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German Pages 264 Year 2000
Stifter-Studien Herausgegeben von Walter Hettche, Johannes John und Sibylle von Steinsdorff
Stifter-Studien Ein Festgeschenk für Wolf gang Frühwald zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Walter Hettche, Johannes John und Sibylle von Steinsdorff
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme Stifter-Studien : ein Festgeschenk für Wolfgang Frühwald zum 65. Geburtstag / hrsg. von Walter Hettche .... - Tübingen: Niemeyer, 2000 ISBN 3-484-10828-2 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Walter Hettche und Johannes John, München Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen
Inhalt
Vorwort
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Edda Ziegler Im Zirkelodem der Sterne. Über Die Sonnenfinsterniß am 8. July 1842 in Wien
4
Hartmut Reinhardt Dterarische Trauerarbeit. Stifters Novellen Das alte Siegel und Der Hagestolz als Erzähltragödien
20
Konrad Feilchenfeldt Brigitta und andere Chiffren des Lebens bei Adalbert Stifter
40
Hartmut Laufhütte Das sanfte Gesetz und der Abgrund. Zu den Grundlagen der Stifterschen Dichtung ,aus dem Geiste der Naturwissenschaft'
61
Walter Hettche „Dichten" oder „Machen"? Adalbert Stifters Arbeit an seinem
Roman Der Nachsommer
75
Günter Häntzschel Adalbert Stifters Nausikaa
87
Johann Lachinger Stifters Nachsommer. Ein singuläres episches Werk
97
Ulrike Landfester Der Autor als Stifter oder Die Mappe meines Urgroßvaters
101
Herwig Gottwald Beobachtungen zum Motiv des Landschaftsgartens bei Stifter
125
Wolfgang Wiesmüller Das Motiv der Stromfahrt in Adalbert Stifters Witiko. Versuch einer multiplen Kodierung
146
VI
Inhalt
Gerhard Neumann .Zuversicht". Adalbert Stifters Schicksalskonzept zwischen Novellistik und Autobiographie
163
Sibylle von Steinsdorff „Seze den 20iger in die Lotterie." Der Spieler Stifter
188
Ulrich Dittmann Fürsorgliche Zensur. Bibliographische Ergänzungen und rezeptionsgeschichtliche Anmerkungen zu Stifter-Texten
202
Johannes John Adalbert Stifter in Erzählungen von Johannes Urzidil
217
Alfred Doppier Adalbert Stifter als Briefschreiber
244
Peter Greipl Drei bisher ungedruckte Stifter-Briefe
255
Vorwort
Es gibt eine Reihe deutscher Dichter, zu deren Edition und Erforschung Wolfgang Frühwald grundlegende Beiträge geliefert hat: Joseph von Eichendorff, Clemens Brentano, Joseph von Görres, Ernst Toller und nicht zuletzt Adalbert Stifter. Seit mehr als 25 Jahren beschäftigt sich der Hochschullehrer und Herausgeber, der Interpret und Forschungspolitiker Wolfgang Frühwald mit diesem Autor. In zahlreichen Seminaren und Vorlesungen hat er den Studierenden diesen nicht leicht zugänglichen Dichter nahegebracht, in wegweisenden Interpretationen - hier sei nur an die Studie zum Kuß von Sentze erinnert - hat er vor allem das Spätwerk des Dichters neu gedeutet, und schließlich hat er durch sein Engagement für die Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe Stifters geholfen, der Stifter-Forschung eine neue, verläßliche Grundlage für den Umgang mit diesem Dichter zu geben. Die Historisch-Kritische Stifter-Ausgabe hat zu einer Fülle weitergehender Stifter-Projekte geführt. Mitarbeiter der Edition haben interdisziplinäre und internationale Stifter-Symposien angeregt und veranstaltet, haben StifterVorträge gehalten, Interpretationen publiziert und Stifter-Forscher aus Europa und Übersee bei ihren Arbeiten unterstützt. Die Arbeitsstelle der StifterAusgabe in der Kommission für Neuere deutsche Literatur bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ist zu einer Schaltstelle der Stifter-Forschung geworden. Es ist nicht zuletzt Wolfgang Frühwalds Verdienst, daß es diese Einrichtung heute überhaupt noch gibt. Als Dank für seinen jahrzehntelangen Einsatz - auch in Zeiten, in denen der DFG-Präsident mit ganz anderen Dingen befaßt war, bis hin zu Fragen der Müllbeseitigung im Gaza-Streifen - hat der engere Kreis der Mitarbeiter an der Stifter-Ausgabe, erweitert um einige dem Jubilar beruflich wie freundschaftlich nahestehende Kolleginnen und Kollegen, die vorliegende Festschrift konzipiert. Es sollte keine der üblichen heterogenen Sammlungen mit Aufsätzen zu den disparatesten Themen werden. Zentraler Gegenstand des Bandes sollte Adalbert Stifter sein, wobei hinsichtlich der methodischen Ausrichtung wie der Fragestellungen im einzelnen keinerlei Vorgaben erlassen wurden. So ist trotz der Konzentration auf Adalbert Stifter eine sehr vielgestaltige Sammlung von Aufsätzen entstanden, in der Einzelinterpretationen ebenso ihren Platz haben wie Untersuchungen größerer Motivkomplexe, Fragen der Textgenese ebenso behandelt werden wie solche der Rezeption. Selbst das genuin Editorische kommt nicht zu kurz: Am Schluß des Bandes steht die Erstveröffentlichung dreier Briefe Adalbert Stifters.
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Vorwort
Noch ein Wort zur Zitierweise: Stifters Werke werden, sofern sie bereits in der Historisch-Kritischen Ausgabe vorliegen, nach dieser zitiert (Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. Alfred Doppier und Wolfgang Frühwald. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1978ff.), und zwar abgekürzt mit der Sigle HKG, der Bandzahl und der Seitenzahl. Folgende Bände sind bereits erschienen: 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1,9 2.1 2.2 2.3 2.4 4.1 4.2
4.3
5.1 5.2 5.3 5.4
Studien. Journalfassungen. Erster Band. Herausgegeben von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. 1978. Studien. Joumalfassungen. Zweiter Band. Herausgegeben von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. 1979. Studien. Journalfassungen. Dritter Band. Herausgegeben von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. 1980. Studien. Buchfassungen. Erster Band. Herausgegeben von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. 1980. Studien. Buchfassungen. Zweiter Band. Herausgegeben von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. 1982. Studien. Buchfassungen. Dritter Band. Herausgegeben von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. 1982. Studien. Kommentar. Von Ulrich Dittmann. Redaktion: Walter Hettche. 1997 Bunte Steine. Journalfassungen. Herausgegeben von Helmut Bergner. 1982. Bunte Steine. Buchfassungen. Herausgegeben von Helmut Bergner. 1982. Bunte Steine. Ein Festgeschenk. Apparat. Kommentar. Teil I. Herausgegeben von Walter Hettche. 1995. Bunte Steine. Ein Festgeschenk. Apparat. Kommentar. Teil . Herausgegeben von Walter Hettche. 1995. Der Nachsommer. Eine Erzählung. Erster Band. Herausgegeben von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. 1997. Der Nachsommer. Eine Erzählung. Zweiter Band. Herausgegeben von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. Redaktion: Johannes John. 1999. Der Nachsommer. Eine Erzählung. Dritter Band. Herausgegeben von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. Redaktion: Johannes John. 2000. Witiko. Eine Erzählung. Erster Band. Herausgegeben von Alfred Doppier und Wolfgang Wiesmüller. 1984. Witiko. Eine Erzählung. Zweiter Band. Herausgegeben von Alfred Doppier und Wolfgang Wiesmüller. 1985. Witiko. Eine Erzählung. Dritter Band. Herausgegeben von Alfred Doppier und Wolfgang Wiesmüller. 1986. Witiko. Apparat, Kommentar. Teil I. Von Alfred Doppier und Wolfgang Wiesmüller. Redaktion: Johannes John. 1998.
Vorwort
6,1
6,3 8,1
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Die Mappe meines Urgroßvaters. 3. Fassung, Lesetext. Herausgegeben von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger unter Mitarbeit von Walter Hettche. Redaktion: Johannes John. 1998. Die Mappe meines Urgroßvaters. 3. und .4 Fassung, Integraler Apparat. Herausgegeben von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger unter Mitarbeit von Walter Hettche. Redaktion: Johannes John. 1999. Schriften zu Literatur und Theater. Herausgegeben von Werner M. Bauer. 1997.
Alle anderen Werke und Briefe werden nach der „Prag-Reichenberger Ausgabe" mit der Sigle PRÄ, Band- und Seitenzahl zitiert. Walter Hettche Johannes John Sibylle von Steinsdorff
Edda Ziegler Im Zirkelodem der Sterne Über Die Sonnenfinsterniß am 8. July 1842 in Wien
I. Die Sonnenfinsternis von 1842 als mediales Ereignis Das Modebild der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode vom 21. Juli 1842 zeigt wie gewöhnlich fein kolorierte Biedermeier-Figurinen in den neuesten Creationen aus Seidenmoir6e, glaciertem Taft, Mousseline und Mecheler Spitzen; hochwertige Kupferstiche, die zum Renommo des Journals wesentlich beitrugen. Dieses Blatt jedoch weist eine Besonderheit auf. Die beiden Modelle posieren vor ungewöhnlichen Accessoires. An die Stelle versatzstückhafter Exterieurs, Interieurs und Schönheitsutensilien tritt ein Fernrohr, postiert in einer Fensternische, und die Damen halten ein Manuskript in Händen, betitelt Beschreibung der Sonnenfinsternis 1842. Die Illustration beschließt eine Serie von fünf literarischen Beiträgen der Wiener Zeitschrift zur Sonnenfinsternis in Wien am 8. Juli des Jahres. Die Bildkombination aus Mode, Literatur und popularisierter Naturwissenschaft zeigt, daß eine totale Sonnenfinsternis schon im biedermeierlichen Wien ein mediales Ereignis ist. Es bewegt nicht nur den engeren Zirkel von Wissenschaft und Kunst, sondern wirkt darüber hinaus bis in die Welt des Luxus und der Moden; für die Wiener Zeitschrift, die wegen der strengen Zensurauflagen unter den Publikationsbedingungen der Metternichschen Restauration bei fünf Ausgaben pro Woche ständig unter Themennot leidet, wahrhaft ein Geschenk des Himmels. Ein einziger der fünf Beiträge wird durch mehrere Fortsetzungen herausgehoben: Stifters Prosastück Die Sonnenfinsterniß am 8 Juli 1842 in Wien.1 Es ist nicht der erste Text, den der junge Autor in der Wiener Zeitschrift veröffentlicht. Hier sind 1840 seine ersten Erzählungen erschienen und in den beiden darauffolgenden Jahren die Urfassung der Mappe meines Urgroßvaters - mit
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In: WienerZeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, hg. von Friedrich Witthauer, Nr. 139-141, 14., 15. und 16. Juli 1842. Außerdem erschienen in der Wiener Zeitschrift folgende Texte: Friedrich Witthauer:,.Flüchtige Gedanken am Morgen des 8. July 1842", Nr. 137, l I.Juli 1842; Eginhard (d.i. Gotthard von Buschmann): ,Am S.July 1842", Nr. 138, 12. Juli 1842; Anton Ritter von Perger: „Die Sonnenfinsterniß, vom Gipfel des Schneeberges aus gesehen", Nr. 142, 18. Juli 1842; C. M. Böhm: „Der Morgen des 8. July 1842", Nr. 143,19. Juli 1842.
Im Zirkelodem der Sterne
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ungewöhnlicher Resonanz, die Stifter weitere Publikationsmöglichkeiten in angesehenen Periodica und auch die Verbindung zu seinem künftigen Verleger Gustav Heckenast eröffnet.2 Die Szenographie des Modeblatts - Figuren in einem abgeschlossenen Innenraum, durch ein Fenster zur Außenwelt in Beziehung gesetzt und zugleich von ihr getrennt - entspricht biedermeierlicher Bildkonvention. Auch zur Thematik der frühen Stifterschen Texte steht die Szene in engem Konnex. Vertauschte man die modischen Roben mit der „altvaterischen Kleiderwolke" „aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges" - .Aermel und Mieder schließen reinlich, jede Falte der Schleppe liegt bewußtvoll, jede Schleife sitzt wohlberechtigt, und jede Buffe gilt"3 - so könnten hier auch die Töchter Heinrichs des Wittinghausers beim sehnsuchtsvollen Blick in ihre verlassene Heimat abgebildet sein. Hier wie da, in der Illustration wie in den Texten, ist die Innenwelt der Protagonisten durch den - meist über teleskopisches Gerät vermittelten Blick nach draußen oder von draußen, in Ballonfahrt und katastrophischem Naturereignis, in Beziehung gesetzt zu einer anderen, fremden Welt. Diese funktioniert nach dem Menschen unzugänglichen naturwissenschaftlichen Gesetzen. Im Folgenden soll von dem die Rede sein, worin Stifters Prosastück sich von dieser Bildkonvention abhebt, ja, ihre Aussage möglicherweise ins Gegenteil verkehrt. Meine Überlegungen verstehen sich als Beitrag zu der noch ausstehenden Ortsbestimmung des Sonnenfinsterniß-Tents im Stifterschen Gesamtwerk. Sie konzentrieren sich auf bisher wenig beachtete Forschungsaspekte: den engeren literatur- und sozialgeschichtlichen Kontext im unmittelbaren Umkreis der Entstehung und Publikation, den Vergleich mit den anderen Beiträgen, die in der Wiener Zeitschrift zur totalen Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1842 erschienen sind, und den Zusammenhang mit dem etwa gleichzeitig entstandenen und publizierten Fj-zählwerk. Eine in sich schlüssige Interpretation dieses so „erstaunlichen"4 wie in sich widersprüchlichen Textes ist seiner Ambivalenz wegen wohl nicht möglich, hier jedenfalls nicht intendiert.
. Stifters Sonnenfinstemiß-7ext in der Forschungsliteratur Die Forschung hat sich, wie mehrfach festgestellt, mit der Sonnenfinsterniß bisher nur selten befaßt.5 Über die Gründe dieser Vernachlässigung läßt sich nur spekulieren. Sie mag damit zusammenhängen, daß der Autor selbst das
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Der Condor in: Nr. 53-57; Das Haidedorf in: Nr. 105-110 des Jg. 1840; DU Mappe meines Urgroßvaters in: Nr. 88-93, Jg. 1841 und Nr. 43-50, Jg. 1842. So in Der Hochwald, HKG l ,4, S. 217. Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart 1995, S. 51.
Vgl. Ursula Naumann: Adalbert Stifter. Stuttgart 1979, S. 81 und 87.
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Edda Ziegler
Prosastück, ähnlich wie die gleichzeitig entstandenen „Wien"-Aufsätze, als der Tagesschriftstellerei verpflichtete Gelegenheitsarbeit behandelt und - anders als die erzählende Prosa - nicht in die langwierigen, immer wieder neu ansetzenden Bearbeitungsprozesse integriert hat. Dieser Haltung entspricht die der frühen, stark biographisch orientierten Herausgeber ebenso wie die traditionelle Ausgrenzung nicht erzählender Prosa in die literaturgeschichtlichen Randgebiete, sofern sie nicht, wie etwa beim antipodischen Zeitgenossen Heine, zum Epizentrum des oeuvre geworden sind. Noch Ende der 1970er Jahre wird die Sonnenßnsterniß in der Forschung als autobiographischer Text klassifiziert,6 wohl weil hier ein autornahes literarisches Ich spricht - auch wenn dies in der zeitgenössischen Literatur längst gang und gäbe war; vornehmlich allerdings in der dem Zeitgeist näherstehenden feuilletonistischen Prosa des Jungen Deutschland, einer Gattung, die sich unter den Publikationsbedigungen des Metternichschen Wien nur wenig entfalten konnte. Der zeitkritische Impetus neuer Spaziergänge eines Wiener Poeten7 etwa gilt zudem nicht als die Sache des Epikers Stifter. Immer wieder erwähnt wird die außergewöhnliche ästhetische Qualität gerade des Sonnenßnsterniß-TQxis, meist als Beleg für die Sprachkraft Stifterscher Naturbeschreibungen - ohne daß diese Qualität genauer untersucht worden wäre. Auch dort, wo die Analyse der Naturdarstellung, der Zusammenhang von Poesie und Naturwissenschaft, gar die „Welt der Sterne" im Zentrum der Untersuchungen stehen, wie bei Enzinger oder Selge,8 bleibt dies Prosastück als nichtnarrativer Text unberücksichtigt. Erstmals näher damit befaßt hat sich Korff.9 Er sieht in der Sonnenßnsterniß einen Schlüsseltext für die Gesamtdeutung des Stifterschen Werks. Im Vergleich mit Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei beschreibt Korff zum einen den romantischer Tradition verpflichteten Modellcharakter der aus Naturerlebnis und moralisch-erbaulicher Nutzanwendung bestehenden kosmischen Vision; zum anderen fixiert er die literaturhistorische Distanz beider Texte. Er sieht sie in der Objektivität der Naturbeobachtung, in der Stifter sein Angsterlebnis zu neutralisieren suche. In bewußter Abgrenzung zur gewaltsam sinnstiftenden Intention traditioneller Stifterinterpreten sieht Geulen in der Beschreibung des Außerordentlichen, des „furchtbaren Augenblicks" der Sonnenßnsterniß ein Zeugnis „erha-
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Ebd., S. 79. Anastasius Grün (d.i. Anton Alexander Graf Auersperg): Spaziergänge eines Wiener Poeten. Wien 1831. (Anonym erschienen). Moritz Enzinger: Die Welt der Sterne bei Adalbert Stifter. In: M. E.: Gesammelte Aufsätze zu Adalbert Stifter. Wien 1967, S. 391-412. - Martin Selge: Adalbert Stifter. Poesie aus dem Geist der Naturwissenschaft. Stuttgart 1976. Friedrich Wilhelm Korff: Diastole und Systole. Zum Thema Jean Paul und Adalbert Stifter. Bern 1969, bes. S. 11-69. Vgl. dazu auch Naumann (wie Anm. 5), S. 79 ff. und Begemann (wie Anm. 4), S. 51.
Im Zirkelodem der Sterne
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bener Selbststiftung" durch „das Wort";10 eine These, die die ihr widersprechenden sozialgeschichtlichen Befunde über die Fragilität von Stifters schriftstellerischem Selbstverständnis gerade in der Frühphase unberücksichtigt läßt. Begemann schließlich greift im Rahmen seiner umfassenden zeichentheoretischen Untersuchung11 einen Gedanken von Hans Sedlmayr auf, der schon 1964 auf die zeichenhafte Kraft der Sonnenfinsterniß hingewiesen hat, allerdings primär in Hinblick auf die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts.12 In systematischer Fortschreibung dieser Überlegungen und ihrer Rückführung in den literarischen Kontext versteht Begemann den Text als Beleg dafür, daß bei Stifter semiotische Bemühungen ersetzen müssen, „was früher eine autoritativ abgesicherte Überlieferung oder allenfalls eine epiphanische Erfahrung geleistet hatten." Das Prosastück reflektiere nicht nur „das Verhältnis von Zeichen und Metaphysik, sondern zugleich damit auch die Struktur des Zeichens selbst." Der Versuch, die totale Sonnenfinsternis als Epiphanieerlebnis zu verstehen, scheitere jedoch „auf höchst symptomatische Weise." „Wo der Erzähler Gott .selber [zu] schauen' behauptet, stößt er immer wieder auf Barrieren semiotischer Vermittlung, die ihn von der unverstellten Anwesenheit Gottes trennen. Indirekt erweisen die signitiven Vermittlungen gerade die Abwesenheit Gottes für die Erfahrung, kann dieser sich doch selbst im Augenblick seiner größten ,Nähe' nicht einfach in seiner Existenz offenbaren, sondern bedarf des Signifikanten: Er zeigt sich nicht, sondern sagt ,Ich bin'." Die Beschreibung der Sonnenfinsternis, „die den Erzähler an die ,Dies irae' erinnert, den Tag der Grenze zwischen Tod und ewigem Leben, legt," so Begemanns Fazit, „den Gedanken einer .Apokalypse des Zeichens' nahe."13
ffl. Texte zur Sonnenfinsternis in der Wiener Zeitschrift. Ein Vergleich Stifters Sonnenfinsterniß erscheint in der Wiener Zeitschrift in drei Fortsetzungen am 14., 15. und 16. Juli 1842, zeitgleich mit vier anderen Texten zum Thema, die das Blatt zwischen dem 11. und 18. Juli 1842 bringt: Erlebnisberichten des Herausgebers Friedrich Witthauer, des ständigen Mitarbeiters Anton Ritter von Perger sowie C. M. Böhms; dazu einem Gedicht von Eginhard.14 Beim Vergleich dieser Texte fällt zunächst ihre inhaltliche und - bei den Prosastücken - auch ihre strukturelle Gleichförmigkeit auf. Alle Texte beschreiben das kosmische Ereignis in der von Korff analysierten, auf das romantische
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Eva Geulen: Worthörig wider Willen: Darstellungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters. München 1992, S. 16-24. 11 Vgl.Anm.4. 12 Hans Sedlmayr: Der Tod des Lichts. Eine Bemerkung zu Adalbert Stifters Sonnenfinsterniß am 8. July 1842. In: H. S.: Der Tod des Lichts. Übergangene Perspektiven zur modernen Kunst Salzburg 1964, S. 9-17. 13 Begemann (wie Anm. 4), S. 51-56. i* Vgl.Anm. 1.
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Edda Ziegler
Erfahrungsmodell rekurrierenden Oberflächenstruktur. Das Erhabene des Erlebnisses wird - in der Tradition Kants und Schillers - zum entscheidenden Merkmal erklärt, der Widerspruch zwischen seiner emotionalen Kraft und der vernünftigen naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Betrachter konstatiert und als Ursache der beängstigenden Entfremdungserfahrung benannt. Das systemkritische Potential, das diese Erfahrung auch enthält, wird am Ende, mit der als Auferstehung verstandenen Rückkehr des Lichts, in Fazit und erbaulichreligiöser Nutzanwendung aufgefangen und zugleich nivelliert in der Interpretation des kosmischen Schauspiels als „Schrift Gottes",15 als Zeichen für die Präsenz einer planvollen, intakten göttlichen Schöpfung. In ihr gilt den Schreibern menschliche Existenz noch immer als sicher aufgehoben, obwohl sie zuvor die Entfremdung des Individuum von dieser heilen Gotteswelt konstatiert haben. Gemeinsam ist den Texten - bei aller Divergenz der Ausdrucksfähigkeit auch der epochentypische Gestus sprachlicher Bescheidenheit. Sie alle verweisen in nahezu formelhaft wiederholten Wendungen auf die Ohnmacht des Worts bei der Darstellung der singulären Situation, auf die weiterreichende Ausdruckskraft von bildender Kunst und Musik sowie auf synästhetische Darstellungsverfahren.16 Signifikanter als diese Gemeinsamkeiten aus dem Fundus biedermeierlicher Erbauungsliteratur allerdings sind die Differenzen, die Stifters Prosa von ihr abheben. Neben der stilistischen Brillianz ist es vor allem die komplexe Textstruktur und die aus ihr ablesbare Veränderung im Verständnis von Welt und Natur. Der Aufbau des Texts folgt dem Verlauf der Sonnenfinsternis in zwei Phasen: dem Prozeß der allmählichen Verfinsterung und dem Zustand der Totalität. In der ersten wird die Verfremdung und das Absterben der vertrauten Naturerscheinungen geschildert; in der zweiten die Totalität selbst als Apokalypse und Ahnung von einer schattenhaft-gespenstischen „Jenseitswelt."17 Die Wiederkehr des Lichts danach - der literarische Ort des traditionellen Gotteslobs - wird relativ kurz abgetan. Diesem Kernstück ist eine Einleitung vorausgestellt, in der der Erzähler ausführlich beschreibt, wie außerordentlich stark ihn das Naturereignis emotional berührt und in der Sicherheit seiner vernünftigen naturwissenschaftlichen Erkenntnis erschüttert hat. Ein nachgestelltes Resümee verdeutlicht - gleichsam als thesenhafte Selbstvergewisserung für 15
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PRÄ 15, S. 6; bei Witthauer: „[...] sie verstummen vor der gewaltigen Sprache, die ohne Wort und ohne Ton redet." und „[...] wenn der Herr aus seinen Höhen spricht" (Wiener Zeitschrift, Nr. 137, S. 1091); bei Eginhard: "deine Zeichen täuschen nicht" (ebd., S. 1100); bei Böhm: „ [...] daß mir Gott gesprochen hat, daß er in seinen Werken ein noch nie gehörtes Wort zu mir gesprochen." (ebd., Nr. 143, S. 1141). So zum Beispiel: „Ich will es in diesen Zeilen versuchen, [...] die Empfindung nachzumalen und festzuhalten, insofern dies eine schwache, menschliche Feder überhaupt zu tun imstande ist" (PRÄ 15, S. 7); „[...] habet Nachsicht mit diesen schwachen Worten, die es nachzumalen versuchten und so weit zurückblieben. Wäre ich Beethoven, so würde ich es in Musik sagen; ich glaube, da könnte ich es besser." (ebd., S. 15.) Ebd., S. 13.
Im Zirkelodem der Sterne
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etwas, das der Text selbst nicht zu leisten vermag - dessen Intention; die Beschreibung der Sonnenfinsternis als unmittelbare Gotteserfahrung. Dieses Grundmuster wiederholt sich in der Feinstruktur des Texts. Einschübe brechen die tradierte Form immer wieder auf. Der Erzähler benutzt sie, um die Veränderung der vertrauten Umgebung in Stadtbild, Natur und Menschentreiben in den Phasen fortschreitender Verfinsterung zu beschreiben und die Intensität der damit verbundenen Gefühlserlebnisse zu schildern. Der physikalische Vorgang ist dabei in betont einfacher Sprache auf dem aktuellsten Stand zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Erkenntnis wiedergegeben; das kosmische Geschehen selbst dagegen in bildreich-pathetischem, dynamischbewegtem Stil. In der kontrastiven Kombination von naturgesetzlichem und emotionalem Akt entfaltet sich eine in sich widersprüchliche säkularisierte Erfahrungswelt, zu der sich das eher konventionelle Gotteslob, mit dem jede dieser Beschreibunsgphasen abschließt, nicht mehr zu fügen vermag. Stifters Versuch, die Sonnenfinsterniß auch seinerseits - staatstragend und systemkonform, wie die Publikationsbedingungen der Wiener Zeitschrift es nahelegten als Gottesbeweis zu deuten, bleibt an der Oberfläche. In die Tiefenstruktur des Textes jedoch dringt dieser Versuch nicht vor. Dies könnte als weiterer Beleg für Begemanns These angesehen werden, daß dieser Versuch gründlich gescheitert ist. Dominant erscheint vielmehr die den Erzähler zutiefst irritierende, durch die religiösen und auch die literarischen Rückversicherungsversuche18 nur mühsam gebändigte Erfahrung existentieller Gefährdung. Der Gottesbeweis gerät ihm - man ist versucht, zu sagen: unter der Hand - zum schrecklichen Augenblick: zur katastrophischen Erfahrung von der Brüchigkeit der eigenen Existenz.
IV. Sternenturm und Himmelsraum. Die Bildungswelt des Stifts Kremsmünster Der wichtigste Material- und Wissensfundus, aus dem Stifter seinen Bildkosmos und seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse schöpft, ist fraglos die traditionsreiche Bildungswelt des Benediktinerstifts Kremsmünster. Hier verbrachte er seine Gymnasialjahre; nach eigenem Bekunden die glücklichste Zeit seines Lebens. Es ist nachvollziehbar, welch tiefen Eindruck dem aus bildungsfernem bäuerlichen Milieu kommenden, durch den frühen Tod des Vaters emotional verunsicherten und in seinen sozialen Aufstiegsmöglichkeiten gefährdeten Kind diese wohlgeordnete, geschützte Welt gemacht haben dürfte: der Wert, der am renommierten Gymnasium Erziehung und Bildung im aufgeklärt-liberalen Geist des Josephinismus selbstverständlich eingeräumt war; der Reichtum der Sammlungen im barocken Wissenschaftsturm; der moderne
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Zu den literarischen Einflüssen und Traditionen vgl. Begemann (wie Anm. 4), S. 119 ff. Eine nähere Untersuchung dieser Einflüsse ist hier nicht intendiert.
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Stand der im Kontakt zur internationalen Wissenschaftssozietät erarbeiteten und vermittelten Forschungen, vor allem in den Leitwissenschaften der Physikotheologie, nämlich Philosophie, Geologie, Meteorologie und Astronomie. Vom benachbarten Gusterberg aus zum Beispiel wurden seit 1822 die ersten Katastralvermessungen für die Länder Oberösterreich, Böhmen und Salzburg durchgeführt, nicht zufällig in unmittelbarer Nähe zum Wissenschaftsstandort Kremsmünster. Es war ein Ort, der den Blick freigab nicht nur auf die fruchtbare Landschaft zwischen Böhmerwald und Alpen, sondern auch auf die Welt des verfügbaren Wissens und die Weite des Himmels - auf Stifters künftigen literarischen Kosmos. Hier, in Unterricht und klösterlicher Lebenswelt, wurden auch die Grundlagen für Stifters naturwissenschaftliche Interessen und Kenntnisse gelegt; an erster Stelle durch P. Marian Koller, einen angesehenen Wissenschaftler mit Spezialinteressen für Astronomie und Metereologie, der ab 1830 auch die Sternwarte des Klosters leitete. Er war Stifters Lehrer in den Lieblingsfächem Naturgeschichte und Physik. Im vorgeschriebenen Lehrbuch, dem dritten Teil von Baumgartners Naturlehre, wird auch der physikalische Vorgang einer Sonnenfinsternis in Wort und Bild erklärt.19 1842, im Entstehungsjahr des Sonnenfinsterniß-Te\\s, lag das Buch bereits in der siebten Auflage vor. Der Verfasser wurde später, in Stifters Wiener Studienzeit, sein akademischer Lehrer in den naturwissenschaftlichen Fächern.20 Auch die philosophischen und literarischen Einflüsse, die für die kosmischen Phantasien in Stifters frühen Erzählungen geltend gemacht worden sind, entstammen wohl dem klassischen Kremsmünsterer Bildungsprogramm. Direkt bezieht sich der Text auf zwei Gedichte, Schillers An die Astronomen und Byrons Die Finsternis. Außerdem ist hinzuweisen auf Stifters frühe Vorliebe für Leopold Schefers Sternengedichte, die so weit ging, daß er 1836 ein wohl eigenes mit verblüffend kongruenter Bildwelt als literarisches Produkt Schefers ausgab.21 Im barocken Gesamtkunstwerk des Kremsmünsterer Wissenschaftsturms mit seinen berühmten, auf sieben Ebenen nach der Hierarchie des physikotheokratischen Weltbildes geordneten Sammlungen - Naturalia, Scientifica, Artefacta, bekrönt von Sternwarte und Kapelle - jedenfalls fand sich in der
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Andreas Baumgartner: Die Naturlehre nach ihrem gegenwältigen Zustande mit Rücksicht auf mathematische Begründung. 3. Theil. Wien 1824. Welche naturwissenschaftlichen Vorlesungen Stifter genau gehört und wie intensiv er die entsprechenden Fächer studiert hat, ist unklar. Die Tatsache, daß er sich am Ende seines Studiums um Positionen beworben hat, die naturwissenschaftliche Qualifikationen voraussetzten, spricht für die Seriosität seiner Studien. Baumgartner, südböhmischer Landsmann des Studenten Stifter, ist auch als sein Förderer aufgetreten. - Wie sehr die naturwissenschaftlichen, besonders die astronomischen und meteorologischen Bezüge in Stifters frühen Erzählungen einem breiten Publikumsinteresse entgegenkamen, belegt auch die Beliebtheit und weite Verbreitung eines astronomischen „Kalenders für alle Stände", den Carl von Littrow, der Direktor der Wiener Sternwarte, seit 1843 herausgab. Begemann (wie Anm. 4), S. 119ff. und 127f.
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Verbindung von Religion, Philosophie, Kunst und Naturwissenschaft jene harmonische Weltschau eindrucksvoll gestaltet, die Stifter in seinem Werk immer wieder beschwört und so zwanghaft wie vergeblich wiederherzustellen versucht. Das Motto dazu findet sich noch heute auf einem handschriftlichen Leitsatz in den Schaukästen der Historisch-Mineralogischen Sammlungen zitiert, einem Vers jener „alten Naturdichter", die Hebbel später als Vorbilder für Stifters „poetische Kleinmalerei" verantwortlich gemacht hat,22 aus Barthold Hinrich Brockes' Irdisches Vergnügen in Gott: In des Schöpfers Wunderwerken Seine Macht und Weisheit merken, Und in der Geschöpfe Schätzen Gott zu Ehren sich ergetzen. Ist nicht nur ein Lust für euch, Ist ein Gottesdienst zugleich.
Wie das negative Gegenstück zu diesem literarischen Kommentar wirkt ein Bild, das sich im obersten Turmgeschoß auf dem Altartisch der Kapelle, unmittelbar neben den astronomischen Geräten der Sternwarte findet. Auf dem Gemälde des Antipendiums deutet der Hl. Dionysius Areopagita die Naturereignisse bei der Kreuzigung Christi mit den Worten: „Es leidet entweder der Gott der Natur oder der Weltenbau wird sich auflösen," Dargestellt ist dort auch eine Sonnenfinsternis. Dies apokalyptische Gegenbild zur positiven physiko-theokratischen Schöpfungsinterpretation hatte der junge Stifter stets vor Augen, sollte er - wie anzunehmen - in der Sternwarte des Klosters nicht nur astronomischen Studien sondern auch seinen kosmischen Phantasmagorien und Allmachtsphantasien nachgegangen sein; ähnlich wie Albrecht, der jugendliche Held der Feldblumen, der seine alltagsferne kosmische Idealwelt mit einem Fraunhoferschen Refraktor bestückt, „um in den Licht- und Nebelauen des Mondes eine halbe Stunde zu wandeln; dann suchte ich den Jupiter, die Vesta und andere, dann unersättlich den Syrius, die Milchstraße, die Nebelflecken; dann neue, nur mit dem Rohre sichtbare Nebelflecken, gleichsam durch tausend Himmel zurückgeworfene Milchstraßen. In der erhabenen Stimmung, die ich hätte, ginge ich dann gar nicht mehr, wie ich leider jetzt Abends thun muß, in das Gasthaus [,..]"23
V. Der Zirkelodem der Sterne. Kosmische Phantasien in Stifters Frühwerk Kosmische Phantasien wie diese durchziehen Stifters Frühwerk. In nichts geringerem als dem Bild des Weltraums werden im Condor, in Feldblumen, Der Hochwald und Abdias Position und Bedeutung des Individuums zu be-
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Friedrich Hebbel: Die alten Naturdichter und die neuen. (Brockes und Geßner, Stifter, Kompert u. s. w.). 1849. Vgl. HKG 1,9, S. 70. HKG l S. 5 If.
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stimmen versucht, wird der Bruch reflektiert, der es von der Außenwelt trennt.24 Das Bild vom „Zirkelodem der Sterne", dem Prokopus verfallen ist,25 erfaßt zugleich die Naturgesetzlichkeit des Vorgangs, seine religiöse und seine poetische Dimension. Ein Himmelsflug und seine emotionalen Konsequenzen für die Existenz der Protagonisten steht im Condor im Zentrum des Geschehens. Erst in der Konfrontation mit dem Weltraum und der Entfremdungserfahrung durch den Blick von außen erkennt die kühne Luftschifferin Cornelia, die sich den Einschränkungen durch die Geschlechternormen der patriarchalen Gesellschaft nicht ohne weiteres fügen will, die Grenzen ihres Ich. Gustav, ihr Verehrer, beobachtet Cornelias Höhenflug durchs Fernrohr, aus der Distanz. Eine Wiederannäherung an die gewandelte Geliebte nach dem kathartischen Erlebnis mißlingt. Über Ausbruch und Erkenntnis büßt zumindest Cornelia die Fähigkeit und die Möglichkeit ein, zu einem Lebensglück im Rahmen einer konventionellen Partnerschaft zurück zu finden. An der Peripherie des Textes werden wissenschaftliche Anmerkungen mit physikalischer Begründung eingesetzt, um die poetische Darstellung der kosmischen Phänomene und ihrer Wirkung auf menschliches Schicksal objektiv zu untermauern.26 In Feldblumen trifft der per Fernrohr in den erhabenen, aber auch erotisch konnotierten Seelenlandschaften des Alls wandelnde Himmelsspaziergänger Albrecht schließlich auf eine Seelenverwandte, die schöne Angela. Sie ist eine „vollendete Minerva", außergewöhnliche Frau mit eigenem universellen Bildungsprogramm, das zu den Normen zeitgenössischer weiblicher Erziehung in scharfem Kontrast steht. Fester Bestandteil ihrer „schönen innern Welt" sind auch Naturlehre und Sternenkunde. Die engelsgleiche Angela wird Albrecht eine adäquate Partnerin in seiner körperlosen Idealgesellschaft der „überirdischen Köpfe", in der - wie zitiert - kosmische Phantasien den so banalen wie realen Gang ins Wirtshaus ersetzen.27 Auch in Der Hochwald spielt die teleskopische Perspektive eine wesentliche Rolle. Hier wie dort markiert das Fernrohr die Distanz zwischen Individuum und Sozietät. Nur durch das Okular dürfen die zu ihrem eigenen Schutz in zeitiose Waldeinsamkeit verbannten jungfräulichen Töchter des Wittinghausers auf die ihnen tödlich gefährliche Menschenwelt blicken; von einem erfüllten Leben innerhalb der Gesellschaft bleiben sie in dieser Schutzzone allerdings für immer ausgeschlossen. Clarissas ungelebte Liebe zu Ronald, der dem Krieg zum Opfer fiel, kann in der weltfernen Burgruine nur in einer kosmischen Phantasie weiterexistieren: „Clarissa liebte und hegte Ronald fort und fort; in den goldnen Sternen sah sie seine Haare, in dem blauen Himmel sein Auge, und als einmal ein Zufall jenes feenhafte Gedicht des brittischen Sängers auf
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Begemann (wie Anm. 4), S. 110. PRÄ 13,1, S. 223. Begemann (wie Anm. 4), S. 134f. HKG 1,4, S. 117 und 171.
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ihre Burg herüber wehte, so sah sie ihn dann oft als den schönen elfigen blondgelockten Knaben auf seinem Wagen durch die Lüfte schwimmen."28 Die exzentrischen Bewohner der Narrenburg haben sich in den Mauern des Rothensteins über Generationen hin einen eigenen, von ihrer sozialen Umwelt abgesonderten Lebensraum geschaffen. Dazu gehört ein Sternenturm, auf dem der Besitzer, Graf Prokopus mit dem „Schwärmerauge",29 „oft ganze Nächte [...] saß", „eine lange Röhre auf die Sterne gerichtet" oder auf einem seltsamen Instrument spielend, dessen unheimliche Sphärenmusik die Natur durchdrang, „als stöhnten alle Wälder."30 Sein libidinöses Verhältnis zur Harmonie des Alls wird demselben Prokopus in der späten gleichnamigen Erzählung jedoch zum Verhängnis. Es schützt ihn zwar vor den Enttäuschungen einer glücklosen Ehe; er wird über dieser Flucht jedoch auch sterben. Seine Lebensbeschreibung bricht ab mit dem enigmatischen Bild vom „Zirkelodem der Sterne." „Was das Wort bedeuten mochte, kann man nicht enträthseln" - so kommentiert der Erzähler.31 In Die Narrenburg findet sich der letzte, lange vergeblich gesuchte Nachfolger der Scharnaste schließlich - für den Leser nicht unerwartet - in Heinrich, dem Protagonisten der Erzählung. Der junge Naturforscher gilt den bodenständigen Bewohnern des abgeschiedenen Gebirgstals als nicht weniger närrisch als seine Vorfahren, zum einen wegen seiner Realitätsuntüchtigkeit, zum anderen wegen seiner Profession. Auch er sieht sich - nach seinen eigenen Worten im Liebesgespräch mit der Wirtstochter Anna - „bestimmt, im Buche Gottes zu lesen und die Steine, und die Blumen, und die Lüfte und die Sterne sind seine Buchstaben. "32 Die Formulierung ließe sich in einer christlichen Erbauungsschrift ebenso wiederfinden wie unter den Motti der naturwissenschaftlichen Sammlungen zu Kremsmünster; zugleich aber benennt sie den Zeichencharakter, den die kosmische Ordnung in Stifters semiotischer Welt hat. Heinrich findet auf diesem von der Norm abweichenden Weg sein scheinbar gänzlich unverdientes - Glück. Er gehört zu jenen im einleitenden Erzählerkommentar zu Abdias erwähnten Menschen, „die das Glück mit solchem ausgesuchten Eigensinne heimsucht, daß es scheint, als kehrten sich in einem gegebenen Falle die Naturgesetze um, damit es nur zu ihrem Heile ausschlage." Ganz anders Abdias selbst, gegen den sich das Schicksal mit ebensolcher Hartnäckigkeit kehrt, unvorhersehbar wie der Blitz „aus heitrem Himmel. " Am zweifachen Blitzschlag, „Naturwunder" und katastrophisches Ereignis zugleich, wird gezeigt, daß in der „gelassenen Unschuld, womit die Naturgesetze wirken",33 eine in sich zwar möglicherweise vernünftige, von 28
Ebd., S. 317. Ebd., S. 385. 30 Ebd., S. 333. 3 > PRÄ 13/1, S. 223. 32 HKG 1,4, S. 350. 33 HKG l,5, S. 237. 29
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menschlicher Erkenntnis und menschlichem Handeln jedoch völlig unabhängige Logik herrscht. Ein Blitzschlag macht Abdias* einzige, blinde Tochter Ditha, ein Mädchen an der Grenze zur Pubertät, sehend und setzt sie ganz unvermittelt zur Außenwelt in Beziehung, die ihr bisher verschlossen war. Und ein Blitz ist es auch, durch den sie fünf Jahre später, nun an der Schwelle zur Weiblichkeit, stirbt; auf immer bewahrt vor der schwierigen und gefahrvollen Annäherung an eben diese Welt. Abdias, Dithas einzige Bezugsperson, kann ihr eine positive Bindung an diese Außenwelt, in der er selbst ein Fremder geblieben ist, nicht vermitteln. Die Schicksalsblitze kommen ohne Vorwarnung, als „blendender Schein" mit Epiphaniecharakter.34 Sie treffen Ditha ganz gezielt, ohne in der unmittelbaren Umgebung auch nur den geringsten Schaden anzurichten. Ditha erscheint als die vom kosmischen Funken Erwählte, eine Sonderstellung, die durch höchst auffällige psychosomatische Symptome vorbereitet ist, wie ein periodisch wiederkehrendes Zittern und ihre Affinität zu Gewittern. Der Lichtschein, der sich in einer gewitterschwülen Nacht wie ein Heiligenschein um ihr gesträubtes Haar legt, wird zwar als naturgesetzliches Phänomen zu erklären versucht, doch zugleich fungiert er als Zeichen.35 Dithas Affinität zu katastrophischem Naturgeschehen wird vom Erzähler einerseits als „Wunder" bezeichnet, andererseits als „Strafgericht."36 Er unterstellt dem unfaßbaren Geschehen eine Gesetzmäßigkeit und innere Konsequenz, die - folgt man dem Text - jenseits physikalischer Logik letztlich wohl aus individueller Schuld resultieren: .Aber eigentlich mag es weder ein Fatum geben, als letzte Unvernunft des Seins, noch auch wird das Einzelne auf uns gesendet; sondern eine heitre Blumenkette hängt durch die Unendlichkeit des Alls und sendet ihren Schimmer in die Herzen - die Kette der Ursachen und Wirkungen - und in das Haupt des Menschen ward die schönste dieser Blumen geworfen, die Vernunft, das Auge der Seele, die Kette daran anzuknüpfen, und an ihr Blume um Blume, Glied um Glied hinab zu zählen bis zuletzt zu jener Hand, in der das Ende ruht. Und haben wir dereinstens recht gezählt, und können wir die Zählung überschauen: dann wird für uns kein Zufall mehr erscheinen, sondern Folgen, kein Unglück mehr, sondern nur Verschulden; denn die Lücken, die jetzt sind, erzeugen das Unerwartete, und der Mißbrauch das Unglückselige."37 In all diesen Phantasien werden Problematik und Chaos menschlicher Existenz in Bezug gesetzt zur Ordnung des Kosmos. In ihrem unmittelbaren Um-
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Ebd., S. 319.
35 Ebd., S. 328f. Zum Motiv der Erwählung durch Blitzschlag vgl. auch HKG 1,9, S. 28 If. 36 Ebd., S. 341. 37 Ebd., S. 238.
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kreis entsteht und erscheint Die Sonnenfmsterniß.36 Gegenstand des Prosatexts ist ein reales kosmisches Geschehen, seine Wirkung auf den Erzähler und die Betrachter rings um ihn, ohne daß dies kosmische Ereignis in eine fiktive Handlung eingebunden würde. Die Darstellung der irdischen und der himmlischen Landschaft in, um und über Wien am Morgen des 8. Juli 1842 und die Beschreibung des physikalischen Vorgangs aber sind denen in entsprechenden Textpassagen der Erzählungen dennoch ähnlich; im hohen Ton, in der Stimmung des Erhaben-Schauerlichen ebenso wie in Bildwahl und dem Einsatz synästhetischer Effekte. Der affektive Charakter der Szene, die Dynamik der kosmischen Bewegung und die spannungsreiche Erregung, die das Naturschauspiel bei den Betrachtern hervorruft, erinnern an die ambivalente erotisch-libidinöse Besetzung der kosmischen Bildwelten in Der Condor, Feldblumen, Die Narrenburg und Abdias. Der Ballon der Luftschifferin Cornelia assoziiert einen mächtigen, schwellenden Frauenkörper, wenn „das zarte Knarren des Taffets" beschrieben wird, bevor er zu einer „riesenhaften Kugel anschwoll" und "ein kaum hörbares Seufzen in dem seidnen Tauwerk", ehe es sich „straff spannte."39 Die Phantasiewelt von Albrechts kosmischen Spaziergängen wird von ihm selbst als „Paphos" bezeichnet, der Ort also, an dem - nach klassischer literarischer Tradition - Venus dem Meer entstieg.40 Dithas somnambule Erregungszustände lassen ebenso an sexuelles Begehren denken wie der Vergleich, mit dem, wie bereits zitiert, die Wirkung von Prokopus' Sphärenmusik dargestellt wird, „als stöhnten alle Wälder."4' Dem entsprechen bei der Beschreibung der Sonnenfinsternis die Formulierung vom „sanften Todeskuß", die an die Szene von Dithas Tod durch den sanften Schein eines Blitzes erinnert,42 und vor allem die vielfach variierte Wendung vom Herzen, zu verstehen als ein mit dem Außenraum Weltall korrespondierender psychischer Innenraum.43 Die Formulierungen steigern sich unmittelbar vor Erreichen der Totalität zum Höhepunkt im wiederholten Ruf „es kommt", „es kommt", bevor die Sonne ihre „Lichtflut auf die Mondeskugel" ergießt, „daß es rings auseinanderspritzte."44 Die von allen Sinnen getragene Sehnsucht danach, Subjekt und All zu vereinen, die individuelle menschliche Existenz in kosmischer Ordnung und Harmonie aufgehoben zu sehen, aber erfüllt sich - spätestens seit der Sonnenßn38
Die relative thematische und zeitliche Nähe legitimiert einen Vergleich trotz der Gattungsdifferenz der Texte - zumal wenn man bereit ist, einen gemeinsamen autobiographischen Bezug für den diese kosmischen Phantasien nährenden Stoff gelten zu lassen. 39 HKG l,4, S. 23. 40 Zur mythologischen Bedeutung vgl. auch HKG l ,9, S. 131. 41 Vgl. auch den Hinweis auf die Phantasie von der „kosmischen Frau" bei Begemann (wie Anm. 4), S. 148ff. 42 PRÄ 15, S. 6ff. - Vgl. dazu auch HKG 1,9, S. 281, das Blitz-Motiv bei Leopold Schefer betreffend. 43 Begemann (wie Anm. 4), S. 155. 44 PRÄ 15, S. 6 und 11.
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stemiß - nicht mehr. Den naiven jugendlichen Helden der Feldblumen und der Narrenburg war es, als Glückskindern, noch vergönnt, ihre Phantasien nach Verschmelzung im symbiotischen Glückszustand einer idealen, Individuum und Welt verbindenden Liebe verwirklicht zu erleben. In Der Hochwald aber ist die Trennung bereits unwiderruflich. Die kosmische Phantasie vom Geliebten ist als Kompensation zu lesen, die an die Stelle nicht gelebten Lebens getreten ist. Auch Cornelia kann nach ihrem Himmelsflug hinter die Grenzerfahrung einer grundsätzlichen Entfremdung nicht mehr zurück. Der Sonderstatus, in den die emotionale Affinität zum kosmischen Geschehen das Individuum versetzt, wird in Der Condor und Abdias ebenso wie in Die Sonnenßnsterniß als Zeichen der Erwählung verstanden, zugleich aber als Strafgericht. Erwählt sind meist Figuren, die in einem kindlich-paradiesischen Urzustand leben. Dazu zählen neben den ,tumben' Helden Heinrich und Albrecht Cornelias Jungfräulichkeit und Dithas pflanzenhafte kreatürliche Existenz außerhalb der Gesellschaft, aber auch die lebenslange Natumähe des Erzähler-Ichs aus Die Sonnenßnsterniß: „ [...] freilich bin ich seit Kindheitstagen viel, ich möchte fast sagen, ausschließlich mit der Natur umgegangen und habe mein Herz an ihre Sprache gewöhnt und liebe diese Sprache, vielleicht einseitiger, als es gut ist."45 Dieser symbiotische Urzustand läßt sich nicht aufrecht erhalten. Die Faktizität naturwissenschaftlicher Erkenntnis, die allen Texten, ob als Vorrede oder Nachsatz, Einschub oder Anmerkung eingeschrieben ist, widerspricht dem emotionalen Befund. Die Einsicht, daß - Schattenseite aufklärerischen Lichts die Gesetzmäßigkeit der Schöpfung ohne Rücksicht auf menschliches Schicksal funktioniert, ist spätestens seit dem Erlebnis der Sonnenfinsternis unvermeidbar geworden. Die Trennung, die mit dieser Erkenntnis einhergeht, wird als Riß in der angenommenen Harmonie des Kosmos erlebt, als Strafgericht, Dies irae und individuelle Katastrophe. Es ist der Moment des kosmischen Erschreckens. Die Handlungsmotive, aus denen heraus Erwählung und Bestrafung, die Erhöhung des Individuums und seine Schuld aneinander gekoppelt erscheinen, bleiben letztlich rätselhaft. Darauf ist, vor allem für den Condor, mehrfach hingewiesen worden.46 Im Sonnenfinsterniß-Te\t wird der Zusammenhang an der Oberfläche des Texts über alttestamentarische Motive hergestellt, wie das des vom brennenden Berg herabsteigenden Moses und das der Dies irae. Die Tiefenstruktur des Texts jedoch legt, wie oben ausgeführt, andere, dazu widersprüchliche Aussagen nahe. Denn hier dominiert nicht das wiederkehrende Licht als Gottesbeweis, sondern das Erlebnis der Verdüsterung der vertrauten Welt, das die vielzitierte „fürchterliche Wendung der Dinge" einleitet. Begemann hat dieses kosmische Erschrecken mit den pränatalen Erinnerungen aus
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Ebd., S. 15. Begemann (wie Anm. 4), S. 150ff.
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Stifters autobiographischem Fragment in Verbindung gebracht.47 Letztlich aber bleibt der widersprüchliche Zusammenhang von Erwählung und Bestrafung seiner Ambivalenz wegen auf dieser tieferen Textebene unauflöslich.
VI. „Nachmalen." Kosmische Phantasien im Bild „Ich will in diesen Zeilen versuchen, für die tausend Augen, die zugleich an jenem Momente zum Himmel aufblickten, das Bild, und für die tausend Herzen, die zugleich schlugen, die Empfindung nachzumalen."48 Die Plastizität und Dynamik, mit der Landschaft und kosmisches Geschehen dargestellt sind, verraten das geübte Auge des Malers. Der Erzähler erreicht diese Wirkung zum einen durch die Beschreibung von Licht- und synästhetischen Farbeffekten, zum anderen durch die zugleich formal präzise und stark bewegte Zeichnung der Topographie, festgehalten in verschiedenen Stadien der Veränderung. Zunächst die Ausgangssituation: „Die Sonne war bereits herauf und glänzte freundlich auf die rauchenden Donauauen nieder, auf die spiegelnden Wässer, und auf die vielkantigen Formen der Stadt, vorzüglich auf die Stephanskirche, die ordentlich greifbar nahe an uns aus der Stadt, wie ein dunkles, ruhiges Gebirge aus Gerolle emporstand. [...] Weit draußen, wo der große Strom geht, lag eine dicke, langgestreckte Nebellinie, auch im südöstlichen Horizonte krochen Nebel und Wolkenballen herum, die wir sehr fürchteten, und ganze Theile der Stadt schwammen in Dunst hinaus." Mit fortschreitender Verfinsterung ändert sich die Wirkung derselben Topographie: „ [...] der Fluß schimmerte nicht mehr, sondern war ein taftgraues Band, matte Schatten lagen umher, die Schwalben wurden unruhig, der schöne, sanfte Glanz des Himmels erlosch, als liefe er von einem Hauche matt an, [...] über den Auen starrte ein unbeschreiblich seltsames, aber bleischweres Licht, über den Wäldern war mit dem Lichterspiele die Beweglichkeit verschwunden, und Ruhe lag auf ihnen, aber nicht die des Schlummers, sondern die der Ohnmacht - und immer fahler goß sich's über die Landschaft, und diese wurde immer starrer - " Auf dem Höhepunkt der Sonnenfinsternis weicht diese Starre dann einer dramatisch bewegten Himmelsbeschreibung: „ [...] so wurden wir nun plötzlich aufgeschreckt und emporgerissen durch die furchtbare Kraft und Gewalt der Bewegung, die da auf einmal durch den ganzen Himmel lag; die Horizontwolken, die wir früher gefürchtet, halfen das Phänomen erst recht bauen, sie standen nun wie Riesen auf, von ihrem Scheitel rann ein fürchterliches Roth, und in tiefem kalten schweren Blau wölbten sie sich unter und drückten den Horizont - Nebelbänke, die schon lange am äußersten Erdsaume gequollen und bloß mißfärbig gewesen waren, machten sich nun gelten, und schauderten in einem
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Ebd., S. 115ff. PRÄ 15, S. 7.
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zarten furchtbaren Glänze, der sie überlief - Farben, die nie ein Auge gesehen, schweiften durch den Himmel."49 Auf die emotionale Wirkung des Bildes im geschriebenen Wort zielt die Intention des Texts; so ist es im Rahmen der Sonnenfinsternis-Beschreibung gleich zweifach formuliert. Zwei gleichzeitig entstandene Gemälde, in denen kosmische Katastrophen in einer für die Epoche richtungweisenden Form ins Bild gesetzt sind, werden immer wieder in Zusammenhang mit Stifters Text gebracht: Rudolf von Alts großformatige Aquarellstudie zur Sonnenfinsternis und Turners Ölgemälde Schneesturm.50 Darauf, daß Stifters Darstellung der Sonnenfinsternis symptomatisch sei auch für die bildende Kunst seiner Epoche, hat bereits Hans Sedlmayr hingewiesen; auch sie stehe, als Konsequenz einer umfassenden Entfremdungserfahrung, „im Zeichen einer solchen Verfinsterung." Stifters Text sei zum einen „realistisch", zum anderen spiegele er die epochemachenden Metamorphosen des Lichts, seine Säkularisierung und Auflösung in Farbe, die ihrerseits zum Surrogat des Lichts werde.51 Der reale Ausgangspunkt, das authentische Naturerlebnis, ist entscheidend für die Entstehung jedes der drei Kunstwerke. Bei Stifter ist das erlebende Ich selbst im Text präsent. Der Maler Turner mißt der Tatsache, daß er den Schneesturm, den er zum Bildthema macht, selbst erlebt habe, bis in den Titel seines Werks hinein größte Bedeutung bei.52 Für Alt hält die sinnliche Ausstrahlung seiner Sonnenfinsternis-Studie ein Leben lang vor. Unter den vielen Tausenden von Objekten, die sein oeuvre umfaßt, hat er sich gerade von diesem Blatt nie getrennt. Es sei ein „optisch-koloristisches Abenteuer", dessen befremdlich kühle Farbgebung bewirke, „daß es um zwei Grad kälter im Zimmer wird, wenn man es aus der Mappe holt."53 Anders als die meist der Gebrauchskultur verpflichteten bildlichen Darstellungen der Sonnenfinsternis im Umkreis des Wiener Biedermeier, zu denen auch die einleitend zitierte Modezeichnung zählen mag, verzichtet Alt ganz auf Personal und genrehafte Szenerie. Selbst die Landschaft erscheint zurückge49
Ebd., S. 7-11. Rudolf von Alt: Sonnenfinsternis über Wien am 8. Juli 1842. Aquarell 1842; Historisches Museum der Stadt Wien, Inv.Nr. 105.390. William Turner: Schneesturm - Dampfboot vor einer Hafeneinfahrt. Öl auf Leinwand 1842; Täte Gallery London. Thematisch entsprechen Turners Gemälde unter Stifters Texten Bergkristall und Aus dem bairischen Walde. Vgl. dazu auch: Adalbert Stifters schrecklich schöne Welt. Beiträge des internationalen Kolloquiums zur A. Stifter-Ausstellung (Universität Antwerpen 1993). Hrsg. von Roland Duhamel, Johann Lachinger, Clemens Ruthner und Petra Göllner. (Jahrbuch des AdalbertStifter-Institutes Linz 1/1994), S. 70. 5 > Sedlmayr (wie Anm. 12), S. 9. 52 Der volle Titel des Bildes lautet: Dampfschiff vor einer Hafeneinfahrt, in seichtem Wasser Signale gebend und am Land entlangfahrend. Der Autor war an dem Abend, als die Ariel Harwich verließ, in diesem Sturm. Turner berichtet zudem, er habe sich während des Schneesturms von Seeleuten an den Schiffsmast binden lassen, um die Szene authentisch festhalten zu können, falls er überlebe. Vgl. Anm. 49. « Walter Koschatzky: Rudolf von Alt. 1812-1905. Salzburg 1975, S. 88. 50
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drängt gegenüber dem Himmel, der sich - als Ort des kosmischen Geschehens - über mehr als dreiviertel der Bildfläche ausbreitet. Noch weiter aufgelöst ist jede Gegenständlichkeit bei Turner. Es dominiert die Darstellung einer nur noch als Licht und Dunkel wahrnehmbaren katastrophischen Natur, in der der Mensch nicht einmal mehr als Staffage fungiert. Text wie Bilder gehen zwar aus von einer auf Autopsie und naturwissenschaftliche Faktizität gestützten Realität, lösen sich jedoch von ihr über der Gewalt der existentiellen Grenzerfahrung in der Konfrontation mit dem Kosmos und gewinnen visionären Charakter. Als Maler hat Stifter sich zwar an vergleichbar visionären Sujets nie versucht; „Luftstudien" jedoch, Wolkenbilder, von denen nur wenige erhalten sind, waren in den Jahren 1837 bis 1840 ein bevorzugtes Motiv.54 Im literarischen Werk tritt die visionäre kosmische Bildwelt nach Sonnenfinsterniß und Abdias in den Hintergrund. In Schneesturm und Eishöhle des Bergkristall erscheint sie noch einmal, später dann in den Plänen zu einem Kepler-Roman. Dessen Thema hätte die Problematik eines Lebens sein sollen, das - mit deutlich autobiographischer Reminiszenz - gespalten ist zwischen der Erhabenheit des Alls und den Versuchen, es durch Berechnung zu verstehen und zu durchdringen, auf der einen und der Banalität des Alltags in der oberösterreichischen Provinz auf der anderen Seite. Kosmische Verschmelzungsphantasien taugen nun nicht mehr dazu, die Schrecken der Entfremdung und Vereinsamung zu bannen, ebensowenig wie, in der Phase nach 1848, die Konstruktion einer gewaltsam sinnstiftenden Ordnung der Dinge im Diesseits, für die die Vorrede zu Bunte Steine als programmatisch gilt. Mit dem letzten seiner Texte, der Beschreibung des „Großen Schneefalls" im Bayerischen Wald von 1867,55 kehrt Stifter noch einmal zu den kosmischen Bildwelten seiner literarischen Anfänge zurück. Jetzt aber, am Ende seines Lebens, setzt sich die vielzitierte „Neigung zum Exzessiven, ElementarKatastrophalen, Pathologischen"56 endgültig durch. Die Formulierung, in der er noch einmal den Verfremdungsprozeß einer vertrauten Natur, hier durch einen dreitägigen Dauerschneefall, schildert, faßt in ungewöhnlicher Knappheit den Bedeutungswandel, den kosmische Phantasien in Stifters .Weit der Zeichen' seit der Beschreibung der Sonnenfinsternis durchlaufen haben: „Was Anfangs furchtbar und großartig erhaben gewesen war, zeigte sich jetzt anders, es war nur mehr furchtbar."57
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HKG1.9.S. 132. Aus dem bairischen Walde. In: PRÄ 15, S. 321-353. Thomas Mann: Gesammelte Werke. Frankfurt/M. 1960, Bd. XI, S. 237f. Aus dem bairischen Walde (wie Anm. 55), S. 342.
Hanmut Reinhardt Literarische Trauerarbeit Stifters Novellen Das alte Siegel und Der Hagestolz als Erzähltragödien
[...] der selbstischen Verstockten, der Verkehrten einer, die Dir abgeschloßnes Wesen unfruchtbar Verzweifeln läßt. (Goethe, Die natürliche Tochter)
Die Wortgeschichte weist ihn als einen ohne eigenes Verschulden Benachteiligten aus, benannt nach der „Hagestolle", dem mit einer Hecke umzogenen Gutsteil innerhalb des Herrenhofes, über den der erbberechtigte, da ältere Bruder die Oberhoheit hatte.1 Der Hagestolz, ursprünglich der - oder sogar die Unverheiratete, konnte innerhalb des väterlichen Besitzes keinen freien Hausstand gründen und mußte sein Glück oft in der Fremde suchen. Um familienfähig zu werden, hatte er sich hochzuarbeiten, meist in einem Dienstverhältnis kam die Zeit für den eigenen Hausstand, war die Lebenszeit fast vorbei oder so weit fortgeschritten, daß an Eheschließung und Nachkommenschaft nicht mehr zu denken war. Daraus entwickelte sich die spätere Bedeutung: Der Hagestolz gilt als älterer Junggeselle - etwa als „Person männliches Geschlechtes, welche fünfzig Jahre alt ist und noch nicht geheurathet hat"2 -, mit Eigenheiten behaftet, die ihn für eine komische Sonderlingsrolle qualifizieren: schrullig, geizig, aber auch eitel oder sonstwie belustigend. Eigentlich führt der Hagestolz ein unglücklich verfehltes Leben ohne Ehe- und Kinderglück, und nur der Blick aus der Gegenwelt, gerichtet zumeist auf die habituellen Züge, macht ihn zum komischen Typus. Niemand wird Frau Marthe Schwerdtlein (im Faust) widersprechen, wenn sie es als untunlich hinstellt, „sich als Hagestolz allein zum Grab' zu schleifen", oder die Unbekehrbarkeit eines Hagestolzen beklagt.3 Ihr Pech ist nur, daß sie die Typenkomik falsch adressiert, nämlich an einen Abgesandten der Hölle, der mit der Hagestolzen-Rolle nur spielt. Im Werk Stifters, das zeigt ein Überblick, werden Traditionen der Typenkomik oder der komischen Behandlungsweise aufgenommen. Es gibt junge Leute, die eine Eheschließung aus ihrem Lebensvorsatz geradezu programma-
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Vgl. DWb 4/2, Sp. 154ff. Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart. 5 Bde. Leipzig 1774-1786, Bd. 2, S. 895. Johann Wolfgang Goethe: Faust l, Verse 3092, 3150.
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tisch streichen, sei es aus romantischer Sorge vor einer desillusionierenden Alltäglichkeit wie der Maler Albrecht in den Feldblumen (1840) oder aus einer aufgesetzten Stoizismus-Attitüde wie Leander und Erwin (zwei der Drei Schmiede ihres Schicksals, 1844) - zu ihrem Glück werden diese Lebensplaner eines Besseren belehrt. Ebenso ergeht es Victor (im Hagestolz, 1844), der eine Heirat im Gespräch mit seiner Ziehschwester Hanna kategorisch ausschließt, dann aber nach der Lektion durch ein Hagestolzen-Schicksal unvermittelt, aber psychologisch nachvollziehbar die Frage nach Hanna stellt.4 Freundlich meint es das Leben auch mit dem Landschaftsmaler Friedrich Roderer (in der späten Erzählung Nachkommenschaften, 1864), dessen Junggesellenpläne an der richtigen Frau, der als „Königstochter" metaphorisierten Susanna, zuschanden werden.5 Ins Humoristische getrieben hat Stifter die Bekehrung eines Hagestolzen im Waldsteig (1845), wo Theodor/Tiburius Kneigt seine Furcht vor dem weiblichen Geschlecht verliert, als er an die Rechte gerät, das „Erdbeermädchen" Maria. Doch nicht immer geht es glücklich oder komisch zu bei den drohenden oder dann eintretenden Hagestolzen-Schicksalen. Den Urgroßvater der Mappe, Stifters eigentliches Lebenswerk, treibt eine Liebesenttäuschung an den Rand des Selbstmordes und dann in ein immerhin berufserfülltes Einzelgängertum, bis eine zweite, von außen veranlaßte Werbung um Margarita doch noch zu Eheglück und Nachkommenschaft führt. Doch Hagestolze bleiben der Schloßherr in Bergmilch (in den Bunten Steinen, 1853), der Pfarrer im Kar (Der arme Wohltäter/Kalkstein, 1847/1853), der lange Hanns (in Der beschriebene Tännling, 1846) und eigentiich auch der Freiherr von Risach (im Nachsommer, 1857), dem freilich das Sonderschicksal eines freundschaftlichen Altersbundes beschieden ist. Wenn wir auch noch auf die Geschichten mit dem Thema der Ehe beziehungsweise der Ehekrise blicken, dann verfestigt sich der Eindruck, der Autor arbeite im Gewände der Novellengeläufigkeit sehr ernste Probleme durch, ob in der Jodokus-Geschichte der Narrenburg (1843) oder im stofflich benachbarten Prokopus (1848), in Brigitta (1844), im Waldgänger (1847) oder in Der Pförtner im Herrenhause/Turmalin (1852). Der künstlerische Nachdruck, den Stifter diesen Ernstfällen gefährdeter oder scheiternder Ehen gibt, läßt die eher komische Behandlung des Hagestolzen-Themas als Problementschärfung erscheinen. Daß Persönliches hineinspielt, daß der Dichter - um es mit seinem Antipoden Friedrich Hebbel zu sagen - „seinen eigenen Lebensprozeß" gibt,6 wenn er Liebes- und Eheprobleme darstellt oder Hagestolzen-Schicksale verfolgt, liegt auf der Hand. Man landet aber, wenn man Stifters Psyche nach dem Verlust der Jugendgeliebten Fanni Greipl, der Verführung durch Amalia Mohaupt und
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HKGl,3,S.41f.,107f.. PRÄ 13/2, S. 275,8.281. Friedrich Hebbel: Mein Wort über das Drama! In: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. Richard Maria Werner. 24 Bde. Berlin 1901ff. Bd. 11, S. 9.
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in der wahrlich nicht durch Liebeserfüllung beglückten Ehe mit der „guten dummen Haut" zu ergründen und daraus einen Leitfaden der Interpretation zu bilden versucht, schnell in Trivialitäten, nicht falsch, doch auch nicht ergiebig.7 Statt dessen soll hier das Prinzip Textbefragung gelten, anhand zweier Hagestolzen-Geschichten Stifters, nämlich der .klassischen' Erzählung dieses Titels (I) und der Novelle Das alte Siegel ( ), ermittelt werden, ob das Thema den Autor in Problemdiskurse treibt, die mit seiner offiziösen Kunstprogrammatik - und vollends mit dem Stifter-Klischee - schwer zu vereinbaren sind. Zum Schluss (TU) ist die Hypothese zu überprüfen, daß der Dichter des „sanften Gesetzes" das Aufblättern von Hagestolzen-Schicksalen zu verschwiegenen Tragödien macht.
Die Erzählung Der Hagestolz, 1844 in der Zeitschrift Iris in einer notgedrungen abgekürzten Version erstmals publiziert, ist erst in der Studienfassung (1850) richtig zum Abschluß gekommen.8 Der junge Victor, von dessen Heiratsabneigung schon die Rede gewesen ist, unternimmt auf ausdrückliches Verlangen seines Oheims eine längere Fußwanderung, um ihn in seiner abgeschotteten Eremitenklause auf einer Hochgebirgs-Insel aufzusuchen. Befremdliches muß er wahrnehmen, ein Negativbild von seinem Oheim setzt sich in ihm fest. Dann kommt es endlich, während ein Gewitter niedergeht, zu einem aufklärenden Gespräch zwischen Victor und dem Alten. Wie es auf den jungen Besucher - und Adoleszenten - wirkt, können wir der Feststellung entnehmen: „Victor saß dem Oheime gegenüber, er war erschüttert und konnte kein Wort sagen" (S. 124). Nicht zufällig, so scheint es, spielt die Erzählung auf die Wirkungspoetik der Tragödie an: Victor ist „erschüttert", weil sich der abstoßende Einzelgänger in seiner verfehlten Menschlichkeit doch menschlich gezeigt hat. Die Negativität des Hagestolzen erhält Züge des Tragischen, der Tragödie.
Die Autorenpsychologie, die in einer neueren Stifter-Biographie - wohl im Anschluß an Gerhard Kaisers psychologisierende Keller-Werkmonographie (1981) - aufgestellt wird, läßt bei aller Nützlichkeit der beigebrachten Informationen gelegentlich einen solchen Eindruck entstehen. Vgl. Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. München/Wien 1995, S. 50ff. u. ö. Zitiert im Folgenden nach HKG 1,6, S. 11-142 (mit Nachweisen im fortlaufenden Text). Grundlegend nach wie vor: Herbert Seidler: ,Adalbert Stifters Novelle ,Der Hagestolz'". In: Interpretationen zur österreichischen Literatur. Hrsg. vom Institut für Österreichkunde. Wien 1971, S. 5-30. Diese Studie erschließt vor allem die Landschaftsdarstellung und die strukturelle Anlage der Erzählung. Bemerkenswert auch weiterhin, trotz der Ausklammerung des mit dem Thema gegebenen Nonnenproblems, Herman Meyer: Der Sonderling in der deutschen Dichtung, Frankfurt/M. 1990 (zuerst München 1963); zum Hagestolz S. 171ff. Nicht erreichbar war mir J. Striewe: Der Hagestolz in Stifters Werk. Diss. Wien 1942.
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Zweipolig ist die Geschichte angelegt. In harter, doch keineswegs schematischer Kontrastierung stehen sich die Figuren und die Landschaftsräume gegenüber: hier die munteren Jünglinge, aus deren Ensemble Victor hervortritt, schwermütig und lebensvoll zugleich, dort der einsame Greis, finster und menschenfeindlich, hier die blühende Landschaft um Ludmillas kleines Gut in der Nähe Wiens, dort die harte und doch auch großartige Bergnatur auf dem Weg zur „abgesperrten Inselklause"9 des Oheims. In der Räumlichkeit prägt sich die Lebensform der Einsamkeit aus, zumal das Refugium des Eremiten, das Gerichtshaus eines ehemaligen Klosters, mit seinen vergitterten Fenstern, seinem verrammelten Haupttor und den verdorrten Obstbäumen im Garten, der umgebenden Natur nicht etwa entspricht, sondern von ihrer Größe und blühenden Pracht absticht.10 Wir sind an einen Totenort, auf eine Böcklinsche Toteninsel geführt worden. Victor geht auf einer von Gesträuchen zugewucherten Fahrstraße durch einen „seltsamen Ahorngarten" und schaut in eine „seltsame Welt", einen Zwergengarten als vorausdeutendes Sinnbild des Hagestolzen.11 Die Zwerge sind teilweise schon „verstümmelt", zwischen ihnen gibt es keine verbindenden Wege, sie bleiben beziehungslos vereinzelt, im Widerspruch zu dem von ihnen dargestellten Musikantentum, das eigentlich auf Geselligkeit verweist. Der Initialbeschreibung des Zwergengartens, des heruntergekommenen Artefakts in der heruntergekommenen Enklave innerhalb der Natur, folgt als räumlich-symbolische Auffächerung alles Weitere, was wir vom Oheim und seiner Lebenswelt erfahren. Sein Personal, der Diener und die Haushälterin und das blödsinnige Mädchen Agnes, bilden mit ihm ein Ensemble von „alten Menschen" (S. 109). Dazu kommen „drei alte, fette Hunde" (S. 79), die der Oheim bei seinen Mahlzeiten zu füttern pflegt und vor denen er sich andererseits fürchtet. Als Victor eintrifft, wird ihm nicht geöffnet, weil er sich weigert, seinen eigenen Hund (und treuen Wegbegleiter) im See zu ertränken - wie es der Oheim kategorisch verlangt (S. 70). Bis in das räumliche Interieur - verdeckte Türen, Absperrgitter im Gang - spüren wir die Atmosphäre aggressiver Abschottung, auch bei den schweigend eingenommenen Mahlzeiten. Und was tut der Oheim, da ihn die eigenen Bücher nicht mehr interessieren? Er kramt in Schubladen herum und staubt ausgestopfte Vögel ab, die seine Räume bevöl-
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So ein zeitgenössischer Rezensent (Wilhelm Hensen) in den Blättern fllr literarische Unterhaltung 1851 (zit. nach Moriz Enzinger: Adalbert Stifter im Urteil seiner Zeit. Wien 1968, S. 165). Als reales Vorbild für den Wohnsitz des Hagestolzen hat Enzinger, Stifter eine gewisse Kombinationsfreiheit in den Einzelheiten zugestehend, Traunkirchen am Traunsee wahrscheinlich gemacht. Vgl. Moriz Enzinger: „Der Schauplatz von A. Stifters ,Hagestolz'". In: M. E.: Gesammelte Aufsätze zu Adalbert Stifter. Wien 1967, S. 54-66, Abb. nach S. 304. Vgl. H. Seidler (wie Anm. 8), S. 18f. Vgl. zu Einzelheiten, auch zur Beziehung auf Goethes Italienische Reise (Schloß des Prinzen Pallagonia in Palermo), Moriz Enzinger: „Der Schauplatz von A. Stifters .Hagestolz'" (wie Anm. 9), S. 63ff.
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kern, tote Vögel in einer staubig-grauen Totenwelt. Der Herr dieser Finsternis wird als „mager" und „verfallen", mit verschmutzter Kleidung und inmitten von ,,leblose[n] und verdorbene[n] Dingen" porträtiert (S. 87). Der reiche Einsiedler wirkt verfallen wie seine Gartenzwerge, lieblos, verschlossen, vom Tode gezeichnet. Die „stechenden Augen" der Journalfassung12 hat ihm die Umarbeitung mildernd erlassen, auch die nüchterne (und dabei schreckliche!) Konstatierung, daß der Oheim „mit ganz gewöhnlichen Augen vor sich" schaut - statt den Blick zum Gegenüber zu öffnen -, während Victor erregt mit dem Selbstmord droht.13 Dafür markiert die Studienfassung in der Schilderung von Victors faktischer Gefangenschaft die „Härte dieses abscheulichen Mannes" (S. 101). Zwar ahnt der junge Besucher, daß sich hinter dieser Härte Unglück verbirgt (S. 108), und ihm kommt der Gedanke, daß „der Mann doch ein lebendiges menschliches Wesen lieber hätte, als die todte, starre Fülle von Dingen und Kram, womit er sich umringte" (S. 114). Doch das Gewittergespräch mit seinen umstürzenden Fj-öffnungen kommt nach einer Woche Aufenthalt dennoch überraschend. Nach der Dramaturgie des Dramas ereignet sich hier eine Peripetie mit Anagnorisis - für Victor ist der Oheim, den er bisher gehaßt hat, fortan „ein herrlicher vortrefflicher Mann", wie er Ludmilla nach seiner Rückkehr versichert (S. 137). Der Oheim tut sein Innerstes auf, und Victor erfährt: Es war nicht das abscheuliche Gebaren eines Ekels, was ihm zugesetzt hat bis zu Protest und Verzweiflung, es war vielmehr eine ausgedehnte pädagogische Maßnahme mit der Zielsetzung, einen Weichling zu härten, ihn tauglich zu machen für das Leben. In diese Maßnahme hat sich der Erzieher selbst als negatives Exempel eingebracht. Denn der Oheim will Victor keineswegs an das eigene Selbstbild angleichen, er will ihn gerade nicht zum insularen Sonderling mit Ausschluß vom Leben heranwachsen sehen - der Neffe soll nicht werden wie er, der sein eigenes Leben verneint und bereut. Nur eine gewisse Härte und Festigkeit will er als Korrektiv für Victors Hang zur Empfindsamkeit aus dem Eigenen beisteuern. Ansonsten läuft das Lebensvermächtnis dieses Hagestolzen auf die dringliche Empfehlung hinaus, Victor müsse heiraten, jung heiraten, allerdings mit der herben Beimischung (die sozialgeschichtlich vorromantischen Mustern folgt), daß die Heirat nicht abhängig gemacht werden dürfe von der „Vorneigung" zu einer bestimmten Frau (S. 125). So bringt es dieser Einzelgänger fertig, das Lebensprinzip „Jeder ist um sein selbst willen da" - in dreifacher Anapher sozusagen eingerammt - bruchlos überzuleiten in den Gedanken, daß diese Selbstverwirklichung nur im sozialen Wirken gelingen könne, in der „Hingabe seiner selbst für andere" (S. 121f.). Und so stimmt der einsame Alte in strikter Selbstnegation eine Apologie von Ehe, Familie, Nachkommenschaft und Generationenfolge an:
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HKG1.3.S.70. 13 Ebd., S. 87.
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Das Leben ist unermeßlich lange, so lange man noch jung ist. Man meint immer, noch recht viel vor sich zu haben [...] Darum ist das Leben ein unabsehbares Feld, wenn man es von vorne ansieht, und es ist kaum zwei Spannen lang, wenn man am Ende zurük schaut. [...] Darum möchte man die Hände ausstreken, um nicht fort zu müssen, weil man so viel versäumt hat. Wenn ein uralter Mann auf einem Hügel mannigfaltiger Thaten steht, was nüzt es ihm? Ich habe vieles und allerlei gethan, und habe nichts davon. Alles zerfällt im Augenblike, wenn man nicht ein Dasein erschaffen hat, das über dem Sarge noch fort dauert. Um wen bei seinem Alter Söhne, Enkel und Urenkel stehen, der wird oft tausend Jahre alt (S. 122).
Der Oheim trägt einen Unsterblichkeitsglauben vor, wie er bei Stifter des öfteren ausgesprochen wird: es gibt keine Transzendenz - „kein Jenseits", wie es einmal in der symbolischen Topographie einer Hochgebirgs-Eiswüste heißt14 -, sondern ein Fortleben nur in der Generationenfolge und im Generationengedächtnis. Das Christentum erscheint ausgenüchtert zu einem Immanenzglauben, der durchaus emphatisch vertreten werden kann, und sei es aus der Gegenperspektive eines unglücklich Abgeschlossenen. Daher ist das starke Gewicht motiviert, das in Stifters Erzählungen das Kinderthema erhält, weil die Überzeugung zugrunde liegt, daß nur in der Fortpflanzung Fortdauer zu erlangen ist.15 So motiviert der Ich-Erzähler der Mappe seinen Heiratswunsch mit der „Sehnsucht [des Menschen], den sachte vergehenden Lebensstrom in holden Kindern wieder aufquellen zu sehen".16 Der Angelpunkt des Scheidungsgesprächs im Waldgänger ist Georgs und Coronas Kinderlosigkeit, das bittere Resümee (angestimmt von der Frau), ihre Ehe sei ohne Kinder nicht gerechtfertigt, „eher Sünde".17 Mag die Auflösung der Ehe sich in diesem Falle als ein unglücklicher Irrtum herausstellen,18 so ist an der Durchschlagskraft des Arguments selbst nicht zu zweifeln. Der kinderlose Autor wußte genau, was er seinen Erzählfiguren zuspielte oder auflastete - und er wußte wohl auch, daß es in der Fortpflanzung den letzten Rest einer christlichen Verheißung zu retten galt.
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Bergkristall (HKG 2,2, S. 220). - Durch Verknappung hat Stifter dem Passus symbolische Bedeutung gegeben. In der Urfassung (Der heilige Abend, 1845) steht an entsprechender Stelle: „[...] das Jenseits, wo es nun sogleich hinabgehen sollte, war nicht da, der Wall hatte kein Jenseits" (HKG 2,1, S. 163). Anders, doch m. E. nicht zutreffend schätzt Rosemarie Hunter die Relevanz des KinderArguments für Stifter ein; vgl. Rosemarie Hunter: „Kinderlosigkeit und Eschatologie bei Stifter". In: Neophilologus 57 (1973), S. 274-283. Dagegen opponiert in der Sache berechtigt, doch mit problematischer, Stifters Religiosität harmonisierender Begründung Bernhard Adamy: „Widerschein des götüichen Waltens". In: VASILO 26 (1977), S. 95109. HKG 1,5, S. 21. Vgl. PRÄ 13/1, S. 121, S. 128, S. 135ff. (hier mit Anklängen an Schiller-Formulierungen Coronas Überzeugung, daß der Mensch erst mit Kindern „ein ganzer Mensch" werde). Für Interpretationsfragen nach wie vor wegweisend Walther Rehm: „Stifters Erzählung ,Der Waldgänger' als Dichtung der Reue". In: Jost Schillemeit (Hrsg.): Deutsche Erzählungen von Wieland bis Kafka. Interpretationen. Frankfurt/M. 1966, S. 218-242. Vgl. den Schluß der Erzählung (PRÄ 13/1, S. 150).
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Derjenige aber, der im Hagestolz die Lehre seines Lebens weitergibt, kann dies nur um den Preis der Selbstauslöschung seiner Person und ihrer Geschichte. Daß er mit seiner Lebenspädagogik sozusagen aus der eigenen Existenz zu springen vermag, hat mit der Typenkomik des Sonderlings nichts mehr zu tun. Es gibt in der Literatur Beispiele, in denen diese Typenkomik in Regionen gerät, die das Lachen gefrieren lassen, etwa das Porträt des geizigen Gutsbesitzers Pljuschkin in Gogols Die toten Seelen (1842), einer menschlichen Ruine, umgeben von Ramsch und Plunder.19 Das Leben des Hagestolzen erhebt Stifter zum tragischen Ernstfall, und dies offenbar programmatisch, wie aus einer Briefäußerung 1844 hervorgeht: „Der .Hagestolz selbst' sollte ein grandios düster prächtiger Karakter werden [...]."2° Seine Geschichte wird zu einer Tragödie in Erzählform, stellt ein Leben voller Unglück, Lieblosigkeit, Einsamkeit und trostloser Todesverfallenheit dar - gezeichnet dabei mit dem Zug des Zwangsläufigen, der den Gedanken an Schicksals-Alternativen nicht aufkommen läßt. Der Oheim konnte nicht anders, und doch war es falsch. In diese Lebenstragik fällt aber ein Schimmer der Versöhnung (um noch einmal eine dramaturgische Kategorie heranzuziehen): Auf den Ruinen eines verfehlten Lebens zeigt dieser Hagestolz die Fähigkeit, die Lehre des richtigen zu verkünden. An einer Stelle bricht im Gewittergespräch der Panzer auf, den der Einsame über sein inneres Gefühl gelegt hat: „Dich hätte ich geliebt [...]" - so schreit es aus ihm heraus, „daß Victor fast erzitterte" (S. 118). Zwar zeigt der Irrealis Distanz an, als wäre die Möglichkeit eines Vater-Sohn-Verhältnisses (wie es dem „Waldgänger" mit dem Hegerbuben beschieden ist) längst von der Zeit verschlungen. Doch der emotionale Nachdruck des Bekenntnisses, auf das „einige Augenblicke Stille" folgen, wirkt ungeheuer. Auch der Abschied bringt eine große Gefühlswallung, für Victor, der mit tränenfeuchten Augen „plötzlich [...] heftig die runzlige Hand" des Greises küßt, für diesen, der „einen dumpfen unheimlichen Laut" ausstößt, welcher „wie Schluchzen" klingt (S. 132). Victor hat auch allen Grund für das Gefühl dankbarer Rührung nach allem, was der Oheim als verborgener Wohltäter für ihn, den Sohn seines ungeliebten Bruders, getan hat und noch tut als Vermögensverwalter und Ratgeber. Er folgt ihm ja auch, indem er die empfohlene .Bildungsreise' antritt (immerhin vier Jahre!), danach heiratet und schließlich sein Landgut bewirtschaftet, statt in ein Amt einzutreten. Doch zur Hochzeit mit Hanna kommt der
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Vgl. die ,tote' Dinganhäufung beim Oheim: „Das Gemach war wüste eingerichtet, und enthielt mehr als hundert Feuergewehre, die nach Gattungen und Zeiten in Glasschreinen waren. Hüfthörner, Weidtaschen, Pulvergefäße, Jagdstöke und noch tausenderlei dieser Dinge lagen herum" (HKG 1,6, S. 96). An Gustav Heckenast, 17. Juli 1844 - im zeitlichen Kontext der gerade eher abgebrochenen als beendeten Journalfassung (daher „sollte"). Stifter fugt den Wunsch hinzu, dieser „Karakter" solle „in seiner ursprünglichen Tiefe [!] und Gewalt [!] auftreten können": was in der Studienfassung geschieht.
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Oheim trotz aller Bitten nicht: „Er saß ganz einsam auf seiner Insel; denn wie er einmal selber gesagt hatte, es war zu spät, alles zu spät, und was versäumt war, war nicht nachzuholen" (S. 142). In scharfer Kontrastierung bleibt der unglückliche Einzelne isoliert vom Lebensfest der Liebe und Gemeinschaft. Am Ende steht, breit ausgeführt, das aus dem Neuen Testament (vgl. Mt. 21,19) geholte Bild vom unfruchtbaren Feigenbaum, das die Journalfassung in knapperer Form eröffnet hatte. Man sieht förmlich dabei zu, wie sich der Dichter an dem Bild, von dem er nicht lassen kann, abarbeitet, um es stimmig auf den Oheim zu beziehen. Doch paßt es nicht ganz, wie eine genauere Überprüfung ergeben hat.21 Denn der Oheim hat insofern fruchtbar gewirkt, als er zu Victors Lebensglück entscheidend beigetragen hat. Der Hagestolz auf der Insel hat dafür gesorgt, daß aus dem Neffen und Erben, der aus weltschmerzlicher Weichheit durchaus einen solchen Hang in sich trug, kein Hagestolz wird, sondern ein ordentlicher Ehemann, der - so darf vermutet werden, die Erzählung führt nicht so weit - durch Kindeszeugung zum Fortbestand der Menschheit beitragen wird. Die ,Urszene' seines Lebensunglücks erscheint nur in knapper Rückspiegelung und in einer Erzählung des Hagestolzen, die als Figurenrede das übliche Perspektivenproblem aufwirft. Victor und Hanna, so wird am Ende in Erzählerrede zu verstehen gegeben, korrigieren in der Generationenfolge den Fehler derer, „die einmal auch gerne vor demselben Altare gestanden wären, aber durch Unglük und Verschuldung auseinander gerissen worden waren, und dann lebenslänglich bereuten" (S. 141). Was den - namenlos bleibenden - Oheim und Ludmilla „auseinander gerissen" hat, geht aus den ,,alte[n] Geschichten" hervor, die er dem Neffen berichtet. Er sei Ludmilla, Victors späterer Ziehmutter, „sehr zugeneigt" gewesen, doch habe sie auf den - offenbar sehr gewundenen - Vortrag seiner Heiratspläne erwidert, „sie könne die Neigung nicht empfinden, die ihr für eine lebenslängliche Verbindung notwendig erscheine".22 Demnach gab es kein Liebeseinverständnis zwischen den beiden, keine Werbung, kein Versprechen. Es gab - im Bericht des Oheims - allerdings eine skandalisierende Szene, als er Ludmilla und seinen Bruder Hippolith (Victors Vater) in trauter Intimität überrascht und aggressiv geschrien hat: „So wäre es ja am Ende besser, ihr thätet alles öffentlich, und heirathet einander" (S. 127) Als dann die Verbindung zwischen Hippolith und Ludmilla nicht zustande kommt, behandelt er die Frau „mit Hohn", die er begehrt und die ihn zurückgewiesen hat. Nach dem niedergekämpften Mordgelüst gegen den erotisch erfolgreichen Bruder treibt ihn nun wohl das Rache-Ressentiment des Ausgeschlossenen.
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Vgl. H. Seidler (wie Anm. 8), S. 23f. Ludmillas Charakterisierung des Oheims (für Victor) fällt entsprechend aus und schließt wohl die Vergangenheit mit ein: „Ja er ist ein vortrefflicher Mann [...] Aber [...] er hat auch eine rauhe und harte Seite, darum hat er es nie machen können, daß ihn jemand liebe" (HKG1,6,S. 137).
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Mithin gab es am Anfang nicht eine erfüllte und dann an den Umständen, etwa am elterlichen Widerstand gescheiterte Liebe - es ist die Geschichte einer unerwiderten Liebe, von der die Lebensbahn des Hagestolzen ihre Richtung in die traurige Absonderung erhält. Aus verletzter Empfindsamkeit, so können wir vermuten, ist Liebesunfähigkeit geworden, Gefühlsverkümmerung, tragisches Insulanertum. Als benötigte er zur eigenen seelischen Ausbalancierung nach der Trauerarbeit am Hagestolz eine komische Aufheiterung, hat Stifter sein Thema im Waldsteig (entstanden 1844) vergnüglich, doch mit Verlusten durchgespielt. Dem tragischen Original gebührt zweifellos der Vorzug. Auch die Literatur der Gegenwart hat Stifters Erzählung rezipiert. Peter Handke, ausweislich der Lehre der Sainte-Victoire (1980) mit Eifer in die Stifter-Schule gegangen, hat schon in sein Theaterstück Die Unvernünftigen sterben aus (1973) ein längeres Textstück aus dem Hagestolz, hauptsächlich aus dem Gewittergespräch, integriert, um in seiner „Tragödie aus dem Geschäftsleben" für die Unvereinbarkeit eines Ich mit seiner sozialen Rolle (als „Unternehmer") eine Spiegelung zu bilden.23 Und wer die Prosatexte und Theaterstücke von Thomas Bernhard kennt, der erkennt im Hagestolzen - neben Raimunds Rappelkopf - einen Urahnen ihrer Protagonisten.24
Wie ein Mann, obwohl in Liebe einer Frau verbunden und von ihr geliebt, zu einem unglücklichen Hagestolzen wird, das zeigt ausführlicher als die Geschichte des Oheims die Erzählung Das alte Siegel, 1842/43 entstanden (also kurz vor dem Hagestolz) und zuerst 1844 im Österreichischen NovellenAlmanach veröffentlicht. Die Studienfassung hat Stifter 1845/46 ausgearbeitet und 1847 publiziert. Obwohl die Zeitabstände gering sind, unterscheiden sich die beiden Fassungen erheblich, so daß man - in Teilen zumindest - bei identischem Handlungsgerüst zwei verschiedene, zumindest anders erzählte Novellen vor sich hat. Das ganze Textcorpus, lange unterschätzt, hat mit seinen verlockenden Themen (Liebe, Geschlechterverhältnis, Recht/Unrecht) und philologischen Herausforderungen (Fassungsvergleich) inzwischen auch seine wissenschaftlichen Liebhaber gefunden.25 Festzuhalten bleibt, was fast immer 23 24
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Vgl. den Abdruck des Stücks in Theater heute 7 (1974), S. 34-46, hier S. 40. Vgl. Hans Höller: „Thomas Bernhard und Adalbert Stifter. Die Radikalisierung der Isolation und Todesfixierung von Stifters .Hagestolz'". In: Literarisches Kolloquium Linz 1984, S. 29-41. - Schwer erträglich bleibt die Stifter-Beschimpfung in Bernhards Alte Meister (Frankfurt/M. 1985, S. 72ff.), auch wenn sie natürlich als Rollenprosa aufzufassen ist. Vgl. Eric A. Blackall: „Das alte Siegel". In: Lothar Stiehm (Hrsg.): Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Heidelberg 1968, S. 69-88; Traude-Marie Nischik: „Umhegter Garten und blankes Siegel. Emblematische Bildlichkeit in Adalbert Stifters Erzählungen .Brigitta' und ,Das alte Siegel' (1844)". In: Aurora 38 (1978), S. 85-112; Heien Watanabe-
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übersehen wird, daß es sich um die Werdegeschichte eines Hagestolzen handelt. Veit Hugo Evaristus Almot, der Sohn eines Militärs, ist auf dem Lande aufgewachsen und nach dem frühen Tod der Mutter durch seinen alten Vater aufgezogen worden. Zur Weiterbildung schickt der Vater ihn, als er 21 Jahre alt geworden ist, in die Hauptstadt. In Wien lernt er eine schöne junge Frau kennen, die ihn zu regelmäßigen Zeiten in ein Haus bestellt, doch ihre Lebensverhältnisse nicht aufdeckt. Veit Hugo und Cöleste - ihren Namen gibt sie immerhin preis - verfallen einander, treiben Liebe am Nachmittag (mit einer Zeugungsfolge, wie sich später herausstellt), bis dem jungen Mann sein Tun und das ganze Verhältnis unbehaglich wird. Während der Besuchs- und Liebespause, die er in solcher Irritation einlegt, verschwindet Cöleste. Elf Jahre später trifft Veit Hugo, als Offizier im antinapoleonischen Befreiungskrieg nach Frankreich gekommen, seine Jugendgeliebte wieder. Sie fallen sich spontan in die Arme, doch das folgende Aufklärungsgespräch bringt die Trennung. Veit Hugo erfährt, dass Cöleste als - wenn auch unter Zwang - verheiratete Frau in die frühere Liebesaffäre gegangen ist, ihn also ohne sein Wissen in ein ehebrecherisches Verhältnis gezogen hat. Deshalb steht er nicht zu seiner Liebe und verläßt die wiedergefundene Cöleste endgültig - und ihr gemeinsames Kind, ein Mädchen. Sein restliches Leben verbringt Veit Hugo in trauriger Hagestolzen-Einsamkeit auf dem Familiengut. Der Besitz geht nach seinem Tod an die Tochter und beginnt zu verfallen. Die beiden Fassungen unterscheiden sich darin, wie sie Veit Hugos erotische Faszination durch Cöleste und ihr Liebesleben darstellen. In der Joumalfassung geschieht dies so, daß das erotische Verlangen und später das sexuelle Glücksgefühl ungehemmt in die Erzählersprache strömen. Diejenigen, deren Stifter-Bild durch die strengen Stilisierungen der späteren Werke geprägt ist, können nur staunen über den Autor in seinen jüngeren Jahren. Noch stärker als in den Frühfassungen des Condor (um 1835) und der Mappe meines Urgroßvaters (1840) teilt sich eine Eros-Faszination mit, die der Autor, Amalia Mohaupt hin oder her, mit seinem Helden teilt. Ein Blick, ein Wort, eine Sekunde, und schon ist alles verzaubert: [Hugo] sah nicht um, er bedurfte es nicht, sondern er eilte nach Hause, um sich nur das schnell errungene Glück zu retten, und um nur seiner süßen, lockenden Stimme zu horchen, die ihm erst recht von noch größeren, unbekannten, künftigen Himmeln erzählte. Er ging auf und ab, um das undeutliche Wogen und Wallen ins Klare kommen zu lassen, und obgleich in jener Secunde eigentlich nichts, ganz und gar nichts geschehen war, so pochte
O'Kelly: „Stifters Schicksalstheorie in der Erzählung ,Das alte Siegel"'. In: VASILO 30 (1981), S. 3-13, hier S.4ff.; Ruth K. Angress: „Das Ehebruchsmotiv in Stifters ,Das alte Siegel'. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte der bürgerlichen Erotik". In: ZfDPh 103 (1984), S. 481-502; Joachim W. Storck: „Eros bei Stifter". In: Hartmut Laufhütte und Karl Möseneder (Hrsg.): Adalbert Stifter. Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk. Tübingen 1996, S. 135-156, hier S. 146ff.
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Hartmut Reinhardt und jauchzte doch sein Herz, als sei heute der Inbegriff aller Thatsachen vorgefallen [...] (J, S. 183).26
Das Herz pocht, Sensibilität und Imagination werden so belebt, wie es nur das Liebes verlangen vermag - die Stimme der Geliebten scheint die Himmel aufzutun. So wird Cölestes Wohnung schon bei Hugos erstem Besuch zur Minnegrotte, in der sich die Liebenden vereinen: Die Stunde, nach der Beide so sehnsüchtig gebangt haben mochten, war da [...] Hugo lobte den schönen Tag - sie zeigte ihm ihre Wohnung, aber die Stimme Beider bebte, als bedeuteten die Worte etwas ganz Anderes — und sie bedeuteten auch ein ganz Anderes, aber Zeit, die trennende und bindende, mußte fließen, ehe sich dieses Andere zu entringen vermochte - ehe sich die Fingerspitzen berührten - die wannen Hände sich faßten - die Augen suchten - und endlich Lipp' auf Lippe lag, so süß, so heiß entgegendruckend, um es nur endlich, endlich einmal zu genießen, das peinigende Glück, das sie sich so lange versprochen, und auf das sie so lange geharret hatten. Und immer wieder suchten sich die Lippen, und verschlangen sich die Arme [...] (J, S. 190).
Das .Andere", das ihre Worte suchen, finden ihre Körper. Die hier entworfene erotisch-sexuelle Konstellation lässt sich mit Tannhäusers Aufenthalt im Venusberg vergleichen, obwohl Wagner-Assoziationen anachronistisch sind. Allerdings bleibt diese Liebesverzauberung nicht ungebrochen, es bildet sich ein Unbehagen, das schließlich in Hugos innerem Aufschrei Stimme gewinnt: „das ist die Liebe nicht, das ist nicht ihr reiner, goldener, seliger Strahl, wie er dir immer vorgeschwebt, daß er aus einem schönen Engelsherzen brechen werde, und das deinige verklären - nein - nein - nein, das ist er nicht" (J, S. 194f.). Wenn man so will, ergreift ihn die postkoitale Tristesse, in der - auf dem Heimweg „unter einem gewitterzerrissenen Himmel" - das Defizitäre einer Liebeserfahrung unabweisbar wird, die nur aus sinnlicher Leidenschaft besteht. Wir dürfen aus anderen Texten Stifters supplieren, um das Problem zu bezeichnen, das hier aufbricht. Die Liebeskommunikation hat sich so eingespielt, daß nur die „tigerartige Anlage" im Menschen, nicht aber die „himmlische"27 zu ihrem Recht kommt, obwohl Cöleste dies schon mit ihrem Namen verspricht. Auch die Heimlichkeiten nach innen und außen, die zu diesem Liebestreiben gehören, werfen dunkle Schatten, denn „das ist der Adel der rechten Liebe, daß sie vor tausend Millionen Augen offen wandelt und keines dieser Augen sie zu strafen wagt."28 An Hugo und Cöleste haftet der Makel des Unrechts, der Strafbarkeit. Hugo legt sein Leben offen, Cöleste aber verschweigt ihre persönlichen Umstände. Als sie von ihm die Versicherung hört, er sei niemals gegen einen
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Zitiert wird die Journalfassung mit der Sigle J nach HKG 1,2, S. 159-207, die Studienfassung mit der Sigle S nach HKG 1,5, S. 343-408, jeweils mit Angabe der Seitenzahl im fortlaufenden Text. Nach der vielzitierten Formel aus der zeitgleich entstandenen &zählung Zuversicht (PRÄ 13/1, S. 492). So in den Feldblumen (entstanden 1837/38) in der Entgegensetzung zur bloßen „Geschlechtsleidenschaft" (HKG 1,1, S. 116f.).
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Menschen „falsch" gewesen, da durchfährt sie ein Schauern, und erbleichend haucht sie zweimal die Worte „Mein Gott!" (J, S. 186). In diesem Augenblick hätte zwischen ihnen Wahrheit sein können, mit dem Risiko, daß Hugo sich sofort zurückgezogen hätte, wäre ihm gesagt worden, dass er sich mit einer verheirateten Frau einließe.29 So bleibt bei Cöleste ein innerer Schuldvorwurf zurück, der ihr Liebesverhältnis belastet und auch Hugo ins Unrecht zieht, weil sein Gefühl eine Vergewisserung sucht, die ihm verwehrt wird. Immer dann, heißt es bezeichnend, „wenn der Engel aus ihren Zügen zu schimmern begann, und sich nun sein Herz edler und freier lösen wollte, gerade dann vermied sie die Liebkosungen, als wären sie ein Unrecht [...]" (J, S. 193). Auf Hugos Seele liegen Lasten „wie Berge", weil sich ihm Cölestes Seele „in der Umhüllung der zitternden düstern Leidenschaft" verrätselt. Als die Metapher des Bedrükkenden verstärkt wiederkehrt - in dem ingeniösen Bild einer „Bergeslast von Wonne" (J, S. 194) -, da preßt „es" jenen schmerzlichen Schrei aus ihm heraus, den wir schon zitiert haben. Halten die Vergleiche mit einem „Verbrechen" (J, S. 182) und einer „Verbrecherin" (J, S. 194), auf Cöleste gemünzt, das Schuldthema fest, so gerät Hugos Geliebte auch in Assoziationsräume des Wahnsinns beziehungsweise Irrsinns. Diese, gebildet über ihren Kuppler-Diener mit dem sprechenden Namen Dionys, werden für Cöleste schließlich ausdrücklich annulliert - „keine Spur von Irrsinn" (J, S. 192) -, haben aber dazu beigetragen, daß sich eine Atmosphäre des Zweideutigen, Unheimlichen, Krisenhaften entwickeln konnte, die Hugo und den Leser irritiert. Die gleiche Wirkung geht vom Wortfeld des .Zaubers' aus, das die Liebesgeschichte durchzieht. Daß das „Zauberwerk" einer schönen Frauenerscheinung in Altweibertracht im gleichen Atemzug auch als „Blendwerk" benannt, also pejorativ akzentuiert wird, ist sprechend genug (J, S. 180). Alles schwimmt Hugo „in einem Zauberlichte" (J, S. 190), und die Geliebte erscheint ihm wie „ein goldenes, zauberisches Räthsel", das ihn in „ein märchenhaftes Glück" versetzt (J, S. 19If.), doch bleibt alles immer auch „Blendwerk" (J, S. 195), ein „Spuck", der irgendwann vorüber sein muß (J, S. 194). Literarhistorisch gesehen, handelt es sich dabei um die romantische Mitgift der Novelle, und der Gedanke an Eichendorffs Marmorbild, an E. T. A. Hoffmans phantastische Erzählungen Das öde Haus und Das Gelübde (mit einer Cölestine als außerehelicher Mutter und unglücklicher Heldin!) liegt nahe genug.30 Mit magnetischer Kraft scheint ein phantastischer Liebeszauber auch Stifters Liebende einander in die Arme zu treiben. Doch erhebt sich ihre Liebe
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Das bestätigt er im Rückblick der späteren Fassung (S, S. 404). Diese Bezüge hat Werner Hoffmann nachgewiesen: „Zur Interpretation und Wertung der ersten Fassung von Adalbert Stifters Novelle ,Das alte Siegel'". In: VASILO 15 (1966), S. 80-96, hier S. 83f. - Zur Stoffgeschichte vgl. auch Moriz Enzinger: „ Zum .Alten Siegel'". In: Aufsätze (wie Anm. 9), S. 154-162: Hinweise auf Harsdörffer, Grimmeishausen (dessen Simplex in Paris gleich von drei maskierten Damen beglückt wird) und auch Goethes Prokurator.
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nicht über allen Zauber, bleibt auf die Sinnlichkeit beschränkt und durch den immer schmerzlicher spürbaren Vertrauensmangel stigmatisiert. Alles „trunkene, thörichte Glück" bringt nicht, was sich Hugos Herz ersehnt: „ein fernes Schönes, ein Frommes, Reines, Glänzendes [...], ein Offenliegen des Herzens vor dem Herzen" (J, S. 193). Die Studienfassung stellt die Liebe im „Lindenhäuschen", nun als Ort des Geschehens ins Bild gerückt, ganz anders dar. Die Erzählerrede ergeht sich nicht mehr in der Ausmalung der Leidenschaft mit spürbarer Selbstbeteiligung - die Liebesobsession Hugos und Cölestes wird semantisch an den Rand gedrängt, in den Modus des Andeutens und Mitschwingens gebracht, so jedoch, daß das Verschwiegene als solches spürbar bleibt.31 Die Frage, welche der beiden Fassungen als die „erotischere" gelten könne,32 ist nicht leicht zu beantworten. Die spätere Version bringt Hugo und Cöleste bei gleicher Konditionierung der Kommunikation auf der Ebene des Gesprächs und nicht im Zeichen des Liebeszaubers zusammen. Dieser - und damit jedes Miterzählen von Sexualität - ist so stark gedämpft, daß man sich fragen muß, wie es denn bei solchen ausgezirkelten Besuchsritualen und immer nur mitschwingender Erotik zu einer Kindeszeugung gekommen sein kann. Allenfalls einmal läßt die Darstellung der Leserphantasie einen solchen Raum: ,Aus beiden Herzen brach die Liebe hervor. Sie sagten es einander unverholen, waren freudig, als wenn eine Last von ihnen genommen wäre, und waren selig in diesem Gefühle und in seinen kleinen unbedeutenden Aeußerungen" (S, S. 384). Eine Folge dieser „unbedeutenden Aeußerungen" begegnet uns elf Jahre später: blond wie Hugo, seine Tochter, die er umarmt und küßt, dann jedoch wie ihre Mutter verläßt. Die Wiederbegegnung, die den Liebenden die endgültige Trennung bringt, ist als Dialog gestaltet wie das Gewittergespräch im Hagestolz, kommt also formal dem Drama nahe. Hugo hat als Offizier im schließlich siegreichen Kampf gegen Napoleon mitgewirkt, für ihn durch den Haß „gegen alles Unrechte" motiviert, und militärische Ehren errungen, den Vater überbietend. Züge des Festen, Ernsten, Harten und Strengen haben sich physiognomisch ausgeprägt. Ausdrücklich wird seine Ehelosigkeit hervorgehoben, ebenso
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Paul Böckmann hat diese spezifische Qualität von Stifters epischer Objektivität an Hand der verschiedenen Fassungen der Mappe verdeutlicht: „Die epische Objektivität in Stifters Erzählung ,Die Mappe meines Urgroßvaters'". In: Albert Fuchs und Helmut Motekat (Hrsg.): Stoffe, Formen, Strukturen. Studien zur deutschen Literatur. München 1962, S. 398-423. - Dabei handelt es sich um eine Fortführung der Empfindsamkeitstradition des 18. Jahrhunderts, insofern in der Wendung zum Gegenständlichen Gefährdungen der Subjektivität gemeistert werden sollen. Gestellt hat sie J. W. Storck (wie Anm. 25), S. 148. Vgl. zum Vergleich der beiden Fassungen, von denen die spätere „wie mit einem Waschmittel nahezu von jeder Schmutzspur der Leidenschaft gesäubert" scheint, auch Jörg Kastner: „Die Liebe im Werk Adalbert Stifters". In: Laufhütte/Möseneder (wie Anm. 25), S. 126f.). Das Plädoyer Werner Hoffmanns (wie Anm. 30) für den Rang der Frühfassung fällt, nicht ganz homogen, teilweise in die früher geläufige Abwertung zurück.
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kommt in der Spätfassung die Bemerkung hinzu, daß er „eine gewisse Abneigung gegen das weibliche Geschlecht" hege (S, S. 394). Als er Cöleste in den Armen liegt, scheint alles abzufallen, auch der Krieg und die ganze „Weltgeschichte", an der er mitgedreht hat. Cöleste - „sie war etwas stärker geworden" - berichtet ihm, wie sie ihn nach seinem Ausbleiben in Wien „durch unsern ganzen Welttheil" gesucht habe. In langer Rede (S, S. 397ff.) erzählt sie ihm ihre Geschichte und begründet sie ihr .verdecktes' Handeln: die Zwangsehe mit einem älteren Aristokraten (sie zählte 15, er 50 Jahre), ihre Mißhandlungen durch ihn, als sie kinderlos bleibt, ihr Exil in Wien, ihr Liebesbedürfnis nach seiner Abreise in die Schweiz, Dionis' Kupplerdienste - und die Glückszeit mit Hugo, die nun, da alles offengelegt ist, auf den Prüfstand gerät. Im Dialog muß nun ausgemittelt werden, was weiter zu geschehen hat. Daß Hugo die wiedergefundene Geliebte verläßt, statt mit ihr, inzwischen Witwe, Liebesbund und Elternschaft durch die Eheschließung zu legalisieren, hat ihm manches kritische Verdikt eingebracht,33 doch auch Unterstützung von unverhoffter Seite.34 Könnte er anders? Konnte Cöleste damals anders mit ihren Heimlichkeiten? Damals hat sie sich, wie psychologisch verständlich auch immer, auf das moralisch anstößige Terrain des Ehebruchs begeben. Jetzt scheint der Makel an Hugo zu haften, weil er sich auf das Prinzip der „Ehre" beruft, das die erwünschte Lösung ausschließen muß: „Ich habe gedacht, ein anderes Leben führen zu wollen, als der Gatte einer Witwe zu sein, von dem sie sagen, daß er schon vor dem Tode ihres Mannes mit ihr im Einverständnisse gewesen sei" (S, S. 403). Selbst wenn es die Öffentlichkeit, die solches „sagen" oder auch nur wissen könnte, gar nicht gibt - es bleibt die internalisierte „Ehre", die ihm sein Verhalten vorschreibt. Das gefällt heutigen Lesern und Interpreten in der Regel nicht, scheint ihnen ebenso starrsinnig und lebensfeindlich wie Cöleste, die in seinem Entschluß „der sogenannten Ehre das warme, ewige, klare Leben" aufgeopfert sieht. Man möchte ihr spontan zustimmen und den Mann, nachdem man ihm sein abstraktes Prinzip aus dem Kopf geschlagen hat, am liebsten in ihre Arme.zurücktreiben: [...] möge dir Gott im Himmel diese harte Tugend lohnen, aber mein Herz verflucht sie: denn es wird gebrochen. - Ja, ich war eine Sünderin, aber die Sünde wurde mir nicht leicht; du hast nur ihre holde Frucht gesehen, ihre Kämpfe trug ich allein. Meine Sünde ist menschlicher, als deine Tugend [...] (S, S. 404).
Cöleste ist im Recht - als liebende Frau mit ihrer vom Persönlichen und Emotionalen bestimmten Wertnorm. Alles würde recht und richtig, wenn ihr Hugo
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So bei E. A. Blackall (wie Anm. 25), S. 76, H. Watanabe-O1 Kelly (wie Anm. 25), S. 8,12, J. W. Storck (wie Anm. 25), S. 152. Von R. K. Angress (wie Anm. 25), die das Geschlechterthema aufnimmt, doch Cölestes Position mit starker Moralisierung entwertet, während sie Hugos „Männlichkeit" gelten läßt (S. 483, S. 485, S. 495f.). Zur kritischen Diskussion vgl. J. W. Storck (wie Anm. 25), S. 152ff. Zur „Männlichkeit" Hugos gehört auch, von beiden nicht beachtet, der eigentlich merkwürdige Vergleich mit einer „Jungfrau" (J, S. 170f.).
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mit jenem Ethos des Verzeihens entgegenkäme, wie es Brigitta ihrem Gatten gegenüber nach einem Fehltritt und nach jahrelanger Entsagungs-Freundschaft schließlich möglich wird (in der Sorge um den gemeinsamen Sohn).35 Doch Hugo vermag ein solches Ethos nicht aufzubringen als der auf das väterliche Vorbild, auf das gleichermaßen familiäre wie militärische Ehrenprinzip fixierte Mann, der er ist. In ihm wacht der Vater mit seinen Lebensmaximen, mit seiner Forderung, nichts zu tun, was nicht einer „Rede" (einer .Abendrede") wert ist (S, S. 346f.) - an den toten, doch psychisch gegenwärtigen Vater ist sein Wiener Tagebuch gerichtet (S, S. 357), an dieser Instanz sind alle seine Zukunftspläne orientiert (S, S. 355). Eine hypothetische Alternative, wie denn Hugos Entwicklung unter dem Einfluß der - früh verstorbenen - Mutter verlaufen wäre, wird angedeutet, bleibt aber irreal.36 In ihm herrscht die väterliche Wertnorm, die mit der Übersendung des Familiensiegels zum verpflichtenden Imperativ wird: „Servandus tantummodo honos" (S, S. 355) beziehungsweise - in der Journalfassung - „Servandus nonnisi honos" (J, S. 168). Die Ehre muß um jeden Preis bewahrt werden. Mit dieser inneren Ausrüstung bestreitet Hugo das Krisengespräch mit Cöleste - er muß die Liebesgeschichte beenden. Sein Ehrenprinzip darf man ihm nicht aus einem modernen Lebensgefühl heraus diskreditieren, um ihn ins Unrecht zu setzen. Als psychische Konditionierung ist dieses Prinzip noch ungebrochen in Geltung und keiner Relativierung unterworfen wie bei Innstetten (in Fontanes Effi Briesf), für den die Verbindlichkeit des Ehrenkodex eine Frage der Zeitdauer wird.37 Man darf auch nicht übersehen, daß schon die Glücksgeschichte Hugos und Cölestes von Krisensymptomen durchzogen ist (in der Frühfassung ausformuliert, in der späteren Fassung indirekt erzählt). Das Unzureichende der bloßen Leidenschaft, das Ausbleiben der .ganzen' Liebeserfahrung unter der Bedingung des Frageverbots - dieses Defizit muß für Hugo durch Cölestes Eröffnungen vertieft, kann nicht beseitigt werden.38 Unwissend zum Mittäter einer Ehebruchsgeschichte geworden, hat er ein Vertrauensproblem (und hätte es womöglich auch ohne die Ehrenfixierung): „Ich kann dir nicht mehr trauen!" (S, S. 403).39
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Die „reinigendste, die allerschönste Blume der Liebe, aber nur der höchsten Liebe, ist das Verzeihen", heißt es in Erzählerrede am Schluß von Brigitta (HKG 1,2, S. 256). 36 „Das Herz und seine Leidenschaften waren bei dem Vater schon entschlummert, daher blieben sie bei dem Sohne ungeweckt und ungebraucht in der Brust liegen [...]" (S, S. 346). 37 „Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen noch ein Duell, und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren oder vielleicht schon bei zehneinhalb heißt es Unsinn." Theodor Fontäne,: Effi Briest. In: Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München 1962ff., Abt. I, Bd. 4, S. 243. - Dagegen kennt Hugo im Augenblick der Entscheidung eine solche Anfechtung noch nicht - sie kommt erst später aus der Erfahrung eines unglücklichen Lebens. 3 » Vgl. ähnlich R. K. Angress (wie Anm. 25), S. 486. 39 Der pragmatische Anknüpfungspunkt für dieses Fazit ist in der Studienfassung eliminiert, aber in der Journalfassung aufzufinden, nämlich Cölestes Aufforderung in ihrem Einla-
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Stifter bietet im Alten Siegel eine tragische Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes, zwangsläufig in der Wendung zum Unglück, zieht man die Figuren (mit ihren Antagonismen, auch den geschlechtlichen) sowie die Umstände des Geschehens in Betracht. Nicht zufällig enthält die Erzählung im Bild von der Schneeflocke, die sich niederstürzend zur vernichtenden Lawine auswächst, eine prononcierte Schicksalsmetapher, vergleichbar der ausführlichen Reflexion über das Schicksal zu Beginn des Abdias, kompositorisch als versetzter Prolog zu verstehen. Es geht dabei nicht nur um den Kirchenbesuch gemäß „der sonderbaren Bitte des alten Mannes" - also des Dionis -, sondern um die Genese „eines ganzen Geschickes der Menschen" aus solchen kleinen .Anfängen", wie die Studienfassung den Sinn der Schicksalsmetaphorik gesetzhaft ausformuliert (S, S. 373). Damit wird ihr Binde- und Deutungskraft für Hugos ganzes Leben zugesprochen, für die Wiener Liebesabenteuer, die sich an den Kirchenbesuch anschließen, für die tragische Trennung bei der Wiederbegegnung mit Cöleste und schließlich für das daraus resultierende Hagestolzen-Schicksal. Alles kommt unvermeidlich wie der Schneesturz, ist er einmal ausgelöst. „Was das Schicksal will, das muß geschehen", erklärt Cöleste (S, S. 372) - in der Journalfassung, die das Lawinenbild an anderer Stelle plaziert, sagt sie es noch emphatischer: „Es muß ja sein, es muß ja sein; denn was das Schicksal aussann, muß immer kommen [...]" (J, S. 186). So wird Hugo „von seinem Verhängniß getrieben" (J, S. 182), rollt „die Sache [...] fort" (J, S. 203), so daß er die Zwangsläufigkeit des Geschehens nur ohnmächtig beklagen kann: „Cöleste — warum ist's denn gerade so? ach! wenn's nur anders sein könnte - wenn es nur könnte*." (J, S. 204). Doch es konnte nicht anders kommen. Stifter erzählt hier wie im Abdias konsequent fatalistisch. In der Form der Erzählung bietet er eine Schicksalstragödie. Ähnlich wie beim Hagestolz folgt ihr ein Satyrspiel, nämlich die das Thema ins Komische treibende Erzählung Die drei Schmiede ihres Schicksals (entstanden 1843). In mancher Hinsicht nimmt sich auch die spätere Erzählung Bergmilch (in den Bunten Steinen, 1853) wie ein Gegenstück zum Alten Siegel aus. Wie aber ist dessen Finale zu lesen? Hugo ist nach dem Friedensschluß (also 1814) auf sein altes Haus im Gebirge zurückgekehrt, 32 Jahre alt, und verbringt den Rest seines - nicht sehr langen - Lebens als einsamer Hagestolz (auch wenn das Wort nicht fällt). Er wirkt „gut und sanft, aber traurig", und erweckt den Eindruck, als „quälten ihn Gewissensbisse" (J, S. 206). Die Studienfassung läßt ihn „weichherzig" werden, oft „bitterlich weinen" und schließ-
dungsbrief: „[...] trauen Sie mir" (J, S. 189). Hugo bestreitet das entscheidende Gespräch hier noch ohne expliziertes Ehren-Argument, weist aber schon auf das Vertrauensproblem hin, wenn auch psychologisch holzschnittartig mit einer Zeigegeste auf das Bild des Gatten: „[...] ich liebe Dich; aber Diesen da hast du verrathen, ich kann Dir nicht mehr trauen!" (J , S. 204) Immerhin ist zu beobachten, dass das Vertrauensproblem ursprünglich ein größeres Gewicht hatte als das Ehrenprinzip.
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lieh klagen: „Wie sie ist doch keine - wie sie ist doch keine" (S, S. 407). Das Trauergefühl der früheren Fassung ist Sprache geworden, die verlorene Geliebte (deren weiteres Schicksal ausgeblendet bleibt) scheint in seiner seelischen Trauerarbeit gegenwärtig (Präsens!) geblieben zu sein. Und dann die letzte bemerkenswerte Tat dieses Lebens: Hugo wirft das alte Siegel in eine unzugängliche Schlucht des Morigletschers. In der Journalfassung berichtet dies der Diener, so daß die Handlung selbst vermittelt erscheint, doch wohl nicht zu bezweifeln ist (J, S. 206f.). Hat Hugo damit sein Verhalten zu Cöleste, das sich auf den Wappenspruch des ihm vom Vater vererbten Siegels gestützt hat, selbstkritisch unter Anklage gestellt? Durch den Schluß der Novelle sah ein zeitgenössischer Kritiker „ein unheimliches, befriedigungsloses Gefühl" als ,,unangenehme[n] Nachhall" im Leser ausgelöst.40 Eine moderne Interpretin hält die Möglichkeit für denkbar, daß Hugo „aus einem kindisch-greisenhaften Impuls heraus handelt."41 Dagegen spricht, daß er Cölestes und sein Kind als Erbin einsetzt und folglich der Verbindung, der es entstammt, eine nachträgliche Legitimation verleiht. So spricht aus der Verwerfung des Siegels die Erkenntnis, daß seine damalige Lebensentscheidung falsch gewesen ist und - zumindest symbolisch - zurückgenommen werden muß.42 Indem er dem Siegelspruch zuletzt die Gefolgschaft aufkündigt, geht er auf Distanz auch zu der über ihn internalisierten patriarchalisch-soldatischen Wertwelt, die sein Leben geleitet und unglücklich gemacht hat. In der Verwerfung seines Lebensprinzips kommt die bittere Bilanz seines Hagestolzen-Unglücks zum Ausdruck. Hugo ist darüber anders als der andere Hagestolz auf seiner Inselfestung .weichherzig' geworden. Dies gestattet indes nicht den Schluß, daß er nicht mehr recht bei Sinnen sei. Aus der späten Verwerfung des Siegels ist auch nicht zu folgern, daß die Entscheidung für das Prinzip „Ehre" und gegen die schuldbelastete „Liebe", die es befleckt hätte, an ihrer damaligen Zeitstelle falsch gewesen wäre. Was einmal richtig war, muß es nicht für immer bleiben. An Hugos Handlung ist implizit abzulesen, daß sein Lebensunglück im Rückblick stärker wiegt als sein früheres Recht. Stifter zeigt die wandelschaffende Macht der Zeit in der Veränderung des Gemüts - er zeigt, wie Konfliktlagen und Entscheidungen im Rückblick ihr Aussehen verlieren, ein anderes .Gesicht* annehmen können. Was später als richtig erkannt wird, muß es nicht immer schon gewesen sein. Wenn der alte Hugo das .tragische' Prinzip seines Lebens annulliert, so bedeutet dies keineswegs, daß die Tragödienanalogie dieser Erzählung am Ende nicht mehr bestünde. Auch Kleists Amazonenkönigin Penthesilea sagt sich
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J. Märzroth in der Allgemeinen Theaterzeitung 1844; zit. nach Moriz Enzinger, Stifter im Urteil seiner Zeit (wie Anm. 9), S. 40. So R. K. Angress (wie Anm. 25), S. 500f. - Das semantische Umfeld - „Greisentum", „Senilität", .Alterserscheinung" - verrät den Interpretations-Systemzwang. Vgl. E. A. Blackall (wie Anm. 25), S. 77: „Mit dem Wegwerfen des Siegels bezeichnet Hugo das Verwerfen des Spruchs."
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vom „Gesetz der Fraun", dessen Befolgung sie zur Mörderin ihres Geliebten gemacht hat, ausdrücklich los, ohne daß ihre Tragödie aufhörte, Tragödie zu sein. Vergleichbar steht es mit Hugo und seinem Familiengesetz. Als er alternd das Bild des Vaters zu erneuern scheint, - wie ausdrücklich vermerkt wird (S, S. 407) -, bricht er mit der Vaterwelt, tritt er in eine Anagnorisis ein, freilich ohne weitere Folge für sein Leben, insofern bitter für den Betrachter, in der Tat „befriedigungslos".
m Zwei tragische Einzelschicksale, zwei erzählte Tragödien: eigentlich nicht ungewöhnlich in der Novellistik des 19. Jahrhunderts, doch im Kontext Stifters und der Stifter-Forschung aller Aufmerksamkeit wert. Erzählungen wie Das alte Siegel und Der Hagestolz zeigen den .dunklen' Stifter, in trauriger Solidarität den Trauernden, den im Leben vom Leben Ausgeschlossenen verbunden ohne Glück in der Liebe, ohne die Ehe als Lebensgemeinschaft, ohne Nachkommen. Der Autor läßt diese unglücklichen Einzelnen gelten, gewährt ihnen ein literarisches Bild, obwohl ihrem Leben die mustergültige Form versagt bleibt. Ihre Geschichten zeigen, wie man ein Hagestolz werden und welche schrecklichen Verkümmerungen ein Hagestolzen-Zustand mit sich bringen kann. Um solche Schicksale in die Lebensordnung einzugliedern, bedarf es symbolischer Anstrengungen, jeweils am Schluß ausgeprägt: im Hagestolz auf der Erzählebene als deutendes Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum, im Alten Siegel als Handlung des Protagonisten selbst, mit der er sein Lebensprinzip verwirft. Daher gibt es Anlaß, die in der Forschung eher punktuell oder beiläufig eingesetzte, meist der Charakterisierung dienende Semantik von Tragik und Tragödie einmal voll auszuspielen - auch für andere Erzählungen (vor allen für den Waldgänger) verspricht dieser Ansatz einiges. Daß Stifters Erzählstrukturen entgegen dem Anschein exzessiver, mitunter als vormodern getadelter Gegenstandsbeschreibungen auch dramatische Momente aufweisen, ist gelegentlich schon bemerkt worden. Dazu gehört die häufig zu beobachtende Finalorientierung der Anlage, doch auch das „detektorische" Verfahren, das mit seinen nachträglichen Enthüllungen dem analytischen Drama nahe kommt.43 Auch die hier erörterten tragischen Erzählstudien zeigen Entsprechungen zu Dramaturgie und Wirkungsästhetik des Dramas. Sie machen den Anspruch der Epik auf die tragischen Fälle geltend, die im 19. Jahrhundert nicht mehr für das Drama reserviert bleiben. Andererseits
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Vgl. zu dieser Erzähltechnik Hans Geulen: „Stiftersche Sonderlinge. .Kalkstein' und .Turmalin'". In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 17 (1973), S. 415-431.
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belegen sie, daß das Drama als geheimes Muster und wohl auch als Ziel eines imaginären Poetenehrgeizes im Spiel ist wie bei Keller und Fontäne auch. Der exzeptionelle Charakter solcher Stifter-Geschichten zeigt sich nicht im Fremdvergleich, sondern ausgerechnet im Blick auf Stifters eigene Normen. In der Mappe findet sich eine Erzählerreflexion, die in der „großen Geschichte" nichts sehen will als „das entfärbte Gesammtbild" der kleinen Familiengeschichte: Die „Liebe" und der aus ihr rinnende, Generationen erfüllende Lebensstrom werde in der großen Geschichte „vergessen"; das „andere, der Haß" sei „die Ausnahme", werde aber „in tausend Büchern aufgeschrieben".44 Solche Ausnahmefälle hat Stifter in unseren Geschichten selbst zugelassen. Ein zweiter Widerspruch wird sichtbar, wenn wir die tragischen Sonderlingsfälle an den eigenen poetischen Konzepten des Autors messen, niedergelegt in einem Brief im Sommer 1847 mit einer massiven Hebbel-Kritik45 und in der später daraus hervorgegangenen, von aller Polemik entkleideten Vorrede zu den Bunten Steinen (1853) mit ihrer unübersehbaren Problematik. Die Schwierigkeit entsteht daraus, daß Stifters Text eine Begrenzung beim Blick auf die Welt vornimmt, aber den Eindruck erweckt, er proklamiere ein Weltgesetz, daraus abgeleitet auch ein literarisches Programm. Das „sanfte Gesetz", welches „das menschliche Geschlecht" leiten soll, kann jedoch weder als das eine noch als das andere schlüssig ausgewiesen werden, gibt nicht einmal, näher besehen, das Muster für die in den Bunten Steinen gesammelten Erzählungen ab.46 Und vollends mit den Erzähltragödien der Hagestolze hat es nichts zu schaffen - von ihnen aus erscheint die Denkfigur als eine bemühte Idyllisierung, als eine gewaltsame Affirmation. Was gemeint ist, kann verdeutlicht werden, wenn wir auf Goethes „Prolog im Himmel" (zum Faust) zurückgehen, in dem - mit Folgen für Stifter, doch offenbar nicht beachtet von der Stifter-Forschung - der selektive Charakter des „sanften Gesetzes" vorgebildet ist. Dem Schöpfungspreis Raphaels und Gabriels läßt der dritte Erzengel, Michael, einen Blick auf Naturkatastrophen (Stürme und Gewitter mit verheerenden Wirkungen) folgen, um dann eigentümlich in die Ruhmrede zurückzuschwingen: „Doch deine Boten, Herr, verehren / Das sanfte [!] Wandeln deines Tags."47 Das „doch" ist offensichtlich
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HKG1,5,S. 17. An Aurelius Buddeus, 21. August 1847. Stifter kann Hebbels Werk zum Zeitpunkt dieses Briefes nur bis zur Maria Magdalena (1844) kennen; die späteren Geschichtstragödien mit ihrem Versöhnungsfinale stehen noch aus. Wenn er „das trostlos unaufgelöste am Ende seiner Dramen" moniert, so hat er unwillentlich auch den Sonderstatus seiner HagestolzenGeschichten bezeichnet. Zitate aus der Vorrede nach HKG 2,2, S. 9ff. - Zur Problematik der Vorrede vgl. mit „semiotischer" Fragestellung Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart/Weimar 1995, S. 31f., S. 81 u. ö.
Goethe (wie Anm. 3), Verse 259ff. - Mit dieser Interpretation folge ich Karl Eibl: Das monumentale Ich. Wege zu Goethes „Faust". Frankfurt/M. 2000, S. 69f. Dagegen sieht Jochen Schmidt den Erzengel Michael betonen, „daß selbst Stürme und andere zerstörerische
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adversativ gemeint, zeigt einen Gegensatz, eine Blickwendung an, mit der sich das Theodizee-Argument als Folge einer willkürlichen Selektion der Erfahrung erweist - die Schöpfung gereicht dem Herrn zum Ruhm, weil seine Boten nicht berichten, was sie berichten könnten. Ähnlich Stifter: er kann das „sanfte Gesetz" als „das Welterhaltende" nur behaupten auf der Basis eines diffusen Ganzheits-Arguments. In Natur und Menschenwelt, in der es seine Gültigkeit unter Beweis zu stellen hätte, drängen sich der Erfahrung jedoch jene Gegenbilder auf, die bei Stifter selbst zur Sprache kommen: Vulkanausbrüche, bedrohliche Überschwemmungen (in Kalkstein) und Schneekatastrophen (in Bergkristall) oder „das Tragische" in menschlichen Schicksalen. Das wären die Ausnahmen, die nach der Lehre der Vorrede nicht hervorgehoben werden sollten. In der ausgegrenzten Sphäre des Bedrohlichen, Verhängnisvollen und Unglücklichen sind unsere Hagestolzen-Schicksale angesiedelt. Stifter hat solche Ausnahmefälle poetologisch nicht vorgesehen. Doch spricht es für sein Künstlertum, daß er sie zugelassen hat. Im Nachsommer stimmt der Freiherr von Risach vor seinem jungen Adepten eine Liebesapotheose an, ohne verhindern zu können oder zu wollen, daß sie in ihr trauriges Gegenbild abstürzt: „Wen die größeren Gegenstände der Liebe verlassen haben, oder wer sie nie gehabt hat, und wer endlich auch gar keine Liebhaberei besitzt, Der lebt kaum und betet auch kaum Gott an, er ist nur da."48 Nicht immer ist es dem Menschen gegeben, dieser traurigen Faktizität zu entgehen.
Ereignisse in die prästabilierte Harmonie des Kosmos eingebunden bleiben" (Jochen Schmidt: Goethes Faust. Erster und zweiter Teil. Grundlagen - Werk - Wirkung. München 1999, S. 58). Gute Hinweise zur Anknüpfung Stifters an Goethe - „Ich bin zwar kein Göthe aber einer aus seiner Verwandtschaft" (an Gustav Heckenast, 13. Mai 1854) - bei Johannes Endres: „Unerreichbar nah. Zur Bedeutung der Goetheschen .Novelle' für Stifters Erzählkunst. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), S. 256-294. PRA7,S.356f.
Konrad Feilchenfeldt
Brigitta und andere Chiffren des Lebens bei Adalbert Stifter
Als Stifter 1847 mit der Drucklegung seiner Erzählung Prokopus beschäftigt war, wurde er zu seiner eigenen Überraschung mit einem ihm unbekannten zeitgenössischen Text konfrontiert; die künstlerische Bedeutung und hohe Qualität leuchteten ihm sofort ein, auch ohne daß er wußte, wer der Autor war und um was für ein Werk es sich handelte. Indem ihm nämlich für die Herstellung des Drucksatzes seiner Erzählung nicht nur seine eigenen Korrekturfahnen zugeschickt wurden, sondern der Einfachheit halber die ganzen sechzehnseitigen Druckbogen, auf denen der Text seines Prokopus abgesetzt war, kam Stifter überraschenderweise auch der Schlußteil einer ganz anderen Erzählung zu Gesicht, die ebenso wie seine eigene in der Iris. Deutscher Almanach fllr das Jahr 1848 im Verlag von Gustav Heckenast in Pest erscheinen sollte. Das Werk, das auf diese Weise schon vor seiner Veröffentlichung und zunächst nur durch die Lektüre seiner letzten sechs Seiten Stifters Aufmerksamkeit und Bewunderung wecken konnte, war die Erzählung Der arme Spielmann von Franz Grillparzer. Stifter vertiefte sich infolge der Beschäftigung mit der Satzkorrektur seines Prokopus auch in das ihm unverhofft zugänglich gewordene Bruchstück von Grillparzers Erzählung und forderte unmittelbar nach dessen Lektüre von der Druckerei den vollständigen Text an. Von Stifter stammt daher nicht nur überhaupt die früheste, sondern auch die erste begeisterte Rezension zum Armen Spielmann. Grillparzers Erzählung erschließt sich für Stifter als Beispiel eines literarischen Werks, das in der Schilderung von Menschen in äußerlich wenig spektakulären Lebensumständen eine Atmosphäre verbreitet, die auf eine künstlerische Verwandtschaft zwischen ihm und dem rezensierten Autor verweist. Stifter charakterisiert an Grillparzers Erzählung eine geradezu dialektische Widersprüchlichkeit der literarischen Darstellung, mit der er sich aber als Autor uneingeschränkt identifiziert: Ueber scheinbar sehr ungefügige, ja fast widerstrebende Verhältnisse ist ein solcher Duft eines Seelenlebens ausgegossen, daß man allmählich hineingezogen wird, daß sich eine edle Rührung in unser Herz schleicht und daß man am Schlüsse die beruhigendste sittliche Auflösung und eine lohnende Erhebung empfindet.1
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HKG 8,1, S. 29. - Franz Grillparzer: Der arme Spielmann. In: Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von August Sauer (t) und Reinhold
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Als Stifter im Zuge seiner Rezension von Grillparzers Erzählung diesen Lektüreeindruck niederschrieb, kannte er den rezensierten Text inzwischen ganz. Die Tatsache aber, daß Stifter bereits bei seiner ersten positiven Reaktion auf diese Erzählung nur deren letzte sechs Seiten gelesen hatte, zeigt, daß für ihn in diesem auch noch so kurzen Ausschnitt aus dem Werkganzen genügend Anzeichen für dessen hohes literarisches Niveau und für eine künstlerische Autorschaft vorhanden waren, mit der er sich ohne Mühe identifizieren konnte. Die Stelle, an der Stifter, während er mit den Korrekturen des Prokopus beschäftigt war, den Text des Armen Spielmanns zunächst zu lesen beginnen konnte, bezieht sich auf den Schluß der Binnenhandlung mit dem Lebensbericht des Spielmanns. Jakob berichtet, wie es ihm gelingt, sich als Bettelmusikant durchzuschlagen und sein Leben zu fristen, und er schließt seine Erzählung mit der Erinnerung an ein Wiedersehen mit Barbara, die inzwischen verheiratet ist und zwei Söhne hat; dem älteren erteilt er Geigenunterricht, und mit dieser Bemerkung ergreift er selbst sein eigenes Instrument und beginnt zu spielen, während sein Zuhörer - das Erzähler-Ich der Rahmenhandlung - den Raum verläßt. Die folgenden Seiten der Erzählung sind der Rahmenhandlung gewidmet. Der Ich-Erzähler kehrt nach mehrmonatiger Abwesenheit von einer Reise zurück. Inzwischen hat eine Überschwemmungskatastrophe auch städtisches Wohngebiet heimgesucht, und der Ich-Erzähler nimmt deswegen Erkundigungen auf, um sich über Jakob und dessen Schicksal zu informieren. Dabei kommt er gerade noch rechtzeitig, um sich einem Trauerzug anzuschließen, der sich zu Jakobs Begräbnis zusammengefunden hat. Er ist ein Opfer seiner Hilfsbereitschaft geworden, indem er immer wieder Menschen und Sachen aus den Wasserfluten geborgen und gerettet hat; an der Unterkühlung, die er sich dadurch zugezogen hat, ist er gestorben. Für den Ich-Erzähler der Rahmenhandlung ist die Teilnahme an Jakobs Begräbnis die willkommene Gelegenheit, Barbara und ihre Familie kennenzulernen. Bei einem wenige Tage später unternommenen Besuch bei Barbara und ihrer Familie versucht er, durch ein ansehnliches Kaufgebot Jakobs Geige als Erinnerungsstück zu erwerben, aber Barbara widersetzt sich diesem Ansinnen, indem sie das Instrument ostentativ in ihrer Truhe verschließt.2 Was Stifter von Grillparzers Erzählung als einen ersten Lektüreeindruck vermittelt bekommen konnte, konzentriert sich unter dem beschränkten Blickwinkel der sechs letzten Seiten zunächst auf den Tod Jakobs und die sinnbildliche Anschaulichkeit der Barbara-Figur. Die Tragik von Jakobs Jugendge-
Backmann, 1. Abt., Bd. 22: Apparat zu den dramatischen Plänen und Bruchstücken und zu den Prosaschriften. Wien 1944, S. 66f. - Hettche in HKG 2,3, S. 367. Dazu Franz Grillparzer: Der arme Spielmann. Hrsg. von Helmut Bachmaier. Stuttgart 1986, S. 123. Franz Grillparzer: Der arme Spielmann. In: Iris. Deutscher Almanach für 1848. Hrsg. von Johann Grafen Mailäth, Neue Folge. Zweiter Jahrgang, Pest 1847, S. 1-54, hier S. 49-54. Vgl. Franz Grillparzer: Sämtliche Werke (wie Anm. 1). I.Abt., Bd. 13: Prosaschriften I. Erzählungen. Satiren in Prosa. Aufsätze zur Zeitgeschichte und Politik. Wien 1930, S. 7781.
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schichte ist Stifter dabei zunächst ebenso verborgen geblieben, wie ihm die Tragweite der mißglückten Liebesbeziehung zwischen Jakob und Barbara unbekannt bleiben mußte, wozu bei Jakob auch noch die völlige Fehleinschätzung und Verkennung seiner eigenen musikalischen Fähigkeiten gehören. Aber auch von Barbaras Vorgeschichte und über ihr teilweise vom Nützlichkeitsdenken ihres Vaters bestimmtes Verhalten Jakob gegenüber, indem sie ihn, solange er wohlhabend gewesen wäre, auch geheiratet hätte, hatte Stifter keine Kenntnis, und daß es sich bei der erwähnten Überschwemmungskatastrophe um eine Anspielung auf die Donau und die immer wieder von solchen Ereignissen heimgesuchte österreichische Hauptstadt Wien handelte, konnte Stifter nur den in den Text eingestreuten Ortsangaben wie „Gärtnergasse" und vor allem „Leopoldstadt" entnehmen.3 Soweit Grillparzer in seiner Erzählung auch eine Entwicklung und den Fortgang eines Geschehens gestaltet hatte, konnte Stifter davon auf den letzten sechs Seiten zunächst nichts mehr nachvollziehen. Für das Verhalten der einzelnen Figuren gab es keine ableitbaren Motive weder aus ihrem Charakter noch aus ihrer Konfrontation mit bestimmten Umständen, die sie zu bewältigen hatten. Mit dem Tod Jakobs und mit der sinnbildlichen Anschaulichkeit im Verhalten Barbaras vermittelt Grillparzers Erzählung in den letzten sechs Seiten, wie sie Stifter zunächst gelesen hat, eine kirchlich geordnete Auflösung für das katastrophale Ende. Der Ich-Erzähler signalisiert durch sein gerade rechtzeitiges Eintreffen zu Jakobs Begräbnis auch die Folgerichtigkeit dieses Ereignisses bei der Wiederaufnahme der Rahmenhandlung. Die von Grillparzer geschilderte Bestattungsprozedur zeigt eine Trauergemeinde, die sich mit allen äußerlichen Anzeichen ihres kirchlichen Glaubens zur vorbereiteten Grabstätte bewegt: Voraus die Schuljugend mit Kreuz und Fahne, der Geistliche mit dem Kirchendiener. Unmittelbar nach dem Sarge die beiden Kinder des Fleischers und hinter ihnen das FJiepaar. Der Mann bewegte unausgesetzt, als in Andacht, die Lippen, sah aber dabei nach links und rechts um sich. Die Frau las eifrig in ihrem Gebetbuche, nur machten ihr die beiden Kinder zu schaffen [...] Immer aber kehrte sie wieder zu ihrem Buche zurück. So kam das Geleite zum Friedhof. Das Grab war geöffnet. Die Kinder warfen die ersten Handvoll Erde hinab. Der Mann tat stehend dasselbe. Die Frau kniete und hielt ihr Buch nahe an die Augen. Die Totengräber vollendeten ihr Geschäft, und der Zug, halb aufgelöst, kehrte zurück. [...] Der alte Spielmann war begraben.4
Schon vor dem Hintergrund dieser Begräbnisszene ist in der literarischen Darstellung die Rolle der Frau des Fleischers, bei der es sich um Barbara handelt, durch einen Gestus bestimmt, der in ihrer knieenden Haltung und in ihrer Pose als Leserin eines Buches nach außen hin anschaulich wird. Unter dem Blickwinkel der letzten sechs Seiten ist die Figur der Barbara aber nicht nur von ihrem dargestellten Auftreten her als ein Sinnbild aufrichtiger innerer Frömmigkeit zu verstehen, von dem sich möglicherweise das als äußerlich auffällig gekennzeichnete und auf oberflächlichen Effekt angelegte Frommtun des Flei-
Ebd., S. 78. Ebd., S. 80.
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schers in Grillparzers Darstellung unterscheiden soll. Barbara erinnert jenseits ihrer gestischen Erscheinung auch an die kirchliche Tradition ihrer Namenspatronin, die in ihren Attributen durch das Symbol des Turms und damit auch des Wasserturms als Heilige des Wassers eine überlieferte Schutzfunktion erfüllt, und auf diese Ebene von Sinnbildlichkeit verweist nicht nur die Überschwemmungskatastrophe, sondern auch der Ausdruck der Trauer, der sich bei Grillparzers Barbara-Figur im letzten Satz seiner Erzählung darin manifestiert, daß sie in Tränen ausbricht, und diese „Tränen liefen ihr stromweise über die Bakken".5 Die bisherige Interpretationsgeschichte des Armen Spielmann hat die sinnbildliche Beschaffenheit des Wassers an dieser Stelle zwar nicht verkannt oder in Abrede gestellt, aber sie hat darin eine politische Anspielung wahrgenommen, für die sie ihre erforderliche Referenz aus der Schilderung des Brigittenaufestes am Anfang von Grillparzers Erzählung bezogen hat, und die Tatsache, daß auf der Grundlage dieser Sinnbildkeit im Armen Spielmann ein durchgängiges Motiv der Rahmenhandlung freigelegt werden konnte, erwies sich als Interpretationsansatz, um an Grillparzers Werk neben der politischen Sinnebene eine gestalterische Absicht zu diskutieren.6 An den Toren der Stadt wächst der Drang. Genommen, verloren und wiedergenommen, ist endlich der Ausgang erkämpft. Aber die Donaubrücke bietet neue Schwierigkeiten. Auch hier siegreich, ziehen endlich zwei Ströme, die alte Donau und die geschwollnere Woge des Volks sich kreuzend quer unter und über einander, die Donau ihrem alten Flußbette nach, der Strom des Volkes, der Eindämmung der Brücke entnommen, ein weiter, tosender See, sich ergießend in Alles deckender Überschwemmung. Ein neu Hinzugekommener fände die Zeichen bedenklich. Es ist aber der Aufruhr der Freude, die Losgebundenheit der Lust.7
Wenn sich aber an der motivischen Verwendung des Wassers als Sinnbild zwischen den beiden Teilen der Rahmenhandlung, am Anfang und am Ende von Grillparzers Erzählung, eine erzähltechnische Entsprechung feststellen läßt, so ist zur Bestätigung dieser Feststellung mit der hagiographischen Anspielung und Veranlassung, die dem Armen Spielmann zugrunde liegt, eine Textschicht mit einem weiteren Motivbeispiel zu erschließen; denn wie Grillparzers Text ausdrücklich betont, ist das „Volksfest", mit dessen Schilderung die Erzählung einsetzt, ein Ereignis aus dem kirchlichen Festkalender: An diesem Tage feiert die mit dem Augarten, der Leopoldstadt, dem Prater in ununterbrochener Lustreihe zusammenhängende Brigittenau ihre Kirchweihe. Von Brigittenkirchtag
Ebd., S. 81. Vgl. Erich Wimmer: Artikel „Barbara". In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. l, Freiburg u. a. 31993, Sp. 1401f. - Den Hinweis darauf, daß Einrichtungen der Wiener Wasserversorgung bei ihrer Inbetriebnahme noch bis in die heutige Zeit auf die heilige Barbara als Schutzpatronin geweiht worden sind, verdanke ich einem Gespräch mit Prälat Prof. Dr. Franz Loidl (t) aus dem Jahr 1984. Vgl. Hans-Wolf Jäger: Das Naturbild als politische Metapher im Vormärz. In: Jost Hermand und Manfred Windfuhr (Hrsg.): Literatur der Restaurationsepoche 1815-1848. Stuttgart 1970, S. 405^140, hier S. 430f. Vgl. Franz Grillparzer: Sämüiche Werke (wie Anm. 1). I.Abt., Bd. 13: Prosaschriften I. Erzählungen. Satiren in Prosa. Aufsätze zur Zeitgeschichte und Politik. Wien 1930, S. 37.
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Konrad Feilchenfeldt zu Brigittenkirchtag zählt seine guten Tage das arbeitende Volk. Lange erwartet erscheint endlich das satumalische Fest.8
So deutlich an dieser Stelle auch die kirchliche Aitiologie des zu schildernden Festes betont wird, hat doch die Interpretationsgeschichte des Armen Spielmann sich vor allem mit Grillparzers Anspielung auf die römischen Saturnalien beschäftigt und konnte dabei wieder auf eine politische Konnotation verweisen; denn analog dazu, wie sich nach Macrobius während der Saturnalien im alten Rom „Herren und Sklaven Kleidung und Rollen vertauschten", wird bei Grillparzer das Verhalten der Festteilnehmer geschildert: „Der Unterschied der Stände ist verschwunden; Bürger und Soldat teilt die Bewegung."" Vergleichbar ist in der interpretationsgeschichtlichen Rezeption des Armen Spielmann übrigens auch der Umgang mit dem Namen Barbara, dessen lateinische Wortbedeutung im Sinne von .fremd' durchaus als heuristische Hilfe verwendet worden ist, um an Grillparzers Frauenfigur Züge ihres unwirschen Charakters zu erhellen; die hagiographische Tradition der christlichen Namengebung blieb dagegen aus der Diskussion um die Barbara-Figur im Armen Spielmann bisher ausgeklammert.10 Dabei ist die aitiologische Verknüpfung von Grillparzers Erzählung mit der Autorität der christlichen Kirche ein Motiv, das nicht nur den einleitenden Vorspann kennzeichnet, sondern auch in der Schilderung von Jakobs Beerdigung am Schluß der Erzählung wiederkehrt und das in dieser Funktion als Verklammerung ein Strukturales Merkmal der Rahmenhandlung darstellt. Schon das „Volksfest", mit dessen Schilderung Grillparzer den Text seiner Erzählung beginnen läßt, geht auf einen kirchlichen Anlaß zurück, und mit diesem Anlaß verbindet sich in der Überlieferung der Wiener Stadtgeschichte die historische Erinnerung an die Legende der heiligen Brigitta aus Schweden. Der Name Brigittenau als topographische Bezeichnung und Flurname geht auf die Stiftung einer Kapelle zurück, die als „Brigittakapelle" auf den Namen der schwedischen Heiligen geweiht war, und schon bald nach deren „Erbauung" um die Mitte des 17. Jahrhunderts, „zwischen 1645 und 1651", entwickelte sich „der Kapellen-Patronin zu Ehren ein Kirchweihfest, das alljährlich am 4. Sonntag nach Pfingsten [...] im Umkreis der Kapelle gefeiert wurde und sich vor allem im vormärzlichen Wien bei allen Volksschichten großer Beliebtheit
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Ebd. Ebd. Vgl. Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Wien 5 1959, S. 320. Mit dem Namen Barbara hat die bisherige Interpretationsgeschichte des Annen Spielmann einen Frauentyp in Verbindung gebracht, dessen Vorlage Grillparzer aus der antiken Mythologie in der Figur der Medea geläufig gewesen ist. - Vgl. Franz Grillparzer: Sämtliche Werke (wie Anm. 1). 1. Abt., Bd. 13: Prosaschriften I. Erzählungen. Satiren in Prosa. Aufsätze zur Zeitgeschichte und Politik. Wien 1930, S. 318; ferner Peter von Matt: Der Grundriss von Grillparzers Bühnenkunst. Zürich 1965 (Zürcher Beiträge zur deutschen Literaturund Geistesgeschichte 24), S. 149ff.
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erfreute".11 Mit dem Namen der heiligen Brigitta verbindet sich daher in Grillparzers Armem Spielmann die Gestaltung einer lokalkoloristischen Erzählepisode, die mit dem Brigittenaufest und seiner Schilderung ein populäres Thema der Wiener Unterhaltungsliteratur aufgriff, und dieser Befund bezieht sich nicht nur darauf, daß die Schilderung dieses Festes in zahllosen anderen zeitgenössischen Berichten österreichischer Autoren überliefert ist, sondern es geht dabei auch um die Geschichte und den historischen Fortbestand dieses Festes, das infolge städtebaulicher Eingriffe auf dem Gebiet der Donauauen immer mehr von seiner glanzvollen Vergangenheit einzubüßen begann. Die Entwicklung, um die es sich hier handelte, begann sich um etwa 1840 durchzusetzen und führte 1848 zum endgültigen Verbot des Brigittenkirchtags.12 Mit der zunehmenden Rodung und Überbauung der Brigittenau begann das ehemals durch seinen Baum- und Pflanzenbestand berühmte Gelände nicht nur seine landschaftliche Schönheit zu verlieren, sondern es begann sich auch im Verhalten der Festteilnehmer eine bis dahin unbekannt gewesene Verrohung bemerkbar zu machen. Als daher Grillparzers Festschilderung im Armen Spielmann im Herbst 1847 erstmals veröffentlicht wurde, hatte der Brigittenkirchtag im letzten Jahr seiner Durchführung einen Grad an Vulgarität erreicht, verglichen mit dem die Würdigung des Festes in Grillparzers Erzählung damals geradezu als ein nostalgisches Gegenbild gelesen werden konnte.13 Was daher aus der Sicht der Geschichte Wiens und des Alltagslebens seiner Bevölkerung ein Stück sozialgeschichtlichen Niedergang beleuchtet, erweist sich in der literarischen Glorifizierung durch den Autor Grillparzer als ein ästhetischer Kunstgriff im Umgang mit der politischen Krise seiner eigenen Gegenwart. Was sich nur ein halbes Jahr später in der Revolution von 1848 als Folge dieser aktuellen Krisensituation herausstellte, reduzierte sich im Wissen um die Tradition des Brigittenaufestes für den zeitgenössischen Künstler auf die äußerliche Unterscheidung zwischen .schön' und .häßlich' und deren ästhetische oder moralische Begründung. Stifter wird deswegen mit Interesse die Stelle auf den letzten sechs Seiten des Armen Spielmann gelesen haben, an der der Erzähler bei der Schilderung der versammelten Trauergemeinde von Barbara die Feststellung macht: „Es schien fast, als ob sie nie schön gewesen sein konnte."14 Denn mit dieser Betrachtung reflektierte Grillparzer die zu seiner Zeit
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Franz Kaiser: Brigittenau. Mit dem Beitrag: Das geologische Bild der Brigittenau in Vergangenheit und Gegenwart von Friedrich Brix. Wien, München 1975, S. 30. Ferner auch Roland P. Herold: Brigittenau. Von der Au zum Wohnbezirk. Wien 1992, S. 14. Vgl. auch Franz Grillparzer: Sämtliche Werke (wie Anm. 1). 1. Abt., Bd. 13: Prosaschriften I. Erzählungen. Satiren in Prosa. Aufsätze zur Zeitgeschichte und Politik. Wien 1930, S. 324ff. Ebd., S. 332. Vgl. Roland P. Herold (wie Anm. 11), S. 15f. Vgl. Konrad Feilchenfeldt: Die „Nobilitierung" der Prosa in Grillparzers Der arme Spielmann. In: Wolfgang Bunzel, Konrad Feilchenfeldt und Walter Schmilz (Hrsg.): Schnittpunkt Romantik. Text- und Quellenstudien zur Literatur des 19. Jahrhunderts. Festschrift für Sibylle von Steinsdorff. Tübingen 1997, S. 223-235, hier S. 233. Vgl. Franz Grillparzer: Sämtliche Werke (wie Anm. 1). 1. Abt., Bd. 13: Prosaschriften I. Erzählungen. Satiren in Prosa. Aufsätze zur Zeitgeschichte und Politik. Wien 1930, S. 80.
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aktuelle Diskussion der sozialen Frage am Beispiel der Grießlerstochter Barbara ausdrücklich als ästhetische Frage, und gerade mit dem Thema weiblicher Schönheit hatte sich Stifter selbst in einer erst kurz vorher, im Jahr 1844, von ihm veröffentlichten Erzählung literarisch auseinandergesetzt. Konnte Stifter deswegen Grillparzers Satz über Barbaras Mangel an Schönheit möglicherweise als eine Lektürereminiszenz seiner eigenen bereits vorliegenden Erzählung aus dem Jahr 1844 aufgefaßt haben und schon aus diesem Grund sein Bedürfnis, möglichst rasch den Text der ganzen Erzählung von Grillparzer kennenzulernen, leicht erklärbar sein, so kann in diesem Zusammenhang die Titelfigur von Stifters Erzählung einen weiteren Bezug nicht nur zwischen den beiden österreichischen Autoren und ihren Erzählungen herstellen, sondern auch zwischen Stifter als Autor und seiner Auseinandersetzung mit dem Brigittenkirchtag.15 Stifters 1844 erstmals erschienene Erzählung Brigitta gehört in den klassischen Kanon deutscher Novellistik und ist deswegen auch eines der wohl am häufigsten interpretierten seiner literarischen Werke.16 Als Erzählung, die im Mittelpunkt ihrer Handlung an der Titelfigur das Schicksal einer äußerlich häßlichen, aber innerlich schönen Frau zu einer exemplarischen Fallstudie macht, vermittelt Stifters Brigitta eine Lösung des behandelten Problems, die das erklärtermaßen moralische Bekenntnis zu einer Ästhetik des Häßlichen einerseits durch die künstlerische Schreibweise, in der erzählt wird, andererseits ästhetisch kompensiert. Stifter erweist sich darin ebenso wie sein Zeitgenosse Grillparzer als repräsentativer Autor seiner Zeit und Epoche, der in der künstlerischen Aufwertung nach der überlieferten Ästhetik minderwertiger Stoffe und Themen eine fortschrittliche Auffassung von Literatur vertreten und praktiziert hat.17 In diese Richtung weist auch Stifters Rezension des Armen Spielmann, wo sie Grillparzer dafür Lob erteilt, daß er „scheinbar sehr ungefügige, ja fast widerstrebende Verhältnisse" stilistisch so gestalten könne, „daß man am Schlüsse die beruhigendste sittliche Auflösung und eine lohnende
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Den hier weiterentwickelten Gedanken dokumentieren grundsätzlich bereits in der historisch-kritischen Stifter-Ausgabe die Erläuterungen zum Lemma „Brigitta" im Stellenkommentar von Ulrich Dittmann. Die Anregung zu diesem Gedanken geht aber auf ein gemeinsam besuchtes Münchner Oberseminar von Wolfgang Frühwald im Sommersemester 1976 zurück. Vgl. HKG 1,9, S. 324. Die Erläuterung fehlt übrigens bei Adalbert Stifter: Brigitta. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1982. - Daß das Wunder der heiligen Brigitta, dem die Errichtung der Brigitta-Kapelle zu verdanken sei, auf den Brigittentag datiert werden kann, hat sich schon seit längerem als Irrtum erwiesen; das Kriegsgeschehen, bei dem Erzherzog Leopold Wilhelm durch das Brigittenwunder gerettet worden sein soll, datiert vom Ende Mai, die Namenstage der heiligen Brigitte jedoch vom I.Februar beziehungsweise 8. und 9. Oktober. Vgl. Franz Kaiser (wie Anm. 11), S. 25ff. Vgl. Ulrich Dittmann: Brigitta und kein Ende. Kommentierte Randbemerkungen. In: Jahrbuch des Adalbert Stifter Institutes 3 (1996), S. 24-28, hier S. 24. Vgl. Werner Hofmann: Poesie und Prosa. Rangfragen in der neueren Kunst. In: Werner Hofmann: Bruchlinien. Aufsätze zur Kunst des 19. Jahrhunderts. München 1979, S. 180200, 264-266.
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Erhebung empfindet".18 Einen vergleichbaren Beitrag in diese stilistische Richtung stellt aber auch Stifters Brigitta dar, nicht nur, weil in dieser Erzählung die Darstellung einer äußerlich häßlichen Frau ebenfalls „widerstrebende Verhältnisse" aufgegriffen und am Ende „die beruhigendste sittliche Auflösung" gefunden hätte, sondern weil hier eine Form der Stoffbewältigung zu interpretieren sein könnte, die im Vergleich zu Grillparzers Erzählkunst im Armen Spielmann noch einen Schritt weiter führt, und auf diese Erweiterung zielt eine Deutung, die in Stifters Brigitta ein lokalkoloristisches Werkbeispiel aus der Fülle jener topographischen Unterhaltungsliteratur interpretiert, aus der sich das Interesse an der literarischen Tradition des Brigittenkirchtags entwikkelte. Wenn Stifters 1842 entstandene und 1844 erstmals veröffentlichte Novelle als literarisches Zeitzeugnis gelesen worden ist, so liegt es nicht fern, die Ambivalenz im äußeren Erscheinungsbild der weiblichen Titelfigur Brigitta ihre äußere Häßlichkeit und ihre innere Schönheit - auf die Topographie und das Schicksal jener vorstädtischen Wiener Donaulandschaft zu beziehen, die damals nachweislich infolge von Rodungen und sogar schon von ersten Überbauungsmaßnahmen ihren ursprünglichen Landschaftscharakter zu verlieren begann und damit auch als vorstädtisches Wiener Naherholungsgebiet von »seiner früheren Attraktivität mehr und mehr einbüßte. Mit der Novellen-Figur seiner Brigitta erinnerte Stifter seine Wiener Leser an die kirchliche Schutzpatronin jenes bedrohten Gebiets, die in der historischen Person der heiligen Brigitta diesem Gebiet auch den Namen Brigittenau vermittelt hat. Während Grillparzer bei der Schilderung des Brigittenkirchtags nachweislich auf literarische Quellen zurückgriff, unter denen neben Goethes Römischem Karneval vor allem österreichische Lokalautoren von Grillparzer benutzt worden sind, und bei einer solchen Vorgehensweise eine möglichst authentische Wiedergabe des Wiener Kolorits angestrebt war," kann Stifters literarische Auseinandersetzung mit der Tradition des Brigittenkirchtags in seiner Brigitta-Novette formal nicht als Bearbeitung einer quellenkundlichen Vorlage untersucht und das Ergebnis auch nicht auf seine Authentizität hin geprüft werden. Wenn Stifters Brigitta als literarisches Zeitzeugnis im Diskurs der Geschichte der Brigittenau gelesen werden kann, so ist die damit verbundene literarische Bearbeitung nur als Personifikation und Allegorese verständlich. Stifter schildert das Schicksal der Brigittenau, das ihm als Zeitzeugen von deren Niedergang nicht unbekannt geblieben sein konnte, indem er den topographischen Bereich im Rückgriff auf die Identität der heiligen Brigitta als seiner Schutzpatronin personifizierte. Die These der hier vertretenen Überlegungen zielt auf eine Interpretation von Stifters Brigitta, die im Schicksal der weiblichen Titelfigur eine Allegorie auf die Zukunft der Brigittenau gestaltet.
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HKG8.1.S.29. Vgl. Franz Grillparzer: Sämtliche Werke (wie Anm. 1). 1. Abt., Bd. 13: Prosaschrifteo I. Erzählungen. Satiren in Prosa. Aufsätze zur Zeitgeschichte und Politik. Wien 1930, S. 324ff., 333ff.
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Mit der erzähltechnischen Einführung der Figur des Ich-Erzählers und deren eigener persönlichen Entwicklung verbindet sich in Stifters Brigitta wie in Grillparzers Armem Spielmann eine allmähliche Annäherung an den Gegenstand. Dabei ersetzt in Stifters Novelle die ungarische Steppe im Blickfeld des Erzählers zunächst jene Zone des vorstädtischen Wiener Naherholungsgebiets, dessen Freizeitwert seit 1840 immer stärker im Schwinden begriffen ist. Stifter setzt an die Stelle der inzwischen durch zivilisatorische Maßnahmen immer stärker in Mitleidenschaft gezogenen Brigittenau eine Landschaft, deren Mangel an Vegetation einer natürlichen Vorgabe dieser Gegend entspricht und die dabei sogar ein eigenes Kolorit entwickelt. Was in der Brigittenau von menschlicher Seite an Eingriffen gegen ihre landschaftliche Schönheit vorgefallen ist und was im Lauf der Zeit zu deren Zerstörung beigetragen hat, steht im Gegensatz zu allen jenen landwirtschaftlichen Bemühungen, die in Stifters Erzählung durch Brigitta und ihren Mann auf eine neue Kultivierung von Fruchtbarkeit und Ertrag zielen. Während die Brigittenau, wie sie durch die Brigitta-Figur in Stifters Erzählung personifiziert wird, ihre ursprüngliche Schönheit verloren hat, erweist sich die natürliche Kargheit der Steppenlandschaft in der ungarischen Tiefebene als topographische Zone einer neuen Schönheit, die ihre veränderte Beschaffenheit der landwirtschaftlichen und im weitesten Sinne ökologischen Planung der hier lebenden Menschen verdankt, und an diese Idee knüpfen sich Betrachtungen, die im Munde von Brigittas Mann Stephan Murai geradezu ein revolutionäres gesellschaftspolitisches Profil entwickeln. Was Murai dabei motiviert, ist die Tatsache, daß er durch Brigitta zu diesen Gedanken angeregt wurde, und darin artikuliert sich bei Stifter zugleich seine literarische Bearbeitung des Topos vom Brigittenaukirchtag als Volksfest: [...] ein Weib war's, das mir den Gedanken eingab, und ihn sogar schon vorher ausführte, nämlich durch Beispiel und Verbrüderung mit dem Volke voran zu gehen, daß Kraft und Schönheit unsere Bodens geweckt werde — seit ich es thue, seit ich in der Mitte meiner Leute lebe, in ihrer Kleidung, ihren Sitten, seit schon ein vierter Nachbar in unseren Bund trat, seit die kleineren empor blicken und nachzuahmen beginnen, seit ich von dem gemeinen Manne geliebt, ja fast angebetet werde, seither ist es mir, als hätte ich das Glück gefunden, und zwar in jenem selben Hause, von dem ich vor dreißig Jahren auszog, es zu suchen.20
Murai umschreibt den Zustand seines Daseins als Rückkehr in die Nähe jener Frau, von der er sich zu seinem eigenen Nachteil getrennt hatte, als er der Gräfin Gabriele begegnet war und deren „Schönheit" nicht hatte widerstehen können.21 Wenn jedoch die Figur der Brigitta als Personifikation der Brigittenau verstanden werden kann und sich in Murais Trennung von seiner Frau aus der Sicht von Stifter ein Stück zeitgenössische Kritik am Verfall der Brigittenau artikuliert hat, dann ist damit noch keine letzte Konsequenz gezogen, sondern es geht in Stifters Novelle um den, wenn auch vorerst nur symboli20 2
HKG1,2,S.228. > Ebd.,S.243f.
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sehen, Versuch einer Erneuerung dieses heruntergekommenen Stücks Natur, und die politische Perspektive dafür liegt in einer Organisation, die Murai offen und ohne Zögern als „unseren Bund" bezeichnet. Dabei hat Stifter die fortschrittliche Ideologisierung dieses Zusammenschlusses einer Interessengemeinschaft ungarischer Landwirte in der überarbeiteten, zweiten Fassung seiner Novelle, die 1847 im selben Jahr wie der Almanach Iris erschien, noch um einiges verdeutlicht, und damit war seiner Erzählung in dieser zweiten Fassung geradezu ein politisches Bekenntnis unterlegt, das in der Beschreibung eines neuen Gesellschaftsvertrags auf genossenschaftlicher Grundlage seinem Verfasser im damals noch restaurativen österreichischen Polizeistaat nicht ungefährlich hätte werden können.22 Daß dies nicht der Fall war, hing rückblickend betrachtet wohl auch damit zusammen, daß im zeitiichen Vorfeld der Revolution von 1848 bereits eine Lockerung in der staatlichen Zensurpraxis eingetreten war, und von dieser Entwicklung profitierte gleichzeitig auch die Veröffentlichung des Armen Spielmann; denn die in Grillparzers ebenfalls 1847 veröffentlichter Erzählung enthaltenen Betrachtungen über die politische Rolle des Volks im Gegensatz zur Obrigkeit des monarchistischen Staates sind den in Stifters Novelle artikulierten Gedanken über das ungarische Vaterland und seine landwirtschaftliche Bewirtschaftung nicht ganz fern: Man hatte vor einigen Jahren einen Bund geschlossen, den Landbau und die Hervomifung der ursprünglichen Erzeugnisse dadurch zu heben, daß man dies zuerst in dem besten Maßstabe auf den eigenen Besitzungen thue, und so den ändern mit einem Beispiele voran gehe, namentlich wenn sie sehen, daß Wohlhabenheit und besseres Leben sich aus dem Dinge entwickle. Der Bund hatte auch seine Gesetze, und die Beigetretenen hielten landwirthschaftliche Versammlungen. Außer diesen vier großen Musterhöfen, die eigentlich bis jetzt erst nur die einzigen Mitglieder des Bundes waren, hatten schon einige kleinere Besitzer angefangen, das Verfahren ihrer größeren Nachbarn nachzuahmen, ohne daß sie deßwegen eigentlich Glieder des Bundes waren. Zur Sitzung aber nur als Zuhörer, oder gelegentlich als Ratfrager, durften alle Landwirthe und andere Menschen kommen, wenn sie sich nur vorher angemeldet hatten.23
Die Tatsache, daß der in Stifters Novelle beschriebene „Bund" kein Eingreifen der Zensur veranlaßt hatte und nicht einmal die ausführlichere Beschreibung der zweiten Fassung der Novelle als staatsgefährdende verdeckte Aufforderung zu einer subversiven Vereinsbildung gelesen worden war, verweist jedoch noch auf eine weitere Ursache, die mit der formalen Beschaffenheit des Texts
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Zum kritischen Umgang mit dem Wortgebrauch der vorliegenden Texte durch die Zensurbehörde, gerade für das Wort „Bund" während der Restaurationsepoche, vgl. Konrad Feilchenfeldt: Öffentlichkeit und Chiffrensprache in Briefen der späteren Romantik. In: Wolfgang Frühwald, Hans-Joachim Mahl und Walter Müller-Seidel (Hrsg.): probleme der briefedition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bonn-Bad Godesberg 1977, S. 125-154, hier S. 130, 143. Dazu die ungenaue Kritik von Nikolaus Gatter: „Gift, geradezu Gift für das unwissende Publicum". Der diaristische Nachlaß von Karl August Varnhagen von Ense und die Polemik gegen Ludmilla Assings Editionen (1860-1880). Bielefeld 1996, S. 56f., Anm. 52. Zur Zensur im Zusammenhang mit Engina ferner Dittmann in HKGl,9,S.319f. HKGl,5,S.441f.
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Konrad Feilchenfeldt
zusammenhängt; denn soweit von den Aktivitäten des beschriebenen Bundes überhaupt die Rede ist, beschränken sich die einschlägigen Informationen auf Einzelheiten seiner Organisation, und abgesehen vom landwirtschaftlichen Gemeinwohl ist das einzige erklärte Ziel des Bundes die Mehrung des allgemeinen Wohlstandes, und es geht nicht einmal um offen liberalistische Themen wie freie Meinungsbildung oder Gleichberechtigung unter den Bundesmitgliedern. Die aktuellen Themen, mit denen sich der Personenkreis in Stifters Novelle ernsthaft auseinandersetzt, kommen nicht als Tagesordnungspunkte in den Versammlungen der Bundesmitglieder zur Sprache, sondern sie erscheinen als Unterhaltungsgegenstände unter den, wie Stifter formuliert, „Gesprächen der verschiedensten Art", und diese Gespräche handeln: von der Zukunft des Landes, von Hebung und Verbesserung Ebd., S. 234.
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Verzichtet doch, wie wir gesehen haben, jeder Gläubiger für die Gewinnaussicht ganz oder zum Theile auf die Zinsen und Zinseszinsen", bemerkt Sieghart daher zu Recht;32 viele Anleihen waren völlig unverzinslich Bei der 1854er staatlichen Anleihe betrug der Hauptgewinn wie gesagt 200000 Gulden; die geringsten Ziehungstreffer erbrachten 300 Gulden, das entsprach dem Nennwert des Loses zuzüglich 4% Zinsen. Ein einmal gezogenes Los schied aus. Anders als beim reinen Glücksspiel drohte hier also nie der völlige Verlust des Einsatzes, letztlich wurde die Einlage auch im schlechtesten Fall mit einem einmaligen Zinsgewinn von 4% (jedoch ohne Zinseszins) zurückgezahlt, doch war das Geld möglicherweise jahrzehntelang ohne jeden für den Gläubiger greifbaren Ertrag festgelegt. Auf größere Spekulationsgewinne beim Verkauf solcher Lose etwa kurz vor angekündigten Ziehungsterminen war auch kaum zu hoffen, da die Attraktivität dieser Geldanlagen nach 1850 erheblich nachgelassen hatte. Die beiden letzten staatlichen Lotterieanlehen in Österreich wurden 1860 und 1864 aufgelegt; Stifter hat sich an beiden beteiligt, winkten doch wieder Hauptgewinne in Höhe von 300000 beziehungsweise 250000 Gulden. Für die 1854er Anleihe hatte er zwei Lose im Gesamtwert von 500 Gulden erworben; zu seinen Lebzeiten entfiel offensichtlich auf keines auch nur der kleinste Gewinn. Nichtsdestotrotz hat er in den folgenden Jahren noch mindestens sechs neue staatliche oder private Anleihen dieser Art mit unterschiedlich hohen Einsätzen gezeichnet. Während der Fertigstellung des Nachsommer und dem Beginn der Arbeiten am M/i&o-Projekt, das ihn zehn Jahre beschäftigen und ihm höchste Konzentration abverlangen wird, nimmt der Überdruß an seinem Amt immer unerträglichere Formen an; umso verzweifelter klammert sich Stifter an jede weitere Hoffnung, sich durch Spekulationen, die er freilich aus dem eigenen Einkommen zu finanzieren nicht in der Lage ist, eine „sorgenfreie und schreibfähige Zukunft geben" und das heißt, den Dienst vorzeitig quittieren zu können.33 Ein erschütternder Situationsbericht an seinen Verleger vom 29. Februar 1856 „Hätte ich nur Zeit, und hätte das Amt nicht!! Oft - oft sagt mir mein Inneres, ich hätte nicht umsonst gelebt, ich würde doch etwas machen, was fortlebt und fortwirkt. Stoffe und Gedanken häufen sich im Haupte, sie pochen und drängen zur Ausführung; aber dann fehlt die Zeit, und die Gemeinheit der täglichen Vorkömmniße und die Kläglichkeit der Menschen, mit denen ich zu thun habe, und denen ich nicht aus dem Wege gehen kann, trübt die Hoheit der Stimmung" - mündet in den zunächst zaghaften, im Konjunktiv formulierten Vorschlag einer durch Heckenast zu finanzierenden Aktienspekulation. „Wären Sie ein reicher Mann, so sagte ich: Freund, nimm 10.000 fl. kaufe Westbahnactien, lasse sie bei Dir liegen, beziehe die Zinsen; ich mache Bücher, und wenn ich um 10.000 fl fertig habe, so zahle sie mir in Westbahnactien nach dem Nominalwerthe. In 4 Jahren nach der Ausgabe werden diese Papiere viel-
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Brief an Gustav Heckenast, 13. Dezember 1855. PRÄ 18, S. 298.
„Seze den 20iger in die Lotterie." Der Spieler Stifter
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leicht das Doppelte werth sein. Dann zöge ich sie aus dem Verkehr, legte die erlöste Summe sicher an, und hätte mit meiner Pension [...] eine hinlängliche Rente. Ich suchte mir die Umgebung, die ich will, die zur Stimmung paßt, und sie erhöht - und [sezte] dann die lezten Kräfte dieses Lebens noch an Werke, die unserm Volke gehören sollten, und die machen sollten, daß es mich auch nach meinem Tode noch ein wenig liebt."34 Im Zeitalter des boomenden Eisenbahnbaus schien das Unternehmen .Westbahn', an dem unter anderen die Rothschild-Bank und die Wiener Credit-Anstalt beteiligt waren, einen sicheren Wertzuwachs seiner Aktien zu garantieren; sie wurden angeblich schon vor der Emission mit einem Agio von bis zu 25% gehandelt. - Heckenast entsprach der Bitte seines Autors und Freundes und erwarb für dessen Rechnung 50 Westbahn-Aktien mit einem Nennwert von 200 Gulden für den Preis von insgesamt 11.600 Gulden C. M.3S Anscheinend hatte Stifter aber auch selbst Westbahn-Aktien gekauft; am 9. November 1857 schrieb er an seinen Freund Mathias Greipl: „du weißt, daß ich 1856 alles, was ich konnte, in Westbahnactien stekte, welche Bösewichter jezt tiefer stehen, als ich sie damals contrahirte; aber beim Betriebe der Bahn werden sie schon empor gehen".36 Auch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Als Heckenast 1865 selbst in finanzielle Schwierigkeiten geriet und die für Stifters Rechnung erworbenen Aktien abstoßen mußte, erfuhr dieser erst, daß Heckenast seinerzeit für den Ankauf einen neunprozentigen Kredit aufnehmen und diesen inzwischen mit 900 Gulden jährlich auf eigene Rechnung hatte bedienen müssen. Trotz einer garantierten Verzinsung der Aktien von 5% trug dieses Abenteuer Stifter schließlich ein Defizit von 5633 Gulden und 75 Kreuzern auf seinem Honorarkonto ein.37 Stifter bleibt weiterhin und zunehmend von den Vorschüssen Heckenasts abhängig, und das Schuldenkonto bei seinem Verleger nimmt ihm jeden Spielraum für die Verhandlung höherer Honorarforderungen, zumal sich von Stifter zugesagte Termine für Manuskriptablieferungen aufgrund dienstlicher Belastung und wiederholter Kränklichkeit immer häufiger und länger verschieben. So erreichte die Summe der für den Witiko bezahlten Vorschüsse bereits 1861 die Höhe des vereinbarten Gesamthonorars von 6000 Gulden, das ursprünglich für den Herbst 1858 versprochene Manuskript zum ersten Band erhielt der Verleger jedoch erst im Dezember 1864.38 Zwischen 1858 und 1860 zeichnete Stifter weitere vier Anlehenslotterien. Wohl um den Überblick über die Ziehungstermine für alle in seinem Besitz befindlichen Lose nicht zu verlieren, notiert er ab 1860 die Daten akribisch in
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PRA18.S. 314f. Vgl. PRÄ 18, S. 485. PRÄ 22, S. 235. Vgl. PRÄ 20, S. 407. Zum Vergleich: Grillparzers Honorare für seine Dramen beliefen sich jeweils auf 10001500 Gulden pro Auflage, hinzu kamen regelmäßige Tantiemen bei Aufführungen zwischen 20 und 100 Gulden. Für das Verlagsrecht an der lObändigen Ausgabe seiner Sämtlichen Werke zahlte ihm Cotta 36000 Gulden Ö. W. Vgl. Walter Krieg (wie Anm. 21), S. 125.
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einem eigens hierfür angelegten Heft, das die Bayerische Staatsbibliothek 1973 erwerben konnte.39 Es besteht aus neun in der Mitte gefalzten und mit einem braunen Leinenfaden zusammengehefteten hellgrauen Folioblättern . Dabei handelt es sich um .abgelegte Blätter' mit zum Teil längeren, zumeist aber nur wenige Zeilen umfassenden fragmentarischen Entwürfen oder Abschriften zu den späten Erzählungen Die Schwestern, Der beschriebene Tännling , Der alte Hofmeister sowie zu Kazensilber. Die Blätter sind derart zusammengelegt und geheftet, daß die vordere Hälfte des Heftes nur leere oder doch nahezu leere Seiten enthielt. Das Heft ist durchgehend, jeweils nur recto, paginiert. Die Vorderseite trägt - von Stifters Hand - die Aufschrift Ziehungsverzeichniß. von Anlehensloosen. Adalbert Stifter 1860. Die folgenden acht Seiten (S. 2-5 r+v ) enthalten ebenfalls von Stifters Hand angelegte kalendarische Tabellen für die Jahre 1860-1867, in denen er die Ziehungstermine mit Tinte monatlich aufgelistet hat (lediglich die Eintragungen für 1868 stammen von der Hand seiner Frau). Jahreszahl und Monatsnamen sind jeweils mit derselben Tinte unterstrichen, die Ziehungstermine mit Rotstift markiert. Als Beispiele werden im folgenden die Eintragungen für die Jahre 1860 und 1867 zeichengetreu wiedergegeben; lediglich die Rötelunterstreichungen werden in der Transkription nicht bezeichnet; Streichungen Stifters werden als solche übernommen.
1860 Jänner. Februar. März. April. Mai Juni. Juli August September October November Dezember
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2. Como Rentenscheine. 2. 1854 Loos. 2 Donau.D.loos 15. Waldstein 1. Stadt-Ofner Loos (statt am 15« April) 15. Waldstein-Loos 16. Ofner Loose (statt 15 August) 15. Waldstein-Loos. 1.54« Loos. 1. Don.Dapf-Schf. Loos 15. Stadt-Ofncf-Loos 1.60er Loos. 31. Stadt Ofnerloos (statt 15. Dezember IS.Stadt Ofhef Loos
Signatur: Cgm 7387a /l 8. Für die Genehmigung des Zitats aus dem bislang unveröffentlichen Heft danke ich der Direktion der Handschriftenabteilung.
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Weist die Liste für das Jahr 1860 schon insgesamt 12 Ziehungstermine aus, so sind es 1867, im Jahr vor Stifters Tod, schließlich 19:
Jänner Februar März April Mai Juni Juli August September October November Dezember
1867. 1. Creditloose. U 854 Loose 15. Waldsteinloose 2. Como-Rentenscheine !_,. 1860. Loose L 1864 Loose L Creditloose 15^1864 Loose I5_ Waldsteinloose 1.1864 Loose 15 Ofner Loose 1. Creditloose 1.1864 Loose 1854 Loose 1. Donaudampfschiffahrts Loose. 15. Waldsteinloose 1. 1860. Loose 1. 1864. Loose 1. Creditloose 1.1864 Loose
Neben den staatlichen Lotterieanleihen wurden in Österreich auch zahlreiche Privatanleihen aufgelegt. Konzessionen hierfür konnten Gesellschaften - wie die 1830 gegründete „Erste k. k. privilegierte Donau dampfschiffahrtsGesellschaft", Renten- und Creditinstitute, Kommunen - wie die ungarische Stadt Ofen - oder auch Privatpersonen wie die Grafen Waldstein bekommen, um sich auf diese Weise Kapital für Investitionen beschaffen zu können.40 Der Nenn- beziehungsweise Ausgabewert der von Stifter erworbenen Lose lag zwischen 20 Gulden - bei den Waldsteinlosen - und 100 Gulden bei den Creditlosen und denen der Donaudampfschiffahrts-Gesellschaft, die Laufzeiten betrugen zwischen 44 Jahren (Donaudampfschiffahrts-Gesellschaft, Ausgabe 1858) und 66 Jahren (bei den Credit-Losen, ebenfalls 1858 aufgelegt). Die Tilgung erfolgte wie bei den staatlichen Anleihen auf dem Wege der Verlosung, lediglich bei der Donaudampfschiffahrts-Gesellschaft war dabei ein Zins von 4% festgelegt. Auch bei diesen Anleihen winkten bei den Verlosungen Hauptgewinne in sechsstelliger Höhe. Wieviele Lose Stifter von den einzelnen Anleihen jeweils erworben hat, geht aus seinen Aufzeichnungen und seiner Korrespondenz nur selten hervor. Er dürfte aber kaum je in der Lage gewesen sein, sofort den vollen Preis für ein Los zu zahlen, der jedoch jedenfalls vor Beginn der ersten Serienziehung erlegt sein mußte, sollte das Los überhaupt zum Zuge kommen. Um die Subskripti-
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Sieghart polemisiert heftig gegen die besonders ungerechte Bevorzugung einzelner Adliger durch die Erlaubnis zu Aufnahme von Lotterieanlehen, sogenannter „Cavaliers-Anlehen", als Relikt des Absolutismus. Rudolf Sieghart (wie Anm. 30), S. 247.
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onsraten fristgerecht einzahlen zu können, mußte er immer wieder Heckenast um Hilfe bitten. Seine permanenten Zahlungschwierigkeiten werden besonders nachdrücklich demonstriert in den Briefen vom Frühjahr 1860 anläßlich der Subskription auf ein Los der 1860er staatlichen Anleihe. Auf den ersten Bittbrief vom 10. April41 folgt ein neuerlicher dringender Appell am 31. Mai: „Bezüglich der Geldsendung für Mai muß ein Irrthum eingetreten sein. Ich habe nichts bekommen. Wir haben in Wien festgestellt, daß ich Anfangs Mai noch die gebräuchlichen hundert Gulden Ö. W. bekommen soll, dann von Juni bis Jänner (inclus.) statt hundert nur 50, dafür die dadurch herausfallenden 400 fl auf einmal im Juli, damit ich mein 1860iger Loos vor dem lte° August, an welchem Tage die erste Ziehung ist, einlösen kann. [...] Da ich Anfangs Mai die Wohnungsmiete zahlen und am 15teD 50 fl für das Anlehen erlegen mußte, so kam ich ins Gedränge, mußte 100 fl. ausborgen, welche ich am lteD Juni zurük zahlen muß. Am 30ten Juni sind wieder 50 fl für die Anleihe zu erlegen. Es ist nicht nöthig, daß die besagten 400 fl zusammen gesendet werden, ich kann die Einzahlung auch in einzelnen Theilen machen, nur muß sie vor dem lten August geschehen, damit ich [...] schon bei der lteD Ziehung den großen Treffer mache, da ich meiner vorgerükten Jahre wegen nicht länger warten kann. Ich bitte dies anordnen zu wollen."42 Von Gewinnen, geschweige denn größeren, ist in Stifters Korrespondenz nirgend die Rede. Im „Ziehungsverzeichniß" findet sich von der Hand Amalie Stifters - wiederholt der Bleistiftzusatz „nichts". Lediglich einmal, am 1. September 1865, wurde eines der Lose (das zuletzt erworbene der 1864er Anleihe) „mit einem kleinen Treffer gezogen",43 der kleinste Gewinn brachte bei diesem Los 140 Gulden, bei 100 Gulden Einsatz! Stifters Verhalten ist bezeichnend für die Mentalität des Spielers, der auf jede enttäuschte Gewinnhoffnng mit einem neuerlichen, möglichst höheren Einsatz reagiert. Schon als Sechsundzwanzigjähriger hatte er einem Freund gestanden: „Daß Leute Spieler werden und ohnmächtig sind, sich den Banden dieser Leidenschaft zu entreißen, begreife ich f...]."44 Neben der Zeichnung von Anlehenslosen spielte Stifter offensichtlich auch im reinen Glücksspiel, das belegt das Eingangszitat „Seze den 20iger in die Lotterie" als Hinweis auf Einsätze im Zahlenlotto ebenso wie die Information in einem Brief an seine Frau „Die Loose zum Volksfeste liegen im Aufsatzkasten beim Ofen meines Zimmers im mittleren Fache."45 Alle Versuche, sich durch Spekulationen und Glücksspiel den vorzeitigen Rückzug aus dem Amt zu ermöglichen, waren schließlich fehlgeschlagen. Die
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PRÄ 19, S. 228-231. PRÄ 19, S. 240. «3 PRÄ 24, S. 306. 42
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Brief an Adolf Freiherrn Brenner von Felsach vom 10. September 1832. Adalbert Stifters Jugendbriefe. Ausgewählt von Gustav Wilhelm. In ursprünglicher Fassung aus dem Nachlaß herausgegeben, ergänzt und mit einer Einleitung versehen von Moriz Enzinger. Graz 1954, S. 55f. Brief vom 19. September 1867. PRÄ 22, S.156.
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zum 1. Dezember 1865 erfolgte ehrenvolle „Versetzung in den bleibenden Ruhestand mit Belassung des vollen Aktivitätsgehalts" von 1890 Gulden als Pension und „taxfreier Verleihung des Titels eines Hofrates"46 kam - nach bereits zweijährigem Krankheitsurlaub - für den Dichter zu spät. Louise von Eichendorffs Gratulation: „So ist sie endlich gekommen die Zeit Deiner Freyheit, nebst Titteln, Mitteln und Ehren",47 ist an einen Todkranken gerichtet; für die Symptome seiner fortgeschrittenen Leberzirrhose bringen Kuren nur noch höchstens kurzfristige Erleichterung. Bei Stifters Tod am 28. Januar 1868 stellte sich heraus, daß sein Schuldenkonto bei Heckenast - einschließlich der verlustreichen Aktienspekulation - auf rund 19000 Gulden angewachsen war. Der Verleger verzichtete darauf, seine Ansprüche publik zu machen, weil „die Summe von 19000 fl. alle bösen Mauler" in Linz „in Bewegung gesetzt" hätte;48 auch war durch Manuskripte im Nachlaß und die in den folgenden Jahren von ihm herausgegebenen Vermischten Schriften und die Briefe Stifters das Konto weitgehend ausgeglichen. So kam Heckenast schließlich doch bald auf seine Kosten, wie es ihm Stifter schon 1865 vorausgesagt hatte. „Für den Fall eines unvorhergesehenen Todes hättest du Dekung genug; denn es ist noch an Handschriften (wenn auch nicht ausgefeilt) in meiner Lade, daß es eine erklekliche Summe machen würde. Und der Zauber des Todes, der für jeden Mann öffentlichen Wirkens eintrit, würde rascher Nuzen bringen, als es das Leben kann".4»
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PRÄ 24, S. 163. Brief vom 24. Dezember 1865. PRÄ 24, S. 88ff. PRÄ 24, S. XK. Brief an Gustav Heckenast, 1. Juni 1865. PRÄ 20, S. 306. Heckenast verpflichtete sich zudem, der Witwe Stifters lebenslang jährlich 400 Gulden zu zahlen.
Ulrich Dittmann Fürsorgliche Zensur Bibliographische Ergänzungen und rezeptionsgeschichtliche Anmerkungen zu Stifter-Texten
Die Paradoxie des Titels - eine literaturfeindliche Aktion wird positiv bewertet - ergibt weder einen nur kokett-postmodernen Sinn noch folgt sie als Stilfigur Thomas Mann, der das schwer faßbare Erzählen Stifters lesefördemd-paradox als .Sensationellwerden der Langeweile' charakterisierte. Anstoß für den Titel war eine irritierende Beobachtung zur Rezeption einzelner Stifter-Texte: Ein Werk, das während seiner Entstehung kaum je von der vielbeachteten und -gefürchteten Metternich-Zensur bedroht war, erfuhr durch seine Herausgeber - eigentlich Anwälte des Autors - erheblich kürzende Eingriffe, deren Betrachtung und Reflexion in der Stifter-Forschung noch aussteht. Verfolgt man sie, so ergeben sich überraschende Einsichten in Stifters Stil, die vielleicht auch einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Verschonung durch zeitgenössische Zensoren und einem editorischen Umgang nahelegen, der für heutiges Verständnis an Unverfrorenheit grenzt. Dafür ist ein literaturwissenschaftlicher Ansatz zu reaktivieren, der der Beschleunigung des Methodenkarussells in unserem Fach allzuschnell zum Opfer fiel: Textnahe Synopse der Stifter-Ausgaben kann den Befund für eine Rezeptionsgeschichte bereitstellen. Zusätzlich zu den realgeschichtlichen Hintergründen kann diese nur scheinbar positivistische Sichtung der StifterRezeption die so irritierend divergierende und diskontinuierliche Beschäftigung mit seinem Werk aufhellen. Ich denke, daß die Betrachtung der Texteingriffe wohlmeinender -»fürsorglich zensierender' - Herausgeber die Forschung zu einer Selbstreflexion über die weiten Pendelausschläge der StifterRezeption anregen kann: Die Ausbeutung der Texte für weltanschauliche Lektüre verstärkte seine literarische Abwertung in der Zeit der Stifter-Feme, und diese gab dann den Hintergrund ab für die volltönenden .Erwecker' Hermann Bahr, Ernst Bertram und andere. An zwei unterschiedlichen Werkkomplexen - an den Studien und am Nachsommer, aus seiner Lebenszeit und den ersten postumen Jahrzehnten - können bisher übersehene, aber ebenso aufschlußreich-exemplarische wie fragwürdige Vorgehensweisen und ihre Konsequenzen aufgezeigt werden.
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Zu den an der Bibliographie ablesbaren Defiziten der Stifter-Forschung gehört, daß man aufgrund der ästhetisch argumentierenden Abwehr der Hebbel-Kritik sich nicht mit den .Niederungen' der popularisierend-didaktischen Verbreitung seiner Texte beschäftigte. Eduard Eisenmeiers Bibliographie erfaßt wichtige Beispiele erst in den Fortsetzungen1 beziehungsweise verzeichnet sie noch nicht einmal wie das im Folgenden zu besprechende Rezeptionsbeispiel, das für eine bahnbrechende Umsetzung der Stifter-Texte in Gebrauchszusammenhänge steht. Bereits zwei Jahre nach Erscheinen der letzten Studien-Rande erschien 1852 in Sulzbach eine Sammlung Katholische Parabeln und Erzählungen als „zweite Lieferung" in einer Reihe „Lehrreiche Unterhaltungsschriften von katholischen Verfassern mit Rücksicht auf Sittenreinheit und gute Gesinnung ausgewählt", herausgegeben von Magnus Jocham, der in der Vorrede schreibt: „Die ersten siebzehn Numern [sie; insgesamt enthält der Band 41] sind Fragmente aus den ausgezeichneten .Studien des Adalbert Stifter'", der zu den Autoren zählt, die als „durchweg ehrliche Katholiken"2 empfohlen werden. Nachdem im Studien-Kommentar der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe nur knapp auf dieses Rezeptionsbeispiel verwiesen werden konnte,3 sollen hier exemplarisch die Beispiele mit signifikanten Deutungen beziehungsweise Texteingriffen aufgeführt werden, um einen Eindruck von dem Autorbild und der Diskursform zu geben, denen zeitgenössische Jocham-Leser das Werk Stifters zuordneten.4 Es folgen geeignete Beispiele aus den 17 Nummern, wo-
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Vgl. in Eduard Eisenmeiers Adalbert-Stifter-Bibliographie. Linz 1964, 1. Forts. Linz 1971, Z.Forts. Linz 1978, die Nummern 6261, 7234, 7236, 7237; auch die Nummern 10441047, 1051 mit merkwürdig unterschiedlichen und unbestimmten Angaben zur Kürzung. Es fehlen Hinweise auf die 7.-9. Auflage. Magnus Jocham (Hrsg.): Katholische Parabeln und Erzählungen. Sulzbach 1852 (Lehrreiche Unterhaltungsschriften von katholischen Verfassern mit Rücksicht auf Sittenreinheit und gute Gesinnung ausgewählt. 2. Lieferung. Mit Genehmigung des hochwürdigsten Ordinariates Regensburg). S. VI. Vgl. HKG 1,9, S. 86f. Die Stifter-„Fragmente" umfassen die Seiten 1-97; außer den zitierten folgen noch vier weitere aus der Mappe: Nr. 5 „Wie eine Waldgegend und wie das Menschenherz kultiviert wird." Nr. 6 .Auch ein Mittel, sich selbst zu erkennen und beherrschen zu lernen." Nr. 7 „Feier der Aufrichtung des Dachstuhles auf dem neuen Hause." Nr. 9 „Eine gefährliche, aber glückliche Operation." Aus Abdias: Nr. 10 „Des jungen Juden Abschied aus der Heimath, seine Wanderung und Rückkehr." Nr. 11 „Die alte Geschichte vom treuen Hunde neu erzählt" Aus Das alte Siegel: Nr. 12 „Ein Abschied vom Hause aus der letzten Zeit des vorigen Jahrhunderts." Aus Brigitte: Nr. 14 „Das Geheimnisvolle in der Tiefe der menschlichen Seele." (Dem Einleitungsabschnitt folgt eine fast ängstliche Warnung vor der „Geschichte dieses so verschieden beurtheiken Mannes" - als könnte die Leserschaft durch Lektüre einer Scheidungsgeschichte verdorben werden). Aus Der Hagestolz: Nr. 15 „Der Abschied von der Pflegemutter." Nr. 16 „Anhänglichkeit des Thieres an den Menschen." Aus Waldsteig: Nr. 17 „Auf welche Weise ein Kind gar leicht zu einem Narren erzogen werden kann." Auf den Seiten 97 bis 360 folgen unter den Nummern 18-41 laut
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bei in den Fußnoten jeweils auf die Korrespondenzpassagen in der HistorischKritischen Stifter-Ausgabe hingewiesen wird: Nr. 1. bei Jocham „Warum das Espenlaub sich immer bewege" aus Hochwald5 wird seitenlang gedeutet als „tiefe Wahrheit" der Großmutter und sittiich durch das Sprichwort bestätigt: „,Der ein böses Gewissen hat, zittert wie Espenlaub.'" - Nr. 2. „Gut gemeint, schlecht getroffen" ist der NarrenburgBeginn6 überschrieben, aus dem Jocham optimistisch die Lehre ableitet, daß die .Aufzeichnung der Lebensgeschichte" gegen Schlechtigkeit schützt, denn auch von den Herren von Schamast wußte man „nicht viel Böses zu sagen [...], wenn man auch nicht viel Gutes sagte." - Nr. 3. „Der Samstag-Abend im Gebirge" verkürzt die Schilderung des Feierabends aus Die Narrenburg,7 der Jocham einen eigenen Abschnitt einfügt: „Auf einmal ertönte die Betglocke des Ortes. Alle Söhne des Gebirgs und auch der Wanderer erhoben sich von ihren Sitzen, entblößten ihr Haupt, bekreuzten sich und beteten das Ave zum Andenken an die Menschwerdung des Eingeborenen vom Vater und zum Preise der Mutter des Heilands."8 - Der Hauptfigur wird hoch angerechnet, daß sie trotz Erziehung in der Stadt frei ist von „verderblicher Verbildung". - Nr. 4. „Gott braucht einen Engel im Himmel und einen guten Menschen auf Erden" steht über der gekürzten Passage der Mappe meines Urgroßvaters9 zum Tode der Gattin des Obristen, der als „Verlust des Kostbarsten" umschrieben und der .Absicht des unendlich weisen und barmherzigen Gottes" zugeschrieben wird. Durch Eingriffe in den Wortlaut ändert Jocham die Begründung für das Beten im Nebenzimmer: „weil sie die Leiche fürchteten"10 wird zu „wie es christliche Sitte ist"; aus dem Verlust der „goldenen Mücke"11 wird der eines „goldenen Kleinodes"; den Satz „wie ich in jener Zeit mit Gott haderte"12 ändert er in: „Nachdem der erste Schmerz überwunden"; im weiteren Kommentar schreibt Jocham ausdrücklich das .Hadern mit Gott' den Ungläubigen zu; am Marmorstein auf dem Grab13 fehlte ihm ein „Bild des Gekreuzigten", das er dem Stifter-Text hinzufügt. - Nach drei weiteren Passagen aus der Mappe folgen in Nr. 8. „Vorsätze eines Arztes" aus der Mappe,14 in der Jocham „Gottheit" zu „Gott" korrigiert und den Satz „Ich dachte über mein Amt, das mir die Gottheit gegeben hatte, nach" erweitert: „das mir Gott übertragen, über den Beruf, in den er mich eingesetzt hat." Zwei Seiten lang spricht er sich gegen die Buch-
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Vorwort „lauter Original-Erzählungen, die noch nie gedruckt, aber öfters schon erzählt wurden." HKG l ,4, S. 245,26-247,10. Ebd., S. 321,3-323,21. Ebd., S. 334,3-340,5. Vor S. 339,7. HKG 1,5, S. 55,1-63,2. Ebd., S. 61,21. Ebd., S. 62,22. Ebd., S. 62,22f. Ebd., S. 62,28. Ebd., S. 192,8-193,8.
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theologie aus, plädiert allgemein für das „Leben des Gedankens, des Selbstdenkens" und danach für erlebte Glaubenswahrheiten, für „das große Buch der Natur" und das „Buch deines Herzens." Stifter gilt ihm also trotz für notwendig erachteter Ergänzungen in manchen Fällen als Autorität gegen die Orthodoxie, er deutet die Passagen fast als wären es Episteln. Dem nächsten Beispiel Nr. 13 „Der Schneesturz", der das Lawinenbild aus Das alle Siegel zitiert,15 fügt Jocham unmittelbar ohne den bei seinen Deutungen üblichen Absatz mit drei Sternchen einen einschränkenden, ja widersprechenden Vergleich mit dem „Geschick des Menschen" an, der wie ein Text Stifters wirkt: Nur bleibt hier immer der wesentliche Unterschied, daß der Mensch in jedem Augenblicke dem stürmenden Laufe seines Lebens Stillstand gebieten und dem Ganzen eine andere, selbst eine entgegengesetzte Richtung geben kann. Und es bleibt einer der wesentlichen Unterschiede, daß selbst da, wo es den Anschein hat, der im Lauf oder Sturz Begriffene sey seiner durch aus nicht mehr mächtig, der an eigener Kraft Verzweifelnde eine Hülfe weiß, die ihm nie gebricht, und diese Hülfe erfährt, wo er in Demuth des Herzens um dieselbe flehentlich bittet.
Neben den moralischen eindeutig festlegenden und verfälschenden Deutungen widerspricht der Herausgeber der im letzten Beispiel Stifters an der Physik statt Metaphysik orientierten Gesetzmäßigkeit beziehungsweise seinem .Fatalismus'. Aus dem Zusammenhang gerissen und verflacht zum handlungsorientierenden Exempel liefern die veränderten Stifter-Texte Erbauungsliteratur, durch die jeder literarisch anspruchsvolle Leser gegen den Autor eingenommen werden mußte. Den vom Regensburger bischöflichen Ordinariat aufgestellten Maßstäben entsprach der Studien-Autor, und Jocham konnte damit werben, daß nicht „gegen Religion, Kirche und Moralität" verstoßen werde. Die Approbation des bischöflichen Zensors vom 27. November 1851 lobte die Erzählungen und die davon gezogenen Lehren, weil auf „Bedürfnisse, Schwächen und Gebrechen unserer Zeit auf vorzügliche Weise Rücksicht genommen" werde und dazu „durch inzwischen vorkommende humoristische, unschuldigst herzhafte Darstellung auch mit Nützlichem das Angenehme verbunden ist", dank welchem „dieselben gerne gelesen werden, und dadurch auch hinsichtlich der vielen bösen Bücher einen vorteilhaften Einfluß haben."16 Die „den vielen bösen Büchern" entgegengestellte Serie der Erbauungsschriften gab ab 1830 Christian Brentano in dem von Johann Esaias von Seidel (1758-1827) gegründeten und von dessen Sohn bis 1854 weitergeführten Sulzbacher Verlag heraus, der über besonders gute Beziehungen zum bayerischen Königshof beziehungsweise der Münchner Regierung17 verfügte. Ihr erster
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Ebd., S. 372,25-373,25. Vgl. Bischof!. Zentralarchiv Regensburg. Mappe Approbationen 1851 Gen. 108b. - Den dortigen Archivaren und noch mehr Herrn Wotschak, Inhaber der J.E.V. Seidel'schen Buchhandlung, danke ich für die Bereitstellung der eingesehenen Archivalien. Wilhelm Wühr: Aufklärung und Romantik im Spiegel eines bayrischen Verlags. Zum 100. Todestag von Johann Esaias von Seidel. Sulzbach 1927. S. 11.
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Band erschien 1851 in dritter Auflage mit ausdrücklicher Berufung Jochams auf „den seligen Clemens Brentano [...] dessen Geist und Gemüth jeder kundige Leser in der Einleitung zu diesen Parabeln und Erzählungen sich abspiegeln sieht." Der Verlag war in den politisch unruhigen Zeiten mit der „wichtigeren offiziösen Publizistik der bayrischen Regierung"18 beauftragt. Zu seinen theologischen Autoren zählten der Regensburger Bischof Johann Michael Sailer und Bernard Bolzano, zwei Vertreter einer aufgeklärten katholischen Theologie, wie sie sich auch in Jochams Distanzierung von der Buchtheologie niederschlägt. Für die weiteren fünf „Lieferungen" übersetzte Jocham selbst Erbauungsliteratur aus dem Englischen und Französischen, er nahm jedoch keine literarischen Texte mehr auf. Magnus Jocham brachte es zu Ehren eines Artikels im 50. Band der Allgemeinen Deutschen Biographie, der seine Verbindung zu Sailer betont; die „Parabeln" werden von seinen theologischen Werken als „Unterhaltungsschriften" abgesetzt. Sonst finden sich in den Nachschlagewerken nur spärliche Hinweise über seine literarischen Verdienste beziehungsweise seine Übersetzertätigkeit, vor allem fehlt jeglicher Hinweis auf eine Verbindung zu Stifter oder zum Verleger Heckenast: Seine Autobiographie mit dem wohl ironisch zu verstehenden Titel Memoiren eines Obskuranten. Eine Selbstbiographie, nach dem Tode des Verfassers herausgegeben von Magnus Sattler. (Kempten 1896) beschreibt mit großer Begeisterung den Besuch bei der „großen Katholikenversammlung" in Linz 1850, zu der auch Kaiser Franz Josef erschienen war, erwähnt aber trotz der Interessen für das österreichische Schulsystem keinen Kontakt zu Stifter, der 1850 sein Linzer Amt angetreten hatte. Adalbert Stifter selbst erwähnt nirgends in seiner Korrespondenz die Katholikenversammlung. Es fehlte eine ihn mit Jocham verbindende Interessenbasis. Auch in der Korrespondenz zwischen Stifter und Heckenast finden sich keine Andeutungen. Nachdem er gerade 1850 aufgrund vieler Anfeindungen in den Rezensionen der abgeschlossenen Studien jede positive Stimme dem Verleger mitteilte, darf man davon ausgehen, daß er Jochams Sammlung nicht kannte oder nicht wahrnehmen wollte, weil ihn die Reduktion auf konfessionell-gebundene Lehre und Erbauung ärgerte - wandte er sich doch noch 1857 im Brief an Louise Freifrau von Eichendorff gegen die Vereinnahmung der Studien für die katholische Literatur, wie sie Joseph von Eichendorff propagiert hatte. Die Verbindung zu Magnus Jocham ergab sich indirekt und rein geschäftlich: Nachdem Stifter die Studien-Rechte an Heckenast verkauft hatte, konnte dieser über die Texte verfügen. Eintragungen im „Handlungs-Copir-Buch" der Seideischen Buchhandlung von 1849 legen nahe, daß deren Leitung mit dem ungarischen Verleger schon vorher Geschäftsbeziehungen gepflegt hatte, da man mit einem Guthaben die am 23. Juni 1850 via Heckenasts Schwager Ge18
Ebd.
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org Wigand, Leipzig, getätigte Bestellung der sechs Sludien-Bänue, verrechnete. In der eingehenden Korrespondenz zwischen dem Verlag und Magnus Jocham wird Stifter nicht eigens genannt; der Verlagsinhaber hat wohl bei seinen Besuchen in München die Sft«/te«-Ausgabe überbracht, für die ein Buchbinderauftrag existiert. Belegt ist darüber hinaus die Anregung an den 1844 in Bonn gegründeten Borromäus-Verein, Abänderungen für die Parabeln gemäß den Zielen des Vereins vorzuschlagen, und am 18. Dezember 1851 die Bitte um Hilfe bei der Verbreitung des Buches. Dieser Verein, der damit als weitere Instanz nach dem Regensburger Ordinariat über die Stifter-Texte befand, förderte mit großem Einfluß die katholische Volksbildung. Durch das folgende Zitat aus einem Brief Heckenasts an Peter Rosegger meint man verstehen zu können, wie verbittert der Verleger über derartige textentstellenden Stifter-Nachdrucke und Stifter-Anleihen dachte; er schreibt von „schwersten Kränkungen", die der Autor „einst durch die Pfaffen und die Pfaffenparthei" erfuhr.19 Denn so gut auch Jocham seine „Fragmente" gemeint haben mag, für den Künstler Stifter haben sie nicht geworben - sie stehen am Anfang jener von Heckenast bis in unsere Zeit reichenden Kette der Sammlungen ,Auszüge schöner Stellen aus Stifter", der Stifter-Texte in Lesebüchern und der aus dem .katholischen Menschen geschöpften* .Breviere', der .Kostbarkeiten', ,Mahn- und Trostbüchlein', die den großen Erzähler auf .wertvolle Aphorismen' einschränken:,Wertvolle Stellen' bedeutete dabei stets auch Kürzung um die kirchlich oder weltanschaulich anstößigen Stellen, wie etwa den drittletzten Satz des //awfedorf-Einleitungskapitels: „Überlaß den kleinen Engel nur seinem eigenen inneren Gotte, und halte bloß die Dämonen ferne, und er wird sich wunderbar erziehen und vorbereiten."20 Der Satz fehlt im Buchfllr die deutsche Jugend [...] katholischen Bekenntnisses, das 1854 in München erschien, ebenso in Stifters mit Aprent im gleichen Jahr herausgegebenem Lesebuch und auch im katholischen Deutschen Lese- und Bildungsbuch für höhere Schulen des Herder-Verlages.21
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Vgl. Franz Haslinger: Peter Rosegger als Herold Adalbert Stifters. Erste vollst. Veröff. des Briefwechsels zwischen P. Rosegger und G. Heckenast soweit er sich auf Person und Werk A. Stifters bezieht. Graz und Wien 1955. S. 36. - Die umfassendste Argumentation gegen eine kirchliche Vereinnahmung des Autors findet sich mit ausführlicher Diskussion der Forschung bei Sepp Domandl: Wiederholte Spiegelungen. Von Kant und Goethe zu Stifter. Ein Beitrag zur österreichischen Geistesgeschichte. Linz 1982. S. 95-98. HKG 1,4, S. 181,13-16. Die vorliegende 11. Auflage 1889 erschien bei Herder in Freiburg, die erste Auflage ist nach Brand des Verlagsarchivs nicht eruierbar. - Die unheilvolle Serie eröffnete Hekkenasts nicht verwirklichter Plan zu „Auszügen", vgl. Haslinger (wie Anm. 8), S. 33. - Als Belege für diese Reihe kann eine zufällig zusammengetragene Sammlung dienen: Die Fruchtschale. 5. Band: Adalbert Stifter, Selbstcharakteristik des Menschen und Künstlers. Ausgew. u. eingel. v. P.J. Harmuth. Müchen/Leipzig o. J. [1905]. - Die unaufdringliche Majestät ist in der Tiefe, in der Ruhe, in dem Bleibenden. Kleines Stifter-Lesebuch. Hrsg. Heinrich Zeller. Hameln 1940. - Weisheit des Herzens. Gedanken und Betrachtungen von A. Stifter. Ein Brevier. Berlin 1941 [Vorwort Max Mell]. - Mahn- und Trostbüchlein aus A. Stifter geschöpft von Moriz Enzinger. Innsbruck 1946.- Das sanfte Gesetz. Ein Adal-
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m Eine für Stifter-Leser noch entscheidendere Kürzung erfuhr der Text des Nachsommer. Nach der Erstausgabe 1857 in drei großzügig gedruckten OktavBänden erschien die zweite, eine Titelauflage des Romans, im Jahr 1865. Für die dritte Auflage 1877 kürzte der Verleger Heckenast die „Erzählung", so daß sie in einem aufwendig gebundenen Großoktavband Platz fand.22 Der Herausgeber fühlte sich zu diesem Eingriff berechtigt, nachdem ihm Stifter mündlich und im Brief vom 16. März 1865 seinen Eindruck als „Leser" des Nachsommer mitgeteilt hatte: „Es sind hie und da Längen, die geändert werden müssen";2? laut Vorbemerkung glaubte Heckenast das durch Stifters Tod vereitelte Vorhaben, „durch Beseitigung jener Längen, die der Dichter als solche betrachtet haben mochte [...] durch Hinweglassungen unwesentlicher Stellen"24 ausführen zu dürfen und - obwohl er doch mit Stifters nie schematisierbaren Textveränderungen in den Handschriften vertraut war - das auch zu können! Sollten Leser das Verfahren mißbilligen, so wies der Verleger auf die weiter im Handel erhältliche ungekürzte zweite Auflage hin. Die kurze Mitteilung gleich zu Anfang der Vorbemerkung läßt aufhorchen und nachfragen: Warum bedachte Heckenast nicht die wiederholten, zu früheren Werken, aber auch noch in den zitierten Briefen zum Nachsommer25 nahezu topisch gleichlautenden Äußerungen Stifters über Termindruck und sein unstillbares Ungenügen am Wortlaut seiner Werke? Die Antwort auf die Fragen scheint mit dem zentralen Gedanken jener fast fünf Seiten Briefzitate ge-
bert-Stifter-Brevier. Hrsg. von O. Schroder, eingel. v. Lily Hohenstein. Wiesbaden 1946. A. Stifter, Mass und Freiheit. Hrsg. Max Stefl. Augsburg 1947 (Stimmen der Menschlichkeit II). - Stifter-Brevier. Aus Briefen und Schriften von A. Stifter. Ausgew von Franz H. Barth. Reinbek 1947 (Predigt der Großen). - Adalbert Stifter, Ausgewählte Kostbarkeiten. Zus.gest. v. Gottfried Berron. Lahr 4. Aufl. 1983. 22 Karl Wagner: „In der Provinz angekommen? Roseggers und Heckenasts Bemühungen um Stifter." In: J. Lachinger (Hrsg.): Adalbert Stifter. Studien zu seiner Rezeption und Wirkung I: 1868-1930. Linz 1995. S. 21-38. - Wagners Verzicht auf einen durchgeführten Fassungsvergleich von zweiter und dritter Auflage erscheint mir voreilig: So langweilig ist es doch wohl nicht, die singuläre Zustutzung eines mittlerweile klassischen Werkes durch einen Autorfreund und Verleger auf ihre Kriterien zu untersuchen und daraus sehr handgreifliche Kriterien für einen Geschmackswandel zu gewinnen, zumal ja auch noch die vierte, von Wagner gar nicht erfaßte Auflage weitere Schlüsse erlaubt! - Daß Wagner immerhin die Idee zu einem .anregenden Vergleich' artikuliert und über die Verluste in der zum „kurzen Prozeß" neigenden Rezeptionslinie spekuliert (vgl. S. 33), sehe ich als eine Bestätigung für mein Unternehmen. 23 PRÄ 20, S. 273. 24 Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Dritte Auflage. Mit dem Bildniß des Verfassers und 3 Stahlstich-Vignetten. Preßburg und Leipzig. Verlag von Gustav Hekkenast. 1877. S. III. 25 Ebd., S. VIII.
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geben, die den größten Teil des Vorworts einnehmen und durch die Stifters Selbsteinschätzung ganz auf die Zeitfeme seines Buches gestimmt ist. Eigentlich hat er es nur um der Erhebung ,,Einige[r] großefr], tiefgehende [r] Gemüther"26 willen geschrieben und möchte es vor dem „Lob von niederen Menschen" geschützt sehen. Das Ziel der Briefzitat-Au s wähl wirkt wie ein Versprechen an künftige Nachsommer-Leser, auch bei zeitsparender Lektüre mit Elitebewußtsein und exklusiv in Stifters Spuren die „Vernunftwürde des Menschen"27 gegen die „oberflächliche Gegenwart"28 verteidigen zu können. In gewisser Weise antizipiert das Vorwort mit seiner Zitatenauswahl auch Nietzsche-Gedanken. Zur Verbreitung der Botschaft und natürlich auch zum Absatz des Buches nahm der Verleger eine euphemistisch als .Konzentration' zu bezeichnende Kürzung des selbst von Apologeten als partiell .langweilig' eingestuften Textes vor, für die er sich der Zustimmung des angeblich kongenialen Peter Rosegger versichert hatte: Etwa ein Sechstel des Textes geht bei dieser Aktion verloren; sprachliche Eigenheiten Stifters - das sind vor allem Vermeidung des „tz", seine Zeichensetzung und Regionalismen wie zum Beispiel den Plural „Wägen" - behält Heckenast bei, er gliedert gemäß der Bandaufteilung in drei „Theile" und zählt die Kapitel analog zur Erstausgabe. Auf den Titel setzt er die Natalie-Vignette des dritten Bandes, die Titelvignetten des ursprünglich ersten und zweiten Bandes sind als Dlustrationen dem Text beigegeben. Unsere auf den ersten Band beziehungsweise Teil beschränkte Synopse der ersten und dritten Auflage - Stichproben ergaben die Repräsentativität der Unterschiede - erbrachte folgenden Gesamteindruck: Heckenasts Kürzungen wirken vorsichtig und sehr differenziert, sie bestätigen seine Skrupel - empfand er doch nach „dreimaliger Durchlesung" und nach den Gesprächen mit Alois Raimund Hein und dem zunächst widerstrebenden Rosegger29 die Kürzungen immer noch als .Attentat."30 Heckenast streicht neben kürzeren Abschnitten vor allem ganze Sätze, aber auch immer wieder einzelne Nebensätze, Satzteile und auch Einzelwörter; wo nötig, werden Zusammenhänge durch minimale Eingriffe hergestellt. Die für .unwesentlich' gehaltenen Stellen lassen sich im wesentlichen folgenden Typen zuordnen: Am auffälligsten und häufigsten erscheint der Wegfall der Negationen (kursivierter Text gestrichen): „Es waren zudem fast alle Rosengattungen da [...] Die Farben gingen [...] in das bläuliche und schwärzliche Roth der roten Rosen über. Die Gestalten und der Bau wechselten in eben demselben Maße. Die Pflanzen waren nicht etwa nach Farben eingeteilt, sondern
26 2
Ebd., S. IV. ? Ebd., S. VII. 28 Ebd., S. V. 29 Vgl. Haslinger (wie Anm. 19), S. 34 und S. 41. 30 Vgl. Haslinger (wie Anm. 19), S. 34.
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die Rücksicht der Anpflanzung schien nur die zu sein, daß in der Rosenwand keine Unterbrechung stattfinden möge. Die Farben blühten daher in einem Gemische durch einander. Auch das Grün der Blätter fiel mir auf. Es war sehr rein gehalten, und kein bei Rosen öfters als bei ändern Pflanzen vorkommender Überstand [...] kam mir zu Gesichte. Kein verdorrtes [...] Blatt war zu erblicken. Selbst das bei Rosen so gerne sich einnistende Ungeziefer fehlte. Ganz entwikkelt und in ihren verschiedenen Abstufungen des Grüns prangend standen die Blätter hervor."3' „Einige dieser Aufschriften verstand ich, sie waren Namen von Sämereien oder Pflanzennamen. Die meisten aber verstand ich nicht. Sonst war weder Stuhl noch ein anderes Geräthe in dem Zimmer[...] Ich fragte meinen Begleiter nicht um den Zweck des Zimmers und er äußerte sich auch nicht darüber. Wir gelangten nun wieder in die Gemächer [...]"32 „Natalie - ich weiß nicht, war ihre Schönheit unendlich größer, oder war es ein anderes Wesen in ihr, welches wirkte - ich hatte aber dieses Wesen noch in einem geringen Maße zu ergründen vermocht, da sie sehr wenig zu mir gesprochen hatte, ich hatte ihren Gang und ihre Bewegungen nicht beurtheilen können, da ich mir nicht den Muth nahm, sie zu beobachten, wie man eine Zeichnung beobachtet - aber sie war neben diesen zwei Mädchen [...]"33 Neben den beiden einfachen mittleren Beispielen, in denen gestrichen wird, daß Stifter den Ich-Erzähler - wie oft genug - seine derzeitige Unkenntnis eingestehen beziehungsweise ex negativo die besondere Dezenz des Gastverhältnisses und ähnliches andeuten läßt, verkürzen Heckenasts Streichungen im ersten und letzten Zitat den Text um die Negationen wesentlicher Voraussetzungen: die Erwartungen einer systematischen Ordnung bei den Rosen seitens des Ichs, die nur scheinbar pleonastische, für den Verlauf der Wahrnehmung jedoch wichtige Begründung mit "daher"; die Ahnung eines "Wesens", die zu Wegen hin fortgeführt wird, auf denen es zu erkunden wäre. Damit stehen neben den gestrichenen Negationen - etwa jede zweite entfällt und öffnet aufgrund der statistischen Häufigkeit die Augen für ein .negatives Erzählen' bei Stifter - als weiterer Textbereich die Reflexionen des Ich auf seine Wahrnehmungen, seine ganz dinglich orientierte „Geistesthätigkeit".34 Die Bedeutung von Heinrich Drendorfs Wahrnehmungsschulung schätzte Heckenast sehr gering ein: Offensichtlich bereits an der Praxis realistischen
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33 34
HKG 4,1, S. 47,27^18,13. Ebd., S. 92, l-18. Ebd., S. 262,32-263,6. Vgl. HKA 4,1 S. 89,17; dieser Abschnitt ist in der 3. Auflage ausgerechnet von 16 bis 25 gestrichen.
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Erzählens orientiert,35 setzt er die Distanz zwischen erzählendem und erzähltem/erlebendem Ich voraus und streicht in einer Reihe signifikanter Einzelworttilgungen mehrfach „sogar", „nun" und „also", die als wiederholte Signale der im Schreiben vollzogenen Wahrnehmungsprozesse zu verstehen sind und von der Forschung als Belege für die Nähe des Schreibenden zum Erlebnis erkannt wurden. Relativ selten beugt sich Heckenast so den Rezensenten: Allenfalls beim Theaterbesuch erspart er den Lesern die in den Reaktionen der Zeitgenossen immer wieder monierte Ausführlichkeit. Obwohl diese dritte Nachsommer-Kürzungs-Auflage „in 30-40 Blättern besprochen worden u. zwar viel günstiger als bei seinem ersten Erscheinen", ging das Buch zu Heckenasts Kummer „gar nicht!"36 Diese dritte Auflage hat wohl dennoch Nietzsche gelesen. Seine Lektüre und die für die fernere Rezeption entscheidende Wertung geht auf eine SorrentReise in der Zeit nach 1877 zurück,37 bei der er kaum die dreibändige Ausgabe mit sich geführt haben dürfte. Die Wirkung seines 1880 veröffentlichten Lobs blieb „auf Nietzsches privaten Umkreis beschränkt"38 und kam damit eigentlich erst der 4. Auflage zugute, die - ein dezidiertes Zeichen der Stifter-Ferne mit noch entstellenderen Kürzungen erschien. Der Verlag C. F. Amelang in Leipzig übernahm noch vor dem Tode des Verlegers mit den Stifter-Rechten einen Teil der Bestände der zweiten und der dritten Auflage, die sich so zögernd absetzen ließen, daß die nächste, die 4. Auflage erst 1897 veranstaltet wurde.39 Deren nicht näher identifizierbarer
35
Vgl. die Rezension von Julian Schmidt in: Moriz Enzinger (Hrsg.): Adalbert Stifter im Urteil seiner Zeit. Wien 1968, S. 214. 36 Vgl. Haslinger (wie Anm. 19) S. 45. 37 Vgl. Helga Bleckwenn: „Nietzsches Nachsommer-Lob. Deutungsversuche und Wirkungsperspektive." In: J. Lachinger (Hrsg.): Adalbert Stifter. Studien zu seiner Rezepüon und Wirkung I (wie Anm. 10), S. 67-78. Hier S. 70f. - Symptomatisch für manche Bereiche der Stifter-Forschung erscheint, daß Verf. ganz selbstverständlich davon ausgeht, Nietzsche habe die dreibändige Auflage gelesen (vgl. hier Anm. 46), obwohl die dritte 1877 vorlag - die philologische Frage ist der Verf. gleichgültig; dafür werden aber die wolkigen Spekulationen zum Anti-Wagnerianer Stifter für gewichtig gehalten und diskutiert. 38 Ebd., S. 70. 39 Daß die gekürzte dritte „erst 1919 durch eine [sie!] vierte Auflage des vollständigen Werkes abgelöst" wurde, wie Cornelia Blasberg in ihrer Habilitationsschrift „Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten" (Freiburg/Br. 1998, S. 27, Anm. 3) behauptet, ist ebenso falsch, wie die Begründung, „Hekkenast, ein Mann von Welt, [konnte] Filzpantoffeln nicht leiden" und strich deswegen die entsprechende Episode im Nachsommer, abwegig ist (Cornelia Blasberg: „Adalbert Stifter und sein Verleger Gustav Heckenast. Eine andere Geschichte des Nachsommer." In: Monika Estermann und Michael Knoche (Hrsg.): Von Göschen bis Rowohlt. Festschrift für Heinz Sarkowski. Wiesbaden 1990, S. 103-121, hier S. 120). - Daß die an diesen Beispielen ablesbare Sorglosigkeit gegenüber nachvollziehbaren Begründungen aber noch übertroffen werden kann, beweisen die bodenlosen Spekulationen dieser Interpretin in den beiden genannten Stifter-Arbeiten!
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Herausgeber, Immanuel Weitbrecht, griff normalisierend in Stiftersche Sprachund Schreibeigenheiten ein und brachte auch das Buch ohne Abbildungen und ohne die Gliederung in Bände/Theile heraus; ungezählt folgen die Kapitel aufeinander. Der Eindruck der Erstausgabe ist vernichtet. Vor allem aber machte Weitbrecht den Rezensenten ganz andere Konzessionen als Heckenast, auf dessen unverändert übernommenen Kürzungen aufbauend er weiter radikal streicht. Fast mechanisch entfallen ganze Abschnitte, zum Beispiel die gesamte Rosenpassage40 oder die zur Vogelpflege,41 ferner wesentliche thematische Komplexe wie die Zimmerbeschreibungen, Stellen zum Begrüßungszeremoniell auch der Diener und die vergleichenden Abwertungen der Stadt. Der Text des Nachsommer wirkt gegenüber Heckenasts Kürzung erheblich beschädigt: War die Erzählung von etwa 1,6 Millionen Zeichen der ersten beiden Auflagen zunächst auf etwa 1,3 Millionen gekürzt worden, so blieben in der vierten Auflage weniger als 1,1 Millionen, das heißt ein Viertel von Stifters Text ging ab der 4. Auflage den Lesern verloren.42 Diese reduzierte Weitbrecht-Ausgabe wurde nachgedruckt, sie lag einer 1899 in Linz erschienenen Auswahl aus Adalbert Stifters Werken, der „Volksausgabe in einem Bande" zugrunde, deren fünfte Abteilung der „in der Composition zu breit geratenen Roman" füllt (so Rudolf Holzer, Bibliothekar des Handels-Ministeriums in seiner ganz patriotisch oberösterreichischen Einleitung). Sie erschien über die bei den Bibliographen Heck und Eisenmeier angegebenen Auflagen hinaus noch bis zur neunten (ohne Jahresangabe, dank eines Bahr-Zitats in den Verlagsanzeigen nach 1918) und in mindestens einer weiteren, von den Bibliographen etwa ins Jahr 1923 datierten. So war der Nachsommer nach 1877, vor allem aber zwischen 1898 und 1919, zur Zeit der Stifter-Renaissance und noch darüber hinaus, nur in „arg verstümmelter Form"43 zu erhalten und wurde so ohne Vorbehalte gelesen. Jedenfalls schreibt Wilhelm Kosch ohne den eigentlich zu erwartenden Einspruch in seiner 1905 August Sauer gewidmeten kleinen Stifter-Studie die „ersten gekürzten Neuauflagen des .Nachsommers"'44 pauschal Rosegger zu, 40
HKA 1,4, S. 143,20-146,25. 1 Ebd., S. 159,7-160,6 und 161,4-168,9. 42 Adalbert Stifter, Der Nachsommer. Eine Erzählung. Neunte Auflage. Leipzig. C.F. Amelangs Verlag o. J. - Das dem Text vorangestellte, auf „Pfingsten 1897" datierte Vorwort Weitbrechts zur vierten Auflage moniert, „daß auch in der dritten Auflage Weitläufigkeiten zurückgeblieben waren, die mit dem Gefüge des Werks nicht geradezu organisch zusammenhingen." - Cornelia Blasberg („Erschriebene Tradition", wie Anm. 39) unterstellt in der ihr eigenen Großzügigkeit schon Heckenasts Kürzung einen Textverlust um 25%. 43 Vgl. Adalbert Stifter: Erzählungen in der Urfassung. Condor u.a. Hrsg. von Max Stefl. Augsburg 1953. S. 361-364. 44 Wilhelm Kosch: Adalbert Stifter. Eine Studie. Leipzig 1905. S. 75. - In seiner Dissertation Adalbert Stifter und die Romantik, Prag 1905, zitiert Kosch laut Bibliographie die Prager Ausgabe, soweit erschienen, und die „Volksausgabe in vier Bänden", die Amelang ohne Nachsommer ab 1887 mehrfach auflegte. Für drei /VacAio/wn«r-Zitat-Belege greift Kosch dann aber auf die erste oder zweite Auflage zurück, er kennt auch einzelne Almanache! 4
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obwohl ja nur eine - die erste - Kürzung in der dritten Auflage mit dessen zögernder Zustimmung erschienen war. Die Bibliographie von Ernst Bertrams Dissertation führt 1907 als Basis seiner Mzc/wommer-Kenntnis die Weitbrecht-Ausgabe von 1902 auf;45 für sein weit wirkendes Nachsommer-Kapitel in der 1918 aufgelegten Nietzsche.Mythologie' wird er keine andere Ausgabe herangezogen haben, da er das .entlegene, nur apokryph fortwirkende4 Buch „bis heute nicht einmal in seiner unverstümmelten Originalgestalt, in der Nietzsche es las [dagegen s. o. S. 211, U. D.], überhaupt mehr zugänglich findet."46 Im gleichen Jahr endlich erhebt Hermann Bahr klagenden Protest dagegen, daß die große Erzählung nur in gekürzter Form erhältlich sei. Die Kenntnis des vollständigen Textes erscheint wie eine Art sektiererisches Geheimwissen. Denn Max Stefl zählte in seinem Vorwort zur 1919 einbändig bei Fehr in St. Gallen erschienenen Neuausgabe die Herausgeber (er hatte sie mit Max Scherrer veranstaltet) zu den „wenigen Auserlesenen", die von der „reinen, unverfälschten" und verschollen geglaubten Gestalt überhaupt wußten.47 Mit dieser und einer gleichzeitigen bibliophilen Ausgabe endete die über mehr als 40 Jahre währende Rezeptionsphase des verkürzten Textes. Wissenschaftlich bearbeitet lag der Text erst mit Band 6 bis 8 der PragReichenberger Ausgabe - verzögert durch den Ersten Weltkrieg - 1916, 1920 und 1923 vor. Der Teilband mit den Lesarten und Anmerkungen, der wohl auf die vorher eingeschränkte Rezeption hätte hinweisen können, ist nie erschienen. Die Wiederentdeckung war von zwei Faktoren geprägt: Sie fiel in die Zeit des entscheidenden historischen Einschnitts, der die Habsburger-Monarchie beendete und das 19. Jahrhundert endgültig beschloß. Damit prägte sie das nostalgische Pathos von Hermann Bahrs österreichischem Anspruch auf die gefeierte .Entdeckung'. Daß die bisher anspruchsvollste bibliophile Nachsommer-Ausgabe, dreibändig in goldgeprägtem Leinen auf Maschinenbütten mit Goldschnitt und illustriert durch F. Staegers historisierende Kupferstiche während der Notzeit bei Wiechmann in München erschien, verlieh dem Text zusätzlich eine ihm kaum gedeihliche Exklusivität. Ein sensationeller Anstrich ergab sich durch die deutsch-österreichisch geprägte Konkurrenz-Situation zwischen Stefl und Bahr: Bahr bezeichnete die Insel-Ausgabe von 1920 als „eine [seine? U. D.] .Erweckung"', der ein .Aufleben' Stifters „im Volke" zu verdanken sei - Stefls frühere Ausgabe will er erst auf Hinweis ihres Herausgebers wahrgenommen haben, sie galt ihm nur als ein .Erscheinen', das übrigens auch der Österreicher Gustav Wilhelm über-
45
Ernst Bertram: Studien zu Adalbert Stifters Novellentechnik. Dortmund 21966, S. 7.
46
Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin M919, S. 238.
47
Vgl. Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Eine Erzählung. St. Gallen 1919. [Eine Notiz unter dem Inhaltsverzeichnis lautet: "Die Ausgabe besorgten Max Stefl und Max Scherrer". Das Nachwort ist gezeichnet: „München, im September 1919. Max Stefl."]
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sah. Stefl, als Herausgeber der „Urfassungen" und Propagator eines ,„UrStifter'", galt den Österreichern als der typische Deutsche, dessen „Lust an Unform [...] die Denkmäler deutscher Form zerstört", eben den Nachsommer,49 nach dessen .Erweckung' zwei national geprägte Stifter-Bilder konkurrierten. Symptomatisch für die Phase, die dieser pathetisch gefeierten „Entdeckung" vorausging, sind neben den verkürzten Einzelausgaben die StifterWerkausgaben in den damals beliebten, mit aller Hochachtung für die Qualität der Texte: bildungsbürgerlichen Klassiker-Reihen. Stifter fehlt in der umfänglichen Serie von Meyers Klassikern; Rudolf Fürst, Herausgeber seiner „ausgewählten Werke" in Max Hesses Verlag, bespricht den Nachsommer im Einleitungsaufsatz unter der Kapitelüberschrift .Alternde Kunst" und glaubt nicht, daß der Roman, „den man neuestens auf einen Band zusammengestrichen hat [...], das Interesse des modernen Lesers zu erregen geneigt wäre"; Hempels Klassiker-Ausgaben bringen erst in ihrer Fortsetzung, der Goldenen KlassikerBibliothek des Deutschen Verlagshauses Bong & Co., eine Auswahl der Werke Stifters 1912 in einer sechsteiligen und 1925 in einer siebenteiligen Ausgabe heraus. Weil erstere „mehr als eine Probe aus dem Romane [...] leider [...] nicht bieten" konnte, wählte der Herausgeber Gustav Wilhelm, um „den Gesamtcharakter des Werkes erkennen zu lassen" und gestützt auf die Korrespondenz zwischen Autor und Verleger die Kapitel vom Ende des 2. und Anfang des 3. Nachsommer-Bandes aus: „Der Bund" und „Die Entfaltung"; den Verzicht auf „Der Rückblick" begründete er mit einer auch für Bertrams Lesart typischen Vereinseitigung: Dieser Abschnitt trage „die einzige leidenschaftliche Wallung in die Ruhe des .Nachsommer' hinein." 1925 freute Wilhelm sich dann, daß „der Verlag [...] einen wiederholt geäußerten Wunsch des Herausgebers [erfüllt], indem er dieses Werk als Teil VE der Ausgabe anfügt." Wilhelm beruft sich in diesem Zusammenhang allein auf Hermann Bahr und vergleicht ihn mit Nietzsche, weil er „mit der frischen, frohen Freude des Eroberers" das „unrechte Stifterbild"49 korrigiert habe. Damit erhält Der Nachsommer für das bücherkaufende und -lesende Publikum nicht nur in klassikergemäßer Aufmachung seine Stelle im Bildungsbürgerbücherschrank, sondern wird auch noch in Distanz zum unpathetisch-zeitkritischen Stefl gerückt, dessen Nachwort auf die verklärende Aura einer national geprägten Wiedergutmachung verzichtet. Merkwürdig viele außerliterarische Faktoren - die Korrektur der zunächst keineswegs nur merkantil orientierten Textkürzungen, Nostalgie nach dem k.k. Jahrhundert und der k.u.k. Vergangenheit, Geltungssucht eines sich prophetisch gelierenden Literaten u. a. - bildeten nach der durch August Sauers Aus-
48
49
Vgl. Anm. 24. - Zur „Erweckung" durch Hermann Bahr vgl. Donald G. Daviau: „Hermann Bahr und Adalbert Stifter: Eine Dokumentation." In: J. Lachinger (Hrsg.): Adalbert Stifter. Studien zu seiner Rezeption und Wirkung I (wie Anm. 10), S. 145-158. Stifters Werke. Auswahl in sieben Teilen. Hrsg. von G. Wilhelm. Siebenter Teil. Der Nachsommer. Berlin und Leipzig o. J. [1925], S. 44.
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gäbe zunächst deutsch-böhmisch orientierten Stifter-Renaissance Voraussetzungen für den weiten Horizont, den der Autor verdient. IV
Unserer kritischen Sicht auf die zensierenden Eingriffe kann man das Verständnis des Autors entgegenhalten, daß sich große Kunst auch in reduzierter Gestalt mitteile: Der Umgang mit den Plastiken im Nachsommer und vor allem die Wirkung des verstümmelten Lear-Texts - aus Zensurrücksichten durfte ein König nicht so enden wie bei Shakespeare, er triumphierte in der 1822er Neubearbeitung mit Cordelia über die entarteten Kinder - scheinen gegen das Insistieren auf unversehrten Texten zu sprechen. Obwohl er sich des veränderten Textes bewußt ist, bewegt die Lear-Aufführung Heinrich Drendorf tief! Dennoch gibt es im Nachsommer auch Hinweise, die eine kritische Sicht der gekürzten Fassung rechtfertigen. Ich denke an die schon früh geäußerte Zeitkritik Risachs, der sich gegen „die Sünde der Erfolggenügsamkeit oder der Fahrlässigkeit, die stets sagt: ,es ist auch so recht'"50 ausspricht und damit die drei hier exemplarisch vorgestellten Herausgeber trifft. Nach Risach schließt diese „Sünde der Erfolggenügsamkeit [...] die Kunst und was mit derselben zusammenhängt"51 aus - im gegebenen Falle die sorgsam aufgebaute Struktur von Heinrich Drendorfs schrittweisem Wahrnehmungsprozeß. Jocham, Heckenast und Weitbrecht unterziehen die .Fragmente der Studien' beziehungsweise den Text des Nachsommer einer nicht nur auf materiellen Erfolg beim Leser zielenden Bearbeitung. Im Falle des Nachsommer belohnte das nicht den Verleger, dafür aber den späteren Bearbeiter mit den vielen Neuauflagen. Wie ein zeitgenössisches Votum der Forschung zeigt, findet das Verfahren auch heute noch Zustimmung. Karl Wagners Einverständnis, die 1877 beginnende „Rezeptionslinie" billigend dem „eher für den kurzen Prozeß" plädierenden Geschmack zuzuschreiben, verfehlt jedoch grundlegend die Präzision der Stifterschen Prosa.52 Wagners rhetorische Frage, „warum der Satz, Allgemein wurde von allgemeinen und gewöhnlichen Dingen geredet, und das Gespräch ging bald zwischen einzelnen bald zwischen mehreren Personen hin und wider' zu Unrecht gestrichen wurde", erledigt sich, wenn man sich in Heinrichs vereinsamte Situation versetzt - verständnislos den austauschbaren Themen eines konventionellen small talk ausgesetzt zu sein und nur mit dem ebenso vereinsamten Roland reden zu können. Isoliert mag der Satz Verwunderung auslösen, im Kontext von Heinrichs unvorbereiteter Wahrnehmung richtet sich die Tautologie deutlich gegen Heinrichs Umgebung, er selbst ist nur der Spiegel für die austauschbar-allgemeinen Themen beliebiger Gesprächspartner.
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HKG4,1,S.100. 1 Ebd. 52 Vgl.Wagner(wieAnm.22),S.32f. 5
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Der heutige Leser kann also - entgegen Karl Wagner - begründen, er wird sich aufgrund der Gattungsdifferenz (zwischen dem von der Schauspielkunst interpretierten Drama und der auf den Leser angewiesenen Prosa) weigern, die Wirkung des verhunzten Lear-Dramas als Rezeptionsanweisung für gekürzte Stifter-Texte zu lesen, und Kürzungen wird er als unbekömmliche Eingriffe in den Text ablehnen. Diese bleiben ein Skandalon, denn sie führten zunächst zu einer konfessionell-vereinseitigenden Fassung und verliehen später der StifterRenaissance einen fragwürdigen, national-ästhetisierenden Anfang: Bedrohlich vorausdeutend stilisierte man Stifter mit Erwecker-Pathos zum „Blutzeuge[n] einer neuen, unserer neuen Kunst[...] [als] ein[en] Führer zu seelischer Hochkultur, de[m] reinste[n] und geklärteste[n] Ausdruck der österreichischen Seele."53 Den Nachsommer erhob man zur „Bibel für ein erntereiches Alter" zukünftig zu erwartender „Stiftermenschen."54
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Vgl. Josef Bindtner: „A. Stifter im Wandel der Zeiten." In: Adalbert Stifter. Ein Gedenkbuch. Hrsg. A. Stifter-Gesellschaft mit Geleitwort von Hugo von Hofmannsthal. Wien 1928, S. 2-5. Hier S. 5. Franz Hüller: Einführung. In. PRÄ 6, S. VII-XCVIII. Hier S. VII u. XCVII.
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Adalbert Stifter in Erzählungen von Johannes Urzidil
Alles Schmerzliche im Abschied geht nicht von dem aus, was einer verliert, sondern von dem, was er mitnimmt und für immer behält. (Johannes Urzidil, Der Trauermantel)
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Nein, zu den von der Literaturwissenschaft vernachlässigten oder gar vergessenen Autoren des 19. Jahrhunderts ist Adalbert Stifter wahrlich nicht zu rechnen. Und daß die Stifter-Forschung „zur Zeit keine günstige Position" habe, wie dies Kurt Vancsa noch 1962 beklagte,1 läßt sich fast vier Jahrzehnte später mit Blick auf die seither erschienene ebenso umfangreiche wie vielfältige Sekundärliteratur nicht mehr behaupten. Im Gegenteil: Eine kontinuierliche Reihe von Monographien, Habilitationen und Dissertationen - von unselbständigen Veröffentlichungen ganz abgesehen - zeugen ebenso von einem fortdauernden Interesse an Leben und Werk Adalbert Stifters wie die allein in den beiden letzten Jahrzehnten erschienenen mehr oder weniger umfangreichen Biographien von Peter Schoenborn, Franz Baumer oder Wolfgang Matz.2 Und womöglich finden sich nur wenige Autorinnen und Autoren des 19. Jahrhunderts, denen im gleichen Zeitraum eine solche Fülle von Symposien und Kolloquien zuteil wurden: in Sammelbänden dokumentiert lassen sich die frgebnisse dieser Kongresse nachlesen.3 Innerhalb der von Hermann Kunisch ange-
Kurt Vancsa: .Adalbert Stifter. Gelöstes und Ungelöstes." In: Der Deutschunterricht 1962, Beilage zu Heft 3 (Forschungsberichte Literaturwissenschaft), S. 9. Peter A. Schoenborn: Adalbert Stifter. Sein Leben und Werk. 2. aktualisierte Auflage Bern 1999 (1. Aufl. 1992). - Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. Biographie. München 1995. - Franz Baumer: Adalbert Stifter. München 1989. - Urban Roedl: Adalbert Stifter in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 16. Aufl. Reinbek 1999 (zuerst 1965). - Karl Pörnbacher: Adalbert Stifter. Stuttgart 1998. - Unter dem Titel .Adalbert Stifter. Erzählen als &kennen" wird in der Reihe „Literaturstudium" des Reclam-Verlags Stuttgart 2001 eine Studie von Mathias Mayer erscheinen, deren Manuskript der Verfasser dieses Beitrags dankenswerterweise vorab einsehen konnte. Vgl. demnächst hierzu ausführlich den im Kongreßbericht des Mailänder Symposions .Adalbert Stifter: tra fllologia e studi cultural!" (10.-12. November 1999) erscheinenden Beitrag des Verfassers.
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Johannes John
regten, von Alfred Doppier und Wolfgang Frühwald herausgegebenen Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe schließlich sind von 1979 bis zum Sommer 2000 bereits 21 Bände erschienen. Bemerkenswerter als diese bibliographischen Fakten sind dabei die unübersehbaren Akzentverschiebungen, die Schwerpunkte und Forschungsinteressen, die die jüngere Stifter-Forschung der letzten drei Jahrzehnte bestimmt haben. ,Adalbert Stifters schrecklich schöne Welt"4 - der Titel des internationalen Antwerpener Kolloquiums vom November 1993 kann in seiner bewußten Ambivalenz dabei geradezu programmatischen Charakter beanspruchen; und wenn Franz Baumer für den Umschlag seiner 1989 erschienenen StifterBiographie jene Photographie Stifters aus dem Jahre 1867 wählte, die den todkranken Autor mit nunmehr abgemagerten und verhärmten Gesichtszügen zeigt, so bildet gerade dieser ikonographische Wechsel das vielleicht signifikanteste, im wahrsten Sinne des Wortes .augenfällige' Zeugnis für ein gewandeltes Stifter-.Bild'. Nicht mehr Harmonisierungen und Glättungen stehen nunmehr im Mittelpunkt, vielmehr richtet sich der Blick bevorzugt auf das Abgründige und Untergründige, auf die latenten Spannungen und Bruchstellen, auf die oft nur mühsame gebändigten Bedrohungen unterhalb der Oberfläche des Textes: Nur schwer kann man sich bei näherem Studium der Stifterschen Dichtungen dem Gefühl entziehen, daß unter den so treuherzig und ideal geschilderten Verhältnissen der Abgrund offen ist, daß Stifter verzweifelt versucht, ihn zu Überbrücken oder, noch besser, überhaupt zu verbergen. Je perfekter ihm dieses Vorhaben gelingt, desto unabweisbarer wird die Ahnung von der Tiefe.5
Es war der österreichische Schriftsteller Peter Rosei, der dies zu Beginn der 80er Jahre schrieb, und es zählt zweifellos zu den ebenso bemerkenswerten wie spannenden Umständen der skizzierten Stifter-Renaissance, daß diese forcierte und intensivierte Rezeption zu Ende des 20. Jahrhunderts nicht nur der Literaturwissenschaft, sondern in mindestens gleichem Maße auch Autorinnen und Autoren, gewissermaßen also einem .kollegialen Dialog', zu verdanken war. Daß die Sprache Adalbert Stifters „einer ganzen Generation von Schriftstellern zum Vorbild" wurde, hat deshalb Isolde Schiffermüller resümiert, und dabei Autoren wie Thomas Bernhard, Peter Handke, Peter Rosei und Julian
Adalbert Stifters schrecklich schöne Welt. Beiträge des internationalen Kolloquiums zur A. Stifter-Ausstellung (Universität Antwerpen 1993). Hrsg. von Roland Duhamel, Johann Lachinger, Clemens Ruthner und Petra Göllner. (Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes Linz 1/1994). Peter Rosei: „Versuch über Stifter". In: P. R.: Versuch, die Natur zu kritisieren. Essays. Salzburg/Wien 1982, S. 117-126, hier S. 124. Grundgedanken dieses Essays finden sich zuvor schon in der Einleitung zu: Adalbert Stifter: Kalkstein. Der Kuß von Sentze. Erzählungen hrsg. von Peter Rosei. Salzburg 1974, S. 5-13. - Zu Peter Roseis differenziertem Verhältnis zu Adalbert Stifter, das einen eigenen Aufsatz erforderte, vgl. auch: Wilhelm Schwarz: Peter Rosei. Gespräche in Kanada. Frankfurt/M. u. a. 1992, bes. S. 68f.
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Schulung genannt.6 Martin Swales erwähnte in diesem Zusammenhang auch Gert Friedrich Jonke und Felix Mitterer,7 Erika Tunner erinnerte darüber hinaus an Hermann Fried! und Reinhold Aumaier.8 Peter Becher ergänzte diese Reihe um Alois Brandstetter, E. Y. Meyer und Sten Nadolny, zu denken wäre ebenso an Hermann Lenz.9 Die germanistische Forschung hat ihrerseits also die wichtigen Impulse registriert und gewürdigt, die von dieser überaus fruchtbaren Auseinandersetzung ausgegangen sind; einer Auseinandersetzung im doppelten Sinne, ging es dabei doch um die Einflüsse Stifterscher Techniken und Verfahrensweisen auf das eigene Schreiben wie zugleich um deren kritische Überprüfung aus einer Distanz von mehr als hundert Jahren. Von apologetischer oder gar hagiographischer Zustimmung konnte und kann dabei keine Rede sein , vielmehr erwiesen sich gerade die Reibungsflächen - Stifters vielberufene .Langeweile',10 seine Neigung zu Zeremoniell und Ritual vor allem im Nachsommer und im Witiko als besonders produktiv; einer Faszination, die Stifters ebenso bedächtigem wie genauem Blick auf die Dinge durchaus Modellcharakter zubilligte,11 standen dabei mehr oder weniger deutlicher Abgrenzungsversuche entgegen, die ein Befremden, ja sogar gelegentlichen Widerwillen nicht verleugneten.12 Zumal
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Isolde Schiffermüller: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter. Dekonstruktive Lektüren. Bozen 1996, S. 9. 7 Martin Swales: Introduction zu: Johann Lachinger, Alexander Stillmark und Martin Swales (Hrsg.): Adalbert Stifter heute. Londoner Symposium 1983. Linz 1985 (Schriftenreihe des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich 35), S, 2. - Zum Verhältnis von Gert Jonke und Adalbert Stifter vgl. auch Peter Rosei in seiner Einleitung zu Kalkstein. Der Kuß von Sentze (wie Anm. 5), S. l Iff. 8 Erika Tunner: „Stifters Faszination auf österreichische Autoren der Gegenwart: Peter Handke, Peter Rosei, Jutta Schulung, Hermann Friedl und Reinhold Aumaier." In: VASILO 36 (1987), Folge 3/4, S. 57-70. 9 Peter Becher: „Langeweile und Langsamkeit. Stifterphänomene bei A. Brandstetter, E. Y. Meyer und S. Nadolny." Ebd., S. 43-56. - Walter Weiss: .Antworten österreichischer Gegenwartsliteratur auf Adalbert Stifter." In: VASILO 32 (1983), Folge 3/4, S. 133-143. Hermann Lenz: Die Begegnung. Frankfurt/M. 1979. 10 Vgl. hierzu auch Johannes Urzidils kurzen Beitrag: „Noch einmal: Thomas Mann über Adalbert Stifter". In: VASILO 13 (1964), Folge 1/2, S. 21. 1 1 Zu denken ist hier insbesondere an Peter Handkes Tetralogie Langsame Heimkehr: Langsame Heimkehr. Frankfurt/M. 1979. / Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt/M. 1980. / Kindergeschichte. Frankfurt/M. 1981. / Über die Dörfer. Frankfurt/M. 1981. Vgl. hierzu: Herwig Gottwald: „Das fragile Gleichgewicht des epischen Prozesses. Beobachtungen zu Peter Handkes .Versuchen'." In: Studia Austriaca V. Hrsg. von Fausto Cercignani. Milano 1997, S. 135-168. - Isolde Schiffermüller konstatiert mit Bezug auf Thomas Bernhards Roman Korrektur (Frankfurt/M. 1975), daß die „Stiftersche Beschreibungskunst" Bernhard „zum ambivalenten Vorbild für ein künstlerisches Perfektionsstreben" werde, „das die eigenen Aporien und Widersprüche in einer lebenslänglichen Schreibübung und Korrektur der eigenen Schrift austrägt" (wie Anm. 6, S. 9). Diese überaus produktive Ambivalenz hatte zuvor schon Erika Tunner in Peter Handkes Die Unvernünftigen sterben aus beobachtet, wo Stifter „somit als Bild und Gegenbild" durchscheine (wie Anm. 8, S. 59). 12 Dies betrifft insbesondere Thomas Bernhard, auch wenn dabei - wie Hartmut Reinhardt zu Recht anmerkt (S. 28, Anm. 24) - der Anteil der Rollenprosa nicht übersehen werden darf, so in der „Komödie" Alte Meister (Frankfurt/M. 1985). Vgl. hierzu auch: Karlheinz Ross-
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die Einschätzung des Stils und der Tendenz des späten Stifter, „die Sprache bis auf ihr Skelett abzumagern",13 wie dies wiederum Peter Rosei treffend formuliert hat, kann als Paradigma einer differenzierten und polyvalenten Rezeption gelten, die nach Stifters Modernität ebenso fragt wie nach dessen Historizität.14 Dem breiten Spielraum der literarischer Wertungen entspricht dabei die Vielfalt der literarischen Genres, in denen Adalbert Stifter seither zum Thema wurde: in Roman, Novelle und Erzählung ebenso wie in Essay, Abhandlung oder Aufsatz. Daß die Ergebnisse der Annäherungen, .Aneignungen' und Positionsbestimmungen dieser .Werkstattgespräche' dabei so vielfältig sind wie die Namen, poetologischen Programme und nicht zuletzt die Temperamente der genannten Autorinnen und Autoren, kann dabei nicht überraschen. Dennoch kristallisieren sich einige markante Anknüpfungspunkte heraus: „a style that is laconic, painstaking in ist constatation of facts, objects, and circumstances"15 nennt Martin Swales als verbindendes Kriterium, während Isolde Schiffermüller eine „extreme Stilisierung" beobachtet, in diesem Zusammenhang neben den „unheimlichen und undurchsichtigen Stratifikationen" freilich auch auf die Anziehungskraft der .„Reinheit* der Stifterschen Sprache" verweist.16 Und nicht zuletzt das schwindende Vertrauen in die Plausibilität psychologisierenden Erzählens - flankiert von einer sich erschöpfenden Überzeugungskraft soziologischer Deutungsmuster - erklärt die Faszination, wie sie eine - von Stifter insbesondere im Witiko praktizierte - radikale Außenschau, etwa in der Reduktion auf die pure Faktizität von Rede von Gegenrede, auf die genannten Autoren zu Ende der 70er Jahre ausübte.17 „Non, on n'en a pas flni avec Stifter":18 Claude Davids 1985 getroffener Feststellung ist deshalb nur zuzustimmen und so ließe sich dieser Bericht auch bis in die jüngste zeitgenössische Literatur hinein fortschreiben: Norbert Gstreins Novelle O:(1993) fordert den Vergleich mit Stifters Condor geradezu heraus, Arnold Stadier integriert in das letzte Kapitel seines Romans Mein
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bacher: „Quänger-Quartett und Forellen-Quintett. Ein vergleichender Essay über Adalbert Stifter und Thomas Bernhard." In: VASILO 32 (1983), Folge 3/4, S. 145-161. - Alfred Doppier: „Die unaufhebbare Lebensspannung. Themen und Tendenzen bei Adalbert Stifter und Thomas Bernhard." In: VASILO 36 (1987), Folge 3/4, S. 19-29. Vgl. ebenso Anm. 9. Adalbert Stifter: Kalkstein. Der Kuß von Sentze (wie Anm. 9), S. 13. Hierzu Martin Swales: „Litanei und Leerstelle. Zur Modernität Adalbert Stifters." In: VASILO 36 (1987), Folge 3/4, S. 71-82. Martin Swales: Introduction (wie Anm. 7), S. 2. Isolde Schiffermüller: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter (wie Anm. 6), S. 9; die Wendung von der „Reinheit" der Stifterschen Sprache in einem Brief Thomas Bernhards an Hilde Spiel vom 2. März 1971 (ebd., S. 9, Anm. 12). Die besondere Attraktivität dieses Verzichts auf Innenschau und Psychologisierung betont insbesondere Peter Rosei, so in einem Gespräch mit dem Verf. am 29. Januar 1998 in Linz; vgl. auch Wilhelm Schwarz: Peter Rosei. Gespräche in Kanada (wie Anm. 5): „Die Poetik von Stifter dagegen, das Verlegen von seelischen Zuständen in die Landschaft, ist eine sehr nützliche Methode. Bei Stifter kann man sogar noch das Verfahren umdrehen." (S. 68). Claude David: Avant-Propos. In: Etudes Germaniques 40 (1985), Numero 3, S. 269.
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Hund, meine Sau, mein Leben (1994) Passagen aus Stifters Fragment Mein Leben und Jürg Amann schließlich wendet sich in seiner 1989 veröffentlichten Erzählung An der Ruhe gemalt einem der denkbar spödesten Texte Stifters, nämlich dessen Malertagebuch mit seinen minutiösen tabellarischen Einträgen, zu.19 Zu erwähnen wären in dieser Liste natürlich auch die Verfilmungen Stifterscher Erzählungen und nicht zuletzt ein wachsendes interdisziplinäres Interesse, das von naturwissenschaftlicher Seite Stifters Aktualität unter dem Aspekt der Vorwegnahme ökologischer Fragestellungen akzentuiert.20
In dieser Traditionslinie, die mit Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke oder Hugo von Hofmannsthal21 - um nur wenige Namen zu nennen - beginnt und sich über Thomas Manns berühmtes Diktum von Stifter als einem der „merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich-kühnsten und wunderlich-packendsten Erzähler der Weltliteratur"22 bis zu Amo Schmidts zwischen Wertschätzung und Polemik oszillierenden Stifter-Analysen und Heinrich Bölls parodistischer Annäherung an Welt und Atmosphäre des Nachsommer fortsetzt,23 steht auch der am 3. Februar 1896 in Prag geborene, am 2. November 1970 während einer Lesereise in Rom gestorbene Johannes Urzidil. Seit 1916 - zuerst mit der Veröffentlichung von Gedichten in der Zeitschrift Die Aktion - publizistisch tätig, hat Urzidil ein umfangreiches journalistisches, essayistisches und belletristisches Werk hinterlassen. Eine von Vera Machäckovä-Rigerovä 1972 erstellte Bibliographie umfaßt insgesamt 666
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In: Jürg Amann: Tod Weidigs. Acht Erzählungen. München/Zürich 1989, S. 127-136. So fand unter dem Titel ,„Da ist Wald und Wald und Wald' (Adalbert Stifter). Die .Realität' literarischer Waldbilder in der Forst- und Literaturwissenschaft" am 19. und 20. März 1999 in Göttingen ein Kolloquium statt, das Forst-, Kunst- und Literaturwissenschaftler zusammenführte. Herausgegeben von Walter Hettche und Hubert Merkel werden die Vorträge dieses interdisziplinären Kolloquiums veröffentlicht werden. Vgl. Joachim Storck: „Stifter und Rilke". - Richard Exner: „Hugo von Hofmannsthal zu Adalbert Stifter. Notizen und Entwürfe, vorläufige Chronik und Datierung." Beide in: Lothar Stiehm (Hrsg.): Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestage. Heidelberg 1968, S. 271-302 und 303-338. Thomas Mann: Die Entstehung des Dr. Faustus. Roman eines Romans. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Frankfurt/M. 1960. Bd. 11, S. 237. Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays. Karlsruhe 1963, bes. S. 339ff. Ebenso: Die Ritter vom Geist. Von vergessenen Kollegen. Karlsruhe 1965, bes. S. 282-317. Hierzu Josef Huerkamp: „Steine des Anstoßes. Später Nachtrag zu Arno Schmidts Angriffen auf Adalbert Stifter." In: VASILO 28 (1979), Folge 1/2, S. 43-47. J. H.: „Das problematische Vorbild. Über das schwierige Verhältnis des Schriftstellers Arno Schmidt zu Adalbert Stifter." In: VASILO 32 (1983), Folge 3/4, S. 163-178. - Heinrich Böll: Epilog zu Stifters Nachsommer (1970). In: Erzählungen 1950-1970. Köln 1972, S. 435-442.
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Titel,24 die Gerhard Trapp, der sich um die wissenschaftliche Erforschung und Würdigung Urzidils große Verdienste erworben hat, nochmals auf „ca. 850 bis heute bekannt gewordene[n] Veröffentlichungen" erweitert hat.25 Dennoch ist seiner Feststellung zweifellos zuzustimmen, daß Urzidil, dessen Romane und Erzählungen in den 50er und 60er Jahren durchaus Beachtung gefunden hatten, nach seinem Tod „bis heute fast völlig aus dem Blickfeld einer literarischen Öffentlichkeit" verschwunden sei, obwohl die wissenschaftliche Beschäftigung mit seinem Werk auch weiterhin eine wenn auch schmale, so doch kontinuierliche Linie bildet.26 So ist Urzidil einem Fachpublikum wohl in erster Linie als Verfasser der Studie Goethe in Böhmen geläufig: 1932 erstmals erschienen, legte Urzidil 1962 als Resultat seiner mehrere Jahrzehnte umfassenden Beschäftigung mit diesem Thema eine wesentliche erweiterte zweite Fassung vor, die in der Goethe-Forschung noch immer den Rang eines Standardwerks beanspruchen kann. Dort steht in einem „Epilog", der die „Nachwirkungen Goethes im deutschen Geistesraum Böhmens" untersucht, Adalbert Stifter an erster Stelle.27 Bevor Urzidil detailliert auf die vielfältigen Goethe-Spuren in Stifters Ouevre zu sprechen kommt, hebt er einleitend die Doppelbegabung hervor, die es beiden Künstlern ermöglicht habe, Landschaft sowohl unter der Optik des Schriftstellers als auch des bildenden Künstlers zu erfassen. So scharfsichtig dabei die Unterscheidung zwischen dem Maler und Koloristen Stifter und dem Zeichner Goethe ist, den bevorzugt „das Strukturale einer Landschaft"28 beschäftigt habe, so wenig überzeugend, weil allzu schematisch, scheint zumal aus heutiger Sicht die Abgrenzung des Naturforschers Goethe von einer primär auf Glaube, Religion und Frömmigkeit basierenden Weltsicht Stifters. Die Fragilität der .Ordnung der Dinge', die zudem nicht einfach vorgefunden wird, sondern (auch) im Schreibprozeß immer wieder hergestellt werden muß, hat die jüngere Stifter-Forschung wiederholt herausgearbeitet: und daß Goethes naturwissenschaftliches Credo, worauf Urzidil freilich verweist, die Momente der Bewunderung, des Enthusiasmus und der Verehrung des „Unerforschli24
In: Johannes Urzidil: Bekenntnisse eines Pedanten. Erzählungen und Essays aus dem autobiographischen Nachlaß. Zürich/München 1972, S. 217-258. Diese Bibliographie konnte auf eine von Gerhard Trapp erarbeitete, zum I.Januar 1967 abgeschlossene Zusammenstellung zurückgreifen: Gerhard Trapp: Die Prosa Johannes Urzidils. Zum Verständnis eines literarischen Werdegangs vom Expressionismus zur Gegenwart. Bern 1967, S. 204-224. 25 Gerhard Trapp: „Johannes Urzidil - Publizist zwischen den Nationen." In: StifterJahrbuch. Neue Folge 4 (1990), S. 42. Dort gliedert Trapp in fünf Kategorien: belletristische Arbeiten, Aufsätze zur Gegenwartskunst und Kunstgeschichte, Beiträge zur GoethePhilologie, politische Aufsätze, sowie Rezensionen und Übersetzungen. 26 Einen instruktiven Forschungsbericht bietet Gerhard Trapps Aufsatz Johannes Urzidil im Spiegel literaturwissenschaftlicher Untersuchungen seit 1970. In: VASILO 37 (1988), Folge 1/2, S. 75-87; das Zitatdort auf S. 75. 27 Goethe in Böhmen. Dargestellt von Johannes Urzidil. Zürich/München 3. Aufl. 1981, S. 463-472; 2 » Ebd., S. 464.
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eben" ebenso kennt wie die Affekte der Scheu und der Angst, gehört seinerseits längst zur opinio communis der Goethe-Philologie.29 Goethe und Stifter - man sieht sich mit diesen beiden Namen auf die festen Bezugs-, wenn nicht sogar Fixpunkte verwiesen, die stets genannt werden, wenn von den prägenden Einflüssen auf Urzidils Denken und Schaffen die Rede ist, wobei - quod erat demonstrandum - eine solche ausschließliche Reduktion jedoch zu kurz greift und vielmehr modifiziert und differenziert werden muß. Urzidil selbst hat diese Affinität, die neben der gemeinsamen regionalen Herkunft auch in der vertrauten Kenntnis von .Stifters Böhmerwald' wurzelte, in seinen autobiographischen Auskünften wiederholt bekräftigt, am nachdrücklichsten in dem postum veröffentlichten, sicherlich zu Unrecht den „Erzählungen" zugeordneten Blick von Stingelfelsen, wo der panoramatische Rund- und Überblick ein ästhetisches Erlebnis initiiert; aus einer topographischen Erfahrung wird eine poetologische Programmatik entwickelt, die im Wechselspiel von Nähe und Ferne die in der vielzitierten Vorrede zu den Bunten Steinen entwickelte Dialektik von .Kleinem' und .Großem' aufscheinen läßt: Ich bin oft auf dem breiten Rücken des Hochficht zum Stingelfelsen hinauf geklommen, einer Stelle, deren Stifter-Atmosphäre zu den dichtesten des Böhmerwaldes gehört. [...] Vom Stingelfelsen aus entfaltet sich dem Blick bei klarem Wetter eine faszinierende Fernsicht; Oberösterreichs rollendes Land, von der schwingenden Schärpe der Donau überquert und - wenn man Glück hatte - jenseits fern die scharfgeschnittenen Profile und aufblitzenden Gletscher der Alpenketten; im Grunde fast der gleiche Blick, den auch Stifter beschreibt, wenn er uns vom Kreuzberg hinter Oberplan hinüber nach den Norischen Alpen blicken läßt, zu Beginn seines Erzählens vom .Beschriebenen Tännling'.[...] Stifter ist an dieser Art Fernsicht zum Dichter geworden und trug sie durchs Leben. Und so ist der Blick vom Stingelfelsen auch mit mir, selbst hier in Amerika, mitten in New York.30
In welchem Maße Urzidils lebenslange Beschäftigung mit Adalbert Stifter dabei auch von überindividuellen Konstellationen bestimmt wurde, hat er in seinem 1957 veröffentlichten Rückblick Stifter aus drei Distanzen rekapituliert: Ich habe jedoch Stifter eigentlich aus drei räumlichen und seelischen Distanzen, in drei verschiedenen Daseinsatmosphären und geistigen Klimaten erlebt: aus unmittelbarster Nähe in seiner böhmischen Kindheitslandschaft; dann in der englischen Eichenwildnis des Dean Forest; späterhin in der Wolkenkratzerwildnis der Stadt New York.31
Prag und Böhmen, England, Amerika - die hier genannten Stationen der Vita Urzidils signalisieren, wie wenig insbesondere in dieser ersten Hälfte des 20. Jahrhundert Lebens- und Zeitgeschichte voneinander zu trennen sind.
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Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Hrsg. von Karl Richter u.a. Bd.17. Hrsg. von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München 1991. Vgl. dort in den Maximen und Reflexionen insbesondere die Nr. 72,410-418 oder 433. Johannes Urzidil: Blick vom Stingelfelsen. In: J: U.: Bekenntnisse eines Pedanten (wie Anm. 24), S. 35ff. Johannes Urzidil: Stifter aus drei Distanzen. In: VASILO 6 (1957), Folge 3/4, S. 87-99, hier S. 87.
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Nachdem Urzidil als Zwanzigjähriger literarisch debütiert und in Prag Germanistik, Slawistik und Kunstgeschichte studiert hatte, arbeitete er seit 1918 als Übersetzer, ab 1921 dann als Pressebeirat an der dortigen Gesandtschaft des Deutschen Reiches. Als entschiedener Gegner einer Eingliederung des Sudetenlands in das Deutsche Reich verlor Urzidil, dessen geistigen Horizont man im besten Sinne des Wortes als multikulturell bezeichnen darf - er sprach und schrieb sowohl deutsch als auch tschechisch, stammte von einem katholischen Vater und einer jüdischen, später ebenfalls zum Katholizismus konvertierten, früh verstorbenen Mutter ab, wuchs unter der Obhut einer Stiefmutter tschechischer Herkunft auf und heiratete sechsundzwanzigjährig Gertrude Thieberger, die Tochter eines Prager Rabbiners und Schwester eines jüdischen Religionsforschers32 -, 1934 seine Stellung. In der Folgezeit zurückgezogen lebend, floh Urzidil nach der Besetzung Prags durch deutsche Truppen zunächst nach England, im Februar 1941 dann in die Vereinigten Staaten, wo er in New York unter zunächst schwierigen Bedingungen seine Familie unter anderem auch als Lederkunsthandwerker ernährte. Anders als andere Emigranten, die das (amerikanische) Exil lediglich als Durchgangsstation betrachteten, ist Urzidil, der 1946 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, nicht mehr nach Europa zurückgekehrt, dem er durch zahlreiche Lese- und Vortragsreisen gleichwohl verbunden blieb. Nimmt man den oben zitierten Titel jenes Aufsatzes beim Wort, in dem Urzidil eine Summe seiner lebenslangen Beschäftigung mit Adalbert Stifter zieht, so impliziert diese Vermessung einer „Distanz" deshalb immer auch einen autobiographischen Anteil, der den Texten - explicite oder implicite - als konsumtives Element eingeschrieben ist. Die .Lebensumstände' im buchstäblichen Sinne bestimmen die Wahl der Themen- und Fragestellungen, unter den Stifters Werk betrachtet wird: wenn Urzidil 1937 in zwei Beiträgen Stifters Humanität beschwört33 und dabei an das Vermächtnis der Weimarer Klassik erinnert, so reagiert dieser Appell an Ausgleich und Toleranz natürlich auf die zunehmend bedrohlich werdenden machtpolitischen Konstellationen im Herzen Europas kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs.34 Dies gilt - unter nunmehr gänzlich anderen Voraussetzungen - auch für den späten Essay Stifter im Zeitalter des Weltraumflugs (1968), der technischen Fortschritt (als letztlich unaufhaltbar) zwar akzeptiert und begrüßt, zugleich aber auch auf dessen gesell-
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Vgl. hierzu auch Johannes Urzidil: Unvoreingenommener Rückblick. In: J. U.: Bekenntnisse eines Pedanten (wie Anm. 24), S. 184-195. So in den Aufsätzen Stifter, der Epiker der Humanität (In: Nationalzeitung Basel vom 10. Januar 1937) und Adalbert Stifters Humanität (In: Prager Rundschau, Jg. 7, Nr. 4, S. 282289). - Vgl. hierzu auch: Anneliese Kuchinke-Bach: „Johannes Urzidil - ein Prager Humanist". In: Margarita Pazi / Hans Dieter Zimmermann (Hrsg.): Berlin und der Präger Kreis. Würzburg 1991, S. 199-210. Vgl. hierzu Alois Hofman: „Adalbert Stifter in der tschechischen Kritik." In: Adalbert Stifter und die Krise der mitteleuropäischen Literatur. Ein italienisch-österreichisches Colloquium. Hrsg. von Paolo Chiarini. Roma 1987, S. 105-119, bes. S. 107ff.
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schaftlicher Verantwortlichkeit und ethischer Fundierung insistiert. Wenn sich Urzidil in diesem Aufsatz auch um eine Aktualisierung Stifters für jüngere Lesegenerationen bemüht, so erklärt dies gelegentlich plakative Verkürzungen wie die, daß das, was Stifter über die Natur erkannt habe, „geradewegs zum Monde"35 führe; zugleich lassen sich diese Hinweise darauf, in welchem Maße Stifter den naturwissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit verfolgt und rezipiert habe, aber auch als ein Postkriptum und eine nachträgliche Korrektur zur doch eindimensionalen Charakterisierung Stifters im zitierten Epilog zu Goethe in Böhmen lesen. An das .wissenschaftliche Personal' einiger Erzählungen - etwa den Kartographen in Kalkstein - , die wissenschaftlich exakte Beschreibung katastrophaler Naturszenarien in den Bunten Sternen - wie dem Hagelschlag in Kazensilber36 oder dem Gang durch Eis und Schnee in Bergkristall31 - oder Heinrich Drendorfs Selbstcharakterisierung als „Wissenschaftler im Allgemeinen", der „schon als Knabe ein großer Freund der Wirklichkeit gewesen" war,38 sei in diesem Zusammenhang nur kursorisch erinnert. Dennoch läßt sich keine der Stifter gewidmeten literarhistorischen und essaysistischen Beiträge Urzidils von ihrem Umfang und Anspruch her mit seiner Goethe-Studie vergleichen: Stets stehen sie unter spezifischen Gesichtspunkten, indem sie die Verbindungen zwischen Stifter und Italien39 beleuchten oder Parallelen zwischen Adalbert Stifter und Henry Thoreau40 ziehen. Andere Aufsätze widmen sich der Sonnenfinsterniß am 8. Juli 18424i, Kurt Vancsas Edition von Stifters Schulakten,42 oder untersuchen Motivkomplexe wie der 1948 an entlegener Stelle publizierte Essay Adalbert Stifter and Judaism,43 an dessen Gewicht Alfred Doppier zurecht erinnert hat; Stifters Versuch, im Abdias eben kein Bild des emanzipierten und assimilierten Judentums zu zeichnen, wie er es in Wien kennengelernt hatte, stellt in Urzidils Augen innerhalb der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts eine singuläre Leistung dar, die er über Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche, Hebbels Judith, vergleichbare Erzählungen Johann Hebels, Nikolaus Lenaus Der arme Jude, ja sogar Gotthold Ephraim Lessings Nathan stellt. Die »Spurensuche' bliebe freilich unvollständig, beschränkte man sie auf Urzidils essayistisches Werk allein: War einleitend von zeitgenössischen Auto-
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Johannes Urzidil: Stifter im Zeitalter des Weltraumflugs. In: VASILO 17 (1968), Folge 1/2, S. 109-118, hier S. 110 und 118. HKG 2,2, S. 263ff. Ebd., S. 214ff. HKG 4,1, S. 17 und 29; und später heißt es dort, daß die „Erforschung des Menschens und seines Treibens ja sogar der Geschichte nur ein anderer Zweig der Naturwissenschaft" sei (S. 122). In: Nationalzeitung Basel vom 24. März 1940 In: Welt und Wort. Literarische Monatsschrift. 5. Jg. (1950), Heft l, S. 225 Nachwort zu: Adalbert Stifter: Wien/Die Sonnenfinsternis. Stuttgart 1963. Neuauflage 1979, dort S. 83-91. „Stifters .pädagogische Provinz"'. In: VASILO 5 (1956), Folge 3, S. 1019-106. In: The Menorah Journal. Autumn 1948, S. 327-338.
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rinnen und Autoren die Rede, die Adalbert Stifter wieder ins Bewußtsein ein breiteren literarisch interessierten Öffentlichkeit gerückt haben, so gehört Johannes Urzidil, in dessen Werk sich beide Stränge verbinden, mit Fug und Recht ebenfalls in diese Reihe, da er sich mit Stifter eben auch in seinem erzählerischen Werk beschäftigt hat. Dabei gilt es, verschiedene Ebenen der Bezugnahme zu unterscheiden: zum einen und zum ersten jene Texte und Passagen, in denen Stifter expressis verbis erwähnt wird: daß die Schauplätze dieser Erzählungen zumeist im Böhmerwald selbst angesiedelt sind, kann dabei nicht überraschen; sodann die vielfältigen Zitate und Anspielungen, die - offen oder versteckt - Stifters erzählerischen Kosmos evozieren, sei es durch die Nennung von Orten, Personen oder Figuren seines Werks. Nicht zu vergessen der wichtige Anteil, der auf Verwandtschaften thematischer, stofflicher oder motivischer Art rekurriert. Und im wahrsten Sinne fundamental sind die Entsprechungen und Parallelen, die - über die jeweiligen Romane und Erzählungen hinaus - Aspekte der jeweiligen Schreibkonzepte, der poetologischen Programmatik, etwa in der bevorzugten Wahl der Erzählperspektivik, zuletzt natürlich auch Fragen der Weltanschauung wie dem Telos des eigenen Schaffens betreffen. So hat Christa Helling „Turmblick"44 und Vogelperspektive, die eine „panomaratischer Umschau"45 eröffnen, als verbindende Signa hervorgehoben: bei Stifter ist neben dem Condor, dem Thomasgipfel aus dem Hochwald*6 den zahlreichen erhöhten Aussichtspunkten im Nachsommer41 vor allem auch an Wien und die Wiener zu denken, den die Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansthurmes eröffnen.48 Welch prägenden Einfluß ein solch exponierter Standort nicht zuletzt auf die literarische Organisation der erzählten Welt haben kann, hatte Urzidil in der zitierten Reminizenz an den Blick vom Stingelfelsen ausdrücklich hervorgehoben Und dennoch: Wer sich mit Stifter in den Erzählungen von Johannes Urzidil beschäftigt, wird an erster Stelle seine Schlüsselerzählung Der Trauermantel nennen müssen, in denen Adalbert Stifter im wahrsten Sinne des Wortes die Hauptrolle spielt.
m Über die Entstehung dieser Erzählung hat Johannes Urzidil zu Beginn seines autobiographischen Essays Stifter aus drei Distanzen Auskunft gegeben:
44 Christa Helling: Johannes Urzidil und Prag. Versuch einer Interpretation. Udine 1981, S. 13 If. 45 Johannes Urzidil: Stifter im Zeitalter des Weltraumflugs (wie Anm. 4l), S. 110. 46 HKG 1,4, S. 215. 47 Vgl. hierzu den Beitrag von Herwig Gottwald in diesem Band, bes. S. 136. 48 PRÄ 15, S.
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Aus diesen drei Distanzen schrieb ich die Erzählung ,Der Trauermantel', die Stifters Frühzeit zum Thema hat und die im Böhmerwald konzipiert, im englischen Wald gestaltet und im Antennenwald der amerikanischen Metropole beendet und erstmalig veröffentlicht wurde. [...] Als ich die Erzählung 1940 in England wieder aufnahm, geschah es aus dem Bedürfnis, während des Krieges und aus einer unheimlichen, weil nicht nur örtlichen, sondern auch ideologischen Entferntheit das Reinste und Geliebteste, das Bleibende und Unverlierbare der Heimat in mir und für andere wieder aufzurichten.
Urzidil situiert seine Erzählung damit ausdrücklich auch in den Kontext jener Diskussion um das .kulturelle Erbe', das die ins Exil vertriebenen Künstlerinnen und Künstler als Repräsentanten eines .besseren Deutschland' - wie dies insbesondere Thomas Mann während der Entstehung seines Romans Lotte In Weimar nachdrücklich postuliert hat - vor dem faschistischen Zugriff zu schützen und zu verteidigen suchten. Diese Akzentuierung wird noch deutlicher, wenn Urzidil anschließend auf die unmittelbare Wirkung seiner Erzählung zu sprechen kommt: Wer heutzutage in Österreich oder Deutschland diese Erzählung liest, wird sich kaum eine Vorstellung davon machen können, was ihr erstes Erscheinen in Amerika noch in einer Phase tiefster Entfremdung (1945) bedeutete, wieviele Menschen mir damals aus allen Teilen der westlichen Hemisphäre erschüttert, beglückt und gleichsam aufatmend schrieben und welch tröstliche Sendung dieses Büchlein bei jenen erfüllte, die aus ihrem ursprünglichen Boden gerissen, deren Wurzeln gesprengt und deren Gemüter aus vielen und meist sehr triftigen Gründen verbittert und vergrämt waren. Sie schrieben so, als wären sie in unübersichtlichen und verwirrenden Geländen plötzlich wieder auf eine Art Wegweiser gestoßen. Auch unter diesem Aspekt wäre die Erzählung zu betrachten.49
Der Trauermantel, erstmals 1945 im Verlag Friedrich Krause in New York erschienen, enthält damit gewissermaßen .subkutan* auch eine autobiographische Schicht, die die Erfahrung von Exil und Emigration keineswegs ausblendet, sondern in den Text einfließen läßt - was sich dem aufmerksamen Leser freilich nur dann erschließt, wenn er sich über die Umstände und Bedingungen seiner Entstehung kundig gemacht hat. Der Trauermantel selbst umfaßt einen Zeitraum von fast 30 Jahren und gliedert sich in zwei Teile: schildert Urzidil zunächst Kindheit und Jugend bis zum Ende der Schulzeit im Stift Kremsmünster im Sommer 1826, so widmet sich der zweite Teil Stifters Zeit in Wien bis zum Erscheinen seiner ersten Erzählung. Mit einer Unterhaltung über Johann Wolfgang Goethe, die der literarische Debütant auf einer Parkbank in den Praterauen mit einem älteren Landsmann - der sich zuletzt als Hofrat Grüner aus Eger, also ein von Goethe hochgeschätzter Gesprächs- und Briefpartner vorstellt - klingt die Erzählung aus, und erst im allerletzten Satz wird der Protagonist bei seinem vollen Namen genannt: „Man schrieb das Jahr achtzehnhundertvierzig. Auf der Bank neben dem alten Herrn lag die Zeitschrift. ,Der Kondor', las man darauf, ,eine Erzählung von Adalbert Stifter."' (T, S. 70)so 49 50
Johannes Urzidil: Stifter aus drei Distanzen " (wie Anm. 36), S. 87. Johannes Urzidil: Der Trauermantel. In: J. U.: Morgen fahr' ich neun. Böhmische Erzählungen. Mit einem Nachwort von Heinz Politzer. München 1971, S. 37-70 (künftig mit der
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Läßt sich dieser Eck- und Endpunkt also exakt bestimmen, so setzt die Erzählung wohl um 1811/12 ein, da der kleine „Bert" zu diesem Zeitpunkt bereits die Volksschule in Oberplan besucht, in die er bekanntlich im sechsten Lebensjahr eingetreten war. Dieser erste Teil reiht - der Schnittechnik eines Spielfilms vergleichbar - in lockerer Form fünf Episoden aneinander, wobei man die länger ausgreifende Geschichte des jüdischen Gemischtwarenhändlers Abdias Kohn, mit dessen Tochter Bozka den jungen Adalbert eine kindliche Freundschaft verbindet, durchaus als „une sorte de nouvelle dans la nouvelle"51 bezeichnen kann. Wird der mit Stifter vertraute Leser - insofern er nicht sofort den Bezug zwischen dem Titel der Erzählung und der Schmetterlings-Szene im Hochwald herstellt - den Text spätestens mit der Nennung Oberplans und der Moldau sowie des vollen Taufnamens Adalbert (T, S. 40) unschwer als Schlüsselerzählung dechiffriert haben, so hatte der Erzähler zuvor schon ein Netz von Signalen geknüpft, die zusätzlich auf diesen Weg weisen: dies betrifft neben der Topographie des Böhmerwalds in der näheren Umgebung von Stifters Heimatdorf auch Anspielungen auf sein Werk, wenn etwa von „Granit" und „Kalkstein" oder dem Ritter Witiko,52 später von „Heidedörfern" und „Feldblumen" (T, S. 60) die Rede ist. Und im (Plöckensteiner) „Waldsee", an dem Der Hochwald beginnt und die Abdias-Episode des Trauermantel endet, überlagern sich schließlich die beiden semantischen Felder. Die narrative Strategie, die Urzidil in dieser episodalen Reihung verfolgt, ist offensichtlich: zum einen zeichnet er in .charakteristischen' Zügen ein Psychogramm des Protagonisten, zum anderen umreißt er Themen und Problemstellungen, die das Denken und Schaffen des späteren Künstlers bestimmen und prägen werden. So offenbart die mit „knäblichem Eigensinn" (T, S. 38) betriebene einleitende Jagd nach dem Schmetterling, die sich zu „trotziger Verbissenheit" (T, S. 37) steigert, ein Vermögen zu passionierter Hingabe, die ins Obsessive umschlagen kann. Obwohl ursprünglich rein kontemplativ motiviert - „Es verlangte ihn nur, ihn in der Hand zu halten, aus der Nähe zu betrachten und dann, sobald er dessen satt sein würde, ihn wieder fortflattern zu lassen." (T, S. 37) -, erzeugt die latente Bereitschaft zum aggressiven Zugriff eine Spannung, die auf dem Höhepunkt dieser Szene dann aus eigenem Antrieb domestiziert werden kann: „Der Falter rührte sich nicht. Jetzt hätte der Knabe ihn einfangen können. Aber er tat es nicht." (T, S. 38) Und mehr noch: mit subtilem psychologischen Einfühlungsvermögen beschreibt Urzidil, wie der .Augenblick' höchster Konzentration in einen Zustand medidativer SelbstverSigle T und der jeweiligen Angabe der Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert). - .Der Familienname war zuvor - „Wohingegen dieser Stifter unbeholfen ist..." (S. 60) - schon einmal gefallen. 51 Richard Thieberger: Johannes Urzidil sur les traces de Stifter. In: Etudes Germaniques 40 (1985), Numero 3, S. 429-438, hier S. 432. 52 T, S. 38ff.
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gessenheit hinübergleitet: „Bert blickte noch lange hin, ohne zu bemerken, daß der Falter längst nicht mehr da war." (T, S. 38f.) Die wiederholt akzentuierte Fähigkeit zu genauer Betrachtung korrespondiert mit einer (noch) vorsprachlichen Entwicklungsphase in dem Sinne, als zum einen ein „Kalkstein", den sich der Junge einsteckt, quasi stellvertretend als Merk-Zeichen für das eben Erlebte fungiert, wobei dieser Stein wiederum der Großmutter gegenüber nur umschrieben und .bezeichnet', aber nicht benannt werden kann: ,„Was für ein Stein denn?' fragte die Frau. ,Vom Wasser da', sagte der Knabe." (T, S. 39) Und der unnachsichtig und despotisch gezeichnete Vater wird die scheue Klassifikation des Sohnes - „Ich glaube, ein Pfauenauge..." - mit unerbittlicher Strenge korrigieren: „,Ein Trauermantel', donnerte der Vater und schlug mit der Faust gegen den Schrägen im Flur." (T, S. 43) Urzidil legt hier die Fundamente einer Bedächtigkeit, die sich später im großstädtischen Ambiente Wiens wiederum als überaus ambivalent erweisen wird, wo Stifter die Namensgebung, die ja schon im biblischen Schöpfungsakt unabdingbar mit der Erschaffung der Natur verknüpft war, zwar beherrschen und das Buch der Natur mit lexikalischer Exaktheit zu entziffern imstande ist, in seiner „Unbeholfenheit" (T, S. 60), was gesellschaftliche Umgangsformen betrifft, aber zugleich soziale Defizite offenbart, die seine in Kremsmünster imaginierten Wunschträume von Aufstieg und bürgerlicher Karriere nachträglich konterkarieren. In der Repetition der väterlichen Unterweisung über die Rolle und Stellung Böhmens im Vielvölkerstaat Österreich, die unter Betonung der Mehrsprachigkeit in einen Appell an Toleranz und ein bei aller Unterschiedlichkeit friedliches Miteinander mündet, läßt Urzidil nicht nur eines der Lebensthemen Stifters anklingen, dem sich später der Witiko verschreiben wird: auf einer zweiten Ebene lassen sich gerade diese Passagen zugleich auch als ein versteckter Kommentar zu den machtpolitischen Auseindersetzungen der 30er Jahre lesen. Eine Toleranz im übrigen, die im Trauermantel auch konfessionelle Grenzen überwindet, wie sich dies in der freundschaftlichen Beziehung zwischen Abdias Kohn und dem katholischen Dorfkaplan manifestiert. „Gottes Friede war über der Ortschaft"(T, S. 48): dieses Fazit läßt den anschließenden .Sündenfair um so krasser hervortreten. Mit dem unvermittelten und unvorsehbaren Einbruch von Gewalt und Zerstörung als Kern der Abdias-Epiosde verlagert Urzidil die Urszene eines weiteren zentralen Themas in Stifters schriftstellerischem Schaffen ebenfalls in die früheste Kindheit. Der Wurf einer Glasflasche am Vorabend des Sabbat, der die Tochter des Abdias verletzt, und mehr noch die darauf folgende sofortige Flucht der Familie, die den kleinen Adalbert seiner bisherigen Spielkameradin beraubt, wird zum traumatischen Erlebnis, das in der nachhaltigen Verstörung über diesen Verlust die psychischen Dispositionen schafft, die das Scheitern der Liebesbeziehung zu Fanni Greipl zur persönlichen Katastrophe werden läßt. Zugleich wird Bozka auch zur Chiffre für die Begegnung mit dem Fremden und Andersartigen, die sowohl im Werk Stifters - man denke neben ande-
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ren ,wilden' Figuren vor allem an das „braune Mädchen" in Kazensilber, aber auch an die Erzählung Bergmilch - eine gewichtige Rolle einnehmen wird. „Weil du doch anders bist", resümiert der Junge in einem kindlichen Gespräch über religiöse Rituale, was sein Gegenüber ausdrücklich bekräftigt: „,Das bin ich', antwortete Bozka." Ebenso bedeutungsgeladen ist die Spiegelszene nach dem Unfalltod des Vaters: Der Knabe stand allein in der Küche und betrachtete sein Antlitz in dem Spiegel der Fensterlichtung. Es war kein ganzer Spiegel mehr; ein Stück Scherbe war aus dem Rahmen gesprungen. Aber doch sah man das ganze Antlitz darinnen bis quer über den Hals. Vor diesem Spiegel pflegte der Vater sich zu rasieren. [...] Der Knabe prüfte seine Züge in dem Spiegel. Man sagte immer, daß er der Mutter ähnle. Aber heute, wenn er genauer hinsah, fand er sich dem Vater ähnlicher. Einmal hatte der Vater geweint, nach einem furchtbaren Streit in der Stube, wo viel Zerbrochenes herumlag. Bert konnte das nie vergessen. Sein Gesicht war so anders gewesen. Es war so wie jetzt Berts Gesicht in der Spiegelscherbe. (T, S.Slf.)
Ein Katastrophenszenario auch dies, und zwar in mehrfacher Hinsicht: zum einen wird Selbsterkenntnis in der physiognomischen Okkupation durch den Vater als schockartiges Erlebnis inszeniert. Die eigens hervorgehobene Ähnlichkeit mit dem weinenden - also verzweifelten oder schwachen - Vater offenbart zudem die Unmöglichkeit, dessen traditionelle Rollen als Familienoberhaupt, in den geschilderten Episoden bevorzugt als Richter, Zensor und Strafinstanz, zu übernehmen. Und was in der Reihe bedeutsamer Initiationen im Sozialisationsprozeß eines Jugendlichen zum letzten Triumph werden sollte, nämlich die Übernahme sozialer Verantwortung als nächstes Glied in der Generationenkette, die im Überschreiten der Schwelle zum Erwachsenen ja oft zugleich auch mit der Ablösung der bisherigen .Machthaber' einhergeht, wird hier - im Motiv des zerbrochenen Spiegels schon überdeutlich symbolisiert für den vierzehnjährigen, mit dieser vorzeitigen Rollenzuweisung völlig überforderten Sohn zur Horrorvision, zumal er das „Übergewaltige" des „eisernen" und „richtenden" Vaters53 bislang sowohl als Gefängnis wie als Schutzraum empfunden hatte: „Ohne den Vater würde er jetzt leben müssen. Anstatt des Vaters würde jetzt er sein. [...] Aber anstatt des Vaters zu sein, ist furchtbar. Der Vater war ein Gewölbe über einem. Man war gefangen in ihm. Aber man war so geschützt in ihm. Jetzt war es plötzlich oben leer geworden. Statt des sicheren Gewölbes war die Gefahr." (T, S. 52) Daß diese fatale Dialektik in jener doppelten Lesart wiederum an markante Bewußtseinslagen der frühen literarischen Moderne anknüpft und in ihrem Vokabular an Familienkonstellationen erinnert, wie wir sie aus Franz Kafkas Erzählungen Das Urteil oder Die Verwandlung kennen, ist dabei keineswegs zufällig. Dem ,Prager Kreis' deutschsprachiger Autoren zugehörig, verkehrte Urzidil bereits seit 1915 im berühmten Caf6 Arco, wo sich zahlreiche Schriftsteller und Intellektuelle trafen
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Beide Wendungen mit Bezug auf Peter von Matts Studie: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. München 1995, dort insbesondere S. 265-307.
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und wo er frühzeitig Kontakte zu Franz Werfel, Max Brod und Franz Kafka knüpfte, die er in seinem Unvoreingenommenen Rückblick ausdrücklich als seine Landsleute und Freunde bezeichnet hat.54 Führt man die im Trauermantel unternommene biographische (Re)Konstruktion auf ihr das ihr zugrundeliegende typologische Grundmuster zurück, so wird Adalbert Stifter - wie ihn Urzidil schildert - zum Prototyp jenes Künstlers, dessen Kreativität sich aus Impulsen der friihesten Kindheit und Jugend speist. In diesem Modell wird Literatur zur Erinnerungsarbeit, die gewissermaßen nachträglich aufarbeitet und in Dichtung transformiert, was sich dort an Beglückendem wie Bedrängendem angesammelt hat: sei es in der .Verteidigung der Kindheit' als verlorenes Paradies, oder aber als Spurensuche und Vergegenwärtigung jener dort empfangenen prägenden Erlebnissen und traumatischen Verstörungen. Mit diesem psychologisierenden Ansatz, auf dessen - bei aller Plausibilität - problematische Implikationen Hartmut Reinhardt zu Recht hinweist,55 bewegt sich Urzidil durchaus in der Nähe neuerer Stifter-Biographien, die in diesem Zusammenhang in auffälliger Weise immer wieder auf einen Text Bezug nehmen, der wie kaum ein anderer in den letzten Jahrzehnten die Aufmerksamkeit erregt, ja eine geradezu magnetische Anziehungskraft ausgeübt hat: Gemeint sind die im September 1866 in Oberplan entstandenen autobiographischen Aufzeichnungen Mein Leben, jener fragmentarische Text des späten Stifter, dessen Analyse etwa Wolfgang Matz ganz an den Beginn seiner biographischen Studie rückt.56 Arnold Stadier greift auf ihn ebenso zurück wie vor ihm schon Emil Staiger57 und dem Faszinosum und der Sogkraft, die von diesen Erinnerungen an die früheste, mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegende Kindheit ausgehen, wird sich wohl kein Leser entziehen können, auch wenn man zurecht auf den Anteil an Stilisierung und literarischer Überformung hingewiesen hat, die hinsichtlich einer vorschnellen Instrumentalisierung als Schlüsseltext zur Vorsicht mahnen.58 Die Attraktivität und in einigen Passagen geradezu »unerhörte' Modernität dieser tastenden Rückkehr ad fontes resultieren dabei zum einen auf der Intensität und dem dem Gewicht, das der Rekonstruktion sinnlicher Eindrücke eingeräumt wird, und zum anderen aus dem durchgängig .erzählenden', eben nicht abstrahierenden oder retrospektiv deutenden Duktus dieser Erinnerungsarbeit - was seinerseits natürlich breiten 54 55 56
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Johannes Urzidil: Unvoreingenommer Rückblick (wie Anm. 37), S. 189. Vgl. S. 22, Anm. 7 in diesem Band. Vgl. hierzu Muriel Honhon: da ich stets die Kinder als Knospen der Menschheit geliebt habe. Studie zu den Kinderprotagonisten im Werk Adalbert Stifters. Frankfurt/M. [u. a.] 1998, S. 76-89. bes. S. 79f. - Hierzu auch Helmut Pfotenhauer: „.Einfach ... wie ein Halm'. Stifters komplizierte kleine Selbstbiographie." In: DVjS 64 (1990), S. 134-148. Wofgang Matz wie Anm. 3, S. 9-15. Arnold Stadier: Mein Hund, meine Sau, mein Leben. Salzburg/Wien 1994, S. 147-151; Emil Staiger: „Reiz und Maß. Das Beispiel Stifters." In: Lothar Stiehm (Hrsg.): Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen (wie Anm. 26), S.7-22, bes. S. 8ff. So auch ausdrücklich bei Mathias Mayer (s. Anm. 3).
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Raum für vielfältige interpretatorische Zugriffe, etwa psychologischer oder psychoanalytischer Art, eröffnet. Auf ihre Weise versuchen im Trauermantel die Episoden aus Oberplan und Kremsmünster eine vergleichbare .Fundierung' im eigentlichen Sinne des Wortes. Während Christa Helling - ohne näheren Nachweis - mitteilt, Der Trauermantel sei „allgemein anerkannt" als die schönste von Urzidils Erzählungen und auch Richard Thieberger in diesem Sinne argumentiert,39 hat Alfred Doppier zurecht auch auf deren Schwächen hingewiesen, die insbesondere im zweiten, in Wien angesiedelten Teil unübersehbar zu Tage treten. So gelinge es Urzidil „nur unvollkommen, das Essayistische mit dem Erzählerischen zu verbinden". In der Tat lesen sich die Vorgriffe auf den Nachsommer oder den Witiko, ebenso die allzu plakative Einführung des „sanften Gesetzes" aus dem Munde des Kaplans (T, S. 48) wie aufs Äußerste komprimierte Inhaltsangaben. Wenn Doppier allerdings kritisiert, daß der Erzähler - den er in unmittelbarer Nähe des Autors ansiedelt - autobiographische Erfahrungen aus Prag auf und in die Hauptfigur seiner Erzählung projeziert habe, so mag dieser Einwand berechtigt sein, wenn das Interesse ausschließlich oder in erster Linie dem ,Stifter-Bild' gilt; stellt man jedoch im Sinne der bereits apostrophierten doppelten Lesart die mehr oder weniger deutlich dechriffrierbaren autobiographischen Spiegelungen und Brechungen als bewußt eingezogene Textebene in Rechnung, wäre ein solcher Vorwurf wohl zu relativieren: vielmehr ließe sich damit die Eigenart Urzidilschen Erzählens genauer bestimmen. Gemessen an der plastischen Anschaulichkeit der ersten Episoden fällt der zweite Teil unbestreitbar ab, wobei insbesondere das ,Büd4 Fanni Greipls in der Hypostasierung als Kind, Mutter, Schwester und Geliebter (T, S. 61) wie der Dichotomic von ländlicher Naivität und Unschuld einerseits und städtischen „Nichtigkeiten" (T, S. 60) andererseits, die Grenze zum Klischee nicht nur streift; Gleiches gilt für die kreativitätspsychologischen Erklärungen, die obwohl die Trennung von Fanni Greipl zweifellos ein auslösendenes Moment gewesen ist - doch zu monokausal motiviert werden, wobei sich auch hier die Kompensationsmechanismen - künstlerische Kreativität wird mit dem Verlust an Lebensglück erkauft, erst aus der „Tragödie der Liebe" (T, S. 63) kann sich das dichterische Vermögen entfalten - als ebenso konventionell wie stereotyp erweisen. Vollends unglaubwürdig wird dieses Konstrukt, wo dieser Weg als quasi naturgegebene Notwendigkeit, ja als Bestimmung des Schicksal gedeutet wird: „Dieser Dichter aber konnte nur entstehen aus den schmerzhaftesten Verzichten, aus der Versagung des Liebsten in der Welt, aus dem EwigUnerfüllten, das ihn trieb und verfolgte, das nicht abließ von ihm, keinen Tag und keine Stunde. Gebieterisch wurde darum die Notwendigkeit, daß diese Liebe zerbrach ... (T, S. 63) Als Konsequenzen einer solch pathetischen Stilisierung wird der Dichter, obwohl „er sein möchte wie alle anderen" (T, S. 63)
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Christa Helling: Johannes Urzidil und Prag (wie Anm. 44), S. 59. Richard Thieberger wie Anm. 59.
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zum Außenseiter par excellence; zum anderen wird Dichtung dafür ins Sakrale erhöht: „Er war gezeichnet, ein für allemal, und er mußte seinem Zeichen treu bleiben. Was Gott verbunden hat, das soll die Welt nicht scheiden. [...] Er hatte das Kreuz genommen und er war ein Verlobter des Geistes, dem er zugewandt bleiben mußte bis ans Ende."(T, S. 67) - Nicht nur, daß Stifters aus den 30er Jahren erhaltene Briefe (auch) eine andere Sprache sprechen und der Dichter zu diesem Zeitpunkt - nach der Veröffentlichung des Condor - zudem bereits fast drei Jahre verheiratet war: daß Stifter auch zum ,3roterwerb" (T, S. 60) schrieb bzw. schreiben mußte, scheint im Trauermantel nur am Rande auf. An kritischen, auch auf die unleugbaren Schwächen von Urzidils belletristischem Werk verweisenden Stimmen hat es nicht gefehlt: so hat man Urzidil einen gelegentlich allzu simplen Dualismus zwischen Geist und Macht attestiert, in dessen „abrundender" Versöhnung Claudio Magris die Gefahr einer „sentimentalen Nachsichtigkeit" sieht, „die den Schrecken und das Leiden allzuleicht miteinder versöhnt."60 Gerade der .Wiener' Teil des Trauermantel veranschaulicht auf exemplarische Weise, wie abrupt sich solche Niveauschwankungen dabei auf engstem erzählerischen Raum manifestieren. Nach einem vergeblichen nächtlichen Warten auf die Geliebte körperlich wie seelisch aufs Äußerste angegriffen, weitet sich die Szene zu einer beeindruckenden Phantasmagoric des „Zerrütteten", deren Einleitung aufhorchen läßt: „Schon bereitete sich irgendwo in der Welt der namenlose Bote zum Lauf. Er braucht Jahre, sein Ziel zu erreichen, aber nichts kann ihn aufhalten." (T, S. 65) Der intertextuelle Bezug ist - wenngleich, soweit ich sehe, bislang kaum registriert - ganz offensichtlich: „Der Kaiser - so heißt es - hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. [...] Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann ..."6I So beginnt Franz Kafkas kurze Erzählung Eine kaiserliche Botschaft, die 1919 im Band Ein Landarzt veröffentlicht wurde. Wie nah sich Kafka und Urzidil, dessen erstes Buch, die Gedichtsammlung Sturz des Verdammten, im Jahr zuvor erschienen war, standen, läßt sich nicht nur in Max Brods Streitbares Leben (1960) und Der Prager Kreis (1966) nachlesen: es sei auch daran erinnert, daß es Brod und Urzidil waren, die nach Kafkas Tod auf einer Trauerfeier in der Kleinen Bühne des Deutschen Kammertheaters in Prag am 19. Juni 1924 die Ansprachen hielten.
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Claudio Magris: „Eine hinternationale Geschichte." In: Johann Lachinger, Aldemar Schiffkorn, Walter Zettl (Hrsg.): Johannes Urzidil und der Prager Kreis. Vorträge des römischen Johannes-Urzidil-Symposions 1984. Linz 1986 (Schriftenreihe des Adalbert-StifterInstitutes des Landes Oberösterreich Folge 36), S. 121. Franz Kafka: Eine kaiserliche Botschaft. In: F. K.: Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. von HansGerd Koch, Wolf Kittler und Gerhard Neumann. Frankfurt/M. 1994, S. 280f.
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Wenn man Urzidil wiederholt und nicht zu Unrecht als einen geistigen Erben Stifters bezeichnet hat,62 so sollte spätestens hier deutlich werden, daß eine ausschließliche Reduktion auf die .Ahnen' Stifter und Goethe entschieden zu kurz greift. Daß Kafka in diese Reihe zu stellen ist, darüber hinaus - von Homer, der Bibel und dem Talmud über Cervantes bis zu Räubert, Balzac Zola oder Tolstoi - aber weitere vielfältige Bezugspunkte zu nennen wären, betont Christa Helling, und Gerhard Trapp hat nicht nur in der Untersuchung seiner expressionistischen Anfänge den Bogen in die Moderne geschlagen,63 wo Urzidil, obgleich in seinem Formenvorrat wie seinen erzählerischen Mitteln weder Avantgardist noch Experimentator und so „gewiß nicht zu den schwierigen Meteoren des modernen literarischen Himmels"64 zu rechnen, seinen festen Platz hat. So ist Trapp nur zuzustimmen, wenn er hervorhebt, daß Stifter zwar „mit seinem Werk in Urzidils Erzählungen ebenso präsent wie als Person" sei, zugleich aber auch mit wünschenswerter Klarheit die Grenzen zieht: „Urzidils Persönlichkeit ist völlig anders konstituiert, als es die Stifters war, seine Lebenserfahrungen sind die des 20. Jahrhunderts. Sein literarisches Werk allzusehr in den Schatten Stifters zu rücken führt zu sinnentstellenden Verkürzungen, trotz gemeinsamer Positionen in einigen grundsätzlichen Fragen."65 Anders als bei Kafka erreicht der Bote im Trauermantel jedoch seinen Adressaten und so entspinnt sich zwischen beiden ein .Geistergespräch4, das in der Lakonik seiner Grenzsituation wiederum an Kafka und sein ebenfalls im Landarzt veröffentlichtes Prosastück Vor dem Gesetz erinnert. Diese in der Tat beeindruckende Vision blendet im Grundmotiv vom ,Riß in der Existenz' nicht nur auf den Beginn der Erzählung zurück - „Der Falter schwingt sich davon, man hält noch den Stein in der Hand, darauf er sich sonnte. Das Glas zerspringt, der Spiegel bricht quer ab" (T, S. 65), heißt es unmittelbar zuvor -, sondern greift zugleich über deren Binnenraum - die erzählte Zeit bis 1840 hinaus bis auf jenen 26. Januar 1868 voraus: Der Fremde schwieg. Er ergriff die Hand des Fiebernden und fühlte nach seinem Puls. .Merkwürdig, ich glaube Sie schon seit so vielen Jahren zu kennen.' ,Ich war immer auf dem Wege zu Ihnen.' ,Nur zu mir?' ,Nur zu Ihnen.' Jetzt weiß ich, daß ich Sie einmal im Spiegel beobachtet habe.' ,Sie hatten ein Rasiermesser in der Hand.' ,Ich war ein Knabe.' ,Und die Menschen in Ihren Geschichten? Geht es ihnen gut?' .Danke. Einige sind glücklich.' (T, S. 66f.)
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Christa Helling: Johannes Urzidil und Prag (wie Anm. 44), S. 82; zu den literarischen Vorbildern und Einflüssen bes. S. 106ff. Gerhard Trapp: Die Prosa Johannes Urzidils (wie Anm. 24). So Vera Machackova-Rigerova in ihrem Nachwort zu: Bekenntnisse eines Pedanten (wie Anm. 24), S. 215. Gerhard Trapp: „Chronik und Menetekel. Zu Johannes Urzidils Erzählungen aus dem Böhmerwald." In: VASILO 41 (1992), Folge 1/2, S. 51-62, hier S. 57.
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Wenn Gerhard Trapp anmerkt, daß Urzidil im Trauermantel „förmlich in Stifters Haut" geschlüpft sei,66 so scheint jedoch gerade darin ein Schwachpunkt im Konstruktionsplan dieser Erzählung begründet zu liegen, da dies eben nicht konsequent versucht wird und sich die heterogenen Elemente - erlebte Rede, erklärende, oft referierende Außenschau oder summarische Raffung - deshalb nicht zu einem homogenen Ganzen fügen. In seinen anderen .StifterErzählungen' ist es Urzidil gelungen, dieser Gefahr durch einen Wechsel der Erzählperspektive zu entgehen.
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Gemeint sind damit die Erzählungen Grenzland, Wo das Tal endet und Der letzte Gast, obwohl sich Anspielungen auf Werk und Person Stifters auch in anderen Texten finden lassen:67 gemeinsam ist allen dreien nämlich die Perspektive eines Ich-Erzählers, den man sicherlich nicht zu Unrecht in die Nähe des Autors gerückt hat: So konnte wiederum Gerhard Trapp in zum Teil minutiöser Spurensuche rekonstruieren, wie Örtlichkeiten, ja sogar authentische Namen aus der Umgebung von Glöckelberg (Zadni Zvonkovä), wo Urzidil bis zu seiner Emigration nicht nur viele Sommer verlebte, sondern auch das Bürgerrecht der Gemeinde erhielt, und Schippin (Sipin), dem Geburtsort seines Vaters, Einzug in diese Erzählungen gefunden haben, dabei aber auch zeigen, wie Urzidil diese autobiographisch beglaubigten Fakten verändert hat.68 Solche Parallelen liegen geradezu zwangsläufig auf der Hand, wenn diese Ich-Erzähler wie in Grenzland mit ihren „Schreibereien"69 (G, S. 225) beschäftigt sind und sich dabei wie folgt charakterisieren: In dieses unendliche Reich kam einmal einer, der hieß Ich. Von außen her hatte er wohl noch andere Namen; aber das tut nichts zur Sache. Ich kam aus der Hauptstadt des Landes, und ich wußte von väterlichen Erzählungen und aus Büchern schon eine Menge über diesen Wald. In einer gewissen Weise wußte ich sogar mehr darüber als der Stifter-Toni. Aber nur in einer gewissen Weise; denn dieser lebte mit dem Wald, wie man mit Vater, Mutter, Geschwistern, mit Weib und Kind lebt, er war in ihm geboren unter den Signalen der Häher, dem Radau der Finken und dem Gepoche der Spechte; er war von ihm genährt und trank sein Wasser; er kannte seine Lustbarkeiten und Unheimlichkeiten wie die einer Ehefrau. Ich hinwiederum kannte mehr Bezeichnungen, ich wußt, daß Feldspat auch Orthoklas hieß, daß Wasser H,O sei und der Löwenzahn zu den Korbblütlern gehört. Doch mit solcherlei Klassifizierungen brauchte sich weder der Stifter-Toni noch Otti abzugeben, die zu den Dingen der Natur mit eingeborenem Vertrauen oder Mißtrauen standen... (G, S. 221 f.)
66 67 68 69
Ebd., S. 56. Weitere Belegstellen nennt Alfred Doppier in: „Wie sieht Johannes Urzidil Adalbert Stifter?" In: Johannes Urzidil und der Prager Kreis (wie Anm. 50), S. 112, Anm. 14. Gerhard Trapp: Chronik und Menetekel (wie Anm. 55), S. 56; vgl. etwa die Ausführungen zur Figur des tschechischen Försters Jelen in Wo das Tal endet, S. 60f. Johannes Urzidil: Grenzland. In: J. U.: Die verlorene Geliebte. Erzählungen. München 1979, S. 217-244 (künftig mit der Sigle G und der jeweiligen Angabe der Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert).
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Diese Konfrontation unterschiedlicher Welterfahrungen nun - konturiert in den Gegensätzen von Stadt und Land, Natur und Kultur, Naivität und Reflexivität konnte Urzidil schon bei Stifter präfiguriert vorfinden und wie bewußt er diese Anknüpfung gesucht hat, wird aus der Bezugsstelle deutlich - handelt es sich doch dabei um keine andere als die Schmetterlingsepisode aus dem Hochwald, die seiner Schlüsselerzählung über Stifter ihren Namen gegeben hatte. Von einem „Heimwehgefühl nach der Vergangenheit" bewegt, das „bei den geringfügigsten Dingen" hervorbrach, veranlaßt dort im letzten Kapitel „eine ganze Versammlung jener schönen großen Tagesfaltern, die von den vier dunklen, beinahe schwarzen Rügein mit den gelben Randbändern den Namen Trauermantel erhalten haben", Johanna zu der Klage: O ihr armen betrognen Dinger, ihr seid noch Kinder, und alle noch in eurer Kinderstube versammelt; die warme Herbstsonne dieses Platzes log euch heraus, und nun seid ihr da, unheimliche Fremdlinge dieser Sonne, trägen FlUgelschlages in diesem Afterfrühlinge, und gewiß sehr hungrig; denn wo sind die Blumen und die Lüfte und die summende Gesellschaft, die euch das Herz eures Raupenlebens versprach, und von denen euer Puppenschlaf träumte. - Sie werden alle kommen, und dann seid ihr längst erfroren.
Worauf ihr der alte Jäger entgegnet: Da irret ihr euch, Jungfrau, [...] es kommt nur darauf an, ob sie sich vermählen oder nicht. Diese Thierchen sterben bald nach ihrer Hochzeit, und wie oft habe ich nicht eine Mutter todt an demselben Zweige hängen gefunden, um den sie ihre Eier gelegt hatte. Wenn sie sich aber nicht vermählen, so erstarren sie, und seht, in einer Felsritze geduckt, oft in Eis und Schnee gefroren, überdauert dieses zerbrechliche Wesen den harten Winter des Waldes, und erlebt dann seinen versprochenen Frühling. Habt ihr noch nie schon beim beim ersten Sonnenblicke, wenn kaum noch Halm und Gras hervor ist, einen Falter fliegen gesehen mit ausgebleichten zerfetzten Flügeln, wie ein vorjährig verwittert Blatt? - Dieß ist so ein Ueberwinterer.70
Dieses SpannungsVerhältnis zwischen naturwissenschaftlich-rationalen und »naiven', aus Volksglauben und Volksmythologie, aber auch den Erfahrungen der eigenen Lebensgeschichte abgeleiteten Erklärungsmustern ist für das Werk Stifter in vielfältiger Weise konstitutiv: neben dem Hochwald ist etwa auch an Abdias zu denken, wo der Blitzschlag zum einen wissenschaftlich konnotiert,71 zugleich aber auch in den einleitend entwickelten Schicksalsdiskurs einbezogen wird. Wie nahe beide Pole einander kommen können, ist in der Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 förmlich mit Händen zu greifen, wo sich die Faszination und die Gewalt des Naturschauspiels in einem oszillierenden Wechselspiel aus religiöser Andacht und kaum gebändigtem Schrecken entfalten. Und Stifters Werk läßt sich in toto nicht zuletzt auch als ein Versuch lesen, diese untergründig stets vorhandene, bedrohliche Spannung in oft immer wieder neu ansetzenden Schreibakten zu bannen. Eine solche .Versöhnung* gelingt dem Ich-Erzähler weder in Grenzland noch in den anderen hier in Frage stehenden Texten; wie der Trauermantel ist
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HKGl,4,S.299f. HKG 1,5, S. 319.
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auch die 1954 entstandene, im darauffolgenden Jahr erstmals veröffentlichte Erzählung72 die Geschichte einer schwierigen, hier scheiternden Sozialisation. Stifter - der dort als ein Mann, „der dieser Landschaft eine besondere Weihe dadurch verliehen hatte, daß er aus ihr kam und sie liebte" (G, S. 219) in die Erzählung eingeführt wird -, ist von Beginn an präsent, auch wenn sich die Beziehungen zwischen dem armen Häusler Anton Stifter und dessen zwölfjähriger Tochter Ottilie, in deren Haus sich der Ich-Erzähler für einige Sommerwochen einquartiert, auf die Namensvetterschaft beschränkt. Nicht nur der Blitz, der eine der vor dem Haus stehenden Fichten beschädigt hatte, schlägt den Bogen zu Stifters Abdias: in beiden Fällen ist die Familie nach dem Tod der Mutter inkomplett, beide Töchter, deren Namen auf eine Rufform - Ditha und Otti - verkürzt wird, verfügen über jene nahezu magischen, intuitiven Fähigkeiten, „mit Pflanzen und Tieren in rätselhaft harmonischer Weise"73 kommunizieren zu können. Die Kehrseite dieses Einfühlungsvermögen ist ein Defizit an Soziabilität, in die Schulklasse ist die in der Dorfgemeinschaft als „hübsch verrücktes Madl" (G, S. 231) geltende Ottilie nicht integrierbar. Gemeinsam ist beiden auch ihr Solipsismus: während Ditha jedoch die Existenz einer .Außenwelt' von dem Moment, da ihr diese buchstäblich ,in die Augen fällt', durch die Vermittlung ihres Vaters begreifen lernt,74 erweisen sich diese Versuche bei Otti als vergeblich, wenn sie etwa auf die Frage, wer die Welt erschaffen habe, die - aus ihrer Sicht durchaus stringente - Antwort gibt: „Ich hab die Welt erschaffen." (G, S. 230) Wie Gerhard Trapp überzeugend darlegen konnte, hat Urzidil seiner kindlichen Protagonistin eine weitere literarische Figur als Folie unterlegt. So trägt Otti unübersehbar auch Züge von Goethes Mignon, die besonders dort ganz offensichtlich werden, wo es um ihr Sprachverhalten geht; denn gerade Ottis Weigerung, sich den .Sprachregelungen' zu unterwerfen, wie sie in der Sozialisationsinstanz der Schule eingeübt werden, was dann auch in den Geheimcode einer an Assonanzen und Assoziationen orientierten Privatsprache' (G S. 229) mündet, korrespondiert auffällig mit Mignons Widerständen gegen die vielfältigen Bildungsprogramme der Lehrjahre, denen sie vor allem den Tanz oder das Lied - „Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen..."75 - als Medien der (versteckten) Selbstaussage entgegenstellt. Dennoch ist die Figur des heranwachsenden Mädchens mehr als die bloße Adaption oder gar Addition zweier literarischer Vorbilder und gerade hier wird es möglich und lohnend, jenes „Mischungsverhältnis von Authentischem und Fiktionalem",76 wie es für das erzählerische Werk Johannes Urzidils charakteristisch ist, noch näher zu bestimmen. Dieses speist sich aus einem wachen und 72 73 74 75 76
In: Merkur Jg. K (1955), Heft 92, S. 948-963; dann in Die verlorene Geliebte (1956). Gerhard Trapp: Chronik und Menetekel (wie Anm. 55), S. 57. HKG1,5,S. 323. Johann Wolf gang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (wie Anm. 29). Bd. 5. Hrsg. von Jürgen Schings. München 1988, S. 359. Gerhard Trapp: Chronik und Menetekel (wie Anm. 55), S. 54.
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weitgefächerten, nicht nur an der Trias Goethe, Stifter und Kafka orientierten literarischen Traditionsbewußtsein, autobiographischen Elementen, die im Falle der .böhmischen Erzählungen' auf intime Kenntnis von Land und Leuten zurückgreifen können, sowie nicht zuletzt eigenständigen narrativen Expeditionen, einer Lust am fiktionalen Spiel, wie sie am wohl deutlichsten in der Erzählung Kafkas Flucht zu Tage tritt, die dessen Biographie .umschreibt' und dabei den im Verschollenen-Roman eingeschlagenen Fluchtweg als geglückte Wendung durchspielt: „Mit mehr als achtzig Jahren lebte Kafka noch immer als Gärtner auf Long Island. Er war es zufrieden, daß man ihn schon vierzig Jahre vorher totgesagt und seine Flucht nicht bemerkt hatte. Er hatte seine Anfänge keineswegs vergessen, aber er machte davon keinen Gebrauch. Wenn er gelegentlich auf einem Zeitungsblatt seinem Namen begegnete, dann lächelte er listig, weil es ihm gelungen war, unbeachtet das Leben eines einfachen Mannes mit regelmäßigen Gewohnheiten zu führen. [...] Er war kerngesund und Witwer."77 Gerade unter Berücksichtigung dieses letzten Aspekts ließe sich auch fragen, inwieweit Christa Hellings letztlich unentschlossene Kompromißformel vom „genialen Epigonen des Epigonalen", die Lob wie Tadel wohl überpointiert, berechtigt ist, auch wenn ihre differenzierenden Erläuterungen über Urzidils Fähigkeit, das ,AUe, Bekannte, Alltägliche, auch Banale, ja Triviale immer neu zu sagen, den Leser durch immer andere, fast immer höchst merkwürdige Geschichten zu fesseln" ebenso zutreffen wie ihr Urteil über Urzidil als „Meister der kleinen Form".7» Man hat Johannes Urzidil auch einen Dichter der Abschieds genannt,79 und in bewußter Ambivalenz spielt schon der Titel Grenzland auf dieses Leitmotiv an, geht es in dieser Erzählung doch um eine Grenzüberschreitung höchst prekärer Art, an der sowohl Otti, als - auf ihre Weise - auch Ditha und Mignon scheitern: gemeint ist die Schwelle, die im Prozeß der Adoleszenz den Eintritt in die Pubertät, den Übergang vom Kind zur jungen Frau markiert. Der Selbsterkenntnis des jungen Adalbert als .Spiegelbild' seines Vaters im Trauermantel vergleichbar, wird auch Ottis erste Konfrontation mit Sexualität zum Schockerlebnis und zur irreparablen Verstörung, als sie sich zusammen mit dem Ich-Erzähler auf dem Nachhauseweg von einem Dorffest befindet: „Sie hielt an und wies auf den gegenüberliegenden Rand der Wiese. Zwei Menschen lagen dort eng verschlungen. Man hätte nicht unterscheiden können, ob es eine Umarmung oder ob es vielleicht ein Mord war,"(G, S. 238) Wenn das Kind unter diesem buchstäblich .gewaltigen' Eindruck zuletzt zerbricht - im Bild des zerschellenden Tellers dann auch allzu plakativ symbolisiert -, so liegt dies wie mutatis mutandis auch bei Stifter vor allem in der familialen Konstellation begründet, da weder die Väter noch später der Ich-Erzähler den
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Johannes Urzidil: Kafkas Flucht. Zitiert nach: J. U.: Entführung und sieben andere Ereignisse. Zürich/Stuttgart 1964, S. 89. Christa Helling: Johannes Urzidil und Prag (wie Anm. 44), S. 107 und 103. So Hansres Jacobi in: J. U.: Bekenntnisse eines Pedanten (wie Anm. 24), S. 5.
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Halbwaisen die nötige mütterliche Wegbegleitung ersetzen können. Und erst die Antworten und Aufklärungen einer mit der Mutter einst befreundeten Bäuerin (G, S. 240) werden dann ihre Kindheit unwiderruflich beenden. Auch Ditha ist in ihrer Pubertät einer ständigen doppelten Prüfung unterworfen, indem die Fortschritte ihres körperlichen Reifungsprozesses sowohl von Abdias wie dem Erzähler minutiös und dabei vor allem mit besonderer Akzentuierung ihrer wachsenden erotischen und sexuellen Attraktivität registriert werden.80 Und bevor Mignon zuletzt in das geschlechtsneutrale Gewand eines .Engels* gekleidet wird, hatte Wilhelm in seiner fatalen Doppelrolle als Vater und Geliebter ihre in jedem Sinne .bedrängenden' erotischen Signale empfangen. Mignon, Ditha, Judith - drei Geschichten mit tödlichem Ausgang, wobei die aporetische, wahrhaft ausweglose Konstellation im Abdias zum einen aus der topographischen Situation des weit abgelegenen Hauses, zum anderen aus einer .unmöglichen' Gattenwahl entspringt: „Wenn Abdias nun so voraus dachte, wie alles werden würde; wenn er an einen künftigen Bräutigam dachte, so fiel ihm die schöne, dunkle, freundliche Gestalt Urams ein, dem er sie gegeben hätte - aber da Uram todt war, konnte er sich nichts anderes denken, als daß Ditha immer schöner und blühender werden und so fort leben würde."81 Wo der buchstäblich .natürliche' Schritt zum Gewinn einer neuen Identität - sei es als junge Frau, als Braut oder Gattin - nicht gelingt oder aber Sozialisation gewaltsam erzwungen wird, wenn Otti gegen ihren Willen zuletzt „nach Österreich hinüber ins Kloster" (G, S. 241) geschickt werden soll, bleiben Goethe, Stifter wie Urzidil in letzter Konsequenz dann nur noch das Opfer beziehungsweise die (Selbst)Opferung ihrer weiblichen Protagonistinnen. Wie legitim eine solche geschlechtsspezifische Lesart ist, wird mit einem kurzen Seitenblick auf Urzidils Erzählung Morgen fahr' ich heim deutlich, die gleichfalls die Geschichte einer sexuellen Initiation inszeniert, die nunmehr aber aus der Sicht eines heranwachsenden Jungen geschildert wird - und gelingt. Zur Hochzeitsfeier eines Cousins von Prag aufs Land nach Schloß Kopetzen geschickt, wird der „Stadtvetter Hans"82 auf einem Speicher, dessen Atmosphäre an die Eingangspassagen von Stifters Mappe meines Urgroßvaters erinnert, Zeuge eines - auch hier mit „wildem Kampf verglichenen - Beischlafs zwischen der Großköchin Mima und dem Knechts Pawel, den er in ,,jede[r] Einzelheit" mit zugleich „ungeheuerster Begier" wie wachsender Angst gebannt verfolgt, bis er „die entsetzten Augen dem ungeheuerlichen Naturschauspiel" (M, S. 14) abwenden muß und flieht. Am Ende der abendlichen Hochzeitsfeier wird sich die Prophezeiung Pawels - „Wirst es aber auch
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Dies wird bei Stifter förmlich als ,body talk' inszeniert: „So verging eine Zeit, Abdias war fast unablässig bei ihr, und beobachtete die Aeußerungen ihres Körpers" (HKG 1,5, S. 310). 81 Ebd., S. 335. 82 Johannes Urzidil: Morgen fahr' ich heim. In: J. U.: Morgen fahr' ich heim (wie Anm. 50; künftig mit der Sigle M und der jeweiligen Angabe der Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert); S. 8.
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noch lernen" (M, S. 16) - erfüllt und die zu Beginn des Festes „so zart und unberührbar" (M, S. 17) scheinende „schöne Megalone" ihm dieses bislang fremde Terrain erschlossen haben. Was hier als triumphales Erlebnis - „Er erwachte in eine riesige Sonne..." (M, S. 31), heißt es über sein Erwachen und dem anschließenden morgendlichen Bad in einem kleinen Teich förmlich als .Taufe* und Neugeburt empfunden wird, bleibt dem weiblichen Pendant in Grenzland verwehrt, wenngleich sich die Schlußszenen beider Erzählungen auf frappante Weise gleichen: so wird am Ende das Wasser des Plöckensteiner Sees die Leiche des Mädchens freigeben, das dort in auswegloser Verzweiflung den Tod gesucht hat. Und was hier in ein Gefühl neugewonner „Stärke" (M, S. 32) und Gleichgültigkeit mündet, die in der Formel „schadet nichts" (M, S. 33) als Quintessenz .männlicher4 Verhaltensmuster kulminiert, mit deren Hilfe Hans sowohl die Cicerone dieser primae noctis wie den am Ende tödlich verunglückenden Pawel buchstäblich hinter sich lassen wird, findet seine Entsprechung im Grenzland dort, wo der Ich-Erzähler als letztmögliche rettende Instanz versagt und Otti mit der ebenfalls aufs formelhafte verkürzten, wenig tröstlichen Einsicht „Das muß man durchmachen" in den Tod treiben wird. Auf Ottis verzweifelte Bitten um einen konkreten Ratschlag weiß er nämlich nichts anderes als eine Kette von allgemeinen Lebensweisheiten zu entgegnen, die in ihrer Vagheit den Horizont des Mädchens hoffnungslos überfordern und ihrer akuten Notlage nicht gerecht werden können: „Sieh an: das ist das Leben. Ich weiß nicht viel davon. Aber es tut nicht immer, was wir möchten. Das weiß ich schon. Ich glaube, es will versucht sein. Die Fische schwimmen, wie der Bach läuft, oder sie schwimmen auch gegen en Lauf; aber zwischen den Ufern müssen sie doch bleiben. Das weißt du ja." (G, S. 244) Gerade diese Bruchstellen aber, die scheiternde Vermittlung zwischen der .Stifter-Welt' und dem Lebens- und Erfahrungshorizont des Ich-Erzählers, dürfen nicht übersehen werden, wenn es um das Verhältnis Urzidils zu Stifter geht.
Gleiches gilt - was die Figur des Ich-Erzählers betrifft - auch für die beiden Erzählungen Der letzte Gast und Wo das Tal endet, denen abschließend noch ein kurzer Blick gelten soll. Auch hier ist dieser Erzähler nur Gast, ein Außenstehender, dem das Transitorische nicht zuletzt gezwungenermaßen zur Existenzform geworden ist: „Menschen geraten in fremde Länder. Dort ist Heimweh ihre Nahrung, Erinnerung ihre Stärke."83 (LG, S. 74) Dabei erweist sich gerade dieses genau differenzierende Erinnerungsvermögen als ein festes Schutzschild gegen die Versuchungen rückwärtsgewandter Idyllisierung oder
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Johannes Urzidil: Der letzte Gast. In: J. U.: Morgen fahr' ich heim (wie Anm.50; künftig mit der Sigle LG und der jeweiligen Angabe der Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert).
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gar Verklärung: In „die Sommerstube der Kindheit" führt kein Weg zurück oder nur für einen Nachmittag, an dem der Blick des aufmerksam beobachtenden Flaneurs im alten Mühlhof die Gegenwärtigkeit des Vergangenen registriert, dabei aber stets der „Fremde" (LG, S. 82) bleibt; und als er den Ort der Erinnerung verläßt, wird er keine Spuren hinterlassen, mit niemandem gesprochen, sich nicht zu erkennen gegeben haben. Immerhin bleibt die Rückkehr an den Geburtsort des Vaters hier noch möglich - auch in der 1956 publizierten, wesentlich erweiterten Fassung einer im September 1936 erschienen Vorstufe dieser Erzählung. Der Blick von Stingelfelsen berichtet dann von einer anderen Erfahrung, wo sich die Vorahnung, daß der letzte Besuch im Friihherbst 1937 zugleich einen Abschied für immer gewesen sei, rückblickend bestätigen wird. Es ist der ,eiseme Vorhang', der sich als nunmehr unüberwindbare Trennungslinie erweist, es sind die politischen Verhältnisse und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, die eine Rückkehr in die Welt Stifters unmöglich machen, oder aber lediglich als Reisen auf dem Papier gelingen lassen - wo diese politischen Akzentuierungen den Texten dann allerdings freilich fest eingeschrieben werden. Ein Fremder bleibt der Erzähler auch in der 1955 entstandenen, im Jahr darauf publizierten Erzählung Wo das Tal endet, und wenn man diese Böhmerwaldgeschichte zu den .Stifter-Erzählungen' Urzidils rechnet, so zunächst und vor allem deshalb, weil sich der Erzähler in der Abgelegenheit des Dorfes Hirschwaiden Stifters Mappe meines Urgroßvaters vornimmt, deren Lektüre allerdings von der aus einer Lappalie erwachsenen, zuletzt in tödlicher Gewalt endenden Auseinandersetzung zwischen den „Links-,, und „Rechtsbächlern" durchkreuzt wird. Wenn der Erzähler resümiert, daß Stifters „sanftes Gesetz zu jener Zeit dort nicht waltete"84 (WT, S. 262), so wäre es ein Leichtes, hier .nachzuweisen', daß eine solche Auslegung dieses Gesetzes als Formel für eine quasi natürlich vorgegebene harmonische Ordnung von Mensch und Natur auf einem kapitalen Mißverständnis beruhe; daß auch die Welt in Stifters Erzählungen - im Hochwald wie namentlich den Bunten Steinen - Erschütterungen und Einbrüchen ausgesetzt sind, ja, daß „Gewalt, Krieg und Tod nicht Abfall von der Natur", sondern vielmehr „selbst Natur"85 seien; daß dieses sanfte Gesetz mithin reaktiv auf die Rekonstruktion friedlicher Ordnungsprinzipien ziele. Viel aufschlußreicher als dieses Zitament scheint aber vielmehr die Unfähigkeit, genauer: die Machtlosigkeit der „drei Außenseiter" (WT, S. 263) - zu denen der Erzähler neben dem zugereisten Förster Jelen auch den Dorfnarr Alois zählt -, auf die Eskalation von Feindseligkeit und Haß in ihrem zuletzt vollkommenen .Annihilierungsdrang" (WT, S. 263) Einfluß nehmen zu
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Johannes Urzidil: Wo das Tal endet. In: J. U.: Die verlorene Geliebte (wie Anm. 78; künftig mit der Sigle WT und der jeweiligen Angabe der Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert). Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart/Weimar 1995, S. 189.
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können. Der Eigendynamik der Gewalt gegenüber erweisen sich die in humanistischem Ethos wurzelnden Schlichtungsversuche des Försters als wirkungslos. Wo Augustinus in der Mappe zusammen mit dem Obristen auf vielfältige Weise seine .kultivierende' und integrierende Tätigkeit entfaltet, scheitert Jelen als Schiedsinstanz, und auch dem Erzähler bleibt lediglich die Rolle eines Chronisten des Untergangs vorbehalten. Wenn man auch die allzu plakative Parabolik dieser Erzählung tadelt - wobei bekanntlich gerade die Parabel in den 50er Jahren zahlreichen Autoren wie etwa Friedrich Dürrenmatt als adäquates Mittel der Wirklichkeitsgestaltung galt -, so sollte die sozialpsychologische Absicht dabei dennoch nicht übersehen werden: Wenn es in einem Brief des Förster nämlich zuletzt heißt, daß es die Dorfbewohner „jetzt mit der Politik" (WT, S. 269) hätten, so geht es in Wo das Tal endet eben nicht (nur) um eine Abbildung der fundamentalen politischen Antagonismen des Jahrhunderts en miniature, sondern vor allem um die Klärung der psychologischen Mechanismen und Dispositionen, die Menschen erst in solch unversöhnliche Haltungen hineintreiben. Geschichte als Katastrophengeschichte: auch in Stifters Denken ist diese fatalistische Verlaufsform als Gegenpol einer Deutung der Geschichte als „planmäßiges und sinnvolles Kontinuum"86 stets präsent: und auf welche Weise im Zeichensystem der Natur auch politische Umbrüche und Bedrohungen manifest und zugleich metaphorisiert werden, hat gerade die jüngere StifterForschung überzeugend herausgearbeitet. Auch wenn die Bändigung dieser Spannungen oft nur mühsam gelingt und Friktionen wie Bruchstellen sichtbar werden läßt, kann Natur immer wieder auch als „Korrektiv gegenüber gesellschaftlichen Fehlentwicklungen"87 fungieren. So ist auch dem Protagonisten im Letzten Gast ist das Registrieren und Inventarisieren der spätsommerlichen Flora und Fauna die vordringlichste Beschäftigung; wenn er dies allerdings in einer „nahezu verzweifelten Eindringlichkeit"88 tut, so scheint er sein Erkenntnisinteresse in einer für das 20. Jahrhundert durchaus typischen Haltung - man erinnere sich nur an Brechts berühmtes Exilgedicht Schlechte Zeit für Lyrik -, zudem ausdrücklich begründen, ja rechtfertigen zu müssen: Aus verschiedenen Richtungen seltsamerweise ziehen jetzt Wolkenheere gegeneinander auf. Aber die Weite des Himmels vermögen sie nicht völlig zu bedecken und die Sonne in prachtvollen Durchbrachen - zersprengt sie immer wieder. Ich erlaube mir, das alles wichtig zu nehmen, obwohl ich weiß, daß es Mord und Totschlag gibt in der Welt, untergehende Völker, gequälte Menschen, Hungersnöte, Kriege und Kriegsgeschrei. Ich erlaube mir, das wichtig zu nehmen. Es ist meine An des Protestes. (LG, S. 71)
Genau hier verlaufen die Grenzlinien zwischen der Welt Stifters und der des 20. Jahrhunderts, und in dieser Differenziertheit gilt es den Stifter-Spuren in den Erzählungen Johannes Urzidils gerecht zu werden: Wo Stifter in seiner
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HKG 5,4, S. 261. Gerhard Trapp: Chronik und Menetekel (wie Anm. 55), S. 57.
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Vorrede zu den Bunten Steinen das ;Große' und das .Kleine* noch mit Beispielen aus dem Bereich der Naturphänomene bezeichnete, die sich mutatis mutandis auch in den Bereich von Kultur und Geschichte transferieren ließen, brechen gerade bei Urzidil in diese Ordnungsversuche immer wieder die Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts ein, die - so auch in der Erzählung Die Fremden89 - ausdrücklich benannt werden: dies sollte gerade dann nicht aus dem Blick geraten, wenn man Urzidils politisches Credo, wie geschehen, als zu vage oder zu versöhnlich bezeichnet. Nicht kritiklose Nachfolge oder Imitation: vielmehr geht es in diesen Erzählungen auch um eine Auseinandersetzung mit den Kemthesen Stifterscher Poetologie und Programmatik, die auf ihre Gültigkeit wie ihre Historizität überprüft werden. Mit anderen Worten: so konventionell und traditionell das narrative Instrumentarium ist, so wenig läßt sich das Werk und die Person Urzidils auf eine epigonale Stifter-Nachfolge reduzieren. Wo ein waches, die Zäsuren zeit- wie lebensgeschichtlicher Art stets reflektierendes politisches Bewußtsein nicht nur geographische Distanzen schafft, bewahrt ihn auf genuin künstlerischem Gebiet seine Kenntnis und Wertschätzung der literarischen Moderne vor den Gefahren, Stifter als Fluchtpunkt, Modell oder regressive Utopie zu überhöhen und damit zu ideologisieren. In den genannten Erzählungen fungiert dabei der Ich-Erzähler geradezu als Garant des Sentimentalischen: Als ein Landvermesser im doppelten Sinne erkundet und beschreibt er den ihm wie Stifter gemeinsamen Lebensraum und berichtet dabei doch zugleich auch immer von den unaufhebbaren Differenzerfahrungen zwischen einem Einst und Jetzt. Ohne Urzidil damit in eine unmittelbare Nachbarschaft zu den eingangs erwähnten zeitgenössischen Autoren rücken zu wollen, stellt ihn dieses Bemühen um Adaption und .Übersetzung' zweifellos in die dort skizzierte Traditionslinie der Stifter-Rezeption. Wie auch das Interesse für das Periphere, das Mißtrauen in die .großen Geschichten' und nicht zuletzt ein Ethos des genauen Blicks sowohl die Bezüge zu Stifter knüpft, als auch von deren Positionen und Programmen nicht allzu weit entfernt scheint: Manche werden wahrscheinlich fragen: ,Ja was geschieht denn nun eigentlich in diesem Garten? Wir warten immerzu, daß du uns etwas erzählst, irgend etwas Spannendes, Aufregendes, Geheimnisvolles, ein Ereignis, eine Begebenheit wenigstens. Aber du erzählst gar nichts, und offenbar gibt es da auch gar nichts zu erzählen. Solche Gärten gibt es doch zu Tausenden.' Zu Tausenden? Dir phantasiert nach unten. Zu Hundertausenden. Zu Millionen. Ich weiß, ihr hättet gerne von den drei Kriegen gehört, die sich rund um den Garten abgespielt haben, von Ehetragödien, absonderlichen Vorkommnissen oder zumindest von Waldabenteuern. Aber genaugenommen hätte ich dann auch mit dem Garten beginnen müssen, der schräg auf einer Anhöhe über der Landstraße gelegen ist. Und wenn ich nicht streng nähme, hätte das Ganze keinen Wert (LG, S. 78f.).
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Johannes Urzidil: Die Fremden. In: J. U.: Die verlorene Geliebte (wie Anm. 78), S. 348ff.
Alfred Doppier Adalbert Stifter als Briefschreiber
Von Adalbert Stifter sind mehr als tausend Briefe überliefert. Die PragReichenberger-Ausgabe hat in 6 Bänden und einem Nachtrag 938 Briefe veröffentlicht. Dazu kommen 70 Briefe, die verstreut in verschiedenen Publikationen erschienen sind, 37 sind zur Zeit unveröffentlicht, und noch immer tauchen bisher unbekannte Handschriften auf. Das gesamte Briefkorpus soll geschlossen und chronologisch geordnet in der neuen Historisch-Kritischen Gesamtausgabe dargeboten und kommentiert werden. Die Mehrzahl der Briefe, die Stifter von 1826 an als Student und Hauslehrer in Wien geschrieben hat, sind nicht erhalten geblieben. Als Johann Aprent seine Briefausgabe, die 1869 in drei Bänden erschien, vorbereitete, erfuhr er zum Beispiel von Georg Gugeneder, damals Pfarrer in Kahlham und ein Studienkollege Stifters in Wien, daß dieser von 1826 an regelmäßig mit Stifter ellenlange Briefe ausgetauscht habe, Briefe, die er alle 1848 aus Angst, den Freund bloßzustellen, vernichtet hatte. Aprent berichtet in der „Vorrede" seiner Ausgabe, daß auch andere Briefe unwiederbringlich verloren sind: „an drei Orten sind zahlreiche, höchst werthvolle Briefe, die zusammen vielleicht einen Band gegeben hätten, durch Feuer zu Grunde gegangen".1 Die 29 zwischen 1828 und 1837 geschriebenen Liebes- und Freundschaftsbriefe, die Gustav Wilhelm gesammelt hat,2 sind daher nur ein ganz kleiner Teil der damals entstandenen Briefe; völlig aber setzt die Überlieferung aus für die Zeit der ersten Ehejahre Stifters. Am 15. November 1837 hat Stifter in Wien Amalia Mohaupt geheiratet. Von September 1837 bis zum März 1841 ist kein Brief Stifters erhalten; eine Ausnahme bildet nur eine Anfrage vom 9. Februar 1839 an den ehemaligen Zeichenlehrer Georg Riezlmayr, ob es erwünscht und angemessen sei, dem Stift „ein Öhlgemälde als Andenken für die Kremsmünsterer Zeichenschule zu mahlen, und dort aufzuhängen (Ju 97)3. Erst vom Sommer 1841 an, Stifter ist jetzt zur Existenzsicherung nachhaltig bemüht, sich als Landschaftsmaler und als freier Schriftsteller zu etablieren, sind wieder Briefe überliefert, allerdings
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Briefe von Adalbert Stifter. Hrsg. Johannes Aprent. Pest 1869, S. VII. Adalbert Stifters Jugendbriefe. Ausgewählt von Gustav Wilhelm. In ursprünglicher Fassung aus dem Nachlaß herausgegeben, ergänzt und mit einer Einleitung versehen von MorizEnzinger. Graz 1954. Die Jugendbriefe werden fortan abgekürzt mit Ju und Seitenzahl.
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sind es anfänglich nur kurze Schreiben, die finanzielle Angelegenheiten und Terminvorschläge für die Abgabe von Manuskripten zum Inhalt haben. Allmählich aber entfaltet sich das gesamte Gattungsspektrum der Stifterschen Briefe, und zwar: 1. Geschäftliche Briefe, die sich mit der wirtschaftlichen Situation des Schriftstellers befassen. 2. Beruflich bedingte Briefe, die auf die Verpflichtungen des Beamten und Schulrates eingehen. 3. Politische und kulturpolitische Briefe mit Reflexionen über die historische Situation und die Lage der Literatur vor allem in der Zeit der Revolution von 1848 und darnach und während der österreichisch-preußischen Auseinandersetzungen. 4. Briefe, die Bilder und Kupferstiche zeitgenössischer Maler beschreiben und analysieren. 5. Amtliche Schreiben, die bisher noch nicht erfaßt sind, sich aber von bürokratischen Berichten und Eingaben unterscheiden, da sie nicht an eine Behörde, sondern an eine Person gerichtet sind. 6. Überwölbt werden diese Gattungen von den „Herzens- und Freundschaftsbriefen", im Sinne Stifters sind dies die eigentlichen Briefe, es sind ausführliche, ins Detail gehende Plaudereien mit dem Briefpartner, lange Monologe, die vorgeben, ein Dialog zu sein; sie sind Medium der Selbsterfahrung, Selbstenthüllung, vor allem aber der Selbststilisierung und ein Mittel, Gedanken und Empfindungen in Sprache umzusetzen. Stifter spielt darin die Rolle eines Menschen, „der voll Fehler und Irrthümer stekt, aber ein heißes Goldherz hat, und seine Freunde außerordentlich liebt" (Ju 91), dem „ein gutes Herz eigen ist, das nach Höherem strebt" (17/233).4 Die Dinge des Alltags, alle Wünsche, Befürchtungen, Ängste und Sehnsüchte werden auf diese Rolle hin ausgerichtet. Es ist die Hauptrolle, die über den Nebenrollen steht, in ihr proklamiert Stifter, viele Jahre hindurch und von der Jugend bis ins Alter kaum verändert, seine Selbsteinschätzung als Schriftsteller: Seine Schriften sollen „Erhebung oder Besserung zuriik lassen" (18/204), denn aus ihnen gehe „der Same des Reinen Hochgesinnten Einfachen [...] in die Herzen" (18/225), in ihnen liege „ein geringes Korn von Innerlichkeit Würde Reinheit" (18/228), sie - und das wird zum Stereotyp „wollen keinen Anspruch auf Dichterruhm machen [...], aber sie hatten einen edleren Zwek, das Reich des Schönen und Hohen, wovon ein kleiner Theil in meinem Gemüthe wohnt, auf der Erde ausbreiten zu helfen" (19/175). Diese Rollenfixierung bedeutet, daß in den Briefen nur das mitgeteilt wird, was sich mit der Rolle verträgt, die man in den Augen des Briefempfängers spielen
Die in Klammern gesetzte Zahl gibt Band und Seite in der sechsbändigen Briefausgabe der PRÄ an.
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will. Weniger das von einer Empfindung volle Herz und der Wunsch mit dem Briefempfänger Gedanken auszutauschen, wie es der Brieftext vorgibt, sondern die Bedachtnahme, das Bild nicht zu verwischen, das man zu übersenden trachtet, steuert den Briefverlauf und bestimmt den Stil. Wir haben es daher in den Stifterschen Briefen mit einem mehrfach geschichteten Text zu tun: mit einer vom Autor bewußt hergestellten Oberfläche und einer verborgenen Inschrift, die auf Spuren verweist,5 die diesem Bild zuwiderlaufen, und wir haben es mit einer Privatheit zu tun, bei der schon während des Schreibens an eine Veröffentlichung gedacht wird, also mit Formulierungen, die nicht ohne Rücksicht auf die Nachwelt erwogen werden. Diese ineinander verwobenen Textebenen machen die stilistisch-ästhetische Qualität der Briefe aus: Privates wird in einen für die Öffentlichkeit gedachten literarischen Text umgemünzt.6 Diese Briefe können daher nicht allein, wie es in der Stifter-Forschung lange Zeit üblich war, als schlichte autobiographische Dokumente und als Berufungsinstanz für „authentische" Interpretationen gelesen werden.7 Stifter hat selbst mehrmals auf die Literarisierung der Briefe hingewiesen, indem er sowohl seine Herzens- und Freundschaftsbriefe als auch seine kulturkritischen, dem Essay angenäherten Briefe, als wichtige Teile seines „Werkes" bezeichnet. Schon 1837 schreibt er an Sigmund von Handel: Meine Werke werden alle in Briefen geschrieben, und ich beschwöre meine Freunde, bei denen die Kapitel ad mea opera omnia herum liegen, in denen ich wizig, verständig, schwärmerisch und alles bin, nach meinem Tode alles herauszugeben. Sonst fahre ich ab und bin kein Schriftsteller gewesen (Ju 89).
In einem Brief an Louise von Eichendorff vom 2. März 1854 vergleicht er das Briefschreiben mit der Aufgabe „ein Werk zu verfassen" (18/216), im Mai 1854 merkt er in einem Brief an Gustav Heckenast an: „wer weiß, ob dieser Brief nicht gedrukt wird" (18/225), im November 1861 teilt er seinem Bruder Anton die Absicht mit, daß seine Briefe „ vielleicht eine Druklegung erfahren werden" (20/29), und im März und April 1866 bietet er schließlich Heckenast seine Briefe, die er bisher geschrieben hat und noch schreiben wird (vgl. 21/172), zur Veröffentlichung an. Er verlangt dafür „einen Entgelt", nicht allein weil er dringend Geld braucht, sondern „da ja überdies auch diese Werke
Eine ähnliche Schichtung von konventioneller Oberfläche und Spuren, die den Aussagen dieser Oberfläche entgegenstehen, bestimmt auch die Erzähltexte Stifters. Vgl. dazu Alfred Doppier: „Spurenlesen in den Texten Adalbert Stifters". In: Jahrbuch des Adalbert Stifter Instituts 3 (1996; erschienen 1999), S. 144-151. Vgl. Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991: Literarischer Privatbrief und literarisierter Brief, S. 101- 06. Werner Welzig schreibt im Nachwort zu seiner Briefauswahl: „Statt Briefe für biographische Recherchen zu nützen, als könne man durch sie auf das Leben des Autors schauen, [...] böte der Text, wenn man au/ihn sähe, wenn man versuchte, ihm als .künstlerischer Leser' und nicht als .bloßer Stofffresser' zu begegnen, ein kostbares, durch kein anderes Dokument ersetzbares Zeugnis für die Spannungen im Leben des Schreibers" (Adalbert Stifter: Die kleinen Dinge schreien drein. 59 Briefe. Ausgewählt und hrsg. von Werner Welzig. Frankfurt/M. und Leipzig 1991, S. 228f.).
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noch mehr das innerste Eigenthum meiner Seele sind als alle ändern" (21/197). Bei dem von ihm gehegten Plan für die Drucklegung ist er allerdings darauf bedacht, das Selbstbild und die Selbstdefinition seiner Existenz und Tätigkeit nicht zu gefährden: „Nun kann es mir aber nicht gleichgültig sein, wie die Auswahl getroffen würde; denn vieles dürfte so unbedeutend sein, daß es, ohne mein Wesen besonders aufzuhellen, doch einen Kreis von Inhaltlosigkeit um mich zöge, der gerade geeignet wäre, dieses Wesen entscheidend zu trüben" (21/172). Er will daher all die Briefe bezeichnen, deren Veröffentlichung er testamentarisch verbieten will. Zu dieser Bezeichnung der Briefe ist es allerdings nicht gekommen. Wenn die Briefe Stifters als literarische Texte gelesen werden, dann wird die Differenz zwischen der Lebenswelt des Autors und der Schrift, zwischen den biographischen Fakten und ihrer Versprachlichung offenkundig, eine Differenz, die sich aus den Diskursen8 ergibt, in die das schreibende Ich verstrickt ist. Neben der zeitbedingten Empfindsamkeit, einem modischen, schwärmerischen Freundschaftskult und einem biedermeierlichen Herzensbedürfnis nach „Familienglück" (Ju 47) ist dieses Ich beseelt von dem Drang, literarische Werke zu schaffen, und es ist besonders in den Jugendbriefen geprägt von Transformationen Jean Paulscher Texte, und das nicht nur durch wörtliche Anklänge, sondern auch durch die Struktur der Gedanken und Empfindungen, die in Stifter zeitlebens Spuren hinterlassen haben.9 Die Briefe berufen sich unablässig auf die Kraft und „Macht des Herzens",10 auf „ein geheimstes Fühlen [...], was so lebendig vor der Seele steht" (Ju 39), aber trotz vieler Worte unaussprechlich bleibt. In den Briefen an Fanni Greipl strebt Stifter zwar bewußt eine Verbindung mit der wohlhabenden Bürgerstochter an, unbewußt aber treibt ihn die Angst, sich bürgerlich und emotionell zu fixieren. Stifter redet Fanni als „Braut meiner Seele" und als „Braut meiner Ideen" an, und die Liebe wird ausschließlich als geistig-seelische Passion dargestellt: „nur der, der gleichen Reichthum trägt in seiner Seele, wird mich verstehn, und wird wissen, daß das Geistige und Übersinnliche einer unendlichen Stärke und Ausdehnung fähig ist" (Ju 47). Im Kontext des feurigen Herzens beginnt sich das Wort „Liebe" von der außersprachlichen Realität zu lösen und von der Person, auf die diese Liebe gerichtet ist. Am 24. September 1834 schreibt Stifter an seinen Freund Adolf Brenner: Liebe ist die höchste Poesie, sie ist die weinende, jauchzende, spielende Musik - die Männerfreundschaft ist die schweigsame, edle, klare Plastik: jene gibt einen Himmel selig und trunken [...], - diese stellt erst die schönen aber ruhigen Göttergestalten hinein (Ju 63f.).
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Zum Diskursmodell vgl. Ulfert Ricklefs: „Leben und Schrift. Autobiographische und biographische Diskurse. Dire Intertextualita't in Literatur und Literaturwissenschaft (Edition)." In: editio 9 (1995), S. 37-61. Direkte Hinweise auf Stifters Beschäftigung mit Jean Paul geben die Briefe vom 16. August 1832 (Ju 54), 17. Juni 1836 (Ju 83), und 8. Februar 1837 (Ju 90). Noch 1866 weist Stifter darauf hin, daß seine Freunde festgestellt haben, er sein „ein Herzensmensch" (21/173).
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Doch nicht genug, diese poetisierte Liebe und Freundschaft soll durch eine nochmalige Poetisierung überboten werden, von einem Mädchen oder einer Gattin, die in diese Höhe entrückt, Geburtshelferin männlicher Genialität wäre: Freilich der schönste Bund ist es, wenn ein Mädchen oder eine Gattin groß genug sein kann, nicht vor dem weiten Tempel des Mannes, oder vor seiner großen Alpe zu erschreken, sondern bewundernd und jubelnd hineinzutreten oder hinaufzuklettern, und alles freudenreich, als ihr verwandt, ans große Herz zu drüken, und nicht zu sinken (Ju 64).
Genialität und Größe werden hier mit Sprachbildern beschrieben, die Jean Pauls Titan entlehnt sind.11 Das literarische Modell des Titan bestimmt auch die Reaktion Stifters, als man ihm die Korrespondenz mit Fanni untersagt und er an ihrer Liebe zu zweifeln beginnt; er tauscht die Rolle des Albano, in der er sich bisher gesehen hat, mit der des Roquairol, dessen verletzte und gekränkte Seele sich Ausschweifungen hingibt und der zuletzt seinen Selbstmord als Schauspiel inszeniert. An Fannis Bruder schreibt Stifter über die Gefahr der .Ausschweifung": daß ich die Gränzen eines heiter ruhigen Lebens überschreiten, und in Extreme fallen könnte, welche die Harmonie in Wildheit, und Sitte in Unordnung herabstürzen, und indem sie die Wunde nur betäuben, dieselbe nicht nur nicht heilen, sondern vergrößern, und aus einen Unglücklichen einen Sünder machen (Ju 5l).
In einer gleichfalls von Jean Paul inspirierten Bilderfolge wird zwei Jahre später diese seelische Disposition in einem Brief an Adolf Brenner wiederholt: Wann wird denn einmahl dieser Vulkan ausbrennen, ich sehe hier rings so sanfte Fruchthügel, auf denen blauer Himmel und Sonnenschein liegt, und ich stehe darunter ein blizender Krater, auf dem gar wohl süsse Weine wachsen, aber zitternd unter der Drohung vielleicht morgender Vernichtung (Ju 54)12
Im unmittelbar darauffolgenden Brief steht mehrfach das Wort „Leidenschaft": Daß Leute Spieler werden und ohnmächtig sind, sich den Banden dieser Leidenschaft zu entreißen, begreife ich: aber wie ein Mensch, der nicht eben boroirt ist, der flüchtiges Temperament hat, der die Wissenschaften liebt, so hartnäkig eine Leidenschaft nährt gegen ein gutes und sanftes, aber sonst launisches und mädchenhaftes Wesen, das noch dazu ganz unwissenschaftlich ist, das begriffe ich nicht, war ichs nicht selbst. Wir sind uns selber die heillosesten Räthsel (Ju 55).
„Leidenschaft" wird später für alles individuelle und allgemeine Unheil verantwortlich gemacht werden.
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' Vgl die Anmerkung von Moriz Enzinger in Jugendbriefe (wie Anm. 2), S. 111. In Brigitte steht Murai auf dem Vesuv am Rande eines neuen Kraters, was auf seine ausgebrannte Leidenschaft verweist (HKG 1,2, S. 216). Zu Vulkan und Vesuv vgl. die entsprechenden Kapitel in Jean Pauls Titan. - Die vielbesprochene „heitre Blumenkette" in der Einleitung zum Abdias hat gleichfalls eine textliche Vorstufe in Jean Pauls Titan. Im 25. Zykel des 1. Bandes heißt es: „Er ließ ihn keine eiserne Schlußkette Ring nach Ring schmieden und löthen, sondern zeigt sie ihm als hinunterreichende Brunnenkette, woran die auf dem Boden sitzende Wahrheit herauf, oder als eine vom Himmel hängende Kette [...] heruntergezogen werden soll" (Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Erste Abteilung. 8. Band. Hrsg. Eduard Berend. Weimar 1933, S. 121.
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Als Stifter im Sommer 1833 Fanni wieder trifft, ist er in Wien schon längst mit Amalia Mohaupt bekannt; der Zwiespalt, in dem er sich befindet, verwandelt sich im Brief an den Freund in Poesie: Fanni ist nichts weniger als der „klare blaue offne Himmel [...]. O wie viel weniger ist sie schön, als Am., und wie unendlich schöner! [...] Wenn die eine zündet, entzüket und verdammet: so liegt in diesem Auge ein Zauber, der entsiindigt" (Ju 61). Daraus zieht Stifter die Konsequenz: "Ich will dieser Tage dichten — dichten, ich sage dir dichten !!!!! es sind just die zwey rechten Elemente gemischt, Seligkeit und Verwerfung" (Ju 62). Drei Wochen später wiederholt er: „ich bin still und ernst und froh und schmerzhaft und sehnlich Mir thut noth zu produciren, und ich werde es" (Ju 62f.). Seligkeit und Verwerfung scheinen die Voraussetzung zu sein, daß „das Ungeheuerste und Überschwenglichste und Schönste und Erhabenste und Alles" (Ju 84) gelingen könnte, und zwar durch unaufhörliches Schreiben, wie es in dem sechs Seiten langen Freundschaftsbrief heißt. In diesem unaufhörlichen Schreiben erzeugt das Ineinander von Imagination und Lebenswelt einen Schwebezustand, in dem sich der Autor erhoben und aufgehoben fühlt. Es drängt ihn, sich „auf dem unendlich gedehnten weißen Oceane einzuschiffen, und zu segeln, wie's mir beliebte" (Ju 68), er will „am Papier wohnen, essen, schlafen, spazieren gehen, - kurz, recht zu Hause sein - ihn lieben und weit und breit kein Ende machen mit Plaudern" (Ju 80). Herzensbriefe an Freunde und im Laufe der Jahre Briefe an seine Frau werden durch diese Schreibsucht für Stifter zur Lebensnotwendigkeit. Zum Schreiben sollten „Sabbatswochen (Hesperus) eingeläutet sein, im Zimmer alles aufgeräumt und nett, viele Federn geschnitten, vieles schönes zartes Papier, um recht darauf mit dem Abwesenden zu Hause sein zu können" (Ju 84). Diese Briefe sind lang, sie werden an mehreren Tagen hintereinander in Fortsetzungen weitergeführt: „dieser Brief läuft immer fort, ich breche nur hier ab, um so schnell als möglich die He Lieferung fort zu kriegen, morgen schreib ich weiter" (Ju 85). Das SichAusleben in der Sprache, das Bedecken der weißen Blätter mit schwarzen Buchstaben erschafft eine Welt, die zwischen Literatur und Wirklichkeit schwebt und die Zudringlichkeiten und Bedrängnisse des Alltags besänftigt. Da Briefe keine Fiktionen sind und sich an konkrete Personen richten, wirken sie über die Zeit des Schreibens hinaus: Sie wecken Hoffnung auf eine Antwort und eine freundliche Begegnung, die aber wegen der räumlichen Entfernung des Briefpartners nicht durch eine unmittelbare Konfrontation gefährdet wird. Beglaubigt wird das Leben allein durch das geschriebene Wort. Der Schwebezustand zwischen Literatur und außersprachlicher Realität stellt den Übergang von den Jugendbriefen zu den Briefen an Amalia her. Die große Zahl der Briefe, die Stifter an seine Frau geschrieben hat, verdanken sich dieser Grundhaltung. Während der Inspektionsreisen als Schulrat schreibt Stifter Berichte an Amalia über seine Tagesarbeit, die in einem launigen Gegensatz zu den amtlichen Berichten stehen, die er abliefern mußte. Stifter schildert bisweilen auf
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humorvolle Art in kurzen parataktischen Sätzen, wie sehr er sich nach der Bequemlichkeit seiner Wohnung und der ihn umsorgenden Frau sehnt, er kokettiert mit seiner schrecklichen Unbeholfenheit in allen praktischen Dingen und hofft, daß ihm Amalia bei der Heimkehr, ohne zu „keppeln", mit recht heiterem „Angesichte" entgegentrete, ein Wunsch, der oftmals wiederholt wird. Es handelt sich in diesen Briefen um recht umfangreiche schriftliche Plaudereien; aus Steyr zum Beispiel schreibt er innerhalb von zehn Tagen mehr als 21 Seiten. Sie stellen eine ungetrübte Gemeinsamkeit der Eheleute dar: Es schlägt halb neun, nach 9 Uhr ist das Abendessen auf mein Zimmer bestellt, (aus großer Ausschweifung des Gaumens ein Schnizel) und obwohl es so spät an der Zeit ist, beginne ich doch noch an dich zu schreiben, weil mein Herz mit dir beschäftigt ist [...] Du wirst in den „flotten Burschen"13 sizen, die Schauspieler belachen, und mit keinem Hauche an deinen Mann denken, der hier gefangen sizt, und dem Schnizel entgegenhungert. [...] Wagen Kutscher Pferde, alles prächtig; das Wetter aber nicht prächtig; denn im Westen hob sich eine Gewitterwand empor - man bringt das Schnizel, ich muß enden, morgen folgt die Fortsezung (20/120f.).
Das heitere Spiel ist zu Ende, als Stifter im Oktober 1863 ernstlich erkrankt, der Arzt meint, es sei „ein schleichender Tiphus" (20/180), Stifter selbst nennt es ein „Nervenübel" (20/179). Die damit einhergehende Angst beruhigt er mit dem Schreiben langer Briefe: Meine Freude besteht darin, diese schwarzen Buchstaben für dich auf das weiße Papier zu schreiben. [...] Wie sehr die Kunst, genossen und ausgeübt, das Herz erhebt und mit hoher Freude füllt, - wahrhaft beseligend ist nur die Liebe, und zwar nicht die berauschende der jugendlichen Geliebtenliebe, sondern die klare der Gatten und Freunde" (20/161f.).
Wenn ihn ein ruheloser Tag „zusammen gemartert" hat, findet er im Schreiben „die süsseste Erholung" (20/163). Dieser emphatische Ton steigert sich in den Briefreihen, die 1865/66 in Kirchschlag und in den Lackenhäusern geschrieben werden. Wegen seiner Erkrankung, die sich in einer unkontrollierbaren Reizbarkeit auswirkt, flieht er aus Linz. Das führt zu längeren Trennungszeiten, die durch Briefe überspielt werden. In ihnen wird wieder das Modell wirksam, das in den Jugendbriefen den Schwebezustand von Literatur und Alltagswirklichkeit hergestellt hat. Stifter macht sich das Dasein erträglich, indem er - neben seiner Schriftstellerarbeit und oft statt dieser - Briefe an die entfernte „Geliebte" schreibt, und er schreibt beständig; denn in der Zeit zwischen dem Schreiben der Briefe ergreift ihn Angst, die sich als Angst vor der .Jauche" des Linzer Trinkwassers, als Angst vor der in der Nähe von Linz auftretenden Cholera, als Angst um die Gesundheit seiner Frau und als Angst und Verstörung über die politische Entwicklung kundtut. In dieser Situation wird das Briefschreiben an Amalia zum Ritual. Obwohl er mit dem „Witiko" schwer in Verzug ist, schreibt er aus dem 14 Kilometer von Linz entfernten Kirchschlag zwischen dem IS.Oktober 1865 und dem
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Flotte Bursche ist eine Operette von Franz von Suppe\
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29.März 1866 (über Weihnachten und Neujahr war Stifter in Linz) 43 Briefe, die in der Prag-Reichenberger Ausgabe 125 Druckseiten füllen. In dieser Korrespondenz unterscheidet er lange Briefe, die nicht zerstückt werden dürfen, Sonderblätter und fliegende Sonderblättchen. Die langen Briefe sind ihm so wichtig, daß er dagegen die Arbeit am „Witiko" als „Geschreibsel" (21/72) bezeichnet. In einem rhetorisch strukturierten Satz preist er den „Schaz", den er am Tag seiner Vermählung gewonnen hat, wobei Sexualität nicht genannt, sondern in den Subtext verbannt wird, in dem sich Verschweigen, Vergessen und Verdrängung spiegeln: Dein holdes jugendliches Angesicht war von Loken umwallt, und deine großen Augen glänzten freundlich. Es war aber damals gleichsam ein wunderschönes verschlossenes Kästchen, das ich in der Hand hielt. Es konnte ein reicher Schaz drin sein, oder wesenloser Tand, oder gar Widriges und Unseliges. Und die Jahre haben aber gezeigt, daß es ein Schaz war, reicher, als ich ahnen konnte, und so reich, daß jedes Jahr mir an ihm einen größeren Umfang darlegte, ein Schaz von Rechtschaffenheit, Treue, Güte, Einfachheit, Häuslichkeit, Herzenstiefe, Liebe, so daß zulezt deine Schönheit, die mich so bezaubert hatte, dein geringstes Gut war" (21/119).
Er will Amalia in seinem Herzen tragen, im Herzen seines Herzens; der Lohn der Trennung wird sein „blühende Gesundheit, und dann ungetrübtes Beisammensein bis zum Tode, verbunden mit einem mäßigen beruhigten freien und heiterem Leben" (21/115).14 Im Brief vom 8. Dezember 1865 heißt es: „Es ist hier mein größtes Vergnügen, meine Freude und meine Erholung an dich schreiben zu können, du darfst es mir nicht einschränken, wie du in Linz gethan hast" (21/93). Offenbar erkennt Amalia sich und ihren Ehemann in den Briefen nicht wieder, da sie nicht in dem Zwischenreich von Literatur und Leben zu Hause ist. In den Herzensbriefen steht eine Wirklichkeit aus Worten, erst im Anhang, erst in den „Sonderblättem", kommt die prosaische Wirklichkeit zur Sprache. In ihr erfüllt Amalia gewissenhaft und pünktlich die nicht gerade geringen Forderungen ihres Gatten, er braucht zum Beispiel viele Semmeln, Strizel, Weken, Zwiebak, Buchteln, Gugelhupf, Rehrücken, nicht zu wenig Krametsvögel, Repphühner, Haselhühner, Tauben, Kalbsbraten, Fleischextrakt, Bräuhausbier, Wein (sorgfältig versiegelt), Kerzen u.a. Manchmal stoßen die beiden Welten hart aneinander: „Ich schließe dieses Schreiben, indem ich dich im Geiste heiß an mein Herz driike. Schike mir ein Stükchen Ingwer, und wenn möglich, Krametsvögel, jetzt halten sie sich" (21/99). Die Briefserie an Amalia wird fortgesetzt, als sich Stifter nach gemeinsamem Aufenthalt in Karlsbad zur Nachkur wieder in die Lackenhäuser begibt. Dort schreibt er am ersten Tag seines Aufenthalts einen sieben Seiten langen Brief, der ihn in der „eingetretenen Einsamkeit" tröstet: „also wirst auch du diese Buchstaben gerne vor deine Seele gelangen lassen" (21/210), welche die „Gü-
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Der Satz ist ein Gegenstück zum zentralen Satz aus der Vorrede zu den Bunten Steinen: „Wirksamkeit in seinem Kreise Bewunderung des Schönen verbunden mit einem heiteren gelassenen Sterben" (HKG 2,2, S. 12).
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te, Treue, Rechtschaffenheit und Unwandelbarkeit eines Herzens" erneut würdigen (21/231). Neunundvierzig , zum Teil sehr umfangreiche Briefe folgen, sie errichten das Denkmal einer unüberbietbaren Liebe: „Ich glaube, es ist noch nie ein Weib von ihrem Manne so geliebt worden, wie du von mir geliebt wirst. Ich fühle es fast deutlich, daß es eine größere Liebe gar nicht geben kann" (21/145); und diese Liebe wird „vielleicht noch einen recht lieblichen Nachsommer" (21/265) bescheren; daher ist das B rief schreiben „die genugthuendste Beschäftigung" (21/264). In einer Briefkette vom 19. bis zum 27. November 1866 wird der katastrophenartige Schneefall in den Lackenhäusern geschildert. Dieser Schneefall verzögert die ersehnte, aber gleichzeitig gefürchtete Abreise zu seiner in Linz plötzlich erkrankten Frau, gefürchtet, weil er die Angst vor der Cholera nicht bezwingen kann. Die uneingestandene Zustimmung zu dieser Verzögerung schlägt sich in einem ungewöhnlich erregten Briefton nieder. Das in Sprache umgesetzte Leben dominiert das tatsächliche Leben.15 An seinen Arzt Dr. Essenwein schreibt er parallel zu den Katastrophen-Briefen: „Meiner Gattin habe ich über meine Gesundheit gar nichts geschrieben. Und den Schneefall habe ich als Ursache des Wartens dargestellt" (22/73). Wenn man die Haushaltsangelegenheiten abzieht, die in den Briefen behandelt werden, sind die Briefe an Amalia ein Versuch, die Lebenswelt in eine Sprachwelt zu transponieren. Die in den Jugendbriefen artikulierte Enttäuschung: Meine himmelschönen Ideale der Frauenliebe sind elend hin [...]. Wie hätte ich ein geliebtes Weib geliebt und geschmükt mit den Schönheiten, die Gott so unerhört in seiner Welt aufhäufte, und die in der Kunst wiederspiegeln, und dann hätt' ich gejubelt [...], wenn ihr liebes, großes Herz aufgegangen wäre in seine Wunderblüthen" (Ju 82).
Diese Enttäuschung wird durch eine Sprachwelt, in der die „himmelschönen Ideale der Frauenliebe" wiederhergestellt sind, korrigiert. Die Briefe ersetzen die körperliche Präsenz, die sprachlichen Zeichen ersetzen die „Dinge". Der lange gehegten Ansicht der Stifterforschung, daß Stifter unangefochten das allgemeine Gesetz der Schöpfung darstelle und nur das schreibe, was die Dinge fordern, widerspricht dieses Verfahren allerdings . In seinem Brief an Amalia vom 10. August 1866 bricht ungesagt, aber erkennbar, die Spannung durch zwischen dem Glauben an eine metaphysische Ordnung der Dinge und der Gleichgültigkeit der Natur, zwischen der Zuversicht und einer „letzten Unvernunft des Seins" (HKG 1,5. 238). In diesem Brief wird nämlich das Heil in das menschliche Herz verlegt, das sich selbst sein Paradies schaffen muß: „Als Schaz, unsäglich schmerzlich und süß, lag mir dein herzlicher, sanfter, inniger 15
Das gilt auch für die Lebensbeschreibungen in den Erzählungen. In der Narrenburg heißt es dazu: „Bei wessen Tode sich der Fall ereigne, daß man von ihm gar keine Lebensbeschreibung in dem rothen Steine finden könne, der wird als gar nicht geboren betrachtet" (HKG 1,4, S, 322). Unter dem Titel „Unheimliche Entstellung" interpretiert Eva Geulen den TextAwi dem bairischen Walde (Eva Geulen: Worthörig wider Willen. Darstellungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters. München 1992, S. 25-30).
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Abschied in dem Gemüthe, und ich war traurig und gliiklich zugleich. Lasse uns so unsere Herzen bewahren, und Alles Alles ist für uns auf der Erde ein Paradies; denn das Paradies liegt alle Mal in uns, nicht draußen in dem Bau der Welt, der nur durch unser Auge schön wird" (21/266). Das mit ungeheuerem Schreibaufwand geschaffene „Werk" dient nicht, wie es die Textoberfläche nahelegen könnte, der Beschönigung einer zwischenmenschlichen Beziehung oder der Überkompensation eines schlechten Gewissens; in der Verflochtenheit seiner Textstränge ist es der Versuch, ein Gegenbild zu schaffen, in dem Angst, Schmerz und Enttäuschung aufgehoben werden: „Die Briefe sind Dinge, die gar kein Geld eintragen, und ich schreibe sie doch; sie tragen etwas viel Besseres ein: eheliches Glük, eheliche Freude und häusliche Anmuth, und wo diese Dinge eingekehrt sind, dort fließen auch die Gedanken in einem goldenen Strome" (21/182).
Das Ausmaß und die Intensität, mit der Amalia umworben wird, und wie nicht sie selbst, sondern das Bild von ihr zur Sprache kommt, legt einen Vergleich mit den Briefen Franz Kafkas an Felice Bauer nahe, erinnert aber auch an die Briefe, die Karl Kraus an Sidonie Näderny geschrieben hat, zu denen es heißt: „Ich glaube nicht, daß es je einen Menschen gegeben hat, der so heiß um seine Illusionen gerungen hat" (18./19. Februar 1915). Literarische Modelle anderer Art könnten aus den Briefen an Louise von Eichendorff und aus den Freundschaftsbriefen an Gustav Heckenast abgeleitet werden. In den Briefen an Louise von Eichendorff schimmern als Folie die „Briefe von Wilhelm von Humboldt an eine Freundin" durch , die 1847 erschienen sind und 1849 bereits die 3. Auflage erreicht hatten.16 Stifter hat daraus eine Reihe von Texten, ohne sie als Briefstellen zu kennzeichnen, in sein „Lesebuch zur Förderung humaner Bildung" aufgenommen. Die den Briefen Humboldts eigentümliche Darstellungsweise, die sich, von persönlicher Zuwendung und Ratschlägen ausgehend, zu allgemeinen Deutungen von Welt und Leben ausweitet, kehrt in Stifters Briefen an die „liebe, hochverehrte Freundin" abgewandelt wieder.17 Die Briefe an Gustav Heckenast weisen einen beinahe rhythmischen Wechsel von Sach- und Freundschaftsbriefen auf. Die Selbstdefmition des Schriftstellers und Herzensfreundes, an der Stifter vom Anfang bis zum bitteren Ende streng festhält, bestimmt in den Briefen Stilform und Emotionalität; zugleich
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Stifter hatte die beiden Bände dieser Ausgabe in seiner Hausbibliothek stehen. Vgl. Josef van Heukelum: „Humboldt-Lektüre in Stifters Hausbibliothek. Eine Hilfsquelle zu seiner Humboldt-Rezeption". In: Nachrichtenblatt der Rheinischen Adalbert-Stifter-Gemeinschaft 106 (1996), S. 13-17. Im selben Heft schreibt Arthur Brande über „Adalbert Stifter und die Brüder Humboldt" (S. 1-12). Gustav Wilhelm weist im Kommentar zu Stifters Brief an Louise von Eichendorff vom 23. März 1852 auf Humboldt-Anklänge hin, ebenso auf die Tatsache, daß Stifter Briefstellen aus den Briefen an eine Freundin in das Lesebuch zur Förderung humaner Bildung aufgenommen hat (18/416).
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aber ist diesen Texten die Rigorosität der Vermeidungsstrategien eingeschrieben, die das offizielle Selbstbild eines Ordnungs-Stifters aufrecht erhalten. Die Ausgrenzung all dessen, was dem sanften Gesetz entgegenstehen könnte, läuft als zweite Textebene unter der Oberfläche mit, und die Zweischichtigkeit färbt auch die Wertung und Beschreibung der Zeitereignisse ein, die Stellungnahme zur Revolution von 1848 und zum darauf folgenden Neoabsolutismus und die Entrüstung über Napoleon HL und Bismarck. Die ängstliche Loyalität des Beamten Stifter und die Enttäuschung, daß sich die ,Arntsdinge" an ihm versündigen, durchkreuzen einander beständig. Im Brief an Heckenast vom 13. Mai 1854 heißt es: Durch das Heu den Häkerling die Schuhnägel die Glasscherben das Sohlenleder die Korkstöpsel und Besenstiele, die in meinem Kopfe sind, arbeitet sich oft ein leuchtender Strahl durch, der all das Wüste wegdrängen und einen klaren Tempel machen will, in welchem ruhige große Götter stehen; aber wenn ich dann in meine Amtsstube trete, stehen wieder Körbe voll von jenen Dingen für mich bereitet, die ich mir in das Haupt laden muß (18/223f.).
Die hochgespannten Freundschaftsbeteuerungen und die ständig sich steigernden Geldforderungen an den Verleger ergeben einen ähnlichen Kontrast wie in den Briefen an Amalia die Beschreibungen der idealen Gattenliebe und die Sorgen um das leibliche Wohl. Die Thematik der Briefe an Heckenast, die an Umfang und Zahl die Briefe an Amalia übertreffen, konnte hier nur angedeutet werden, doch hoffe ich, gezeigt zu haben, daß das Briefkorpus ein wesentlicher Teil des Stifterschen Gesamtwerkes ist und daß es sich lohnt, Zeit und Geld für eine Überprüfung und Neuordnung der Überlieferung und für eine kritische Edition aufzuwenden.
Peter Greipl
Drei bisher ungedruckte Stifter-Briefe
Anders als seine Dichterkollegen Theodor Fontäne, Gottfried Keller und Theodor Storm steht Adalbert Stifter nicht in dem Ruf, ein vergnüglich zu lesender Briefschreiber zu sein. Allenfalls die Jugendbriefe, die Gustav Wilhelm 1954 herausgegeben hat, erfreuen sich .einer gewissen Beliebtheit; im ganzen haftet dem Briefoeuvre Stifters aber wie seinem poetischen Werk der Ruch des Betulichen, Biederen, Langweiligen an. Wie so viele Stifter-Klischees bedarf indessen auch dieses der Revision. Freilich wird man von ihm nicht die hinreißenden Plauderbriefe erwarten dürfen, wie man sie etwa von Theodor Fontäne kennt. Wer sich jedoch auf den ganz eigenen Duktus der Briefe Stifters einstellt, wird auch dort kleine sprachliche Kunstwerke entdecken können, Zeugnisse dichterischen Selbstbewußtseins ebenso wie Schilderungen seines Alltagslebens und überschwengliche Freundschaftsbekenntnisse. Die im folgenden erstmals publizierten Briefe geben von all dem einen kleinen Eindruck. Der junge Dichter, der nach dem Fjfolg des Condor eine Fülle von Bitten um Beiträge für Almanache und Zeitungen erhielt, sieht sich aufgrund seiner Arbeitsbelastung genötigt, einem Zeitschriftenredakteur die Bitte um einen Beitrag abzuschlagen; gleichzeitig betont er die Ernsthaftigkeit seines Strebens nach Verwirklichung eines ,,reine[n] Reich[s]" des Schönen. Zwei Jahrzehnte später zeigt sich der erfahrene Schriftsteller bereit, auf Wunsch eines Almanach-Herausgebers noch einmal „eine kleine feine Feile" an seine Erzählung Der Waldbrunnen zu legen, um dem eigenen dichterischen Ideal so nahe wie möglich zu kommen. Der letzte Brief ist an den Bildhauer und Holzschnitzer Johann Rint (18141900) gerichtet, der seit Ende 1843 in Linz lebte. Stifter schätzte ihn vor allem wegen seiner Verdienste um die Restaurierung des Kefermarkter Altars, aber auch für seine eigenen Bedürfnisse hat er Rints Fähigkeiten gerne in Anspruch genommen. Die Bestellung von Schrankfüßen in Form von „Bärentazen" ist gewiß kein literarisch bedeutendes Dokument, aber der Ausdruck einer nachgerade kindlichen Begeisterung für die kleinen Kunstwerke, die dem kranken Dichter eine große Freude bereiten, läßt auch diesen Brief als ein anrührendes document humain erscheinen.
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1. An Carl Herloßsohn, 18. Dezember 1846^ Verehrter Herr! Verzeihen Sie, daß ich Ihren geachteten Zeilen2 erst jezt antworte, aber ich war sehr lange durch eine böse Gripp unwohl, und wußte auch während jener Zeit wirklich nicht, ob ich werde bejahend oder verneinend antworten müssen. So sehr mich Ihr Vertrauen ehrt, so sehr ich Ihren Namen hochachte, muß ich leider Ihren Antrag für dieses Mal ablehnen, indem ich contractüch so viel für dieses Jahr zu thun habe, daß mir keine Zeit zu anderweitigen Arbeiten übrig bleibt, namentlich bis März nicht. Vorräthig habe ich gar nichts. Sollten für das nächste Jahr3 die Verhältnisse günstiger werden, so werde ich Ihnen durch die Thomassche Buchhandlung schreiben. Ich drüke Ihnen durch dieses Schreiben meine Freude aus, persönnlich, freilich vorerst nur durch Briefe, mit Ihnen in Berührung gekommen zu sein, den ich schon seit Langem hochachte und liebe. Nehmen Sie die Äußerung dieser Gesinnung gütig auf. Jedes Schöne ist mir so theuer, daß ich immer froh bin, wenn irgend wo um eines mehr in der Welt ist. Dieses reine Reich zu verherrlichen, wäre mein tiefstes Bestreben, wenn nur die Kräfte nicht so weit hinter dem ledeale stünden, und leider äußere Verhältnisse nicht so oft der Sache eine andere Gestalt gäben, als sie hätte, wenn Zeit, Liebe, und Kraft im Einklänge wirken könnten. Ich zeichne mich mit größter Hochachtung] Ihr herzlich ergebener Adalbert Stifter Stadt Seitenstettengasse 495 Wien am 18/12 1846.
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Handschrift im Adalbert-Stifter-Institut Linz. Adresse: „Wohlgeboren / Herrn £. Herloßsohn / per Adresse Theod. Thomas Buchhandlung / in / Leipzig. " - Carl Herloßsohn (eigentlich Georg Karl Reginald Herloß, 1802 oder 1804-1849), zunächst Jurastudent, später freier Schriftsteller und Herausgeber (u.a. seit 1830 die Zeitschrift „Der Komet"). 1847 übernahm er die Redaktion des von Karl Spindler gegründeten Almanachs„Vergißmeinnicht". Nicht überliefert. Erst im „Vergißmeinnicht" für 1849 erschien eine Erzählung Stifters: Die Pechbrenner, später in stark überarbeiteter Form unter dem Titel Granit in die Bunten Steine aufgenommen.
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2. An [Wilhelm Breidenbach], 5. März 1865* Hochgeehrter Herr! In Beantwortung Ihres Schreibens5 vom 26* Februar zeige ich Ihnen an, daß ich den Rest des Honorars6 für die zum Abdruk im Künstleralbum an Sie gesandte Erzählung erhalten habe. Ich sage Ihnen den herzlichsten Dank, daß Sie in dieser Angelegenheit so gefällig gegen mich verfahren sind. Wenn ich durch Wort und Schrift zur Verbreitung Ihres Unternehmens in Österreich etwas thun kann, werde ich es sehr gerne thun, da ich glaube, daß das Unternehmen, so weit ich es kenne, eine rege Theilnahme verdient. Was den Wunsch des H. DJ Müller7 anbelangt, so kann ich Ihnen nur sagen, daß ich, da ich mir in meinen Arbeiten selber nie Genüge thun kann, freundschaftlichem Tadel sehr zugänglich bin. Müller möge mir gütigst schreiben, und mir die Sache auseinander sezen. Ich weiß recht gut, daß ein fremdes Auge eine Schriftstellerarbeit viel sicherer beurtheilt als der Verfasser selber, wenn er erst jüngst das Werk vollendet hat. Überhaupt könnte ich bei dieser Gelegenheit, da der Druk gewiß so bald nicht beginnen wird, noch eine kleine feine Feile an das Werkchen legen, wenn Sie mir einmal die Schrift,8 falls Sie dieselbe zu den Bildern nicht mehr brauchen, auf mehrere Tage einsenden wollten. Was die Kürzung anbelangt, so wird sie leicht statt finden können, da mir der Eingang der Erzählung selber verdächtig vorkam. Ich bitte H. Müller, mir zu schreiben. Mit ausgezeichneter Hochachtung Adalbert Stifter Linz a. d. Donau 5- März 1865.
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Handschrift im Stadtarchiv Köln. Ohne Adresse. Laut Auskunft des Kölner Stadtarchivs ist der Brief an Wolfgang Müller von Königswinter gerichtet, den Herausgeber des „Düsseldorfer Künstler-Albums". Von Müller ist in dem Brief jedoch dreimal als einer dritten Person die Rede. Wahrscheinlich handelt es sich bei dem Empfänger um den Verleger des „Düsseldorfer Künstler-Albums", Wilhelm Breidenbach (vgl. auch Stifters Brief an Carl Hoffmann vom 4. Juli 1866). Es sind drei Briefe von Breidenbach aus dem Jahr 1864 an Stifter bekannt (30. Juni, 17. August und 30. Dezember). Nicht überliefert. Stifter hatte für die Erzählung Der Waldbrunnen, erschienen im „Düsseldorfer KünstlerAlbum", 16. Jg., 1866, 100 Taler in zwei Raten erhalten. Ein Briefwechsel zwischen Stifter und Müller von Königswinter ist nicht bekannt. Die 18 Quartseiten umfassende Handschrift des Waldbrunnen befindet sich im StifterArchiv Prag.
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3. An Johann Rint, 31. März 1865 Hochgeehrter Freund! Die Bärentazen sind so vortrefflich ausgefallen, daß mir nun vor den alten, die unter den großen Kasten gehören, graut. Ich kann sie Angesichts der von Ihnen gemachten gar nicht brauchen. Ich stelle daher die herzliche Bitte, mir nun auch fünf große Bärentazen aus dem gleichen Holze wie die kleinen zu machen. Ich sende eine alte als Muster der Größe mit, glaube aber, daß es besser sein dürfte, die neuen rings herum um '/2 Linie kleiner zu machen. Wenn Sie einem armen Kranken, der sich an jede Freude klammert, eine solche Freude bereiten wollen, so machen Sie mir diese Arbeit sogleich, da der Kasten jeden Augenblik fertig sein kann. Sie werden mir meine Bitte und meine Zudringlichkeit nicht übel nehmen. Ich zeichne mich in Liebe und Hochachtung Ihren stets getreuen Freund Adalbert Stifter Linz am 31* März 1865.
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Handschrift im Adalbert-Stifter-Institut Linz.