahrzeug nicht nur beschädigt, wenn die Antenne abgerissen oder die Scheibe eingeschlagen wird, sondern auch dann, wenn der Täter das Benzin verunreinigt oder „zum Scherz" den Motor auseinandernimmt oder die Luft aus den Reifen läßt (BGH 13, 207). Auch das Beschmutzen einer Sache kann Sachbeschädigung sein, z. B. wenn ein Denkmal oder eine Hausfassade mit Ölfarbe beschmiert wird, die sich nicht oder nur mit erheblichem Aufwand entfernen läßt (vgl. RG 43, 204; Hbg JZ 1951, 727; LG Bamberg NJW 1953, 997). Entsprechendes gilt für unerlaubtes Plakatieren an Hausfassaden, Brückenpfeilern, Fußgängeninterführungen usw., sofern das äußere Erscheinungsbild des betroffenen Objekts hierdurch beeinträchtigt wird (Krhe NJW 1975, 2113; Justiz 1977, 314; Hbg NJW 1975, 1981 m. Anm. Schroeder; NJW 1976, 2174). Lediglich unerhebliche Beeinträchtigungen des äußeren Erscheinungsbilds, durch die Gestaltungswille und Zweckbestimmung des Eigentümers nicht wesentlich verletzt werden, scheiden aus dem Bereich des § 303 aus, stellen sich aber i. d. R. als Ordnungswidrigkeit nach den örtlichen Polizeiverordnungen oder der Eisenbahn-, Bau- und BetriebsO dar (vgl. Hbg NJW 1976, 2174). Eine Rechtfertigung des unerlaubten Plakatierens durch Art. 5 GG kommt grundsätzlich nicht in Betracht (Hamm NJW 1976,2174). Der bloße Sachentzug erfüllt nur dann den Tatbestand, wenn die Sache hierdurch Schaden leidet, z. B. durch Entweichenlassen von Flüssigkeiten oder Gas oder wenn jemand bei eisiger Kälte einen Vogel fliegen läßt, der nur unter Zimmertemperatur leben kann, nicht dagegen, wenn es sich um einen Vogel handelt, der sich im Freien wohler fühlt, etwa eine Amsel (RG 13, 27; h. L.; a. A. Maurach BT 190; Busch LK 8). Sachbeschädigung kann schließlich auch das Löschen eines bespielten Tonbands sein. 3. Zerstören ist die intensivste Form der Sachbeschädigung, indem nämlich die Gebrauchsfähigkeit nicht nur beeinträchtigt, sondern völlig aufgehoben wird. Beispiel: A vergiftet den Hund des B. 30*
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§ 304
Sechsundzwanzigster Abschnitt: Sachbeschädigung
4. Die Rechtswidrigkeit kann vor allem durch die Notstandsrechte des BGB (§§ 228, 904) entfallen, ferner durch die Einwilligung des Eigentümers. 5. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich, wobei bedingter Vorsatz genügt. Die fahrlässige Sachbeschädigung ist dagegen nicht strafbar. 6. Strafantragsberechtigt ist jeder, der durch die Tat unmittelbar verletzt ist, vor allem der Eigentümer, aber auch der Mieter, Pächter usw., nicht dagegen die Versicherungsgesellschaft, bei der die Sache versichert war. 7. Konkurrenzen: Tateinheit ist möglich mit §§ 123, 125, 133, 136, 168, 223 a, 242. § 303 tritt jedoch als typische Begleittat zurück gegenüber solchen Tatbeständen, die regelmäßig mit einer Sachbeschädigung verbunden sind (z. B. §§ 90 a Abs. 2, 104, 134, 202, 267, 274 Abs. 1 Nr. 1, 243 Abs. 1 Nr. 1) sowie gegenüber den Tatbeständen des 27. Abschnitts, die alle, soweit sie mit einer Sachbeschädigung verbunden sind, dem § 303 vorgehen. 8. Prozessual beachte § 374 Abs. 1 Nr. 6 StPO (Privatklagedelikt).
§ 304
Gemeinschädliche Sachbeschädigung
(1) Wer rechtswidrig Gegenstände der Verehrung einer im Staate bestehenden Religionsgesellschaft oder Sachen, die dem Gottesdienste gewidmet sind, oder Grabmäler, öffentliche Denkmäler, Gegenstände der Kunst, der Wissenschaft oder des Gewerbes, welche in öffentlichen Sammlungen aufbewahrt werden oder öffentlich aufgestellt sind, oder Gegenstände, welche zum öffentlichen Nutzen oder zur Verschönerung öffentlicher Wege, Plätze oder Anlagen dienen, beschädigt oder zerstört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) D e r Versuch ist strafbar. 1. § 304 stellt die Beschädigung bestimmter, besonders schutzwürdiger Sachen unter eine erhöhte Strafdrohung. Im Gegensatz zu § 303 ist bei den unter § 304 fallenden Sachen nicht erforderlich, daß sie in fremdem Eigentum stehen; auch ein Strafantrag ist nicht erforderlich. Die Tat ist vielmehr ohne Rücksicht auf die Eigentumsverhältnisse immer von Amts wegen zu verfolgen. Bei Diebstahl von Sachen, die für Wissenschaft, Kunst oder Geschichte oder die technische Entwicklung von Bedeutung sind, siehe § 243 Abs. 1 Nr. 5. 2. Geschützt sind a) Gegenstände der Verehrung einer im Staat bestehenden Religionsgesellschaft, z. B. Reliquien, Marienstatuen; b) Sachen, die dem Gottesdienst gewidmet sind; siehe hierzu § 243 Anm. II 4 b; 932
Sechsundzwanzigster Abschnitt: Sachbeschädigung
§ 305
c) Grabmäler. Hierher gehören nicht nur die üblichen Grabsteine (Gedenksteine mit Namensaufschrift), sondern auch sonstige dauerhafte Teile des Grabes, die - auch ohne Beschriftung - nach Art, Gestaltung und Ausführung in enger Verbindung mit sonstigen Anhaltspunkten auf den Toten hinweisen und damit nach der Lebensauffassung selbst den Charakter eines Erinnerungszeichens tragen (BGH 20, 286 betr. eine Kreuzigungsgruppe). Mit §§ 168, 242 kommt IdK. in Betracht; d) öffentliche Denkmäler, z. B. Kriegerdenkmäler oder Statuen berühmter Männer, die öffentlich, d. h. allgemein zugänglich, aufgestellt sind; ferner Kulturdenkmäler, z. B. Hünengräber (Celle NJW 1974,1291), Bildstöcke, Burgruinen. e) Gegenstände der Kunst, der Wissenschaft oder des Gewerbes, soweit sie in öffentlichen Sammlungen aufbewahrt oder öffentlich aufgestellt sind. Hierher gehören z. B. Bilder in Gemäldegalerien, Bücher in Bibliotheken, zu denen jeder Zutritt hat, nicht dagegen in Behördenbibliotheken, die nur den Bediensteten der Behörde zur Verfügung stehen (BGH 10, 285), ferner öffentlich aufgestellte Plastiken, nicht dagegen gewerbliche Erzeugnisse, die vor einem Gewerbebetrieb zum Verkauf ausgestellt sind; f) Gegenstände, die zum öffentlichen Nutzen oder zur Verschönerung öffentlicher Wege, Plätze oder Anlagen dienen. Hierher gehören z. B. öffentliche Straßen und Wälder, Parkanlagen, Versorgungsleitungen, Feuermelder, Feuerlöschgeräte, Fahrzeuge und Einrichtungen des Seenotdienstes, der Feuerwehr und der Polizei, Briefkästen der Post, Wegweiser, Verkehrszeichen, Verkehrsampeln, Parkuhren, Grenzschilder, die vor dem unbefugten Grenzübertritt warnen (BGH NJW 1975, 1610), Litfaßsäulen, öffentliche Ruhebänke, die Blumen, Sträucher und Bäume eines Stadtparks. 3. Die Handlung besteht wie in § 303 im Beschädigen oder Zerstören. Hierbei ist jedoch zu beachten, daß § 304 nur dann in Betracht kommt, wenn Zweck oder Bedeutung der Sache beeinträchtigt wurden. Ist dies nicht der Fall, so kommen nur § 303 in Betracht. Wer z. B. seinen Namen in die Paikbank schnitzt oder eine einzelne Tulpe aus dem Park reißt, verstößt zwar gegen § 303, aber nicht gegen § 304; anders jedoch, wenn die ganze Bank aus der Halterung gerissen oder zertrümmert wird, oder wenn jemand ein ganzes Tulpenfeld mutwillig durchwühlt. Eine Sachbeschädigung nach § 304 begeht auch, wer „zum Scheiz" ein Verkehrszeichen herausreißt (BGH DAR 1960, 265) oder wer einen Wegweiser so verstellt, daß er in die falsche Richtung weist. 4. Wegen der Konkurrenzen siehe § 303 Anm. 7. § 145 Abs. 2 tritt infolge seiner Subsidiaritätsklausel zurück. 5. Abschließendes Beispiel: A entwendet Kupferdraht einer öffentlichen Fernsprechleitung und verkauft diesen an einen gutgläubigen Althändler. Hier ist neben § 304 der Tb. des § 317 erfüllt, der als das speziellere Gesetz dem § 304 vorgeht. Außerdem liegt in Realkonkurrenz Betrug zum Nachteil des Althändlers vor.
§ 305
Zerstörung von Bauwerken
(1) Wer rechtswidrig ein Gebäude, ein Schiff, eine Brücke, einen Damm, eine gebaute Straße, eine Eisenbahn oder ein anderes Bauwerk, welche 933
§ 305
Sechsundzwanzigster Abschnitt: Sachbeschädigung
fremdes Eigentum sind, ganz oder teilweise zerstört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Die Vorschrift enthält einen erschwerten Fall des § 303. Wie dort sind nur fremde Sachen vor Zerstörung geschützt. 2. Über Zerstören vgl. § 303 Anm. 3. - Teilweises Zerstören ist mehr als nur Beschädigen und setzt voraus, daß durch die Beschädigung entweder einzelne Bestandteile unbrauchbar geworden sind (z. B. ein Brückengeländer) oder daß die Sache für einzelne ihrer Zweckbestimmungen untauglich geworden ist, z. B. eine Brücke kann nur noch zum Gehen, aber nicht mehr zum Fahren benützt werden. 3. Geschützt sind Gebäude (auch Rohbauten, BGH 6, 107), Schiffe (nicht: Nachen, Paddelboote usw., sondern nur größere Schiffe), Brücken (nicht: unbedeutende Stege), Dämme, gebaute Straßen (zu denen auch Kanäle gehören), Eisenbahnen (nicht die einzelnen Wagen, sondern die Gleisanlagen), andere Bauwerke (z. B. Grenzmauern, Fischzuchtanlagen, Festungsanlagen, Kläranlagen). 4. IdK. ist möglich mit § 304; § 303 tritt dagegen als lex generalis zurück.
934
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten (§§ 3 0 6 - 3 3 0 c)
§ 306
Schwere Brandstiftung
Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer in Brand setzt 1. ein zu gottesdienstlichen Versammlungen bestimmtes Gebäude, 2. ein Gebäude, ein Schiff oder eine Hütte, welche zur Wohnung von Menschen dienen, oder 3. eine Räumlichkeit, welche zeitweise zum Aufenthalt von Menschen dient, und zwar zu einer Zeit, während welcher Menschen in derselben sich aufzuhalten pflegen. 1. Gegenstand einer schweren Brandstiftung können sein: a) Gebäude, die zu gottesdienstlichen Versammlungen bestimmt sind (Nr. 1), z. B. Kirchen, Kapellen, Gemeindesäle. Unerheblich ist, ob diese Gebäude ständig oder nur in unregelmäßigen Abständen zu gottesdienstlichen Versammlungen benutzt werden und ob gerade zur Tatzeit eine gottesdienstliche Versammlung abgehalten wird. Unerheblich ist auch, ob es sich um das Gebäude einer christlichen Religionsgemeinschaft handelt. b) Gebäude, Schiffe und Hütten, die zur Wohnung von Menschen dienen (Nr. 2), und zwar auch dann, wenn sie vorübergehend, selbst monatelang nicht benutzt werden (z. B. ein Hotel außerhalb der Saison, vgl. BGH 26, 121). die Eigentumsverhältnisse sind unerheblich. Täter kann daher auch der Eigentümer selbst sein, der sein Haus anzündet, weil er den dauernden Ärger mit seinen Mietern leid ist. Anders nur, wenn der Eigentümer das Gebäude allein bewohnt hat, aber in Zukunft nicht mehr als Wohnung verwenden will. Ob und in welchem Umfang er seine Habe vorher entfernt hat, ist unerheblich (BGH 10, 208; 16, 394). Die Vorschrift kommt femer dann nicht in Betracht, wenn der einzige Bewohner des Gebäudes gestorben ist (BGH 23, 114). Wohnwagen, Wochenendhäuser, Gartenlauben usw., die nur zeitweise bewohnt werden, fallen nicht unter Nr. 2, sondern nur unter Nr. 3. Bei einem Stall, der an ein Wohnhaus angebaut ist, kommt es darauf an, ob die Verbindung beider Gebäude so eng ist, daß man diese als eine Einheit ansehen muß (vgl. BGH GA 1969, 118). Eine solche Einheit liegt z. B. dann vor, wenn der Stall mit dem Wohnhaus nicht nur durch einen gemeinsamen Dachstuhl, sondern noch zusätzlich durch Türen verbunden ist (BGH aaO.). c) Räumlichkeiten, die zeitweise zum Aufenthalt von Menschen dienen (Nr. 3), z. B. Ferien- und Wochenendhäuser, Filmtheater, Werkstätten, Bürogebäude, Autobusse und Eisenbahnwagen, Bergwerke, Büroräume, Sporthallen, Theater und Museen, nicht jedoch ein Pkw (BGH 10, 208; siehe jedoch Stgt Justiz 1976, 519: die ausgeschlachtete und aufgebockte Karosserie eines PKW, die auf längere Dauer Wohnzwecken dient, ist mindestens dann eine Räumlichkeit i.S. von § 306 Nr. 3, wenn sie durch Standort und weitere Vorrichtungen auch äußerlich als Aufenthaltsort von Menschen erkennbar ist). Im Gegensatz zu § 306 Nr. 1 und Nr. 2 ist bei Nr. 3 erforderlich, daß die Tat zu einer Zeit begangen wird, zu der sich Menschen in den Räumlichkeiten aufzuhalten pflegen. 935
§ 307
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
Andererseits wird auch hier nicht vorausgesetzt, daß sich zur Tatzeit tatsächlich Menschen in dem Raum aufhalten und gefährdet werden. Ob eine Räumlichkeit dem Aufenthalt von Menschen dient, richtet sich nach dem tatsächlichen Verwendungszweck. Wird z. B. eine Scheune nur zum Futterholen betreten, so dient sie nicht dem Aufenthalt von Menschen. Anders jedoch, wenn sie mit Duldung des Eigentümers von Landstreichern ständig zum Übernachten benutzt wird (vgl. BGH 23, 60). 2. In Brand gesetzt ist ein Gebäude, wenn es vom Feuer in einer Weise erfaßt ist, die ein Fortbrennen aus eigener Kraft ermöglicht. Wer z. B. in einem Wohnhaus die Lattentür eines Kellerraums in Brand setzt, verwirklicht den Tb. des § 306 Nr. 2 nur, wenn sich das Feuer auf weitere Gebäudeteile ausbreiten kann (BGH 7, 37; 16, 109; 18, 363). Nicht erforderlich ist, daß ein Niederbrennen des ganzen Gebäudes droht. Es genügt vielmehr, daß der Brand sich auf Teile des Gebäudes ausbreiten kann, die für dessen bestimmungsgemäßen Gebrauch von wesentlicher Bedeutung sind, z. B. Treppe, Fußboden, Wohnungstüren und Fenster (BGH aaO.). Auch durch Unterlassen kann der Tb. verwirklicht werden, sofern eine Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung besteht, z. B. wenn die Feuerwehr nicht eingreift, um das Übergreifen deS' Feuers auf andere Gebäude oder die vom Feuer noch nicht erfaßten Teile eines bereits brennenden Gebäudes zu schützen. 3. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Der Täter muß wissen, daß er ein Gebäude usw. in Brand setzt, und daß der Gegenstand der Brandstiftung die vom Gesetz hervorgehobenen Eigenschaften besitzt. Im Fall der Nr. 3 muß der Täter z. B. wissen, daß der von ihm in Brand gesetzte Raum zeitweise zum Aufenthalt von Menschen dient und er die Tat zu einer Zeit begeht, zu der sich Menschen in dem Raum aufzuhalten pflegen. Bedingter Vorsatz genügt. Bei Fahrlässigkeit siehe § 309. 4. Tateinheit ist vor allem möglich mit Versicherungsbetrug (§ 265). §§ 303-305 werden konsumiert; gegenüber § 308 geht § 306 als das speziellere Delikt vor. Tateinheit mit § 303 liegt jedoch vor, wenn auch Einrichtungsgegenstände, Tiere usw. in Mitleidenschaft gezogen werden. Wird ein Mensch verletzt, so ist Tateinheit mit §§ 223, 230 gegeben. Wird ein Mensch getötet, so kann § 307 eingreifen. 5. Beachte § 3 1 0 (tätige Reue), § 325 (Führungsaufsicht), §138 (Anzeigepflicht), außerdem §§ 88 a, 126,129 a, 130 a, 140 und 145 d.
§ 307
Besonders schwere Brandstiftung
D i e schwere Brandstiftung (§ 306) wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft, wenn 1. der Brand den Tod eines Menschen dadurch verursacht hat, daß dieser zur Zeit der Tat in einer der in Brand gesetzten Räumlichkeiten sich befand, 2. der Täter in der Absicht handelt, die Tat zur Begehung eines Mordes (§ 211), eines Raubes (§§ 249, 250), eines räuberischen Diebstahls (§ 252) oder einer räuberischen Erpressung (§ 255) auszunutzen, oder 936
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 308
3. der Täter, um das Löschen des Feuers zu verhindern oder zu erschweren, Löschgerätschaften entfernt oder unbrauchbar gemacht hat. 1. Nr. 1 bringt eine Strafschärfung für den Fall, daß der Brand den Tod eines Menschen dadurch verursacht hat, daß dieser sich z. Z. der Tat in einer der in Brand gesetzten Räumlichkeiten aufgehalten hat. Unerheblich ist, auf welche Weise der Tod eintritt, ob durch Verbrennen oder Ersticken oder dadurch, daß ein Bewohner beim Sprung aus einem oberen Stockwerk das Sprungtuch verfehlt. Nicht hierher gehört jedoch der Fall, daß ein Feuerwehrmann oder Nachbar, der sich im Zeitpunkt der Brandlegung noch nicht im Haus befunden hat, bei der Rettungsaktion ums Leben kommt. Hier liegt nur § 306 in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung vor. Dasselbe gilt, wenn eine bereits gerettete Person nochmals in das brennende Gebäude zurückkehrt und dann erst umkommt. § 307 Nr. 1 entfällt schließlich auch dann, wenn der Tod eines Menschen dadurch eintritt, daß es bei der Vorbereitung des Brandes zu einer vom Täter nicht gewollten Explosion des Zündstoffs kommt (BGH 20, 230). Da § 307 Nr. 1 zu den sog. erfolgsqualifizierten Delikten gehört, muß der Tod mindestens fahrlässig verursacht worden sein. Dies gilt auch für Teilnehmer (vgl. § 18 Anm. 2). Wegen der Konkurrenzen siehe ausführlich § 18 Anm. 4. 2. Nr. 2 bringt eine Strafschärfung für den Fall, daß der Täter die durch den Brand entstehende allgemeine Verwirrung dazu benutzen will, einen Mord oder Raub oder ein raubgleiches Verbrechen zu begehen. Kommt es zu diesen Delikten, so stehen diese mit § 307 Nr. 2 in Tateinheit oder Tatmehrheit. Mit Mord besteht auch dann Tateinheit, wenn die Brandstiftung in der Absicht ausgeführt wird, einen Menschen in den Flammen umkommen zu lassen (BGH 20,246; h. L., vgl. Cramer in Schönke-Schröder 9). 3. Nr. 3 bringt eine Strafschärfung für den Fall, daß der Täter die Löschgerätschaften entfernt oder unbrauchbar macht. Unerheblich ist, wann er dies tut, ob vor, während oder nach der eigentlichen Brandstiftung. Unbrauchbar gemacht sind die Löschgeräte auch dann, wenn der Brandstifter das Wasser abstellt.
§ 308
Brandstiftung
(1) Mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer Gebäude, Schiffe, Hütten, Bergwerke, Magazine, Warenvorräte, welche auf dazu bestimmten öffentlichen Plätzen lagern, Vorräte von landwirtschaftlichen Erzeugnissen oder von Bau- oder Brennmaterialien, Früchte auf dem Felde, Waldungen oder Torfmoore in Brand setzt, wenn diese Gegenstände entweder fremdes Eigentum sind oder zwar Eigentum des Täters sind, jedoch ihrer Beschaffenheit und Lage nach geeignet sind, das Feuer einer der in § 3 0 6 Nr. 1 bis 3 bezeichneten Räumlichkeiten oder einem der vorstehend bezeichneten fremden Gegenstände mitzuteUen. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. 937
§ 308
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
1. Die 1. Alt. der durch das EGStGB nur redaktionell geänderten Vorschrift, die sog. unmittelbare Brandstiftung, kommt nur dann in Betracht, wenn der Täter unmittelbar fremdes Eigentum (Gebäude, Schiffe usw.) in Brand setzt. Diese Alternative ist ein Sonderfall der Sachbeschädigung und gehört an sich nicht zu den gemeingefährlichen Verbrechen, sondern zu den Tatbeständen des 26. Abschnitts. Anders die sog. mittelbare Brandstiftung der 2. Alt. des Tatbestands. Hier macht sich auch der strafbar, der eine unter § 308 fallende eigene (oder herrenlose) Sache in Brand setzt, die nach ihrer Beschaffenheit und Lage geeignet ist, das Feuer einer der in § 306 Nr. 1-3 bezeichneten Räumlichkeiten oder einer durch § 308 geschützten fremden Sache mitzuteilen. Die mittelbare Brandstiftung ist somit ein echtes (abstraktes) Gefährdungsdelikt (BGH NJW 1951, 726; Gallas, Heinitz-Festschr., S. 171,183). 2. Geschützt sind a) Gebäude, Schiffe (vgl. § 305 Anm. 3), Hütten, Bergwerke und Magazine, d. h. Räumlichkeiten, die dazu bestimmt sind, erhebliche Vorräte an Waren oder sonstigen Gebrauchsgegenständen für längere Zeit aufzubewahren; b) Warenvorräte, die auf dazu bestimmten öffentlichen Plätzen lagern, Vorräte von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, von Bau- oder Brennmaterialien (hier kommen immer nur größere Mengen in Betracht, z. B. das Kohlen- oder Holzlager eines Händlers oder der Holzvorrat eines Landwirts für den gesamten Winter); c) Früchte auf dem Felde, d. h. alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse vor der Aberntung, z. B. ein Getreidefeld oder eine Obstplantage; d) Waldungen, d. h. größere Baumbestände; d)
Torfmoore.
3. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Bei der mittelbaren Brandstiftung (2. Alt. des Tb.) muß der Täter vor allem wissen, daß die von ihm in Brand gesetzte Sache ihrer Beschaffenheit und Lage nach geeignet ist, das Feuer weiterzuverbreiten. Bedingter Vorsatz genügt. Bei Fahrlässigkeit siehe § 309. 4. Wegen der Konkurrenzen siehe § 306 Anm. 4. 5. Beachte ergänzend §§ 88 a (Befürwortung), 126 Abs. 1 Nr. 6 (Androhung), 129 a Abs. 1 Nr. 3 (terroristische Vereinigung), 130 a (Anleitung), 140 (Belohnung und Billigung), 145 d Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 (Vortäuschung), außerdem § 138 (Anzeigepflicht), § 310 (tätige Reue), § 325 (Führungsaufsicht). 6. Abschließende Beispiele: a) Zündet A die Scheune des B an, um diesem zu schaden, so ist § 308 in der 1. Alt. erfüllt. Greift das Feuer auch auf das Wohnhaus des B über, ohne daß A dies gewollt hat, so steht § 308 in Tateinheit mit § 309. b) Zündet A seine eigene, gegen Feuersgefahr versicherte Scheune an, um sich die Versicherungssumme zu verschaffen, so ist § 308 nur dann gegeben, wenn die Gefahr besteht, daß das Feuer auf eine in § 306 geschützte, nicht notwendig fremde Sache, 938
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§§ 309,310
z. B. das eigene Wohnhaus, oder auf eine fremde, in § 308 geschützte Sache übergreift, z. B. auf die Scheune des B. Auf jeden Fall aber liegt ein Verbrechen gemäß § 265 vor. c) A brennt auf seinem Grundstück abgestandenes Gras nieder, obwohl die Gefahr besteht, daß das Feuer auf eine nahe Waldung übergreift; A kennt die Gefahr, aber vertraut darauf, daß er ein Übergreifen schon rechtzeitig verhindern werde. Trotzdem greift das Feuer auf den Wald über. Hier liegt § 308 in der 2. Alt. vor. Das Gras ist, auch wenn es wild gewachsen ist, eine Frucht auf dem Feld (vgl. Celle NdsRpfl. 1952, 57), und auch der gefährdete Wald ist durch § 308 geschützt. Subjektiv genügte das Wissen um die Gefahr. Die Hoffnung, einen Brand vermeiden zu können, schließt den Gefährdungsvorsatz nicht aus. Wäre es dem A gelungen, sein Grasfeuer rechtzeitig und unentdeckt wieder zu löschen, so könnte er sich auf § 310 berufen. In diesem Fall käme jedoch § 310 a in Betracht.
§ 309
Fahrlässige Brandstiftung
Wer einen Brand der in den §§ 3 0 6 und 3 0 8 bezeichneten Art fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe und, wenn durch den Brand der Tod eines Menschen verursacht wird, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die durch das EGStGB im Strafrahmen neu gefaßte Vorschrift bezieht sich auf alle Handlungen, die bei vorsätzlicher Begehung unter §§ 306 und 308 fallen würden. 2. Beispiel: A verursacht dadurch einen Brand, daß er in der vollgefüllten Scheune des B achtlos eine noch brennende Zigarettenkippe wegwirft. Kommt B bei der Löschaktion durch einen niederstürzenden Balken ums Leben, so ist ein erschwerter Fall gegeben (§ 309 am Ende).
§ 310
Tätige Reue
Hat der Täter den Brand, bevor derselbe entdeckt und ein weiterer als der durch die bloße Inbrandsetzung bewirkte Schaden entstanden war, wieder gelöscht, so wird er nicht wegen Brandstiftung bestraft. 1. Während tätige Reue regelmäßig nur bei einer versuchten Straftat zu Straflosigkeit führt (vgl. § 24), hat der Gesetzgeber diesen Strafaufhebungsgrund bei der Brandstiftung auch gegenüber der vollendeten Tat vorgesehen. § 310 gilt sowohl für die vorsätzliche als auch für die fahrlässige Brandstiftung. 2. Erste Voraussetzung für die Straflosigkeit ist, daß der Brand noch nicht entdeckt war. Entdeckt ist der Brand, wenn ein unbeteiligter Dritter ihn wahrgenommen hat, bevor der Täter oder eine herbeigerufene Hilfsperson mit dem Löschen begonnen hat. Wird der Brand von dritter Seite gelöscht, so bleibt der Täter in analoger Anwendung von § 24 Abs. 1 S. 2 straffrei, wenn er sich ernsthaft und freiwillig um die Löschung 939
§ 310 a
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
bemüht hat. Dasselbe gilt, wenn der Brand zwar bereits entdeckt war, der Täter dies aber nicht wußte (vgl. Mösl LK 3; Maurach BT 530). 3. Ein „weiterer Schaden" als der durch die bloße Inbrandsetzung bewirkte ist entstanden, wenn das Feuer sich bereits räumlich weiter verbreitet hat, als auf den Ort, wo es unmittelbar angelegt wurde. Dies gilt auch für die Fälle der 2. Alt. des § 308. Auch hier ist tätige Reue nach § 310 solange möglich, als das Feuer noch nicht auf fremde Gebäude usw. übergegriffen hat (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 4 c; a. A. Oldenburg NJW 1969,1778; Dreher 2; Lackner 2). 4. Die tätige Reue hat lediglich die Wirkung, daß der Täter nicht wegen Brandstiftung bestraft werden kann. Dagegen bleibt die Möglichkeit einer Bestrafung nach §§ 265, 303, 310 a unberührt (vgl. BGH NJW 1951, 726; Dreher 5; Lackner 1; Maurach BT 531; a. A. Cramer in Schönke-Schröder 9).
§ 310 a
Herbeiführen einer Brandgefahr
(1) Wer 1. feuergefährdete Betriebe und Anlagen, insbesondere solche, in denen explosive Stoffe, brennbare Flüssigkeiten oder brennbare Gase hergestellt oder gewonnen werden oder sich befinden, sowie Anlagen oder Betriebe der Land- oder Ernährungswirtschaft, in denen sich Getreide, Futteroder Streumittel, Heu, Stroh, Hanf, Flachs oder andere land- oder ernährungswirtschaftliche Erzeugnisse befinden, 2. Wald-, Heide- oder Moorflächen, bestellte Felder oder Felder, auf denen Getreide, Heu oder Stroh lagert, durch Rauchen, durch Verwenden von offenem Feuer oder Licht oder deren ungenügende Beaufsichtigung, durch Wegwerfen brennender oder glimmender Gegenstände oder in sonstiger Weise in Brandgefahr bringt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Verursacht der Täter die Brandgefahr fahrlässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. 1. Die durch das EGStGB in der Strafdrohung geänderte Vorschrift hat nur subsidiäre Bedeutung für den Fall, daß es zu keinem Brand kommt. 2. Geschützt sind feuergefährdete Betriebe und Anlagen sowie gewisse Anlagen der Land- und Ernährungswirtschaft (Nr. 1), ferner Wald, Heide, Moor, bestellte Felder sowie Felder, auf denen Getreide, Heu oder Stroh lagern (Nr. 2). 3. Die Tathandlung besteht in der Herbeiführung einer konkreten Brandgefahr. Die abstrakte Möglichkeit einer Brandgefahr genügt nicht. Entscheidend sind daher immer die Umstände des Einzelfalls (Jahreszeit, Wetter, Windrichtung, Stärke des Feuers, Entfernung usw.).
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Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 310 b
4. Täter kann auch der Eigentümer selbst sein. 5. Subjektiv genügt Fahrlässigkeit (vgl. Abs. 2, neu eingefügt durch das EGStGB).
§ 310 b Herbeiführen einer Explosion durch Kernenergie (1) Wer es unternimmt, durch Freisetzen von Kernenergie eine Explosion herbeizuführen und dadurch Leib oder Leben eines anderen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert zu gefährden, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. (2) Wer durch Freisetzen von Kernenergie eine Explosion herbeiführt und dadurch fahrlässig eine Gefahr für Leib und Leben eines anderen oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert verursacht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. (3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe bei Taten nach Absatz 1 lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren, bei Taten nach Absatz 2 Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod eines Menschen verursacht. (4) Wer in den Fällen des Absatzes 2 fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die durch das EGStGB v. 2. 3. 1974 (BGBl. I 469) eingefügte Vorschrift tritt an die Stelle des gleichzeitig aufgehobenen § 40 AtomG. Die Aufnahme in das StGB ergab sich aus der Erwägung, daß die Auslösung einer Kernexplosion zu den schwersten Formen der gemeingefährlichen Straftaten gehört und deshalb nicht in das Nebenstrafrecht verwiesen werden darf, in dem nur Straftatbestände von untergeordneter Bedeutung enthalten sein sollten (vgl. RegE S. 264 BT-Drucks. 7/550). 2. Explosion ist die plötzliche Auslösung von Druckwellen, die - meist unter erheblicher Knallwirkung - eine zerstörende Wirkung zur Folge haben kann. 3. Die Explosion muß durch freisetzen von Kernenergie ausgelöst werden. Als auslösender Faktor kommt insbesondere die Spaltung von Atomkernen in Betracht, aber auch die Vereinigung und Umwandlung von Atomkernen kann Kernenergie freisetzen. Unerheblich ist, ob die Explosion durch Zünden einer Kriegswaffe oder in einem fehlgesteuerten Reaktor ausgelöst wird, der von seiner Zweckbestimmung her friedlichen Zwecken dient. Nicht tatbestandsmäßig ist dagegen eine ordnungsgemäß verlaufende Kernreaktion in Atomreaktor. 4. Über die Gefährdung von Leib oder Leben usw. siehe § 315 Anm. 4.
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§ 311
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
5. D i e Tathandlung besteht im Unternehmen der Herbeiführung einer Explosion. Der Versuch ist also der Vollendung gleichgestellt (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 6). 6. D e r subj. Tb. des Abs. 1 erfordert Vorsatz. Dieser muß sich auch auf die Gefahr für Leib oder Leben usw. erstrecken. 7. Abs. 2 erfaßt den Fall, daß es zu einer vorsätzlich ausgelösten Explosion kommt, der Täter aber hinsichtlich der durch ihn bewirkten Gemeingefahr (s. o. 4 sowie § 315 Anm. 4 ) nur fahrlässig gehandelt hat. Wurde auch die Explosion nicht vorsätzlich, sondern nur fahrlässig ausgelöst, so kommt der Vergehenstatbestand des Abs. 4 zur Anwendung. 8. Uber besonders schwere Falle siehe Abs. 3. Wegen des in dieser Vorschrift enthaltenen Regelbeispiels (leichtfertige Verursachung des Todes eines Menschen) wird auf die entsprechenden Ausführungen zu § 3 1 6 c (siehe dort Anm. V I ) Bezug genommen. 9. Für die Teilnahme ist § 11 Abs. 2 zu beachten. Es genügt also, daß der Täter die eigentliche Tathandlung (Herbeiführung einer Kernexplosion) vorsätzlich vorgenommen hat. Hinsichtlich der Gemeingefahr genügen sowohl beim Täter als auch beim Teilnehmer Fahrlässigkeit. 10. IdK. ist insbesondere möglich mit § § 2 1 1 ff., 2 2 0 a, 2 2 3 ff. sowie mit allen gemeingefährlichen Verbrechen und Vergehen. § 311 ist jedoch subsidiär. 11. Beachte §§ 6 Nr. 2 (Auslandstaten), 138 Abs. 1 Nr. 9 (Anzeigepflicht), 325 (Führungsaufsicht) und 325 a (Einziehung) sowie die in § 308 Anm. 5 genannten Vorschriften.
§ 311
Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion
(1) Wer anders als durch Freisetzen von Kernenergie, namentlich durch Sprengstoff, eine Explosion herbeiführt und dadurch Leib oder Leben eines anderen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. (3) Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod eines Menschen verursacht. (4) Wer in den Fällen des Absatzes 1 die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (5) Wer in den Fällen des Absatzes 1 fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 942
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 311 a
1. Die durch das 7. StrRÄndG vom 1. 6. 1964 (BGBl. I 337) an Stelle des aufgehobenen § 5 SprengstG eingeführte Vorschrift wurde zuletzt durch das EGStGB geändert. 2. Über Explosion siehe § 3 1 0 b Anm. 2. Ursachen und Mittel der Explosion sind unerheblich, sofern es sich nicht um eine Kernexplosion handelt, für die ausschließlich der Sondertatbestand des § 310 b zur Anwendung kommt. Nicht erforderlich ist, daß die Druckwellen durch Überdruck entstehen; es genügen auch Gefährdungen durch Unterdruck, Luftdruckstöße und Schallwellen (vgl. Begründung zu § 323 E 1962; Mösl LK 4; Dreher 3; Lackner 2; a. A. Cramer in Schönke-Schröder 3). Als Mittel der Explosion nennt das Gesetz vor allem Sprengstoff (z. B. Dynamit und Nitroglyzerin). Aber auch Gas- und Wasserdampfexplosionen fallen unter die Vorschrift. Schließlich wird man auch Explosionen hierher zu rechnen haben, die durch Flugzeuge beim Durchbrechen der Schallmauer zu entstehen pflegen und oft erhebliche Schäden anrichten können. Nicht hierher gehören harmlose Kleinexplosionen, die allein durch ihre Druckwirkung üblicherweise keinen oder nur geringen Schaden anrichten, z. B. Explosionen durch handelsübliche Kleinfeuerwerkskörper. 3. Durch die Explosion müssen Leib und Leben eines anderen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet worden sein. Der Tb. enthält somit ein konkretes Gefährdungsdelikt. Es genügt, wenn sich z. Z. der Explosion ein einziger Passant in der Nähe des Tatorts aufhielt oder die Explosion in der Nähe eines Gebäudes oder Fahrzeugs oder einer anderen fremden Sache von bedeutendem Wert stattfand und die - konkrete - Gefahr der Zerstörung oder Beschädigung dieser Sache bestand (siehe auch § 315 Anm. 4). 4. Zu Abs. 2 - 5 gelten die Ausführungen zu § 310 b (siehe dort Anm. 7, 8) entsprechend. Wegen Teilnahme siehe § 3 1 0 b Anm. 9, wegen der Konkurrenzen § 3 1 0 b Anm. 10. 5. Beachte ferner §§ 6 Nr. 2 (Auslandstaten), 138 Abs. 1 Nr. 9 (Anzeigepflicht), 325 (Führungsaufsicht) und 325 a (Einziehung) sowie die in § 308 Anm. 5 genannten Vorschriften.
§ 311 a
Mißbrauch ionisierender Strahlen
(1) Wer in der Absicht, die Gesundheit eines anderen zu schädigen, es unternimmt, ihn einer ionisierenden Strahlung auszusetzen, die dessen Gesundheit zu schädigen geeignet ist, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. (2) Unternimmt es der Täter, eine unübersehbare Zahl von Menschen einer solchen Strahlung auszusetzen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. (3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe bei Taten nach Absatz 1 Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren, bei Taten nach Absatz 2 lebenslange 943
§ 311 a
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod eines Menschen verursacht. (4) Wer in der Absicht, die Brauchbarkeit einer fremden Sache von bedeutendem Wert zu beeinträchtigen, sie einer ionisierenden Strahlung aussetzt, welche die Brauchbarkeit der Sache zu beeinträchtigen geeignet ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. D e r Versuch ist strafbar. 1. Wegen der Übernahme der früher in § 41 AtomG enthaltenen Vorschrift in das StGB siehe § 3 1 0 b A n m . 1. 2. Ionisierende Strahlen entstehen durch Beschleunigen von Ionen in elektrischen oder magnetischen Feldern. In Betracht kommen sowohl Strahlen, die von radioaktiven Stoffen ausgehen, als auch künstlich hervorgerufene ionisierende Strahlen. Es ist also unerheblich, ob die Strahlung von einem Kernspaltungsprozeß in einem Atomreaktor oder von einer medizinischen Röntgenapparatur ausgeht. 3. Gesundheitsschädigung ist jeder nicht unerhebliche, medizinisch nicht indizierte Eingriff in die körperliche Integrität. Der Eintritt eines Dauerschadens ist nicht erforderlich. 4. Da der Tb. als Unternehmensdelikt strukturiert ist, steht der Versuch der Vollendung gleich (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 6). 5. Der subj. Tb. erfordert Absicht, d. h. den zielgerichteten Willen, durch die ionisierende Strahlung einen anderen in seiner Gesundheit zu schädigen. Bedingter Vorsatz genügt nicht, andererseits ist nicht erforderlich, daß die Gesundheitsschädigung das hauptsächliche oder gar einzige Tatmotiv gewesen ist. 6. Bei einer Massengefährdung (Abs. 2) ist die Strafdrohung Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. 7. Zu Abs. 3 siehe § 310 b Anm. 8. 8. Während die Abs. 1 bis 3 dem Schutz der menschlichen Gesundheit dienen, schützt Abs. 4 fremde Sachen von bedeutendem Wert (siehe hierzu §315 Anm. 4 c) gegen ionisierende Bestrahlung. Da es sich bei Abs. 4 (im Gegensatz zu den Tatbeständen der Abs. 1 und 2) um kein Unternehmensdelikt handelt und die Tat ungeachtet ihrer besonderen Gefährlichkeit nur als Vergehen mit Strafe bedroht ist, mußte in S. 2 der Versuch selbständig unter Strafe gestellt werden. 9. IdK. ist möglich zwischen Abs. 1 und Abs. 4; Abs. 1 kann außerdem in IdK. treten mit §§ 211 ff., 223 ff.; bei Abs. 4 ist IdK. möglich mit §§ 303-305, 317 ff. 10. Beachte §§ 6 Nr. 2 (Auslandstaten), 138 Abs. 1 Nr. 9 (Anzeigepflicht), 325 (Führungsaufsicht), 325 a (Einziehung) sowie die in § 308 Anm. 5 genannten Vorschriften. 944
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten § 311 b
§ 311 b
Vorbereitung eines Explosions- oder Strahlungsverbrechens
(1) Wer zur Vorbereitung 1. eines bestimmten Unternehmens im Sinne des § 3 1 0 b Abs. 1 oder des § 3 1 1 a Abs. 2 oder 2. einer Straftat nach § 3 1 1 Abs. 1, die durch Sprengstoff begangen werden soll, Kernbrennstoffe, sonstige radioaktive Stoffe, Sprengstoffe oder die zur Ausführung der Tat erforderlichen besonderen Vorrichtungen herstellt, sich oder einem anderen verschafft, verwahrt oder einem anderen überläßt, wird in den Fällen der Nummer 1 mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in den Fällen der Nummer 2 mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu drei Jahren. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift enthält in Abs. 1 Nr. 1 den aufgehobenen § 4 2 AtomG, während Nr. 2 im wesentlichen dem früheren § 311 a entspricht. Über die Gründe zur Aufnahme der Strafbestimmungen des AtomG in das StGB siehe § 310 b Anm. 1. 2. Die Annahme eines bestimmten Unternehmens i. S. von Abs. 1 Nr. 1 setzt voraus, daß die in Aussicht genommene Tat hinsichtlich des Angriffsziels, Angriffsmittels und Ausführungszeitpunkts in der Vorstellung des Täters konkretisiert ist. Da Abs. 1 Nr. 2 eine ähnliche Einschränkung nicht enthält, ist bei der Vorbereitung eines Sprengstoffverbrechens nach §311 Abs. 1 eine so weitgehende Konkretisierung des Tatplans nicht erforderlich (vgl. BayObLG NJW 1973, 2038 m. zust. Anm. Fuhrmann JR 1974, 476; a. A. BGH NJW 1977,540 sowie die h. L.). 3. Als Tathandlung kommen nur die in Abs. 1 ausdrücklich aufgeführten Vorbereitungshandlungen (herstellen, verschaffen, verwahren, überlassen) in Betracht. Auf das in § 311 a aF außerdem noch enthaltene Tb.-Merkmal Einführen konnte mit Rücksicht auf § 6 Nr. 2 verzichtet werden. 4. Tatobjekte können Kernbrennstoffe, radioaktive Stoffe, Sprengstoffe sowie die zur Tatausführung erforderlichen „besonderen" Vorrichtungen sein. Zu den „besonderen" Vorrichtungen gehören nur solche, denen ihrer Art nach eine spezifische Eignung anhaftet, für Explosions- oder Strahlungsverbrechen verwendet zu werden (h. L., vgl. Cramer in Schönke-Schröder 7). Hierher gehören z. B. Zeitzünder und sonstiges technisches Zubehör, nicht dagegen Batterien, Pappröhren, Wecker oder Streichhölzer, denen eine solche spezifische Eignung fehlt. 5. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz. Nicht erforderlich ist, daß der Täter die Absicht hat, sich selbst an dem Explosions- oder Strahlungsverbrechen zu beteiligen. Es genügt, daß er weiß oder damit rechnet, daß ein bestimmtes Unternehmen i. S. der Nr. 1 945
§ 311 c
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Staftaten
oder eine Tat i. S. der Nr. 2 geplant ist und sein Verhalten geeignet ist, die in Aussicht genommene Tat zu fördern. Eine dahingehende Absicht ist nicht erforderlich (BayObLG NJW 1973, 2038). Im Falle der Nr. 2 ist auch nicht erforderlich, daß bereits eine konkrete Tat geplant ist und der Täter diese kennt (vgl. BayObLG aaO. sowie oben 2). 6. Kommt es zu einem vollendeten oder versuchten Explosionsverbrechen, so ist § 311 b subsidiär. Als Auffangtatbestand ist § 40 Abs. 1 Nr. 4 SprengstG zu beachten. 7. Beachte ferner § 138 Abs. 1 Nr. 9 (Anzeigepflicht), § 140 (Belohnung und Billigung), § 311 c Abs. 3 Nr. 2 (tätige Reue), § 325 (Führungsaufsicht), § 325 a (Einziehung) und § 6 Nr. 2 (Auslandstaten).
§ 311 c
Tätige Reue
(1) Das Gericht kann die in § 310 b Abs. 1 und § 311a Abs. 2 angedrohte Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2), wenn der Täter freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder sonst die Gefahr abwendet. (2) Das Gericht kann die in den folgenden Vorschriften angedrohte Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder von Strafe nach diesen Vorschriften absehen, wenn der Täter 1. in den Fällen des § 311 a Abs. 1 freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder sonst die Gefahr abwendet oder 2. in den Fällen des § 310 b Abs. 2, des § 311 Abs. 1 bis 4 und des § 311 a Abs. 4 freiwillig die Gefahr abwendet, bevor ein erheblicher Schaden entsteht. (3) Nach den folgenden Vorschriften wird nicht bestraft, wer 1. in den Fällen des § 310 b Abs. 4 und des § 311 Abs. 5 freiwillig die Gefahr abwendet, bevor ein erheblicher Schaden entsteht, oder 2. in den Fällen des § 311 b freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder sonst die Gefahr abwendet. (4) Wird ohne Zutun des Täters die Gefahr abgewendet, so genügt sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, dieses Ziel zu erreichen. 1. Die durch das EGStGB eingefügte Vorschrift tritt an die Stelle des ehemaligen § 311 b sowie des aufgehobenen § 44 AtomG. Sämtliche Bestimmungen enthalten Sonderregelungen der tätigen Reue nach vollendetem Delikt. Die Gefahr ist abgewendet, wenn ihre Entstehung verhindert oder eine bereits eingetretene Gefahr vor Schadenseintritt beseitigt wird (Dreher 2; Lackner 3). Über freiwillig s. § 24 Anm. 5 a. 2. In den Fällen der §§ 310 b Abs. 1 und 3 1 1 a Abs. 2, die die schwerwiegendsten Verbrechen innerhalb der behandelten Deliktsgruppe darstellen, ist nach Abs. 1 nur eine Strafmilderung möglich, nicht dagegen ein Absehen von Strafe.
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Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§§ 312,313
3. Ein völliges Absehen von Strafe ist nur unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 möglich, wobei Abs. 2 einen fakultativen und Abs. 3 einen obligatorischen Strafaufhebungsgrund enthält. 4. Abs. 4 entspricht der in § 24 Abs. 1 S. 2 für den Rücktritt vom Versuch getroffenen Regelung. 9. Prozessual beachte § 153 b StPO.
§ 312
Herbeiführen einer lebensgefährdenden Überschwemmung
Wer mit gemeiner Gefahr für Menschenleben eine Überschwemmung herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren und, wenn durch die Überschwemmung der Tod eines Menschen verursacht worden ist, mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft. 1. Überschwemmung ist nicht schon jedes Unterwassersetzen eines einzelnen Grundstücks, etwa durch vorübergehendes öffnen einer Schleuse. Erforderlich ist vielmehr die Überflutung größerer Flächen oder eines Bergwerks. 2. Als Tathandlungen kommen in Betracht: öffnen von Schleusen, Sprengung eines Staudamms u. a. m. 3. Die Überschwemmung muß mit einer gemeinen Gefahr für Menschenleben verbunden sein. Es genügt Gefahr für einen einzelnen Menschen. 4. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Dieser muß sich auf die Gemeingefahr erstrekken. 5. Ein erschwerter Fall liegt vor, wenn ein Mensch den Tod erleidet; unerheblich ist, ob der Getötete sich bereits vor der Überflutung in dem gefährdeten Gebiet befand oder ob er erst bei den Rettungsarbeiten ums Leben kam. Subjektiv ist § 18 zu beachten. 6. Wegen ergänzender Vorschriften beachte § 308 Anm. 5.
§ 313
Herbeiführen einer sachengefährdenden Überschwemmung
(1) Wer mit gemeiner Gefahr für das Eigentum eine Überschwemmung herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (2) Ist jedoch die Absicht des Täters nur auf Schutz seines Eigentums gerichtet gewesen, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. 947
§§ 3 1 4 , 3 1 5
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
1. Im Unterschied zu § 312 genügt hier gemeine Gefahr für fremdes
Eigentum.
2. Abs. 2 berücksichtigt strafmildernd (nur Vergehen) eine notstandsähnliche Situation. Beispiel: A überflutet große Flächen, um seine Weiden vor dem Austrocknen zu bewahren und dadurch seinen Viehbestand zu erhalten. 3. Wegen ergänzender Vorschriften beachte § 308 Anm. 5.
4. Tateinheit ist möglich mit §§ 303, 304, 312.
§ 314
Fahrlässiges Herbeiführen einer Überschwemmung
Wer eine Überschwemmung mit gemeiner Gefahr für Leben oder Eigentum durch Fahrlässigkeit herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn durch die Überschwemmung der Tod eines Menschen verursacht worden ist, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Die Vorschrift bezieht sich sowohl auf § 312 als auch auf § 313. Wegen des qualifizierten Falls siehe § 312 Anm. 5.
§ 315
Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr
(1) Wer die Sicherheit des Schienenbahn-, Schwebebahn-, Schiffs- oder Luftverkehrs dadurch beeinträchtigt, daß er 1. Anlagen oder Beförderungsmittel zerstört, beschädigt oder beseitigt, 2. Hindernisse bereitet, 3. falsche Zeichen oder Signale gibt oder 4. einen ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff vornimmt und dadurch Leib oder Leben eines anderen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) Handelt der Täter in der Absicht, 1. einen Unglücksfall herbeizuführen oder 2. eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. (4) Wer in den Fällen des Absatzes 1 die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 948
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 315
(5) Wer in den Fällen des Absatzes 1 fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (6) Das Gericht kann in den Fällen der Absätze 1 bis 4 die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 4 9 Abs. 2) oder von einer Bestrafung nach diesen Vorschriften absehen, wenn der Täter freiwillig die Gefahr abwendet, bevor ein erheblicher Schaden entsteht. Unter derselben Voraussetzung wird der Täter nicht nach Absatz 5 bestraft. Wird ohne Zutun des Täters die Gefahr abgewendet, so genügt sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, dieses Ziel zu erreichen. 1. Die durch das 2. VerkSichG vom 26. 11. 1964 neu gefaßte Vorschrift dient der Sicherheit des Schienenverkehrs, der Schiffahrt und der Luftfahrt. Außerdem sind noch die Schwebebahnen geschützt. Die Vorschriften über die Sicherheit des Straßenverkehrs finden sich in den §§ 315 b, c. Soweit Schienenbahnen am Straßenverkehr teilnehmen (Straßenbahnen), sind ebenfalls nur die §§ 315 b, canwendbar (vgl. § 315 d). 2. Die Sicherheit des Betriebs ist dann beeinträchtigt, wenn eine Gefahrenquelle geschaffen wird für die einzelnen Fahrzeuge, ihre Ladung und ihre Insassen. Dagegen sind nicht geschützt die Streckenarbeiter zwischen den Geleisen (RG 42,301). 3. Als Mittel der Beeinträchtigung werden genannt: a) Zerstören, Beschädigen oder Beseitigen von Anlagen oder Beförderungsmitteln. Anlagen sind z. B. Schienen, Bahndämme, Schranken, Signalanlagen. Beförderungsmittel sind z. B. Lokomotiven, Schiffe, Flugzeuge, aber auch die einzelnen Waggons eines Zuges. Uber Zerstören siehe § 303 Anm. 3, über Beschädigen § 303 Anm. 2; b) Bereiten von Hindernissen, z. B. Aufschichten von Steinen auf den Schienen. Ein Hindernis kann auch durch verkehrswidrige Fahrweise bereitet werden, z. B. wenn ein Lastzug unmittelbar vor einem herannahenden Zug die Schienen überquert und dadurch den Zugführer zu einer Notbremsung veranlaßt (BGH 6,219, 224); c) Abgabe falscher Zeichen oder Signale, z. B. Freigabe einer Strecke, auf der ein Güterwagen abgestellt ist; d) ähnliche Eingriffe, z. B. wenn ein Lastzug so dicht an einen Schienenstrang heranfährt, daß der Zugführer eine Notbremsung einleiten muß, da er nicht weiß, ob der Lastzug noch rechtzeitig halten kann (vgl. BGH 13, 66). - Oder: Steinwürfe gegen das Zugpersonal (RG 61, 363). - Oder: zu schnelles Fahren, wenn aus besonderen Gründen nicht nach Signalen, sondern „auf Sicht" gefahren wird (BGH 8, 9). - Oder: Überfahren eines Haltsignals (BGH 8,13). e) Ein pflichtwidriges Unterlassen, das in seiner Gefährlichkeit einem Eingriff der unter a) bis d) geschilderten Art gleichkommt, z. B. wenn ein Schrankenwärter es versäumt, rechtzeitig die Schranken zu schließen (Ffm NJW 1975, 840). - Oder: Pflichtwidrige Nichtbeseitigung eines von anderen bereiteten Hindernisses. In den letztgenannten Fällen ergibt sich die Strafbarkeit aus den allgemeinen, zu den unechten Unterlassungsdelikten herausgearbeiteten Grundsätzen (vgl. BGH 8,11; Dreher 12). 949
§ 315
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
4. Durch die Tat muß eine Gefahr für Leib oder Leben eines anderen oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert herbeigeführt worden sein. Die Vorschrift wird dadurch zu einem konkreten Gefähidungsdelikt. Dies gilt auch für die §§ 315 a bis 315 d. a) Eine Gefahr ist dann gegeben, wenn der Eintritt eines Schadens wahrscheinlicher ist als sein Ausbleiben (BGH 6, 66, 70; 18, 277 ff.). Eine Gefahr i. S. der Vorschrift liegt z. B. schon dann vor, wenn ein Fußgänger sich nur durch einen Sprung zur Seite in Sicherheit bringen kann (BGH 22, 365 f.) oder wenn er seinen Oberkörper wegdrehen muß, um nicht angefahren zu werden (BGH VRS 36 [1969], 36). Kommt es zu einem Schaden, so ist die Gefahr indiziert; sie bedarf daher in der Regel keiner weiteren Begründung. Hat der Täter durch sein Verhalten den Eintritt einer Gefahr heraufbeschworen, so wird die Tatbestandsverwirklichung nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Gefährdete (z. B. der Lokomotivführer) oder ein Dritter (z. B. ein Streckenarbeiter) die Gefahr rechtzeitig erkennt und durch sofortige Schutzmaßnahmen den Eintritt des Schadens verhindert (vgl. BGH 18,273; Ffm NJW 1975,840). b) Als Gefahr für Leib oder Leben gilt jede Gefährdung eines anderen, der nicht als Täter oder Teilnehmer an der Tat beteiligt ist. Entgegen der früheren Rechtslage ist der Eintritt einer sog. Gemeingefahr nicht erforderlich. Hieraus folgt: Eine Gefährdung der Insassen eines Fahrzeugs durch den Fahrzeugführer erfüllt den Tatbestand ohne Rücksicht darauf, ob der Fahrzeugführer vor der Fahrt die Möglichkeit hatte, die Insassen des von ihm geführten Fahrzeugs nach persönlichen Gesichtspunkten auszuwählen oder nicht. Bei Flugzeugen macht es daher im Rahmen des § 315 a, bei dem die gleichen Gesichtspunkte gelten, keinen Unterschied, ob der betrunkene Pilot eine Linienmaschine fliegt oder eine Privatmaschine, in der nur seine Familie mitfliegt. Unerheblich ist auch, ob bestimmte Personen vorsätzlich oder nur fahrlässig gefährdet werden. Eine Gefahr i. S. der §§ 315 ff. ist daher auch dann gegeben, wenn z. B. ein betrunkener Fahrzeugführer vorsätzlich auf einen Passanten oder Polizeibeamten zufährt (vgl. BGH VM 1968 Nr. 24, 69; Lackner JZ 1965, 124; Nüse JR 1965,41). c) Auch bei der Gefährdung fremder Sachen von bedeutendem Wert ist eine sog. Gemeingefahr nicht erforderlich. Die Gefährdung der Ladung eines Fahrzeugs durch den Fahrzeugführer erfüllt auch dann den Tb. der §§ 315 ff., wenn der Fahrzeugführer die Ladung selbst auswählen konnte. Entscheidend ist allein, daß die Ladung in fremdem Eigentum stand. Nicht ausreichend ist die Gefährdung des vom Täter selbst geführten Fahrzeugs, und zwar ohne Rücksicht darauf, in wessen Eigentum das Fahrzeug steht. Das vom Täter geführte Fahrzeug kann als notwendiges Werkzeug zur Verwirklichung der Gefährdung nicht gleichzeitig vom Straf schütz der Vorschrift umfaßt werden (vgl. BGH 11, 148; 27,40 m. Anm. Rüth JR 1977,432). Der bedeutende Wert einer Sache richtet sich in der Regel nach dem Verkehrswert (wirtschaftlicher Wert). Gegenstände, die den Wert von 1000,- DM nicht erreichen, scheiden grundsätzlich aus (vgl. Celle DAR 1975, 248). Da das Gesetz nicht auf den Eintritt eines Schadens, sondern nur auf die Gefahr abstellt, kann eine Gefahr i. S. der §§ 315 ff. auch dann vorliegen, wenn der schließlich eingetretene Schaden nur gering ist. Es genügt in diesem Fall, daß höherer Schaden zu befürchten war (Celle aaO.).
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Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 315 a
5. Zum subj. Tatbestand: a) Abs. 1 erfordert Vorsatz. Dieser muß sich nicht nur auf die tatbestandsverwirklichende Handlung, sondern auch auf die Gefährdung der Sicherheit des Bahn- und Flugbetriebs usw., vor allem aber auch auf den Eintritt einer konkreten Gefahr für Leib und Leben einer Person oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert erstrekken. b) Abs. 3 macht die Tat zum Verbrechen, wenn der Täter in der Absicht handelt, einen Unglücksfall (§ 330 c Anm. 2 a) herbeizuführen oder eine andere Tat zu ermöglichen oder zu verdecken. Beispiel: A bringt in einem Flugzeug, in dem seine Ehefrau mitfliegt, eine Zeitzünderbombe unter, um in den Genuß der Lebensversicherung seiner Frau zu kommen. c) Abs. 4 geht davon aus, daß die gefährdende Handlung zwar vorsätzlich vorgenommen wird, die sich hieraus ergebende Gefahr aber nur fahrlässig verursacht wird. Beispiel: Ein Schrankenwärter schließt die Schranken nicht, weil er pflichtwidrig darauf vertraut, um diese Tageszeit werde niemand den Bahnübergang benutzen. d) Im Falle des Abs. 5 liegt sowohl hinsichtlich der gefahrbegründenden Handlung als auch hinsichtlich der hieraus resultierenden Gefahr nur Fahrlässigkeit vor. Beispiel: Ein Schrankenwärter vergißt, die Schranken zu schließen. 6. Der Versuch ist nur im Falle des Abs. 1 (siehe Abs. 2) und im Falle des Abs. 3 (Verbrechen) strafbar. 7. Abs. 6 bringt eine Sonderregelung der tätigen Reue für den Fall, daß der Täter bereits nach Vollendung der Tat freiwillig verhindert, daß aus der von ihm heraufbeschworenen Gefahr ein erheblicher Schaden entsteht. Satz 2 entspricht der in § 24 Abs. 1 S. 2 getroffenen Regelung. 8. Für Teilnehmer beachte § 11 Abs. 2. 9. Tateinheit ist vor allem möglich mit §§ 315 b, 315 c und §§ 222, 230, im Falle des Abs. 3 auch mit §§211, 223, 265. § 315 a Nr. 2 sowie die §§59 LuftVG, 286 SeeschiffahrtsstraßenO, 82 Eisenbahnbau- und BetriebsO treten als subsidiär zurück.
§ 315 a
Gefährdung des Bahn-, Schiffs- und Luftverkehrs
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. ein Schienenbahn- oder Schwebebahnfahrzeug, ein Schiff oder ein Luftfahrzeug führt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel oder infolge geistiger oder körperlicher Mängel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, oder 2. als Führer eines solchen Fahrzeuges oder als sonst für die Sicherheit Verantwortlicher durch grob pflichtwidriges Verhalten gegen Rechtsvor951
§ 315 a
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
Schriften zur Sicherung des Schienenbahn-, Schwebebahn-, Schilfs- oder Luftverkehrs verstößt und dadurch Leib oder Leben eines anderen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet. (2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist der Versuch strafbar. (3) Wer in den Fällen des Absatzes 1 1. die Gefahr fahrlässig verursacht oder 2. fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Geschütztes Rechtsgut ist die Sicherheit des Schienen-, Schiffs- und Luftverkehrs sowie der Verkehr mit Schwebebahnen. Wegen Straßenbahnen siehe § 315 d. Der entscheidende Unterschied gegenüber § 315 besteht darin, daß § 315 im wesentlichen nur verkehrsfremde oder gar verkehrsfeindliche Eingriffe erfaßt, die von außen in gefährlicher Weise unmittelbar auf Verkehrsvorgänge einwirken, während § 315 a solche Gefährdungen erfaßt, die von dem Fahrzeugführer oder einem sonst für die Sicherheit des Fahrzeugs Verantwortlichen ausgehen. Aus dem Schrifttum siehe insbesondere Naeve/Klages, Trunkenheit bei der Führung eines Schiffes, BA 1974, 357. 2. Täter des Abs. 1 kann nur der Führer eines Schienenfahrzeugs, einer Schwebebahn, eines Schiffs- oder Luftfahrzeugs sein. Die Vorschrift enthält daher ein eigenhändiges Delikt. Führer ist jeder, der das Fahrzeug in eigener Verantwortung in Bewegung setzt und lenkt. Nicht erforderlich ist, daß er sich selbst in dem Fahrzeug aufhält (wichtig für Sessellifte sowie für ferngesteuerte Schiffe und Flugkörper). Im Falle des Abs. 1 Nr. 2 kommt neben dem Fahrzeugführer jeder als Täter in Betracht, der sonst für die Sicherheit verantwortlich ist, z. B. der Kapitän eines Schiffes oder der Eigentümer einer Schwebebahn. 3. Die Tathandlung besteht im Falle des Abs. 1 Nr. 1 darin, daß der Führer das Fahrzeug führt, obwohl er infolge alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel oder infolge geistiger oder körperlicher Mängel fahruntüchtig ist. Die Vorschrift entspricht damit dem in der Praxis bekannteren § 315 c Abs. 1 Nr. 1. Auf die Ausführungen zu § 315 c Abs. 1 Nr. 1 kann insoweit verwiesen werden. Abs. 1 Nr. 2 erfaßt grob pflichtwidrige Verstöße gegen Sicherheitsvorschriften. Als solche kommen vor allem in Betracht: im Eisenbahnverkehr die Eisenbahnbau- und Betriebsordnung vom 8. 5. 1967 (BGBl. II 1563), in der Schiffahrt die BinnenschiffahrtsstraßenO vom 3. 3. 1971 (BGBl. I 178, 384), letzte ÄndVO v. 4. 7. 1977 (BGBl. I 1182) sowie die Schiffahrtsverordnungen für Rhein, Donau und Mosel, ferner die KleinfahrgastschiffVO vom 21. 10. 1967 (BGBl. II 2393), letzte ÄndVO v. 14. 1. 1977 (BGBl. I 59, 84) und die SeeschiffahrtsstraßenO v. 3. 5. 1971 idF v. 9. 8. 1977 (BGBl. I 1497), für den Luftverkehr das LuftverkehrsG sowie die LuftverkehrsO vom 14.11. 1969 (BGBl. I 2117), letzte ÄndVO v. 9. 1. 1976 (BGBl. I 53, 90) und die LuftverkehrszulassungsO idF v. 28.11. 1968 (BGBl. 11263). 4. Wie bei § 315 muß durch die Tat eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben eines anderen oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert herbeigeführt worden sein (konkretes Gefährdungsdelikt). Unerheblich ist, ob die Gefahr für Insassen oder 952
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Ladung des vom Täter geführten Fahrzeugs oder für betriebsfremde Personen und Sachen heraufbeschworen wird. Auf die Ausführungen unter § 315 Anm. 4 kann im übrigen Bezug genommen werden. 5. Der subj. IT», verlangt im Falle des Abs. 1 hinsichtlich aller Tb.-Merkmale Vorsatz. Wegen Fahrlässigkeit siehe Abs. 3, wobei das Gesetz ähnlich differenziert wie in § 315 (siehe dort Abs. 4 und Abs. 5), und zwar je nachdem, ob die gefahrenträchtige Handlung vorsätzlich oder fahrlässig vorgenommen wurde. Beispiel: Der Pilot P weiß, daß er angetrunken ist, vertraut aber pflichtwidrig darauf, daß er den Flug trotzdem gefahrlos durchführen kann. Infolge seiner Trunkenheit kommt es dann schließlich zu einer so harten Landung, daß die Passagiere durcheinandergeschüttelt werden. Hier hat Bestrafung nach Abs. 3 Nr. 1 zu erfolgen; hat P pflichtwidrig gar nicht erkannt, daß er zuviel getrunken hat, so kommt Abs. 3 Nr. 2 zur Anwendung. 6. Der Versuch ist nur im Falle des Abs. 1 strafbar (vgl. Abs. 2). 7. Eine dem § 315 Abs. 6 entsprechende Sonderregelung für tätige Reue nach vollendetem Delikt fehlt. Nach Eintritt der Gefahr ist also strafbefreiende tätige Reue nicht mehr möglich, jedoch ist in den Fällen des Abs. 1 Nr. 2, die ihrer Struktur nach den Fällen des § 315 gleichwertig sind, § 315 Abs. 6 analog anwendbar (vgl. S. 27 BTDrucks. IV/651; Cramer in Schönke-Schröder 18; Dreher 7; Lackner 4). 8. Für Teilnehmer beachte § 11 Abs. 2 (siehe auch § 315 c Anm. VII). 9. Konkurrenzen: Gegenüber den Strafbestimmungen und Ordnungswidrigkeiten der in Anm. 3 erwähnten Sicherheitsvorschriften geht § 315 a Abs. 1 Nr. 2 vor. Umgekehrt ist § 315 a Abs. 1 Nr. 2 gegenüber § 315 subsidiär (BGH 21, 173). IdK. ist möglich mit §§ 222, 230.
§ 315 b
Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr
(1) Wer die Sicherheit des Straßenverkehrs dadurch beeinträchtigt, daß er 1. Anlagen oder Fahrzeuge zerstört, beschädigt oder beseitigt, 2. Hindernisse bereitet oder 3. einen ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff vornimmt, und dadurch Leib oder Leben eines anderen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) Handelt der Täter unter den Voraussetzungen des § 3 1 5 Abs. 3, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. (4) Wer in den Fällen des Absatzes 1 die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 953
§ 315 b
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
(5) Wer in den Fällen des Absatzes 1 fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (6) § 315 Abs. 6 gilt entsprechend. 1. Die durch das 2. VerkSichG vom 26. 11. 1964 eingeführte Vorschrift enthält ein konkretes Gefährdungsdelikt (BGH VM 1976 Nr. 35) und schützt die Sicherheit des Straßenverkehrs gegen verkehrsfeindliche Eingriffe von außen. Verkehrswidrige Verkehrsvorgänge scheiden grundsätzlich aus (s. u. Anm. 3 b, c). 2. Geschützt ist nur der öffentliche Straßenverkehr. Siehe hierzu ausführlich § 142 Anm. 2 c. 3. Tatbestandsaufbau und Tathandlung entsprechen dem bereits erörterten § 315, so daß auf die dortigen Ausführungen grundsätzlich Bezug genommen werden kann. Ergänzend ist folgendes zu beachten: a) Zu Nr. 1: Als Anlagen gelten alle Einrichtungen, die dem Straßenverkehr dienen, insbesondere Verkehrszeichen und Verkehrsampeln, aber auch die Straße selbst. Beispiele: A schüttet Dieselöl auf die Fahrbahn, um Fahrzeuge, insbesondere Zweiradfahrer, ins Schleudern zu bringen. - Oder: Lösen von Radmuttern. - Oder: Steinwürfe gegen ein fahrendes Auto (Schleswig VM 1967 Nr. 34). - Oder: Auswechseln oder Entfernen von vorfahrtsregelnden Verkehrsschildern. b) Als Hindernisbereiten (Nr. 2) kommen grundsätzlich nur verkehrsfremde Eingriffe, d. h. Eingriffe von außen, in Betracht. Beispiele: Aufschichten von Steinen oder Baumstämmen auf der Fahrbahn. - Oder: Spannen von Drähten, durch die besonders Zweiradfahrer gefährdet werden. - Oder: Unzulängliche Absicherung einer Baustelle. Oder: Mangelnde Beaufsichtigung einer Vieh- oder Schafherde, so daß diese ganz oder teilweise auf die Fahrbahn gerät. - Oder: Ein Kraftfahrer unterläßt es pflichtwidrig, ein von ihm umgefahrenes Verkehrszeichen von der Fahrbahn zu räumen (BayObLG DAR 1969, 216). Vorgänge des fließenden oder ruhenden Verkehrs fallen grundsätzlich nicht unter den Anwendungsbereich der Vorschrift. Sie können nur dann als Straßenverkehrsgefährdung bestraft werden, wenn sie unter den Katalog des § 3 1 5 c Abs. 1 Nr. 2 fallen. Andernfalls können sie nur als Verkehrsordnungswidrigkeiten erfaßt werden. Dies gilt vor allem für verkehrswidriges Parken, das auch dann nicht unter § 315 b Nr. 2 fällt, wenn dadurch eine konkrete Gefahr herbeigeführt wird. Etwas anderes gilt nur, wenn ein abgestelltes Fahrzeug zweckentfremdet absichtlich als Straßensperre benutzt wird. Auch unmotiviertes, durch die Verkehrslage nicht gebotenes Abbremsen, durch das der Hintermann gefährdet wird, stellt sich nur dann als tatbestandsmäßiges Hindernisbereiten dar, wenn es einer verkehrsfeindlichen Gesinnung entspricht, z. B. wenn der Täter einen Auffahrunfall provozieren (BGH VM 1976 Nr. 72), zumindest aber seinen Hintermann erschrecken oder zum Anhalten zwingen will (Koblenz VRS 50 [1976], 203). c) Zu Nr. 3 (ähnlich gefährlicher Eingriff): Ein „Eingriff" in den Straßenverkehr ist jede nicht unerhebliche Einwirkung von außen oder eine nicht mehr nur als bloß fehlerhaftes Verkehrsverhalten zu wertende grobe Einwirkung eines Verkehrsteilnehmers (BGH 22, 954
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 315 b
365 ff.). Straßenverkehr i. S. der Vorschrift ist auch der Fußgängerverkehr auf Gehwegen. Tatbestandsmäßig handelt daher auch ein Kraftfahrer, der bei einem Fluchtversuch mit Vollgas auf den Gehweg fährt, so daß die sich dort aufhaltenden Fußgänger sich nur durch einen Sprung zur Seite retten können (BGH aaO.). Weitere Beispiele: Blenden von Fahrzeugführern mit Spiegeln (nicht dagegen Aufblenden der Scheinwerfer trotz Gegenverkehrs); — oder: Bewerfen von Fahrzeugen mit Schneebällen; - oder: Abgabe eines Schusses auf ein im fließenden Verkehr befindliches Fahrzeug (BGH 25, 306); - oder: Schaltung einer Verkehrssicherungsanlage durch Unbefugte; - oder: Versuch eines auf dem Rücksitz eines Funkstreifenwagen sitzenden Festgenommenen, gewaltsam das Lenkrad zu ergreifen und den Wagen auf eine Böschung zuzusteuern, damit die Polizeibeamten ums Leben kommen (BGH VRS 36 [1969], 267); - oder: Zufahren auf einen Polizeibeamten, um die Freigabe der Fahrbahn zu erzwingen, und zwar selbst dann, wenn der Pkw-Fahrer „nur" mit 30 km/h fährt und dem Bedrohten im letzten Augenblick ausweichen will (BGH 26, 176 sowie bei Spiegel DAR 1977, 141, 144); - oder: Mitnehmen eines anderen auf der Kühlerhaube bei hoher Geschwindigkeit (BGH 26, 51); - oder: verspätetes Schließen einer Bahnschranke (Ffm NJW 1975, 840); - oder: Erzwingen der Vorfahrt durch plötzliches Beschleunigen in einem Augenblick, in dem der Wartepflichtige nicht mehr damit rechnet (BGH VM 1976 Nr. 72); - oder: Fahren auf der BAB in entgegengesetzter Fahrtrichtung (Stgt NJW 1976, 2223); - oder: Herabwerfen fester Gegenstände von Autobahnbrücken auf fahrehde Fahrzeuge (BGH bei Spiegel DAR 1977,141, 142). Nicht ausreichend sind dagegen folgende Fälle: Griff ins Steuerrad, nur um einen bestimmten Verkehrsvorgang zu beeinflussen, z. B. um den Fahrer zum Anhalten oder zum Abbiegen zu veranlassen, ohne daß damit eine bewußte Zweckentfremdung des Verkehrsvorgangs beabsichtigt ist (vgl. Hamm NJW 1969, 1975, wo'jedoch auf die Möglichkeit hingewiesen wird, die Tat als Nötigung zu bestrafen; - oder: ein Pkw-Fahrer fährt langsam auf einen ihm den Weg versperrenden Fußgänger zu und berührt ihn nur leicht (Stgt VM 1973 Nr. 94); - oder: unzureichende Sicherung eines Fahrzeugs, so daß dieses auf die Fahrbahn rollt und diese blockiert (BayObLG VM 1975 Nr. 19). - Die mangelhafte oder pflichtwidrig unterlassene Reparatur eines Kfz stellt nur dann einen „Eingriff" dar, wenn das Fahrzeug absichtlich beschädigt oder in schadhaftem Zustand belassen wird (BayObLG JR 1975, 28 m. zust. Anm. Rüth). 4. Wie § 315 ist auch § 315 b ein konkretes GefährdungsdelikL Die Ausführungen unter § 3 1 5 Anm. 4 gelten daher entsprechend. 5. Zum subj. Tb. siehe § 315 Anm. 5. Ergänzend ist zu beachten, daß im Falle des Abs. 1 Nr. 3 eine allgemein verkehrsfeindliche Einstellung des Täters nicht erforderlich ist (vgl. BGH VM 1972 Nr. 53 m. weit. Nachw.). 6. Der Versuch ist nur im Falle des Abs. 1 (siehe Abs. 2) und im Falle des Abs. 3 (Verbrechen) strafbar. 7. Abs. 6 verweist auf die in § 315 getroffene Sonderregelung der tätigen Reue. 8. Für Teilnehmer beachte § 11 Abs. 2 (siehe auch § 315 c Anm. VII). 9. Tateinheit ist möglich mit §§ 113, 222, 230, 240, 315 c (BGH 22, 67 sowie bei Spiegel DAR 1977,141, 145), 316, außerdem mit § 21 StVG.
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§ 315 c
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§ 315 c Gefährdung des Straßenverkehrs (1) Wer im Straßenverkehr 1. ein Fahrzeug führt, obwohl er a) infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel oder b) infolge geistiger oder körperlicher Mängel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, oder 2. grob verkehrswidrig und rücksichtslos a) die Vorfahrt nicht beachtet, b) falsch überholt oder sonst bei Überholvorgängen falsch fährt, c) an Fußgängerüberwegen falsch fährt, d) an unübersichtlichen Stellen, an Straßenkreuzungen, Straßeneinmündungen oder Bahnübergängen zu schnell fährt, e) an unübersichtlichen Stellen nicht die rechte Seite der Fahrbahn einhält, f) auf Autobahnen oder Kraftfahrstraßen wendet, rückwärts fährt oder dies versucht oder g) haltende oder liegengebliebene Fahrzeuge nicht auf ausreichende Entfernung kenntlich macht, obwohl das zur Sicherung des Verkehrs erforderlich ist, und dadurch Leib oder Leben eines anderen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist der Versuch strafbar. (3) Wer in den Fällen des Absatzes 1 1. die Gefahr fahrlässig verursacht oder 2. fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. I. Die zuletzt durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift schützt die Sicherheit des Straßenverkehrs gegen Gefährdungen durch Fahrzeugführer, die entweder in fahruntüchtigem Zustand am Verkehr teilnehmen oder sich grob verkehrswidrig und rücksichtslos über allgemein anerkannte Grundregeln des Straßenverkehrs hinwegsetzen. (Über verkehrsgefährdende Eingriffe von außen siehe § 315 b.) Schrifttum: Hentschel/Born, Trunkenheitim Straßenverkehr, 1977. II. Geschützt ist nur der öffentliche Verkehr. Siehe hierzu § 142 Anm. 2 c. DI. Die in Abs. 1 Nr. 1 a geregelte Straßenverkehrsgefährdung durch Trunkenheit am Steuer stellt einen qualifizierten Fall der folgenlos gebliebenen Trunkenheitsfahrt gemäß § 316 dar. Wie bei § 316 kann die Tat nur von einem angetrunkenen Fahrzeugführer begangen werden. Es handelt sich somit um ein eigenhändiges Delikt. Der wesentliche Unterschied gegenüber § 316 besteht darin, daß § 315 c zur Tatbestandsverwirklichung die Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder die Gefährdung fremder Sachen 956
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§ 315 c
von bedeutendem Wert voraussetzt. Die Vorschrift wird hierdurch zu einem konkreten Gefährdungsdelikt. Im einzelnen: 1. Die Strafdrohung richtet sich nicht nur gegen Kraftfahrer, sondern gegen jeden, der ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht mehr fahrtüchtig ist. Täter kann also z. B. auch ein betrunkener Radfahrer sein (nicht dagegen der Fahrzeughalter, der einem Fahruntüchtigen das Steuer überläßt, vgl. BGH 18, 6). 2. Die Art des Fahrzeugs ist unerheblich, sofern sich das Fahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr bewegt. In Betracht kommen vor allem Kraftfahrzeuge, Fahrräder und Pferdefuhrwerke, aber auch Pferde- und Hundeschlitten. Durch § 315 c nicht erfaßt werden dagegen Reiter und Soziusfahrer. Diese können nur nach § 2 StVZO belangt werden. Für Schienenfahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge und Schwebebahnen siehe die Regelung des § 3 1 5 a. 3. Als Tathandlung genügt jedes Führen eines Fahrzeugs. Der Begriff des Führens ist enger als der Begriff der Teilnahme am Verkehr, die jede unmittelbare Einwirkung auf den Verkehr umfaßt. Beide Begriffe sind zwar miteinander verwandt, decken sich aber nicht vollständig. Ein „Führen" setzt immer eine vom Willen gesteuerte Handlung voraus. Wer also nur versehentlich ein Fahrzeug in Bewegung setzt, „führt" das Fahrzeug nicht (vgl. BayObLG DAR 1970, 331). Bei Kraftfahrzeugen ist ferner folgendes zu beachten: a) Ein Fahren oder Anfahren ist nicht erforderlich. Es genügt, wenn der Täter in der Absicht, das Fahrzeug in Gang zu setzen, das Trieb- oder Fahrwerk betätigt, z. B. durch Lösen der Handbremse, durch Einschalten der Zündung oder Betätigen des Anlassers (BGH 7, 315; Koblenz DAR 1972, 50) oder wenn er sich anschieben oder anschleppen läßt, um so den Motor in Gang zu setzen (vgl. Rüth DAR 1974, 57 f.). b) Als weitere, z. T. umstrittene Fälle, in denen die Rspr. das Führen eines Fahrzeugs angenommen hat, sind zu beachten: das Schlafen im stehenden Pkw bei laufendem Motor (BayObLG VRS 27, 220, siehe jedoch Schleswig VM 1974 Nr. 72), das Rollenlassen ohne Motorkraft auf einer Gefällstrecke (BGH 14, 185), die Betätigung der Lenkung, während ein anderer Gas, Bremse und Kupplung bedient (BGH 13, 226), die nach dem Anhalten zu treffenden Maßnahmen, zu denen der Fahrzeugführer beim Verlassen des Fahrzeugs verpflichtet ist, z. B. das Absichern eines Lastzugs auf einer Gefällstrecke (BGH 19, 371). c) Der Tatbestand ist dagegen nicht erfüllt, wenn der Beschuldigte den Anlasser unwiderlegbar nur betätigt, um festzustellen, ob der Motor noch anspringt oder wenn er den Motor nur anläßt, um die Heizung in Betrieb zu nehmen (vgl. Rüth DAR 1974, 57 f.). Er setzt nämlich in diesen Fällen nur eine Maschine in Gang, die ohne gleichzeitiges Einschalten des Getriebes oder Lösen der Bremsen ihren Ort nicht verlassen kann (BGH 7, 315, 317). Dasselbe gilt, wenn jemand den Motor für einen anderen anläßt, dem er anschließend das Steuer überlassen will (vgl. Celle VM 973 Nr. 24). Nicht ausreichend sind ferner der Griff ins Steuerrad, um den Fahrer zum Halten oder Abbiegen zu veranlassen (Hamm NJW 1969, 1976; Köln NJW 1971, 670), der vergebliche Versuch, den Zündschlüssel in das Zündschloß einzuführen (Hamm VRS 22, 384) oder der vergebliche Versuch, sich auf den Sattel eines Mofas zu setzen (BayObLG VM 1975 Nr. 23). Auch 957
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Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
das Schieben eines Kfz ist kein „Führen" (Oldenburg VRS 48 [1974], 356; Celle D A R 1977, 219), wohl aber das Verhalten desjenigen, der Lenkung und Bremse des geschobenen Fahrzeugs selbständig bedient (Koblenz VRS 49 [1975], 366). d) Bei Ubungs- und Priifungsfahrten sind Fahrlehrer und Fahrschüler Kraftfahrzeugführer (Rüth D A R 1974,57 f.). 4. Als Ursachen der Fahruntiichtigkeit kommen nur alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in Betracht. Über andere Ursachen siehe Nr. 1 b. a) Zu den alkoholischen Getränken gehören auch bestimmte alkoholhaltige Medikamente, z. B. Melissengeist und Diacard. b) Andere berauschende Mittel sind solche, die in ihren Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem durch Hervorrufung von Benommenheit oder Kontrollverlust den Wirkungen des Alkohols vergleichbar sind, z. B. Äther, Opium, Morphium, Haschisch (BGH bei Spiegel D A R 1977, 141, 145), LSD und Kokain, aber auch Schlafmittel (insbesondere verschreibungspflichtige Barbitursäurepräparate wie Luminal, aber auch barbitursäurefreie Präparate wie Adalin, Betadorm [BayObLG bei Rüth DAR 1977, 199, 204] und Dolestal). Zum Ganzen siehe auch Naeve/Schmutte, Kraftfahrt und Verkehrsrecht, 1971 5. 325. 5. Die Fahruntiichtigkeit tritt dann ein, wenn der Fahrzeugführer nicht mehr in der Lage ist, sein Fahrzeug sicher zu führen. Wann dies der Fall ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, wobei die Rspr. inzwischen bestimmte wissenschaftlich entwickelte Erfahrungsgrundsätze herausgearbeitet hat. a) Die sog. absolute Fahruntüchtigkeit. aa) Der Führer eines Kraftfahrzeugs (Pkw, Lkw, Kraftrad, Moped u. a. m.) gilt nach derzeitiger Rspr. dann als fahruntüchtig, wenn sein Blutalkoholgehalt l,3%o erreicht hat (vgl. B G H 21, 157 unter Aufgabe der früheren, noch in BGH 19, 243 vertretenen 1,5%0-Grenze bei Pkw- und Lkw-Fahrern). Entscheidender Zeitpunkt ist dabei grundsätzlich der Zeitpunkt der Fahrt, nicht der der Blutentnahme. Mit Rücksicht auf die außerordentliche Gefährlichkeit der Alkoholwirkung während der sog. Anstiegs- oder Resorptionsphase liegt absolute Fahruntüchtigkeit allerdings auch dann vor, wenn der Grenzwert von l,3%o erst nach der Fahrt erreicht oder überschritten wird (BGH 25, 246 = NJW 1974, 246 m. Anm. Händel). Entsprechend der Rechtslage in § 24 a StVG (abgedruckt hinter § 316) macht es hierbei keinen Unterschied, ob es sich bei dem zuletzt genossenen Alkohol um eine kleine oder eine größere Menge handelte, ob dieser Alkohol hastig oder normal eingenommen wurde und ob die l,3%o-Grenze wesentlich oder nur unwesentlich überschritten wurde (BGH aaO.). Entscheidend ist allein, daß der Fahrer während der Fahrt so viel Alkohol im Körper hatte, daß die l,3%o-Grenze während oder nach der Fahrt erreicht oder überschritten wurde. Bei der Rückrechnung ist ein gleichbleibender Abbauwert von 0,1 %o zugrundezulegen, wobei jedoch die beiden letzten Stunden nach Trinkende von der Rückrechnung grundsätzlich auszunehmen sind (BGH aaO.). Ob die l,3%o-Grenze erreicht oder überschritten wurde, richtet sich nach dem Analysenmittelwert (BGH 21, 157; BayObLG NJW 1976,1802). bb) Bei Kraftradfahrem wurde die absolute Fahruntüchtigkeit schon vor der oben zitierten Entscheidung des B G H vom 9. 12. 1966 (BGH 21, 157) bei l,3%o angenommen 958
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(BGH 13, 83). Sie gilt auch für Mopedfahrer (Hamm NJW 1976, 1161), nicht jedoch für Mofa-Fahrer (BGH 25, 360; zw., vgl. Händel NJW 1974, 2292). An dieser Promillegrenze hat sich auch nach der Entscheidung BGH 21, 157 nichts geändert (vgl. BGH 22, 253). cc) Bei Soziusfahrern eines Solokraftrads wird die Verkehrstüchtigkeit spätestens ab 2,0%o zu verneinen sein (vgl. Hamm DAR 1963, 255). Hierbei ist allerdings zu beachten, daß sich die Strafbarkeit nicht aus § 315 c ergibt, sondern aus § 2 StVZO (Ordnungswidrigkeit, zu ahnden nach § 24 StVG). dd) Bei Radfahrern und Fahrern sog. Mofas gibt es entgegen der Rechtsprechung verschiedener Oberlandesgerichte keine absolute Grenze, bei der man mit Sicherheit Fahruntüchtigkeit annehmen kann. Hier entscheidet immer der Einzelfall (BGH 19, 82; 25, 360 m. abl. Anm. Händel NJW 1974, 2292). b) Die sog. relative Fahruntüchtigkeit. aa) Erreicht der Blutalkoholgehalt nicht die absolute Grenze der Fahruntüchtigkeit, so muß der Tatrichter sämtliche Umstände des Einzelfalls untersuchen. Hierbei können sowohl die Fahrweise als auch etwaige psycho-physische Ausfallserscheinungen (Schwanken beim Gehen, mangelnde Konzentrations- oder Orientierungsfähigkeit usw.) den Schluß rechtfertigen, daß die Gesamtleistungsfähigkeit des Fahrzeugführers soweit herabgesetzt ist, daß er nicht mehr in der Lage ist, sein Fahrzeug sicher zu führen. Alkoholbedingte Persönlichkeitsveränderungen sind dabei im allgemeinen von weit größerer Bedeutung als grobe, nach außen erkennbare Trunkenheitserscheinungen, weil sie zu Leichtsinn, Selbstüberschätzung, zu Rücksichtslosigkeit und Aggressivität gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern führen (vgl. Hamm BA 1970, 149). So ist auch mutwilliges Fahren in Schlangenlinien, um andere am Überholen zu hindern, ein typisches Zeichen alkoholbedingter Enthemmung (Hamm aaO.). Entsprechendes gilt für sonstige Fälle bewußt verkehrswidrigen Fahrverhaltens, z.B. verbotswidriges Wenden (Ddf VM 1977 Nr. 37). Auch die äußeren Umstände der Tat müssen berücksichtigt werden, z. B. Länge der Fahrt und Schwierigkeit der Strecke (Nebel, Glatteis, kurvenreiche Straße usw.). Besonders strenge Anforderungen an die Fahrtüchtigkeit wird man bei längeren Nachtfahrten stellen müssen. Der Bereich dieser sog. relativen Fahruntüchtigkeit liegt zwischen 0,3 und l,3°/oo (BGH VRS 36 [1969], 174). bb) Der Nachweis der relativen Fahruntüchtigkeit stößt in der Gerichtspraxis oft auf Schwierigkeiten, wenn die fehlerhafte Fahrweise nicht zwingend als alkoholbedingt angesehen werden muß. Selbst beim Hinzutreten leistungsmindernder Umstände (z. B. Krankheit oder Ermüdung) setzt nämlich bei einer unter l,3%o liegenden Blutalkoholkonzentration die Feststellung alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit zusätzliche Beweisanzeichen voraus (BayObLG NJW 1968, 1200). Die richterliche Überzeugung erfordert allerdings keine mathematische, jede Möglichkeit eines Gegenteils ausschließende Gewißheit. Erforderlich und ausreichend ist vielmehr, daß ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit besteht, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr laut werden können (Hamm BA 1966, 393). Der Richter ist daher nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) nicht gehindert, eine bestimmte Ausfallserscheinung oder Fahrweise auch dann als alkoholbedingt anzusehen, wenn sich gedanklich nicht ausschließen läßt, daß ein Nüchterner in gleicher Weise reagiert hätte (Ddf VM 1977 Nr. 37). Entscheidend ist allein seine Überzeugung, die er aus bestimmten
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§ 315 c
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
Tatsachen gewinnt. Eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit ist vor allem dann indiziert, wenn die BÄK nur ganz geringfügig unter l,3%o liegt (Hamm NJW 1975, 2251; zw., vgl. Hamm NJW 1976, 382) oder wenn mehrere Beweisanzeichen zusammentreffen, z. B. eine Vorfahrtsverletzung, die nach längerem Schlafentzug unter der Einwirkung einer BÄK von O,977 00 begangen wurde (Hbg BA 1970, 154; siehe auch Köln VRS 51 [1976] 33). Im allgemeinen nicht ausreichend ist dagegen eine geringe Geschwindigkeitsüberschreitung, wie sie auch einem nüchternen Kraftfahrer unterlaufen kann (BGH VRS 34, 360; 36, 174; Möhl DAR 1971, 4 ff.). Dasselbe gilt umgekehrt für eine betont langsame und vorsichtige Fahrweise (Hamm DAR 1975,249). c) Über die Bedeutung des 0,8-Promille-Gefahrengrenzwerts siehe § 24 a StVG (abgedruckt nach § 316 StGB). 6. Durch die Tat muß eine Gefahr für Leib oder Leben eines anderen oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert herbeigeführt worden sein. Siehe hierzu ausführlich § 315 Anm. 4. Die Gefährdung muß gerade auf die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit zurückzuführen sein. Hinsichtlich des Nachweises dieser Kausalität gelten die oben unter 5 b, bb entwickelten Grundsätze entsprechend. Läßt sich dieser Nachweis nicht führen, so kommt nicht § 315 c, sondern nur § 316 in Betracht. 7. Der subj. Tb. erfordert hinsichtlich aller Tatbestandsmerkmale Vorsatz. Bei Fahrlässigkeit siehe Abs. 3. Fahrlässig handelt insbesondere, wer sich bei Fahrtantritt nicht mit der erforderlichen Sorgfalt vergewissert, ob er noch fahrtüchtig ist. Ein Kraftfahrer ist dabei auch verpflichtet, sich bei dem Genuß unbekannter Getränke zu vergewissem, ob sie Alkohol enthalten (vgl. Hamm BA 1970, 153). In der Regel wird dies bereits bei der ersten Geschmacksprobe feststellbar sein. So ist es z. B. unschwer vorstellbar, daß ein erwachsener Mann den konzentrierten Alkoholgeschmack von Melissengeist nicht schon beim ersten Schluck verspürt haben soll (Hamm aaO.). Siehe auch § 316 Anm. 8. 8. Die Rechtswidrigkeit wird nach h. M. nicht dadurch ausgeschlossen, daß der durch die Tat Gefährdete, insbesondere der Beifahrer eines angetrunkenen Fahrzeugführers, das mit der Fahrt verbundene Risiko bewußt auf sich genommen hat (vgl. BGH 23, 261; Stgt NJW 1976, 1904; Geerds BA1965, 124, 133; Lackner, Das konkrete Gefährdungsdelikt im Straßenverkehr, 1967, S. 11; Lackner 8; Rüth LK 56; a. A. Cramer in Schönke-Schröder 33 m. weit. Nachw.). Die Einwilligung des Gefährdeten kann schon deshalb keine rechtfertigende Wirkung haben, weil § 315 c nicht nur Individualinteressen, sondern vorrangig die Sicherheit des Straßenverkehrs insgesamt, somit ein Rechtsgut der Allgemeinheit schützt, über das der im Einzelfall Gefährdete nicht rechtswirksam verfügen kann (BGH aaO.). Dies gilt selbst dann, wenn es sich bei dem Gefährdeten um einen Tatbeteiligten handelt (Stgt NJW 1976,1904 m. Bespr. Hillenkamp JuS 1977,166). IV. Abs. 1 Nr. 1 b erfaßt die Fälle, in denen der Fahrzeugführer auf Grund sonstiger (also nicht alkoholbedingter) geistiger oder körperlicher Mängel fahruntüchtig ist. 1. Über den Begriff der Fahruntüchtigkeit s. o. III 5. Beispiele: Altersschwäche, Übermüdung, Schwerhörigkeit, Schwachsichtigkeit oder sonstige erhebliche Sehstörungen, Körperbehinderung durch Amputation, vor allem auch Einwirkung von Medikamenten.
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Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 315 c
2. Der Tb. entfällt, wenn der Fahrer in geeigneter Weise Vorsorge getroffen hat, daß sich der bei ihm vorhandene Mangel nicht nachteilig auswirkt. O b dies möglich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. So kann sich z. B. ein Beinamputierter dadurch helfen, daß er an seinem Fahrzeug bestimmte technische Veränderungen vornimmt. Die Ausführungen zu Abs. 1 Nr. 1 a (s. o. III) gelten im übrigen entsprechend. 3. Übermüdung liegt vor, wenn der Fahrzeugführer trotz entsprechender Bemühungen nicht mehr in der Lage ist, das durch Müdigkeit entstehende Leistungsdefizit durch gesteigerte Konzentration auszugleichen, insbesondere wenn er das Schlafbedürfnis nicht mehr erfolgreich bekämpfen kann. Subjektiv ist dabei folgendes zu beachten (vgl. B G H 23, 156): Nach dem gegenwärtigen Stand der ärztlichen Wissenschaft gilt der Erfahrungssatz, daß ein Kraftfahrer, bevor er am Steuer seines Fahrzeugs während der Fahrt einschläft (einnickt), stets deutliche Zeichen der Ermüdung an sich wahrnimmt oder wenigstens wahrnehmen könnte. Ausgenommen ist nur der seltene Fall, daß der Kraftfahrer an Narkolepsie leidet. V. In Abs. 1 Nr. 2 werden bestimmte, als besonders gefährlich bekannte Verkehrsverstöße, die sog. sieben Todsünden des Straßenverkehrs, zu Vergehen erhoben, wenn der Täter grob verkehrswidrig und rücksichtslos gehandelt hat. 1. Eine Vorfahrtsverletzung (Nr. 2 a) liegt nicht nur dann vor, wenn ein Fahrer an einer Kreuzung oder Einmündung gegen die in § 8 StVO getroffene Vorfahrtsregelung verstößt. Ein Vorfahrtsfall i. S. der Vorschrift ist vielmehr auch dann gegeben, wenn die Fahrlinien zweier Fahrzeuge bei unveränderter Fahrtrichtung zusammentreffen oder einander gefährlich nahe kommen ( B G H 11, 219; 13, 129; K G D A R 1976, 240). Hierher gehören insbesondere das Kreuzen des Gegenverkehrs unter Verletzung von § 9 Abs. 3 S. 1 StVO ( B G H 11, 219; 12, 21), Wendemanöver (siehe auch unten Anm. 6), das Herausfahren aus einem Grundstück unter Verletzung von § 10 StVO, das Verlassen eines Parkplatzes oder einer Autobahnstandspur, um sich wieder in den fließenden Verkehr einzuordnen ( B G H 13, 129) sowie Mißachtung der Vorrangregelung an einer Engstelle (vgl. Oldenburg VM 1972 Nr. 33). Keine „Vorfahrt" ist das Vortrittsrecht des Fußgängers (Stgt NJW 1969, 889f.; Jagusch 29; a . A . Dreher 5). 2. Verkehrswidriges Verhalten bei Überholvorgängen (Nr. 2 b) richtet sich nicht nur nach § 5 StVO. Erfaßt werden vielmehr alle Verkehrsverstöße, die mit dem Überholvorgang in innerem Zusammenhang stehen. Hierher gehören insbesondere unerwartetes Ausscheren auf die Überholfahrbahn vor einem sich schnell von hinten nähernden anderen Fahrzeug, Schneiden der Fahrbahn des gerade überholten Fahrzeugs, sog. Lückenspringen bei Kolonnenfahrt mit Gegenverkehr, Erhöhung der Geschwindigkeit seitens des überholten Kraftfahrers sowie dichtes Auffahren unter ständiger Abgabe von Signalen, um die Freigabe der Uberholfahrbahn zu erzwingen (Krhe NJW 1972, 962). 3. Falsches Fahren an Fußgängerüberwegen (Nr. 2 c). Hierher gehören vor allem Verstöße gegen § 26 StVO. Besonders hervorzuheben ist dabei der Fall, daß jemand ein vor einem Fußgängerüberweg haltendes Fahrzeug überholt, obwohl er damit rechnen muß, daß der Überholte angehalten hat, um Fußgängern den Vortritt einzuräumen. Fußgängerüberweg i. S. der Vorschrift ist dabei nur ein durch Zeichen 293 und 350 31
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
gekennzeichneter Überweg (sog. Zebrastreifen), und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Fußgängerverkehr zusätzlich durch eine Lichtzeichenanlage gesichert ist oder nicht Koblenz VM 1976 Nr. 16; a. A. Stgt NJW 1969, 889 sowie dieh. L„ hier die Voraufl.). 4. Zu schnelles Fahren an unübersichtlichen Stellen, an Straßeneinmündungen und Straßenkreuzungen sowie an Bahnübergängen (Nr. 2 d). Unübersichtlich ist eine Stelle, wenn der Fahrer den Verkehrsablauf nicht vollständig überblicken, insbesondere etwaige Hindernisse und Gefahren nicht rechtzeitig erkennen und vermeiden kann, z. B. wenn ihm auf einer kurvenreichen Strecke durch Bäume, Häuser, Felswände usw. die Sicht genommen ist. Aber auch Dunkelheit, Nebel, Schneegestöber und starker Regen können eine Strecke unübersichtlich machen. Bei allen Tatbestandsalternativen ist zu beachten, daß gerade das Vorhandensein einer unübersichtlichen Stelle usw. für den Eintritt der konkreten Gefahr von Bedeutung gewesen sein muß (BayObLG DAR 1976,164). 5. Das Nichteinhalten der rechten Fahrbahn an einer unübersichtlichen Stelle (Nr. 2 e). Wegen „unübersichtlich" s. o. 4. Hierher gehört vor allem das Schneiden von Kurven. Wird auf einer unübersichtlichen Strecke die rechte Fahrbahnseite zum Zwecke des Überholens verlassen, so sind gleichzeitig auch die Voraussetzungen der Nr. 2 b gegeben. 6. Das Wenden ( = Richtungsänderung auf der Straße um 180°, vgl. KG VM 1975 Nr. 106) oder Rückwärtsfahren ( = Fahren in Heckrichtung, vgl. Stgt NJW 1976, 2223) auf Autobahnen oder sog. Kraftfahrstraßen (vgl. Nr. 2 f). Wegen der besonderen Gefährlichkeit dieses Vorgangs ist auch der Versuch unter Strafe gestellt. Hinzu kommen muß allerdings, daß bereits auf Grund des versuchten Wendens eine Gefährdung anderer eingetreten ist. Ohne Gefährdung anderer ist die Tat als Ordnungswidrigkeit nach §§ 18 Abs. 7 StVO, 24 StVG zu verfolgen. Zum Ganzen siehe auch Mühlhaus DAR 1977, 7. 7. Die NichtSicherung liegengebliebener Fahrzeuge (Nr. 2 g). Kommt es zu keiner konkreten Gefährdung anderer oder kann dem Täter keine Rücksichtslosigkeit (s. u. 8 b) nachgewiesen werden, so ist die Tat als OWi nach §§15 StVO, 24 StVG zu verfolgen. 8. Die unter Ziff. 1 - 7 dargelegten Verkehrsverstöße werden nur dann zu Verkehrsvergehen, wenn sie grob verkehrswidrig und rücksichtslos begangen wurden und durch die Tat Leib oder Leben eines anderen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet worden sind. Fehlt eines dieser drei Elemente, so kann der Verkehrsverstoß nur als Ordnungswidrigkeit nach § 24 StVG i. V. mit den einschlägigen Bestimmungen der StVO geahndet werden. a) Grob verkehrswidrig ist eine Fahrweise, wenn sie objektiv einen besonders schweren Verstoß gegen die Grundregeln des Straßenverkehrs darstellt, z. B. wenn jemand innerhalb geschlossener Ortschaft mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h über eine Kreuzung fährt (vgl. Karlsruhe NJW 1960, 546) oder mit einer Geschwindigkeit von 3 5 - 4 0 km/h aus einer untergeordneten Straße nach links in eine Vorfahrtsstraße einbiegt (BGH 5, 392, 395). Auch Überholen trotz ausgesprochen schlechter Sichtverhältnisse muß grundsätzlich als grob verkehrswidrig angesehen werden (BayObLG VM 1968 Nr. 33; Koblenz VRS 47 [1974], 31). b) Rücksichtslos handelt, wer sich im Straßenverkehr aus eigensüchtigen Gründen über seine Pflichten gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern hinwegsetzt oder aus Gleichgül-
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Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 315 c
tigkeit überhaupt keine Bedenken gegen seine Fahrweise aufkommen läßt ( B G H 5, 392, 395) und deshalb unbekümmert um die Folgen seiner Fahrweise „einfach darauf losfährt" (Stgt Justiz 1970, 238) oder durch bewußt riskante Fahrweise gleichzeitig Gefahren heraufbeschwört (Ddf VM 1974 Nr. 49). Rücksichtslos kann auch handeln, wer hinsichtlich der von ihm verursachten Gefährdung nur fahrlässig handelt, z. B. wer trotz Gegenverkehrs überholt, dabei aber vertraut, „es werde noch reichen" (vgl. B G H aaO.; Stgt NJW 1967, 1766). Grobe Fahrlässigkeit rechtfertigt allerdings noch nicht die Annahme von Rücksichtslosigkeit; diese setzt vielmehr groben Leichtsinn oder Gleichgültigkeit voraus, d. h. einen gesteigerten Grad mangelnder Rücksichtnahme (Stgt Justiz 1971, 310). So handelt z. B. rücksichtslos, wer bei dichtem Großstadtverkehr trotz erheblicher Gefährdung des Gegenverkehrs aus objektiv völlig unwichtigen, rein persönlichen Gründen (z.B. um den Beginn einer Fernsehsendung nicht zu versäumen, Köln VM 1972 Nr. 44) zum Überholen ansetzt, oder wer auf schmaler Straße mit hoher Geschwindigkeit gewissermaßen blind mit hoher Geschwindigkeit eine unübersichtliche Linkskurve „schneidet" (Köln VRS 48 [1975], 205) oder wer auf der Flucht vor der Polizei unter Mißachtung einer Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage über eine Kreuzung fährt (BGH bei Martin D A R 1975, 117). Rücksichtslosigkeit kann aber auch dann vorliegen, wenn der Täter aus an sich verständlichen Motiven handelt, z. B. wenn er noch rechtzeitig zu einem Gerichtstermin kommen oder noch einmal seine kranke Mutter sehen will (BayObLG JR 1960, 70). Selbst Ärzte, die schnell zu einem Patienten müssen, dürfen sich nicht bedenkenlos über Verkehrsvorschriften hinwegsetzen (Stgt Justiz 1963, 38). Zur Rücksichtslosigkeit von „Kolonnenspringern" siehe BayObLG bei Rüth D A R 1977, 199, 204. Der Vorwurf der Rücksichtslosigkeit entfällt, wenn lediglich hochgradige Erregung, nicht aber der Mangel an Verkehrsgesinnung die Ursache einer grob verkehrswidrigen Fahrweise ist ( B G H NJW 1962, 2165). Dies kann z. B. dann der Fall sein, wenn jemand aus Angst vor einer von ihm als unberechtigt und ehrenkränkend empfundenen Festnahme durch die Stadt flieht (vgl. B G H aaO.; zw.). Der Vorwurf der Rücksichtslosigkeit entfällt ferner, wenn jemand infolge einer vorübergehenden Unaufmerksamkeit oder aus Bestürzung und Schrecken die Verkehrslage falsch beurteilt und aus dieser Situation heraus einen schweren Fahrfehler begeht. Auch derjenige, der infolge falscher Einschätzung der Straßenverhältnisse oder Verkehrslage in einer Rechtskurve auf die linke Fahrbahnhälfte geraten ist, handelt nicht ohne weiteres rücksichtslos (Hamm D A R 1969, 275). 9. Über Gefahr für Leib oder Leben usw. siehe ausführlich § 315 Anm. 4. 10. Der subj. Tb. erfordert hinsichtlich aller Tb.-Merkmale Vorsatz. VI. Abs. 3, der sich mit den Möglichkeiten der fahrlässigen Tatbegehung befaßt, ist ähnlich aufgebaut wie § 315 Abs. 4 und Abs. 5. Die Ausführungen unter § 315 Anm. 5 c, d gelten entsprechend. D a der Täter in aller Regel darauf vertraut, daß es trotz seines verkehrswidrigen Verhaltens zu keiner Gefährdung anderer, insbesondere zu keinem Unfall kommen werde, hat Abs. 3 in der täglichen Gerichtspraxis eine weit größere Bedeutung als die Vorsatztat des Abs. 1. VII. Für Teilnehmer ist § 11 Abs. 2 zu beachten. Es genügt also, daß der Täter die eigentliche Tathandlung (z. B. das Fahren in fahruntüchtigem Zustand oder das Überholen an einer unübersichtlichen Stelle) vorsätzlich begeht und der Vorsatz des Teilnehmers 31
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§§ 315 d, 316
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
sich hierauf erstreckt (Stgt NJW 1976, 1904). Hinsichtlich der Tatfolge (Gefahr für Leib, Leben usw.) genügt Fahrlässigkeit, wobei es gemäß § 29 für die Beurteilung des Teilnehmers unerheblich ist, ob auch der Täter fahrlässig handelt. VIII. Konkurrenzen: Treffen mehrere Tatbestandsalternativen des § 315 c in einer Handlung zusammen, so liegt nur eine Straftat und nicht IdK. vor (BayObLG bei Rüth DAR 1973, 205). Tateinheit ist möglich mit §§ 222, 230 und § 315 b (BGH bei Spiegel DAR 1977, 141, 145). Gegenüber § 316 und gegenüber § 24 a StVG geht § 315 c als das speziellere Gesetz vor. Über das Verhältnis zu § 142 siehedort Anm. 12.
§ 315 d
Schienenbahnen im Straßenverkehr
Soweit Schienenbahnen am Straßenverkehr teilnehmen, sind nur die Vorschriften zum Schutz des Straßenverkehrs (§§ 315 b, 315 c) anzuwenden. 1. Die durch das 2. VerkSichG eingeführte Vorschrift findet in erster Linie auf Straßenbahnen Anwendung. Aber auch überörtliche Schienenbahnen, die sich außerhalb geschlossener Ortschaften nach Art von Eisenbahnen auf einem eigenen Bahnkörper bewegen, fallen unter den Anwendungsbereich der Vorschrift, soweit sie (vor allem innerhalb geschlossener Ortschaften) nach Art von Straßenbahnen am Straßenverkehr teilnehmen. Sonstige Schienenbahnen, die nicht am Straßenverkehr teilnehmen, werden durch §§ 315,315 a erfaßt. 2. Eine Schienenbahn nimmt am Straßenverkehr teil, wenn sich ihr Fahrverhalten nach den allgemeinen Regeln des Straßenverkehrs zu richten hat. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob die Bahn als Eisenbahn oder als Straßenbahn zugelassen ist (wichtig für überörtliche Bahnen, s. o. 1). Verkehrt die Bahn auf einem eigenen Gleiskörper (auch in geschlossenen Ortschaften möglich), so nimmt sie nicht am Straßenverkehr teil, so daß die §§ 315, 315 a Anwendung finden. 3. Bei schienengleichen Übergängen kommt es nicht darauf an, ob die Bahn auf einem eigenen Gleiskörper verkehrt; entscheidend ist vielmehr, ob der Schienenbahn gemäß § 19 Abs. 1 Nr. 1 StVO durch Warnkreuze nach Zeichen 201 ein Vorrecht eingeräumt ist. In diesem Fall kommen die §§ 315, 315 a zur Anwendung. Andernfalls greifen gemäß § 315 d die §§ 315 b, 315 c ein (vgl. BGH 15, 9; Stgt VM 1972 Nr. 120; Cramer in Schönke-Schröder 3). 4. Fallen Tathandlung und Gefährdung örtlich auseinander, so kommt es für die Frage, ob die §§ 315, 315 a oder die §§ 315 b, 315 c zur Anwendung kommen, darauf an, wo die Gefahr eingetreten ist (vgl. BGH 11, 162; 13, 68; Dreher 2; Lackner 2; a. A. BGH 15, 16; Cramer in Schönke-Schröder 6). Zum Ganzen s. auch Cramer JZ 1969, 412.
§316
Trunkenheit im Verkehr
(1) Wer im Verkehr (§§ 315 bis 315 d) ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht 964
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 316
in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 315 a oder § 315 c mit Strafe bedroht ist. (2) Nach Absatz 1 wird auch bestraft, wer die Tat fahrlässig begeht. 1. Eine der wesentlichen Neuerungen des 2. VerkSichG vom 26. 11. 1964 bestand darin, daß die bis dahin nur als Übertretung gemäß § 2 StVZO strafbare Trunkenheit im Verkehr in § 316 auch in den Fällen zum Vergehen erhoben worden ist, in denen es zu keiner Gefährdung des Straßenverkehrs gekommen ist. Schrifttum: Hentschel/Born, Trunkenheit im Straßenverkehr, 1977. 2. Die Strafdrohung des § 316 richtet sich nicht nur gegen Kraftfahrer, sondern schlechthin gegen jeden, der ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen. Täter kann also jeder Führer eines Fahrzeugs sein, nicht dagegen der Halter, der einem Fahruntüchtigen das Steuer überläßt (BGH 18,6). 3. Da § 316 ein sog. eigenhändiges Delikt enthält (siehe hierzu B I 6 vor § 1), ist mittelbare Täterschaft begrifflich ausgeschlossen. Anstiftung und Beihilfe sind jedoch nach allgemeinen Grundsätzen strafbar. 4. Geschütztes Rechtsgut ist die Sicherheit des Verkehrs, somit ein Rechtsgut der Allgemeinheit. Als geschützte Verkehrsarten kommen nicht nur der Straßenverkehr in Betracht, sondern auch der Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr. Da die Vorschrift eine bestimmte konkrete Gefahr für andere nicht voraussetzt, handelt es sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt (siehe hierzu B I 3 vor § 1). 5. Die Art des Fahrzeugs ist unerheblich. In Betracht kommen nicht nur Fahrzeuge im Straßenverkehr (§ 315 c Anm. III 2), sondern auch Schienenfahrzeuge sowie Fahrzeuge im Schiffs- und Luftverkehr. 6. Über Führen eines Fahrzeugs siehe § 315 c Anm. III 3. 7. Über Fahruntüchtigkeit durch alkoholische Getränke und andere berauschende Mittel siehe § 315 c Anm. III 4, 5. Beruht die Fahruntüchtigkeit auf anderen geistigen oder körperlichen Mängeln, so kommt nur eine Ahndung als OWi gemäß § 2 StVZO i. V. mit § 24 StVG in Betracht. Eine dem § 315 c Abs. 1 Nr. 1 b entsprechende Alternative fehlt in § 316. 8. Der subj. Tb. des Abs. 1 verlangt Vorsatz. Die Fälle der Fahrlässigkeit, die in der Praxis überwiegen, werden durch Abs. 2 erfaßt. Fahrlässig handelt i. d. R. auch, wer nicht erkennt, daß andere ihm heimlich hochprozentige alkoholische Getränke ins Bier gekippt haben (vgl. Braunschweig DAR 1960, 270; Hamm NJW 1974, 2058; 1975, 660; BA 1977, 186 m. Anm. Seib; BayObLG bei Rüth DAR 1977, 199, 204; Hbg VM 1966 Nr. 114; 1973 Nr. 95). 9. Konkurrenzen: Gegenüber §§ 315 a, 315 c ist §316 subsidiär. Gegenüber § 24 a StVG geht § 316 gemäß § 21 OWiG vor (siehe auch unten Anm. 2 zu § 24 a StVG). Als 965
§ 24 a StVG
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
sog. Dauerdelikt (vgl. V vor § 52) ist die Tat erst beendet, wenn der Täter mit dem Weiterfahren endgültig aufhört. Diese Dauerstraftat wird nicht dadurch in zwei rechtlich selbständige Teile aufgespalten, daß der Täter sich bei einer Polizeikontrolle zur Fortsetzung der Fahrt entschließt (BGH VM 1975 Nr. 97).
§ 24 a StVG
Verstöße gegen den 0,8-Promille-Gefahrengrenzwert
(1) Ordnungswidrig handelt, wer im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er 0,8 Promille oder mehr Alkohol im Blut oder eine Alkoholmenge im Körper hat, die zu einer solchen Blutalkoholkonzentration führt. (2) Ordnungswidrig handelt auch, wer die Tat fahrlässig begeht. (3) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu dreitausend Deutsche Mark geahndet werden. 1. Anliegen der durch Gesetz v. 20. 7. 1973 (BGBl. I 870) neu eingeführten Vorschrift ist es, die Trunkenheit am Steuer als eine der Hauptursachen für schwere Unfälle schon im „Vorfeld" ihrer Gefährlichkeit wirksam bekämpfen zu können. Sie ergänzt damit den Vergehenstatbestand des § 316 StGB, mit dem sie den Charakter eines abstrakten Gefährdungsdelikts gemeinsam hat. Während eine Verurteilung gemäß § 316 jedoch den Nachweis voraussetzt, daß der Beschuldigte nicht mehr fahrtüchtig, d. h. nicht mehr in der Lage war, sein Fahrzeug sicher zu führen, genügt für eine Verurteilung wegen einer Ordnungswidrigkeit gemäß § 24 a StVG der Nachweis, daß die Blutalkoholkonzentration (BÄK) des Fahrers einen Gefahrengrenzwert erreicht hat, bei dem ein Fahrzeugführer nach den Erkenntnissen der verkehrsmedizinischen Wissenschaft mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht mehr uneingeschränkt fahrsicher ist. Nach jahrelangen parlamentarischen Beratungen (siehe hierzu vor allem Hentrich BA 1973, 177) wurde der Gefahrengrenzwert auf 0,8%o festgesetzt. Der Gesetzgeber folgte damit nicht nur den Forderungen der verkehrsmedizinischen Wissenschaft (siehe hierzu insbesondere das Gutachten des Bundesgesundheitsamts „Alkohol bei Verkehrsstraftaten", Bad Godesberg 1 9 6 6 mit Nachtrag 1 9 6 7 ) , sondern zugleich auch der Empfehlung der Europäischen Konferenz der Verkehrsminister (CEMT) vom 1 4 . 6 . 1 9 6 7 . Die Festlegung der 0,8%oGrenze, die auch für Mofa-Fahrer gilt (Ffm NJW 1 9 7 6 , 1 1 6 1 ) , beruht auf der wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis, daß schon bei verhältnismäßig geringer Alkoholeinwirkung die Leistungsfähigkeit eines Kraftfahrers, insbesondere sein optisches Wahrnehmungsvermögen, erheblich nachläßt, ohne daß der Fahrer sich dessen bewußt ist. Bei einer BÄK von 0,8%o ist das Unfallrisiko durchschnittlich bereits etwa viermal so groß wie bei dem gleichen Fahrer in nüchternem Zustand (Moser BA 1973, 213, 215 m. Nachw.). Zur Diskussion über die Einführung eines strafbewehrten 0,6%o-Gefahrengrenzwerts siehe einerseits (zustimmend) Schütt BA 1977, 149 und Schneble BA 1977, 157, andererseits (ablehnend) Janiszewski BA 1977, 65. Aus den Gesetzesmaterialien siehe insbesondere den in der 5. Legislaturperiode vorgelegten RegE (BT-Drucks. V/3002), das in der 6. Legislaturperiode am 8. 6. 1972 vor dem Verkehrsausschuß des BT abgehaltene Sachverständigen-Hearing (vgl. Prot, über die 50. Sitzung dieses Ausschusses), den in der 7. Legislaturperiode vorgelegten RegE (BT-Drucks. 7/133) und den Bericht des Verkehrsausschusses v. 7. 6. 1973 (BT-Drucks.
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Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 24 a StVG
7/692). - Schrifttum: Bürgel, Das neue 0,8%o-Gesetz, NJW 1973, 1356; - ders., Der Gefahrengrenzwert im 0,8-Promillegesetz, NJW 1974, 594; - Händel, Zur Einführung des 0,8-Promille-Gesetzes, Polizeispiegel 1973, 146; - Heifer, Zur Praktikabilität des 0,8%o-Gesetzes, BA 1973, 192; - Held, Der Gefahrengrenzwert im 0,8-Promille-Gesetz, NJW 1973, 2243; - Hentrich, Die Odyssee eines Gesetzes, BA 1973, 177; - Janiszewski, Fahren unter Alkoholeinfluß als Ordnungswidrigkeit und als Vergehen, BA 1974, 155; Moser, Das „Kavaliersdelikt", BA 1973, 213; - Rüth, Rechtsfragen zum 0,8-PromiIleGesetz, DAR 1974, 57. 2. Der Unterschied gegenüber § 316 StGB besteht einmal darin, daß bei § 316 StGB die BÄK für den Nachweis der Fahruntüchtigkeit nur indizielle Bedeutung hat, während sie bei § 24 a StVG Tatbestandsmerkmal ist. Ein weiterer Unterschied liegt darin begründet, daß § 24 a StVG nicht den Nachweis der Fahruntüchtigkeit voraussetzt (s. o. Anm. 1), sondern vielmehr infolge der Subsidiaritätsklausel des § 21 OWiG bei nachgewiesener Fahruntüchtigkeit gerade nicht zur Anwendung kommt. Der in § 24 a StVG erfaßte Gefährlichkeitsgrad ist somit geringer als der in § 316 StGB unter Strafe gestellte Zustand der Fahruntüchtigkeit. Hieraus ergibt sich die Berechtigung der Einstufung des § 24 a StVG als Ordnungswidrigkeit, während das Fahren in fahruntüchtigem Zustand unverändert als Vergehen gemäß § 316 StGB geahndet wird (vgl. RegE S. 6 der BTDrucks. 7/133). 3. Täter kann nur der Führer eines Kraftfahrzeugs sein. Der Täterkreis ist somit enger als in den §§ 315 c, 316 StGB (vgl. Anm. III 1 zu § 315 c). Kraftfahrzeug ist gemäß § 1 Abs. 2 StVG jedes durch Maschinenkraft bewegte Landfahrzeug, das nicht an Bahngleise gebunden ist, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob es zum Führen des Fahrzeugs einer Fahrerlaubnis bedarf. Kraftfahrzeuge sind demnach auch fahrerlaubnisfreie Fahrräder mit Hilfsmotor (sog. Mofas), Krankenfahrstühle und einachsige Arbeitsmaschinen, die der Sonderregelung des § 4 StVZO unterliegen (vgl. Rüth DAR 1974, 57), außerdem Traktoren, Raupenfahrzeuge, Obuäse, Motorschlitten und Walzen (vgl. Janiszewski BA 1974,158). 4. Die Tathandlung besteht im Führen eines Kraftfahrzeugs, obwohl die BÄK des Fahrers im Zeitpunkt der Fahrt den Gefahrengrenzwert von 0,8%o erreicht oder überschritten hat (1. Tb.-Alternative) bzw. obwohl der Fahrer im Zeitpunkt der Fahrt eine Alkoholmenge im Körper hat, die zu einer BÄK von 0,8%o führt. a) Über „Führen" eines Kfz siehe III 3 zu § 315 c StGB sowie Rüth DAR 1974,57 f. b) Die 1. Tb.-Alternative erfaßt den Fall, daß die BÄK im Zeitpunkt der Fahrt den Gefahrengrenzwert von 0,8%o erreicht oder überschritten hat. Diese Voraussetzungen können auch dann vorliegen, wenn das Ergebnis der Blutprobe zwar noch unter 0,8%o liegt, der Fahrer sich aber bereits in der Abbauphase befunden hat. Die BÄK muß in solchen Fällen entsprechend der Praxis zur Feststellung der l,3%o-Grenze bei § 316 StGB im Wege der üblichen Rückrechnung erfolgen. Bei der Rückrechnung (Hochrechnung) vom Zeitpunkt der Blutentnahme an bis zum Zeitpunkt der Fahrt ist zugunsten des Betroffenen ein gleichbleibender Abbaufaktor von O,l%o/st zugrundezulegen, wobei allerdings die ersten beiden Stunden nach Trinkende grundsätzlich nicht berücksichtigt werden dürfen, da nicht ausgeschlossen werden kann, daß die Resorption so lange dauert (vgl. BGH 25, 246 m. krit. Anm. ElbelBA 1974,139; Schwerd BA 1974,140).
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§ 24 a StVG
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
c) Die 2. Tb.-Alternative erfaßt den Fall, daß der Alkohol sich während der Fahrt noch in der Anflutungsphase befindet, d. h. noch nicht voll in das Blut übergegangen ist, sondern sich noch ganz oder teilweise im Magen-Darm-Trakt befindet. Der Alkohol befindet sich in diesem Fall während der Fahrt zwar noch nicht im Blut, wohl aber im Körper. Dies reicht zur Verwirklichung der 2. Tb.-Alternative dann aus, wenn die später entnommene Blutprobe eine BÄK von mindestens 0,8%o ergibt. Der betroffene Fahrer kann sich in diesem Fall nicht mit tatbestandsausschließender Wirkung darauf berufen, die BÄK habe während der Fahrt noch unter dem Gefahrengrenzwert gelegen. Die hier in Frage stehende Alternative des Tatbestands, die erst in der Schlußphase der parlamentarischen Beratungen in das Gesetz aufgenommen wurde, berücksichtigt einmal die wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis, daß die Beeinträchtigung der Fahrsicherheit während der Anflutungsphase (d. h. wenn der Alkohol vom Magen-Darm-Trakt in das Blut übergeht) stärker ist als in der späteren Abbauphase (vgl. BGH 24, 200 m. Anm. Händel NJW 1971, 1997; Hamm BA 1973, 195 m. Anm. Heifer sowie Heifer BA 1970, 383). Sie hat außerdem eine erhebliche forensische Bedeutung für die Fälle, in denen ein sog. SchlußSturztrunk (hastige Einnahme erheblicher Mengen Alkohol unmittelbar vor Fahrtantritt) von dem betreffenden Fahrer nur vorgetäuscht wird, um darlegen zu können, die BÄK habe den Gefahrengrenzwert von 0,8%o nicht schon während der Fahrt, sondern erst im Zeitpunkt der Blutentnahme erreicht. Solche Einwendungen können einen Kraftfahrer jetzt nicht mehr entlasten (vgl. Ber. S. 2 der BT-Drucks. 7/692; Bürgel NJW 1973, 1356). Durch die Aufnahme des 2. Alternativtatbestands ist das 0,8%o-Gesetz überhaupt erst praktikabel geworden (vgl. Heifer BA 1973,192). d) Der Gefahrengrenzwert von 0,8%o ist in beiden Tatbestandsalternativen bereits dann erreicht, wenn der sog. Mittelwert aus mehreren Laboruntersuchungen zu einer BÄK von 0 , 8 % o führt. Wie sich aus den Gesetzesmaterialien (RegE S. 5 BT-Drucks. 7 / 1 3 3 ; Ber. S. 2 BT-Drucks. 7 / 6 9 2 ) eindeutig ergibt, ist bereits bei Festlegung des Gefahrengrenzwerts von 0 , 8 % o ein Sicherheitszuschlag von 0 , 1 5 % o einkalkuliert worden, so daß das Gesetz eigentlich 0,65%o-Gesetz genannt werden müßte (vgl. Bürgel NJW 1973, 1356; NJW 1974, 594). Der Tb. ist somit auch dann erfüllt, wenn eine oder mehrere Untersuchungen zu einer knapp unter 0,8%o liegenden BÄK führen, der Mittelwert jedoch den Gefahrengrenzwert erreicht oder überschritten hat (BayObLG VM 1974 Nr. 20; Braunschweig NJW 1975, 227; Celle D A R 1974, 222; Koblenz NJW 1974, 1433; Köln NJW 1 9 7 5 , 2 2 8 ; Rüth DAR 1 9 7 4 , 5 7 ) . Liegt der Analysenmittelwert über 0 , 7 9 5 % o , so kann auf 0 , 8 % o aufgerundet werden (Hamm NJW 1 9 7 6 , 3 8 2 m. krit. Bespr. Meurer JR 1 9 7 6 , 4 5 4 ) . 5. Der subj. Tb. des Abs. 1 erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. Bedingter Vorsatz liegt vor allem dann vor, wenn der Betroffene etwa vorhandene Bedenken gegen die Höhe seiner BÄK verdrängt oder aus Gleichgültigkeit gar nicht aufkommen läßt. 6. Nach Abs. 2 handelt auch ordnungswidrig, wer die Tat fahrlässig begeht. Fahrlässig handelt vor allem, wer eine Fahrt antritt, ohne sich über Menge und Wirkung der zuvor genossenen alkoholischen Getränke Gedanken gemacht zu haben. Die Fahrlässigkeit wird aber auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß sich der Fahrer unkritisch auf die nach Inkrafttreten des Gesetzes veröffentlichten Trinktabellen verläßt. Jeder Fahrer muß sich nämlich darüber im klaren sein, daß solche Tabellen schon wegen der unterschiedlichen körperlichen Konstitution jedes einzelnen und wegen der unterschiedlichen Beschaffenheit der Getränke nur grobe Anhaltspunkte bieten können, die nicht auf alle Situationen anwendbar sind.
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Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straften
§ 24 a StVG
7. Wegen Teilnahme siehe § 14 OWiG sowie Janiszewski BA 1974, 155, 169. Wer als Halter eines Kfz dieses einem anderen überläßt, der 0,8%o oder mehr Alkohol im Blut hat, begeht eine nach § 31 Abs. 2 StVZO i. V. mit § 69 a Abs. 5 Nr. 3 StVZO zu ahnende OWi (Hbg VM 1976 Nr. 59). 8. Konkurrenzen: Über das Verhältnis zu § 316 StGB s. o. Anm. 2. Verschuldet der Betroffene mit einer BÄK von 0,8%o-l,3%o einen Unfall, der nicht nachweisbar alkoholbedingt ist und deshalb auch nicht den Vorwurf der Fahruntüchtigkeit begründen kann, so ist § 24 a StVG gegenüber den durch den Unfall möglicherweise verwirklichten §§ 222, 230 StGB gemäß § 21 OWiG subsidiär, jedoch dessen ungeachtet bei der Strafzumessung strafschärfend zu berücksichtigen. Auch das im Regelfall auszusprechende Fahrverbot (s. u. Anm. 9) bleibt durch die Subsidiarität unberührt (vgl. Janiszewski BA 1974, 155, 168 f.). Stellt sich der Unfall nur als OWi dar, so steht § 24 a StVG mit dieser nach § 24 StVG zu ahnenden OWi in Tateinheit, wobei die Geldbuße dem Bußgeldrahmen des § 24 a StVG zu entnehmen ist (vgl. § 19 Abs. 2 OWiG). 9. Bei vorsätzlicher Tatbegehung sieht § 24 a Abs. 3 StVG Geldbuße bis zu 3000,- DM vor, während die fahrlässige Begehung mit einer Geldbuße bis zu 1500,- DM bedroht ist (vgl. § 17 Abs. 2 OWiG). Da es sich bei § 24 a StVG nicht um eine „geringfügige" OWi handelt (vgl. Bremen NJW 1975, 1043), sind auch die wirtschaftlichen Verhältnisse angemessen zu berücksichtigen (vgl. § 17 Abs. 3 S. 2 OWiG). Als Nebenfolge ist gemäß § 25 Abs. 1 S. 2 StVG in der Regel ein Fahrverbot anzuordnen, dessen Dauer mindestens einen Monat und höchstens drei Monate beträgt (§ 25 Abs. 1 S. 1 StVG). Nach Nr. 33 des Bußgeldkatalogs sind bei fahrlässigen Verstößen im Regelfall folgende Sanktionen vorgesehen: bei Ersttätem eine Geldbuße von 500,- DM und ein FV von 1 Monat, im ersten Rückfall eine Geldbuße von 1000,- DM und FV von 3 Monaten, im wiederholten Rückfall eine Geldbuße von 1500,- DM und ebenfalls ein FV von 3 Monaten. 10. Wegen der Eintragung in das Verkehrszentralregister siehe § 28 Nr. 3 StVG. 11. Mit Rücksicht auf die Höhe der angedrohten Geldbußen tritt die Verjährung erst nach einem Jahr ein (vgl. § 31 Abs. 2 Nr. 3 OWiG). Die verkürzte Verjährungsfrist des § 26 Abs. 3 StVG gilt nur für die Fälle des § 24 StVG, nicht auch für die des § 24 a StVG (vgl. Janiszewski BA 1974, 155,159; Rüth DAR 1974,57,62). 12. Prozessual ist folgendes zu beachten: a) Die Zuständigkeit der Beamten des Polizeidienstes zur Anordnung einer Blutentnahme ergibt sich aus § 26 Abs. 1 StVG. b) Die Ahndung der OWi obliegt grundsätzlich der Verwaltungsbehörde (vgl. §§ 35 ff. OWiG, 26 StVG), die nach Abschluß ihrer Ermittlungen einen Bußgeldbescheid erläßt (vgl. §§ 65 f. OWiG). Im Regelfall werden die Beamten des Polizeidienstes allerdings die Anzeige zwecks Prüfung, ob nicht ein Vergehen vorliegt (in Betracht kommen insbesondere die §§ 315 c, 316 StGB), gemäß § 163 Abs. 2 StPO der zuständigen StA vorlegen. Ebenso gibt die Verwaltungsbehörde den Vorgang an die StA ab, wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, daß die Tat eine Straftat ist (§ 41 Abs. 1 OWiG). Kommt die StA umgekehrt zu dem Ergebnis, daß keine Straftat, sondern nur eine OWi vorliegt, so leitet sie ihrerseits den Vorgang der Verwaltungsbehörde zu (§§ 41 Abs. 2, 43 Abs. 2 OWiG). 969
§ 316 a
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
Wird gegen den von der Verwaltungsbehörde erlassenen Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt, so richtet sich das weitere Verfahren nach den §§ 67 ff. OWiG. c) Da die Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem OWiG nicht vorgesehen ist, kommt auch eine vorläufige Fahrerlaubnisentziehung nach § 111 a StPO nicht in Betracht. Wird dessen ungeachtet der Führerschein sichergestellt oder beschlagnahmt, weil zunächst der dringende Verdacht eines Vergehens gemäß §§315 c, 316 StGB bestand, so ist der Führerschein unverzüglich zurückzugeben, sobald feststeht, daß die Tat nur als OWi zu behandeln ist; eine bereits erfolgte vorläufige Fahrerlaubnisentziehung ist gemäß § 111 a Abs. 2 StPO aufzuheben. Die Zeit der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung, Sicherstellung oder Beschlagnahme ist in diesen Fällen auf das später auszusprechende Fahrverbot anzurechnen (vgl. § 25 Abs. 6 StVG). d) Der Urteilstenor muß erkennen lassen, ob dem Betroffenen Vorsatz oder Fahrlässigkeit zur Last gelegt wird (BayObLG bei Rüth DAR 1977, 197, 201).
§ 316 a
Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer
(1) Wer zur Begehung eines Raubes (§§ 249, 250), eines räuberischen Diebstahls (§ 252) oder einer räuberischen Erpressung (§ 255) einen Angriff auf Leib, Leben oder Entschlußfreiheit des Führers eines Kraftfahrzeugs oder eines Mitfahrers unter Ausnutzung der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs unternimmt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. In besonders schweren Fällen ist die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr. (2) Das Gericht kann die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 4 9 Abs. 2) oder von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn der Täter freiwillig seine Tätigkeit aufgibt und den Erfolg abwendet. Unterbleibt der Erfolg ohne Zutun des Täters, so genügt sein ernsthaftes Bemühen, den Erfolg abzuwenden. 1. Die zuletzt durch das 11. StrÄndG und das EGStGB neu gefaßte Vorschrift enthält ein raubähnliches Sonderdelikt und bringt gegenüber Raub, räuberischem Diebstahl und räuberischer Erpressung eine wesentliche Erhöhung des Strafrahmens. Der Regelstrafrahmen (Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren) verstößt weder gegen das Grundgesetz noch gegen Art. 3 MRK (vgl. BGH 24, 173). Er ist um so weniger zu beanstanden, als seit der Neufassung der Vorschrift durch das 11. StrRÄndG für minder schwere Fälle eine ermäßigte Strafdrohung eingeführt wurde. 2. Täter kann jeder sein, der einen Angriff auf den Fahrer oder Beifahrer eines Kraftfahrzeugs unternimmt. Hierbei ist es ohne Bedeutung, ob der Angriff von außen erfolgt (z. B. durch Errichten einer Autofalle) oder ob er von einem Mitfahrer ausgeht (z. B. durch Überfall auf einen Taxifahrer); auch der Fahrer selbst, der einen seiner Mitfahrer angreift, fällt unter den Anwendungsbereich der Vorschrift (vgl. BGH 13,27; 15,322). 970
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 316 a
3. Da es sich um ein Unternehmensdelikt handelt, ist der Versuch der Vollendung gleichgestellt (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 6). Es ist also nicht erforderlich, daß der geplante Raub bzw. die geplante räuberische Erpressung zur Ausführung kommt. Es ist sogar nicht einmal erforderlich, daß der Angriff als solcher durchgeführt wird. Der Tatbestand ist vielmehr schon dann erfüllt, wenn der Täter in der Absicht, den Fahrer unterwegs zu überfallen, vor Antritt der Fahrt die Kraftstoffleitung beschädigt. Ein vollendetes Delikt liegt sogar schon dann vor „wenn der Täter in räuberischer Absicht ein Taxi besteigt (BGH 6, 82) oder wenn er als Fahrzeugführer das Opfer zu der ihm für den Raub geeignet erscheinenden Stelle fährt (BGH NJW 1971, 765 f.; Dreher 5; Lackner 3). 4. Angriff ist jede physische oder psychische Einwirkung auf die Verteidigungsfähigkeit des Kraftfahrers oder eines seiner Mitfahrer mit den Mitteln des Raubs. 5. Die Tat muß unter Ausnutzung der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs begangen sein. Der Täter muß sich eine Gefahrenlage zunutze machen, die dem fließenden Straßenverkehr eigentümlich ist (BGH 18, 170, 171; NJW 1971, 765). Dies ist insbesonders dann der Fall, wenn der Täter sein Opfer während der Fahrt überfällt oder wenn er es in eine abgelegene Gegend fährt, wo es hilflos seinem Einfluß ausgesetzt ist (BGH 15, 322; 18, 170). Hierbei macht es keinen Unterschied, ob das Opfer mit der Fahrt als solcher zunächst einverstanden war oder nicht (BGH NJW 1971, 765). Unerheblich ist auch, ob der Angriff innerhalb des Kraftfahrzeugs oder in seiner unmittelbaren Nähe erfolgte (BGH aaO.). Das Fahrzeug muß aber immer im Tatplan des Täters gerade als Transportmittel eine Rolle spielen (BGH 19, 192). Hieran fehlt es z. B., wenn der Täter den Uberfall nicht schon vor oder während der Fahrt plant, sondern erst bei einer zufällig eingelegten Rast (vgl. BGH aaO.), oder wenn der Raub zwar planmäßig an einer einsamen Stelle, jedoch erst nach längerem Fußmarsch, weit ab vom allgemeinen Straßenverkehr, ausgeführt wird (BGH 22, 114 unter teilweiser Abweichung von BGH 18, 170, 173). Im letztgenannten Fall entfällt der Tb. selbst dann, wenn das Opfer vom Kraftwagen fortgelockt wurde (BGH aaO.). Der Tb. ist in solchen Fällen nur dann erfüllt, wenn der Angriff in einem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Anhalten des Fahrzeugs erfolgt (BGH NJW 1971,765 f.). 6. Der subjektive Tatbestand erfordert Vorsatz sowie die Absicht, einen Raub oder eine räuberische Erpressung zu begehen. Unerheblich ist, ob der Täter schon vor oder erst während der Fahrt den Entschluß faßt, die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs zur Begehung von Raub oder räuberischer Erpressung auszunutzen (BGH VRS 35 [1968], 442). Ausreichend ist sogar der erst während des aus anderen Gründen begonnenen Angriffs gefaßte Entschluß zum Raub oder zur räuberischen Erpressung (BGH 25, 315). Nach BGH 24, 284 kann bei der Raubalternative des § 316 a Täter oder Mittäter nur sein, wer selbst mit Zueignungsabsicht handelt, den eingeleiteten Raub somit als Täter begehen will. Die auf den Gesetzeswortlaut und die Gesetzesgeschichte gestützte Begründung dieser Ansicht kann ebensowenig überzeugen wie das weitere Argument, Täterschaft und Teilnahme könnten beim Raub einerseits und dem diesen Raub vorbereitenden Verbrechen gemäß § 316 a andererseits nicht auseinanderfallen. Auch bei anderen, ähnlich gelagerten Tatbestandskombinationen ist ein tateinheitliches Zusammentreffen von Täterschaft und Teilnahme keineswegs ausgeschlossen. So kann z. B. Täter eines Verbrechens gemäß § 265 auch sein, wer nur den Betrug eines anderen fördern will. Gegen die Entscheidung BGH 24, 284 spricht vor allem auch, daß bei der Tb.-Alternative
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§ 316 b
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
zur Begehung einer räuberischen Erpressung Täter eines Verbrechens gemäß § 316 a unbestritten auch sein kann, wer den erstrebten Vermögensvorteil ausschließlich seinen Komplizen zukommen lassen will (vgl. Blei JA 1972, StR 101). 7. Nach § 316 a Abs. 2 kann der Täter sich durch tätige Reue Straflosigkeit oder Strafmilderung verschaffen, wenn er freiwillig seine Tätigkeit aufgibt und den Erfolg abwendet. „Erfolg" ist hierbei nur der Angriff, nicht der beabsichtigte Raub bzw. .die beabsichtigte räuberische Erpressung (vgl. BGH 10, 320; Lackner 5). Es bleibt also bei der Strafe des Abs. 1, wenn der Täter sein Opfer niedergeschlagen hat, es dann aber entgegen seiner ursprünglichen Absicht freiwillig nicht beraubt. 8. Tateinheit ist möglich mit §§ 211 ff., 223 ff., 239, außerdem mit §§ 249-255, jedoch liegt Gesetzeskonkurrenz vor, wenn der Raub bzw. die räuberische Erpressung nur versucht worden sind (nur Bestrafung nach § 316 a, vgl. BGH 25,373). 9. Beachte ergänzend §§ 88 a, 126, 130 a, 140, 145 d Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2, außerdem § 138 Abs. 1 Nr. 9 (Anzeigepflicht).
§ 316 b
Störung öffentlicher Betriebe
(1) Wer den Betrieb 1. einer Eisenbahn, der Post oder dem öffentlichen Verkehr dienender Unternehmen oder Anlagen, 2. einer der öffentlichen Versorgung mit Wasser, Licht, Wärme oder Kraft dienenden Anlage oder eines für die Versorgung der Bevölkerung lebenswichtigen Unternehmens oder 3. einer der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit dienenden Einrichtung oder Anlage dadurch verhindert oder stört, daß er eine dem Betrieb dienende Sache zerstört, beschädigt, beseitigt, verändert oder unbrauchbar macht oder die für den Betrieb bestimmte elektrische Kraft entzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Anliegen der Vorschrift ist der Schutz des öffentlichen Verkehrs sowie lebenswichtiger Betriebe der öffentlichen Daseinsvorsorge gegen gewaltsame Eingriffe. Bei verfassungsfeindlicher Absicht siehe § 88. a) Ob eine Verkehrseinrichtung dem öffentlichen Verkehr dient (Abs. 1 Nr. 1), hängt davon ab, ob sie von einer größeren Zahl nicht durch persönliche Beziehungen miteinander verbundener Personen benutzt werden kann (Cramer in Schönke-Schröder 3). Hieran fehlt es z. B. bei privaten Zubringerdiensten von Hotels, Schulen und Fabrikbetrieben (Cramer aaO. 2, 3; für Werkbahnen a. A. Celle VRS 28, 129 sowie die h. L.), außerdem bei militärischen Transportdiensten, die jedoch unter Nr. 3 fallen können. Zu den geschützten Anlagen gehören z. B. Straßen, Bahnschienen, Oberleitungen, Seilbahneinrichtungen und Schleusen. 972
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 316 c
b) Der öffentlichen Versorgung mit Wasser usw. (Abs. 1 Nr. 2) können auch private Anlagen dienen, z. B. Generatoren eines privaten Krankenhauses. Unerheblich sind Größe und Bedeutung der Anlage. Geschützt sind deshalb auch eine Pumpstation, durch die lediglich ein kleiner Weiler versorgt wird. Zu den für die Versorgung lebenswichtigen Unternehmen gehören z. B. Schlachthöfe und Milchzentralen, und zwar ohne Rücksicht auf die Rechtsform, in der sie betrieben werden. Zur Versorgung gehört auch die „Entsorgung". Geschützt sind deshalb auch Anlagen zur Beseitigung von Haus- und Industriemüll einschließlich der Abfallprodukte aus Kernkraftanlagen. c) Zu den in Abs. 1 Nr. 3 geschützten Sicherheitseinrichtungen gehören z. B. das polizeiliche DASTA-System, Fernschreibanlagen von Polizei, Bundeswehr und Bundesgrenzschutz, Radaranlagen der Luftwaffe, aber auch kleinere Anlagen zum Schutz des Bürgers in Notfällen wie Feuermelder, Luftschutzsirenen, Feuerwehrlöschfahrzeuge (Koblenz VRS 46, 33) und Notrufanlagen der Polizei. 2. Die Tathandlung besteht darin, daß der Betrieb der Anlage durch Zerstören, Beschädigen usw. verhindert oder gestört wird. a) Der Betrieb wird verhindert, wenn die Anlage völlig ausfällt, so daß die Bevölkerung, wenn auch nur kurzfristig, nicht versorgt werden kann. Eine Störung liegt vor, wenn die Versorgung nur mangelhaft durchgeführt werden kann, z. B. wenn im Post- und Bahnbetrieb Verspätungen auftreten oder wenn das erzeugte Gas nicht die übliche Qualität hat. b) Über Zerstören und Beschädigen siehe § 303 Anm. 2 und 3. Beseitigt ist eine Anlage, wenn sie der Verfügungsgewalt des Berechtigten entzogen ist (Koblenz VRS 46, 33; Cramer in Schönke-Schröder 8). Verändert ist eine Anlage, wenn ihr Zustand nach dem Eingriff von dem bisherigen Zustand abweicht (z. B. Austausch von Bauelementen oder Vornahme von Fehlschaltungen). Über Unbrauchbarmachen siehe § 133 Anm. 3 c. Bei der Tatbegehung durch Entziehung elektrischer Kraft kommen nur technisch wirksame Eingriffe in Betracht, z. B. Herbeiführen eines Kurzschlusses oder Durchtrennen von Leitungen. Nicht tatbestandsmäßig ist dagegen eine Störung der Stromversorgung durch illegalen Streik (a. A. Dreher 7), der jedoch unter § 88 fallen kann (siehe dort Anm. 3). 3. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich nicht nur auf das Zerstören, Beschädigen usw., sondern auch auf die Verhinderung bzw. Störung der Anlage und deren Bedeutung für die Allgemeinheit beziehen. Bedingter Vorsatz genügt (Koblenz VRS 46, 35). Bei verfassungsfeindlicher Absicht siehe § 88. 4. Tateinheit ist möglich mit § 88, außerdem mit §§ 315 und 315 b, wenn es auf Grund der Sabotagehandlung zu einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert kommt. Gegenüber §§ 303, 304 geht § 316 b als die speziellere Regelung vor. Andererseits tritt § 316 b hinter der spezielleren Vorschrift des § 109 e zurück (Dreher 10; Lackner 5; für Tateinheit dagegen Cramer in Schönke-Schröder 13; Rüth LK 12).
§ 316 c
Angriff auf den Luftverkehr
(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer 973
§ 316 c
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
1. Gewalt anwendet oder die Entschlußfreiheit einer Person angreift oder sonstige Machenschaften vornimmt, um dadurch die Herrschaft über ein im zivilen Luftverkehr eingesetztes und im Flug befindliches Luftfahrzeug zu erlangen oder auf dessen Führung einzuwirken, oder 2. um ein solches Luftfahrzeug oder seine an Bord befindliche Ladung zu zerstören oder zu beschädigen, Schußwaffen gebraucht oder es unternimmt, eine Explosion oder einen Brand herbeizuführen. Einem im Flug befindlichen Luftfahrzeug steht ein Luftfahrzeug gleich, das von Mitgliedern der Besatzung oder von Fluggästen bereits betreten ist oder dessen Beladung bereits begonnen hat oder das von Mitgliedern der Besatzung oder von Fluggästen noch nicht planmäßig verlassen ist oder dessen planmäßige Entladung noch nicht abgeschlossen ist. (2) Ist durch die Tat leichtfertig der Tod eines Menschen verursacht worden, so ist auf lebenslange Freiheitsstrafe oder auf Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren zu erkennen. (3) Wer zur Vorbereitung einer Straftat nach Absatz 1 Schußwaffen, Sprengstoffe oder sonst zur Herbeiführung einer Explosion oder eines Brandes bestimmte Stoffe oder Vorrichtungen herstellt, sich oder einem anderen verschafft, verwahrt oder einem anderen überläßt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (4) Das Gericht kann in den Fällen der Absätze 1 und 3 die Strafe nach seinem Ermessen mildem (§ 49 Abs. 2), wenn der Täter freiwillig sein Vorhaben aufgibt und den Erfolg abwendet, bevor ein erheblicher Schaden entsteht. Unterbleibt der Erfolg ohne Zutun des Täters, so genügt sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, den Erfolg abzuwenden. I. Die durch das 11. StrÄndG eingeführte, durch das E G S t G B nur in Abs. 4 geänderte Vorschrift dient der Bekämpfung der Luftpiraterie, die seit den sechziger Jahren die zivile Luftfahrt immer mehr beunruhigt. Die hohe Strafdrohung entspricht dem am 14. 10. 1971 in Kraft getretenen Haager Abkommen vom 16. 12. 1970, in dem die Teilnehmerstaaten, darunter auch die Bundesrepublik, sich verpflichtet haben, Flugzeugentführungen und Sabotageakte auf Flugzeuge mit schweren Strafen zu ahnden. Entsprechend diesem Abkommen und mit Rücksicht auf die weltweite Bedeutung des Problems wurde die Vorschrift auch in den Katalog des § 6 Nr. 3 (Weltrechtsprinzip) aufgenommen. Aus den Gesetzesmaterialien siehe insbesondere den schriftlichen Bericht (Ber.) des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BT-Drucks. VI/2721), aus dem Schrifttum Mannheimer JR 1971, 227; Maurach, Heinitz-Festschr. S. 403 ff.; Schmidt-Räntsch JR 1972,146 und Kunath J Z 1972, 199.
II. Geschütztes Rechtsgut ist die Sicherheit des zivilen Flugverkehrs, insbesondere Leib und Leben des Flugpersonals und der Passagiere, aber auch die Ladung (vgl. Ber. S. 2; Dreher 3; Lackner 1; Rüth LK 2). Beide Alternativtatbestände des Abs. 1 enthalten ein
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Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 316 c
abstraktes Gefährdungsdelikt. Es ist also nicht erforderlich, daß es durch die Handlung des Täters zu einer konkreten Gefährdung kommt. D. Angriffsobjekt ist jedes im zivilen Luftverkehr eingesetzte Luftfahrzeug. 1. Zu den Luftfahrzeugen (siehe hierzu § 1 Abs. 2 LuftVG) gehören insbesondere Motor- und Segelflugzeuge, Luftschiffe, Hubschrauber, Frei- und Fesselballone, aber auch Raumschiffe, Raketen und ähnliche Flugkörper, sofern sie dem Luftverkehr dienen, d. h. zur Beförderung von Personen oder Gütern geeignet und bestimmt sind (vgl. Rüth LK § 315 Rn. 11, 12). 2. Zum zivilen Luftverkehr (d. h. Beförderung von Personen oder Gütern auf dem Luftweg) gehören nicht nur der Linien- und Charterverkehr, sondern auch der Verkehr mit Sport- und Privatflugzeugen. Der Zweck des Flugs ist unerheblich, sofern er ziviler Natur ist. Erfaßt werden deshalb auch Überführungs-, Schau-, Arbeits- und Werbeflüge. Nicht erfaßt wird dagegen der Luftverkehr des staatlichen Dienstes, insbesondere der Verkehr mit Militär-, Zoll- und Polizeiflugzeugen, sofern diese im Einzelfall nicht - ausnahmsweise - für zivile Verkehrszwecke eingesetzt werden (vgl. Ber. S. 2). 3. Der zeitliche Schutzbereich erfaßt nicht nur die Dauer des Flugs (Abs. I S . 1), sondern auch die Phasen, die funktional unmittelbar damit zusammenhängen (Abs. 1 S. 2). Das Be- und Entladen bezieht sich nur auf die Transportgüter und das Reisegepäck der Passagiere, nicht jedoch auf Treibstoff, Verpflegung und Ausrüstungsgegenstände (Ber. S. 3; Dreher 3; Rüth LK 9). Das in Abs. 1 S. 2 aufgenommene Merkmal „planmäßig" wurde eingefügt, um zu verhindern, daß etwa eine vom Täter erzwungene Zwischenlandung den zeitlichen Schutzbereich beendet (Ber. S. 3; krit. hierzu Cramer in SchönkeSchröder 11). IV. Die Tathandlungen des Abs. 1 Nr. 1 (Entführung eines Luftfahrzeugs): 1. Gewalt ist wie in § 240 (siehe dort Anm. 3 a) und den §§ 249 ff. (siehe hierzu vor allem BGH 23, 126) jede als körperlicher Zwang empfundene Einwirkung zur Ausschaltung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands (vis absoluta). Unerheblich ist, a) ob die Gewalt'sich gegen Personen oder Sachen richtet (z. B. Zerstören der Navigationsanlagen, Blockieren des Rollfelds, vgl. Ber. S. 3); b) ob die angegriffene Person oder Sache sich innerhalb oder außerhalb des Luftfahrzeugs befindet. Entscheidend ist allein, daß die angegriffene Person unmittelbar oder mittelbar auf den Kurs des Luftfahrzeugs Einfluß nehmen kann (vgl. Rüth LK 13) oder daß die angegriffene Sache (z. B. Flugsicherungsanlage) für die Kursgestaltung von Bedeutung ist. Tatbestandsmäßig ist deshalb z. B. auch der Angriff auf einen Einwinker auf dem Rollfeld oder die Zerstörung der Flugsicherungsanlage (vgl. Ber. S. 3; Dreher 3); c) ob die gegen Personen verübte Gewalt von diesen unmittelbar oder nur mittelbar als körperlicher Zwang empfunden wird. Tatbestandsmäßig ist deshalb z. B. nicht nur das Niederschlagen oder Betäuben des Piloten oder Flugsicherungsbeamten, die Abgabe eines Schreckschusses oder die Bedrohung mit einer tatsächlichen oder vorgetäuschten Waffe (siehe hierzu BGH 23,126 sowie Rüth LK 14), sondern auch die Ausschaltung des Luftdrucksystems im Innern des Luftfahrzeugs, um auf diese Weise eine Kursänderung oder Notlandung zu erzwingen.
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§ 316 c
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
2. Angriff auf die Entschlußfreiheit ist jede Maßnahme, die nach der Vorstellung des Täters geeignet ist, die Entschlußfähigkeit einer Person, die Einfluß auf den Kurs des Luftfahrzeugs hat, gegen ihren Willen zu beeinträchtigen. a) Tatbestandsmäßig in diesem Sinne sind vor allem unmittelbar wirkende Maßnahmen wie Drohung mit Gewalt oder einem sonstigen Übel, außerdem die heimliche Verabfolgung von Alkohol, Narkotika oder Psychopharmaka, um die betroffene Person bewußtlos oder widerstandsunfähig zu machen. Ausreichend sind jedoch auch nur mittelbar wirkende Maßnahmen wie Geiselnahme sowie die Drohung, Mitglieder der Besatzung oder Passagiere zu erschießen oder das Luftfahrzeug zu zerstören oder in seiner Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen (vgl. Rüth LK 15). Tatbestandsmäßig können schließlich auch List und Täuschung sein, nicht jedoch Bestechung (diese ist kein „Angriff", siehe jedoch unten Abschn. 3). b) Nicht erforderlich ist, daß der Angriff auf die Entschlußfreiheit gelingt. Der Tb. ist zumindest insoweit ein Untemehmensdelikt, auf das § 11 Abs. 1 Nr. 6 Anwendung findet (Cramer in Schönke-Schröder 17; Rüth LK 3; terminologisch unrichtig, jedoch sachlich übereinstimmend Ber. S. 3). 3. Zu den sonstigen Machenschaften gehören vor allem nicht gewaltsame Einwirkungen auf die Funk- und Navigationsgeräte des Luftfahrzeugs oder des Flugsicherungssystems, irreführende Funksignale, aber auch planmäßige Bestechung von Besatzungsmitgliedern (vgl. Kunath J Z 1972, 199, 201; Maurach aaO. 411; a. A. Cramer in Schönke-Schröder 16 m. weit. Nachw.). 4. D e r subj. Tb. erfordert neben dem Vorsatz die Absicht, die Herrschaft über das Luftfahrzeug zu erlangen oder auf dessen Führung einzuwirken. Unabhängig davon, ob man den Tb. als Untemehmensdelikt i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 6 ansieht (so zutreffend Rüth LK 3, siehe jedoch Ber. S. 3), ist nicht erforderlich, daß es dem Täter gelingt, seine Absicht zu realisieren. Als Absicht genügt der zielgerichtete Wille (dolus directus). Unerheblich ist die Dauer der beabsichtigten Herrschaft bzw. Einflußnahme auf die Führung. Tatbestandsmäßig handelt deshalb z. B. auch, wer - gleich aus welchem Grunde - den Piloten zwingt, den planmäßigen Abflug der Maschine um eine Stunde zu verzögern oder unterwegs eine nicht vorgesehene Zwischenlandung vorzunehmen. V. Die Tathandlungen des Abs. 1 Nr. 2 (Attentat auf ein Luftfahrzeug) sind 1. der Gebrauch einer Schußwaffe. a) Über Schußwaffen siehe § 244 Anm. II 1. Attrappen oder nicht einsatzbereite Schußwaffen genügen mangels objektiver Gefährlichkeit nicht. b) Gebraucht ist die Schußwaffe erst dann, wenn der Täter sie mit dem Ziel einsetzt, das Luftfahrzeug oder seine an Bord befindliche Ladung zu zerstören oder zu beschädigen. Bis dahin kann der Täter mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch zurücktreten (vgl. Ber. S. 3). Zu weitgehend deshalb Lackner 4 a, aa, wonach bereits die unmittelbare Bedrohung mit der Waffe deren Gebrauch sein soll (vgl. Maurach, Heinitz-Festschr. 5. 403, 411; Cramer in Schönke-Schröder 27). Nicht erforderlich ist allerdings, daß der Täter tatsächlich schießt oder gar trifft. Auch die falsche Bedienung der Schußwaffe oder eine Ladehemmung, die den Schuß vereitelt, stehen der Annahme eines „Gebrauchs" der Schußwaffe nicht entgegen (vgl. Rüth LK 22);
976
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 316 c
2. das Unternehmen, eine Explosion oder einen Brand herbeizuführen. a) Uber Explosion siehe §§310 b Anm. 2, 311 a Anm. 2, über Brand § 306 Anm. 2. b) Da der Tb. wegen der besonderen Anfälligkeit der Luftfahrzeuge gegen Explosionen und Brände als Untemehmensdelikt ausgestaltet ist, steht der Versuch der Vollendung gleich (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 6), d. h. der Tb. ist schon dann erfüllt, wenn der Täter mit Zeitzünder versehene Sprengsätze in dem Luftfahrzeug unterbringt, die das Luftfahrzeug während des Flugs in die Luft sprengen sollen (vgl. Rüth LK 23). Kommt es entgegen der Vorstellung des Täters nicht zu der Explosion oder dem Brand, so ist es unerheblich, aus welchem Grunde der Täter gescheitert ist. Es besteht deshalb auch keine Veranlassung, die Verwendung untauglicher Sprengsätze usw. aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift auszunehmen (a. A. Rüth LK 23; Cramer in Schönke-Schröder 27), jedoch dürfte in diesen Fällen in der Regel ein „minder schwerer Fall" vorliegen (Ber. S. 4). 3. Der subj. Tb. erfordert neben dem Vorsatz die Absicht, das Luftfahrzeug zu zerstören oder zu beschädigen. Die Ausführungen zu Abs. 1 Nr. 1 (s. o. IV 4) gelten insoweit entsprechend. VI. Die Strafschärfung des Abs. 2 (erfolgsqualifiziertes Delikt) entspricht der in § 239 a Abs. 2 getroffenen Regelung für die erpresserische Freiheitsberaubung. 1. Unerheblich ist, ob der Tod eines Menschen unmittelbar auf eine Handlung des Täters zurückzuführen ist (z. B. vorsätzliche oder leichtfertige Tötung einer Geisel durch den Täter) oder ob das Vorgehen des Täters für den Tod nur mittelbar kausal war (z. B. Fehlschüsse der Polizei). Unerheblich ist weiter, ob der Getötete zu den Insassen des Flugzeugs oder zu einem Einsatzkommando der Polizei gehörte oder ob es sich um eine völlig unbeteiligte Person handelte, die rein zufällig in die Auseinandersetzungen verwickelt wurde. Lediglich der Tod eines Tatbeteiligten führt nicht zu einer Strafschärfung gemäß Abs. 2 (Cramer in Schönke-Schröder 34; Lackner 1 zu § 251; Rüth LK 31; a. A. Dreher 13; Kuiiath JZ 1972, 199, 201; Wulf Prot. VI 1171). 2. Der Täter handelt leichtfertig, wenn er sich „grob fahrlässig", d. h. in besonders leichtsinniger oder gleichgültiger Weise über die naheliegende Möglichkeit der Todesfolge hinwegsetzt, z. B. durch brutale Behandlung oder erzwungene gefährliche Flugmanöver (vgl. Rüth LK 31). Nicht ausreichend ist dagegen der Fall, daß ein herzkranker Fluggast vor Aufregung über eine erzwungene und über Lautsprecher durchgesagte Kursänderung einen Herzschlag erleidet (vgl. Ber. S. 4). VII. In Abs. 3 werden bestimmte Vorbereitungshandlungen als Vergehenstatbestände selbständig unter Strafe gestellt, wobei es unerheblich ist, ob eine eigene oder eine fremde Tat vorbereitet wird. Im einzelnen: 1. Über Schußwaffen siehe § 244 Anm. II 1 sowie oben V i a , über Sprengstoffe siehe § 2 SprengstG. Zur Herbeiführung von Explosion und Brand (siehe hierzu oben V 2) „bestimmt" sind nur Gegenstände, die ihrer Art nach eine spezifische Eignung für diesen Zweck haben (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 35; Lackner 6; Rüth LK 26; weitergehend Dreher 15, der bereits den Einkauf von Benzin und Streichhölzern als ausreichend ansieht). Fehlt der Sache objektiv die vom Täter angenommene Eignung, so liegt nur Versuch vor, der mangels ausdrücklicher Strafdrohung nicht strafbar ist. 977
§ 317
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
2. Tathandlungen sind a) das Herstellen, d. h. tatsächliches Fertigstellen; b) das Sichverschaffen, d. h. Begründen einer tatsächlichen Verfügungsgewalt; c) das Verwahren, d. h. in Gewahrsam haben, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Stoff für eine eigene oder fremde Tat benötigt wird; d) das Oberlassen, d. h. Übertragung des Gewahrsams auf einen anderen, und zwar ohne Rücksicht auf die Dauer der Gewahrsamsübertragung. 3. D e r subj. Tb. erfordert Vorsatz. Der Täter muß wissen (oder damit rechnen und billigend in Kauf nehmen), daß die von ihm hergestellten, verwahrten oder verschafften bzw. einem anderen überlassenen Gegenstände zu einem bestimmten Verbrechen gemäß Abs. 1 Verwendung finden sollen. Nicht erforderlich ist, daß ihm die Einzelheiten der geplanten Tat bereits bekannt sind. VIII. Die in Abs. 4 getroffene Sonderregelung für die tätige Reue entspricht der in den §§ 239 a und 239 b getroffenen Regelung. Ihr Zweck ist es, Gefahren von dem zu schützenden Rechtsgut abzuwenden und dem Täter durch die Aussicht auf Strafmilderung den Anreiz zu geben, von seinem weiteren Vorhaben abzulassen und den Erfolg abzuwenden (vgl. Ber. S. 4). Ein völliges Absehen von Strafe ist seit der Neufassung des Abs. 4 durch das E G S t G B nicht mehr möglich. IX. Konkurrenzen: IdK. ist möglich mit den §§ 211 ff., 223 ff., 234 ff., 303 ff., 306 ff. (allerdings nur, soweit außer dem Luftfahrzeug noch andere Sachen beschädigt, zerstört oder in Brand gesetzt wurden, vgl. Rüth LK 33), ferner mit den §§ 311, 315, soweit es durch die Tat zu einer konkreten Gefahr gekommen ist (vgl. Rüth LK 33). § 222 wird durch § 316 c Abs. 2 konsumiert (vgl. § 18 Anm. 4; a. A . Rüth LK 33). § 311 b ist gegenüber § 316 c Abs. 3 subsidiär. X. Beachte ergänzend §§ 88 a, 126, 129 a Abs. 1 Nr. 3, 130 a, 140, 145 d Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2, außerdem § 138 Abs. 1 Nr. 9 (Anzeigepflicht), § 325 (Führungsaufsicht) und § 325 a (Einziehung).
§ 317
Störung v o n F e r n m e l d e a n l a g e n
(1) W e r d e n Betrieb einer ö f f e n t l i c h e n Z w e c k e n d i e n e n d e n F e r n m e l d e a n l a g e dadurch verhindert o d e r gefährdet, daß er eine d e m Betrieb d i e n e n d e Sache zerstört, beschädigt, beseitigt, verändert oder unbrauchbar macht o d e r die für d e n B e t r i e b b e s t i m m t e elektrische Kraft entzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren o d e r mit Geldstrafe bestraft. (2) D e r Versuch ist strafbar. ( 3 ) W e r die Tat fahrlässig begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu e i n e m Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. 978
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 321
1. Über Fernmeldeanlagen siehe § 1 FAG. Geschützt sind insbesondere Fernsprechund Fernschreibanlagen, Telegrafen- und Funkanlagen. Öffentlichen Zwecken dient auch ein privater Telefonanschluß (BGH 25, 270 m. Anm. Krause JR 1975, 380), nicht dagegen ein privates Rundfunk- oder Fernsehgerät. 2. Die Tathandlung entspricht der des § 316 b (siehe dort Anm. 2), jedoch mit dem Unterschied, daß als Handlungserfolg bereits eine Gefährdung des Betriebs ausreicht. 3. Der in Abs. 1 erforderliche Vorsatz muß sich auch auf die Gefährdung des Betriebs erstrecken. Bedingter Vorsatz genügt. Bei Fahrlässigkeit kommt Bestrafung nach Abs. 3 in Betracht. Beispiel: A kommt mit seinem Pkw infolge überhöhter Geschwindigkeit von der Fahrbahn ab und beschädigt dabei einen Leitungsmast der Post mit der Folge, daß mehrere Leitungen ausfallen (BayObLG DAR 1972, 247; h. L.; a. A. Cramer in Schönke-Schröder 10). 4. Tateinheit ist möglich mit § 88 sowie mit § 19 FAG. Gegenüber §§ 303 und 304 geht § 317 als die speziellere Vorschrift vor. Bei Abs. 3 kommt Tateinheit mit § 315 c in Betracht. 5. Beachte ergänzend § 126 Abs. 1 Nr. 7 (Androhung einer Tat nach Abs. 1).
§§ 3 1 8 - 3 2 0
§ 321
[aufgehoben]
Beschädigung wichtiger Anlagen
(1) Wer Wasserleitungen, Schleusen, Wehre, Deiche, D ä m m e oder andere Wasserbauten oder Brücken, Fähren, Wege oder Schutzwehre oder dem Bergwerksbetrieb dienende Vorrichtungen zur Wasserhaltung, zur Wetterführung oder zum Ein- und Ausfahren der Arbeiter zerstört oder beschädigt und durch eine dieser Handlungen Gefahr für das Leben oder die Gesundheit anderer herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Ist durch eine dieser Handlungen eine schwere Körperverletzung (§ 224) verursacht worden, so tritt Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren und, wenn der Tod eines Menschen verursacht worden ist, Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ein. 1. § 321 wendet sich gegen die vorsätzliche Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit von Menschen durch Beeinträchtigung von Wasserbauten, Brücken, Fähren, Wegen, Schutzwehren und Bergwerksanlagen. Bei Fahrlässigkeit siehe § 326. 2. Die Ausführungshandlung besteht in dem Beschädigen oder Zerstören mit der Folge, daß eine Gefahr für das Leben oder die Gesundheit anderer herbeigeführt wird. 979
§ 324
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
3. Abs. 2 enthält eine erhöhte Strafdrohung, falls durch die Tat eine schwere Körperverletzung oder der 7 W eines Menschen herbeigeführt wurde. Subjektiv ist insoweit mindestens Fahrlässigkeit erforderlich (vgl. § 18). 5. IdK. ist möglich vor allem mit §§ 8 8 , 2 1 1 ff., 303 ff., 315, 315 b. 6. Beachte ergänzend §§ 88 a, 126, 130 a, 140, 145 d Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2.
§§ 322, 323
§ 324
[aufgehoben]
G e m e i n g e f ä h r l i c h e Vergiftung
W e r B r u n n e n - o d e r Wasserbehälter, w e l c h e z u m Gebrauch anderer d i e n e n , oder G e g e n s t ä n d e , w e l c h e z u m ö f f e n t l i c h e n Verkauf o d e r Verbrauch bestimmt sind, vergiftet o d e r d e n s e l b e n S t o f f e beimischt, v o n d e n e n ihm bekannt ist, daß sie d i e menschliche G e s u n d h e i t zu zerstören g e e i g n e t sind, d e s g l e i c h e n wer s o l c h e vergiftete o d e r mit gefährlichen S t o f f e n vermischte S a c h e n mit V e r s c h w e i g u n g dieser Eigenschaft verkauft, feilhält oder sonst in V e r k e h r bringt, wird mit Freiheitsstrafe v o n e i n e m Jahr bis zu z e h n Jahren und, w e n n durch die H a n d l u n g der T o d e i n e s M e n s c h e n verursacht w o r d e n ist, mit lebenslanger Freiheitsstrafe o d e r mit Freiheitsstrafe nicht unter z e h n Jahren bestraft. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift enthält zwei Gefährdungsdelikte: gemeingefährliche Vergiftung und das Inverkehrbringen vergifteter Sachen. 2. Der erste Tb. stellt die gemeingefährliche
die
Vergiftung unter Strafe.
a) Brunnen und Wasserbehälter genießen nur dann den Schutz der Vorschrift, wenn ihr Inhalt zum menschlichen Gebrauch bestimmt ist (also nicht Viehtränken). Zu den Gegenständen, die zum öffentlichen Verkauf oder Gebrauch bestimmt sind, gehören vor allem Nahrungs- und Genußmittel sowie Medikamente, aber auch Kleider und Spielsachen. b) Die Tathandlung besteht im Vergiften. Dem Vergiften steht gleich das Beimischen von Stoffen, welche die menschliche Gesundheit zu zerstören geeignet sind. 3. Den zweiten Tatbestand des § 324 bildet das Inverkehrbringen der vergifteten Sachen, insbesondere das Verkaufen oder Feilhalten. Hier ist Idealkonkurrenz mit den Strafbestimmungen des Lebensmittelgesetzes möglich. 4. D e r subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei seit der Streichung des Wortes „wissentlich" durch das E G S t G B bedingter Vorsatz genügt. 5. Eine erhöhte Strafe ist angedroht, wenn durch die Handlung der Tod eines Menschen eintritt. Subjektiv ist insoweit mindestens Fahrlässigkeit erforderlich (vgl. § 18). Bei vorsätzlicher Tötung kommt Tateinheit mit §§ 211, 212 in Betracht. § 222 wird dagegen konsumiert (vgl. § 18 Anm. 4). 980
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§§ 325-326
6. Wegen Fahrlässigkeit vgl. § 326, wegen Einziehung § 325 a, bei staatsgefährdender Absicht § 88 Abs. 1 Nr. 3. Wegen ergänzender Vorschriften siehe § 321 Anm. 6.
§ 325
Führungsaufsicht
In den Fällen der §§ 306 bis 308, des § 310 b Abs. 1 bis 3, des § 311 Abs. 1 bis 4, der §§ 311 a, 311 b und 316 c Abs. 1 Nr. 2 kann das. Gericht Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1 Nr. 2). Die Ausführungen zu § 245 gelten entsprechend.
§ 325 a
Einziehung
Ist eine Straftat nach den §§ 310 b bis 311 b, 316 c oder § 324 begangen worden, so können 1. Gegenstände, die durch die Tat hervorgebracht oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind, und 2. Gegenstände, auf die sich eine Straftat nach §§ 311 b, 316 c oder § 324 bezieht, eingezogen werden. 1. Die zuletzt durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift geht insoweit über die allgemeine Regelung des § 74 Abs. 1 hinaus, als die Einziehung nicht nur bei vorsätzlicher, sondern auch bei fahrlässiger Tatbegehung zulässig ist und in Nr. 2 auch die sog. Beziehungsgegenstände erfaßt werden. 2. Da es sich um eine besondere Vorschrift i. S. von § 74 Abs. 4 handelt, sind § 74 Abs. 2 und Abs. 3 entsprechend anwendbar. Täterfremde Gegenstände können also nur unter den Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 Nr. 2 eingezogen werden. § 74 a findet keine Anwendung.
§ 326
Fahrlässige Gemeingefährdung
Ist eine der in den §§ 321 und 324 bezeichneten Handlungen aus Fahrlässigkeit begangen worden, so ist, wenn durch die Handlung ein Schaden verursacht worden ist, auf Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder auf Geldstrafe und, wenn der Tod eines Menschen verursacht worden ist, auf Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder auf Geldstrafe zu erkennen. Im Gegensatz zur vorsätzlichen Tatbegehung gemäß §§ 321, 324 löst die fahrlässige Tatbegehung eine Strafbarkeit erst dann aus, wenn auf Grund der Handlung ein Schaden eingetreten ist. Als solcher kommt nach dem Sinn der Vorschrift nur ein Personenschaden
981
§ 330
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
in Betracht (übereinstimmend Cramer in Schönke-Schröder 2; Welzel 468; a. A. die h. L.). Da dieser ein Tatbestandsmerkmal ist, muß er für den Täter vorhersehbar und vermeidbar gewesen sein (vgl. Maurach BT 543; Cramer in Schönke-Schröder 3; a. A. Dreher 2; Lackner 1; Mösl LK 1, die hier eine objektive Strafbarkeitsbedingung annehmen). Eine Strafschärfung tritt ein, wenn durch die Handlung der Tod eines Menschen verursacht worden ist. Nach § 18 muß sich die Fahrlässigkeit auch hierauf erstrecken.
§§ 3 2 7 - 3 2 9
§ 330
[aufgehoben]
Baugefährdung
(1) Wer bei der Planung, Leitung oder Ausführung eines Baues oder des Abbruchs eines Bauwerkes gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik verstößt und dadurch Leib oder Leben eines anderen gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer in Ausübung eines Berufs oder Gewerbes bei der Planung, Leitung oder Ausführung eines Vorhabens, technische Einrichtungen in ein Bauwerk einzubauen oder eingebaute Einrichtungen dieser Art zu ändern, gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik verstößt und dadurch Leib oder Leben eines anderen gefährdet. (3) Wer die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (4) Wer in den Fällen der Absätze 1 und 2 fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (5) Das Gericht kann von Strafe nach den Absätzen 1 bis 3 absehen, wenn der Täter freiwillig die Gefahr abwendet, bevor ein erheblicher Schaden entsteht. Unter denselben Voraussetzungen wird der Täter nicht nach Absatz 4 bestraft. 1. Die durch das EGStGB in Anlehnung an § 337 E 1962 völlig neu konzipierte Vorschrift enthält in Abs. 1 und 2 ein konkretes Gefährdungsdelikt. Geschützt sind Leib und Leben aller Personen, die mit dem Bauwerk in Berührung kommen. Die Strafobergrenze, die früher sowohl bei der vorsätzlichen als auch bei der fahrlässigen Tatbegehung ein Jahr Freiheitsstrafe betragen hatte, wurde - vor allem bei der vorsätzlichen Tat - drastisch heraufgesetzt. Aus den Gesetzesmaterialien siehe besonders die Begründung zu § 337 E 1962 (BTDrucks. IV/650) sowie S. 267 BT-Drucks. 7/550 (RegE zum EGStGB). Aus dem Schrifttum siehe Gallas, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der am Bau Beteiligten, 1963; Scherer, Strafrecht in der Baupraxis, 1965.
982
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 330
2. Der Begriff Bau ist im weitesten Sinne zu verstehen. Hierher gehören alle Formen des Hoch- und Tiefbaus, von der einfachen Baugrube bis zum komplizierten Industriewerk. Erfaßt werden auch besondere Erscheinungsformen der Bautätigkeit wie Straßen- und Bergbau sowie die Erstellung von Wasserbau- und Bahnanlagen. 3. Als Täter des Abs. 1 kommen alle bei der Planung, Leitung oder Ausführung eines Bauwerks tätigen Personen in Betracht, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie in leitender oder untergeordneter Stellung mitwirken. a) Zur Planung gehören insbesondere die statischen Berechnungen. Täter dieser Tb.-Alternative können nicht nur die Personen sein, die die statischen Berechnungen angefertigt haben, sondern auch die vor der Erteilung der Baugenehmigung eingeschalteten Prüfstatiker. b) Bauleiter ist, wer die Errichtung des Baues nach seinen Weisungen und Anordnungen derart bestimmt, daß er denen, die den Bau ausführen, technisch übergeordnet ist und die Ausführenden seine Anweisungen grundsätzlich zu befolgen haben (Krhe Justiz 1970, 52 m. Nachw.). Die Bauleitereigenschaft wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß der Bauleiter nicht ständig an der Baustelle anwesend ist, etwa weil er noch andere Baustellen zu überwachen hat. Fährt der Bauleiter jedoch für zwei Wochen in Urlaub, so hat er in der Regel nicht mehr die Leitung des Bauwerks, da er keinen tatsächlichen Einfluß mehr auf den Bau ausüben kann. Seine Verantwortung beschränkt sich daher auf solche Weisungen, die er vorher erteilt hat und die während seiner Abwesenheit fortwirken (vgl. Krhe aaO.). Hiervon unberührt bleibt die Frage, ob der Bauleiter für einen während seiner Abwesenheit eingetretenen Schaden deshalb verantwortlich ist, weil er nicht für einen zuverlässigen Vertreter gesorgt hat. c) Bauausführung ist jede Mitwirkung am Bau. Selbständige Tätigkeit ist nicht erforderlich. Auch untergeordnete Tätigkeiten wie das Aufstellen von Gerüsten, vor allem aber mangelhafte Absicherung der Baustelle, können den Tb. verwirklichen (vgl. RG 39, 417; h. L.). Über die Verantwortlichkeit eines Poliers siehe Koblenz GA 1974, 87. d) Den unter a)-c) aufgeführten Tätigkeiten gleichgestellt ist der Abbruch eines Bauwerks, wobei als „Bauwerk" wiederum alle Erscheinungsformen des Hoch- und Tiefbaus zu verstehen sind (s. o. 2). e) Der Bauherr genügt seiner Bauaufsichtspflicht in der Regel bereits dadurch, daß er einen als zuverlässig bekannten Architekten oder Unternehmer mit der Errichtung des Bauwerks beauftragt (Hamm NJW 1969, 2211). Er wird auch nicht schon dadurch zum Bauleiter, daß er sich das Recht vorbehält, selbst oder durch seine Angestellten darüber zu wachen, daß der Unternehmer seinen Verpflichtungen ihm gegenüber nachkommt, insbesondere den Bau den Plänen gemäß errichtet und die Kostenvoranschläge nicht überschreitet (sog. örtliche Bauleitung, vgl. Hamm aaO.). Der Bauherr kann jedoch dadurch zum Täter eines Vergehens gemäß § 330 werden, daß er unmittelbar oder mittelbar auf die Bauausführung Einfluß nimmt (siehe oben c). 4. Der Täterkreis des durch das EGStGB neu eingeführten Abs. 2 deckt sich im wesentlichen mit dem des Abs. 1, ist jedoch insoweit enger, als nur solche Personen erfaßt werden, die in Ausübung eines Berufs oder Gewerbes an der Installation oder dem Umbau einer technischen Einrichtung mitwirken. 983
§ 330 a
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
a) In Betracht kommen vor allem Architekten und Bauhandwerker. Unerheblich ist, ob die betreffenden Personen ihren Beruf bzw. ihr Gewerbe befugt oder unbefugt ausüben. Erfaßt wird deshalb auch der Nichtfachmann, der sich berufs- oder gewerbsmäßig in die Arbeiten einschaltet, nicht jedoch der Vermieter oder Mieter einer Wohnung, der mit seinen Familienangehörigen oder Freunden eine Reparatur selbst vornimmt, weil er keinen Handwerker findet oder weil dessen Preise ihm zu hoch sind. Dieser Personenkreis ist nur dann strafbar, wenn es aufgrund der mangelhaften Arbeit zu einem Unfall kommt (vgl. §§ 222, 230). b) Uber Planung, Leitung und Ausführung s. o. 3 a - c . c) Zu den technischen Einrichtungen gehören insbesondere Heizungsanlagen, Gasanschlüsse und elektrische Leitungen. Die Einrichtungen müssen fest mit dem Bauwerk verbunden sein. Nicht hierher gehört deshalb z.B. die mangelhafte Reparatur eines Fernsehgeräts oder einer Tisch- oder Stehlampe. 5. Die Tathandlung besteht sowohl in Abs. 1 als auch in Abs. 2 im Verstoß gegen allgemein bekannte Regeln der Technik. Zu diesen gehören insbesondere die einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften, baupolizeiliche Unfallverhütungsvorschriften und die in einzelnen Zweigen des Bauhandwerks festgelegten Normen. Als Verstöße kommen insbesondere in Betracht die Verwendung schlechten Materials (vgl. R G 5, 254) oder mangelhafter Geräte (vgl. R G 39, 417) sowie die pflichtwidrige Unterlassung des Anbringens von Warnschildern, Abstrebungen, Schutzdächern oder Absperrungen ( R G 56,347). 6. Vollendet ist die Tat erst, wenn durch den Verstoß Leib oder Leben eines anderen gefährdet sind. Siehe hierzu ausführlich § 315 Anm. 4. Vom Schutz der Vorschrift ausgenommen sind lediglich die (vorsätzlich oder fahrlässig) an derTat mitbeteiligten Personen. 7. D e r subj. Tb. des Abs. 1 erfordert Vorsatz. Wegen fahrlässiger Tatbegehung (z. B. mangelhafte Beaufsichtigung ungeschulter Hilfskräfte) siehe Abs. 3 und Abs. 4. 8. Strafbare Teilnahme ist nicht nur in den Fällen des Abs. 1 und Abs. 2, sondern auch im Falle des Abs. 3 möglich (vgl. § 11 Abs. 2). 9. Tateinheit ist möglich mit §§ 222, 230, 309, außerdem mit § 145 Abs. 2 Nr. 2. 10. Wegen Verjährung siehe § 78 a (Beginn der Verjährung mit Eintritt der konkreten Gefahr, nicht erst mit Eintritt des aus ihr resultierenden Schadens).
§ 330 a
Vollrausch
(1) Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begeht und ihretwegen nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rausches schuldunfähig war oder weil dies nicht auszuschließen ist. 984
Siebenundzwanzigster Abschnitt: Gemeingefährliche Straftaten
§ 330 a
(2) Die Strafe darf nicht schwerer sein als die Strafe, die für die im Rausch begangene Tat angedroht ist. (3) Die Tat wird nur auf Antrag, mit Ermächtigung oder auf Strafverlangen verfolgt, wenn die Rauschtat nur auf Antrag, mit Ermächtigung oder auf Strafverlangen verfolgt werden könnte. 1. Die durch das GewohnheitsverbrecherG v. 24. 11. 1933 eingefügte, zuletzt durch das E G S t G B neu gefaßte Vorschrift enthält einen Auffangtatbestand, dessen Aufgabe darin besteht, alle Fälle zu erfassen, bei denen der Täter ungeachtet des Umstands, daß er eine rechtswidrige Tat begangen hat, wegen erwiesener oder nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit freigesprochen werden müßte (so schon B G H [GrSen] 9, 390, jetzt klargestellt durch die Neufassung des EGStGB). Besteht die Möglichkeit, die im Rausch begangene rechtswidrige Tat unmittelbar oder nach den Grundsätzen, der sog. actio libera in causa (vgl. § 20 Anm. 6) zu bestrafen, so ist für § 330 a kein Raum. Grund der Strafbarkeit ist die Gefährlichkeit des Vollrauschs, die sich insbesondere aus der enthemmenden Wirkung des Alkohols ergibt. Es handelt sich somit um ein abstraktes Gefährdungsdelikt ( B G H 16, 124; h. L., vgl. Lackner JuS 1968, 216; Cramerin SchönkeSchröder 1; Str.). Schrifttum: Bemmann, Welche Bedeutung hat das Erfordernis der Rauschtat in § 330 a StGB? G A 1961, 65; - Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, 1962; - ders., Teilnahmeprobleme im Rahmen des § 330 a StGB, G A 1961, 97; Hardwig, Studien zum Vollrauschtatbestand, Eb. Schmidt-Festschr. S. 459; - ders., Der Vollrauschtatbestand, G A 1964, 140; - Lackner, Vollrausch und Schuldprinzip, JuS 1968, 215; - Puppe, Die Norm des Vollrauschtatbestands, G A 1974, 98. 2. Der objektive Tatbestand setzt voraus, daß sich der Täter durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rauschzustand versetzt hat. a) Zu den alkoholischen Getränken gehören nicht nur Bier, Wein, Schnaps und ähnliche Genußmittel, sondern auch alkoholhaltige Arznei- und Kräftigungsmittel (z. B. Klosterfrau-Melissengeist und Diacard). b) Zu den anderen berauschenden Mitteln gehören z. B. Äther, Haschisch, Kokain, LSD, Morphium und Opium (siehe auch § 315 c Anm. III 4 a). c) Der durch die alkoholischen Getränke bzw. berauschenden Mittel bewirkte Rausch muß so stark gewesen sein, daß er zu einem Ausschluß der Schuldfähigkeit i. S. von § 20 geführt hat. Dem gleich steht der Fall, daß eine rauschbedingte Schuldunfähigkeit nicht auszuschließen ist. Hierzu ist erforderlich und ausreichend, daß der Rauschzustand den sicheren Bereich der nur verminderten Schuldfähigkeit ( § 2 1 ) überschritten hat (vgl. B G H 16, 187; 17,334). d) Die alkoholhaltigen Getränke bzw. berauschenden Mittel müssen nicht die alleinige Ursache des Rauschs gewesen sein. Es genügt, wenn ihre Wirkung durch eine besondere Empfindlichkeit oder krankhafte Veranlagung des Täters oder durch zusätzliche Einnahme von Medikamenten erst richtig zur Geltung kommt, z. B. bei Epileptikern und Hirngeschädigten, die oft schon durch wenige Glas Bier in einen pathologischen Rauschzustand verfallen (BGH 1, 196, 198; 4, 73; h. L., vgl. C r a m e r i n Schönke-Schröder 9 m. weit. Nachw.). In diesen Fällen bedarf jedoch die subj. Tatseite einer besonders sorgfälti-
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gen Prüfung (s. u. 4). Der obj. Tb. entfällt in solchen Fällen nur, wenn sich der Zustand des Täters nach seinem Gesamterscheinungsbild nicht mehr als „Rausch" darstellt ( B G H NJW1976,1901). 3. Strafbar wird der Vollrausch erst, wenn der Täter eine rechtswidrige Tat begeht. Diese sog. Rauschtat ist kein Tatbestandsmerkmal, sondern eine objektive Strafbarkeitsbedingung, auf die sich weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit beziehen müssen ( B G H 1, 124; 16, 124, 187; 17, 334; 20, 285; h. L., vgl. Lackner JuS 1968, 215; Lackner 3 a, 4 b; Lay LK 11 ff.; Cramerin Schrönke-Schröder 10 ff.). a) Jede rechtswidrige Tat (siehe hierzu § 11 Abs. 1 Nr. 5) setzt zunächst das Vorliegen einer Handlung voraus. Ist der Rausch so intensiv, daß er zur Handlungsunfähigkeit führt, so ist für § 330 a kein Raum. Beispiel: A bricht infolge seiner Trunkenheit am Gehwegrand zusammen und gerät hierbei in die Fahrbahn eines Radfahrers, der stürzt und sich verletzt. D e r Sturz auf die Fahrbahn stellt in diesem Fall keine „Handlung" dar; dem A kann allenfalls zur Last gelegt werden, daß er ungeachtet seiner Trunkenheit überhaupt noch am Verkehr teilgenommen hat. b) Die Rauschtat muß alle obj. und subj. Merkmale eines Straftatbestands verwirklichen (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 5), wobei die rechtswidrige Tat auch in einem pflichtwidrigen Unterlassen bestehen kann. Nicht ausreichend ist jedoch eine unterlassene Hilfeleistung i. S. von § 330 c, da niemand verpflichtet ist, sich jederzeit und ohne konkreten Anlaß für eine Hilfeleistung bereit zu halten (a. A. BayObLG JR 1975, 30 m. krit. Anm. Lenckner und abl. Bespr. Blei JA 1974, StR 123; J A 1975, StR 47 sowie Kurbjuhn NJW 1974, 2059). Zum Ganzen siehe auch Backmann JuS 1975, 698 und Gollner M D R 1976, 182. aa) D a zum subj. Tb. auch der Vorsatz gehört (vgl. B V 3 vor § 1), kommt bei allen Tatbeständen, bei denen nur die vorsätzliche Begehung mit Strafe bedroht ist, auch eine Bestrafung wegen Vollrauschs nur in Betracht, wenn der Täter die Rauschtat vorsätzlich begangen hat (h. A., vgl. Cramer in Schönke-Schröder 16 ff. m. Nachw.). Wer z. B. nach einem von ihm verursachten Verkehrsunfall in volltrunkenem Zustand seine Fahrt fortsetzt, ohne überhaupt zu erkennen, daß es zu einem Schaden gekommen ist, erfüllt weder den subj. Tb. des § 142 noch den des § 330 c. Er kann daher auch nicht wegen Vollrauschs bestraft werden. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob die vorsatzausschließende Fehlvorstellung alkoholbedingt ist oder nicht (vgl. Hamm NJW 1967, 1523; Cramer in Schönke-Schröder 18; Dreher 13; Lay LK 54 ff.; Maurach BT 514; Welzel 475; a. A. R G 74, 14, 18; B G H NJW 1953, 1442; Lackner 3 b, cc, wonach der rauschbedingte Tatbestandsirrtum bei der Beurteilung der Rauschtat unbeachtlich sein soll, um den Anwendungsbereich der Vorschrift auf einem praktisch wichtigen Sektor nicht zu sehr einzuschränken). Beruht der vorsatzausschließende Tb.-Irrtum auf Fahrlässigkeit und ist die Rauschtat auch bei fahrlässiger Begehung mit Strafe bedroht (z. B. bei Tötung, Körperverletzung und Brandstiftung), so kann auch im Rahmen des § 330 a auf die Fahrlässigkeitstat als Rauschtat zurückgegriffen werden (vgl. Lay LK 60; Welzel 475). bb) Erfordert der im Rausch verwirklichte Tatbestand über den Vorsatz hinaus besondere subj. Tatbestandsmerkmale (z. B. die Bereicherungsabsicht bei Betrug, Erpressung und Hehlerei oder die Zueignungsabsicht bei Diebstahl und Raub), so müssen auch diese Merkmale ungeachtet des Vollrauschs vorliegen. Wer z. B. in volltrunkenem Zustand in einer Gastwirtschaft Speisen und Getränke bestellt, zu deren Bezahlung seine Mittel nicht ausreichen, kann weder wegen Betrugs noch wegen Vollrauschs bestraft werden,
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wenn er seine Zahlungsunfähigkeit nicht erkannt hat. Auch hier macht es keinen Unterschied, ob der Irrtum alkoholbedingt war oder auf sonstigen Gründen beruht; entscheidend ist allein, daß die Absicht fehlte, sich zu Unrecht zu bereichern ( B G H 18, 235 m. Anm. Bruns J Z 1964, 473; h. L.). cc) Die Rauschtat muß rechtswidrig sein. Kann der Täter sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen (z. B. auf Notwehr oder Einwilligung), so kommt auch § 330 a nicht in Betracht. Entsprechendes gilt, wenn der Täter sich auf einen Schuldausschließungsgrund (z. B. entschuldigenden Notstand) berufen kann. Der volltrunkene Täter darf nicht schlechter gestellt werden als ein Nüchterner. dd) Befindet sich der volltrunkene Täter in einem Verbotsirrtum, so hängt die Strafbarkeit wegen Vollrauschs davon ab, ob der Irrtum alkoholbedingt war oder auf sonstigen Gründen beruhte. Die Rechtslage ist insoweit grundlegend anders als beim Tatbestandsirrtum (s. o. lit. aa). Anliegen des § 330 a ist es nämlich, gerade die Fälle zu erfassen, in denen dem volltrunkenen Täter alkoholbedingt die Möglichkeit fehlte, das Unrecht der Tat zu erkennen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Dies gilt nach der sog. strengen Schuldtheorie (vgl. § 16 Anm. 3 d) und der hier vertretenen Form der eingeschränkten Schuldtheorie (vgl. § 16 Anm. 3 e) ohne Rücksicht darauf, ob der Verbotsirrtum auf einer Fehlvorstellung in tatsächlicher oder in rechtlicher Hinsicht beruht. Abweichende Ergebnisse ergeben sich nur beim Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds, wenn man diesen Irrtum nicht nur in seinen Rechtsfolgen einem vorsatzausschließenden Tb.-Irrtum gleichstellt, sondern ihm unmittelbar vorsatzausschließende Wirkung beimißt. In diesem Fall gelten die Ausführungen unter lit. aa) entsprechend. 4. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz oder Fahrlässigkeit. a) D e r Täter muß wissen oder fahrlässig nicht wissen, daß er sich in einen Rausch versetzt, der möglicherweise zum Ausschluß seiner Schuldfähigkeit führt (BGH 16, 187; h. L.). Vorsatz und Fahrlässigkeit müssen sich dagegen nicht auf die sog. Rauschtat beziehen, da diese kein Tb.-Merkmal, sondern eine objektive Bedingung der Strafbarkeit ist (s. o. 3). Ein Verstoß gegen das Schuldprinzip liegt hierin nicht, da in unserer von technischen Gefahren aller Art durchzogenen Zeit schon der schuldhafte Vollrausch materielles Unrecht darstellt (h. L., vgl. Lackner, Vollrausch und Schuldprinzip, JuS 1968, 215; Dreher 9). Durch das Erfordernis einer Strafbarkeitsbedingung wird der Strafbarkeitsbereich also nicht unzulässig ausgedehnt, sondern in sozialadäquater Weise auf die Fälle beschränkt, die sich effektiv als gefährlich erwiesen haben. b) Im Gegensatz zu der hier vertretenen Auffassung wird in einigen Entscheidungen wenigstens eine gewisse subjektive Beziehung des Täters zur Rauschtat verlängt. Der Täter müsse zwar nicht wissen (oder fahrlässig nicht wissen), daß er eine Neigung zu Ausschreitungen im Rausch besitzt; es sei aber immerhin erforderlich, daß er weiß oder fahrlässig nicht weiß, daß er im Rausch möglicherweise strafbare Handlungen irgendwelcher Art begehen werde (BGH 10, 247; JR 1958, 28; Köln NJW 1966, 412; BayObLG NJW 1968, 1897; Hamm NJW 1975, 2252 f.). Diese Ansicht ist aus den dargelegten Gründen dogmatisch bedenklich; sie verfehlt den Gesetzeszweck und ist auch nicht praktikabel. Außerdem führt sie in den meisten Fällen zu den gleichen Ergebnissen wie die hier im Anschluß an die h. L. dargelegte Ansicht. Die Fahrlässigkeit entfällt nämlich auch nach dieser abweichenden Ansicht nur dann, wenn der Täter vor dem Trinken besondere
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Vorkehrungen getroffen hatte, um zu verhindern, daß es später im Rausch zu irgendwelchen Ausschreitungen strafbarer Art kommt ( B G H 10, 247, 251). Hierbei werden von der Rspr. sehr strenge Anforderungen gestellt. So wurden z. B. als nicht ausreichend angesehen der Umstand, daß der Täter sich nach dem Trinken auszieht und ins Bett legt (vgl. Celle VRS 1965, 210), die Mitnahme eines Beifahrers (BayObLG NJW 1968, 1897) sowie die Zusicherung von Zechgenossen, den Führer eines Kfz nach Beendigung des Alkoholgenusses nach Hause fahren zu wollen (Celle D A R 1968, 164). Auch bei Hinnahme von Rauschgift in Selbstmordabsicht ist es grundsätzlich vorhersehbar, daß es in einem rauschartigen Zwischenstadium zu rechtswidrigen Taten kommen kann (Hamm NJW 1975, 2252). c) Eine besonders sorgfältige Prüfung der Schuldfrage ist in den Fällen geboten, in denen der Rauschzustand nicht ausschließlich auf alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel zurückzuführen ist, sondern sich erst aus der Kombination dieser Getränke bzw. Mittel mit anderen Faktoren ergeben hat (s. o. 2 d sowie B G H 26, 363 m. Nachw.). 5. Über die Auswirkungen von Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgriinden s. o. Anm. 3 b, cc, dd. 6. Das Verhältnis zur actio libera in causa. a) § 330 a ist grundsätzlich subsidiär. Dies gilt aber nur dann, wenn die Bestrafung nach den Grundsätzen der a.l.i.c. die Möglichkeit bietet, die Rauschtat in ihrem objektiven und subjektiven Unrechtsgehalt voll zu erfassen. Beispiele: A brennt die Scheune des B nieder, nachdem er sich zuvor Mut angetrunken hat, um seine Hemmungen zu beseitigen. Wird später festgestellt, daß A im Zeitpunkt der Brandstiftung infolge des genossenen Alkohols schuldunfähig war, so erfolgt die Bestrafung nach den Grundsätzen der a.l.i.c. wegen vorsätzlicher Brandstiftung gemäß § 308. § 330 a ist subsidiär. - Oder: A trinkt sich beim Stammtisch einen kräftigen Rausch an, obwohl er weiß, daß er noch mit seinem Pkw nach Hause fahren muß und hierbei möglicherweise einen Unfall verschulden kann. Kommt es dann tatsächlich zu einem Unfall, so kann A, auch wenn er schuldunfähig war, nach den Grundsätzen der a.l.i.c. - je nach Sachlage - wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung, fahrlässiger Tötung oder fahrlässiger Körperverletzung bestraft werden. § 330 a ist subsidiär. § 330 a wird dagegen nicht verdrängt, wenn der Täter im Zustand der Volltrunkenheit mehrere mit Strafe bedrohte Handlungen begeht, die er nur teilweise unter dem Gesichtspunkt der a.l.i.c. zu vertreten hat, etwa wenn in den Beispielen unter a) der Brandstifter nach der Brandlegung noch einen Tatzeugen erschießt, mit dessen Auftreten er bei Planung der Tat in nüchternem Zustand nicht gerechnet hat, oder wenn der Kraftfahrer nach dem Unfall flieht und bei seiner späteren Festnahme auch noch Widerstand leistet. In diesen Fällen tritt § 330 a in Tateinheit neben die unter dem Gesichtspunkt der a.l.i.c. verwirklichten Tatbestände (BGH 17, 333; Hamm VRS 1971, 191; D A R 1974,23). c) Ebenso ist zu entscheiden, wenn die a.l.i.c. zwar den objektiven, nicht aber den subjektiven Unrechtsgehalt der Rauschtat erfassen kann. Beispiel: A versetzt sich in einen seine Schuldfähigkeit ausschließenden Rauschzustand, ohne zu bedenken, daß der mit ihm verfeindete B anwesend ist, den er schon einmal in angetrunkenem Zustand niedergeschlagen hat. Kommt es dann tatsächlich erneut zu einer tätlichen Auseinandersetzung, in
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deren Verlauf A den B verletzt, so führt die a.l.i.c. nur zu einer Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung (vgl. § 20 Anm. 6). Der subjektive Unrechtsgehalt der Rauschtat kann also nicht voll erfaßt werden. Hieraus folgt: § 330 a ist nicht subsidiär, sondern tritt in Tateinheit neben § 230 (vgl. B G H 2, 15, bestätigt in B G H 17, 333, 336; h. L.). 7. Täterschaft und Teilnahme. Die Strafdrohung des § 330 a richtet sich nur gegen den, der sich durch seine Unmäßigkeit in einen seine Schuldfähigkeit ausschließenden Rauschzustand versetzt. Die Vorschrift enthält somit ein eigenhändiges Delikt, das nicht in mittelbarer Täterschaft begangen werden kann (vgl. B I 6 vor § 1). Anstiftung und Beihilfe sind dagegen nach allgemeinen Grundsätzen strafbar (vgl. B G H 10, 248; Cramer G A 1961, 103 ff.; Maurach BT 515; Roxin aaO. 431 f.; a. A. Dreher 16; Lackner 6; Lay LK 73; Cramer in Schönke-Schröder 25). Beispiel: Gastwirt W gibt seinem Gast G jede gewünschte Menge Alkohol, obwohl er erkennt, daß G sich sinnlos betrinken will. Er unternimmt auch nichts, als G schließlich volltrunken mit seinem Moped die Heimfahrt antritt. Verschuldet G dann einen tödlichen Unfall, so hat W sich der Beihilfe zum Vollrausch, außerdem der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht (vgl. B G H 4, 20; 19, 152). Die Beihilfe zu § 330 a ist hier allerdings - wie auch bei G selbst - gegenüber dem Vergehen gemäß § 222 subsidiär (s. o. 6 a). Keine strafbare Anstiftung oder Beihilfe ist dagegen möglich, wenn der Täter sich nur fahrlässig betrinkt. Auch Teilnahme an der Rauschtat kommt nur in Betracht, wenn diese vorsätzlich begangen wird; insoweit gelten die allgemeinen Regeln über Teilnahme an schuldlosem Handeln und über mittelbare Täterschaft. 8. Die Strafe darf gemäß Abs. 2 nicht schwerer sein als die für die vorsätzliche Begehung der Rauschtat angedrohte Strafe. Wenn z. B. jemand im Vollrausch einen Hausfriedensbruch begeht, so beträgt die Höchststrafe ein Jahr Freiheitsstrafe. 9. Bei Delikten, die nur auf Antrag (vgl. §§ 77 ff.), mit Ermächtigung oder auf Strafverlangen (vgl. § 77 e) verfolgbar sind, beachte Abs. 3. Ist die Rauschtat verjährt, so kann die Tat auch nicht mehr unter dem Gesichtspunkt des Vollrauschs verfolgt werden (vgl. RegE S. .268 BT-Drucks. 7/550). 10. Als Maßregeln der Besserung und Sicherung kommen insbesondere §§ 64 (Entziehungsanstalt) und 69 (Entziehung der Fahrerlaubnis) in Betracht.
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G e f ä h r d u n g einer Entziehungskur
W e r wissentlich e i n e m anderen, der auf Grund behördlicher A n o r d n u n g oder o h n e seine Einwilligung z u einer Entziehungskur in einer Anstalt untergebracht ist, o h n e Erlaubnis d e s Anstaltsleiters o d e r s e i n e s B e a u f t r a g t e n a l k o h o lische G e t r ä n k e oder andere berauschende Mittel verschafft oder überläßt o d e r ihn z u m G e n u ß solcher Mittel verleitet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu e i n e m Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift dient dem Schutz behördlich angeordneter oder sonst ohne Einwilligung des Betroffenen veranlaßter Entziehungskuren gegen 989
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Störungen durch Dritte. Sie enthält somit eine flankierende Maßnahme, die ergänzend neben die Unterbringung selbst tritt. 2. Nur Entziehungskuren, die stationär in einer Anstalt durchgeführt werden, unterstehen dem Strafschutz der Vorschrift. Nicht erfaßt werden dagegen ambulante Entziehungskuren. 3. Untergebracht ist nur, wer sich aufgrund behördlicher (oder gerichtlicher, vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 7) Anordnung oder ohne seine Einwilligung (z. B. auf Veranlassung des gesetzlichen Vertreters) in der Anstalt befindet. Nicht hierher gehört der Fall, daß sich jemand freiwillig der Kur unterzieht. 4. Über alkoholische Getränke siehe § 315 c Anm. III 4 a, über andere berauschende Mittel § 315 c Anm. III 4 b. 5. Als Täter kommen insbesondere Besucher sowie Anstaltsbedienstete in Betracht, die sich aus Mitleid oder Gewinnsucht über die bestehenden Bestimmungen hinwegsetzen. 6. Der subj. Tb. erfordert direkten Vorsatz („wissentlich"). Der Täter muß wissen, daß der Alkohol oder das berauschende Mittel für eine Person bestimmt ist, die sich in einer Anstalt auf behördliche Anordnung bzw. ohne ihre Einwilligung einer Entziehungskur zu unterziehen hat. 7. Tateinheit ist möglich mit den Strafvorschriften des BTMG sowie mit §§ 223, 230, n a c h h . L. a u c h m i t § 258 (zw.). § 115 O W i G ist subsidiär (§ 21 OWiG).
§ 330 c
Unterlassene Hilfeleistung
Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. 1. Die Vorschrift enthält ein echtes Unterlassungsdelikt, d. h. die pflichtwidrige Untätigkeit wird ohne Rücksicht darauf bestraft, welche Folgen aus ihr erwachsen. Unerheblich ist auch, ob eine besondere Rechtspflicht zum Handeln besteht. § 330 c fordert Hilfe von jedem, der dazu in der Lage ist. Aus dem neueren Schrifttum siehe insbesondere Naucke, Der Aufbau des § 330 c, Welzel-Festschr., 1974, S. 761 ff. 2. § 330 c setzt einen Unglücksfall oder eine gemeine Gefahr oder Not voraus. a) Ein Unglücksfall ist jedes plötzliche Ereignis, das erheblichen Personen- oder Sachschaden verursacht hat oder unmittelbar befürchten läßt ( B G H 6, 152). Hierher gehören vor allem Verkehrsunfälle mit erheblichem Personenschaden, aber auch Straftaten (insbesondere Gewaltverbrechen), ferner eine plötzliche Erkrankung oder die akute Ver-
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§ 330 c
schlimmerung eines Leidens (vgl. Hamm NJW 1975, 604 betr. Steigerung von Schmerzen). Die Ursache des Unglücksfalls ist unerheblich. § 330 c wird insbesondere nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Betroffene sich selbst schuldhaft in eine Gefahrenlage gebracht hat. Ein Unglücksfall stellt nach der Rspr. auch die durch einen Selbstmordversuch herbeigeführte Gefahrenlage dar ( B G H 6, 147; 13, 162; zw.). Die Voraussetzungen zum Eingreifen sind in diesem Fall nicht erst dann gegeben, wenn der Lebensmüde schon Hand an sich gelegt hat, sondern schon dann, wenn der Selbstmord unmittelbar bevorsteht ( B G H 13, 169). Zum Ganzen siehe auch V vor § 211. b) Eine gemeine Gefahr oder Not liegt vor, wenn eine unbestimmte Vielzahl von Personen durch ein Schadensereignis größeren Umfangs bedroht wird oder schon betroffen ist, z. B. bei Naturkatastrophen, Brand und Überschwemmung. 3. Die Erforderlichkeit der Hilfe richtet sich nach objektiven Maßstäben. Sie entfällt grundsätzlich nur dann, wenn bereits andere Hilfskräfte ausreichend zur Verfügung stehen, zumindest die sichere Gewähr für sofortige anderweitige Hilfe besteht (vgl. Dreher 6; Blei J A 1973, StR 45), oder wenn nichts mehr zu helfen ist, z. B. wenn der Verunglückte bereits tot und weiterer Schaden (etwa für andere Verkehrsteilnehmer, vgl. B G H I, 266) nicht zu befürchten ist ( B G H 16, 203). § 330 c wird jedoch nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß der Tod eines noch lebenden Menschen nicht mehr abgewendet werden kann ( B G H 17,166; JR 1956, 347; NJW 1961, 1981). 4. Die tatbestandsmäßige Handlung besteht darin, daß der Täter die erforderliche und mögliche Hilfe nicht leistet. Wer ein ins Wasser gefallenes Kind nicht rettet, weil er nicht schwimmen kann, handelt nicht tatbestandsmäßig. Für den subjektiven Tatbestand ist Vorsatz erforderlich. Der Täter muß wissen, daß ein Unglücksfall vorliegt, daß Hilfe erforderlich ist und daß er selbst in der Lage ist, diese zu leisten. Glaubt der Täter irrig, seine Hilfe sei wegen der Anwesenheit anderer Personen nicht erforderlich, so liegt ein vorsatzausschließender Tb.-Irrtum vor (BayObLG M D R 1957, 116). Siehe auch unten Anm. 7. 5. Die Rechtswidrigkeit entfällt vor allem dann, wenn der Täter andere wichtige Pflichten zu erfüllen hat, z. B. wenn ein Arzt gerade auf dem Weg zu einem anderen Patienten ist, der seiner Hilfe dringend bedarf. Weist der Verletzte oder Gefährdete die angebotene Hilfe, obwohl erforderlich, zurück, so entfällt die Rechtswidrigkeit nur dann, wenn der Verzicht auf Hilfe rechtlich relevant ist, also nicht bei akuter Lebensgefahr (vgl. Maurach JR 1956, 349). 6. Unterläßt der Täter die erforderliche Hilfeleistung, weil er eine erhebliche Gefahr für sich selbst befürchtet, so kann hierdurch die Schuld entfallen. Dies jedoch nur, wenn ihm bei Würdigung aller Umstände rechtmäßiges Verhalten nicht zumutbar ist. Je größer die Gefährdung des Verunglückten ist und je näher der Hilfspflichtige dem Unglücksgeschehen steht, desto mehr kann man von ihm verlangen, daß er seine eigenen Belange zurückstellt und selbst körperliche oder andere Gefahren in Kauf nimmt. Daher befreit auch die Gefahr einer Strafverfolgung grundsätzlich nicht von der Pflicht zur Hilfeleistung ( B G H I I , 353). Wird eine Bluttransfusion erforderlich, um das Leben eines Kindes zu erhalten, so ist es dem gesetzlichen Vertreter des Kindes auch dann zumutbar, seine Zustimmung zur Durchführung des Eingriffs zu erteilen, wenn er als „Zeuge Jehovas" Bluttransfusio-
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nen aus Gewissensgründen ablehnt (vgl. Hamm NJW 1968, 212 m. Anm. Kreuzer NJW 1968, 1201). Uber hochgradige Erregung als Schuldausschließungsgrund siehe Hamm NJW 1975, 604. 7. Ein Irrtum über die Zumutbarkeit läßt ebenso wie der Irrtum über die eigentliche Hilfspflicht nicht den Vorsatz, sondern nur das Unrechtsbewußtsein entfallen und ist dementsprechend als Verbotsirrtum zu behandeln (vgl. BayObLG M D R 1957, 116). Vorsatzausschließend ist nur der Irrtum über das Vorliegen eines Unglücksfalls, über die Erforderlichkeit und Möglichkeit der Hilfe (s. o. 4) sowie über die tatsächlichen Grundlagen der Zumutbarkeit. 8. Vollendet ist das Delikt, sobald die erforderliche, mögliche und zumutbare Hilfe nicht geleistet ist. § 330 c verlangt sofortige Hilfe. Wer z. B. die Unfallstelle zunächst verläßt und sich erst später zur Hilfeleistung entschließt, hat den Tb. des § 330 c bereits erfüllt, so daß die tätige Reue sich nur noch im Strafmaß auswirken kann (vgl. B G H 14, 213). Strafbar macht sich daher auch ein Arzt, der bei einer sich als Unglücksfall darstellenden schweren Erkrankung nicht sofort den erbetenen Krankenbesuch macht, obwohl ihm dies möglich und zumutbar wäre (BGH 17, 166). Dasselbe gilt, wenn ein Krankenhausarzt, z. B. ein Chirurg, der in seiner Wohnung fernmündlich davon verständigt wird, daß ein Patient mit einem Knochenbruch eingeliefert worden ist, sich darauf beschränkt, sein Personal fernmündlich anzuweisen, den Patienten ruhig zu legen und ihm eine schmerzstillende Spritze zu geben ( B G H 21, 50). 9. Konkurrenzen: a) Ist der Unglücksfall durch eine Straftat herbeigeführt worden, so kann derjenige, der in strafbarer Weise an dieser Straftat mitgewirkt hat, nicht auch noch wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft werden; § 330 c ist in diesem Fall subsidiär ( B G H 3, 68). Etwas anderes gilt nur dann, wenn dem Opfer aus der Tat ein weitergehender Schaden droht, den der Täter ursprünglich nicht gewollt hat, z. B. wenn bei einer Körperverletzung die Gefahr des Todes besteht ( B G H 14, 282). In diesem Fall kann die unterlassene Hilfeleistung realkonkurrierend neben die Körperverletzung treten, sofern sie sich nicht zugleich als ein durch pflichtwidriges Unterlassen begangenes Tötungsdelikt darstellt (siehe den folgenden Abschnitt b). b) Auch gegenüber den unechten Unterlassungsdelikten ist § 330 c grundsätzlich subsidiär ( B G H 14, 282, h. L.). Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß die spezielle Erfolgsabwendungspflicht der unechten Unterlassungsdelikte die allgemeine Hilfspflicht des § 330 c einschließt (vgl. Cramerin Schönke-Schröder 34). c) Tateinheit ist vor allem mit § 142 möglich, ferner mit § 315 b Abs. 1 Nr. 2 und mit § 315 c Abs. 1 Nr. 2 g.
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Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte (§§ 3 3 1 - 3 5 8 ) Vorbemerkungen 1. Der 28. Abschnitt faßt eine Reihe von Sondertatbeständen zusammen, die nur von Amtsträgern oder ihnen gleichgestellten Personen begangen werden können. Mit dieser Zusammenfassung ist allerdings keine abschließende Aufstellung aller Amtsdelikte verbunden. Weitere Amtsdelikte, bei denen sich die Amtseigenschaft teils strafbegründend, teils straferschwerend auswirkt, finden sich im Zusammenhang mit solchen Tatbeständen, die die gleiche Schutzrichtung verfolgen, jedoch auch von solchen Personen verwirklicht werden können, die weder Amtsträger noch diesen gleichgestellt sind (vgl. z. B. §§ 120 Abs. 2, 133 Abs. 3, 174 a, 174 b, 201 Abs. 3, 203 Abs. 2 Nr. 1 und 2, 258 a). - Schrifttum: Maiwald, Die Amtsdelikte, JuS 1977, 353ff.; - Wagner, Neue Tendenzen im Bereich der Amtsdelikte, Z R P 1975, 273; - ders., Amtsverbrechen, 1975. 2. Das EGStGB hat den 28. Abschnitt grundlegend umgestaltet, sich dabei jedoch hinsichtlich des Aufbaus und der Reihenfolge der einzelnen Tatbestände im wesentlichen an das frühere Recht gehalten. a) Kernstück der Reform war die Neufassung der Bestechungstatbestände (§§ 3 3 1 - 3 3 5 a). Hierbei wurde abweichend vom früheren Recht die Gliederung nicht mehr nach Tätergruppen, sondern nach Taten durchgeführt, und zwar in insgesamt vier Tatbeständen: Die Vorteilsannahme (§ 331) entspricht der früheren „einfachen" passiven Bestechung, die Bestechlichkeit (§ 332) der früheren „schweren" passiven Bestechung. Die in § 333 unter Strafe gestellte Vorteilsgewährung bildet das Gegenstück zu § 331 und bringt gegenüber der früheren Rechtslage insoweit eine Ausdehnung des Strafbarkeitsbereichs, als die „einfache" aktive Bestechung nach früherem Recht nur bei der Bestechung von Richtern mit Strafe bedroht war (§ 334 Abs. 2 aF). Die in § 334 unter Strafe gestellte Bestechung bildet das Gegenstück zu § 332 und entspricht der früheren „schweren" aktiven Bestechung (§ 333 aF), bringt jedoch gegenüber der früheren Rechtslage insoweit eine Ausdehnung des Strafbarkeitsbereichs, als auch Vorteile für zurückliegende Diensthandlungen einbezogen wurden. Der neue Aufbau der Bestechungstatbestände hat den Vorzug, daß der Wesensunterschied zwischen der zum kriminellen Unrecht erhobenen Disziplinarwidrigkeit der Vorteilsannahme (§ 331) und der ihr entsprechenden Vorteilsgewährung (§ 333) einerseits und der wesentlich schwerer wiegenden Bestechlichkeit und Bestechung andererseits (§§ 332, 334) klar herausgestellt wird (Ber. S. 270 BT-Drucks. 7/550). Gleichzeitig wurde klargestellt, daß die Genehmigung zur Annahme eines Vorteils nur im Rahmen des § 331, nicht auch bei § 332 rechtfertigende Wirkung hat (vgl. §§ 331 Abs. 3, 333 Abs. 3). Zu den wesentlichen Neuerungen auf dem Gebiet der Bestechungstatbestände gehört weiter die Einbeziehung nichtbeamteter Personen in den Täterkreis der §§ 331 und 332, was durch die hierdurch ermöglichte Aufhebung der BestechVO (vgl. Art. 287 Nr. 3 EGStGB) zu einer Entlastung des Nebenstrafrechts geführt hat. Schließlich wurde in § 332 Abs. 3 ausdrücklich klargestellt, unter welchen Voraussetzungen sich ein sog. Ermessensbeamter im Zusammenhang mit dem ihm angebotenen, versprochenen oder gewährten Vorteil nicht nur nach § 331, sondern nach § 332 strafbar macht (entsprechend die Regelung in § 334 Abs. 3). b) Erheblich umgestaltet wurden ferner die Vorschriften über die Verletzung des Dienstgeheimnisses (§ 353 b) und den Bruch des Post- und Fernmeldegeheimnisses (§ 354). 32
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
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Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
Neu aufgenommen in den 28. Abschnitt wurden die Tatbestände betreffend verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen (§ 353 d) und Verletzung des Steuergeheimnisses (§ 355). Ersatzlos aufgehoben wurden die Tatbestände der §§ 341 (Freiheitsberaubung im Amt), 342 (Hausfriedensbruch im Amt), 350 und 351 (Amtsunterschlagung), bei denen es sich ausnahmslos um sog. unechte Amtsdelikte gehandelt hat. Maßgeblich hierfür war die Erwägung, daß die Strafdrohung des Grundtatbestands, die zum Teil gleichzeitig angehoben wurde (vgl. z. B. § 123), auch zur Erfassung dieser Fälle ausreicht. Aus dem 28. Abschnitt herausgenommen und als qualifizierte Tatbestände den jeweiligen Grundtatbeständen zugeordnet wurden aus dem Kreis der Amtsdelikte die ehemaligen §§ 347 (jetzt § 120 Abs. 2), 348 Abs. 2 (jetzt § 133 Abs. 3), 353 d (jetzt § 201 Abs. 3) und 346 (jetzt § 258 a). 3. Wie sich aus Anm. 1 und 2 b ergibt, enthält der 28. Abschnitt nicht alle Amtsdelikte. Andererseits finden sich im 28. Abschnitt auch Tatbestände, die eine Amtseigenschaft des Täters nicht voraussetzen (vgl. insbesondere §§ 333, 334, 353 d, 356). 4. Ein Amtsdelikt liegt nur vor, wenn der Täter im Zeitpunkt der Tat Amtsträger ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 2) oder Richter ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 3) war. Dem gleich steht in einigen Tatbeständen (§§ 334, 353 b, 354 und 355) der für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 4). Scheidet der Täter nach der Tat aus dem Dienst aus oder entfällt nachträglich die besondere Verpflichtung, so bleibt die bereits begründete Strafbarkeit hiervon unberührt. Umgekehrt kann ein Amtsdelikt auch dann vorliegen, wenn der Täter die unter Strafe gestellte Handlung erst nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst begeht. Dies gilt insbesondere für die Fälle des Geheimnisverrats (vgl. §§ 353 b - 3 5 5 ) , nicht dagegen für Vorteilsannahme und Bestechlichkeit. 5. Innerhalb der Amtsdelikte werden die echten (eigentlichen) von den unechten (uneigentlichen) unterschieden. Siehe hierzu ausführlich § 11 Anm. II 2 a - c . 6. Wegen der rechtlichen Beurteilung eines Irrtums über die Amtseigenschaft siehe § 11 Anm. II 3. 7. Nebenfolgen siehe § 358.
§ 331
Vorteilsannahme
( 1 ) E i n Amtsträger o d e r ein für d e n öffentlichen Dienst b e s o n d e r s Verpflichteter, der e i n e n Vorteil als G e g e n l e i s t u n g dafür fordert, sich versprechen läßt o d e r a n n i m m t , daß er eine D i e n s t h a n d l u n g v o r g e n o m m e n hat oder künftig v o r n e h m e , wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren o d e r mit Geldstrafe bestraft. (2) E i n Richter o d e r Schiedsrichter, der e i n e n Vorteil als G e g e n l e i s t u n g dafür fordert, sich versprechen läßt oder annimmt, daß er e i n e richterliche H a n d l u n g v o r g e n o m m e n hat o d e r künftig v o r n e h m e , wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren o d e r mit Geldstrafe bestraft. D e r Versuch ist strafbar. 994
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 331
(3) Die Tat ist nicht nach Absatz 1 strafbar, wenn der Täter einen nicht von ihm geforderten Vorteil sich versprechen läßt oder annimmt und die zuständige Behörde im Rahmen ihrer Befugnisse entweder die Annahme vorher genehmigt hat oder der Täter unverzüglich bei ihr Anzeige erstattet und sie die Annahme genehmigt. 1. Anliegen der durch das EGStGB neu gefaßten Vorschrift ist es, die Käuflichkeit von Diensthandlungen und die Befangenheit der Bediensteten bei der Erfüllung ihrer Pflichten und damit auch eine Verfälschung des Staatswillens zu verhindern (vgl. RegE S. 269 BT-Drucks. 7/550 m. zust. Bespr. Blei JA 1974, StR 75). Geschütztes Rechtsgut ist damit die Lauterkeit des öffentlichen Dienstes. O b darüber hinaus auch das Vertrauen der Allgemeinheit in die Unbefangenheit der Bediensteten und damit in die sachliche Richtigkeit ihrer Entscheidungen geschützt ist (so zutreffend Begr. zu § 460 E 1962; B G H 15, 88, 96; Dreher 3; Lackner 1), wurde bewußt offen gelassen (vgl. S. 269 aaO.). Gesetzesmaterialien: RegE S. 269 ff. BT-Drucks. 7/550; Ber. S. 21 ff. BT-Drucks. 7/1261. - Schrifttum: Bank, Zustimmung der Dienstbehörde zur Geschenkannahme im Rahmen der Bestechungstatbestände, NJW 1962, 85; - Blei, Die Neufassung der Bestechungstatbestände, J A 1974, StR 73 ff., 91 ff., 115 ff.; - Creifelds, Beamte und Werbegeschenke, G A 1962, 33; - Dahs, Differenzierungen im subjektiven Tatbestand der aktiven Bestechung, NJW 1962, 177; - Domseifer, Die Vorteilsgewährung (einfache aktive Bestechung) nach dem EGStGB, J Z 1973, 267; - E. Fuhrmann, Die Bestechungstatbestände, JR 1960, 454; - H. Fuhrmann, Die Annahme von sog. Aufmerksamkeiten durch Beamte, G A 1959, 97; - Geerds, Über den Unrechtsgehalt der Bestechüngsdelikte und seine Konsequenzen für Rechtsprechung und Gesetzgebung, 1971; - Loos, Zum „Rechtsgut" der Bestechungsdelikte, Welzel-Festschr. 1974, S. 879; - Eb. Schmidt, Die Bestechungstatbestände in der höchstrichterlichen Rechtsprechung von 1879-1959, 1960; - Schmidt-Leichner, Die Bestechungstatbestände in der höchstrichterlichen Rechtsprechung von 1879-1959, NJW 1960, 846; - Stein, Der Streit um die Grenzen der Bestechungstatbestände, NJW 1961, 433; - Wagner, Amtsverbrechen, 1975. 2. Als Täter kommen in Betracht a) in Abs. 1 Amtsträger ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 2) und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete (§ 11 Abs. 1 Nr. 4); b) in Abs. 2 Richter (§ 11 Abs. 1 Nr. 3) und Schiedsrichter (vgl. §§ 1025 ff., 1048 Z P O ) . Bei beamteten Richtern ist zu beachten, daß sie sowohl Täter nach Abs. 1 als auch nach Abs. 2 sein können (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 2 a, Nr. 3). Abs. 1 greift für sie jedoch nur dann ein, wenn Gegenstand der Bestechungshandlung eine nichtrichterliche Diensthandlung ist (vgl. Blei JA 1974, StR 75). Durch die gesonderte Erwähnung der Schiedsrichter, die auf Grund eines Schiedsvertrags (§§ 1025 ff., 1048 Z P O ; §§ 1 0 1 - 1 1 0 A r b G G ) zur Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten berufen sind, wurde die frühere Streitfrage, ob die Schiedsrichter zu den in § 334 aF genannten ehrenamüichen Richtern gehören, gegenstandslos; c) Soldaten, soweit diese nach § 48 WStG den Amtsträgern gleichgestellt sind (im Bereich des § 3 3 1 nur für Offiziere und Unteroffiziere zutreffend, vgl. § 4 8 Abs. 1 WStG). 32'
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3. Die Tathandlung besteht darin, daß der Amtsträger, Richter usw. für eine Diensthandlung (Abs. 1) bzw. richterliche Handlung (Abs. 2) einen Vorteil fordert, sich versprechen läßt oder annimmt. a) Vorteile sind Zuwendungen jeder Art, insbesondere Geschenke. aa) Auch nur vorübergehende Vorteile können den Tb. verwirklichen. So genügt es z. B., wenn dem Amtsträger, Richter usw. unentgeltlich oder zu einem besonders vorteilhaften Preis ein Mietwagen zur Verfügung gestellt wird oder wenn ein Vereinsmanager ihm Freikarten für eine Sportveranstaltung vermittelt. bb) Ein materieller Vorteil ist nicht erforderlich. So genügt z. B. auch die Gewährung des Geschlechtsverkehrs (vgl. RG 9, 166; 64, 291; 71, 396; Hamm DRZ 1948, 449; h. L.). Nicht ausreichend ist allerdings die Annahme einer nur flüchtigen Zärtlichkeit (BGH JZ 1960, 30; Baldus LK 11; Dreher 11; Lackner 3 a). Auf die Höhe des Werts einer Zuwendung kommt es grundsätzlich nicht an. Bei solchen Zuwendungen, die nach der Verkehrssitte auch sonst aus Höflichkeit gegeben werden, läßt sich jedoch in der Regel ausschließen, daß sie eine „Gegenleistung" für eine bestimmte Amtshandlung darstellen (vgl. Baldus LK 13 m. Nachw., siehe auch unten Anm. 3 f). Beispiele aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in denen ein Vorteil angenommen wurde: Stundung einer Forderung (RG HRR 1940 Nr. 195; BGH 16, 41), Gewährung eines Darlehens, und zwar unabhängig von den Rückzahlbedingungen (BGH 13, 328; GA 1959, 176) sowie Ermöglichung einer bezahlten Nebentätigkeit (BGH 18, 263). ee) Keinen „Vorteil" hat der Amtsträger, Richter usw., wenn er sich einen Vermögenswert erst selbst durch die Diensthandlung verschaffen muß (BGH 1, 182; siehe jedoch andererseits BGH 20, 1, wonach es genügt, wenn ihm der Vorteil aus dem Erlös einer Straftat gewährt wird, an der er selbst mitgewirkt hat) oder wenn er, um nicht als unhöflich zu erscheinen, ein Geschenk zwar annimmt, den dadurch entstandenen Vorteil jedoch umgehend durch ein gleichwertiges Gegengeschenk ausgleicht und dadurch zum Ausdruck bringt, daß er nicht käuflich ist. dd) Eine Zuwendung an Angehörige ist nur dann ein Vorteil für den Amtsträger, Richter usw., wenn er diesem wenigstens mittelbar zugute kommt (RG 13, 396; RG HRR 1940 Nr. 872; BGH NJW 1959, 346; Baldus LK 20; Lackner 3 a). b) Die Tb.-Merkmale Sich-Versprechenlassen und Annahme setzen eine Unrechtsvereinbarung voraus, während das Tb.-Merkmal Forderung auf eine Unrechtsvereinbarung lediglich abzielt (BGH 15, 88, 97; Baldus LK 2; Lackner 3 d). aa) Fordern ist das einseitige Verlangen einer Zuwendung, sei es in offener oder in verdeckter Form. Unerheblich ist, ob der Partner bereit ist, die Forderung zu erfüllen. Der Tb. ist schon dann vollendet, wenn die Forderung dem Adressaten zugeht. bb) Sich- Versprechenlassen ist die - ausdrückliche oder schlüssige - Annahme des Angebots einer zukünftigen Leistung. Nicht ausreichend ist, wenn der Amtsträger, Richter usw. das ihm gemachte Angebot geflissentlich überhört, ohne irgendwie darauf zu reagieren. cc) Annehmen ist die tatsächliche Entgegennahme des Vorteils mit dem Willen, den Vorteil für sich zu behalten oder darüber im eigenen Interesse zu verfügen (RG 58, 266; Baldus LK 3; Cramer in Schönke-Schröder 26). Ausreichend ist auch das Behalten eines Vorteils, von dem zunächst nicht erkannt wurde, daß er als Gegenleistung für eine Dienst996
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handlung gedacht war (BGH 15, 88), nicht jedoch die Entgegennahme in der Absicht, ein Beweismittel gegen den Partner zu Verfügung zu haben (RG 58, 266; B G H 15,97; h. L.). Auch die Entgegennahme zwecks Weiterleitung an andere Beamte erfüllt nicht den Tb., kann jedoch strafbare Teilnahme begründen ( B G H 14, 123, 127). c) Diensthandlung ist jede Handlung oder Unterlassung (vgl. § 335), die ihrer Natur nach zu dem A m t oder Dienst des Amtsträgers oder besonders Verpflichteten in einer inneren Beziehung steht und nicht völlig außerhalb seines Aufgabenbereichs fällt ( B G H 3, 145; 14,123; Hamm NJW 1973,716). aa) Der Begriff umfaßt alle Amtshandlungen i. e. S. und bezieht alle Handlungen ein, durch die ein Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter die ihm übertragenen Aufgaben wahrnimmt. Diese Erweiterung ergibt sich daraus, daß zu den für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten auch solche Personen gehören, die nicht im öffentlichen Dienst, sondern nur für ihn tätig sind (vgl. RegE S. 271 BTDrucks. 7/550). Einzelheiten und Beispiele siehe § 11 Anm. IV. bb) Die Handlung muß nicht zum ordentlichen oder regelmäßen Aufgabenbereich des Amtsträgers oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten gehören ( B G H 16, 37). Unerheblich ist auch, ob sie im Einzelfall durch eine Dienstpflicht geboten ist oder ob der Amtsträger bzw. für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete nach freiem Belieben darüber befinden kann, ob er dienstlich tätig werden will ( B G H 3, 145). cc) Unerheblich ist, ob die Diensthandlung bereits vorgenommen wurde oder ob sie noch bevorsteht. Daß die Diensthandlung keine Verletzung der Dienstpflicht enthält oder - im Falle ihrer künftigen Vornahme - enthalten würde, ergibt sich aus der Gegenüberstellung mit § 332 Abs. 1. d) Die Tathandlung des Abs. 2 unterscheidet sich von der des Abs. 1 nur dadurch, daß Gegenstand eine - nicht pflichtwidrige - richterliche Handlung sein muß. aa) Erfaßt werden alle Handlungen, die ein Richter bzw. Schiedsrichter im Rahmen seiner richterlichen Unabhängigkeit auf Grund einer durchgeformten Verfahrensregelung vornimmt (vgl. B G H 24, 326), und zwar ohne Rücksicht darauf, ob es sich um Angelegenheiten unter Beteiligung mehrerer Personen mit widerstreitenden Interessen oder um einseitige Rechtsangelegenheiten handelt (RegE S. 271 BT-Drucks. 7/550). Hierher gehören vor allem Zivil- und Strafsachen sowie Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, der Sozial-, Arbeits-, Finanz- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, nicht dagegen Tätigkeiten im Rahmen der Justizverwaltung, für die jedoch Abs. 1 in Betracht kommen kann, da der beamtete Richter zugleich auch Amtsträger i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 2 ist. bb) Abweichend von § 334 Abs. 1 aF sind nicht nur bevorstehende, sondern auch zurückliegende richterliche Handlungen strafrechtlich relevant. cc) Zu beachten ist, daß nach Abs. 2 S. 2 auch der Versuch strafbar ist. e) Von der Diensthandlung zu unterscheiden ist die Privathandlung, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie dienstrechtlich zu beanstanden ist oder nicht. aa) Eine Privathandlung, die ein Amtsträger, Richter usw. nebenberuflich vornimmt, die aber auch jede andere sachkundige Person vornehmen könnte, wird nicht schon dadurch
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zu einer Diensthandlung, daß sie dem Amtsträger, Richter usw. dienstrechtlich verboten ist oder gegen Entgelt ausgeführt wird. bb) Beispiele: Ein Lehrer erteilt einem Schüler seiner Klasse entgegen den innerdienstlichen Vorschriften Nachhilfeunterricht (vgl. R G 50, 254; B G H G A 1966, 377). - Oder: Ein Richter oder Polizeibeamter erteilt seinem Nachbarn gegen Entgelt Rechtsauskünfte. Hier liegt kein Vergehen nach § 331, sondern lediglich ein Verstoß gegen §§ 1, 8 RBeratG vor. - Oder: Ein Bahnbediensteter besorgt einem gehbehinderten Reisenden gegen ein Trinkgeld auf dem Bahnsteig Erfrischungen und Lesestoff. - Oder: Ein Bediensteter einer Ortsplanungsstelle fertigt in seiner Freizeit nebenberuflich gegen entsprechende Vergütung Bebauungs- und Lagepläne an ( B G H 18, 59). - Oder: Ein Vollzugsbeamter beschafft einem Gefangenen gegen Bezahlung Ausbruchswerkzeuge. Hier kommt keine Strafbarkeit nach §§ 331, 332, sondern nur nach § 120 Abs. 2 in Betracht. cc) Gegenbeispiele, in denen das Vorliegen einer Amtshandlung bejaht werden muß: Ein Polizeibeamter fertigt gegen Entgelt Aktenauszüge an. - Oder: Ein Bahnbeamter reserviert Plätze in einem stark besetzten Zug. - Oder: Ein Postbeamter läßt sich gegen Belohnung dazu bestimmen, seinen täglichen Rundgang so zu ändern, daß bestimmte Familien früher ihre Post bekommen. - Oder: Ein Vollzugsbeamter läßt es gegen entsprechende Belohnung zu, daß ein Gefangener von seinen Besuchern Spirituosen bekommt. f) Der geforderte, versprochene oder angenommene Vorteil muß eine Gegenleistung für die vorgenommene oder künftige Diensthandlung sein. Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß nicht jeder Kausalzusammenhang zwischen Vorteil und Diensthandlung ausreicht, sondern es entscheidend auf das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ankommt („do ut des", vgl. RegE S. 271 BT-Drucks. 7/550). Zugleich stellt der Begriff „Gegenleistung" klar, daß der Vorteil im Hinblick auf eine bestimmte Diensthandlung oder doch im Hinblick auf einen bestimmten Kreis von Diensthandlungen gefordert, versprochen oder angenommen werden muß. Die nur allgemeine Beziehung zu einem Pflichtenkreis genügt deshalb nicht (RegE aaO.). Über die in Frage stehenden Diensthandlungen muß unter den Beteiligten keine genaue Vorstellung bestehen. Tatbestandsmäßig sind deshalb auch sog. „Betreuungs"- oder „Beraterverträge", aufgrund deren laufende Zahlungen an einen Amtsträger erfolgen, auch wenn zunächst noch nicht erkennbar ist, welche Handlungen aus dem amtlichen Tätigkeitsbereich abgegolten werden sollen (Cramer in Schönke-Schröder 31). Andererseits genügt es nicht, wenn sich der Vorteilsgeber mit dem Geschenk nur ganz allgemein das Wohlwollen und die Geneigtheit des Beamten sichern will ( B G H 15, 271). Es ist weiter zu beachten, daß nicht jeder aus Anlaß oder bei Gelegenheit einer Amtshandlung gewährte Vorteil für eine Amtshandlung gegeben sein muß (BGH 15, 251 f.). E r kann vielmehr häufig seinen Grund in den Regeln des sozialen Verkehrs und der Höflichkeit haben, denen sich auch ein Beamter schwer entziehen kann, wenn er nicht gegen gesellschaftliche Formen verstoßen und damit u. U. sogar das Ansehen der Behörde schädigen will. Insbesondere kleine „Aufmerksamkeiten" können nicht ohne weiteres als Bestechung angesehen werden. Wenn z. B. ein Bediensteter einer amtlichen Beschaffungsstelle sich auf einer Dienstreise zum Mittagessen einladen oder mit dem Wagen abholen läßt, so ist dies nicht schon deshalb eine Vorteilsannahme (BGH aaO.). Dasselbe gilt, wenn sich ein Polizeibeamter anläßlich einer Vernehmung eine Zigarette oder eine Tasse Kaffee anbieten läßt, oder wenn ein Briefträger sich an Weihnachten ein kleines Trinkgeld geben läßt. Auch die an Weihnachten üblichen Werbegeschenke wie Kalender, Kugelschreiber und Feuerzeuge, die von
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manchen Firmen routinemäßig an alle Geschäftsfreunde verschickt werden, gehören - da im Rahmen der Sozialadäquanz liegend - nicht hierher, soweit sie von geringem Wert sind. Zum Ganzen siehe auch Creifelds G A 1962, 41 sowie Fuhrmann G A 1959, 101. 4. Die Genehmigung der zuständigen Behörde führt nach Abs. 3 unter gewissen Voraussetzungen zum Ausschluß der Rechtswidrigkeit (vgl. Blei JA 1974 StR 93; Dreher 21; Lackner 6 a; in den Beratungen bewußt offen gelassen, vgl. RegE S. 272 BT-Drucks. 7/550 sowie Ber. S. 21 BT-Drucks. 7/1261, wo jedoch zutreffend darauf hingewiesen wird, daß es nur um die Frage gehen kann, ob schon die Tatbestandsmäßigkeit oder erst die Rechtswidrigkeit entfällt). a) Genehmigungsfähig sind das Sich-Versprechenlassen und das Annehmen eines Vorteils nur in den Fällen des Abs. 1, nicht auch in den Fällen des Abs. 2. Die Vorteilsannahme als Gegenleistung für eine richterliche Handlung ist also schlechthin rechtswidrig. Ausgeschlossen ist die Genehmigungsfähigkeit auch dann, wenn der Amtsträger usw. den versprochenen oder angenommenen Vorteil gefordert hat. Die Forderung persönlicher Vorteile ist mit der Stellung des Amtsträgers oder besonders Verpflichteten unvereinbar. b) Die Genehmigung muß von der örtlich und sachlich zuständigen Behörde erteilt werden. Diese ist ihrerseits an das Beamtenrecht gebunden (vgl. z. B. § 70 BBeamtenG und § 43 BeamtenrechtsrahmenG) und darf deshalb nicht ihre Befugnisse überschreiten. Genehmigungsfähig sind grundsätzlich nur solche Fälle, wo auch das staatliche Interesse dafür spricht, den Vorgang zu tolerieren, etwa wenn entsprechend den internationalen Gepflogenheiten bei Vertragsverhandlungen im Ausland Geschenke ausgetauscht werden, oder wenn die Zuwendung den Ausdruck besonderer Dankbarkeit für eine außergewöhnliche Leistung darstellt, z. B. für eine Lebensrettung unter erheblicher Selbstgefährdung (vgl. Blei JA 1974 StR 93). c) Die Genehmigung ist grundsätzlich vor Annahme des Vorteils einzuholen. Nachträgliche Genehmigung rechtfertigt nur, wenn der Amtsträger von dem Vorgang unverzüglich (also nicht erst nach Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens) Anzeige an die zuständige Behörde erstattet hat. Im Falle der nachträglichen unverzüglichen Anzeige ist überdies die bereits erfolgte „Annahme" nur i. S. einer vorläufigen Entgegennahme des Vorteils unter der ausdrücklichen oder stillschweigenden aufschiebenden Bedingung der Genehmigung genehmigungsfähig, also nicht i. S. einer endgültigen Entgegennahme mit dem Willen, ihn zu behalten oder über ihn für eigene Zwecke zu verfügen (RegE 5. 272 BT-Drucks. 7/550 unter Bezugnahme auf RG 58, 263, 266 und B G H 14, 123, 127). Beispiel: Wenn der Amtsträger A von X als Belohnung für eine nicht pflichtwidrige Amtshandlung einen Präsentkorb zugeschickt erhält, ist er verpflichtet, die Genehmigung einzuholen, bevor er damit beginnt, den Inhalt zu verzehren oder sonst darüber zu verfügen. Wenn er dies dem X gegenüber bei Entgegennahme des Präsentkorbs zum Ausdruck bringt, fehlt es allerdings schon an dem Tb.-Merkmal „annehmen". Besteht der „Vorteil" in der Einladung zu einem Essen, so ist der Amtsträger im Falle nachträglicher Genehmigung aufgrund unverzüglicher Anzeige nach der Begr. des RegE (S. 272 BT-Drucks. 7/550) dann gerechtfertigt, wenn er nach den Umständen des Einzelfalls mit einer Genehmigung rechnen durfte. In den meisten Fällen dieser Art dürfte es allerdings schon an einem strafrechtlich relevanten Vorteil fehlen (vgl. Anm. 3 a, f), so daß der Vorgang überhaupt nicht genehmigungsbedürftig ist (vgl. Blei JA 1974, StR 93).
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5. D e r subj. Tb. erfordert Vorsatz. Der Täter muß wissen, daß der Vorteil als Gegenleistung für eine bestimmte Diensthandlung (Abs. 1) oder richterliche Handlung (Abs. 2) bestimmt ist und mit dieser Handlung in einem nicht nur äußeren, sondern inneren Zusammenhang steht. Erkennt der Täter diese Bestechungsabsicht des Vorteilsgebers erst später, nach Erhalt des Vorteils, so macht er sich dadurch strafbar, daß er diesen behält ( B G H 15, 88, 102). Die Erfüllung des Tatbestands wird in diesem Fall zeitlich nur hinausgeschoben. § 331 ist dagegen abzulehnen, wenn im Zeitpunkt des Erkennens der Bestechungsabsicht der Vorteil gar nicht mehr vorhanden ist. - Nimmt ein Beamter aus tatsächlichen Gründen irrtümlich an, das ihm für eine Amtshandlung angebotene Weihnachtsgeschenk liege noch im Rahmen der üblichen, somit zulässigen Zuwendungen (s. o. 3 a, f) so befindet er sich in einem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum (vgl. Neustadt M D R 1963, 699 betr. Annahme eines Tischfeuerzeugs; a. A. die h. L., die hier nur einen Verbotsirrtum annimmt, vgl. Baldus LK 41; Dreher 25; Fuhrmann G A 1959, 109; Lackner 5; Pfister NJW 1963, 2137). Für die Einordnung als Tb.-Irrtum spricht jedoch, daß unter § 16 nicht nur Fälle des Tatirrtums, sondern auch normative Fehlvorstellungen subsumiert werden können, sofern sie sich auf die Tatbestandsebene beziehen). 6. D e r Versuch ist nur im Falle des Abs. 2 strafbar (Abs. 2 S. 2). 7. Die Strafbarkeit der Teilnahme richtet sich nach allgemeinen Grundsätzen (§§ 26, 27, 28 Abs. 1). Der Vorteilsgeber macht sich jedoch immer nur unter den Voraussetzungen des § 333 strafbar. 8. Konkurrenzen: Tateinheit ist möglich mit §§ 174 a, 174 b, 253 und 263. Da § 332 nicht nur einen erschwerten Fall des § 331 darstellt, ist Fortsetzungszusammenhang zwischen beiden Vorschriften nicht möglich ( B G H 12, 146; Lackner 8; a. A. Dreher 26; Cramerin Schönke-Schröder 7). 9. Beachte ergänzend § § 7 3 ff. (Verfall). Nebenfolgen nach § 358 sind nicht vorgesehen.
§ 332
Bestechlichkeit
(1) E i n A m t s t r ä g e r o d e r ein für d e n ö f f e n t l i c h e n D i e n s t b e s o n d e r s Verpflichteter, der e i n e n Vorteil als G e g e n l e i s t u n g dafür fordert, sich versprechen läßt oder a n n i m m t , daß er e i n e D i e n s t h a n d l u n g v o r g e n o m m e n hat o d e r künftig v o r n e h m e u n d dadurch seine Dienstpflicht verletzt hat oder verletzen würde, wird mit Freiheitsstrafe v o n sechs M o n a t e n bis zu fünf Jahren, in minder s c h w e ren Fällen mit Freiheitsstrafe bis z u drei Jahren o d e r mit Geldstrafe bestraft. D e r V e r s u c h ist strafbar. ( 2 ) E i n Richter oder Schiedsrichter, der e i n e n Vorteil als G e g e n l e i s t u n g dafür fordert, sich versprechen läßt oder a n n i m m t , daß er e i n e richterliche H a n d l u n g v o r g e n o m m e n hat oder künftig v o r n e h m e und dadurch seine richterlichen P f l i c h t e n verletzt hat o d e r verletzen würde, wird mit Freiheitsstrafe v o n e i n e m Jahr bis zu z e h n Jahren, in minder s c h w e r e n Fällen mit Freiheitsstrafe v o n sechs M o n a t e n bis zu fünf Jahren bestraft. 1000
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§ 332
(3) Falls der Täter den Vorteil als Gegenleistung für eine künftige Handlung fordert, sich versprechen läßt oder annimmt, so sind die Absätze 1 und 2 schon dann anzuwenden, wenn er sich dem anderen gegenüber bereit gezeigt hat, 1. bei der Handlung seine Pflichten zu verletzen oder, 2. soweit die Handlung in seinem Ermessen steht, sich bei Ausübung des Ermessens durch den Vorteü beeinflussen zu lassen. 1. Die durch das E G S t G B in Anlehnung an § 461 E 1962 neu gefaßte Vorschrift unterscheidet sich von § 331 im wesentlichen dadurch, daß Gegenstand der Unrechtsvereinbarung eine Diensthandlung (Abs. 1) oder eine richterliche Handlung (Abs. 2) ist, durch die der Täter seine Pflichten verletzt hat oder - falls sich die Unrechtsvereinbarung auf eine künftige Handlung bezieht - verletzen würde. a) Der Aufbau der Vorschrift entspricht dem des § 331, wobei Abs. 1 die Funktionen des ehemaligen § 332 und des § 3 BestechVO übernimmt, während Abs. 2 den ehemaligen § 334 Abs. 1 ersetzt, soweit dieser sich auf pflichtwidrige richterliche Handlungen bezog. Abs. 3 bringt in Anlehnung an die frühere höchstrichterliche Rspr. eine Klärung der Frage, unter welchen Voraussetzungen die Amtshandlung eines sog. Ermessensbeamten als pflichtwidrig i. S. der Abs. 1 und 2 erscheint. b) Wegen des geschützten Rechtsguts siehe § 331 Anm. 1, über Gesetzesmaterialien und Schrifttum siehe 8 vor § 331. c) Durch die Ermäßigung der gesetzlichen Mindeststrafe im Regelfall von einem Jahr auf sechs Monate Freiheitsstrafe stellt sich die Tat nach Abs. 1 seit der Neufassung durch das EGStGB nur noch als Vergehen dar. Die Tat nach Abs. 2 ist dagegen auch nach der Neufassung ein Verbrechen geblieben. 2. Täterkreis und Tathandlung entsprechen denen des § 3 3 1 . Siehe dort Anm. 2 und 3. 3. Eine Verletzung der Dienstpflichten i. S. von Abs. 1 liegt vor, wenn die Diensthandlung gegen ein auf Gesetz, Dienstvorschrift oder Einzelanordnung beruhendes Gebot oder Verbot verstößt ( B G H 15, 88, 92). Sonderfälle: a) Die Verletzung der Pflicht zur Amtsverschwiegenheil ist nicht nur eine außerhalb des Anwendungsbereichs der Vorschrift liegende Privathandlung (siehe hierzu § 331 Anm. 3 e), sondern eine im inneren Zusammenhang mit dem Dienst stehende pflichtwidrige Diensthandlung ( B G H 4, 293 betr. einen Vollzugsbeamten, der heimlich in der Vollzugsanstalt fotografische Aufnahmen gemacht und diese zusammen mit den dazugehörigen Erläuterungen an eine Illustrierte verkauft hat). b) Auch die falsche Aussage über dienstliche Vorgänge stellt eine pflichtwidrige Diensthandlung, nicht nur eine Privathandlung dar (Celle NdsRpfl. 1949, 159; Lackner 3 a; a. A. Baldus LK 7; Dreher 5 zu § 331; Cramer in Schönke-Schröder 9, die eine Verletzung allgemeiner Dienstpflichten nicht als ausreichend erachten, sondern die Verletzung einer speziellen Dienstpflicht verlangen). c) Die bevorzugt schnelle Erledigung eines Dienstgeschäfts ist nur dann pflichtwidrig, wenn hierdurch ein Nachteil für andere Personen entsteht. Dies ist z. B. nicht der Fall, wenn der Beamte das bevorzugte Geschäft in seiner Freizeit erledigt ( B G H 15, 350; 16,
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37). Hier kommt nur § 331 in Betracht, es sei denn, der Beamte läßt durchblicken, daß nunmehr andere Personen benachteiligt werden. In diesem Fall würde eine sog. Unrechtsvereinbarung vorliegen (vgl. B G H 15, 97). d) Die Erledigung eines Dienstgeschäfts, das nach der behördlichen Geschäftsverteilung zur Zuständigkeit eines anderen Beamten gehört, ist nur dann eine Pflichtverletzung i. S. von § 332, wenn eine gegenseitige Aushilfe oder die Übernahme von Arbeiten für einen anderen ausdrücklich verboten oder nur mit besonderer Genehmigung erlaubt ist ( B G H 16,37,40). e) Pflichtwidrig ist schließlich auch die Unterlassung einer gebotenen Handlung, z. B. wenn ein Polizeibeamter gegen eine strafbare Handlung nicht einschreitet. f) Über die Besonderheiten bei sog. Ermessensbeamten s. u. Anm. 5. 4. D e r Begriff der richterlichen Pflichten in Abs. 2 ist das Gegenstück zum Begriff der richterlichen Handlungen (vgl. § 331 Anm. 3 d) und bezeichnet diejenigen Pflichten, deren Erfüllung durch die richterliche Unabhängigkeit geschützt ist (RegE S. 273 BTDrucks. 7/550). Hierher gehört insbesondere die Pflicht, unter Beachtung der Vorschriften des Verfahrensrechts eine sachgerechte Entscheidung zu treffen. Da die Fälle der Bestechlichkeit unter Verletzung richterlicher Pflichten i. d. R. zugleich eine Rechtsbeugung darstellen, ist Tateinheit mit § 336 möglich. 5. Abs. 3 enthält eine gesetzliche Auslegungsregel für Fälle, in denen sich der Vorteil auf eine künftige Diensthandlung (Abs. 1) oder richterliche Handlung (Abs. 2) bezieht. a) Durch das zusätzlich erforderliche Tb.-Merkmal des Sichbereitzeigens zu einer pflichtwidrigen Handlung werden alle Fälle der Bestechlichkeit, die sich auf künftige pflichtwidrige Diensthandlungen oder richterliche Handlungen beziehen, zu zweiaktigen Delikten (RegE S. 273 BT-Drucks. 7/550). Es genügt also nicht, daß der Amtsträger, Richter usw. einen Vorteil fordert, sich versprechen läßt oder annimmt; er muß sich vielmehr außerdem bereit zeigen, seine Pflichten zu verletzen (Nr. 1) oder sich bei Ausübung seines Ermessens durch den Vorteil beeinflussen zu lassen (Nr. 2). In der Praxis werden beide Handlungen zeitlich meist zusammenfallen. Denkbar ist allerdings auch, daß der Täter zwar beim Fordern, Sichversprechenlassen oder Annehmen des Vorteils noch keine Bereitschaft zu pflichtwidrigem Verhalten zeigt, die Diensthandlung oder richterliche Handlung aber später unter dem Einfluß des Vorteils erkennbar pflichtwidrig durchführt. Hier fällt die mit der Pflichtverletzung schlüssig erklärte Bereitschaft zur Pflichtwidrigkeit mit der Erfüllung in einem Akt zusammen, was zur Tatbestandsverwirklichung ebenfalls ausreicht. b) Sichbereitzeigen ist die Erweckung des äußeren Anscheins der Bereitschaft zur Pflichtwidrigkeit. Dieser Anschein kann sowohl durch ausdrückliche Erklärung als auch durch schlüssiges Verhalten erweckt werden. Unerhebüch ist, ob der Täter sich vor der Vornahme der pflichtwidrigen Handlung oder erst durch deren Vornahme zur Pflichtwidrigkeit bereit erklärt (RegE S. 274 BT-Drucks. 7/550). Andererseits ist nicht erforderlich, daß der Amtsträger, Richter usw. innerlich bereit ist, tatsächlich pflichtwidrig zu handeln (Nr. 1) oder sich bei seiner Ermessensentscheidung (Nr. 2) von dem Vorteil leiten zu lassen.
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c) Abs. 3 Nr. 1 bezieht sich auf den sog. gebundenen Beamten, der keinen Ermessensspielraum hat. E r handelt nicht schon dadurch pflichtwidrig i. S. der Vorschrift, daß er pflichtwidrig einen Vorteil fordert, sich versprechen läßt oder annimmt. Der Tb. ist vielmehr erst dann verwirklicht, wenn er sich bereit zeigt, eine pflichtwidrige Diensthandlung oder richterliche Handlung vorzunehmen (so schon B G H 16, 39). d) Abs. 3 Nr. 2 bezieht sich auf den sog Ermessensbeamten. Dieser handelt nur tatbestandsmäßig, wenn er sich bereit zeigt (s. o. lit. b), sich bei Ausübung des Ermessens durch den geforderten, versprochenen oder angenommenen Vorteil beeinflussen zu lassen. Dadurch, daß der Amtsträger usw. sich nicht von sachlichen Erwägungen, sondern von dem Vorteil leiten läßt, wird die Handlung pflichtwidrig, obwohl sie es sonst - bei sachbezogener Motivation - nicht wäre (so schon B G H 15, 239). Abs. 3 Nr. 2 enthält somit, ebenso wie die Nr. 1, lediglich eine Auslegungsregel zu Abs. 1 und Abs. 2, keine Tatbestandserweiterung, obwohl auch diese Möglichkeit der Auslegung im RegE ausdrücklich offen gelassen wurde (vgl. S. 274 BT-Drucks. 7/550). Beispiele: Ein Polizeibeamter ist sich bei Aufnahme eines Unfalls noch unschlüssig, ob er eine Blutentnahme veranlassen soll oder nicht. Als der Unfallbeteiligte ihm einen Geldschein zusteckt, verzichtet er stillschweigend auf die Blutprobe. - Oder: Ein Staatsanwalt kann seine Bedenken gegen die Einstellung des Verfahrens nach § 153 Abs. 2 StPO erst überwinden, nachdem der Angeklagte ihm für diesen Fall die Vermittlung eines kostenlosen Ferienaufenthalts in Aussicht gestellt hat. 6. Vollendet ist der Tb. bereits mit dem Fordern, Sichversprechenlassen oder Annehmen des Vorteils als Gegenleistung für eine zurückliegende oder künftige pflichtwidrige Handlung, wobei bei letzterer noch die Besonderheiten des Abs. 3 zu beachten sind. Nicht erforderlich ist, daß es tatsächlich zu einer pflichtwidrigen Diensthandlung gekommen ist oder kommt. Beispiele: A stellt dem Fahrschüler X nach bestandener Fahrprüfung ordnungsgemäß seinen Führerschein aus. Nachträglich bringt er dem X gegenüber zum Ausdruck, seine Leistungen bei der Fahrprüfung seien so schlecht gewesen, daß er ihm eigentlich keinen Führerschein hätte ausstellen dürfen; gleichzeitig bittet er den X, ihm als Gegenleistung für dieses Entgegenkommen am Wochenende beim Ausbau seines Hauses zu helfen. - Oder: Ein Polizeibeamter läßt durchblicken, daß er bereit sei, die entnommene Blutprobe wieder zu vernichten oder das entnommene Blut durch anderes, alkoholfreies Blut zu ersetzen, falls der tatverdächtige Kraftfahrer sich die Freigabe seines einbehaltenen Führerscheins etwas kosten lasse. In beiden Fällen genügt es zur Tatbestandsverwirklichung, daß der Amtsträger sich durch seine auf eine Unrechtsvereinbarung abzielende Forderung als käuflich gezeigt hat. Die Tb.-Alternativen Sichversprechenlassen und Annehmen eines Vorteils unterscheiden sich hiervon nur dadurch, daß es tatsächlich zu einer Unrechtsvereinbarung kommt. Die Vornahme der pflichtwidrigen Handlung, auf die sich die Unrechtsvereinbarung bezieht, gehört allerdings auch hier nicht zum Tatbestand. 7. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich insbesondere auf das Zustandekommen der tatbestandsmäßigen Unrechtsvereinbarung (s. o. 6) beziehen. Außerdem muß sich der Täter der Pflichtwidrigkeit der von ihm vorgenommenen oder in Aussicht genommenen Handlung bewußt sein. Fehlt dieses Bewußtsein, so kommt nur § 331 in Betracht. D e r innere Vorbehalt, die pflichtwidrige Handlung nicht vornehmen zu wollen, ist für die Frage des Vorsatzes unerheblich. Ohne Bedeutung ist weiter, ob auch der
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Partner des Amtsträgers, Richters usw. die Pflichtwidrigkeit der Diensthandlung erkannt hat ( B G H 15, 355; h. L.). 8. D e r Versuch ist sowohl bei Abs. 1 als auch bei Abs. 2 unter Strafe gestellt. 9. Die Strafbarkeit der Teilnahme richtet sich nach allgemeinen Grundsätzen (§§ 26, 27, 28 Abs. 1). Der Vorteilsgeber macht sich jedoch immer nur unter den Voraussetzungen des § 334 strafbar. 10. Konkurrenzen: Tateinheit ist möglich mit §§ 174 a, 174 b, 253 und 263, bei Abs. 2 außerdem mit § 336. Ist die pflichtwidrige Diensthandlung eine Straftat (z. B. ein Vergehen nach § 120 Abs. 2), so steht sie zu § 332 nach h. M. in Tatmehrheit. Fortsetzungszusammenhang mit § 331 ist nicht möglich ( B G H 12, 146; Str., vgl. § 331 Anm. 8). 11. Beachte ergänzend §§ 73 ff. (Verfall) und § 358 (Nebenfolgen).
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Vorteilsgewährung
(1) W e r e i n e m Amtsträger, e i n e m für d e n ö f f e n t l i c h e n D i e n s t b e s o n d e r s V e r pflichteten o d e r e i n e m S o l d a t e n der B u n d e s w e h r als G e g e n l e i s t u n g dafür, daß er e i n e in s e i n e m E r m e s s e n s t e h e n d e D i e n s t h a n d l u n g künftig v o r n e h m e , e i n e n Vorteil anbietet, verspricht oder gewährt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu z w e i Jahren o d e r mit Geldstrafe bestraft. ( 2 ) W e r e i n e m Richter o d e r Schiedsrichter als G e g e n l e i s t u n g dafür, d a ß er e i n e richterliche H a n d l u n g künftig v o r n e h m e , e i n e n Vorteil anbietet, verspricht o d e r gewährt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. ( 3 ) D i e Tat ist nicht n a c h A b s a t z 1 strafbar, w e n n die zuständige B e h ö r d e im R a h m e n ihrer B e f u g n i s s e e n t w e d e r die A n n a h m e d e s Vorteils durch d e n E m p fänger vorher g e n e h m i g t hat o d e r sie auf unverzügliche A n z e i g e d e s E m p f ä n gers g e n e h m i g t . 1. Die durch das E G S t G B in Anlehnung an § 462 E 1962 neu gefaßte Vorschrift ist das Gegenstück zu § 331. Wer einem Amtsträger, Soldaten oder besonders Verpflichteten für eine nicht pflichtwidrige Diensthandlung einen Vorteil anbietet, verspricht oder gewährt, bleibt grundsätzlich straflos. Nach der Überzeugung des Gesetzgebers ist in der Allgemeinheit die Anschauung, die Gewährung eines Vorteils für eine ordnungsgemäße Handlung sei nichts Verfängliches, sondern stelle nur einen Akt des Wohlwollens oder der Dankbarkeit dar, so weit verbreitet, daß es nicht verstanden würde, wenn man ein derartiges Verhalten unter Strafe stellen wollte (RegE S. 274 BT-Drucks. 7/550). Wer also z. B. einem Beamten der Wasserschutzpolizei zum Dank dafür, daß er ihn unter Gefährdung des eigenen Lebens vor dem Tod des Ertrinkens gerettet hat, einen Präsentkorb zukommen läßt, erfüllt schon nicht den Tb. des § 333, während der Beamte durch die Annahme dieses Geschenks den Tb. des § 331 Abs. 1 erfüllt und nur dann 1004
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gerechtfertigt ist, wenn seine Dienststelle die Annahme genehmigt (§ 331 Abs. 3). Eine Ausnahme vom Grundsatz der generellen Straflosigkeit der Vorteilsgewährung in bezug auf nicht pflichtwidrige Diensthandlungen macht das Gesetz nur dann, wenn sich der Vorteil auf eine künftige Diensthandlung bezieht, die im Ermessen des Amtsträgers usw. steht. Insoweit stellt die in Abs. 1 und 2 getroffene Neuregelung gegenüber der früheren Rechtslage eine Ausdehnung des Strafbarkeitsbereichs dar. Nach früherem Recht war das Anbieten, Versprechen oder Gewähren eines Vorteils für eine nicht pflichtwidrige Handlung nur im Rahmen der Richterbestechung des § 334 Abs. 2 aF strafbar. 2. Die in Abs. 1 getroffene Regelung ist das Gegenstück zu § 331 Abs. 1. a) Über Amtstriiger siehe § 11 Abs. 1 Nr. 2, über Soldaten der Bundeswehr § 1 Abs. 1 SoldG, über für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete § 11 Abs. 1 Nr. 4. Soldaten der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen der nichtdeutschen NATO-Vertragsstaaten sind nach Art. 7 II Nr. 5 des 4. StrÄndG idF des 3. StrRG den deutschen Soldaten gleichgestellt. b) Die Tathandlung besteht darin, daß einem Amtsträger usw. (lit. a) als Gegenleistung (§ 331 Anm. 3 f) für eine Diensthandlung (vgl. § 331 Anm. 3 c) ein Vorteil (§ 331 Anm. 3 a) angeboten, versprochen oder gewährt wird. aa) bei dem Vorteilsnehmer muß es sich um einen sog. Ermessensbeamten, d. h. um einen Amtsträger handeln, dem durch Rechtssatz, Dienstvorschrift oder Anordnung hinsichtlich seiner Entschließung über die Vornahme oder Unterlassung (§ 335) einer Diensthandlung ein Spielraum für die pflichtgemäße Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten eingeräumt ist (RegE S. 274 BT-Drucks. 7/550; Ber. S. 21 BT-Drucks. 7/1261). Die Vorschrift will verhindern, daß der Vorteilsnehmer in die Gefahr gebracht wird, bei seiner Ermessensentscheidung nicht mehr unbefangen zu sein. Zielt der Vorteilsgeber erkennbar und nachweisbar auf diesen Effekt ab, so ergibt sich die Strafbarkeit nicht aus § 333, sondern aus § 334 Abs. 3 Nr. 2, der dem § 333 als die speziellere Vorschrift vorgeht. Handelt es sich bei dem Ermessensbeamten um einen Soldaten, so ist die Strafbarkeit des Vorteilsgebers unabhängig davon, ob der Soldat im Rang eines Offiziers oder Unteroffiziers steht oder ob er zu den Mannschaften gehört, obwohl sich nach § 331 nur Offiziere und Unteroffiziere strafbar machen können (vgl. § 48 Abs. 1 WStG). Die unterschiedliche Behandlung des Komplexes bei Gewährung von Vorteilen an Soldaten des Mannschaftsstandes rechtfertigt sich dadurch, daß bei einer rechtswidrigen Vorteilsannahme zwar der Soldat, nicht aber der Vorteilsgeber disziplinarisch belangt werden kann. bb) Das Tb.-Merkmal Anbieten bezieht sich auf eine gegenwärtige Zuwendung oder sonstige Leistung, während das Tb.-Merkmal Versprechen auf zukünftige Zuwendungen oder sonstige Leistungen bezogen ist. Beide Tb.-Alternativen zielen auf das Zustandekommen einer Unrechtsvereinbarung (§ 331 Anm. 3 b) ab, während das Tb.-Merkmal Gewähren eines Vorteils erst dann gegeben ist, wenn die erstrebte Unrechtsvereinbarung zustandegekommen ist, d. h. wenn der Partner des Vorteilsgebers das Angebot angenommen hat. c) Zur Vollendung ist - wie in § 331 - nicht erforderlich, daß der Amtsträger die Diensthandlung, auf die sich der Vorteil bezieht, vornimmt. Als abstraktes Gefährungsdelikt ist der Tb. bereits mit dem Anbieten, Versprechen oder Gewähren des Vorteils verwirklicht.
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3. Die in Abs. 2 getroffene Regelung ist das Gegenstück zu § 331 Abs. 2. a) Über Richter siehe § 11 Abs. 1 Nr. 3, über Schiedsrichter §§ 1025 ff., 1048 ZPO sowie § 331 Anm. 2 b. b) Die Tathandlung entspricht der des Abs. 1 (s. o. 3 b), jedoch mit dem Unterschied, daß an die Stelle der Diensthandlung die richterliche Handlung tritt (siehe hierzu § 331 Anm. 3 d). Wie in Abs. 1 muß sich der Vorteil auf eine künftige Handlung beziehen. Nicht erforderlich ist jedoch, daß es sich um eine Ermessensentscheidung handelt (z. B. Einstellung eines Strafverfahrens nach § 153 Abs. 2 StPO). Erfaßt wird auch die Vorteilsgewährung für eine sog. gebundene Entscheidung (z. B. wenn ein Angeklagter auf Grund der Beweislage freizusprechen ist). 4. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz. Zum Vorsatz gehört insbesondere das Bewußtsein, daß zwischen dem Vorteil einerseits und der Diensthandlung (Abs. 1) bzw. richterlichen Handlung (Abs. 2) andererseits ein innerer Zusammenhang besteht. Nicht erforderlich ist, daß sich der Vorteilsgeber von der Vorstellung leiten läßt, der Amtsträger, Richter usw. werde sich bei seiner Entscheidung durch den Vorteil leiten lassen. Liegen diese Voraussetzungen vor, so ergibt sich die Strafbarkeit nicht aus § 333, sondern aus § 334 Abs. 3 Nr. 2. 5. Abs. 3 ist das Gegenstück zu § 331 Abs. 3 und enthält wie diese Vorschrift einen Rechtfertigungsgrund. Ein Irrtum darüber, daß die zuständige Behörde die erforderliche Genehmigung allgemein oder im Einzelfall gegeben habe oder (auf unverzügliche Anzeige des Empfängers) geben werde, ist ein den Rechtsfolgen des § 16 unterliegender Irrtum über den Erlaubnistatbestand, während der Irrtum über die Genehmigungsbedürftigkeit und Genehmigungsfähigkeit ein dem § 17 unterliegender Verbotsirrtum ist. 6. Konkurrenzen: gegenüber § 334 Abs. 3 Nr. 2 tritt § 333 als subsidiär zurück.
§ 3 3 4 Bestechung ( 1 ) W e r einem Amtsträger, einem für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten oder einem Soldaten der Bundeswehr einen Vorteil als Gegenleistung dafür anbietet, verspricht oder gewährt, daß er eine Diensthandlung vorgenommen hat oder künftig vornehme und dadurch seine Dienstpflichten verletzt hat oder verletzen würde, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. ( 2 ) W e r einem Richter oder Schiedsrichter einen Vorteil als Gegenleistung dafür anbietet, verspricht oder gewährt, daß er eine richterliche Handlung 1. vorgenommen und dadurch seine richterlichen Pflichten verletzt hat oder 2. künftig vornehmen und dadurch seine richterlichen Pflichten verletzen würde, wird in den Fällen der Nummer 1 mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in den Fällen der Nummer 2 mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Der Versuch ist strafbar. 1006
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(3) Falls der Täter den Vorteil als Gegenleistung für eine künftige Handlung anbietet, verspricht oder gewährt, so sind die Absätze 1 und 2 schon dann anzuwenden, wenn er den anderen zu bestimmen versucht, daß dieser 1. bei der Handlung seine Pflichten verletzt oder, 2. soweit die Handlung in seinem Ermessen steht, sich bei der Ausübung des Ermessens durch den Vorteil beeinflussen läßt. 1. Die durch das EGStGB in Anlehnung an § 463 E 1962 neu gefaßte Vorschrift unterscheidet sich von § 333 im wesentlichen dadurch, daß Gegenstand der Unrechtsvereinbarung eine Diensthandlung (Abs. 1) oder eine richterliche Handlung (Abs. 2) ist, durch die der Täter des § 332 seine Pflichten verletzt hat oder - falls sich die Unrechtsvereinbarung auf eine künftige Handlung bezieht - verletzen wird. Die Vorschrift stellt damit das Gegenstück zur Bestechlichkeit des § 332 dar. a) D e r Aufbau der Vorschrift entspricht dem des § 333, wobei Abs. 1 die Funktionen des ehemaligen § 332 und des durch das EGStGB aufgehobenen § 4 BestechVO übernimmt, während Abs. 2 den ehemaligen § 334 Abs. 2 ersetzt, soweit dieser sich auf pflichtwidrige richterliche Handlungen bezog. Abs. 3 entspricht der in § 332 Abs. 3 getroffenen Regelung. b) Wegen des geschützten Rechtsguts siehe § 331 Anm. 1, über Gesetzesmaterialien und Schrifttum siehe § 331 Anm. 1. 2. Die in Abs. 1 getroffene Regelung ist das Gegenstück zu § 332 Abs. 1. a) Die Tathandlung (Anbieten, Versprechen oder Gewähren eines Vorteils) entspricht der des § 333 (siehe dort A n m . 2 b). Über den Kreis der für eine Bestechung passiv in Frage kommenden Personen siehe § 333 Anm. 2 a. b) Der entscheidende Unterschied gegenüber § 333 besteht einmal darin, daß die Diensthandlung, für die der Vorteil als Gegenleistung angeboten, versprochen oder gewährt wird, eine Verletzung der Dienstpflichten des Amtsträgers usw. enthalten muß (siehe hierzu § 332 Anm. 3). Außerdem werden - wie in § 332 - nicht nur künftige, sondern auch bereits begangene Diensthandlungen in den Anwendungsbereich der Vorschrift einbezogen. 3. Abs. 2 ist das Gegenstück zu § 332 Abs. 2, so daß auf die dortigen Ausführungen (§ 332 Anm. 4) verwiesen werden kann. Zu beachten ist die Differenzierung im Strafrahmen, die sich danach richtet, ob sich die Bestechungshandlung auf eine künftige oder auf eine bereits begangene pflichtwidrige richterliche Handlung bezieht. 4. Abs. 3 ist das Gegenstück zu § 332 Abs. 3, so daß auf die dortigen Ausführungen (§ 332 Anm. 5) grundsätzlich verwiesen werden kann. Die Vorschrift stellt klar, daß entsprechend der in § 332 Abs. 3 getroffenen Regelung der Tb. schon dann verwirklicht ist, wenn der Täter die Bestechungshandlung mit dem Vorsatz vornimmt, den Amtsträger, Richter usw. zu einer pflichtwidrigen Handlung zu bestimmen, wobei bei „Ermessensbeamten" nach der Auslegungsregel der Nr. 2 die Handlung schon dann pflichtwidrig ist, wenn der Amtsträger usw. sich bei Ausübung seines Ermessens durch den Vorteil beeinflussen läßt. In sachlicher Übereinstimmung mit der früheren höchstrichterlichen Rspr. zu
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§§ 335, 335 a
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§ 332 aF (vgl. B G H 15, 102; 16, 46) ist es für die Vollendung der Tat unerheblich, ob die vom Täter angestrebte pflichtwidrige Handlung von dem Amtsträger usw. tatsächlich vorgenommen wird, ob sie für den Fall ihrer Vornahme wirklich pflichtwidrig ist und ob der Amtsträger usw. das mit dem Vorteil verfolgte Ansinnen des Täters erkennt (RegE S. 276 BT-Drucks. 7/550). Unerheblich ist auch, ob der Täter auf einen sog. gebundenen Beamten oder einen Ermessensbeamten einwirkt (vgl. Abs. 3 Nr. 1 einerseits, Abs. 3 Nr. 2 andererseits). 5. D e r auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß sich sowohl auf das Zustandekommen der Unrechtsvereinbarung als auch auf die Pflichtwidrigkeit der dem Amtsträger usw. angesonnenen Handlung erstrecken. Bedingter Vorsatz genügt. 6. Konkurrenzen: Stellt die dem Amtsträger, Richter usw. angesonnene pflichtwidrige Diensthandlung oder richterliche Handlung eine Straftat dar (z. B. eine Rechtsbeugung), so steht § 334 zur Anstiftung zu dieser Straftat in Tateinheit. Weist der Amtsträger, Richter usw. das Ansinnen zurück, so liegt bei Verbrechen neben § 334 in Tateinheit versuchte Anstiftung (§ 30) vor. Außerdem kann - ebenfalls in Tateinheit - Beleidigung vorliegen.
§ 335
U n t e r l a s s e n der D i e n s t h a n d l u n g
D e r V o r n a h m e einer D i e n s t h a n d l u n g o d e r einer richterlichen H a n d l u n g im Sinne der § § 3 3 1 bis 3 3 4 steht das U n t e r l a s s e n der H a n d l u n g gleich. Die durch das EGStGB neu eingefügte Vorschrift enthält lediglich eine Klarstellung. Beispiel: Bei einer Verkehrskontrolle bietet der Kraftfahrer A den ihn kontrollierenden Polizeibeamten X und Y je 100,- DM, falls sie trotz des bestehenden Verdachts der Trunkenheit im Verkehr von der Entnahme einer Blutprobe Abstand nehmen. Lassen sich X und Y auf das Angebot ein, so machen sie sich nach § 332 Abs. 1 der Bestechlichkeit schuldig, während A nach § 334 Abs. 1 strafbar ist. Lehnen sie das Angebot ab, so bleibt die Strafbarkeit des A hiervon unberührt. D e r Tb. des § 334 Abs. 1 ist bereits durch das Angebot des Geldbetrags verwirklicht (vgl. § 334 Abs. 3 Nr. 2).
§ 335 a
Schiedsrichtervergütung
D i e V e r g ü t u n g e i n e s Schiedsrichters ist nur dann ein Vorteil im Sinne der § § 3 3 1 bis 3 3 4 , w e n n der Schiedsrichter sie v o n einer Partei hinter d e m R ü k k e n der a n d e r e n fordert, sich versprechen läßt o d e r annimmt o d e r w e n n sie ihm e i n e Partei hinter d e m R ü c k e n der a n d e r e n anbietet, verspricht o d e r gewährt. 1. Die durch das EGStGB neu eingefügte Vorschrift enthält eine gesetzliche Auslegungsregel des Tb.-Merkmals „Vorteil" im Zusammenhang mit den in den §§ 3 3 1 - 3 3 4 genannten Schiedsrichtern. Sie trägt dem Umstand Rechnung, daß die Schiedsrichter ihre 1008
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 336
schiedsrichterliche Tätigkeit nicht im Rahmen ihrer sonstigen Berufstätigkeit, sondern nebenher ausüben, wofür sie von den Parteien besonders entschädigt werden (RegE S. 276 BT-Drucks. 7/550). 2. Hinter dem Rücken einer Partei erfolgen die Verhandlungen, wenn sie ohne Wissen der anderen Partei mit dem Willen durchgeführt werden, diese zu hintergehen. Ein solches Verhalten ist strafbedürftig, weil es die Gefahr begründet, daß die Unparteilichkeit des Schiedsrichters beeinträchtigt wird (RegE S. 276 BT-Drucks. 7/550). 3. Ungeachtet des Wortlauts von § 335 a, der sich nur mit einer illegalen „Vergütung" des Schiedsrichters durch die an dem Schiedsverfahren beteiligten Parteien befaßt, kann strafbare Schiedsrichterbestechung auch dann vorliegen, wenn der Schiedsrichter mit einer nicht am Schiedsverfahren beteiligten Partei eine Unrechtsvereinbarung trifft. Beispiel: A, der - gleich aus welchen Gründen - am Ausgang eines Schiedsverfahrens zwischen den Firmen X und Y interessiert ist, bietet dem Schiedsrichter S für den Fall, daß er das Verfahren pflichtwidrig zugunsten der Fa. X entscheidet, einen größeren Geldbetrag. Läßt S sich auf das Angebot ein, so macht er sich eines Verbrechens der Bestechlichkeit nach § 332 Abs. 2 schuldig, während A wegen Bestechung nach § 334 Abs. 2 Nr. 2 strafbar ist.
§ 336
Rechtsbeugung
Ein Richter, ein anderer Amtsträger oder ein Schiedsrichter, welcher sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. 1 Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift gehört zu den sog. echten Amtsdelikten (vgl. § 11 Anm. II 2 a). Die wesentlichste Neuerung gegenüber dem früheren Recht besteht darin, daß abweichend von der Rspr. zu § 336 aF (vgl. BGH 10, 294) und der Fassung des RegE auf der subj. Tatseite nunmehr bedingter Vorsatz ausreicht. Aus den Gesetzesmaterialien siehe insbesondere RegE S. 277 BT-Drucks. 7/550 und Ber. S. 22 BT-Drucks. 7/1261. - Schrifttum: Bemmann, Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Richters, Radbruch-Gedächtnisschrift, 1968, S. 308; - ders., Zum Wesen der Rechtsbeugung, GA 1969, 65; - Krause, Richterliche Unabhängigkeit und Rechtsbeugungsvorsatz, NJW 1977, 285; - Mohrbotter, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Spruchrichters und Staatsanwalts, JZ 1969, 491; - Rudolphi, Zum Wesen der Rechtsbeugung, ZStW 82, 610; - Sarstedt, Fragen zur Rechtsbeugung, HeinitzFestschr., 1972, S. 427; - Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, 1969; - ders., Rechtsblindheit und bedingter Vorsatz bei der Rechtsbeugung, JuS 1969, 204; - Spendel, Zur Problematik der Rechtsbeugung, Radbruch-Gedächtnisschrift, 1968, S. 312; - ders., Justizmord durch Rechtsbeugung, NJW 1971, 537; - ders., Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Richters, Heinitz-Festschr., 1972, S. 445; - ders., Richter und Rechtsbeugung, Peters-Festschr., 1974, S. 163.
1009
§ 336
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
2. D e r Täterkreis umfaßt a) Richter, und zwar nicht nur Berufsrichter, sondern auch ehrenamtliche Richter (früher sehr bestritten, jetzt klargestellt durch § 11 Abs. 1 Nr. 3), b) andere Amtsträger (siehe hierzu § 11 Abs. 1 Nr. 2), c) Schiedsrichter im Schiedsverfahren nach ArbGG.
§§ 1025 ff., 1048 Z P O ,
§§101-110
3. Über Rechtssache siehe § 331 Anm. 3 d. Ergänzend ist zu beachten, daß auch Verfahren vor Verwaltungs- und Finanzbehörden eine „Rechtssache" darstellen, soweit dabei Entscheidungen aufgrund eines prozeßähnlichen (rechtsförmlichen) Verfahrens zu treffen sind (z. B. im Bußgeldverfahren nach dem OWiG, nicht jedoch im Rahmen der steuerlichen Veranlagung, vgl. B G H 2 4 , 3 2 6 m. krit. Anm. Bemmann J Z 1972,599). 4. Unter Leitung und Entscheidung der Rechtssache ist der Inbegriff aller Maßnahmen zu verstehen, die auf die Erledigung der Sache hinzielen ( B G H 12, 192). Hierher gehören z. B. die Eröffnung oder Ablehnung des Hauptverfahrens, der Erlaß eines Haftbefehls, aber auch ein Beweisbeschluß oder eine Terminsbestimmung. Nicht erforderlich ist, daß der Täter weisungsfrei tätig wird, d. h. richterliche Unabhängigkeit genießt (vgl. B G H 14, 147; Herdegen LK 2 m. weit. Nachw.). 5. Rechtsbeugung ist die Verletzung von Normen materiellen oder formellen Rechts (sog. objektive Theorie, vgl. Bemmann G A 1969, 65 m. Nachw.), und zwar in einer Weise, daß die Rechtsanwendung „eindeutig unrichtig", d. h. nicht mehr vertretbar ist (Ber. S. 22 BT-Drucks. 7/1261). Diese restriktive Interpretation im objektiven Bereich ist schon deshalb geboten, weil die Tat seit der Neufassung des § 336 durch das EGStGB nunmehr auch bei bedingtem Vorsatz mit Strafe bedroht ist. Es war nicht das Anliegen der Neufassung, auch solche Entscheidungen strafrechtlich zu erfassen, bei denen ein gewissenhaft und sorgfältig prüfender und abwägender Richter unter Zurückstellung gewisser Zweifel, aber entsprechend seiner richterlichen Überzeugung eine Entscheidung trifft, die sich später aus sachlichen oder rechtlichen Gründen als falsch erweist. 6. Partei i. S. der Vorschrift ist jeder am Verfahren Beteiligte. Auch der Staat kann Partei sein (z. B. in Straf- und Bußgeldverfahren sowie in Disziplinarverfahren, vgl. R G 69, 213; Herdegen LK 1 m. weit. Nachw.). Bei der Verhängung von Ordnungsmitteln (vgl. z.B. §§ 51, 70 StPO, 178 G V G ) kann auch der betroffene Zeuge oder Zuhörer „Partei" sein. 7. D e r subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei seit der Neufassung der Vorschrift durch das E G S t G B (s. o. 1) bedingter Vorsatz ausreicht. Hierzu genügt allerdings noch nicht das Bewußtsein, daß die Rechtsanwendung möglicherweise falsch ist. Zusätzlich ist vielmehr erforderlich, daß der Täter seine Rechtsanwendung „auch für den Fall ihrer Unvertretbarkeit innerlich billigt" (Ber. S. 22 BT-Drucks. 7/1261; Dreher 6; Lackner 6; krit. C r a m e r i n Schönke-Schröder 7). 8. Konkurrenzen: Wird durch die Rechtsbeugung zugleich der Tb. eines anderen Gesetzes verletzt (z. B. §§ 239, 258 a), so steht § 336 zu diesen Tatbeständen in Tateinheit. 1010
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 340
Andererseits kommt eine Bestrafung wegen dieser anderen Delikte nur dann in Betracht, wenn dem Täter eine Rechtsbeugung objektiv und subjektiv nachgewiesen werden kann (vgl. BGH 10, 294). Der Tb. hat insoweit auch eine Schutzfunktion zugunsten des Richteis (vgl. Lackner 7). Mit Bestechlichkeit (§ 332 Abs. 2) ist Tatmehrheit möglich. Gegenüber dem spezielleren § 344 tritt § 336 als der allgemeinere Tb. zurück (vgl. Cramer in Schönke-Schröder 11; str.). 9. Nebenfolgen siehe § 358.
§§ 3 3 7 - 3 3 9
§ 340
[aufgehoben]
Körperverletzung im Amt
(1) Ein Amtsträger, der während der Ausübung seines Dienstes oder in Beziehung auf seinen Dienst eine Körperverletzung begeht oder begehen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. (2) Bei schwerer Körperverletzung (§ 224) ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift enthält in Abs. 1 einen erschwerten Fall des § 223 Abs. 1, während Abs. 2 alle objektiven und subjektiven Merkmale des § 224 voraussetzt. Es handelt sich somit um ein unechtes Amtsdelikt (vgl. § 11 Anm. II 2 b). 2. Die Tathandlung besteht darin, daß ein Amtsträger (§11 Abs. 1 Nr. 2) während der Ausübung seines Dienstes oder in Beziehung auf seinen Dienst eine Körperverletzung begeht oder begehen läßt. Entgegen der Begründung des RegE (S. 277 BT-Drucks. 7/550) enthält die Neufassung nicht nur sprachliche, sondern auch sachliche Änderungen des früheren Rechts. a) Während der Ausübung des Dienstes ist die Körperverletzung begangen, wenn sie mit der Dienstausübung in einem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang steht (vgl. § 194 Anm. 4 b). Ein innerer Zusammenhang mit der Diensthandlung ist nicht erforderlich (übereinstimmend Dreher 2; Wagner ZRP 1975, 273; str.). Insoweit geht § 340 jetzt über die frühere Fassung hinaus. Der Staat erwartet von seinen Amtsträgern, daß sie sich während des Dienstes korrekt verhalten. Tatbestandsmäßig handelt deshalb z. B. auch ein Polizeibeamter, der während einer Streifenfahrt in einen Verkehrsunfall verwickelt wird und sich während der anschließenden Diskussion über die Schuldfrage dazu hinreißen läßt, auf seinen Kontrahenten einzuschlagen. b) In Beziehung auf den Dienst ist die Körperverletzung begangen, wenn sie mit der Stellung im Beruf oder der beruflichen Tätigkeit des Amtsträgers erkennbar in einem inneren Zusammenhang steht (§ 194 Anm. 4 b). Ein äußerer (zeitlicher und räumlicher) 1011
§ 343
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
Zusammenhang wird in der Regel ebenfalls gegeben sein, ist aber nicht unbedingt erforderlich (übereinstimmend Dreher 2). c) Das Tb.-Merkmal „begeht" erfaßt die Fälle der unmittelbaren Täterschaft. Beispiel: Ein Lehrer züchtigt einen Schüler ohne rechtfertigenden Anlaß. d) Das Tb.-Merkmal „begehen lassen" erfaßt alle Fälle, in denen der Amtsträger während der Ausübung seines Dienstes oder in Beziehung auf seinen Dienst eine Körperverletzung veranlaßt, ohne selbst unmittelbar Täter zu sein. Hierher gehören sowohl Fälle der mittelbaren Täterschaft als auch Fälle von Anstiftung und Beihilfe (auch Beihilfe durch pflichtwidriges Unterlassen). Beispiele: Ein Lehrer züchtigt einen Schüler nicht selbst, sondern beauftragt hiermit den Hausmeister. - Oder: Ein Reviervorstand duldet, daß ein Beamter seines Reviers einen widerspenstigen Beschuldigten durch Faustschläge „beruhigt". 3. Auf der subj. Tatseite ist Vorsatz erforderlich. Bedingter Vorsatz genügt. Bei Fahrlässigkeit gilt § 230. 4. Die Rechtswidrigkeit kann durch Notwehr (§ 32) ausgeschlossen werden. Ist der Eingriff in die körperliche Integrität unzulässig (z. B. Blutentnahme durch den Polizeibeamten), so ist auch die Einwilligung des Betroffenen ohne rechtfertigende Wirkung. 5. Die Tat ist auch ohne Strafantrag von Amts wegen zu verfolgen. Eine Kompensation nach § 233 ist nicht vorgesehen. 6. Konkurrenzen: Gegenüber den §§ 223, 224 geht § 340 als das speziellere Gesetz vor. Tateinheit ist möglich mit §§ 223 a, 223 b, 225, 226 und 185, außerdem mit § 343. Für den militärischen Bereich beachte § 30 WStG, der dem § 340 vorgeht. 7. Nebenfolgen siehe § 358.
§§ 341, 3 4 2
§ 343
[aufgehoben durch das EGStGB]
Aussageerpressung
(1) Wer als Amtsträger, der zur Mitwirkung an 1. einem Strafverfahren, einem Verfahren zur Anordnung einer behördlichen Verwahrung, 2. einem Bußgeldverfahren oder 3. einem Disziplinarverfahren oder einem ehrengerichtlichen oder berufsgerichtlichen Verfahren berufen ist, einen anderen körperlich mißhandelt, gegen ihn sonst Gewalt anwendet, ihm Gewalt androht oder ihn seelisch quält, um ihn zu nötigen, in dem Verfahren etwas auszusagen oder zu erklären oder dies zu unterlassen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. 1012
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 343
1. Die durch das E G S t G B neu gefaßte Vorschrift stellt zwar einen Sonderfall der Nötigung dar, wird aber dessen ungeachtet von der h. L. als echtes Amtsdelikt behandelt (vgl. Dreher 1; Lackner 1; Mösl LK 1; a. A. Blei JA 1974, StR 172; Cramer in Schönke-Schröder 1). Die Änderungen gegenüber dem früheren Recht bestehen einmal darin, daß der Täterkreis schärfer abgegrenzt wird, indem die Verfahren, auf die sich die Tat beziehen kann, genau bezeichnet werden. Außerdem sieht Abs. 2 jetzt die Möglichkeit vor, bei Vorliegen eines minder schweren Falls den Regelstrafrahmen zu unterschreiten. 2. Täter kann nur ein Amtsträger ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 2) sein, der zur Mitwirkung an bestimmten Verfahrensarten (Abs. 1 Nr. 1 - 3 ) berufen ist. In Betracht kommen insbesondere Richter, Staatsanwälte, Polizeibeamte, Disziplinarbeamte und Finanzbeamte. a) Zu den Strafverfahren (Nr. 1) gehören auch Jugend- und Steuerstrafverfahren sowie Verfahren zur Anordnung einer Maßnahme i. S. von § 11 Abs. 1 Nr. 8 (siehe hierzu § § 4 1 3 ff., 430 ff. StPO) einschließlich des jeweils vorbereitenden polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens. Dem Strafverfahren gleich steht das Verfahren zur Anordnung einer behördlichen Verwahrung (vgl. z. B. §§ 64 ff. J W G und die Landesgesetze über die Unterbringung von Geistes- und Suchtkranken). b) Zu den Bußgeldveifahren (Nr. 2) gehören nicht nur die Verfahren nach dem OWiG, sondern auch die Verfahren nach den einschlägigen Landesgesetzen. c) Disziplinarverfahren, ehren- und berufsgerichtliche Verfahren (vgl. z. B. §§ 116 ff. BRechtsanwaltsO, §§ 46 ff. SteuerberatungsG, §§ 95 ff. BNotO) stehen den vorgenannten Verfahren im Rahmen des § 343 gleich. d) Zur Mitwirkung an dem Verfahren berufen ist der Amtsträger nicht erst dann, wenn er im konkreten Einzelfall zuständig ist; vielmehr genügt, daß er vermöge seines amtlichen Aufgabenbereichs allgemein zur Mitwirkung bei Verfahren der betreffenden Art berufen ist (Begr. § 454 E 1962; RegE S. 278 BT-Drucks. 7/550). 3. Die Tathandlung wurde abweichend von der allgemein gehaltenen und deshalb auslegungsbedürftigen Formulierung des früheren Rechts („Anwendung von Zwangsmitteln") erheblich präzisiert. In Übereinstimmung mit der h. L. zu § 343 aF stellt die Neufassung jetzt eindeutig klar, daß nicht alle nach § 136 a StPO ungesetzlichen Vernehmungsmethoden den schweren Vorwurf der Aussageerpressung begründen können. Nicht hierher gehören z. B. List, Täuschung und Versprechen von Vorteilen. Auch die Anwendung des nach B G H 5, 332 unzulässigen Lügendetektors ist nur dann tatbestandsmäßig, wenn der hierdurch Betroffene zu den Tests genötigt wird. Nicht hierher gehört ferner die Androhung von gesetzlich zulässigen Zwangsmitteln, z. B. wenn ein Richter einen Zeugen bei unberechtigter Zeugnisverweigerung auf die Rechtsfolgen des § 70 StPO (Ordnungsgeld, Ordnungshaft) hinweist. a) U b e r körperliche Mißhandlung siehe § 223 Anm. 11. Zu beachten ist, daß im Rahmen des § 343 auch solche Fälle der körperlichen Einwirkung bedeutsam werden können, die nicht mit einer körperlichen Berührung verbunden sind, sondern in anderer Weise auf den Körper des Betroffenen einwirken (z. B. längere Vernehmungen bei grellem Licht, Unterbringung in Dunkel- oder Stehzellen, vgl. RegE S. 278 BT-Drucks. 7/550). b) Bei der Auslegung des Merkmals der Gewaltanwendung, das sich vielfach (aber nicht notwendig) mit körperlicher Mißhandlung überschneidet, ist zu beachten, daß der Begriff
1013
§ 344
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
„Gewalt" nach der neueren Rspr. (und auch nach den Vorstellungen des R e g E , vgl. S. 278 BT-Drucks. 7 / 5 5 0 ) auch solche Einwirkungen auf den Körper des Betroffenen umfaßt, die nicht mit einer körperlichen Kraftentfaltung seitens des Täters verbunden sind (vgl. § 2 4 0 Anm. 3 a). Tatbestandsmäßig handelt deshalb z. B . auch, wer Hypnose anwendet oder mit betäubenden, berauschenden oder ähnlichen Mitteln auf den Körper des Betroffenen einwirkt ( R e g E aaO.). c) Die Androhung von Gewalt ist nur dann tatbestandsmäßig, wenn die Gewalt (s. o. lit. b) dem Betroffenen selbst angedroht wird. Wird sie einer dem Täter nahestehenden Person angedroht, so kann das Tb.-Merkmal „quälen" (s. u. lit. d) erfüllt sein. d) Über Quälen siehe § 223 b Anm. 3 a. Zu beachten ist, daß Einwirkungen auf den seelischen Bereich des Betroffenen nur dann tatbestandsrelevant sind, wenn sie den Betroffenen über unvermeidbare seelische Belastungen hinaus seelischen Peinigungen aussetzen, die seine geistigen und seelischen Widerstandskräfte zermürben ( R e g E S. 2 7 9 BT-Drucks. 7/550). Der Begriff ist so gesehen enger auszulegen als in § 136 a StPO ( R e g E aaO.). Ein „Quälen" kann auch darin gesehen werden, daß dem Betroffenen für den Fall weiteren Bestreitens unberechtigte Sanktionen gegen Angehörige oder sonst nahestehende Personen angedroht werden. Auch die vor den Augen des Betroffenen erfolgte Mißhandlung eines Haustiers kann unter diesem Gesichtspunkt tatbestandsmäßig sein. e) Nicht erforderlich ist, daß der Täter die unter a - d beschriebenen Tathandlungen eigenhändig als unmittelbarer Täter vornimmt. Es genügt, daß er sie (als mittelbarer Täter) durch andere vornehmen läßt. 4. D e r subj. Tb. erfordert neben dem Vorsatz die Absicht, den Betroffenen dazu zu bringen, in dem Verfahren (Anm. 2 a - c ) etwas auszusagen oder zu erklären oder dies zu unterlassen. Auf diesen Effekt muß es dem Täter ankommen (direkter Vorsatz als zielgerichteter Wille). 5. Vollendet ist der Tb. bereits mit der Vornahme der Tathandlung (Anm. 3), sofern diese mit der in Anm. 4 dargestellten Nötigungsabsicht erfolgt. D e r Eintritt des vom Täter beabsichtigten Verhaltens seitens der betroffenen Person ist nicht erforderlich. Wenn z. B . ein Polizeibeamter einem Beschuldigten für den Fall, daß er das vorbereitete Geständnis nicht unterschreibt, die vorläufige Festnahme androht, so ist der Tb. auch dann verwirklicht, wenn der Beschuldigte die Unterschrift standhaft verweigert. Unerheblich ist in diesem Fall, ob die vorläufige Festnahme sachlich gerechtfertigt ist oder nicht. 6. Konkurrenz: Gegenüber § 2 4 0 geht § 343 als die speziellere Regelung vor. Tateinheit ist möglich mit §§ 3 3 6 , 3 4 0 . 7. Nebenfolgen siehe § 358.
§ 344
Verfolgung Unschuldiger
(1) Wer als Amtsträger, der zur Mitwirkung an einem Strafverfahren, abgesehen von dem Verfahren zur Anordnung einer nicht freiheitsentziehenden Maß1014
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 344
nähme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8), berufen ist, absichtlich oder wissentlich einen Unschuldigen oder jemanden, der sonst nach dem Gesetz nicht strafrechtlich verfolgt werden darf, strafrechtlich verfolgt oder auf eine solche Verfolgung hinwirkt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Satz 1 gilt sinngemäß für einen Amtsträger, der zur Mitwirkung an einem Verfahren zur Anordnung einer behördlichen Verwahrung berufen ist. (2) Wer als Amtsträger, der zur Mitwirkung an einem Verfahren zur Anordnung ejner nicht freiheitsentziehenden Maßnahme ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 8) berufen ist, absichtlich oder wissentlich jemanden, der nach dem Gesetz nicht strafrechtlich verfolgt werden darf, strafrechtlich verfolgt oder auf eine solche Verfolgung hinwirkt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Satz 1 gilt sinngemäß für einen Amtsträger, der zur Mitwirkung an 1. einem Bußgeldverfahren oder 2. einem Disziplinarverfahren oder einem ehrengerichtlichen oder berufsgerichtlichen Verfahren berufen ist. Der Versuch ist strafbar. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift enthält ein echtes Amtsdelikt, bei dem sich die Amtseigenschaft strafbegründend auswirkt (§11 Anm. II 2 a). Die Änderungen gegenüber der früheren Fassung liegen einmal darin, daß - wie schon in § 343 - der Täterkreis und die von der Vorschrift erfaßten Verfahrensarten jetzt genau abgegrenzt sind. Außerdem werden die Strafdrohungen nach der Schwere der Tat abgestuft: Als Verbrechen stellt sich die Tat nur noch dann dar, wenn es sich um ein Strafverfahren oder um ein Verfahren handelt, das zur Anordnung einer behördlichen Verwahrung führen kann (vgl. Abs. 1). Ausgenommen sind lediglich solche Verfahren, in denen der Betroffene nur mit nicht freiheitsentziehenden Maßnahmen (§11 Abs. 1 Nr. 8) rechnen muß, außerdem die in § 343 Abs. 1 Nr. 2 und 3 genannten Verfahren. In diesen Fällen stellt sich die Tat nach Abs. 2 als Vergehen dar. Neu ist schließlich auch die Einführung eines ermäßigten Strafrahmens für minder schwere Fälle (Abs. 1 S. 1 a. E). 2. Der Täterkreis ist der gleiche wie in § 343 (siehe dort Anm. 2), wobei jedoch die in Anm. 1 erwähnten Differenzierungen hinsichtlich der Art der einzelnen Verfahren und der sich hieraus ergebenden Unterschiede bei der Strafdrohung zu beachten sind. Die Neufassung stellt klar, daß als Täter nicht nur Personen in Betracht kommen, die Träger der Verfolgung sind, sondern auch deren Hilfsorgane. 3. Der Kreis der geschützten Personen umfaßt a) in Abs. 1 S. 1 Unschuldige sowie solche Personen, die nach dem Gesetz strafrechtlich nicht verfolgt werden dürfen. aa) Unschuldig ist, wer die ihm zur Last gelegte Tat nicht begangen hat oder sich auf einen Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgrund berufen kann. „Unschuldig" in diesem Sinn ist auch, wer nicht die ihm zur Last gelegte, sondern eine geringere Tat begangen hat, z. B. nicht Mord, sondern nur gefährliche Körperverletzung. 1015
§ 344
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
bb) Sonst nicht strafrechtlich verfolgt werden darf, wer sich auf einen Strafausschließungsgrund (z. B. Indemnität oder Angehörigenschaft bei Strafvereitelung, § 258 Abs. 6) oder einen Strafaufhebungsgrund (z. B. Rücktritt nach § 24) berufen kann oder dessen Tat mangels Straf antrags oder wegen Verfolgungsverjährung nicht verfolgt werden kann; b) in Abs. 1S. 2 Personen, die keinen Anlaß zur Anordnung einer behördlichen Verwahrung bieten; c) in Abs. 2 S. 1 Personen, gegen die aus den unter Anm. a) dargelegten Gründen strafrechtlich nicht eingeschritten werden darf, und zwar auch nicht mit dem Ziel der Anordnung einer nicht freiheitsentziehenden Maßnahme; d) in Abs. 2 S. 2 Personen, die keinen Anlaß zur Durchführung eines Bußgeldverfahrens, eines Disziplinarverfahrens oder eines ehren- oder berufsgerichtlichen Verfahrens gegeben haben. 4. Die Tathandlung besteht darin, daß der Täter den Betroffenen strafrechtlich (Abs. 1 5. 1, Abs. 2 S. 1) bzw. in einer dem jeweiligen Verfahrenstypus entsprechenden Weise (Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2) verfolgt oder auf eine solche Verfolgung hinwirkt. Hierher gehört jedes dienstliche Tätigwerden im Rahmen einer Ermittlungstätigkeit, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Täter Träger der Verfolgung oder nur als Hilfsorgan tätig ist. Tatbestandsmäßig handelt deshalb auch ein Polizeibeamter, der einen Unschuldigen festnimmt, ohne dem Richter oder Staatsanwalt, der gutgläubig um die Festnahme ersucht hat, die Umstände mitzuteilen, aus denen sich die Unschuld des Festgenommenen ergibt (RegE S. 279 BT-Drucks. 7/550). - Beispiel für Abs. 1 S. 2: Ein als Sachverständiger zugezogener Amtsarzt erklärt wider besseres Wissen, daß die von ihm untersuchte Person schwer geisteskrank sei und aufgrund ihres Zustands nach den einschlägigen landesrechtlichen Vorschriften unbedingt in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden müsse. - Beispiel für Abs. 2 S. 2 Nr. 1: Ein Polizeibeamter legt gegen einen mit ihm verfeindeten Nachbarn eine Anzeige wegen einer angeblichen Verkehrs-OWi unter der bewußt unwahren Behauptung vor, der Betroffene habe eine Kreuzung bei Rotlicht der für ihn maßgeblichen Verkehrssignalanlage passiert. 5. Auf der subj. Tatseite ist Vorsatz erforderlich, wobei bedingter Vorsatz nicht genügt. Absichtlich handelt der Täter, wenn es ihm darauf ankommt, eine Person zu verfolgen, die möglicherweise unschuldig ist oder aus sonstigen Gründen nicht verfolgt werden darf (Absicht = zielgerichteter Wille). Wissentlich handelt der Täter, wenn er die Umstände, die die Unschuld begründen oder sonst der Verfolgung entgegenstehen, positiv kennt. 6. Der Versuch ist sowohl bei Abs. 1 (Verbrechen) als auch bei Abs. 2 (Satz 3) unter Strafe gestellt. 7. Bei Teilnehmern beachte § 28 Abs. 1. 8. Konkurrenzen: Gegenüber § 336 geht § 344 als speziellere Vorschrift vor. Tateinheit ist möglich mit §§ 164, 239. Für den militärischen Bereich beachte § 39 WStG, der dem § 344 als die speziellere Regelung vorgeht. 9. Nebenfolgen siehe § 358. 1016
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 345
§ 345
Vollstreckung gegen Unschuldige
(1) Wer als Amtsträger, der zur Mitwirkung bei der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung oder einer behördlichen Verwahrung berufen ist, eine solche Strafe, Maßregel oder Verwahrung vollstreckt, obwohl sie nach dem Gesetz nicht vollstreckt werden darf, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Handelt der Täter leichtfertig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. (3) Wer, abgesehen von den Fällen des Absatzes 1, als Amtsträger, der zur Mitwirkung bei der Vollstreckung einer Strafe oder einer Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) berufen ist, eine Strafe oder Maßnahme vollstreckt, obwohl sie nach dem Gesetz nicht vollstreckt werden darf, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Ebenso wird bestraft, wer als Amtsträger, der zur Mitwirkung bei der Vollstreckung 1. eines Jugendarrestes, 2. einer Geldbuße oder Nebenfolge nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht, 3. eines Ordnungsgeldes oder einer Ordnungshaft oder 4. einer Disziplinarmaßnahme oder einer ehrengerichtlichen oder berufsgerichtlichen Maßnahme berufen ist, eine solche Rechtsfolge vollstreckt, obwohl sie nach dem Gesetz nicht vollstreckt werden darf. Der Versuch ist strafbar. 1. Die durch das EGStGB neugefaßte Vorschrift stellt zwar einen Sonderfall der Freiheitsberaubung dar, wird jedoch dessen ungeachtet allgemein als echtes Amtsdelikt behandelt (Dreher 1; Lackner 1; Mösl LK 1). Die Änderungen gegenüber dem früheren Recht bestehen vor allem darin, daß der Täterkreis in Anlehnung an die in den §§ 343 und 344 getroffene Regelung schärfer abgegrenzt wird, indem die Rechtsfolgen, auf die sich die unzulässige Vollstreckung bezieht, genau bezeichnet werden. Hiermit eng verbunden ist eine deutliche Abstufung der Strafdrohung. Als Verbrechen stellt sich die Tat auch bei vorsätzlicher Begehung nur noch dann dar, wenn sie zu einem unzulässigen Freiheitsentzug geführt hat. Eine weitere Liberalisierung besteht darin, daß die Fahrlässigkeit nicht mehr in allen Fällen, sondern nur noch in den Fällen des Abs. 1 (unzulässiger Freiheitsentzug) mit Strafe bedroht ist, und auch dies nur dann, wenn der Täter „leichtfertig" gehandelt hat. Schrifttum: Reiss, Gedanken zur Neufassung des § 345 StGB, RPfleger 1976, 201. 2. Der Täterkreis ist dem der §§ 343 und 344 nachgebildet (vgl. § 343 Anm. 2, § 344 Anm. 2). Als Täter kommen nicht nur Bedienstete der Vollzugsanstalten, sondern alle Amtsträger ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 2) in Betracht, die zur Mitwirkung bei der Vollstreckung einer Strafe, Maßregel usw. berufen sind, z. B. Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger (vgl. R G 19, 342, in B G H 20, 65 offen gelassen). Eine Mitwirkung in leitender Position
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§ 345
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
ist nicht erforderlich (vgl. R G 5, 332; 30, 136; 63, 175; Mösl LK 2, 3). Für den militärischen Bereich beachte § 48 Abs. 1 (Gleichstellungsklausel für Offiziere und Unteroffiziere). 3. Die Tathandlung besteht in der Vollstreckung einer der in Abs. 1 oder Abs. 2 bezeichneten Rechtsfolgen, obwohl im konkreten Einzelfall eine solche Vollstreckung unzulässig ist. a) Vollstreckung ist der Inbegriff aller Maßnahmen, die den Vollzug einer Rechtsfolge bewirken. Unerheblich ist, ob der Täter in leitender oder in untergeordneter Position tätig wird und ob sich sein Verhalten als Tun oder Unterlassen darstellt. Nicht hierher gehört jedoch der Fall, daß ein Richter das von ihm gesprochene Urteil nicht sofort absetzt und dann die Akten „aus den Augen verliert", so daß der zu einer Freiheitsstrafe verurteilte Angeklagte, der sich bei Eintritt der Rechtskraft in U-Haft befunden hat, über die nach Anrechnung der U-Haft verbleibende Strafzeit hinaus in U-Haft bleibt. In diesem Fall scheitert § 345 daran, daß eine förmliche Strafvollstreckung noch gar nicht eingeleitet war ( B G H 2 0 , 6 4 , 6 6 ; Stratenwerth J Z 1965,325; a. A. Dreher 5). b) Als Rechtsfolgen, auf die sich die Tat beziehen kann, kommen in Betracht alle Rechtsfolgen einer rechtswidrigen Tat (insbesondere alle Strafen und die in § 11 Abs. 1 Nr. 8 erwähnten Maßnahmen), außerdem - insoweit über das frühere Recht hinausgehend Geldbußen und Nebenfolgen nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht (Abs. 3 Nr. 2), Ordnungsgeld und Ordnungshaft (z. B. als Rechtsfolgen des unentschuldigten Ausbleibens eines ordnungsgemäß geladenen Zeugen, vgl. § 51 Abs. 1 StPO) sowie Disziplinarmaßnahmen, ehren- und berufsgerichtliche Maßnahmen (Abs. 3 Nr. 4). Der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und einer freiheitsentziehenden Maßregel gleichgestellt ist nach Abs. 1 die Vollstreckung einer behördlichen Verwahrung (siehe hierzu § 343 Anm. 2 a). Nicht hierhergehört die Vollstreckung von Untersuchungshaft (BGH 20, 64). c) Die Unzulässigkeit der Vollstreckung kann auf verschiedenen Gründen beruhen: aa) die Entscheidung (Urteil, Beschluß, Bußgeldbescheid usw.) ist noch nicht rechtskräftig; bb) eine freiheitsentziehende Rechtsfolge wird über ihre angeordnete Dauer hinaus vollstreckt; cc) eine Strafaussetzung, Amnestie oder Begnadigung wird nicht beachtet; dd) eine Rechtsfolge wird zum Nachteil des Betroffenen nicht in gesetzlicher Weise vollstreckt (z. B. Jugendarrest als Freiheitsstrafe). 4. D e r subj. Tb. erfordert sowohl in Abs. 1 als auch in Abs. 3 Vorsatz. Zum Vorsatz gehört das Bewußtsein des Täters, daß sein Verhalten die Vollstreckung einer bestimmten Rechtsfolge bewirkt und daß diese Vollstreckung unzulässig ist. Bedingter Vorsatz reicht aus. Fahrlässigkeit genügt dagegen nur noch in den Fällen des Abs. 1, und zwar muß der Täter „leichtfertig", d. h. grob fahrlässig, handeln. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn er die erforderlichen Vollstreckungsunterlagen nur oberflächlich prüft und ihm infolgedessen Fehler unterlaufen, die selbst bei einem durchschnittlich qualifizierten Beamten unverzeihlich sind, nicht dagegen, wenn die unzulässige Vollstreckung auf einer Verkettung unglücklicher Umstände beruht (vgl. Köln RPfleger 1976, 405 m. zust. Anm. Reiss).
1018
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 348
5. Der Versuch ist nicht nur bei Abs. 1 (Verbrechen), sondern auch bei Abs. 3 strafbar (vgl. Abs. 3 S. 3). 6. Bei Teilnehmern beachte § 28 Abs. 1. 7. Konkurrenzen: Gegenüber § 239 geht § 345 als die speziellere Vorschrift vor. Mit § 336 ist Tateinheit möglich (Dreher 6; Mösl LK 12). 8. Nebenfolgen siehe § 358.
§§ 3 4 6 , 3 4 7
§ 348
[aufgehoben durch das EGStGB; siehe jetzt § § 120 Abs. 2, 25 8 a].
Falschbeurkundung im Amt
(1) Ein Amtsträger, der, zur Aufnahme öffentlicher Urkunden befugt, innerhalb seiner Zuständigkeit eine rechtlich erhebliche Tatsache falsch beurkundet oder in öffentliche Register oder Bücher falsch einträgt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) D e r Versuch ist strafbar. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift enthält ein echtes Amtsdelikt, da die Tat nur von bestimmten Amtsträgern begangen werden kann (vgl. § 11 Anm. II 2). Der ehemalige § 348 Abs. 2, der u. a. das Vernichten, Beiseiteschaffen und Beschädigen amtlich anvertrauter oder zugänglicher Urkunden unter Strafe gestellt hatte, findet sich jetzt als qualifizierter Fall des Verwahrungsbruchs in § 133 Abs. 3 (unechtes Amtsdelikt). 2. Täter kann nur ein Amtsträger ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 2) sein, der nach Bundes- oder Landesrecht „befugt", d. h. berechtigt ist, durch schriftliche Festlegung einer von ihm abgegebenen Erklärung, einer von ihm gemachten Wahrnehmung oder einer durch ihn bzw. vor ihm geschehenen Tatsache ein Beweismittel mit Beweiskraft für und wider jedermann zu schaffen (vgl. RG 61, 36; Dreher 2; Lackner 2; Tröndle LK 3 ff.). In Betracht kommen insbesondere Notare (BGH 26,47), Standesbeamte, Richter und gerichtliche Urkundsbeamte, außerdem Gerichtsvollzieher und sonstige Vollstreckungsbeamte, aber auch Polizeibeamte, Postzustellungsbeamte und Fleischbeschauer. Zum Ganzen siehe auch Blei JA 1969, StR 120. 3. Über öffentliche Urkunde siehe § 271 Anm. 4. 4. Die Tathandlung liegt darin, daß der Amtsträger innerhalb seiner Zuständigkeit eine rechtserhebliche Tatsache mit Beweiskraft für und wider jedermann falsch beurkundet oder in öffentliche Register oder Bücher falsch einträgt. a) Beurkundet ist eine Tatsache, wenn sie in der vorgeschriebenen Form mit Beweiskraft für und wider jedermann festgestellt ist (vgl. RG 63, 150; 72, 378; BGH GA 1964, 310; Tröndle LK 12). 1019
§ 348
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
b) Das Eintragen in öffentliche Register und Bücher stellt einen Unterfall der Beurkundung dar. c) Falsch beurkundet ist eine Tatsache, wenn das Beurkundete mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, z. B. wenn entgegen dem Beglaubigungsvermerk die Fotokopie nicht mit dem Original übereinstimmt oder wenn wahrheitswidrig beurkundet wird, daß der Amtsträger bei der Beurkundung persönlich anwesend war (BGH 26,47). 5. Der auf der subj. Tatseite erforderliche Vorsatz muß alle Merkmale umfassen, aus denen sich der Charakter der öffentlichen Urkunde ergibt. Außerdem muß der Täter wissen, daß die Beurkundung bzw. Eintragung falsch ist. 6. Für Teilnehmer beachte § 28 Abs. 1. 7. Konkurrenzen: Im Verhältnis zu § 267 liegt - je nach Sachlage - Tateinheit oder Tatmehrheit vor: Tateinheit, wenn durch die Falschbeurkundung gleichzeitig von einer gefälschten Urkunde Gebrauch gemacht wird; Tatmehrheit, wenn eine Urkundenfälschung zeitlich vorausgeht oder nachfolgt. Im übrigen kommt jedoch eine echte Konkurrenz beider Vorschriften wegen ihrer unterschiedlichen Anliegen und Merkmale nicht in Betracht. - Wegen Nebenfolgen siehe § 358. 8. Abschließende Beispiele: A stellt als Angestellter der zuständigen Behörde seinem Freund F einen Führerschein aus, obwohl F die Prüfung nicht abgelegt, geschweige denn bestanden hat (BGH 12, 85). - Oder: Ein Gerichtsvollzieher macht in dem Protokoll über die Verhaftung des Schuldners (vgl. § 762 ZPO) unrichtige Angaben über Ort, Zeit und besondere Umstände der Verhaftung (vgl. Hamm NJW 1959, 1333). - Oder: Ein Polizeibeamter nimmt in einem zurückdatierten Protokoll die Anzeige eines angeblichen, in Wirklichkeit jedoch fingierten Einbruchs auf (RG 57, 56). - Oder: Ein Notar beurkundet ein Rechtsgeschäft, obwohl er während der Verlesung der entscheidenden Urkunde nicht ständig zugegen war (BGH 26, 47). - Oder: Der zuständige Beamte einer Kfz-Zulassungsstelle trägt im Kfz-Schein bewußt einen unrichtigen Termin für die nächste Hauptuntersuchung ein (BGH 26, 9). - Oder: A beurkundet als Angestellter einer öffentlichen Sparkasse im Sparbuch eines Kunden eine in Wirklichkeit nicht vorgenommene Ein- oder Auszahlung. Dagegen erstreckt sich der öffentliche Glaube des Sparbuchs nicht darauf, daß die eingetragene Person der wirkliche Verfügungsberechtigte ist (sog. schwarze Konten, BGH 19, 19). - Nicht zu den öffentlichen Urkunden gehören polizeiliche Ermittlungsberichte, da diese nicht dazu geeignet und bestimmt sind, Beweis für und wider jedermann zu erbringen (Stgt NJW 1956, 1082 betr. einen Polizeibeamten, der ein Protokoll über eine angeblich von ihm durchgeführte Zeugenvernehmung mit dem Schlußvermerk „im Entwurf gez. F. M." hergestellt hatte, obwohl er die Zeugin gar nicht gehört hatte). - Nicht hierher gehören auch die Zustellbücher der Bundespost, da diese ausschließlich zur Kontrolle der Zusteller, somit dem inneren Dienst der Post dienen (BGH 7, 94), ferner nicht die sog. Handwerksrolle, die zwar ein öffentliches Register ist, aber keine besondere Schutzwirkung gegenüber Dritten hat (BayObLG NJW 1971, 634). - Zum Ganzen siehe auch die Ausführungen und Beispiele zu § 271.
§§ 3 4 9 - 3 5 1
1020
[weggefallen]
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 352
§ 352
Gebührenüberhebung
(1) Ein Amtsträger, Anwalt oder sonstiger Rechtsbeistand, welcher Gebühren oder andere Vergütungen für amtliche Verrichtungen zu seinem Vorteil zu erheben hat, wird, wenn er Gebühren oder Vergütungen erhebt, von denen er weiß, daß der Zahlende sie überhaupt nicht oder nur in geringerem Betrage schuldet, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift enthält ein echtes Amtsdelikt (vgl. § 11 Ann). II 4 a). Die Änderungen gegenüber der früheren Fassung ergaben sich teils aus der Einführung des Amtsträgerbegriffs, teils aus der Notwendigkeit, die Strafdrohungen einheitlich zu gestalten. Sachliche Änderungen waren Hiermit nicht verbunden. - Über den Rechtsgrund der in § 352 gegenüber dem allgemeinen Betrugstatbestand getroffenen Privilegierung siehe RG 18, 220,223 sowie Cramer in Schönke-Schröder 1. 2. Der Täterkreis umfaßt nur solche Amtsträger usw., die Gebühren oder andere Vergütungen zu ihrem eigenen Vorteil erheben können. In Betracht kommen a) Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2), insbesondere Notare (RG 19, 19; 30, 249), Gerichtsvollzieher (RG 17,171; 40,378) und beamtete Tierärzte (RG 24,234); b) Rechtsanwälte (auch Patentanwälte) und sonstige Rechtsbeistände, insbesondere Prozeßagenten nach § 157 Abs. 3 ZPO und die nach dem RBeratG zugelassenen Rechtsbeistände (vgl. BayObLG NJW 1964, 2433; Cramer in Schönke-Schröder 3; Dreher 1; Lackner 2; Mösl LK 1; a. A. Ffm NJW 1964, 2318). 3. Vergütung ist jedes Entgelt für eine amtliche Verrichtung. Gebühr ist ein Unterfall der Vergütung (Dreher 1; Lackner 3). Nicht zu den Vergütungen und Gebühren gehören die Auslagen des Amtsträgers, Anwalts usw., z. B. Telefon-, Porto- und Reisekosten (vgl. RG 40, 382; BGH bei Herlan MDR 1955, 651; Mösl LK 4). Insoweit kommt nicht § 352, sondern § 263 in Betracht. 4. Zu seinem Vorteil erhebt der Amtsträger usw. eine Vergütung auch dann, wenn sie ihm nur mittelbar oder nur teilweise zufließt (vgl. RG 40, 380; Mösl LK 7 m. Nachw.). Nicht hierher gehört der Fall, daß der Anwalt der obsiegenden Partei für diese vom Gegner zu hohe Gebühren anfordert. Hier kommt nicht § 352, sondern § 263 in Betracht (RG 19, 30; Mösl LK 7 m. Nachw.). 5. Die Tathandlung besteht im Erheben von nicht geschuldeten oder überhöhten Gebühren oder sonstigen Vergütungen. Erhoben ist die Vergütung (Gebühr) erst, wenn sie beim Täter eingegangen ist. Bis dahin stellen sich die hierauf gerichteten Handlungen (z. B. Anfordern oder Einklagen) nur als Versuch dar (strafbar nach Abs. 2). 6. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz nach h. A. genügen soll (vgl. RG 16, 363; RG HRR 1936, 372; Dreher 8; Lackner 5; Mösl LK 9; a. A. zu Recht Maurach BT 770; Cramer in Schönke-Schröder 10). 7. Für Teilnehmer beachte § 28 Abs. 1. 1021
§ 353
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
8. Der Versuch ist strafbar (Abs. 2). 9. Konkurrenzen: Da § 352 einen Sonderfall des Betrugs darstellt, ist Tateinheit mit § 263 nur möglich, wenn zu der Täuschung, die mit der Gebührenüberhebung notwendig verbunden ist, eine weitere Täuschung hinzutritt ( B G H 2, 35; NJW 1961, 1171; h. L.), z. B. wenn ein Anwalt zugleich mit seinen Gebühren auch nicht entstandene Auslagen geltend macht (Cramer in Schönke-Schröder 14). Mit § 266 ist Tateinheit möglich ( B G H NJW 1957, 596; h. L.). 10. Nebenfolgen siehe § 358.
§ 353
Abgabenüberhebung; Leistungsverkiirzung
(1) Ein Amtsträger, der Steuern, Gebühren oder andere Abgaben für eine öffentliche Kasse zu erheben hat, wird, wenn er Abgaben, von denen er weiß, daß der Zahlende sie überhaupt nicht oder nur in geringerem Betrage schuldet, erhebt und das rechtswidrig Erhobene ganz oder zum Teil nicht zur Kasse bringt, mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer als Amtsträger bei amtlichen Ausgaben an Geld oder Naturalien dem Empfänger rechtswidrig Abzüge macht und die Ausgaben als vollständig geleistet in Rechnung stellt. 1. Die durch das E G S t G B dem neuen Amtsträgerbegriff ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 2) angepaßte Vorschrift enthält - wie § 352 - ein echtes Amtsdelikt (vgl. § 11 Anm. II 4 a). Der entscheidende Unterschied gegenüber § 352 besteht darin, daß der Täter bei § 352 zu seinem eigenen Vorteil (vgl. § 352 A n m . 4), bei § 353 dagegen für eine öffentliche Kasse Gebühren zu erheben hat ( B G H 2, 36). 2. Die Vorschrift enthält zwei selbständige Tatbestände: die übermäßige Erhebung von Abgaben (Abs. 1) und die Kürzung amtlicher Leistungen (Abs. 2). In beiden Tatbeständen ist die Ausführungshandlung zweiaktig: a) Abs. 1 setzt voraus, daß der Täter zuviel verlangt und dann den überhobenen Betrag (ganz oder teilweise) nicht zur Kasse bringt. Beispiel: Ein Postbeamter verlangt für die Beförderung eines Pakets eine Gebühr von 3,20 DM, obwohl er nach der GebührenO nur 2,40 D M verlangen dürfte. Den Differenzbetrag behält er für sich. b) Abs. 2 setzt voraus, daß der Täter zu wenig auszahlt und zuviel bucht. Beispiel: Ein Bediensteter des Arbeitsamts zahlt an einen Arbeitslosen eine Unterstützung von 90,DM, obwohl dieser 100,- D M zu beanspruchen hätte. Den Differenzbetrag behält er für sich; gleichzeitig verbucht er, um die Tat zu verdecken, den richtigen Betrag. 3. öffentliche Kassen sind Kassen des Bundes, der Länder und Gemeinden sowie der Anstalten, Körperschaften und Stiftungen des öffentlichen Rechts. 4. Abgabe ist der Oberbegriff für Steuern, Gebühren und Beiträge. Erfaßt werden alle vermögensrechtlichen Leistungen, die der Staat, eine Gemeinde, Gebietskörperschaft
1022
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 353 a
oder sonstige Körperschaft des öffentlichen Rechts in Ausübung hoheitlicher Rechte den Bürgern auferlegen können. In Betracht kommen insbesondere Gebühren für Leistungen von Bahn und Post (vgl. R G 3, 87; 2 2 , 3 0 6 ; 52, 165), aber auch Gebühren auf dem Gebiet der öffentlichen Daseinsfürsorge (z. B. Müllgebühren u. a. m.). 5. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes (von denen er „weiß") bedingter Vorsatz nicht genügt (str., vgl. § 352 Anm. 6 m. Nachw.). Da es sich sowohl in Abs. 1 als auch in Abs. 2 um zweiaktige Delikte handelt (s. o. 2), muß der Vorsatz jeweils schon beim 1. Akt gegeben sein. Wenn z. B. ein Amtsträger zunächst nur aus Versehen eine zu hohe Gebühr berechnet und dann später, nachdem er seinen Irrtum erkannt hat, den zuviel erhobenen Betrag für sich behält, so liegt kein Fall des § 353, sondern nur Unterschlagung (§ 246) vor. 6. Für Teilnehmer beachte § 28 Abs. 1. 7. Der Versuch ist mangels Strafdrohung nicht strafbar. 8. Konkurrenzen: Wegen des Verhältnisses zu § 263 siehe § 352 Anm. 9. Im Verhältnis zu § 246 kommt je nach den Umständen des Einzelfalls Tateinheit oder Tatmehrheit in Betracht, da § 353 eine Zueignung tatbestandsmäßig nicht voraussetzt (vgl. B G H 2, 35; NJW 1961, 1171). Nach B G H (GrS) 14, 38 und NJW 1961, 1171 ist hierbei jedoch folgendes zu beachten: Eignet sich der Täter den zuviel erhobenen Betrag vorgefaßter Absicht entsprechend gleich zu, so liegt nur ein Vergehen gemäß § 353 vor; legt er das Geld jedoch zunächst in die von ihm verwaltete Kasse, so begeht er noch zusätzlich in Tateinheit Untreue und Unterschlagung. 9. Nebenfolgen siehe § 358.
§ 353 a
Vertrauensbruch im auswärtigen D i e n s t
( 1 ) W e r bei der Vertretung der Bundesrepublik D e u t s c h l a n d g e g e n ü b e r einer f r e m d e n Regierung, einer Staatengemeinschaft o d e r einer zwischenstaatlichen Einrichtung einer amtlichen A n w e i s u n g zuwiderhandelt o d e r in der Absicht, die Bundesregierung irrezuleiten, unwahre Berichte tatsächlicher Art erstattet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren o d e r mit Geldstrafe bestraft. (2) D i e Tat wird nur mit Ermächtigung der Bundesregierung verfolgt. 1. Täter kann auch ein Nichtbeamter sein, der die Bundesrepublik gegenüber einer fremden Regierung, einer Staatengemeinschaft oder einer zwischenstaatlichen Einrichtung vertritt. 2. Die Tathandlung besteht entweder im diplomatischen Ungehorsam oder in einer falschen Berichterstattung. 3. D e r subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei im Falle der falschen Berichterstattung die Absicht hinzukommen muß, die BReg irrezuleiten. Absicht ist der zielgerichtete Wille. 1023
§ 353 b
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im A m t e
4. Tateinheit ist mit § § 9 4 ff. möglich, außerdem mit § 109 d. 5. Wegen Ermächtigung siehe § 77 e. 6. Beachte § 358 (Nebenfolgen).
§ 353 b
Verletzung des Dienstgeheimnisses
(1) Wer ein Geheimnis, das ihm als 1. Amtsträger, 2. für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten oder 3. Person, die Aufgaben oder Befugnisse nach dem Personalvertretungsrecht wahrnimmt, anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist, unbefugt offenbart und dadurch wichtige öffentliche Interessen gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Hat der Täter durch die Tat fahrlässig wichtige öffentliche Interessen gefährdet, so wird er mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) Ist der Täter bei einem Gesetzgebungsorgan des Bundes oder eines Landes oder für ein solches Gesetzgebungsorgan tätig, so wird die Tat nur mit Ermächtigung des Präsidenten des Gesetzgebungsorgans verfolgt; ist der Täter sonst bei einer Behörde oder anderen amtlichen Stellen des Bundes oder für eine solche Behörde oder Stelle tätig, so wird die Tat nur mit Ermächtigung der obersten Bundesbehörde verfolgt. In anderen Fällen wird sie nur mit Ermächtigung der obersten Landesbehörde verfolgt. 1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift enthält ein echtes Amtsdelikt (vgl. § 11 Anm. II 4 a). Geschützt ist nicht nur das öffentliche Interesse an der Geheimhaltung bestimmter geheimhaltungsbedürftiger Vorgänge, sondern auch die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit als solche. Wegen der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift siehe BVerfG NJW 1970,1498 (Fall Paetsch) mit krit. Anm. Schmid J Z 1970,686. 2. Täter können sein a) Amtsträger ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 2), denen im militärischen Bereich nach § 48 Abs. 2 WStG nicht nur Offiziere und Unteroffiziere, sondern auch Mannschaften gleichstehen; b) für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 4); c) Personen, die Aufgaben oder Befugnisse nach dem Personalvertretungsrecht wahrnehmen (siehe hierzu § 203 Anm. IV 2). Nicht erforderlich ist, daß der Täter im Zeitpunkt der Tat noch Amtsträger usw. ist. Entscheidend ist allein, daß ihm das Geheimnis in seiner Eigenschaft als Amtsträger usw. anvertraut oder bekannt wurde (vgl. Mösl LK 5).
1024
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 353 b
3. Die Tathandlung besteht im unbefugten Offenbaren eines Geheimnisses, das dem Amtsträger usw. dienstlich anvertraut oder bekannt wurde. a) Dienstgeheimnisse und Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt sind und auf Grund besonderer Vorschriften oder Anordnungen oder ihrer Natur nach der Geheimhaltung bedürfen (vgl. RG 74, 110; Dreher 7; Lackner 3 a; Mösl LK 9). Geheimhaltungsbedürftig sind z. B. Ermittlungsverfahren (BGH 10, 276), Prüfungsaufgaben vor dem Beginn der Prüfung (RG 74, 112; BGH 11, 401) und dienstliche Beurteilungen (BGH 10, 108). Nicht geheimhaltungsbedürftig sind dagegen offenkundige Tatsachen (vgl. § 203 Anm. II 1 m. weit. Einzelheiten zum Geheimnisbegriff). b) Uber anvertraut worden und bekannt geworden siehe § 203 Anm. 2. c) Offenbaren ist jede Mitteilung an eine Person, die das Geheimnis noch nicht kennt. Die Form der Mitteilung (schriftlich, mündlich, durch Gewähren von Akteneinsicht) ist unerheblich. Über unbefugt ( = rechtswidrig) siehe § 203 Anm. IX. 4. Als Folge der Tat muß eine Gefährdung wichtiger öffentlicher Interessen eingetreten sein. Beispiele: Ein Behördenangestellter der Kriminalpolizei gibt den Inhalt eines vertraulichen Fernschreibens preis, um einem Beschuldigten rechtzeitig die Möglichkeit zur Flucht zu geben (BGH 10, 276). - Oder: Ein Angestellter eines Prüfungsamts teilt dem mit ihm befreundeten Studenten S vor Beginn des Referendarexamens den Inhalt der geplanten Klausurarbeiten mit, so daß S sich ohne Mühe auf die für seine spätere Laufbahn entscheidende Prüfung vorbereiten kann (vgl. RG 74, 110; BGH 11, 401); der Tatbestand entfällt dagegen, wenn das gleiche Täuschungsmanöver bei einer weniger wichtigen Prüfung begangen wird, z. B. bei einer Aufnahmeprüfung in die Realschule (BGH aaO.) oder bei einer Klassenarbeit. 5. Der subj. Tb. erfordert hinsichtlich des Geheimnischarakters und hinsichtlich des Offenbarens stets Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. Hinsichtlich der (konkreten) Gefährdung wichtiger öffentlicher Interessen (Anm. 4) in Abs. 1 S. 1 ist ebenfalls Vorsatz erforderlich, während bei Fahrlässigkeit der ermäßigte Strafrahmen des Abs. 1 S. 2 eingreift. 6. Wegen der Strafbarkeit des Versuchs siehe Abs. 2. 7. Für Teilnehmer beachte § 28 Abs. 1. 8. Die in Abs. 3 erwähnte Ermächtigung ist eine Prozeßvoraussetzung (vgl. § 77 e). „Bei" einer Behörde oder Stelle sind auch behördenfremde Personen tätig, die nach dem Personalvertretungsrecht Aufgaben oder Befugnisse wahrnehmen (z. B. Beauftragte der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände). 9. Konkurrenzen: Tateinheit ist möglich mit §§ 94-99, 203 und 258 a. Tatmehrheit kommt vor allem mit §§ 133, 242, 246 und 334 in Betracht. § 354 Abs. 1 geht vor. 10. Nebenfolgen siehe § 358. 33
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
1025
§ 353 c
§ 353 c
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
Unbefugte Weitergabe geheimer Gegenstände oder Nachrichten
(1) Wer, abgesehen von dem Fall des § 353 b, unbefugt Gegenstände, namentlich Schriften, Zeichnungen oder Modelle, die von einem Gesetzgebungsorgan des Bundes oder eines Landes oder einem seiner Ausschüsse oder von einer anderen amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung als geheimhaltungsbedürftig gekennzeichnet sind, oder deren wesentlichen Inhalt ganz oder zum Teil einem anderen mitteilt oder öffentlich bekanntmacht und dadurch wichtige öffentliche Interessen gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei. Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer unbefugt einen Gegenstand oder eine Nachricht an einen anderen gelangen läßt oder öffentlich bekanntmacht, zu deren Geheimhaltung er auf Grund des Beschlusses eines Gesetzgebungsorgans des Bundes oder eines Landes oder eines seiner Ausschüsse verpflichtet ist oder von einer anderen amtlichen Stelle unter Hinweis auf die Strafbarkeit der Geheimnisverletzung förmlich verpflichtet worden ist, und dadurch wichtige öffentliche Interessen gefährdet. (3) Der Versuch ist strafbar. (4) Erfolgt die Geheimhaltung auf Grund des Beschlusses eines Gesetzgebungsorgans oder eines seiner Ausschüsse, so wird die Tat nur mit Ermächtigung des Präsidenten des Gesetzgebungsorgans verfolgt; in anderen Fällen wird sie nur mit Ermächtigung der Bundesregierung verfolgt.
1. Die durch das 8. StrÄndG neu gefaßte Vorschrift setzt keine Amtseigenschaft voraus, ist also kein Amtsdelikt. Aus dem Schrifttum siehe Lüttger J Z 1969, 578, 581 und G A 1970, 129 sowie Laufhütte G A 1974, 52, 59. 2. Abs. 1 schützt Gegenstände (insbesondere die beispielhaft aufgeführten Schriften, Zeichnungen oder Modelle), die von der hierfür zuständigen Stelle formell als geheimhaltungsbedürftig gekennzeichnet worden sind, vor unbefugten Mitteilungen und öffentlicher Bekanntmachung. Erfaßt werden alle Gegenstände, die nach den einschlägigen Verschlußsachen-Anweisungen den Vermerk „streng geheim", „geheim", „VS-vertraulich" oder „vertraulich i. S. der Geschäftsordnung" (§ 2 GeheimschutzO des BT v. 24. 8. 1964, BGBl. I 713) tragen. Nicht ausreichend ist dagegen der Geheimhaltungsgrad „VS - nur für den Dienstgebrauch" (vgl. S. 28 BT-Drucks. V/2860; Dreher 2; Mösl LK 2; a. A . Lüttger G A 1970, 137). Unerheblich ist, ob der als geheim bezeichnete Gegenstand auch materiell geheimhaltungsbedürftig ist. Tatbestandsmäßig ist die Mitteilung bzw. öffentliche Bekanntmachung des geheimen Gegenstandes allerdings nur, wenn hierdurch wichtige öffentliche Interessen (konkret) gefährdet worden sind (vgl. § 353 b Anm. 4). Zu beachten ist auch die Subsidiaritätsklausel im Verhältnis zu § 353 b. Beispiel: Wenn der Polizeibeamte P den Inhalt eines als geheim bezeichneten Einsatzbefehls seinem Freund F mitteilt und dieser wiederum die von dem Einsatz betroffenen X, Y und Z warnt, wodurch die Aktion schließlich scheitert, so macht sich P als Amtsträger nach § 353 b
1026
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 353 d
strafbar, während für F § 353 c Abs. 1 eingreift. Daneben kommt in Tateinheit § 258 in Betracht. 3. Abs. 2 schützt über Abs. 1 hinaus auch Nachrichten. Täter kann jedoch nur ein besonders Verpflichteter sein. Beispiel: Dem Bauunternehmer A ist von einer staatlichen Behörde die Durchführung eines großen Bauvorhabens übertragen worden. Bei der Besprechung wurde dem A ausdrücklich zur Pflicht gemacht, die Angelegenheit als „geheim" zu behandeln. Trotzdem macht A von dem geplanten Projekt seinem Freund B Mitteilung. 4. Der subj. Tb. erfordert sowohl in Abs. 1 als auch in Abs. 2 Vorsatz. Dieser muß sich auch auf die Gefährdung wichtiger öffentlicher Interessen erstrecken. Eine dem § 353 b Abs. 1 S. 2 entsprechende Strafdrohung für fahrlässige Gefährdung öffentlicher Interessen fehlt. 5. Wegen der Strafbarkeit des Versuchs siehe Abs. 2. 6. Konkurrenzen: Gegenüber § 353 b ist § 353 c subsidiär (vgl. die in Abs. 1 enthaltene Subsidiaritätsklausel). Auch die §§ 94-98 gehen vor (vgl. Dreher 8; Mösl LK 8). Tateinheit ist dagegen möglich mit §§ 99, 203, 258, 258 a. 7. Die in Abs. 4 genannte Ermächtigung ist eine Prozeßvoraussetzung (vgl. § 77 e). 8. Nebenfolgen siehe § 358.
§ 353 d
Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen
Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. entgegen einem gesetzlichen Verbot über eine Gerichtsverhandlung, bei der die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, oder über den Inhalt eines die Sache betreffenden amtlichen Schriftstücks öffentlich eine Mitteilung macht, 2. entgegen einer vom Gericht auf Grund eines Gesetzes auferlegten Schweigepflicht Tatsachen unbefugt offenbart, die durch eine nichtöffentliche Gerichtsverhandlung oder durch ein die Sache betreffendes amtliches Schriftstück zu seiner Kenntnis gelangt sind, oder 3. die Anklageschrift oder andere amtliche Schriftstücke eines Strafverfahrens, eines Bußgeldverfahrens oder eines Disziplinarverfahrens, ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist. 1. Die durch das EGStGB in Anlehnung an § 453 E 1962 neu eingefügte Vorschrift enthält eine Anzahl von strafbewehrten Verboten zum Schutz der Rechtspflege, die nach früherem Recht an verschiedenen Stellen geregelt waren (vgl. z. B. das durch Art. 287 Nr. 30 EGStGB aufgehobene Gesetz betr. die unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindenden Gerichtsverhandlungen v. 5. 4. 1888, RGBl. S. 133). Da die Täterschaft 33'
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§ 353 d
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
keine Amtseigenschaft voraussetzt (der Täter muß auch keine für den öffentlichen Dienst besonders verpflichtete oder sonst amtsnahe Person sein), handelt es sich bei § 353 d um kein Amtsdelikt 2. Nr. 1 verfolgt denselben Zweck, den auch die Vorschriften über den Ausschluß der Öffentlichkeit anstreben. a) Erfaßt werden nur solche Mitteilungen, die sich auf eine Gerichtsverhandlung beziehen, bei der die Öffentlichkeit ausgeschlossen war. Gemeint sind nur die Fälle, in denen die Öffentlichkeit auf Grund besonderer gerichtlicher Anordnung ausgeschlossen war (siehe hierzu §§ 171 a und 172 GVG). Nicht hierher gehören dagegen solche Verhandlungen, die allgemein kraft Gesetzes nichtöffentlich sind, z. B. in den Fällen der §§ 170, 171 Abs. 2 GVG und § 48 Abs. 1 JGG (vgl. RegE S. 283 BT-Drucks. 7/550). Diese Fälle unterliegen unveiständlicherweise auch nicht dem Anwendungsbereich der Nr. 2 (s. u. Anm. 3 a). b) Eine weitere Beschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift ergibt sich daraus, daß nicht jeder Bericht über eine Verhandlung, bei der die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, strafrechtlich relevant ist. Tatbestandsmäßig sind vielmehr nur solche Berichte, die entgegen einem gesetzlichen Verbot erfolgen. Als blankettausfüllende Norm ist in diesem Zusammenhang § 174 Abs. 2 GVG zu beachten, wonach Presse, Rundfunk und Fernsehen keine Berichte über die Verhandlung und den Inhalt eines die Sache betreffenden amtlichen Schriftstücks veröffentlichen dürfen, soweit die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Staatssicherheit ausgeschlossen worden ist. Soweit blankettausfüllende Normen dieser Art fehlen (z. B. in den Fällen der §§ 171 a und 172 Nr. 2-4 GVG) kommt allenfalls eine Strafbarkeit nach Nr. 2 in Betracht. c) Soweit sich die Tat auf ein die Sache betreffendes amtliches Schriftstück (z. B. Anklageschrift, Vemehmungsprotokolle, Urteil) bezieht, ist nicht nur dessen wörtliche und vollständige Veröffentlichung mit Strafe bedroht; es genügt vielmehr die Wiedergabe des wesentlichen Inhalts (vgl. RegE S. 283 BT-Drucks. 7/550). 3. Auch Nr. 2 verfolgt dieselben Zwecke, die mit den Vorschriften über die NichtÖffentlichkeit bestimmter Verhandlungen erreicht werden sollen. a) Strafrechtlich relevant, d. h. tatbestandsmäßig, ist ein Bericht über eine nichtöffentliche Verhandlung nur, wenn der Täter hierbei einer vom Gericht kraft Gesetzes auferlegten Schweigepflicht zuwiderhandelt. Solche Schweigepflichten können den während der Verhandlung anwesenden Personen nach § 174 Abs. 3 GVG dann auferlegt werden, wenn die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Staatssicherheit oder aus den in § 172 Nr. 2 und 3 GVG genannten Gründen (Erörterung von Umständen aus dem persönlichen Lebensbereich bzw. Erörterung von Privatgeheimnissen) ausgeschlossen wurde. Unverständlicherweise nicht geschützt sind dagegen Geheimnisse, die in einer allgemein kraft Gesetzes nichtöffentlichen Verhandlung (z. B. in den Fällen der §§ 170, 171 Abs. 2 GVG und § 48 Abs. 1 JGG) erörtert worden sind (vgl. Dreher 5; a. A. hier bei Voraufl.). b) Der Inhalt der Mitteilung muß dem Täter unmittelbar durch die nichtöffentliche Verhandlung (Anm. 2 a) oder ein die Sache betreffendes amtliches Schriftstück (Anm. 2 c) zur Kenntnis gelangt sein. Nicht erfaßt wird dagegen die Weitergabe fremder Berichte (Dreher 5). 1028
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 353 d
c) Als Tathandlung genügt jedes Offenbaren (vgl. § 353 b Anm. 3 c) der geheimzuhaltenden Tatsachen. Abweichend von der Regelung der Nr. 1 ist eine öffentliche Begehung nicht erforderlich. d) Unbefugt ist das Offenbaren, wenn der Täter sich auf keinen Rechtfertigungsgrund, z. B. eine gesetzliche Aussagepflicht, berufen kann (siehe auch § 203 Anm. IX). e) Täter kann nur ein durch den Schweigebefehl Verpflichteter sein, z. B. Zeugen oder Personen, denen nach § 175 Abs. 2 GVG der Zutritt gestattet worden ist, aber auch die Mitglieder des Gerichts selbst (Lenckner in Schönke-Schröder 27). Für Teilnehmer beachte § 28 Abs. 1. 4. Primäres Anliegen der Nr. 3 ist es, die Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten, insbesondere der Laienrichter und Zeugen, durch strafrechtliche Sanktionen zu schützen (RegE S. 283 BT-Drucks. 7/550; Hamm NJW 1977, 967). Dieses Anliegen ist nicht neu. Bereits vor Inkrafttreten des EGStGB enthielten die Pressegesetze der Länder Verbotsnormen, denenzufolge die Anklageschrift und andere amtliche Schriftstücke eines Straf- oder Bußgeldverfahrens (teilweise auch eines Disziplinarverfahrens) nicht veröffentlicht werden durften. Durch die jetzt in § 353 d Nr. 3 getroffene Regelung konnten die einschlägigen Strafbestimmungen der Landespressegesetze in Art. 292 EGStGB aufgehoben werden. a) Dem Veröffentlichungsverbot unterliegen die Anklageschrift (§ 200 StPO) und andere amtliche Schriftstücke (s. o. 2 c) eines Strafverfahrens, Bußgeldverfahrens oder Disziplinarverfahrens, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist. „Erörtert" ist ein Schriftstück, wenn es prozeßordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt worden ist, z. B. wenn der StA gemäß § 243 Abs. 3 StPO den Anklagesatz verlesen hat (RegE S. 284 BT-Drucks. 7/.550; Lenckner in Schönke-Schröder 55; a. A. Dreher 6). Wortgetreue Wiedergabe eines Schriftstücks ist nicht erforderlich; es genügt, daß der wesentliche Inhalt zur Sprache gekommen ist (RegE 5. 284 BT-Drucks. 7/550). b) Die Tathandlung besteht wie in Nr. 1 in der öffentlichen Mitteilung des amtlichen Schriftstücks. Das Verbot ist nicht auf schriftliche Veröffentlichungen (insbesondere Druckerzeugnisse) beschränkt, sondern umfaßt auch Veröffentlichungen durch Funk und Film (RegE S. 283 BT-Drucks. 7/550). Unerheblich ist, ob das Schriftstück ganz oder in wesentlichen Teilen veröffentlicht wird. Zu beachten ist jedoch, daß nur die wörtliche Wiedergabe strafbar ist. Die Presse ist deshalb nicht gehindert, in Vorberichten auf die von der StA erhobene Anklage und den Gegenstand der bevorstehenden Hauptverhandlung hinzuweisen. § 353 d enthält weder eine Beschränkung der Berichterstattung noch ein befristetes Schweigegebot für alle Vorgänge, mit denen sich die Anklageschrift oder andere Schriftstücke befassen (RegE S. 285 BT-Drucks. 7/550). Nicht tatbestandsmäßig ist deshalb die Bekanntgabe des Anklagesatzes im Rahmen einer von der Staatsanwaltschaft einberufenen Pressekonferenz (Hamm NJW 1977, 967). c) Die Rechtswidrigkeit kann entfallen, "wenn die Veröffentlichung prozessual geboten ist, z. B. im Falle eines Steckbriefs oder bei öffentlicher Zustellung. S. Der subj. Tb. erfordert in allen drei Tatbeständen Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. 1029
§ 354
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
6. Als Tatbeteiligte kommen auch die selbst mit dem Verfahren befaßten Amtsträger in Betracht, z. B. ein Staatsanwalt, der einem Reporter die Anklageschrift zur Veröffentlichung überläßt. Nicht hierher gehört der Fall, daß ein Richter, Staatsanwalt oder Verteidiger die Anklageschrift einem Berichterstatter nur zur Information überläßt, damit dieser einen nicht zu beanstandenden Vorbericht veröffentlichen oder sich auf die Hauptverhandlung vorbereiten kann (siehe auch Hamm N J W 1977, 967 betr. Bekanntgabe des Anklagesatzes auf einer Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft). 7. Konkurrenzen: Tateinheit ist möglich mit §§ 94 ff., 203, 353 b und 353 c.
§ 354
Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses
(1) Wer unbefugt einem anderen eine Mitteilung Uber Tatsachen macht, die dem Post- und Fernmeldegeheimnis unterliegen und die ihm als Bediensteten der Post bekanntgeworden sind, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer als Bediensteter der Post unbefugt 1. eine Sendung, die der Post zur Übermittlung auf dem Post- oder Fernmeldeweg anvertraut worden und verschlossen ist, öffnet oder sich von ihrem Inhalt ohne Öffnung des Verschlusses unter Anwendung technischer Mittel Kenntnis verschafft, 2. eine der Post zur Übermittlung auf dem Post- oder Fernmeldeweg anvertraute Sendung unterdrückt oder 3. eine der in Absatz 1 oder in den Nummern 1 oder 2 bezeichneten Handlungen gestattet oder fördert. (3) Die Absätze 1 und 2 gelten entsprechend für Personen, die 1. von der Post oder mit deren Ermächtigung mit postdienstlichen Verrichtungen betraut sind oder 2. eine nicht der Post gehörende, dem öffentlichen Verkehr dienende Fernmeldeanlage beaufsichtigen, bedienen oder bei ihrem Betrieb tätig sind. Absatz 1 gilt entsprechend auch für Personen, die mit der Herstellung von Einrichtungen der Post oder einer nicht der Post gehörenden, dem öffentlichen Verkehr dienenden Fernmeldeanlage oder mit Arbeiten daran betraut sind. (4) Wer unbefugt einem anderen eine Mitteilung über Tatsachen macht, die ihm als außerhalb des Postbereichs tätigem Amtsträger auf Grund eines befugten Eingriffs in das Post- und Fernmeldegeheimnis bekanntgeworden sind, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (5) Dem Post- und Fernmeldegeheimnis im Sinne der Absätze 1 und 4 unterliegen der Post- und Fernmeldeverkehr bestimmter Personen sowie der Inhalt von Postsendungen und Telegrammen und von solchen Gesprächen und Fernschreiben, die über dem öffentlichen Verkehr dienende Fernmeldeanlagen abgewickelt werden. 1030
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 354
1. Die durch das EGStGB neu gefaßte Vorschrift tritt an die Stelle der ehemaligen §§ 354 und 355 und schützt das Post- und Fernmeldegeheimnis. Durch die Einbeziehung postfremder Personen (vgl. Abs. 3 und 4) wurde der Täterkreis erheblich ausgedehnt. Aber auch sonst wurde der Anwendungsbereich der Vorschrift gegenüber dem früheren Recht erweitert. 2. Abs. 1 schützt das Post- und Fernmeldegeheimnis der einzelnen Teilnehmer am Postund Fernmeldeverkehr vor Indiskretionen. a) Über den Inhalt des Post- und Fernmeldegeheimnisses siehe Abs. 5. Der Begriff des Postverkehrs umfaßt auch die im Rahmen des Postscheck- und Postsparkassenverkehrs beförderten Sendungen (Zahlkarten, Zahlungsanweisungen, Mitteilungen zwischen Absender, Empfänger und Postamt), aber nicht den Stand des Postscheck- oder Postsparguthabens (RegE S. 286 BT-Drucks. 7/550). Dieses fällt nicht unter den Begriff des Postund Fernmeldegeheimnisses, weil das Postscheck- und Postsparkassengeheimnis dem strafrechtlich nicht besonders geschützten Bankgeheimnis gleichsteht und die Verpflichtung der Bundespost zur Geheimhaltung insoweit den Pflichten der Banken und Sparkassen entspricht (RegE aaO.). Nach § 354 Abs. 2 Nr. 1 strafbar ist jedoch, wer als Postbediensteter unbefugt einen Postscheckbrief öffnet und sich auf diese Weise Kenntnis von dem Kontostand des Teilnehmers am Postscheckdienst verschafft (dasselbe würde allerdings auch dann gelten, wenn jemand einen der Post zur Beförderung anvertrauten erschlossenen Kontoauszug einer Bank oder Sparkasse öffnet). Dem Post- und Fernmeldegeheimnis unterliegt nicht nur der Inhalt der Postsendungen, sondern bereits die Tatsache, daß ein bestimmter Post- oder Fernmeldeverkehr stattgefunden hat. Tatbestandsmäßig handelt deshalb z. B. ein Briefträger, der seinen Freunden erzählt, von wem ein bestimmter Postkunde seines Zustellungsbezirks öfters Briefe oder Pakete erhält. Zu den gegen Indiskretion geschützten Personen gehören nicht nur natürliche Personen, sondern auch juristische Personen, Behörden und sonstige Stellen. b) Täter kann jeder sein, dem die dem Post- und Fernmeldegeheimnis unterliegende Tatsache in seiner Eigenschaft als Bediensteter der Post bekanntgeworden ist. Bediensteter der Post ist jeder, der bei der Bundespost als Beamter, Angestellter oder Arbeiter in einem Dienstverhältnis steht. Nicht erforderlich ist, daß er im Einzelfall Aufgaben wahrnimmt, die aus der Staatsgewalt abgeleitet sind und staatlichen Zwecken dienen. Nicht erforderlich ist weiter, daß der Täter noch im Zeitpunkt der Tathandlung Bediensteter der Post ist; es genügt, daß er es zu einem Zeitpunkt war, als ihm die geheimhaltungsbedürftige Tatsache bekannt wurde. Über bekanntgeworden siehe § 203 Anm. II 2. c) Die Tathandlung besteht in der Mitteilung geheimhaltungsbedürftiger Tatsachen an andere. Die Form der Mitteilung (schriftlich, mündlich usw.) ist unerheblich. Insbesondere wird keine öffentliche Mitteilung vorausgesetzt. d) Unbefugt, d. h. rechtswidrig, ist die Mitteilung, wenn der Täter sich auf keinen Rechtfertigungsgrund berufen kann. Die Rechtswidrigkeit kann ähnlich wie bei der in § 201 unter Strafe gestellten Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes (vgl. § 201 Anm. 6) insbesondere entfallen durch eine Weitergabe aufgrund prozessualer Zwangsmaßnahmen (vgl. z. B. §§ 99, 100 StPO für die Beschlagnahme von Post- und Fernmeldesendungen; §§ 100 a, 100 b StPO und § 1 des Ges. zu Art. 10 GG v. 13. 8. 1968 [BGBl. I 949] für Eingriffe zur Abwehr von drohenden Gefahren für die freiheitliche demokratische 1031
§ 354
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
Grundordnung u. a., § 12 FAG für das Recht der Gerichte und Staatsanwaltschaft auf Auskunft über den Inhalt von Telefongesprächen sowie § 5 Abs. 3 PostG für Handlungen zur Verfolgung von im Zusammenhang mit dem Postdienst begangenen Straftaten u. a.). 3. Abs. 2 schützt die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Post- und Fernmeldeverkehrs vor bestimmten Eingriffen durch Bedienstete der Post. Täter kann nur ein Bediensteter der Post (s. o. 2 b) sein, der die Tat „als" Bediensteter der Post begeht. Diese Voraussetzungen liegen nur dann vor, wenn der Täter die Tat im Zusammenhang mit seiner Stellung als Bediensteter der Post begeht, d. h. wenn er die ihm als Bediensteten der Post zustehenden tatsächlichen Möglichkeiten zur Einwirkung auf die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Post- und Fernmeldeverkehrs pflichtwidrig ausnutzt (vgl. RegE S. 285 BTDrucks. 7/550). Nicht hierher gehören dagegen solche Handlungen, die in keiner Beziehung zur Stellung des Täters als Bediensteten der Post stehen, auch wenn sie während der Dauer des Dienstverhältnisses begangen wurden, z. B. wenn sich ein Postbediensteter während seines Urlaubs an einem Überfall auf einen Geldtransport der Post beteiligt. a) Nr. 1 schützt Sendungen jeder Art, die der Post zur Übermittlung auf dem Post- und Fernmeldeweg anvertraut worden sind und entweder schon zu diesem Zeitpunkt verschlossen waren (wie dies z. B. bei Briefen und Paketen der Fall ist) oder erst danach von der Post verschlossen worden sind (wie dies z. B. bei Telegrammen der Fall ist). Nicht hierher gehören Postkarten, die in einem offenen Umschlag befindlichen Drucksachen und Warenproben sowie die unter Kreuzband versandten Druckschriften. Anvertraut sind alle Sendungen, die ordnungsgemäß in den Postverkehr gelangt sind (auch sog. Fangbriefe, RG 65,146; 69, 271; h. L.). Die Tathandlung besteht im öffnen der verschlossenen Sendung. Dem gleich steht der Fall, daß der Täter sich ohne öffnen des Verschlusses unter Anwendung technischer Mittel, z. B. durch Verwendung von Sonden oder Strahlen, Kenntnis vom Inhalt verschafft. Nicht ausreichend ist dagegen das bloße Abtasten der verschlossenen Sendung (siehe jedoch § 5 Abs. 1 Nr. 1 PostG, wonach das Kenntnisverschaffen auch ohne Anwendung technischer Mittel schlechthin untersagt ist). b) Schutzobjekte der Nr. 2 sind Postsendungen jeder Art, insbesondere Briefe, Pakete, Warensendungen, aber auch Drucksachen, Postkarten und Telegramme. Über „anvertraut" siehe oben 3 a. Unterdrückt ist eine Sendung, wenn sie dem ordnungsgemäßen Postverkehr entzogen wird, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob dies für Dauer oder nur vorübergehend geschieht und ob der dienstliche Gewahrsam aufgehoben wird oder bestehen bleibt (vgl. RG 52, 248; 72, 193, 197; BGH 19, 32; CeUe NJW 1957, 1290; Dreher 16; Lackner 4 a; Schäfer LK 18 ff.; RegE S. 285 BT-Drucks. 7/550). Tatbestandsmäßig handelt deshalb auch ein Briefträger, der aus Bequemlichkeit oder sonstigen Gründen eine Sendung von der nächsten Zustellung ausschließt und im Sortierraum der Post oder bei sich zu Hause bis zu einem späteren Zeitpunkt aufbewahrt (KG JR 1977, 426). Nicht ausreichend ist jedoch verzögertes Austragen, z. B. wenn ein Briefträger während der Zustellung längere Pausen in Gaststätten einlegt. c) Anliegen der Nr. 3 ist es, Postbedienstete, die das öffnen, Kenntnisverschaffen, Mitteilen oder Unterdrücken von Postsendungen durch andere Personen gestatten oder fördern, als Täter zu erfassen, so daß eine Strafmilderung nach Beihilfegrundsätzen (vgl. § 27 Abs. 2 i. V. mit § 49 Abs. 1) entfällt. Gestatten setzt keine ausdrückliche Erklärung voraus; ausreichend ist vielmehr jedes Dulden durch pflichtwidrige Unterlassung (vgl. 1032
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 354
Schäfer LK 24). Fördern ist jede sonstige Form der Beihilfe, durch die es einem anderen ermöglicht wird, eine in Nr. 1 unter Strafe gestellte Handlung zu begehen. Ist der andere ebenfalls Postbediensteter, so liegt ein Fall der Mittäterschaft vor. 4. Abs. 3 erweitert den für Taten nach Abs. 1 und Abs. 2 in Betracht kommenden Täterkreis auf bestimmte Gruppen postfremder Personen, die auf Grund ihrer beruflichen Tätigkeit die Möglichkeit haben, in den dienstlichen Geheimbereich der Post einzudringen (RegE S. 285 BT-Drucks. 7/550). a) Unter Nr. 1 fallen insbesondere Angehörige der Posthalter, die von diesen zu gelegentlichen Vertretungen für kurze Zeit oder zu Hilfeleistungen im Posthalterdienst herangezogen werden, ferner Bundesbahnbedienstete, denen neben ihrer Bahntätigkeit zugleich die Beförderung von verschlossenen Postsachen obliegt (vgl. RegE S. 285 BTDrucks. 7/550). b) Unter Nr. 2 fallen z. B. die Bediensteten der bundesbahneigenen Telegraphenanlagen, über die auch Telegramme der Reisenden befördert werden, außerdem das Personal der Seefunkstellen der auf hoher See befindlichen Schiffe (vgl. RegE S. 286 BT-Drucks. 7/550). Nicht dem „öffentlichen Verkehr" dienen dagegen die Fernschreibanlagen von Polizei und Staatsanwaltschaft, für die im Falle eines Geheimnisverrats § 353 b in Betracht kommt. c) Abs. 3 Satz 2 bezieht sich vor allem auf Angestellte und Arbeiter von Privatfirmen, die Post- und Fernmeldeanlagen für die Post einrichten oder im Auftrag der Post Reparaturen durchführen. 5. Abs. 4 enthält ein echtes Amtsdelikt. Täter kann nur ein außerhalb des Postbereichs tätiger Amtsträger ( § 1 1 Abs. 1 Nr. 2) sein. Im militärischen Bereich stehen Offiziere und Unteroffiziere den Amtsträgem gleich (§ 48 Abs. 1 WStG). Die Vorschrift bezieht sich auf alle befugten Eingriffe in das Post- und Femmeldegeheimnis. Wegen der Befugnis zu solchen Eingriffen siehe § 201 Anm. 6 d, § 202 Anm. 7 sowie oben Anm. 3. Unbefugte Eingriffe in das Post- und Femmeldegeheimnis seitens einer nicht zum Täterkreis des § 354 Abs. 1 bis 3 gehörenden Person werden durch § 201 und § 202 erfaßt. Tathandlung ist die Mitteilung der durch den befugten Eingriff in das Post- und Femmeldegeheimnis bekanntgewordenen Tatsache. Unerheblich ist dabei, ob es sich bei der Tatsache materiell um ein Privatgeheimnis i. S. von § 203 (siehe dort Anm. II 1) oder um ein Dienstgeheimnis i. S. von § 353 b (siehe dort Anm. 3 a) handelt. Unerheblich ist weiter, ob der Täter den befugten Eingriff selbst vorgenommen hat oder ob er ihn durch Postbedienstete hat vornehmen lassen. Es genügt, daß dem Täter die Tatsache im dienstlichen Bereich als Folge des Eingriffs bekanntgeworden ist (vgl. RegE S. 286 BT-Drucks. 7/550). 6. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. 7. Da alle Alternativtatbestände zur Begründung der Täterschaft bestimmte Sonderpflichten voraussetzen, ist für Teilnehmer § 28 Abs. 1 zu beachten. Soweit § 354 einen Sonderfall anderer, milderer Vorschriften darstellt (vgl. z. B. §§ 133, 201, 274 Abs. 1 Nr. 1), gilt für Außenstehende § 28 Abs. 2. 8. Der Versuch ist nicht mit Strafe bedroht. 34
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
1033
§ 355
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
9. Konkurrenzen: Abs. 1 geht als die speziellere Regelung dem § 353 b vor. Bei Offenbarung von Privatgeheimnissen ist Tateinheit mit § 203 Abs. 2 Nr. 1 möglich. Tateinheit ist außerdem mit §§ 94 ff. möglich. Abs. 2 geht gegenüber §§ 133 (KG JR 1977, 426), 202 und 274 Nr. 1 als die speziellere Regelung vor. Tateinheit ist möglich mit §§ 242 und 246. 10. Nebenfolgen siehe § 358.
§ 355
Verletzung des Steuergeheimnisses
(1) Wer unbefugt 1. Verhältnisse eines anderen, die ihm als Amtsträger a) in einem Verwaltungsverfahren oder einem gerichtlichen Verfahren in Steuersachen, b) in einem Strafverfahren wegen einer Steuerstraftat oder in einem Bußgeldverfahren wegen einer Steuerordnungswidrigkeit, c) aus anderem Anlaß durch Mitteilung einer Finanzbehörde oder durch die gesetzlich vorgeschriebene Vorlage eines Steuerbescheides oder einer Bescheinigung über die bei der Besteuerung getroffenen Feststellungen bekanntgeworden sind, oder 2. ein fremdes Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, das ihm als Amtsträger in einem der in Nummer 1 genannten Verfahren bekanntgeworden ist, offenbart oder verwertet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Den Amtsträgern im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich 1. die für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten, 2. amtlich zugezogene Sachverständige und 3. die Träger von Ämtern der Kirchen und anderen Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts. (3) Die Tat wird nur auf Antrag des Dienstvorgesetzten oder des Verletzten verfolgt. Bei Taten amtlich zugezogener Sachverständiger ist der Leiter der Behörde, deren Verfahren betroffen ist, neben dem Verletzten antragsberechtigt. 1. Die durch das EGStGB neu eingefügte Voischrift enthält einen Sonderfall der in § 353 b unter Strafe gestellten Verletzung des Dienstgeheimnisses. Geschütztes Rechtsgut ist einerseits das Geheimhaltungsinteresse des Steuerpflichtigen, andererseits aber auch das Besteuerungsinteresse (vgl. RegE S. 287 BT-Drucks. 7/550 unter Bezugnahme auf RG 65,45). Die Tat ist ein echtes Amtsdelikt. 2. Der Täterkreis umfaßt in erster Linie Amtsträger (§11 Abs. 1 Nr. 2), denen nach Abs. 2 die für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten (§11 Abs. 1 Nr. 4), amtlich zugezogene Sachverständige (und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie förmlich
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Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 355
verpflichtet sind) sowie Träger von kirchlichen Ämtern und Ämtern anderer Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts gleichgestellt sind. Unerheblich ist, ob der Täter im Zeitpunkt der unbefugten Offenbarung oder Verwertung noch Amtsträger oder in einer nach Abs. 2 gleichwertigen Rechtsstellung war; entscheidend ist allein, daß diese Voraussetzungen zu dem Zeitpunkt vorlagen, als der Täter von der geheimhaltungsbedürftigen Tatsache Kenntnis erlangt hat. 3. Geheimhaltungsbedürftig sind nach Abs. 1 Nr. 1 die Verhältnisse eines anderen. Zu den Verhältnissen gehören insbesondere Einkommens- und Vermögensverhältnisse, aber auch Vorstrafen, Gesundheit und körperliche Leistungsfähigkeit. Ein „anderer" ist nicht nur der jeweilige Steuerpflichtige, gegen den sich das Verfahren richtet, sondern auch andere Personen, die in dem Verfahren erwähnt werden, z. B. Personen, denen der Steuerpflichtige Unterhalt leistet. Zu den Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (Abs. 1 Nr. 2) gehören z. B. Angaben über das Betriebskapital, die Produktionskapazität und Investitionspläne. 4. Die Tathandlung besteht im Offenbaren oder Verwerten der bekanntgewordenen geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen. Über offenbaren siehe § 203 Anm. VII, über verwerten § 204 Anm. 4. 5. Unbefugt, d. h. rechtswidrig, handelt, wer sich nicht auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann. Hierbei sind zunächst die in den §§ 30 Abs. 4 und 31 AO getroffenen Sonderregelungen zu beachten, die allerdings einen Rückgriff auf andere Rechtfertigungsgründe (z. B. §§ 32, 34 StGB) nicht ausschließen (Dreher 14; Lackner 5). Nach § 30 Abs. 4 AO ist die Offenbarung der erlangten Kenntnisse zulässig, soweit sie a) der Durchführung eines Verfahrens i. S. des Abs. 2 Nr. 1 a) oder b) dient (siehe hierzu Winter MDR 1976,977); b) durch Gesetz ausdrücklich zugelassen ist (vgl. z.B. §§ 7 Abs. 1 c PassG, 10 Abs. 2 AuslG, 117 BSozialhilfeG, 144 Abs. 2 ArbeitsförderungsG); c) mit Zustimmung des Betroffenen erfolgt; d) der Durchführung eines allgemeinen Strafverfahrens dient und die Kenntnisse in einem Steuerstrafverfahren erlangt sind (Einzelheiten Abs. 4 Nr. 4 aaO); e) im öffentlichen Interesse zwingend geboten erscheint, insbesondere zur Aufklärung von Verbrechen, vorsätzlichen Vergehen gegen Leib und Leben oder gegen den Staat und seine Einrichtungen (Abs. 4 Nr. 5 a aaO), zur Verfolgung bestimmter Wirtschaftsvergehen (Abs. 4 Nr. 5 b aaO) sowie zur Richtigstellung in der Öffentlichkeit verbreiteter unwahrer Tatsachen, die geeignet sind, das Vertrauen in die Verwaltung erheblich zu erschüttern (Abs. 4 Nr. 5 c aaO). Vorsätzlich falsche Angaben des Betroffenen dürfen den Strafverfolgungsbehörden stets offenbart werden (§30 Abs. 5 AO). Fälle zulässiger Amtshilfe enthält § 31 AO. 6. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. 7. Für Teilnehmer beachte § 28 Abs. 1. 8. Nach Abs. 3 ist die Tat nur auf Antrag verfolgbar (Prozeßvoraussetzung). Über das Antragsrecht des Verletzten siehe § 77, über das Antragsrecht des Dienstvorgesetzten siehe § 77 a. 34'
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§ 356
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
9. Konkurrenzen: Gegenüber §§ 203, 204 geht § 355 als die speziellere Regelung vor. Mit §§ 353 b und 353 d ist wegen der Verschiedenartigkeit der geschützten Rechtsgüter Tateinheit möglich (Dreher 17; Lackner 6; a. A. noch die Voraufl.). 10. Nebenfolgen siehe § 358.
§ 356
Parteiverrat
(1) Ein Anwalt oder ein anderer Rechtsbeistand, welcher bei den ihm in dieser Eigenschaft anvertrauten Angelegenheiten in derselben Rechtssache beiden Parteien durch Rat oder Beistand pflichtwidrig dient, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Handelt derselbe im Einverständnis mit der Gegenpartei zum Nachteil seiner Partei, so tritt Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren ein. 1. D e r Unrechtsgehalt des Parteiverrats besteht nicht - jedenfalls nicht hauptsächlich - in der Benachteiligung des Auftraggebers, sondern darin, daß das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Berufstreue des Rechtsbeistands erschüttert wird ( B G H 15, 336). Die Einwilligung des Auftraggebers ist daher grundsätzlich unbeachtlich (Einzelheiten vgl. Anm. 3 d). Lediglich im Falle des Abs. 2 liegt der Schwerpunkt des Unrechtsgehalts in der Benachteiligung der Interessen des Auftraggebers. 2. Als Täter kommen nur Rechtsanwälte und Rechtsbeistände in Betracht, die als InteresKonkursverwalter. senvertreter einer Partei auftreten. Hieran fehlt es z. B. bei einem Dieser hat nicht die Interessen einer bestimmten Partei, sondern vielfältige Aufgaben wahrzunehmen, für deren Erfüllung er allen Beteiligten verantwortlich ist (§ 82 KO). Es fehlt die einseitige Bindung an die rechtlichen Belange einer bestimmten Person oder Personengruppe und damit das spezifische, durch § 356 geschützte Vertrauensverhältnis ( B G H 13, 231). Auch bei einem sog. Syndikusanwalt liegen die Voraussetzungen des § 356 nicht vor (vgl. Stgt NJW 1968, 1975). Zu den „anderen Rechtsbeiständen" gehören z. B. Justizbeamte und Referendare, die einer Partei nach § 116 Z P O als Armenvertreter beigeordnet sind, außerdem Prozeßagenten und Rechtsbeistände nach dem RBeratG (vgl. Lackner 1; Welzel 525; a. A. Bremen NJW 1967, 2418; Dreher 2). Kein Rechtsbeistand ist der Vormund ( B G H 24, 191). 3. Die Handlung besteht darin, daß der Anwalt bzw. Rechtsbeistand in derselben Rechtssache beiden Parteien durch Rat oder Beistand pflichtwidrig dient. a) Unter dem Begriff Rechtssache sind alle Rechtsangelegenheiten zu verstehen, bei denen mehrere Beteiligte mit entgegengesetzten Interessen einander gegenüberstehen ( B G H 5, 301; 18, 192). In Betracht kommen vor allem bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten (Zivilsachen), Strafsachen einschließlich Privatklagesachen, Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit, aber auch Konkurssachen ( B G H 7 , 1 7 ) und Bußgeldverfahren. b) Dieselbe Rechtssache ist nicht nur gegeben, wenn es sich um dasselbe Verfahren handelt, sondern auch dann, wenn in Verfahren verschiedener Art und mit verschiedener
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Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im A m t e
§ 356
Zielrichtung derselbe Sachverhalt von rechtlicher Bedeutung sein kann ( B G H 5, 301; 9, 341; 18, 192). Beispiele: Rechtsanwalt Dr. A erstattet zunächst im Auftrag der Fa. B gegen den Lohnbuchhalter X Anzeige wegen Untreue; in dem anschließenden Verfahren verteidigt er den X. - Oder: R A Dr. A vertritt in einem Schadensersatzprozeß zunächst den Kläger. Nachdem dieser obsiegt hat, übernimmt er im anschließenden Vollstrekkungsverfahren die Vertretung des Beklagten. c) Der Begriff des Dienens umfaßt jede berufliche Tätigkeit des RA, durch die das Interesse des Auftraggebers, sei es durch Rat (d. h. im Innenverhältnis zwischen Anwalt und Partei), sei es durch Beistand (d. h. durch Wahrnehmung der Parteiinteressen nach außen neben oder anstelle der Partei) gefördert werden soll ( B G H 5, 310; 7, 17). Nicht hierher gehört der Fall, daß ein Anwalt eine Partei privat, d. h. nicht in seiner Eigenschaft als Anwalt, berät ( B G H 20, 41). Wann eine nur private Beratung vorliegt, läßt sich allerdings nicht immer ohne Schwierigkeiten feststellen. Die Beratung verliert insbesondere nicht schon dadurch ihren beruflichen Charakter, daß sie unentgeltlich und unverbindlich erfolgt. Hinzukommen muß, daß Einverständnis darüber besteht, daß der Anwalt weder der anwaltschaftlichen Verschwiegenheit unterworfen noch daran gehindert sein soll, auch die von ihm bisher vertretene (oder noch zu vertretende) Gegenseite weiter zu vertreten ( B G H a a O . ) . d) Pflichtwidrig ist das Dienen in derselben Sache, wenn der Anwalt für mehrere Beteiligte in entgegengesetztem Interesse tätig wird ( B G H 7, 17; 18, 334). Ob ein Interessengegensatz vorliegt, ergibt sich aus dem Auftrag, den der Anwalt erhalten hat. Nur der Auftrag bestimmt den Umfang der Belange, mit deren Wahrnehmung der Anwalt betraut ist ( B G H aaO.). Da § 356 in erster Linie das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Berufstreue des Anwalts schützt (vgl. Anm. 1), wird das Verbot der Vertretung gegensätzlicher Interessen durch das Einverständnis der Beteiligten grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Anders nur dann, wenn das Einverständnis die Gegensätzlichkeit der beiderseitigen Interessen völlig aufhebt, d. h. zur Folge hat, daß die für die Gegenpartei entwickelte Tätigkeit in keiner Beziehung mehr gegen die Belange des ersten Auftraggebers gerichtet ist ( B G H 15, 332, 336). Diese Voraussetzungen liegen z. B. dann vor, wenn ein Anwalt von beiden Seiten mit der Herbeiführung eines Ausgleichs der widerstreitenden Interessen beauftragt wird ( R G 62, 289, 292) oder wenn zwei Parteien zwar entgegengesetzte Interessen haben, diese zunächst aber unausgetragen lassen und vorerst im Angriff oder in der Abwehr gegen einen Dritten zusammenstehen wollen ( R G 71, 231 ff.). In diesen Fällen beseitigt das Einverständnis der Parteien bereits den objektiven Tatbestand, nicht erst die Rechtswidrigkeit. 4. Der subjektive Tb. verlangt Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz genügt. Ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum liegt z. B. vor, wenn der Anwalt sich eines früheren Auftrags nicht entsinnt oder wenn er glaubt, der frühere Auftrag habe sich auf einen anderen Streitstoff bezogen ( B G H 7, 261). Der Vorsatz entfällt aber auch dann, wenn der Anwalt in Kenntnis aller Tatumstände infolge rechtsirriger Beurteilung der Belange seiner Auftraggeber den Interessengegensatz nicht erkennt ( B G H 5, 301; 15, 338). Dagegen liegt ein Verbotsirrtum vor, wenn der Anwalt in Kenntnis aller Umstände und im Bewußtsein des Interessengegensatzes irrig glaubt, seine Tätigkeit sei deshalb nicht pflichtwidrig, weil der frühere Prozeß formell erledigt ist oder weil sein früherer Mandant gegen das Überwechseln zur Gegenpartei keine Einwendungen erhoben hat ( B G H 7, 17; 7, 261; 9, 341; 18,95 ff.). 1037
§ 357
Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
5. Teilnahme ist nach allgemeinen Grundsätzen (§§ 2 6 - 2 9 ) strafbar. Die Partei, die die pflichtwidrigen Dienste des Anwalts annimmt, macht sich jedoch nur dann der Anstiftung oder Beihilfe schuldig, wenn sie über die sogenannte notwendige Teilnahme hinausgeht, z. B . wenn sie den Anwalt durch ein Sonderhonorar zur Übernahme des Mandats bestimmt (vgl. R G 71, 114). Über die notwendige Teilnahme vgl. 5 vor § 25. 6. Tateinheit ist möglich mit §§ 263, 266, 203 Abs. 1 Nr. 3.
§ 357
Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat
(1) Ein Vorgesetzter, welcher seine Untergebenen zu einer rechtswidrigen Tat im Amte verleitet oder zu verleiten unternimmt oder eine solche rechtswidrige Tat seiner Untergebenen geschehen läßt, hat die für diese rechtswidrige Tat angedrohte Strafe verwirkt. (2) Dieselbe Bestimmung findet auf einen Amtsträger Anwendung, welchem eine Aufsicht oder Kontrolle über die Dienstgeschäfte eines anderen Amtsträgers übertragen ist, sofern die von diesem letzteren Amtsträger begangene rechtswidrige Tat die zur Aufsicht oder Kontrolle gehörenden Geschäfte betrifft. 1. Die durch das E G S t G B nur sprachlich neu gefaßte, verschiedentlich auch als „Konnivenz" bezeichnete Vorschrift enthält drei zur Täterschaft erhobene Sonderfälle strafbarer Teilnahme. Da Täter nur ein Amtsträger sein kann, handelt es sich um ein echtes Amtsdelikt (vgl. Lackner 1; differenzierend Busch L K 8; Dreher 1). 2. Täter nach Abs. 1 kann nur ein Vorgesetzter sein. Da mit der Neufassung der Vorschrift durch das E G S t G B keine materiellen Änderungen beabsichtigt waren (vgl. R e g E S. 2 8 8 BT-Drucks. 7/550), ist in Übereinstimmung mit der früheren Auslegung (vgl. z. B. O G H B Z 1950, 4 3 5 ) davon auszugehen, daß nur Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2) als Täter in Betracht kommen. Bei den Aufsichtsbeamten, die nach Abs. 2 den Vorgesetzten gleichstehen, ergibt sich dies unmittelbar aus dem Gesetzestext. Auch der „Untergebene" (Abs. 1) und der Beaufsichtigte (Abs. 2) müssen Amtsträger sein. 3. Die von dem Untergebenen (d. h. dienstlich unterstellten) oder beaufsichtigten Amtsträger begangene Tat muß eine rechtswidrige Tat im Amt sein. a) Ü b e r rechtswidrige Tat siehe § 11 Abs. 1 Nr. 5 nebst Anmerkungen. Es genügt also, daß eine tatbestandsmäßige Handlung vorliegt, bei der sich der dienstlich unterstellte oder beaufsichtigte Amtsträger nicht auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann. Nicht erforderlich ist, daß er auch schuldhaft gehandelt hat. b) Im Amt begangen ist jede in Ausübung des Amtes begangene rechtswidrige Tat, auch wenn sie nicht zu den Amtsdelikten des 28. Abschnitts gehört (vgl. B G H 3, 3 4 9 ; N J W 1959, 5 8 5 ; Busch L K 5; Lackner 2; a. A. Welzel 538). § 357 kommt daher auch dann in Betracht, wenn ein Amtsträger mit Wissen und Billigung seines Vorgesetzten in Ausübung seines Amts einen Totschlag oder Mord begeht, z. B. wenn ein Polizeibeamter im
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Achtundzwanzigster Abschnitt: Straftaten im Amte
§ 358
Laufe der Untersuchung einen unliebsamen Verbrecher, der der Polizei schon viel Ärger bereitet hat, „auf der Flucht" erschießt. 4. Die Tathandlung des Vorgesetzten bzw. Aufsichtsbeamten besteht darin, daß er den ihm unterstellten bzw. beaufsichtigten Amtsträger zu einer rechtswidrigen Handlung (Anm. 3 ) entweder a) verleitet, d. h. erfolgreich anstiftet, oder b) zu verleiten unternimmt, d. h. erfolglos anzustiften versucht, oder c) eine rechtswidrige Tat des Untergebenen bzw. Beaufsichtigten geschehen läßt, d. h. pflichtwidrig nicht verhindert oder gar fördert; hierher gehören alle Fälle der Beihilfe (vgl. BGH 3, 349, 352; h. L.). 5. Der subj. Tb. erfordert Vorsatz, wobei bedingter Vorsatz ausreicht. 6. Für Teilnehmer beachte § 28 Abs. 1. 7. Konkurrenzen: § 357 geht den allgemeinen Vorschriften über die Teilnahme (§§ 2 6 - 30) vor, was zur Folge hat, daß die bei der Beihilfe und der versuchten Anstiftung vorgesehene Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 nicht eingreift. Der Vorgesetzte bzw. Aufsichtsbeamte wird wie ein Täter des von ihm veranlaßten oder geförderten Delikts bestraft. Ist er selbst mittelbarer Täter oder Mittäter des in Frage stehenden Delikts, so ist § 357 gegenüber der eigenen Täterschaft subsidiär. Mit § 259 besteht die Möglichkeit der Tatmehrheit (vgl. Busch LK 9; die abw. Entscheidung BGH 2, 315 ist durch BGH GrSen 7,134 überholt). 8. Nebenfolgen siehe § 358.
§ 358
Nebenfolgen
Neben einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten wegen einer Straftat nach den §§ 332, 336,340, 343,344, 345 Abs. 1, 3, §§ 348, 352 bis 353 b, 354,355 und 357 kann das Gericht die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden (§ 45 Abs. 2) aberkennen. Die nach der durch das EGStGB neu gefaßten Vorschrift zulässigen Nebenfolgen kommen nur neben einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten in Betracht.
1039
Anhang 1 Jugendstraf recht I. Vorbemerkung 1. Das Jugendstrafrecht ist echtes Strafrecht. Zum allgemeinen Strafrecht besteht aber ein tiefgreifender Unterschied, da im Jugendstrafrecht Art und Gewicht der strafrechtlichen Reaktion nicht so sehr durch die Tat als vielmehr durch die Persönlichkeit des Täters bestimmt werden („Täterstrafrecht"), Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel die Strafe in weitem Umfang ersetzen und die Strafe im wesentlichen auf die erzieherische Resozialisierung des Täters ausgerichtet ist („Erziehungsstrafrecht"). 2. Das Jugendgerichtsgesetz (JGG) vom 4. 8. 1953 idF der Bekanntmachung v. 11. 12. 1974 (BGBl. I 3427) enthält das materielle Jugendstrafrecht, die Regelung der Jugendgerichtsverfassung, die Sondernormen für das Verfahren vor den Jugendgerichten und Bestimmungen über Strafvollstreckung und Strafvollzug in Jugendsachen. II. Persönlicher Anwendungsbereich des JGG Das Jugendgerichtsgesetz findet Anwendung auf Jugendliche und Heranwachsende (§ I I JGG). 1. Jugendlicher im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes ist, wer z. Z. der Tat 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist (§ 1 II JGG). Auf Straftaten Jugendlicher findet das Jugendstrafrecht ausnahmslos Anwendung. Jugendliche sind nur bedingt strafmündig, d. h. für eine Tat nur dann strafrechtlich verantwortlich, wenn sie z. Z. der Tat die erforderliche Einsichts- und Handlungsfähigkeit hatten (§ 3 JGG). Die Schuldfähigkeit gemäß § 3 JGG muß stets positiv festgestellt werden. 2. Heranwachsender im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes ist, wer z. Z. der Tat 18, aber noch nicht 21 Jahre alt ist (§ 1 II JGG). Auch Heranwachsende sind grundsätzlich von Jugendgerichten abzuurteilen. Materielles Jugendstrafrecht ist jedoch nur unter den Voraussetzungen des § 105 JGG anwendbar; die Anwendung des besonderen Jugendstrafprozeßrechts ist wesentlich eingeschränkt (§ 109 JGG). Heranwachsende sind stets voll strafmündig. Die Rechtsfolgen der Straftat eines Heranwachsenden sind nur dann dem materiellen Jugendstrafrecht zu entnehmen, wenn der Heranwachsende nach seiner Persönlichkeitsentwicklung z. Z. der Tat noch einem Jugendlichen gleichstand (Reifeverzögerung, § 105 I 1041
Anhang 1
Jugendstrafrecht
Nr. 1 J G G ) oder wenn eine Jugendverfehlung (§ 105 I Nr. 2 J G G ) vorliegt. Bei Anwendung des allgemeinen Strafrechts ist eine Strafmilderung möglich (§ 106 I JGG). III. Sachlicher Anwendungsbereich des JGG Voraussetzung für die Anwendung des J G G ist das Vorliegen einer nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedrohten Verfehlung (§ 1 I JGG). Als Verfehlung ist jede Straftat anzusehen (also nicht Ordnungswidrigkeit, da nur mit Geldbuße geahndet, oder disziplinarrechtliche Tatbestände). Das J G G befaßt sich nur mit den strafrechtlichen Folgen; zivilrechtliche Folgen der Jugendstraftat bleiben unberührt. Sofern keine Sondervorschriften im J G G bestehen, greifen stets ergänzend die allgemeinen Vorschriften des Strafrechts ein (§ 2 J G G ) . Die begrifflichen Elemente und Erscheinungsformen der Straftat im Jugendstrafrecht sind die gleichen wie im allgemeinen Strafrecht. Die jugendstrafrechtliche Sonderregelung bezieht sich vor allem auf die Folgen, die eine Straftat nach sich zieht. Ob die rechtswidrige Tat eines Jugendlichen als Verbrechen oder Vergehen anzusehen ist und wann sie verjährt, ist nach den Vorschriften des allg. Strafrechts zu entscheiden (§ 4 JGG). IV. Rechtsfolgen der Jugendstraftat Es sind grundsätzlich zu unterscheiden: Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, Jugendstrafe (§ 5 J G G ) . Ehrenmindernde Nebenstrafen und Nebenfolgen sind unanwendbar (§ 6 J G G ) . Von den Maßregeln der Besserung und Sicherung können nur die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt, die Führungsaufsicht oder die Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet werden (§ 7 JGG). Auch bei mehreren Straftaten werden nur einheitlich Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder Jugendstrafe festgesetzt („Einheitsprinzip", § 31 JGG). Zu beachten ist ferner die einheitliche Behandlung bei Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen (§ 32 JGG). Mehrere Rechtsfolgen können nebeneinander angeordnet werden (§ 8 JGG). Die Rechtsfolgen der Jugendstraftat im einzelnen: 1. Erziehungsmaßregeln: Ihre Auswahl erfolgt nur im Hinblick auf das für die Erziehung des Täters Erforderliche und Zweckmäßige. In der Tat müssen Erziehungsmängel offenbar geworden sein, die durch die in Aussicht genommenen Erziehungsmaßregeln behebbar sind. Tatvergeltung bleibt außer Betracht. Das Gesetz sieht folgende Erziehungsmaßregeln vor (§ 9 J G G ) : Weisungen, Erziehungsbeistandschaft, Fürsorgeerziehung. 1042
Jugendstrafrecht
Anhang 1
a) Weisungen ( § 1 0 J G G ) sind Gebote und Verbote, die die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen. Ihre Aufzählung in § 101 Nr. 1 - 6 J G G ist nur beispielhaft. Die Freiheit in der inhaltlichen Gestaltung der Weisungen bietet der erzieherischen Befähigung des Jugendrichters ein weites Feld und ermöglicht ihm, dem Jugendlichen auf dem Wege der „ambulanten Behandlung" Weisungen aufzuerlegen, die seiner Persönlichkeit angemessen sind und in einem inneren Zusammenhang mit der Tat stehen. Die Grenzen ergeben sich aus sonstigen Rechtsnormen, insbesondere aus dem Verfassungsrecht. Unzulässig sind auch Weisungen, deren Ausführung unmöglich ist oder die rein repressiven Inhalt haben. Unzweckmäßig sind Weisungen, die das Ehrgefühl antasten oder deren Befolgung nicht überwacht werden kann. Bei der Notwendigkeit einer speziellen Therapie kann die Weisung auferlegt werden, sich einer heilerzieherischen Behandlung durch einen Sachverständigen zu unterziehen (§ 10 II J G G ) . Die Vollstreckung ist Aufgabe des Jugendrichters (§ 84 I JGG), der sich dabei der Jugendgerichtshilfe bedient (§ 38 II JGG). Die Weisungen können im Interesse der Erziehung nachträglich geändert oder aufgehoben werden (Grundsatz der Reaktionsbeweglichkeit, § 11 I JGG). Bei schuldhafter Zuwiderhandlung gegen Weisungen kann Jugendarrest verhängt werden ( § 1 1 III JGG). b) Die Erziehungsbeistandschaft richtet sich gem. § 12 J G G nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG). Für einen Minderjährigen, dessen leibliche, geistige oder seelische Entwicklung gefährdet oder geschädigt ist, ist ein Erziehungsbeistand zu bestellen, wenn diese Maßnahme zur Abwendung der Gefahr oder zur Beseitigung des Schadens geboten und ausreichend erscheint (§ 55 JWG). Der Erziehungsbeistand unterstützt die Personensorgeberechtigten bei der Erziehung, steht dem Minderjährigen mit Rat und Hilfe zur Seite und berät ihn bei Verwendung seines Arbeitsverdienstes (§ 58 JWG). Die Erziehungsbeistandschaft endet mit Volljährigkeit; sie ist aufzuheben, wenn der Erziehungszweck erreicht oder anderweitig sichergestellt ist (§ 61 JWG). Während der Wehrdienstzeit darf eine Erziehungsbeistandschaft nicht angeordnet werden (§ 112 a Nr. 1 JGG). c) Auch die Fürsorgeerziehung richtet sich gem. § 12 J G G nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz. Sie ist zulässig bei Minderjährigen, die das 17. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, und dient der Verhütung oder Beseitigung der Verwahrlosung (§ 64 JWG). Unter Verwahrlosung versteht man einen Zustand von einiger Dauer, in dem der davon Betroffene in erheblichem Grade der körperlichen, geistigen oder sittlichen Eigenschaften ermangelt, die bei einem Minderjährigen unter sonst gleichen Verhältnissen als Ergebnis einer ordnungsmäßigen Erziehung vorausgesetzt werden müssen. Die Fürsorgeerziehung endet mit der Volljährigkeit; sie ist aufzuheben, wenn ihr Zweck erreicht oder anderweitig sichergestellt ist (§ 75 JWG). 1043
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Jugendstrafrecht
2. Die Zuchtmittel dienen in erster Linie der Sühne der Jugendstraftat ( § 1 3 JGG). Sie sind keine echten Kriminalstrafen und werden daher auch nicht in das Bundeszentralregister eingetragen. Das Gesetz sieht in § 13 II JGG folgende Zuchtmittel vor: Verwarnung, Erteilung von Auflagen, Jugendarrest. a) Die Verwarnung ist eine förmliche Zurechtweisung (§ 14 JGG). b) Die Erteilung von Auflagen ist in § 15 JGG geregelt: aa) Wiedergutmachung des Schadens, bb) persönliche Entschuldigung bei dem Verletzten, cc) Geldbuße zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung. Bei schuldhafter Nichterfüllung der Auflagen kann Jugendarrest verhängt werden (§ 15 III JGG). Der Richter kann von der Vollstreckung des Jugendarrests absehen, wenn der Jugendliche nach Verhängung des Arrests der Auflage nachkommt. c) Der Jugendarrest soll durch eine kurze, aber strenge Freiheitsentziehung den Täter zur Besinnung bringen und ihm vor Augen führen, daß man sich nicht ohne eigenen Schaden gegen die Gebote der Gemeinschaftsordnung auflehnen kann. Das Gesetz sieht drei Formen vor: Freizeit-, Kurz- und Dauerarrest (§ 16 JGG). Eine Aussetzung des Jugendarrests zur Bewährung ist nicht möglich (§ 87 I JGG). Über den Vollzug des Jugendarrestes siehe § 90 JGG. 3. Die Jugendstrafe ist die einzige echte Kriminalstrafe des JGG. Sie darf nur verhängt werden, wenn Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel, sei es zur Bekämpfung der kriminellen Neigungen des Täters, sei es zur Sühne schwerer Schuld, nicht mehr ausreichen (§ 17 II JGG). a) Hinsichtlich der Dauer ist zwischen der bestimmten und der unbestimmten Jugendstrafe zu unterscheiden. Die Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts gelten nicht, sondern es besteht ein einheitlicher Strafrahmen. Die Mindestdauer der Jugendstrafe beträgt sechs Monate, das Höchstmaß bei Jugendlichen fünf Jahre, in Ausnahmefällen zehn Jahre ( § 1 8 JGG). Bei Heranwachsenden beträgt das Höchstmaß der Jugendstrafe stets zehn Jahre (§ 105 III JGG). Die Voraussetzungen der Jugendstrafe von unbestimmter Dauer sind in § 19 JGG geregelt (schädliche Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind; keine höhere Jugendstrafe als 4 Jahre; schlechte soziale Prognose). Eine Entlassung zur Bewährung nach Teilverbüßung bei bestimmter und bei unbestimmter Jugendstrafe ist möglich (§§ 88, 89 JGG). Uber den Jugendstrafvollzug siehe § 91 JGG. b) Bestimmte Jugendstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt der Richter zur Bewährung aus ( § 2 1 1 JGG). Jugendstrafe bis zu zwei Jahren kann der Richter zur Bewährung aussetzen (§ 21 II JGG). Während der Bewährungszeit untersteht der Jugendliche dem Bewährungshelfer (§§ 24, 25 JGG). Weisungen und 1044
Jugendstrafrecht
Anhang 1
Auflagen sollen grundsätzlich angeordnet werden (§§ 22, 23 JGG). Die Zusammenstellung der Weisungen und Auflagen erfolgt in einem Bewährungsplan (§ 60 JGG). Solange der Strafvollzug noch nicht begonnen hat, kann Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung noch nachträglich durch Beschluß angeordnet werden (§ 57 JGG). c) Die Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe (§§ 2 7 - 3 0 JGG), d. h. Beendigung des Strafverfahrens wegen einer Jugendstraftat nur mit einem Schuldspruch und Aussetzung der Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe, ist möglich, wenn nach Erschöpfung der Ermittlungsmöglichkeiten nicht festgestellt werden kann, ob in der Straftat schädliche Neigungen in einem Umfang hervorgetreten sind, daß eine Jugendstrafe erforderlich ist. V. Jugendgerichtsverfassung Als Jugendgerichte werden tätig: der Amtsrichter als Jugendrichter (Einzelrichter), das Jugendschöffengericht (Jugendrichter und 2 Jugendschöffen), die Jugendkammer des Landgerichts (3 Berufsrichter, 2 Jugendschöffen), vgl. § 33 II/III JGG. Die sachliche Zuständigkeit ist in den §§ 3 9 - 4 1 J G G geregelt. Neben die Vorschriften des StPO über die örtliche Zuständigkeit treten noch drei weitere Gerichtsstände (§ 42 JGG). Für die Aburteilung Jugendlicher oder Heranwachsender sind grundsätzlich die Jugendgerichte zuständig (§§ 33 I, 107 JGG). Ausnahmen: §§ 102-104 JGG. VI. Das Jugendstrafverfahren Soweit das J G G nichts anderes bestimmt, gelten die Vorschriften der StPO. Wichtige Besonderheiten: 1. die Stellung des Erziehungsberechtigten (§§ 67, 50 II JGG);
und des gesetzlichen Vertreters
2. die Beteiligung der Jugendgerichtshilfe (§§ 38, 43, 107, 50 III JGG); 3. die Einschränkung des Verfolgungszwangs (§ 45 JGG); 4. die Hauptverhandlung gegen Jugendliche einschließlich der Urteilsverkündung ist grundsätzlich nicht öffentlich (§ 48 JGG), bei Heranwachsenden nur unter der Voraussetzung des § 109 I S. 3 J G G ; 5. Verkürzung des Rechtsmittelzugs: Gegen Urteile des Jugendrichters oder des Jugendschöffengerichts ist nur entweder Berufung oder Revision zulässig (§ 55 II S. 1 JGG). Bei Heranwachsenden gilt diese Einschränkung jedoch nur 1045
Anhang 1
Jugendstrafrecht
bei Anwendung von Jugendstrafrecht, nicht bei Anwendung des allgemeinen Strafrechts (vgl. § 109 II JGG). Eine Entscheidung, in der lediglich Erziehungsmaßregeln (mit Ausnahme der Fürsorgeerziehung) oder Zuchtmittel angeordnet sind, kann nur in der Schuldfrage, nicht aber wegen des Umfangs der Maßnahmen und nicht deshalb angefochten werden, weil andere oder weitere Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel hätten angeordnet werden sollen (§ 551 JGG); 6. Beschränkung der Anwendung der Untersuchungshaft (§ 72 JGG); 7. bei Jugendlichen sind unzulässig: das Strafbefehlsverfahren, das beschleunigte Verfahren, Privatklage und Nebenklage (§§ 79, 80 JGG); 8. Eine besondere Verfahrensart des Jugendstrafrechts ist das vereinfachte Jugendverfahren (§§ 76-78 JGG).
VII. Die Vollstreckung Vollstreckungsleiter ist der Jugendrichter (§ 82 JGG); Einzelheiten vgl. §§ 83 ff. JGG.
VIII. Zentralregister, Erziehungsregister Die Verurteilung zu einer Jugendstrafe und der Schuldspruch nach § 27 JGG werden im Zentralregister vermerkt (§ 4 BZRG). Die Fristen hinsichtlich der Tilgung sind verkürzt (§ 44 BZRG). Ferner ist die Beseitigung des Strafmakels durch Richterspruch möglich (§§ 97-101, 111 JGG). Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel werden im sog. Erziehungsregister vermerkt (vgl. § 55 ff. BZRG). Über diese Vermerke erhalten nur die Strafgerichte, die Vormundschaftsgerichte, die Staatsanwaltschaften und die Jugendämter Auskunft (vgl. § 57 BZRG).
1046
Anhang 2
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (Auszug) v. 24. 5. 1968 (BGBl. I 481) idF vom 2. 1. 1975 (BGBl. I 80, 520), letztes ÄndG v. 20. 8. 1975 (BGBl. 12189)
Dritter Teil. Einzelne Ordnungswidrigkeiten Erster Abschnitt. Verstöße gegen staatliche Anordnungen
§ 111
Falsche Namensangabe
(1) Ordnungswidrig handelt, wer einer zuständigen Behörde, einem zuständigen Amtsträger oder einem zuständigen Soldaten der Bundeswehr über seinen Vor-, Familien- oder Geburtsnamen, den Ort oder Tag seiner Geburt, seinen Familienstand, seinen Beruf, seinen Wohnort, seine Wohnung oder seine Staatsangehörigkeit eine unrichtige Angabe macht oder die Angabe verweigert. (2) Ordnungswidrig handelt auch der Täter, der fahrlässig nicht erkennt, daß die Behörde, der Amtsträger oder der Soldat zuständig ist. (3) Die Ordnungswidrigkeit kann, wenn die Handlung nicht nach anderen Vorschriften geahndet werden kann, in den Fällen des Absatzes 1 mit einer Geldbuße bis zu tausend Deutsche Mark, in den Fällen des Absatzes 2 mit einer Geldbuße bis zu fünfhundert Deutsche Mark geahndet werden.
§ 112
Verletzung der Hausordnung eines Gesetzgebungsorgans
(1) Ordnungswidrig handelt, wer gegen Anordnungen verstößt, die ein Gesetzgebungsorgan des Bundes oder eines Landes oder sein Präsident über das Betreten des Gebäudes des Gesetzgebungsorgans oder des dazugehörigen Grundstücks oder über das Verweilen oder die Sicherheit und Ordnung im Gebäude oder auf dem Grundstück allgemein oder im Einzelfall erlassen hat. (2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu zehntausend Deutsche Mark geahndet werden. (3) Die Absätze 1 und 2 gelten bei Anordnungen eines Gesetzgebungsorgans des Bundes oder seines Präsidenten weder für die Mitglieder des Bundestages 1047
Anbang 2
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (Auszug)
noch für die Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung sowie deren Beauftragte, bei Anordnungen eines Gesetzgebungsorgans eines Landes oder seines Präsidenten weder für die Mitglieder der Gesetzgebungsorgane dieses Landes noch für die Mitglieder der Landesregierung und deren Beauftragte.
§ 113
Unerlaubte Ansammlung
(1) Ordnungswidrig handelt, wer sich einer öffentlichen Ansammlung anschließt oder sich nicht aus ihr entfernt, obwohl ein Träger von Hoheitsbefugnissen die Menge dreimal rechtmäßig aufgefordert hat, auseinanderzugehen. (2) Ordnungswidrig handelt auch der Täter, der fahrlässig nicht erkennt, daß die Aufforderung rechtmäßig ist. (3) Die Ordnungswidrigkeit kann in den Fällen des Absatzes 1 mit einer Geldbuße bis zu tausend Deutsche Mark, in den Fällen des Absatzes 2 mit einer Geldbuße bis zu fünfhundert Deutsche Mark geahndet werden.
§ 114
Betreten militärischer Anlagen
(1) Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen einem Verbot der zuständigen Dienststelle eine militärische Einrichtung oder Anlage oder eine örtlichkeit betritt, die aus Sicherheitsgründen zur Erfüllung dienstlicher Aufgaben der Bundeswehr gesperrt ist. (2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden.
§ 115
Verkehr mit Gefangenen
(1) Ordnungswidrig handelt, wer unbefugt 1. einem Gefangenen Sachen oder Nachrichten übermittelt oder sich von ihm übermitteln läßt oder 2. sich mit einem Gefangenen, der sich innerhalb einer Vollzugsanstalt befindet, von außen durch Worte oder Zeichen verständigt. (2) Gefangener ist, wer sich auf Grund strafgerichtlicher Entscheidung oder als vorläufig Festgenommener in behördlichem Gewahrsam befindet. (3) Die Ordnungswidrigkeit und der Versuch einer Ordnungswidrigkeit können mit einer Geldbuße geahndet werden. 1048
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (Auszug)
Anhang 2
Zweiter Abschnitt. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung §116
öffentliche Aufforderung zu Ordnungswidrigkeiten
(1) Ordnungswidrig handelt, wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften, Ton- oder Bildträgern, Abbildungen oder Darstellungen zu einer mit Geldbuße bedrohten Handlung auffordert. (2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden. Das Höchstmaß der Geldbuße bestimmt sich nach dem Höchstmaß der Geldbuße für die Handlung, zu der aufgefordert wird.
§ 117
Unzulässiger Lärm
(1) Ordnungswidrig handelt, wer ohne berechtigten Anlaß oder in einem unzulässigen oder nach den Umständen vermeidbaren Ausmaß Lärm erregt, der geeignet ist, die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft erheblich zu belästigen oder die Gesundheit eines anderen zu schädigen. (2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu zehntausend Deutsche Mark geahndet werden, wenn die Handlung nicht nach anderen Vorschriften gahndet werden kann.
§118
Belästigung der Allgemeinheit
(1) Ordnungswidrig handelt, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. (2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden, wenn die Handlung nicht nach anderen Vorschriften geahndet werden kann.
§ 119
Grob anstößige und belästigende Handlungen
(1) Ordnungswidrig handelt, wer 1. öffentlich in einer Weise, die geeignet ist, andere zu belästigen, oder 2. in grob anstößiger Weise durch Verbreiten von Schriften, Ton- oder Bildträgern, Abbildungen oder Darstellungen Gelegenheit zu sexuellen Handlungen anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt. 35
Preisendanz, StGB, 30. Aufl.
1049
Anbang 2
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (Auszug)
(2) Ordnungswidrig handelt auch, wer auf die in Absatz 1 bezeichnete Weise Mittel oder Gegenstände, die dem sexuellen Gebrauch dienen, anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt. (3) Ordnungswidrig handelt ferner, wer öffentlich Schriften, Ton- oder Bildträger, Abbildungen oder Darstellungen sexuellen Inhalts an Orten ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht, an denen dies gob anstößig wirkt. (4) Die Ordnungswidrigkeit kann in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 mit einer Geldbuße bis zu tausend Deutsche Mark, in den übrigen Fällen mit einer Geldbuße bis zu zehntausend Deutsche Mark geahndet werden.
§ 120
Verbotene Ausübung der Prostitution; Werbung für Prostitution
(1) Ordnungswidrig handelt, wer 1. einem durch Rechtsverordnung erlassenen Verbot, der Prostitution an bestimmten Orten überhaupt oder zu bestimmten Tageszeiten nachzugehen, zuwiderhandelt oder 2. durch Verbreiten von Schriften, Ton- oder Bildträgern, Abbildungen oder Darstellungen Gelegenheit zu entgeltlichen sexuellen Handlungen anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt. (2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden.
§ 121
Halten gefährlicher Tiere
(1) Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig 1. ein gefährliches Tier einer wild lebenden Art oder ein bösartiges Tier sich frei umherbewegen läßt oder 2. als Verantwortlicher für die Beaufsichtigung eines solchen Tieres es unterläßt, die nötigen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um Schäden durch das Tier zu verhüten. (2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden.
§ 122
Vollrausch
(1) Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt, handelt ordnungswidrig, wenn er in diesem Zustand eine mit Geldbuße bedrohte Handlung begeht und ihretwegen gegen ihn keine Geldbuße festgesetzt werden kann, weil er infolge 1050
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (Auszug)
Anhang 2
des Rausches nicht vorwerfbar gehandelt hat oder weil dies nicht auszuschließen ist. (2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden. Die Geldbuße darf nicht höher sein als die Geldbuße, die für die im Rausch begangene Handlung angedroht ist. § 123
Einziehung; Unbrauchbarmachung
(1) Gegenstände, auf die sich eine Ordnungswidrigkeit nach § 119 oder § 120 Abs. 1 Nr. 2 bezieht, können eingezogen werden. (2) Bei der Einziehung von Schriften, Ton- und Bildträgern, Abbildungen und Darstellungen kann in den Fällen des § 119 Abs. 1, 2 und des § 120 Abs. 1 Nr. 2 angeordnet werden, daß 1. sich die Einziehung auf alle Stücke erstreckt und 2. die zur Herstellung gebrauchten oder bestimmten Vorrichtungen, wie Platten, Formen, Drucksätze, Druckstöcke, Negative oder Matrizen, unbrauchbar gemacht werden, soweit die Stücke und die in Nummer 2 bezeichneten Gegenstände sich im Besitz des Täters oder eines anderen befinden, für den der Täter gehandelt hat, oder von diesen Personen zur Verbreitung bestimmt sind. Eine solche Anordnung wird jedoch nur getroffen, soweit es erforderlich ist, um Handlungen, die nach § 119 Abs. 1, 2 oder nach § 120 Abs. 1 Nr. 2 mit Geldbuße bedroht sind, zu verhindern. Für die Einziehung gilt § 27 Abs. 2, für die Unbrauchbarmachung gelten die §§ 27 und 28 entsprechend. (3) In den Fällen des § 119 Abs. 2 gelten die Absätze 1 und 2 nur für das Werbematerial und die zu seiner Herstellung gebrauchten oder bestimmten Vorrichtungen. Dritter Abschnitt. Mißbrauch staatlicher oder staatlich geschützter Zeichen § 124
Benutzen von Wappen oder Dienstflaggen
(1) Ordnungswidrig handelt, wer unbefugt 1. das Wappen des Bundes oder eines Landes oder den Bundesadler oder den entsprechenden Teil eines Landeswappens oder 2. eine Dienstflagge des Bundes oder eines Landes benutzt. (2) Den in Absatz 1 genannten Wappen, Wappenteilen und Flaggen stehen solche gleich, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind. (3) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden. 35'
1051
Anhang 2
§ 125
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (Auszug)
Benutzen des Roten Kreuzes oder des Schweizer Wappens
(1) Ordnungswidrig handelt, wer unbefugt das Wahrzeichen des roten Kreuzes auf weißem Grund oder die Bezeichnung „Rotes Kreuz" oder „Genfer Kreuz" benutzt. (2) Ordnungswidrig handelt auch, wer unbefugt das Wappen der Schweizerischen Eidgenossenschaft benutzt. (3) Den in den Absätzen 1 und 2 genannten Wahrzeichen, Bezeichnungen und Wappen stehen solche gleich, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind. (4) Die Absätze 1 und 3 gelten für solche Wahrzeichen oder Bezeichnungen entsprechend, die nach Völkerrecht dem Wahrzeichen des roten Kreuzes auf weißem Grund oder der Bezeichnung „Rotes Kreuz" gleichstehen. (5) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden. § 126
Mißbrauch von Berufstrachten oder Berufsabzeichen
(1) Ordnungswidrig handelt, wer unbefugt 1. eine Berufstracht oder ein Berufsabzeichen für eine Tätigkeit in der Kranken- oder Wohlfahrtspflege trägt, die im Inland staatlich anerkannt oder genehmigt sind, oder 2. eine Berufstracht oder ein Berufsabzeichen einer religiösen Vereinigung trägt, die von einer Kirche oder einer anderen Religion^gesellschaft des öffentlichen Rechts anerkannt ist. (2) Den in Absatz 1 genannten Trachten oder Abzeichen stehen solche gleich, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind. (3) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden.
§ 127
Herstellen oder Verwenden von Sachen, die zur Geld- oder Urkundenfälschung benutzt werden können
(1) Ordnungswidrig handelt, wer ohne schriftliche Erlaubnis der zuständigen Stelle oder des sonst dazu Befugten 1. Platten, Formen, Drucksätze, Druckstöcke, Negative, Matrizen oder ähnliche Vorrichtungen, die ihrer Art nach geeignet sind zur Herstellung von a) Geld, diesem gleichstehenden Wertpapieren (§151 des Strafgesetzbuches) oder amtlichen Wertzeichen oder b) öffentlichen Urkunden oder Beglaubigungszeichen, 2. Vordrucke für öffentliche Urkunden oder Beglaubigungszeichen oder 3. Papier, das einer solchen Papierart gleicht oder zum Verwechseln ähnlich 1052
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (Auszug)
Anhang 2
ist, die zur Herstellung der in den Nummern 1 oder 2 bezeichneten Papiere bestimmt und gegen Nachahmung besonders gesichert ist, herstellt, sich oder einem anderen verschafft, feilhält, verwahrt, einem anderen überläßt oder in den räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes einführt. (2) Ordnungswidrig handelt auch der Täter, der fahrlässig nicht erkennt, daß eine schriftliche Erlaubnis der zuständigen Stelle oder des sonst dazu Befugten nicht vorliegt. (3) Absatz 1 gilt auch für Geld, Wertpapiere, Wertzeichen, Urkunden und Beglaubigungszeichen eines fremden Währungsgebietes. (4) Die Ordnungswidrigkeit kann in den Fällen des Absatzes 1 mit einer Geldbuße bis zu zehntausend Deutsche Mark, in den Fällen des Absatzes 2 mit einer Geldbuße bis zu fünftausend Deutsche Mark geahndet werden. § 128
Herstellen oder Verbreiten von papiergeldähnlichen Drucksachen oder Abbildungen
(1) Ordnungswidrig handelt, wer 1. Drucksachen oder Abbildungen herstellt oder verbreitet, die ihrer Art nach geeignet sind, a) im Zahlungsverkehr mit Papiergeld oder diesem gleichstehenden Wertpapieren ( § 1 5 1 des Strafgesetzbuches) verwechselt zu werden oder b) dazu verwendet zu werden, solche verwechslungsfähigen Papiere herzustellen, oder 2. Platten, Formen, Drucksätze, Druckstöcke, Negative, Matrizen oder ähnliche Vorrichtungen, die ihrer Art nach zur Herstellung der in der Nummer 1 bezeichneten Drucksachen oder Abbildungen geeignet sind, herstellt, sich oder einem anderen verschafft, feilhält, verwahrt, einem anderen überläßt oder in den räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes einführt. (2) Ordnungswidrig handelt auch der Täter, der fahrlässig nicht erkennt, daß die Eignung zur Verwechslung oder Herstellung im Sinne von Absatz 1 Nr. 1 gegeben ist. (3) Absatz 1 gilt auch für Papiergeld und Wertpapiere eines fremden Währungsgebietes. (4) Die Ordnungswidrigkeit kann in den Fällen des Absatzes 1 mit einer Geldbuße bis zu zehntausend Deutsche Mark, in den Fällen des Absatzes 2 mit einer Geldbuße bis zu fünftausend Deutsche Mark geahndet werden. §129
Einziehung
Gegenstände, auf die sich eine Ordnungswidrigkeit nach den §§126 bis 128 bezieht, können eingezogen werden. 1053
Anhang 3
Gesetz gegen mißbräuchliche Inanspruchnahme von Subventionen (Subventionsgesetz) vom 29. 7. 1976 (BGBl. 12034, 2037)
§ 1
Geltungsbereich
(1) Dieses Gesetz gilt, soweit Absatz 2 nichts anderes bestimmt, für Leistungen, die Subventionen im Sinne des § 264 des Strafgesetzbuches sind. (2) Für Leistungen nach Landesrecht, die Subventionen im Sinne des § 264 des Strafgesetzbuches sind, gelten die §§ 2 bis 6 nur, soweit das Landesrecht dies bestimmt.
§2
Bezeichnung der subventionserheblichen Tatsachen
(1) Die für die Bewilligung einer Subvention zuständige Behörde oder andere in das Subventionsverfahren eingeschaltete Stelle oder Person (Subventionsgeber) hat vor der Bewilligung oder Gewährung einer Subvention demjenigen, der für sich oder einen anderen eine Subvention beantragt oder eine Subvention oder einen Subventionsvorteil in Anspruch nimmt (Subventionsnehmer), die Tatsachen als subventionserheblich im Sinne des § 264 des Strafgesetzbuches zu bezeichnen, die nach 1. dem Subventionszweck, 2. den Rechtsvorschriften, Verwaltungsvorschriften und Richtlinien über die Subventionsvergabe sowie 3. den sonstigen Vergabe Voraussetzungen für die Bewilligung, Gewährung, Rückforderung, Weitergewährung oder das Belassen einer Subvention oder eines Subventionsvorteils erheblich sind. (2) Ergeben sich aus den im Subventionsverfahren gemachten Angaben oder aus sonstigen Umständen Zweifel, ob die beantragte oder in Anspruch genommene Subvention oder der in Anspruch genommene Subventionsvorteil mit dem Subventionszweck oder den Vergabevoraussetzungen nach Absatz 1 Nr. 2, 3 im Einklang steht, so hat der Subventionsgeber dem Subventionsnehmer die Tatsachen, deren Aufklärung zur Beseitigung der Zweifel notwendig erscheint, nachträglich als subventionserheblich im Sinne des § 264 des Strafgesetzbuches zu bezeichnen. 1054
Subventionsgesetz
§3
Anhang 3
Offenbarungspflicht bei der Inanspruchnahme von Subventionen
(1) Der Subventionsnehmer ist verpflichtet, dem Subventionsgeber unverzüglich alle Tatsachen mitzuteilen, die der Bewilligung, Gewährung, Weitergewährung, Inanspruchnahme oder dem Belassen der Subvention oder des Subventionsvorteils entgegenstehen oder für die Rückforderung der Subvention oder des Subventionsvorteils erheblich sind. Besonders bestehende Pflichten zur Offenbarung bleiben unberührt. (2) Wer einen Gegenstand oder eine Geldleistung, deren Verwendung durch Gesetz oder durch den Subventionsgeber im Hinblick auf eine Subvention beschränkt ist, entgegen der Verwendungsbeschränkung verwenden will, hat dies rechtzeitig vorher dem Subventionsgeber anzuzeigen.
§4
Scheingeschäfte, Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten
(1) Scheingeschäfte und Scheinhandlungen sind für die Bewilligung, Gewährung, Rückforderung und Weitergewährung oder das Belassen einer Subvention oder eines Subventionsvorteils unerheblich. Wird durch ein Scheingeschäft oder eine Scheinhandlung ein anderer Sachverhalt verdeckt, so ist der verdeckte Sachverhalt für die Bewilligung, Gewährung, Rückforderung, Weitergewährung oder das Belassen der Subvention oder des Subventionsvorteils maßgebend. (2) Die Bewilligung oder Gewährung einer Subvention oder eines Subventionsvorteils ist ausgeschlossen, wenn im Zusammenhang mit einer beantragten Subvention ein Rechtsgeschäft oder eine Handlung unter Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten vorgenommen wird. Ein Mißbrauch liegt vor, wenn jemand eine den gegebenen Tatsachen und Verhältnissen unangemessene Gestaltungsmöglichkeit benutzt, um eine Subvention oder einen Subventionsvorteil für sich oder einen anderen in Anspruch zu nehmen oder zu nutzen, obwohl dies dem Subventionszweck widerspricht. Dies ist namentlich dann anzunehmen, wenn die förmlichen Voraussetzungen einer Subvention oder eines Subventionsvorteils in einer dem Subventionszweck widersprechenden Weise künstlich geschaffen werden.
§5
Herausgabe von Subventionsvorteilen
(1) Wer einen Gegenstand oder eine Geldleistung, deren Verwendung durch Gesetz oder durch den Subventionsgeber im Hinblick auf eine Subvention beschränkt ist, entgegen der Verwendungsbeschränkung verwendet und dadurch einen Vorteil erlangt, hat diesen dem Subventionsgeber herauszugeben. 1055
Anhang 3
Subventionsgesetz
(2) Für den Umfang der Herausgabe gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung entsprechend. Auf den Wegfall der Bereicherung kann sich der Herausgabepflichtige nicht berufen, soweit er die Verwendungsbeschränkung kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. (3) Besonders bestehende Verpflichtungen zur Herausgabe bleiben unberührt.
§6
Anzeige bei Verdacht eines Subventionsbetrugs
Gerichte und Behörden von Bund, Ländern und kommunalen Trägern der öffentlichen Verwaltung haben Tatsachen, die sie dienstlich erfahren und die den Verdacht eines Subventionsbetrugs begründen, den Strafverfolgungsbehörden mitzuteilen.
§7
Berlin-Klausel
Dieses Gesetz gilt nach Maßgabe des § 13 Abs. 1 des Dritten Überleitungsgesetzes vom 4. Januar 1952 (Bundesgesetzbl. IS. 1) auch im Land Berlin.
§8
Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am ersten Tage des auf die Verkündung folgenden Monats in Kraft.
1056
Anhang 4
Auszug aus dem Einfiihrungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) vom 2. 3. 1974 (BGBl. 1469), letztes ÄndG v. 16. 3. 1976 (BGBl. 1581, 605)
Siebenter Abschnitt: Ergänzende strafrechtliche Regelungen Art. 293
Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch freie Arbeit
Die Landesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung Regelungen zu treffen, wonach die Vollstreckungsbehörden dem Verurteilten gestatten können, eine uneinbringliche Geldstrafe durch freie Arbeit zu tilgen. Die Landesregierung kann die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die Landesjustizverwaltung übertragen.
Art. 294
Gerichtshöfe
Die Gerichtshilfe (§ 160 Abs. 3 Satz 2 der Strafprozeßordnung) gehört zum Geschäftsbereich der Landesjustizverwaltungen. Die Landesregierung kann durch Rechtsverordnung eine andere Behörde aus dem Bereich der Sozialverwaltung bestimmen.
Art. 295
Aufsichtsstellen bei Führungsaufsicht
(1) Die Aufsichtsstellen (§ 68 a des Strafgesetzbuches) gehören zum Geschäftsbereich der Landesjustizverwaltungen. (2) Die Aufgaben der Aufsichtsstelle werden von Beamten des höheren Dienstes, von staatlich anerkannten Sozialarbeitern oder Sozialpädagogen oder von Beamten des gehobenen Dienstes wahrgenommen; der Leiter der Auf sichtssteile muß die Befähigung zum Richteramt besitzen oder ein Beamter des höheren Dienstes sein.
Art. 296
Einfuhr von Zeitungen und Zeitschriften
§ 86 Abs. 1 des Strafgesetzbuches ist nicht anzuwenden auf Zeitungen und Zeitschriften, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereiches dieses Gesetzes in ständiger, regelmäßiger Folge erscheinen und dort allgemein und öffentlich vertrieben werden. 1057
Anhang 4
Art. 297
Auszug aus dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch
Verbot der Prostitution
(1) Die Landesregierung kann zum Schutze der Jugend oder des öffentlichen Anstandes 1. für das ganze Gebiet einer Gemeinde bis zu fünfzigtausend Einwohnern, 2. für Teile des Gebiets einer Gemeinde über zwanzigtausend Einwohnern oder eines gemeindefreien Gebiets, 3. unabhängig von der Zahl der Einwohner für öffentliche Straßen, Wege, Plätze, Anlagen und für sonstige Orte, die von dort aus eingesehen werden können, im ganzen Gebiet oder in Teilen des Gebiets einer Gemeinde oder eines gemeindefreien Gebiets durch Rechtsverordnung verbieten, der Prostitution nachzugehen. Sie kann das Verbot nach Satz 1 Nr. 3 auch auf bestimmte Tageszeiten beschränken. (2) Die Landesregierung kann diese Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf eine oberste Landesbehörde oder höhere Verwaltungsbehörde übertragen. (3) Wohnungsbeschränkungen auf bestimmte Straßen oder Häuserblocks zum Zwecke der Ausübung der Prostitution (Kasernierungen) sind verboten.
Achter Abschnitt: Schlußvorschriften
Art. 298
Mindestmaß der Freiheitsstrafe
(1) Eine Freiheitsstrafe unter einem Monat darf auch wegen solcher Taten nicht verhängt werden, die vor dem 1. Januar 1975 begangen worden sind. (2) Hätte das Gericht nach bisherigem Recht eine Freiheitsstrafe unter einem Monat verhängt, so erkennt es auf eine Geldstrafe bis zu dreißig Tagessätzen.
Art. 299
Geldstrafe
(1) Die Vorschriften des neuen Rechts über die Geldstrafe (§§ 40 bis 43 des Strafgesetzbuches) gelten auch für die vor dem 1. Januar 1975 begangenen Taten, soweit die Absätze 2 und 3 nicht anderes bestimmen. (2) Die Geldstrafe darf nach Zahl und Höhe der Tagessätze insgesamt das Höchstmaß der bisher angedrohten Geldstrafe nicht übersteigen. Es dürfen nur so viele Tagessätze verhängt werden, daß die Ersatzfreiheitsstrafe nach § 43 des Strafgesetzbuches nicht höher ist als das nach bisherigem Recht angedrohte Höchstmaß der Ersatzfreiheitsstrafe. 1058
Auszug aus dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch
Anhang 4
(3) Neben Freiheitsstrafe darf eine Geldstrafe nach § 41 des Strafgesetzbuches nur verhängt werden, wenn auch nach bisherigem Recht eine Geldstrafe neben Freiheitsstrafe vorgeschrieben oder zugelassen war.
Art. 300
Übertretungen
(1) Auf die vor dem 1. Januar 1975 begangenen Taten, die nach bisherigem Recht Übertretungen waren und nach neuem Recht Vergehen sind, ist das neue Recht mit der Beschränkung anzuwenden, daß sich die Voraussetzungen der Strafbarkeit und das Höchstmaß der Freiheitsstrafe nach bisherigem Recht bestimmen. Artikel 298, 299 sind anzuwenden. (2) Die vor dem 1. Januar 1975 begangenen Taten, die nach bisherigem Recht Übertretungen waren, bleiben bei der Anwendung des § 48 Abs. 1 des Strafgesetzbuches außer Betracht.
Art. 301
Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt
Wegen einer Tat, die vor dem 1. Januar 1978 begangen worden ist, darf die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt nach § 65 sowie nach § 63 Abs. 2 des Strafgesetzbuches nicht angeordnet werden.
Art. 302
Anrechnung des Maßregelvollzugs auf die Strafe
Ist vor dem 1. Januar 1975 die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt nach § 456 b Satz 2 der Strafprozeßordnung in der bisherigen Fassung vor der Freiheitsstrafe vollzogen worden, so wird die Zeit des Vollzugs der Maßregel auf die Strafe angerechnet.
Art. 303
Führungsaufsicht
(1) Wegen einer Tat, die vor dem 1. Januar 1975 begangen worden ist, darf Führungsaufsicht nach § 68 Abs. 1 des Strafgesetzbuches nicht angeordnet werden. (2) Nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe wegen einer Tat, die vor dem 1. Januar 1975 begangen worden ist, tritt Führungsaufsicht nach § 68 f des Strafgesetzbuches nicht ein. 1059
Anhang 4 Art. 3 0 4
Auszug aus dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Polizeiaufsicht
Ist vor dem 1. Januar 1975 auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht erkannt worden, so verliert dieser Anspruch seine Wirkung. Ist im Zentralregister bei einer Verurteilung die Zulässigkeit von Polizeiaufsicht eingetragen worden, so ist die Eintragung insoweit zu tilgen. Art. 3 0 5
Berufsverbot
Neben der Strafe, die wegen einer vor dem 1. Januar 1975 begangenen Tat verhängt wird, ordnet das Gericht das Berufsverbot nur an, wenn außer den Voraussetzungen des § 70 des Strafgesetzbuches auch die Voraussetzungen der Untersagung der Berufsausübung oder der Betriebsführung nach bisherigem Recht vorliegen. Das Berufsverbot darf in diesem Falle nicht für immer angeordnet werden. Art. 3 0 6
Selbständige Anordnung von Maßregeln
Die Vorschriften des neuen Rechts über die selbständige Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung ( § 7 1 des Strafgesetzbuches) gelten auch für Taten, die vor dem 1. Januar 1975 begangen worden sind. Dies gilt nicht, wenn die Maßregel nach den Artikeln 301 und 305 auch neben der Strafe nicht angeordnet werden darf. Art. 3 0 7
Verfall
(1) Für die Anordnung des Verfalls wegen einer Tat, die vor dem 1. Januar 1975 begangen worden ist und über die nach diesem Zeitpunkt entschieden wird, gelten die Vorschriften des neuen Rechts 1. über die Voraussetzungen des Verfalls (§§ 73, 73a des Strafgesetzbuches), soweit das bisherige Recht den Verfall oder die Einziehung des Entgelts vorschreibt, 2. über die Schätzung, die Entscheidung in Härtefällen, die Wirkung des Verfalls und seine nachträgliche Anordnung (§§ 73 b bis 73 d, 76 des Strafgesetzbuches). (2) Die Anordnung des Verfalls ist auch insoweit zulässig, als nach § 27 b des Strafgesetzbuches in der bisherigen Fassung eine höhere Geldstrafe hätte verhängt werden können als nach neuem Recht. An die Stelle der Anordnung des Verfalls eines Gegenstandes tritt der Verfall des Wertersatzes. (3) Absatz 1 Nr. 1 gilt nicht, soweit das bisherige Recht für den Betroffenen günstiger ist. 1060
Auszug aus dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch
Art. 308
Anhang 4
Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen
(1) Die Vorschriften des neuen Rechts über Strafantrag, Ermächtigung und Strafverlangen (§§ 77 bis 77 e, 194 des Strafgesetzbuches) gelten auch für Taten, die vor dem 1. Januar 1975 begangen worden sind, soweit die Absätze 2 bis 5 nichts anderes bestimmen. (2) War nach bisherigem Recht zur Verfolgung ein Antrag erforderlich, so bleibt es dabei. (3) Ein vor dem 1. Januar 1975 gestellter Antrag bleibt wirksam, auch wenn die Antragsberechtigung nach neuem Recht einem anderen zusteht. (4) War am 1. Januar 1975 das Recht, einen Strafantrag zu stellen, nach den Vorschriften des bisherigen Rechts bereits erloschen, so bleibt es dabei. (5) Ist die Tat erst durch die Vorschriften des neuen Rechts nur auf Antrag verfolgbar, so endet die Antragsfrist frühestens am 31. März 1975.
Art. 309
Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung
(1) Die Vorschriften des neuen Rechts über die Verfolgungs- und Vollstrekkungsverjährung (§§ 78 bis 79 b des Strafgesetzbuches, §§ 31 bis 34 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten) gelten auch für Taten, die vor dem 1. Januar 1975 begangen worden sind, soweit die Absätze 2 bis 4 nichts anderes bestimmen. (2) Für Unterbrechungshandlungen, die vor dem 1. Januar 1975 vorgenommen sind, gilt das bisherige Recht. (3) Soweit die Verjährungsfristen des bisherigen Rechts kürzer sind als die des neuen Rechts, gelten die des bisherigen Rechts. (4) Ist die Verjährung der Verfolgung oder der Vollstreckung vor dem 1. Januar 1975 unterbrochen worden, so verjährt die Verfolgung oder Vollstreckung, abweichend von § 78 c Abs. 3 Satz 2, § 79 des Strafgesetzbuches, § 33 Abs. 3 Satz 2, § 34 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, frühestens mit dem Ablauf der von der letzten Unterbrechungshandlung an zu berechnenden Verjährungsfrist. (5) Bei der Berechnung der Verjährungsfrist nach § 1 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen vom 13. April 1965 (Bundesgesetzbl. I S. 315), geändert durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 (Bundesgesetzbl. I S. 645), ist § 78 Abs. 4 des Strafgesetzbuches entsprechend anzuwenden. 1061
Anhang 4 Art. 310
Auszug aus dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Bekanntgabe der Verurteilung
Die Vorschriften des neuen Rechts über die gerichtliche Anordnung, daß eine Verurteilung öffentlich bekanntgemacht wird, gelten auch für Taten, die vor dem 1. Januar 1975 begangen worden sind.
Art. 311 Verletzung von Privatgeheimnissen durch Amtsträger und besonders Verpflichtete (1) Soweit das Offenbaren oder Verwerten eines fremden Geheimnisses, namentlich eines Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisses, durch Personen, die nach neuem Recht für den öffentlichen Dienst besonders verpflichtet werden sollen, nach bisherigem Recht mit Strafe oder Geldbuße bedroht war, gelten 1. für die vor dem 1. Januar 1975 begangenen Taten die Vorschriften des bisherigen Rechts über die Verletzung eines fremden Geheimnisses weiter und 2. für die nach dem 1. Januar 1975 begangenen Taten die Strafvorschriften des neuen Rechts (§ 203 Abs. 2, § 204 des Strafgesetzbuches) entsprechend, sofern die Strafvorschriften des neuen Rechts allein deswegen nicht anwendbar sind, weil der Täter vor dem 1. Januar 1975 nicht für den öffentlichen Dienst besonders verpflichtet worden ist, obwohl die Voraussetzungen, unter denen die Verpflichtung nach neuem Recht vorgenommen werden soll, vorgelegen hatten. (2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 gelten die Vorschriften des neuen Rechts (§ 203 Abs. 2, 5, § 204 des Strafgesetzbuches), soweit sie im übrigen für den Täter günstiger sind.
Art. 312
Gerichtsverfassung und Strafverfahren
(1) Soweit sich auf Grund der Vorschriften dieses Gesetzes die sachliche Zuständigkeit der Gerichte ändert, gilt dies für gerichtlich anhängige Strafsachen nur dann, wenn das Hauptverfahren noch nicht eröffnet ist oder das Revisionsgericht das Urteil aufhebt und die Sache nach § 354 Abs. 2 der Strafprozeßordnung zurückverweist. (2) Der Bundesgerichtshof ist auch dann zur Verhandlung und Entscheidung über das Rechtsmittel der Revision zuständig, wenn die Revision sich gegen ein Urteil des Richters beim Amtsgericht oder des Schöffengerichts oder gegen ein Berufungsurteil der kleinen oder großen Strafkammer richtet, durch das die Unterbringung des Angeklagten in einer Heil- oder Pflegeanstalt angeordnet 1062
Auszug aus dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch
Anhang 4
ist, und Termin zur Hauptverhandlung vor dem Oberlandesgericht noch nicht bestimmt ist. (3) Ist vor dem 1. Januar 1975 auf Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt, auf Untersagung der Berufsausübung oder der Betriebsführung oder auf Zulassung der Urteilsbekanntmachung erkannt worden und ist das Revisionsgericht der Auffassung, daß die Revision im übrigen unbegründet ist, so berichtigt es den Urteilsspruch dahin, daß an die Stelle 1. der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, 2. der Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, 3. der Untersagung der Berufsausübung oder der Betriebsführung das Berufsverbot, 4. der Zulässigkeit der Urteilsbekanntmachung deren Anordnung tritt. (4) Ist das Revisionsgericht der Auffassung, daß ein vor dem 1. Januar 1975 ergangenes Urteil allein wegen der Artikel 299 und 307 dem Gesetz nicht entspricht, so kann die Revision auch dann verworfen werden, wenn eine wesentlich andere Entscheidung über die Höhe der Geldstrafe oder den Verfall nicht zu erwarten ist. (5) Das Revisionsgericht kann auch in einem Beschluß nach § 349 Abs. 2 der Strafprozeßordnung nach den Absätzen 3 und 4 verfahren, wenn es die Revision im übrigen einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
Art. 313
Noch nicht vollstreckte Strafen
(1) Rechtskräftig verhängte Strafen wegen solcher Taten, die nach neuem Recht nicht mehr strafbar und auch nicht mit Geldbuße bedroht sind, werden mit Inkrafttreten des neuen Rechts erlassen, soweit sie noch nicht vollstreckt sind. Der Straferlaß erstreckt sich auf Nebenstrafen und Nebenfolgen mit Ausnahme der Einziehung und Unbrauchbarmachung, Maßregeln der Besserung und Sicherung, Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel nach dem Jugendgerichtsgesetz sowie auf rückständige Bußen und Kosten, auch wenn die Strafe bei Inkrafttreten des neuen Rechts bereits vollstreckt war. (2) Absatz 1 gilt entsprechend, wenn ein vor Inkrafttreten des neuen Rechts erlassenes Urteil nach diesem Zeitpunkt 1. rechtskräftig wird, weil ein Rechtsmittel nicht eingelegt oder zurückgenommen wird oder das Rechtsmittel nicht zulässig ist, oder 2. sonst rechtskräftig wird, ohne daß der Schuldspruch geändert werden konnte. 1063
Anhang 4
Auszug aus dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch
(3) Ist der Täter wegen einer Handlung verurteilt worden, die eine nach neuem Recht nicht mehr anwendbare Strafvorschrift und zugleich eine andere Strafvorschrift verletzt hat (§ 73 Abs. 2 des Strafgesetzbuches in der bisherigen Fassung), so sind die Absätze 1 und 2 nicht anzuwenden. Das Gericht setzt die auf die andere Gesetzesverletzung entfallende Strafe neu fest, wenn die Strafe einer Strafvorschrift entnommen worden ist, die aufgehoben ist oder die den Sachverhalt, welcher der Verurteilung zugrunde lag, nicht mehr unter Strafe stellt oder mit Geldbuße bedroht. Ist die Strafe der anderen Strafvorschrift entnommen, so wird sie angemessen ermäßigt, wenn anzunehmen ist, daß das Gericht wegen der Verletzung der gemilderten Strafvorschrift auf eine höhere Strafe erkannt hat. (4) Enthält eine Gesamtstrafe Einzelstrafen im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 und andere Einzelstrafen, so ist die Strafe neu festzusetzen. In den Fällen der § § 3 1 und 66 des Jugendgerichtsgesetzes gilt dies sinngemäß. (5) Bei Zweifeln über die sich aus den Absätzen 1 und 2 ergebenden Rechtsfolgen und für die richterlichen Entscheidungen nach den Absätzen 3 und 4 gelten die §§ 458 und 462 der Strafprozeßordnung sinngemäß.
Art. 314
Überleitung der Vollstreckung
(1) Eine vor dem 1. Januar 1975 verhängte und noch nicht oder erst zum Teil vollzogene Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt wird als Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, eine Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt als Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vollzogen. (2) Ist die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung vor dem 1. Januar 1975 bedingt ausgesetzt, so tritt Führungsaufsicht ein. Die Auferlegung besonderer Pflichten nach § 42 h Abs. 2 des Strafgesetzbuches in der bisherigen Fassung gilt als Weisung gemäß § 68 b Abs. 2 des Strafgesetzbuches. (3) Eine vor dem 1. Januar 1975 angeordnete Untersagung der Berufsausübung oder der Betriebsführung hat die Wirkung eines Berufsverbots. (4) Eine vor dem 1. Januar 1975 ausgesprochene Befugnis zur öffentlichen Bekanntmachung des Urteils wird so vollstreckt, als wenn auf Anordnung der Bekanntmachung des Urteils erkannt wäre. (5) Ist vor dem 1. Januar 1975 neben der Strafe auf Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder auf Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt erkannt worden, so ist § 67 Abs. 1 bis 3 des 1064
Auszug aus dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch
Anhang 4
Strafgesetzbuches mit der Maßgabe anzuwenden, daß die begonnene Vollstreckung der Freiheitsstrafe nach diesem Zeitpunkt noch drei Monate fortgesetzt werden kann. Art. 315
Vollstreckung durch den Richter beim Amtsgericht
(1) Die Landesregierung wird ermächtigt, abweichend von § 451 Abs. 1 der Strafprozeßordnung, durch Rechtsverordnung die Strafvollstreckung dem Richter beim Amtsgericht als Vollstreckungsbehörde bis zum 31. Dezember 1979 zu übertragen, soweit er im ersten Rechtszug entschieden und nicht auf Freiheitsstrafe erkannt hat. Die Landesregierung kann die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die Landesjustizverwaltung übertragen. (2) Ist der Richter beim Amtsgericht Vollstreckungsbehörde, so ist für die bei der Strafvollstreckung notwendig werdenden gerichtlichen Entscheidungen gegen seine Anordnungen die Strafkammer des Landgerichts zuständig. (3) Die Absätze 1 und 2 gelten für die Vollstreckung in Bußgeldsachen entsprechend.
Art. 316 Übergangsregelung für den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung [aufgehoben durch § 182 StVollzG; siehe jetzt §§ 37 ff., 149 StVollzG]
Art. 317 Überleitung des Verfahrens wegen Ordnungswidrigkeiten nach neuem Recht (1) Die bei Inkrafttreten des neuen Rechts schwebenden Verfahren wegen einer Zuwiderhandlung, die nach neuem Recht nur noch mit Geldbuße bedroht ist, werden in der Lage, in der sie sich befinden, nach den Vorschriften des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten fortgesetzt, soweit nichts anderes bestimmt ist. Hat das Gericht wegen einer solchen Zuwiderhandlung bereits das Hauptverfahren eröffnet oder einen Strafbefehl oder eine Strafverfügung erlassen, so bleibt die Staatsanwaltschaft für die Verfolgung auch im Bußgeldverfahren zuständig. § 72 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten ist in diesem Falle nicht anzuwenden. (2) Die §§ 79, 80 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten gelten nicht, wenn das Urteil vor Inkrafttreten des neuen Rechts wegen einer Zuwiderhandlung ergangen ist, die nach neuem Recht nur noch mit Geldbuße bedroht ist; in diesen Fällen gelten die §§313 und 334 der Strafprozeßordnung in der bisheri1065
Anhang 4
Auszug aus dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch
gen Fassung fort. Ist das Revisionsgericht der Auffassung, daß ein solches Urteil allein wegen des neuen Rechts dem Gesetz nicht entspricht, so berichtigt es den Schuldspruch und wandelt eine Verurteilung zu einer Geldstrafe in eine solche zu einer entsprechenden Geldbuße um. Das Revisionsgericht kann auch in einem Beschluß nach § 349 Abs. 2 der Strafprozeßordnung so verfahren, wenn es die Revision im übrigen einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet. Hebt das Revisionsgericht das angefochtene Urteil auf, so kann es abweichend von § 354 Abs. 2 der Strafprozeßordnung die Sache an das Gericht, dessen Urteil aufgehoben wird, zurückverweisen.
1066
Sachverzeichnis Die Z a h l e n verweisen auf die Seiten A aberratio ictus 9 7 , 1 4 8 Abbildungen 66 A b g a b e n ü b e r h e b u n g 1022 A b g e o r d n e t e , Hinderung 432; Indemnität 3 1 , 1 9 3 ; Immunität 3 6 , 1 9 3 , 3 7 4 f . Abhängiger, Mißhandlung 719; sexueller Mißbrauch 580 A b h ö r g e r ä t e , Mißbrauch 6 5 6 Abschrift als U r k u n d e 864 A b s e h e n von Strafe 275 ff. Absicht als subj. Tb.-Merkmal 18 Absorptionsprinzip 242 Abstrakte Betrachtungsweise 67, 372 Abtreibung siehe Schwangerschaftsabbruch Abweichung des Kausalverlaufs 14, 94; bei der Anstiftung 155 f. actio illicita in causa 180 actio libera in causa 25, 1 0 8 , 1 1 1 , 1 1 6 , 9 8 8 Adoptionsverhältnis 59 agent provocateur 156 Agententätigkeit, geheimdienstliche 423; landesverräterische 4 2 2 ; zu Sabotagezwecken 398 Aggressiver Notstand 170 Akzessorietät der Teilnahme 1 3 7 , 1 6 3 Amnestie 3 6 Amtliche Bekanntmachung, Beschädigung 497 Amtsabzeichen, unbefugtes Führen 491 A m t s a n m a ß u n g 490 Amtsdelikte 61, 993 ff. Amtsfähigkeit, Verlust 2 1 4 , 1 0 3 9 Amtshandlung 450, 997 Amtskleidung, unbefugtes Tragen 4 9 1 Amtsmißbrauch 4 9 1 Amtsträger 5 9 , 4 5 0 Amtsverschwiegenheit, Verletzung 661,
666
Amtsvorgesetzte, Pflichtverletzung 1038; Straf antragsrecht 363 Analogieverbot 39 A n d r o h u n g von Straftaten 475 Angehörigenprivileg bei Diebstahl und Unterschlagung 786; bei Strafvereitelung 814f., 817 Angehöriger, Begriff 58 Angriff 177, 454; auf ausländische Reprä-
sentanten 429; auf Kraftfahrer 970, auf Luftverkehr 973 Angriffskrieg, Aufstachelung zum 385; Vorbereitung 384 Anklageschrift, unbefugte Mitteilung 1027 Anlagen, militärische 1048 Anleitung zu Straftaten 484 f. Anrechnung von Auslandsstrafen 236; der vorl. F E 2 1 2 , 3 2 1 f.; bei Fahrverbot 237; der U - H a f t 234 ff. Ansammlung, unerlaubte 1048 Anschuldigung, falsche 559 Anstalts Unterbringung 280 ff. Ansteckende Krankheiten, Übertragung 714 Anstiftung, Begriff 151ff.; erfolglose 154, 164 ff.; Verhältnis zur mittelbaren Täterschaft 142 Antinomie der Strafzwecke 221 Antragsdelikte 10, 359 ff. Antragsmündigkeit 362 A n w e r b e n für f r e m d e n Wehrdienst 445; zur Prostitution 608, 610 Anzeigepflicht bei Verbrechen 501 Äquivalenztheorie 13 Arrestbruch s. Verstrickungsbruch Arzt, Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse 880; Heileingriff 714; Schweigepflicht 661 Asperationsprinzip 245 Aszendentenkörperverletzung 717 Atypischer Geschehnisablauf 14, 94 f. A u f f o r d e r u n g zu Straftaten 4 4 7 ; zu Ordnungswidrigkeiten 1049 A u f r e c h n u n g s. Kompensation Aufsichtsbeamter 1038 A u s b e u t u n g Prostituierter 6 0 7 , 6 1 1 Ausländer, Geltung des StGB 4 6 f f . ; Küstenfischerei durch 922 Ausländische Hoheitszeichen 4 3 0 Ausländischer Repräsentant, Angriff 429; Beleidigung 4 2 9 Auslandsstrafen, Anrechnung 236 Auslands taten 4 8 f f . Auslegungsmethoden 55 Aussageerpressung 1012 Aussagenotstand 553 Aussetzung 709 Ausspielung, öffentliche 913 Auswanderung, Verleitung 522
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Sachverzeichnis Ausweise, Fälschung 878 Ausweispapier, Mißbrauch 882 Automatenmißbrauch 851 Autostraßenraub 970 B Bahngefährdung 948 f. Bandendiebstahl 779 Bandenraub 797 ff. Bankrott 886 Bannkreisverletzung 433 Bannware, Schiffsgefährdung durch 923 Baugefährdung 982 ff. Bauwerke, Zerstörung 933, 979 Beamtennötigung 447, 449 ff. Beamter, Begriff 60 Bedingungen der Strafbarkeit 34 Bedingungstheorie 13 Bedrohung 473, 754 Befreiung eines Gefangenen 457ff.; aus Sicherungsverwahrung usw. 457 ff. Befürworten von Straftaten 401 Begehungsdelikte 7, 70 Begehungsort 53 Beglaubigungen 864 Begnadigung als Prozeßhindernis 36 Begünstigung 806ff. Behaupten 561, 641 Behörde 60, 65 Beihilfe 157ff. Beischlaf 557; zwischen Verwandten 576 Beisetzungstätten, Zerstörung 567; beschimpfender Unfug 567 Bekanntmachung des Urteils, bei falscher Verdächtigung 562; bei öffentlicher Beleidigung 652 Bekanntmachung, Beschädigung amtlicher 497 Bekräftigung, eidesgleiche 549 Belästigung der Allgemeinheit 1049 Beleidigung 635ff.; öffentliche 652; tätliche 638; wechselseitige 651; von Personengemeinschaften 635; von politischen Körperschaften 649; ausländischer Repräsentanten 429; des Bundespräsidenten 405 Belohnung von Straftaten 504 Berechtigte Interessen, Wahrnehmung 646ff. Bergwerksanlagen, Beschädigung 979 Berichterstattung, falsche 1023 Berufsabzeichen unbefugtes Tragen 491, 1052
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Berufsausübung, Untersagung 329ff.; Verstoß gegen Verbot 526 Berufsbezeichnungen, Schutz 491 Berufsgeheimnis, Verletzung 661 ff.; Verwertung 671 Berufstrachten, unbefugtes Tragen 491, 1052 Berufsverbot 329ff.; Verstoß 526 Beschädigen 931 Beschädigung einer Urkunde usw. 876 Beschimpfung von Religionsgesellschaften 563 Besitz 783 Bestandshochverrat 3 8 6 , 4 1 0 f . Bestattungsfeier, Störung 566 Bestechlichkeit 1000 Bestechung 4 3 6 , 9 9 3 ff. Beteiligung 163 ff. Betrieb 85; Störung 972 Betriebsleiter, Verantwortlichkeit 83 Betrug 828ff.; Abgrenzung von Diebstahl 764, 833; Versicherungsbetrug 850 Bewährung, Strafaussetzung zur 248 ff. Bewährungsauflagen 256 Bewährungshilfe 259, 311 Bewährungsweisungen 258 Bewährungszeit 255 Beweiszeichen als Urkunden 863 Bewußtseinsstörung 107,598 Beziehungsgegenstände 346, 412, 883, 9 2 2 , 9 8 1 , 1 0 5 1 f. Bigamie s. Doppelehe Bildträger 66 Billigung von Straftaten, öffentliche 504 Blankettfälschung 866 Blankettgesetz 44 Blutschande s. Beischlaf zwischen Verwandten Bordell s. Prostitutionsbetrieb Börsengesetz 860 Böswillig 720 Brandgefahr 940 Brandstiftung 935 ff. Briefgeheimnis, Verletzung 65 8 ff.; im Amt 1030 Brücke, Zerstörung 933, 979 Brunnenvergiftung 980 Bundespräsident, Verunglimpfung 405; Nötigung 432 Bundesrepublik, Gebiet 47, 410; Beeinträchtigung des Bestands 386, 410f.; Verunglimpfung 406 Bundesverfassungsgericht, Bannkreisverletzung 433; Verstoß gegen Entscheidungen des 389; Verunglimpfung 408
Sachverzeichnis Bundeswehr, Störpropaganda 4 0 4 , 4 4 0 Bußgeldkatalog 211 D Damm, Zerstörung 933, 979 Darstellung 67 Dauerdelikt 241 Deich, Beschädigung 979 Demonstration, strafbare Auswirkungen 387,752 Demonstrationsstrafrecht 446 Denkmal, Beschädigung 932 Dereliktion 759 Deutscher 50, 52 Diebstahl 758ff.; räuberischer 800; besonders schwere Fälle 771 ff.; in Haus und Familie 786; mit Waffen 779 f.; Abgrenzung von Betrug 764; Abgrenzung von Unterschlagung 761 f.; Bandendiebstahl 779; geringwertiger Sachen 789 Dienstflaggenmißbrauch 1051 Dienstgeheimnis, Verletzung 1024 Diensthandlung 450, 997; Unterlassung einer 1008 Diplomatischer Ungehorsam 1023 Distanzdelikte 54 Disziplinarmaßnahmen 196 dolus directus 17; eventualis 17; generalis 95 Doppelehe 575 Drohung 4 5 4 , 7 3 4 , 7 3 6 , 7 3 9 , 7 5 0 Durchschrift von Urkunde 864 E Edelmetallgesetz 757 Ehegatteneigenschaft 59 Ehre 635 Eidesgleiche Bekräftigungen 549 Eidesstattliche Versicherung 550 Eigenhändige Delikte 9 , 1 4 9 Einbruchsdiebstahl 772 Einheitstäterbegriff 133 Einsteigediebstahl 773 Einverständnis 171 Einwilligung 170 ff.; mutmaßliche 172; bei Körperverletzung 725 Einziehung 343 ff. Elektrische Energie, Entziehung 793 Entführung mit Willen 737; wider Willen 738; eines Luftfahrzeugs 973 Entgelt 65, 603
Entschädigung bei Einziehung 353 Entschuldigungsgründe s. Schuldausschließungsgründe Entmannung 722 Entsprechungsklausel 78 Entweichenlassen von Gefangenen 457ff.; im Amt 457ff. Entziehung von Elektrischer Energie 793; der Fahrerlaubnis 319 ff. Entziehungsanstalt 285 ff. Entziehungskur, Gefährdung 989 Erfolgsdelikte 8 Erfolgsqualifizierte Delikte 8, 66, 102ff., 159 Erheblichkeitsklausel bei freiheitsentziehenden Maßregeln 284, 286, 291, 296 Erlaß der Strafe 263 Erlaubnistatbestand, Irrtum über 91 ff., 93,100 Ermächtigung 36, 369 Eröffnungsbeschluß 36 Erpressung 802 ff.; räuberische 804 Erregung öffentlichen Ärgernisses 619; ruhestörenden Lärms 1049 error in persona 97, 148, 150, 155, 159; in objecto 97,148, 150 Ersatzfreiheitsstrafe 207 Ersatzhehlerei 820 Ersatzorganisation, verfassungswidrige 390, 392 Erschleichung von Leistungen 851 Erzieherprivileg 490, 601 f., 628 Erziehungsbeistandschaft 1043 Erziehungspflicht, Verletzung 574 Erziehungsregister 1046 Erziehungsmaßregeln 1042 Euthanasie s. Sterbehilfe Exhibitionismus 616ff. Exterritorialität 46 Explosion, Herbeiführung 942 Exzeß des Täters 148, 150,155
F Fahrerlaubnisentziehung 319 ff. Fahrlässigkeitsdelikte 26ff. Fahrverbot 208 ff. Fahruntüchtigkeit 958 ff. Fahrzeuge, unbefugter Gebrauch 791 Falschaussage, uneidliche 545; Verleitung zur 556 Falschbeurkundung, mittelbare 872ff.; schwere mittelbare 875; im Amt 1019
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Sachverzeichnis Falscheid, fahrlässiger 558; Verleitung zum 556 Falschgeld, in Verkehr bringen 536 Fälschung, landesverräterische 426; von Gesundheitszeugnissen 879; des Personenstands 569 ff.; von Postwertzeichen 538; von Urkunden 862ff.; von Wertpapieren 542; technischer Aufzeichnungen 868 ff.; amtlicher Ausweise 878 Familiendiebstahl 786 Fangprämie 102, 840 Fernmeldebetrieb, Störung 978 Fernsprechgeheimnis, Verletzung 1030 Festnahme, vorläufige 21 Finalität s. Handlungsbegriff Fischen in Küstengewässern 922 Fischereibeamte, Widerstand gegen 447, 456 Fischereigerät, Einziehung 922 Fischwilderei 921 Flaggen, Verunglimpfung 406 Fleischesverbrechen 9 , 1 4 7 Forstwiderstand 447, 456 Fortsetzungszusammenhang 241 Fotokopie 864, 870 Freiheitsberaubung 740 ff. Freiheitsstrafen 197ff.; kurzfristige 224ff.; Bemessung 198,224 ff. Friede, öffentlicher 475, 477, 483f., 505, 564 Friedensgefährdende Beziehungen 325 Friedensverrat 384 Führungsaufsicht 309ff.; Verstoß gegen Weisungen 525 Fürsorgeerziehung 1043 Fürsorgepflicht, Verletzung 574 G Garantenstellung 73 ff. Gebäude, Zerstörung 933 Gebietshochverrat siehe Bestandshochverrat Gebotsnormen 19 Gebrauchsanmaßung von Fahrzeugen 791; öffentlicher Pfandleiher 917 Gebührenüberhebung 1021 Gefahr, Begriff 950; gemeine 524, 778, 991 Gefährdungsdelikte 7 Gefangenenbefreiung 457 ff. Gefangenmeuterei 460 Gefangener 458; Entweichenlassen 457ff.; sexueller Mißbrauch 585; Verkehr mit 1048
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Geheimdiensttätigkeit 4 1 8 , 4 2 2 f f . Geheime Schriftstücke, Mitteilung 1026 f. Gehilfe siehe Beihilfe Geiselnahme 747 ff. Geisteskrankheit 109 Geistesschwäche 107 Geld 533 Geldbuße 196 Geldfälschung 5 32 ff. Geldstrafe 198ff.; Zusammentreffen mehrerer 245, 247 Geltungsbereich des StGB 39ff., 409 Generalprävention 218 f. Gerichtsverhandlung, verbotene Mitteilung 1027 Gesamtstrafenbildung 245 f.; nachträgliche 246 Gesamtvorsatz241 Geschäftsmäßig 241, 522 Geschehnisablauf, atypischer 14 Geschlechtskrankheiten 714 Geschwister 59; Beischlaf zwischen 576 Gesellschafter, Verantwortlichkeit 83 Gesetzeskonkurrenz 239 ff. Gesetzgebungsorgane, Verunglimpfung 408; Nötigung 431; Störung der Tätigkeit 433; Verletzung der Hausordnung 1047 Gesundheitsbeschädigung 714 Gesundheitszerstörung 729 Gesundheitszeugnisse, Fälschung 879; Ausstellung unrichtiger 880; Gebrauch gefälschter oder unrichtiger 881 Gewahrsamsbruch 760 ff. Gewalt 3 8 6 , 4 5 4 , 5 9 4 , 7 3 4 , 736,739, 749 Gewalttätigkeit 4 5 6 , 4 7 1 , 4 8 8 Gewaltverherrlichung 486 Gewerbsmäßig 241, 607, 776, 826, 920f., 929 Gewerbsunzucht s. Prostitution Gewohnheitsmäßig 241,912, 920 f. Giftbeibringung 729 Gleichwertigkeitsklausel 78 Glücksspiel 911 ff. Gottesdienst, Störung 564 Grabmal, Beschädigung 567, 932 Grabstätte, Zerstörung usw. 567, 932 Grenzverrückung 876 Güterabwägung, beim rechtfertigenden Nostand 183; bei Notwehr 180 H Handeln im Interesse des Verletzten 172 Handlungsbegriff 11
Sachverzeichnis Handlungseinheit 237 Handlungsmehrheit 238 Hangtäter 296 Haufen, bewaffneter 478 Hauptstrafen 195 Hausfriedensbruch 464 ff.; schwerer 469 Hehlerei 818 ff.; gewerbsmäßige 826 Heileingriff, ärztlicher 714 Heranwachsender 5 5 , 1 0 4 1 Herrenlosigkeit 759 Herztransplantation 683 Hilfeleistung, unterlassene 990 f. Hilflosigkeit 710,740, 777 Hintermänner 3 9 0 , 4 0 0 , 4 8 1 f. Hochverrat 386 ff. Hoheitszeichen, Verunglimpfung 406; Mißachtung ausländischer 430 Homosexualität 588 Hunde, Hetzen auf Menschen 718 Hymne, Verunglimpfung 406 Hypersexualität 107 Hypnose 12,107 I Idealkonkurrenz 238, 242 f. Immunität 36,193, 374f. Indemnität 3 1 , 4 6 , 1 9 3 Indiskretionsdelikte 654 ff. In dubio pro reo 42,279, 284, 2 8 7 , 3 7 1 Ingerenz 77 Inland 47 instrumenta sceleris 345 Interesse, berechtigtes 646ff. Inzest 576 Ionisierung 943 Irreführung der Rechtspflege 527 Irrtum 87ff.; Tatbestandsirrtum 24, 87ff.; Verbotsirrtum 24, 87ff., 99ff.; über Einwilligung 172; über Garantenstellung 79; über Geschehnisablauf 14, 94; über Rechtfertigungsgründe 22, 91, 96; über Schuldausschließungsgründe 25, 94, 193; über Strafbarkeitsbedingungen 34; über Strafausschließungsgründe 32; über Prozeßvoraussetzungen 37; Subsumtionsirrtum 99
Jugendgerichtsverfassung 1045 Jugendlicher, Begriff 5 5 , 1 0 4 1 Jugendstrafe 196,1044 Jugendstrafrecht 1041 ff. Jugendstraftat, Rechtsfolgen 1042 Jungtäter 291 K Kastration 722 f. Kausalzusammenhang 13ff.; Irrtum über 14,94 f. Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen 396 Kernexplosion 941 Kind, Mißhandlung 719; Schuldunfähigkeit 105; Unterschiebung 569; sexueller Mißbrauch 590; Vernachlässigung der Sorgepflicht 574 Kindesentziehung 735 Kindestötung 685 Kirchendiebstahl 776 Kollektivdelikt 241 Kombinationsprinzip 243 ff., 278 Kommissivdelikte s. Begehungsdelikte Kompensation bei wechselseitigen Beleidigungen 651; bei wechselseitigen Körperverletzungen 733 Konkurrenz, Lehre von der 237ff. Konkursstraftaten 884 ff. Konnivenz s. Pflichtverletzung Konspiration, landesverräterische 425 Konsumtion 240 Körperschaften, Beleidigung politischer 649 Körperverletzung 713ff.; gefährliche 717; schwere 721; beabsichtigte schwere 722; mit Todesfolge 724; mit Einwilligung 725; fahrlässige 730; im Straßenverkehr 726; im Amt 1011; Aszendentenkörperverletzung 717; Strafantrag 731; wechselseitige 733 Kraftfahrzeug, Begriff 209, 957,967 Kreditbetrug 852 ff. Kreditgefährdung 643 Kriminalstrafe 195 ff. Kumulationsprinzip 278 Küstenfischerei durch Ausländer 922
J Jagdbeamte, Widerstand gegen 4 4 7 , 4 5 6 Jagdwilderei 918ff. Jugendarrest 1044 Jugendgerichtsgesetz 1041 Jugendgerichtshilfe 1045
L Landesverrat 414ff.; Vorbereitungshandlungen 418 Landesverteidigung, Schutz 43 9 ff. Landfriedensbruch 470 ff.
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Sachverzeichnis Lärm, unzulässiger 1049 Lebenswichtige Betriebe, Störung 972 Legaldefinitionen 56 Leichen, Entwendung 5 6 7 , 7 5 8 Leichtfertig 27, 102, 502, 592, 596, 648, 691,746,800,977 Leistungsverkürzung 1022 Limitierte Akzessorietät 137,163 List 609, 734, 736, 739 Lotterie, öffentliche 913 Lügenpropaganda 441 Luftaufnahmen 444 Luftfahrzeuge, Begehung von Straftaten in 48; Begriff 975 Luftpiraterie 973 Luftverkehr, Gefährdung 948ff.; Angriff 973 M Manifestierungstheorie 784 Maßnahmen, Begriff 6 5 , 1 9 6 Maßregeln der Besserung und Sicherung 277ff.; Vereitelung 809, 815; unzulässige Vollstreckung 1014,1017 Maßregelvollzug 297 ff. Meineid 547 Menschenhandel 609 Menschenmenge 472 Menschenraub 734; erpresserischer 743 ff. Menschenrechtskonvention 181 Meuterei 460 Milderungsgründe, gesetzliche 232ff.; Zusammentreffen von 233 Militärische Anlagen, Abbilden und Beschreiben 444; Betreten 1048 Militärische Nachrichten, Sammeln 443 Militärische Sabotage 441 Minder schwere Fälle 67 f., 592 Minderjähriger, Förderung sexueller Handlungen 599; sexueller Mißbrauch 580 Mischtatbestände 6 6 , 1 5 7 , 1 5 9 Mißachtung, Kundgabe 638 Mißbrauch Schutzbefohlener 580; Gefangener usw. 585; einer Amtsstellung 587; von Ausweispapieren 882; von Tonaufnahmen und Abhörgeräten 654; von Notrufen usw. 523; von Titeln usw. 491 Mißhandlung, körperliche 713; Abhängiger 719 Mittäterschaft 149ff.; sukzessive 150 Monomanie 108
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Mord 678 ff. Muntbruch s. Kindesentziehung N Nachrede, üble 640; politische üble 643 Nachrichten, militärische 4 2 3 , 4 4 3 Nachrichtendienst, landesverräterischer 422f.; militärischer 443; sicherheitsgefährdender 443 Nachschlüsseldiebstahl 773 Nachtat, mitbestrafte 240 Nachtruhe, Störung 1049 Namensangabe, falsche 1047 Namensverweigerung 1047 NATO-Truppenstatut 46, 374 Nebenfolgen 19. 214 ff. Nebenstrafen 195, 208 Nebentäter 151 Nichtanzeige von Verbrechen 501 Normen 19f. Normverstöße, nicht rechtswidrige 20 Not 5 2 4 , 9 9 1 Nothilfe 179 Nötigung 749ff.; eines Beamten 447, 449ff.; von Verfassungsorganen 431; des Bundespräsidenten 432; im Straßenverkehr 751 f. ; sexuelle 595 Nötigungsnotstand 188 ff. Notruf, Mißbrauch 523 Notstand, aggressiver 170; bürgerlichrechtlicher 170; strafrechtlicher 188ff.; rechtfertigender 183 ff.; übergesetzlicher schuldausschließender 174; Verteidigungsnotstand 170 Notwehr 176 ff. Notwehrexzeß 182 Notwendige Teilnahme 138ff. Notzucht s. Vergewaltigung Nullum crimen, nulla poena sine lege 39 Nymphomanie 107, 597 O Objektives Verfahren 357 f. Offenbarung eines Berufsgeheimnisses 661 ff.; eines amtlichen Geheimnisses 1024 ff. ; eines Staatsgeheimnisses 417 öffentlich 385, 448, 498, 505, 619, 652, 873,911,914 Offizialdelikte 10 Omissio libéra in causa 72 Omni modo facturus 154,166 Ordnungswidrigkeit, öffentliche Aufforderung zur 1049
Sachverzeichnis Ordnungswidrigkeitengesetz 1047 ff. Organe, vertretungsberechtige 83, 355 Organisationen, verfassungswidrige 389, 396 Organisationsdelikt 3 89 ff., 480 Organtransplantation 567,683 P Parallelwertung in der Laiensphäre 91 Parlamentarische Äußerungen 193 Parlamentarische Hausordnung, Verletzung 1047 Parlamentsberichte, Indemnität 194 Parlamentsmitglieder, Hinderung 432 Parlamentsnötigung 433 Partei, verfassungswidrige 389 Parteieriprivileg 4 0 4 , 4 8 0 , 4 8 2 Parteiverrat 1036 Perforation 683 Personalitätsprinzip 45 ff. Personenbegriffe 57 ff. Personengemeinschaften, Beleidigung 635 Personenstandsfälschung 569ff. Pfandbruch, s. Verstrickungsbruch Pfandkehr 916 Pfandleiher, öffentliche 917 Pflegeeltern 59 Pflichtenkollision, rechtfertigende 174, 184,188; schuldausschließende 174 Pflichtverletzung eines Amtsvorgesetzten 1038 Plündern 475 Pornographie 593, 621 ff. Post- und Telegrafengeheimnis, Verletzung 1030 Postbeamte, unbefugte Brieföffnung 1030 Postwertzeichen, Fälschung 538; Veräußerung gebrauchter 538; Wiederverwendung 538 Privatgeheimnis, Verletzung 661 ; Verwertung 671 Privatklagedelikte 10,359 Privilegierungen 160ff., 232ff. producta sceleris 344 Propagandamittel verfassungswidriger Organisationen 393 Prostitution, Ausbeutung 607, 611; Förderung 604ff.; verbotene Ausübung 630f.; Werbung 1050 Prostitutionsbetrieb 605 Provokation bei Notwehr 180 Prozeßhindernisse 3 6 ff. Prozeßvoraussetzungen 36f.
Psychiatrisches Krankenhaus, bringung 282 ff. Psychopathie 107 ff. Putativnotstand 188,193 Putativnotwehr 181 Putativnotwehrexzeß 183
Unter-
Q Quälen 720,1014 R Rädelsführer 3 9 0 , 4 0 0 , 4 7 5 , 4 8 1 f. Rassenhaß, Aufstachelung 486 Raub 794ff.; schwerer 797ff.; mit Todesfolge 799; Kinderraub 735; Autostraßenraub 970 Raufhandel 727 Rauschmittel, Abgabe an Untergebrachte 989; Begriff 958 Rauschtat 986 Realkonkurrenz 238, 243 f. Rechtfertigungsgründe 20,169 ff. Rechtsanwalt, Gebührenüberhebung 1021; Parteiverrat 1036 Rechtsbeistand 1021, 1036 Rechtsbeugung 1009 Rechtsfolgen der Tat 195 ff. Rechtsgüterschutz 1 Rechtsirrtum 88, 99 ff. Rechtspflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten 73 ff. Rechtsstaatsgefährdung 389ff. Rechtswidrigkeit 19 ff. Reflexbewegung 12 Religionsausübung, Störung 564 Religionsbekenntnis, Beschimpfung 563 Religionsgesellschaften, Beschimpfung 563 Religiöse Vereinigungen und Genossenschaften, Schutz der Berufstrachten usw. 491 Resozialisierung 219, 249, 289 Reue, beim vollendeten Delikt 132; bei den Aussagedelikten 554; bei Brandstiftung 939; bei Sprengstoffdelikten 946 Richter, Amtsstellung 6 0 , 6 2 Risiko, erlaubtes 173 Risikoerhöhung, bei Fahrlässigkeitsdelikten 29; bei Unterlassungsdelikten 73; bei der Beihilfe 159 Rückf allschärf ung 228 Rückfallverjährung 231,292, 295 Rücktritt vom Versuch 122 ff. Rückwirkungsverbot 39, 289
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Sachverzeichnis Rufgefährdung 641 Ruhestörung 1049 Rundfunk 489 S Sabotage, militärische 441; staatsgefährdende 399; verfassungsfeindliche 400 Sachbegriffe 57 ff. Sachbeschädigung 931 ff. Sache, Begriff 758 Sachverständiger, Falschaussage 545ff.; Geheimnisverrat 667 Sadistische Züchtigungen 596 Sammelstraftat 241 Satyriasis 107, 597 Scheckkartenmißbrauch 832, 858 Schiedsrichtervergütung 1008 Schienenbahn, Gefährdung 948 ff.; im Straßenverkehr 964 Schiffahrtsvorschriften, Verletzung 952 Schiffe, Begehung von Straftaten auf 48; Strandenlassen 850; Zerstörung 933 Schiffsgefährdung durch Bannware 923 Schiffsverkehr, Gefährdung 948 ff. Schlägerei 727 Schleusen, Beschädigung 979 Schneeballsystem 914 Schriften, Begriff 66; pornographische 621 ff.; Einziehung 350 Schuld 23 ff. Schuldausschließungsgründe 24f.; 173ff.; übergesetzliche 174 Schuldbegriff, normativer 23 ff. Schuldelemente 23 Schuldfähigkeit 23f., 105ff.; verminderte 109 ff. Schuldprinzip 105, 163, 218 Schuldrahmentheorie 220f. Schuldtheorie 8 9 , 9 2 f. Schußwaffen474, 779f., 797 Schuß waffengebrauch, polizeilicher 21 Schutzbefohlene, sexueller Mißbrauch 580; Mißhandlung 719 Schutzfunktion des Strafrechts 1 Schutzprinzip 49 Schwangerschaftsabbruch 686ff. Schwarzhörer 793 Schwebebahn, Gefährdung 948 ff. Sektion, unbefugte 567 Selbstbefreiung, Beihilfe zur 460 Selbstbegünstigung 814, 817 Selbsthilferechte 170 Selbstmord, Teilnahme 675ff.; als Unglücksfall 991
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Selbstverstümmelung 439 Sexshop 626 ff. Sexuelle Handlungen, Begriff 632; Förderung 599 ff. Sexuelle Selbstbestimmung, Straftaten gegen 579 ff. Sicherungsbetrug 841; Sicherungserpressung 804 Sicherungsmaßregeln 277ff.; Vereitelung 809ff.; unzulässige Vollstreckung 1014, 1017 Sicherungsverfahren 279, 334 Sicherungsverwahrung 292 ff. Siegel 499 Siegelbruch 498 Sitzstreik als Gewalt 7 4 9 , 7 5 3 Sonderdelikte 9 , 1 4 9 Sozialadäquanzklausel 173, 395, 397, 403, 486 Sozialtherapeutische Anstalt 287 ff. Sperrbezirk 680, 1058 Sperrgelände, militärisches 1048 Spezialität 239 Spezialprävention 218f. Spielraumtheorie 220 f. Spionage 423 f. Sportverletzungen 727 Sprachgebrauch 55 ff. Sprengstoffverbrechen 942 Staat, Verunglimpfung 406 Staatsgefährdung 389 ff. Staatsgeheimnis, Begriff 414ff.; Verrat 416; Offenbarung 417f.; Verschaffung 422f.; Preisgabe 419; illegales 415 Staatsoberhaupt, fremdes 429 Staatsschutzdelikte 383 ff. Stellvertretende Strafrechtspflege 45 ff. Stempel 538 Stempelabdrücke, Fälschung usw. 538 Stempelmarken, Fälschung usw. 538 Sterbehilfe 683 Sterilisation 724 Steuergeheimnisverletzung 1034 Stimmrecht, Verlust 214 Stoffgleichheit beim Betrug 840 Strafantrag 359ff.; des Vorgesetzten 363; zuständige Behörde 363 Strafanwendungsrecht 45 ff. Strafarrest 196 Strafaufhebungsgründe 31 Strafausdehnungsgründe 135, 151, 157 Strafausschließungsgründe 31 ff. Strafaussetzung zur Bewährung 248 ff. Strafbare Handlung, Einteilung 7 ff. Strafbarkeitsbedingungen, objektive 34
Sachverzeichnis Strafe, Zweck 217 ff. Strafeinschränkungsgründe 31 Strafgrund der Anstiftung 151; der Beihilfe 157 Strafmilderungsgründe 67 f., 160, 232 ff. Strafrecht, Aufgabe 2; internationales 45 ff. Strafrechtspflege, stellvertretende 45 ff. Strafrechtsreformgesetze 2 ff. Strafrest, Aussetzung 263 Straftat, Vortäuschen 527 Strafvereitelung 809ff.; im Amt 815ff. Strafverlangen 36, 369 Strafzumessungsgrundsätze 217 ff. Strahlungsverbrechen 943 Straße, Zerstörung 933 Straßenbahn, Gefährdung 964 Straßenverkehr, öffentlicher 508, 956 Straßenverkehrsgefährdung 953 ff. Streik, staatsgefährdender 387 Stundung von Geldstrafen 206 Subsidiarität 240, 281 Subsumtion unter einen Tatbestand 1 Subsumtionsirrtum 99 Subventionsbetrug 842 ff. Subventionsgesetz 844, 1054 Sühnegedanke 218 Symbole, Mißachtung 406 Sympathieperson 189, 191, 750 Symptomtat 286 T Tagessatzsystem 198 ff. Tat, fortgesetzte 241; rechtswidrige 64 Tatbestand, Aufgabe 1; Indizwirkung 19; objektiver 15; offener 19; subjektiver 16ff.; bei Unterlassungsdelikten 72ff.; bei Fahrlässigkeitsdelikten 27 ff. Tatbestandsirrtum 24, 87 ff., 90 ff. Tatbestandsmäßigkeit 15 ff. Tatbestandsmerkmale 15 ff.; normative 91; negative 92 Tateinheit 238, 242 f. Täterbegriff 132ff. Täterschaft, Abgrenzung von der Teilnahme 133 ff.; mittelbare 141 ff. Tatherrschaft 136,150 Tätigkeitsdelikte 8 Tätlichkeiten, beleidigende 638 Tatirrtum 90 ff. Tatmehrheit 238, 243 ff. Tatort 53 Tatsachen, ehrenrührige 641 Tatumstand, Irrtum über 90 ff.
Tatzeit 53 Taubstummer, Schuldfähigkeit 107 Technische Aufzeichnung, Fälschung 868 ff. Teilnahme 132ff.; Abgrenzung von der Täterschaft 133ff.; notwendige 138ff.; versuchte 137, 164 ff. Telegrafengefährdung 978 Telegrafengeheimnis, Verletzung 1030 Territorialitätsprinzip 45 ff. Tiere, bösartige 1050; wilde 759; gezähmte 759; zahme 759; ungenügende Beaufsichtigung 1050 Titel, Mißbrauch 491 Tonaufnahmegeräte, Mißbrauch 654 Tonträger 66, 654 Totenehre 644 Totenruhe, Störung 567 Totschlag 682 Tötung auf Verlangen 684 Tötung, fahrlässige 712 Tötungsdelikte 673ff.; Verhältnis zur Körperverletzung 673 Transitdelikte 54 Transplantation 567, 683 Trichotomie 67 Triebtäter 291 Trunkenheit im Verkehr 956 ff., 964 ff. Truppenstatut 46, 374 U Überfall, hinterlistiger 718 Übermüdung 961 Überschwemmung 947 f. Überzeugungstäter 101 Ubiquitätsprinzip 54 Unbrauchbarmachung 350 Unedelmetallgesetz 757 Unfallflucht 506 ff. Unfallverhütungsmittel, Mißbrauch 523 Unfug, beschimpfender an einer Beisetzungsstätte 567 f.; grober 1049 Ungehorsam, diplomatischer 1023 Unglücksfall, Begriff 778, 990; Selbstmord als 991; Diebstahl bei 778 Uniformen, unbefugtes Tragen 494 Universalitätsprinzip 45 ff. Unrechtsbewußtsein 24, 87 ff., 99 ff. Unrechtstatbestand 91 Unschuldige, Verfolgung 1014; Vollstreckung 1017 Unterbringung im Maßregelvollzug 282 ff. Unterhaltspflichtverletzung 570 ff. Unterlassene Hilfeleistung 990 ff.
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Sachverzeichnis Unterlassungsdelikte 7, 69ff.; Versuch 82 Unternehmen 64, 85 Unternehmensdelikte 6 4 , 1 3 2 Unterschlagung 783ff.; Abgrenzung von Diebstahl 761 ff.; in Haus und Familie 786 Untersuchungshaft, Anrechnung 234ff. Untreue 857 ff. Unverstandsklausel 121', 166 Unzucht s. Prostitution und sexuelle Handlungen Unzüchtige Schriften s. Pornographie Unzumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens 175 Urkunde, Begriff 862; Absich ts- 863; amtlich zugängliche 495 f.; Gesamt- 863; öffentliche 873; Zufalls- 863; zusammengesetzte 863; Beschädigung 876; Gebrauch einer unechten oder gefälschten 867; Herstellung einer unechten 864; Unterdrückung 876; Verfälschung einer echten 866; Vernichten 877 Urkundenfälschung 862 ff.
V Verband 63 Verbotsirrtum 24, 87ff., 99ff. Verbotsnormen 19 Verbrechen, Begriff 67; Aufbau 10; Verabredung 167; Nichtanzeige 501; öffentliche Billigung 504; gemeingefährliche 935 ff. Verbrechensabschnitte 111 Verbreitung ehrenrühriger Tatsachen 641; von Propagandamitteln verfassungsfeindlicher Organisationen 393; von Schriften 350, 385, 447; pornographischer Schriften 621 ff. Verdächtigen 559, 755 Verdächtigung, falsche 559; politische 755 Vereinigung, kriminelle 479; terroristische 481; verfassungsfeindliche 392 ff. Vereinigungsverbot, Verstoß gegen 392 Verfall 337 ff. Verfassungsgrundsätze, Begriff 410 f. Verfassungshochverrat 386 Verfassungsorgane, Verunglimpfung 408; Nötigung 431 f. Verfolgung Unschuldiger 1014 Verführung 614 Vergehen 67 Vergewaltigung 593 Vergiftung 729; von Brunnen usw. 980
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Verhältnismäßigkeit, Grundsatz der 278, 281 ff., 347 Verhandlungsunfähigkeit 335 Verjährung 370 ff. Verkehrsunfallflucht 506 ff. Verleitung zur Auswanderung 522; zur Falschaussage 556; Untergebener zu strafbaren Handlungen 1038 Verletzungsdelikte 7 Verleumdung 642; politische 643 Verlobte 59 Vermögensbegriff 828 Vermögensschaden 834ff. Vermögensverfügung beim Betrug 833; bei der Erpressung 803 Verpflichteter, für den öffentlichen Dienst 62 Versammlung 385, 505 Verschlechterungsverbot 205, 214, 248, 255,257, 273 Verschleppung 734 Versicherung an Eidesstatt 550 Versicherungsbetrug 850 Verstorbene, Verunglimpfung 6 4 4 , 6 4 9 Verstrickungsbruch 498 Versuch 111 ff.; Abgrenzung von Vorbereitungshandlung 114; untauglicher 118ff.; abergläubischer 120; bei Unterlassungsdelikten 82; Rücktritt 122ff.; qualifizierter 131; bei mittelbarer Täterschaft 116 Versuchte Teilnahme 137,164 ff. Verteidigung der Rechtsordnung 227,251, 272 Verteidigungsnotstand 170 Vertrauensbruch im auswärtigen Dienst 1023 Vertreter, Verantwortlichkeit 83 ff. Verunglimpfung des Bundespräsidenten 405; von Verfassungsorganen 408; des Staates und seiner Symbole 406; Verstorbener 6 4 4 , 6 4 9 Veruntreuung 785 Verurteilung, Bekanntgabe 562,652 Verwahrungsbruch 495 Verwandtendiebstahl 786 Verwandter, Begriff 58; Beischlaf 576 Verwarnung mit Strafvorbehalt 269 ff. Verwarnungsgeld 196 Verwerflich 750 ff. Vikariationsprinzip 298 vis absoluta und compulsiva 13 Völkermord 709 Volksverhetzung 483
Sachverzeichnis Vollendungswille des Teilnehmers 156, 159 Vollrausch 984 ff., 1050 Vollstreckung von Strafen, unzulässige 1017 Vollstreckungsbeamte, Widerstand gegen 449f. Vollstreckungsvereitelung 813 Vorbereitungshandlung, Abgrenzung vom Versuch 114 Vorgesetzter, Pflichtverletzung 1038; Antragsrecht 363 Vorsatz 17ff., 65, 86; des Anstifters 155; des Gehilfen 159 Vorsatztheorie 88 ff. Vortäuschen einer Straftat 527 Vortat, mitbestrafte 240 Vorteilsannahme 994 Vorteilsgewährung 1004
W Waffe als gefährliches Werkzeug 455,475, 717, 780; Diebstahl mit 779f.; Raub mit 797 Wahl, Begriff 437 Wahl des kleineren Übels 175 Wahlbehinderung 434 Wahlbestechung 436 Wählbarkeit, Verlust 214,437 Wählen, unbefugtes 434 Wähler, Täuschung 436; Nötigung 436 Wahlfälschung 434 Wahlfeststellung 40 ff. Wahlgeheimnis, Verletzung 436 Wahlstörung 434 Wahlunterlagen, Fälschung 435 Wahn verbrechen 120 f. Wahrheitsbeweis bei Beleidigung 637, 644 f.; bei übler Nachrede 641 f. Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Beleidigung usw. 646 ff. Wappenmißbrauch 1051 Wasserbauten, Beschädigung 979 Wasserbehälter, Vergiftung 980 Wasserleitung, Beschädigung 979 Wegnahme als Gewahrsamsbruch 759f. Wehrdienst, Anwerben für fremden 445 Wehre, Beschädigung 979 Wehrkraftzersetzung 440 Wehrmittel, Begriff 442; Sabotage 441 Wehrpflichtentziehung 439 f.
Weisungen, bindende 452; im JgdStrR 1043 Weltanschauliches Bekenntnis, Beschimpfung 563 Weltrechtsprinzip 45 ff. Werkzeug, gefährliches 4 5 5 , 4 7 5 , 7 1 7 , 7 8 0 Wertersatz, Einziehung 349; nachträgliche Anordnung 356; Verfall 337ff. Wertpapiere, Fälschung 542 Werturteile, beleidigende 637 Wertzeichenfälschung 538 Wette 911 Widerruf der Strafaussetzung 261 Widerstand gegen Forstbeamte usw. 447, 456; gegen Vollstreckungsbeamte 449f. Widerstandsunfähige, sexueller Mißbrauch 597 Wild, Eigentumsverhältnisse 759, 920 Wilderei 918 ff. Wildereigerät 922 Willensbetätigung 11 Wirtschaftskriminalität, Bekämpfung 843 ff. Wissentlich 86 Wucher 923 ff.
X Xerokopien 870
Z Zeitgesetze 44 Zerstören 9 3 1 , 9 3 3 Zeugungsfähigkeit, Verlust 721 Züchtigungsrecht 715 ff. Zuchtmittel (JgdStrR) 1044 Zueignungsabsicht beim Diebstahl 766 ff. Zuhälterei 610ff. Zumutbark,eit rechtmäßigen Verhaltens 2 3 , 1 7 5 f. Zurechenbarkeit, objektive 28. Zurechnungsfähigkeit, s. Schuldfähigkeit Zusammenrottung 4 6 1 , 4 6 9 Zuständsdelikte 241 Zwangsmittel im Strafverfahren 21 Zwangsvollstreckung, Vereitelung 915 Zweispurigkeit von Strafe und Maßregel 195,277 ff. Zweiteilung der Straftaten 7, 67 Zwischengesetz 44
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Kriminalistik J. Schweitzer Verlag • Berlin Neuauflage GROSS
—GEERDS
Handbuch der Kriminalistik begründet als Handbuch für Untersuchungsrichter von Dr. jur. Hans Groß t , Professor an der Universität Graz. 10., völlig neu bearbeitete Auflage von Dr. jur. Friedrich Geerds, Professor an der Universität Frankfurt am Main. 2 Bände, Lexikon-Oktav. Ganzleinen. Das Werk wird nur komplett abgegeben. Band I: XL, 781 Seiten. Mit zahlreichen Abbildungen. 1977. DM 218,— ISBN 3 8059 0096 1 Band II: Ca. 820 Seiten. Mit zahlreichen Abbildungen. 1978. Ca. DM 218,—ISBN 3 8059 0097 X Das in 1. Auflage im Jahre 1893 von Hans Groß als „Handbuch für Untersuchungsrichter" veröffentlichte Werk hat sich im Laufe der Zeit zum international bekannten „Handbuch der Kriminalistik" entwickelt. Anders als sein Vorgänger, Ernst Seelig, stand der neue Verfasser vor der von Hans Groß schon 1904 in das Auge gefaßten Aufgabe, die Anlage dieses Werkes völlig umzugestalten. Der nunmehr in 10. Auflage vorgelegte I. Band ist bei Berücksichtigung wesentlicher kriminologischer Anknüpfungspunkte daher noch mehr auf die Kriminalistik im heutigen Sinne zugeschnitten. Im einleitenden I. Teil werden allgemeine Probleme wie Gegenstand, Aufgaben, Entwicklung und gegenwärtiger Stand sowie Historische Kriminalistik und kriminalistische Fragen behandelt. Derbreit ausgelegte II.Teil ist der Verbrechenstechnik oder — wie Groß sie nannte — der Technik der Verbrechensbegehung gewidmet. Nach Verbrechertum, Sprache, Gebräuchen, Okkultismus und Modus operandi-System vermittelt das Werk einen Überblick über typische Formen der Tatausführung bei den einzelnen Verbrechen. Mit der Kriminaltechnik wird im III. Teil ein großes, immer wichtiger werdendes Gebiet der Kriminalistik dargestellt, welches sich gerade in den letzten Jahrzehnten gewaltig gewandelt hat. Außer um Erkennungsdienst und Spurenkunde geht es hier um die vor allem für die Spurenauswertung bedeutsamen Untersuchungsmethoden aller möglichen Disziplinen, deren bei den einzelnen
Formen kriminellen Verhaltens unterschiedliche Bedeutung sodann aufgezeigt wird. Der im Herbst 1978 erscheinende Band II behandelt die Probleme der Kriminalistik, die Organisation der Verbrechensbekämpfung unter Berücksichtigung der Probleme der internationalen Zusammenarbeit. Ebenso wie die Darstellung ist auch die Bibliographie auf den neuesten Stand gebracht worden; neben dem neueren deutschsprachigen und mitteleuropäischen Schrifttum wird ggf. auch auf Standardwerke und Spezialarbeiten anderer Länder hingewiesen. Die durch zahlreiche Beispiele aus der Praxis und viele Abbildungen anschaulich gestaltete Darstellung ist in der Form bewußt übersichtlich gehalten, um dem Leser die Orientierung zu erleichtem. Trotz dieser völligen Urngestaltung dürfte sich dennoch der Charakter des Werkes nicht grundlegend verändert haben. Indem es einen Gesamtüberblick vermittelt und dabei dem spezieller Interessierten weiterzuhelfen sucht, will dieses Handbuch auch künftig ein zuverlässiger und gerade für die kriminalistische Ausbildung und Praxis brauchbarer Helfer sein, was sicher nicht ausschließt, daß es zugleich für den Wissenschaftler von Nutzen sein dürfte. Und gerade in der Kriminalistik kommt es entscheidend auf die Zusammenarbeit von Praxis und Wissenschaft an, um die sich dieses Handbuch — wie seit jeher — in besonderem Maße bemüht.
JURISTISCHE ARBETTSBIÄTTER FÜR AUSBILDUNG, EXAMEN, FORTBILDUNG
Ù K-Sonderheft
Neuauflage
14
LIPPROSS
Vol I st recku ngsrecht Systematische Darstellung an Hand von Fällen. Von Otto-Gerd Lippross, Oberregierungsrat in Münster. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. DIN A 4 . VI, 143 Seiten. 1978. Kartoniert DM 2 6 —
ISBN 3 8059 0479 7
Die Neubearbeitung verfolgt wie bisher vorwiegend pädagogische Ziele: Die systematisch-induktive Darstellung soll dem Leser anschaulich und praxisnah das Grundwissen des Vollstreckungsrechts vermitteln und ihn direkt zu examenswichtigen Problemen dieses Rechtsgebiets führen. Durch optisch betonte Gegenüberstellung divergierender Ansichten werden die Probleme verdeutlicht; der Leser gewinnt zugleich Argumentationshilfen für die Klausurbearbeitung. Die Darstellung wurde unter Berücksichtigung der seit Erscheinen der Erstauflage veröffentlichten Rechtsprechung überarbeitet und teilweise erweitert. Sie entspricht dem mit Inkrafttreten der Vereinfachungsnovelle seit dem 1.7.1977 geltenden Gesetzgebungsstand.
J. Schweitzer Verlag • Berlin
Zeitschriften J. Schweitzer Verlag • Berlin Datenverarbeitung im Recht ( D V R ) Archiv für die gesamte Wissenschaft der Rechtsinformatik, der Rechtskybernetik und der Datenverarbeitung in Recht und Verwaltung. Die Zeitschrift erscheint bandweise, ein Band besteht aus 4 Heften zu je 96 Seiten. Format: 1 6 , 2 x 24,2 cm. Im Bedarfsfall werden 2 Hefte zu einem Doppelheft zusammengefaßt. Jährlich erscheint ein Band. Abonnementpreis pro Band in Heften D M 170,—, gebunden D M 192,—; Vorzugspreis für Studenten und Referendare (gegen Vorlage einer Ausbildungsbestätigung) in Heften D M 128,—, gebunden D M 150,—. Einzelheft D M 51,—, Doppelheft D M 102,—, Einbanddecke D M 12,—. 1978: Band 7.
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