133 14 817KB
German Pages 267 Year 2008
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 52
JÖRN AXEL KÄMMERER (Hrsg.)
An den Grenzen des Staates Kolloquium zum 65. Geburtstag von Wolfgang Graf Vitzthum
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Jörn Axel Kämmerer (Hrsg.)
An den Grenzen des Staates
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 52
An den Grenzen des Staates Kolloquium zum 65. Geburtstag von Wolfgang Graf Vitzthum
Herausgegeben von
Jörn Axel Kämmerer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-12821-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Beim Symposion zu Wolfgang Graf Vitzthums sechzigstem Geburtstag im Spätherbst 2001 standen die „Grenzen des Rechts“ im Mittelpunkt. Verbindendes und Trennendes kennzeichnet ihr Verhältnis zu den „Grenzen des Staates“, die genau fünf Jahre später Vortrags- und Diskussionsgegenstand der akademischen Festrunde waren. Die Parallelführung in thematischer und publizistischer Hinsicht – die von Wolfgang März editierten Beiträge des Vorgängersymposions erschienen bei Duncker & Humblot in der gleichen Reihe wie dieser Band – ist einerseits Ausdruck intendierter Kontinuität. Sie lässt andererseits den Unterschied in der Wortwahl umso deutlicher hervortreten: Gerade Staat und Recht, suggeriert sie uns, sind weder stets getaktet, noch stehen sie notwendigerweise im Verhältnis eines Schöpfers zum Geschöpf. Der Staat ist nicht alleiniger Urheber des Rechts, ist dies nie gewesen. Recht, dieser Erkenntnis kann sich auch der Öffentlichrechtler nicht verschließen, ist in erster Linie eine Angelegenheit inter privatos. Wenn solche sich am Staate messen wollen, ja für ihr Recht die höhere Effizienz für sich in Anspruch nehmen, so rührt dies an die Grenzen des Staates, nicht des Rechts. Und auch auf Öffentliches Recht hat der Staat längst kein Monopol mehr: Die Europäische Union – in gewisser Verlegenheit jetzt „Staatenverbund“ getauft, weil für das nie Dagewesene kein Traditionsbegriff bereitstand – macht dem Staat nicht minder Konkurrenz als die Vereinten Nationen, deren Sicherheitsrat sich ihrer als Exekutivorgane für gegen Einzelne gerichtete Maßnahmen bedient. Der rechtstheoretische (und letztlich tautologische) Befund, dass der Staat weiterhin Souveränität innehat, lässt keinen Schluss mehr auf das Maß der ihm verbliebenen politischen Macht zu.
6
Vorwort
Eine alte Grenze, die zwischen Staat und Gesellschaft verlaufende, wird von neuem deutlich – und verschiebt sich möglicherweise zu Lasten des Staates –, wo Privatisierung neuen Raum für „private Selbstregulierung“ eröffnet. Ein konsistenter Grenzverlauf zeigt sich allerdings nicht, Ambivalenzen und Unschärfen prägen das Verhältnis (Jörn Axel Kämmerer). Beim Thema Sport, einem seit jeher durch private Rechtsetzung geprägten Sektor, eröffnen sich dem Staat gleich zwei Fronten, wie Andreas Wax belegt: Seine Herrschaft muss am Kernbereich privater Organisationsprärogative enden, wird funktional aber auch durch die alles überwölbenden Grundsätze europäischen Rechts begrenzt. Doch auch das eigene Selbstverständnis – und somit eigenes Recht – legt dem Staat Zügel an, wie Stefan Talmon insbesondere für den Fall Motassadeq nachweist: Solidarität zwischen Staaten, in diesem Fall die Unterstützung der Terrorismusbekämpfung in den USA, darf nicht die Preisgabe deutscher Grundrechte zur Folge haben. Selbst wo der Staat nur die finanziellen Grundlagen eigenen Handelns zu sichern trachtet, als „Steuerstaat“, stößt er auf Grenzen. Mit Blick darauf räsonniert Bernd Becker über den Widerstreit zwischen Steuerrecht und Demokratieprinzip. Grenzenlos sind staatliche Handlungsspielräume auch dort nicht, wo die Aktionsspielräume, wie bei der Verfassungsgebung, vergleichsweise weit gefasst sind: Narrativen Staatszielen zu weiten Raum gewährenden Verfassungsordnungen etwa droht, wie Daniel Hahn an einer Reihe deutscher Bundesländer belegt, die Dysfunktionalität. Mit Grenzen des Staates sind die der Körperschaft an sich gemeint, aber auch die staatlichen Institutionen gesetzten. Der intrikaten Frage, ob, wann und unter welchen Umständen das Bundesverfassungsgericht zur Vorlage einer Rechtsfrage an den Europäischen Gerichtshof verpflichtet ist, geht Alexander Proelß nach. Wie sehr der Staat Selbstverständnis und Ausdruck in Farben, Fahnen und Flaggen findet, aber auch eine selbstgewählte, rechtserhebliche Begrenzung, legt Philipp Molsberger für Rechtsvergangenheit wie -gegenwart dar, auch wie der Staat in der Kunst, der Dichtung zumal, reflektiert wird. Dass Kunst gar Gegenentwürfe zum real existierenden Staat hervorzubringen
7
Vorwort
vermag, die ihrerseits in die politische Realität hineinwirken, zeigt der Jubilar selbst in einem diesen Band arrondierenden abschließenden Beitrag am Beispiel der Brüder Stauffenberg auf: Ohne ihre Sozialisiation im „Geheimen Deutschland“ um den Dichter Stefan George hätte es die mutige Aktion gegen den „entgrenzten Staat“ am 20. Juli 1944 wohl nicht gegeben. Wesen und Wirken Wolfgang Graf Vitzthums werden in einer Vorrede zu diesem Band durch den langjährigen Kollegen und Freund Thomas Oppermann gewürdigt. Soweit die folgenden Fachbeiträge auf Referaten gründen, die auf dem Tübinger Geburtstagssymposion gehalten wurden, sind ihnen Diskussionsberichte aus der Feder von Michael Allmendinger und Alexander Kees beigefügt. Einige Passagen nehmen auf das Referat von Wolfgang März Bezug, das nicht in diesen Band Eingang gefunden hat, sondern an anderer Stelle erscheinen wird; um der Vollständigkeit der Dokumentation willen wurden diese Passagen beibehalten. Die Manuskripte befinden sich, soweit nicht anders vermerkt, auf dem Stand vom Frühsommer 2007. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich dem Kollegen (und einstigem Vorgänger als Assistent am Lehrstuhl Graf Vitzthum) Wolfgang März, Universität Rostock, der die nicht geringe Mühe auf sich nahm, alle Beiträge in ein einheitliches drucktaugliches Format zu bringen. Hamburg, im Mai 2008
Jörn Axel Kämmerer
Inhalt „Grenzüberschreitungen“. Wolfgang Graf Vitzthum zum 65. Geburtstag Von Thomas Oppermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Staat und Gesellschaft nach Privatisierung. Zur Bedeutung privater Rechtsetzung und Selbstregulierung Von Jörn Axel Kämmerer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Staat und Sport. Grenzen staatlicher und europäischer Regulierungsbefugnisse Von Andreas Wax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte Von Stefan Talmon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Asymmetrische Einkommensteuer und Demokratieprinzip Von Bernd Becker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101
Verfassungsgehaltsgrenzen. Zur Dysfunktionalität eines narrativen gliedstaatlichen Konstitutionalismus Von Daniel Hahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung. Das Bundesverfassungsgericht und die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof Von Alexander Proelß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
Staat und Symbol. Farben, Fahnen, Flaggen in Recht und Dichtung Von Philipp Molsberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177
10
Inhalt
Diskussionsbericht Von Michael Allmendinger und Alexander Kees . . . . . . . .
215
Wider den entgrenzten Staat. Der Weg der Brüder Stauffenberg Von Wolfgang Graf Vitzthum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231
Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum 2003 – 2007 . . . . . . . .
257
Verzeichnis der bei Wolfgang Graf Vitzthum seit 2003 abgeschlossenen Dissertationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265
„Grenzüberschreitungen“ Wolfgang Graf Vitzthum zum 65. Geburtstag Von Thomas Oppermann, Tübingen
Die Organisatoren Deines Geburtstagskolloquiums und Du selbst, lieber Wolfgang, haben mich gebeten, zu Beginn des Themas „An den Grenzen des Staates“ zum Stichwort „Grenzüberschreitungen“ etwas zu sagen. Es ist mir nicht ganz klar geworden, weshalb ich mich mit „Überschreitungen“ befassen soll. Ich habe aber auch nicht rückgefragt. „Grenzüberschreitung“ – das ist so schön allgemein, dass man fabulieren kann, und von diesem Recht möchte ich Gebrauch machen. Für das streng Wissenschaftliche sind gleich nachher die jungen Kollegen zuständig. Zu Deinem unbestrittenen Rang in der vorderen Reihe des Öffentlichen Rechts ist bereits vor fünf Jahren aus dem berufenen Mund Peter Häberles viel gesagt worden, auch von mir. Heute möchte ich mich dem Geburtstagskind mit einigen frei schwebenden Überlegungen zuwenden. Gestern bis Du 65 Jahre alt geworden, wozu ich Dir noch einmal herzlich gratuliere! Das wäre beinahe die erste Grenzüberschreitung gewesen. 65 bedeutete lange Zeit den Eintritt ins Rentenalter. Ich weiß nicht, ob man an Dich gedacht hat – aber pünktlich zu Deinem Geburtstag hat Franz Müntefering die Große Koalition dazu gebracht, das Rentenalter auf 67 hinaufzusetzen! Freilich wäre das in Deinem Fall gar nicht nötig gewesen. Der Professor ist bekanntlich sein Leben lang im Dienst. Er nimmt keinen Urlaub, sondern geht ständig seinen Gedanken nach. Er möchte „in den Sielen sterben“, wie es unser Kollege Wolfgang Zöllner einmal dramatisch ausgedrückt hat.
12
Thomas Oppermann
Außerdem sind 65 Jahre überhaupt kein „Alter“! Älterwerden ist etwas Herrliches. Es ist die einzige Alternative zu einem frühen Tod. Wie wir alle wissen, vollendete Goethe mit 82 Jahren den „Faust“. Adenauer schrieb sein erstes Buch, seine Memoiren, mit 87 Jahren. Michelangelo entwarf mit 90 die Kuppel des Petersdoms, und Tizian malte bis beinahe zum 100. Geburtstag. 65 Jahre – also was soll’s! Von „Grenzüberschreitung“ keine Spur. Gerade hast Du, lieber Wolfgang, das „Handbuch des Seerechts“ und eine neue Auflage des Völkerrechtslehrbuches vorgelegt und bereitest bereits das nächste große Kolloquium mit Aix-en-Provence im Mai kommenden Jahres vor. Und soweit man in Dein Privatleben hineinschauen kann, scheint es auch dort eher um Neubeginn und Aufbruch zu gehen als um Altersruhestand. „Grenzüberschreitungen“. Denkt man an die Jurisprudenz, den Staat und verwandte Gebiete, kann man negative und positive Grenzüberschreitungen unterscheiden. Einerseits ein Eindringen in verbotenes Terrain, indem man entgegen dem Gebot Grenzsperren überwindet. Auf der anderen Seite gibt es ein Niederreißen von Schlagbäumen, welches allgemeinen Beifalls sicher ist. Beispielsweise durch europabegeisterte Jugend Anfang der fünfziger Jahre an der deutsch-französischen Grenze am Oberrhein. Vielleicht hast Du Dich damals daran beteiligt. Drei Arten von Grenzüberschreitungen Es gibt wohl vor allem drei Arten von Grenzen, bei denen man an Überschreitungen denken kann. Das Kolloquium scheint sie sämtlich zu berühren, will sich aber anscheinend in Grenznähe aufhalten: „An“ den Grenzen des Staates heißt es. Wenn ich Dein Werk durchmustere, lieber Wolfgang, fallen mir aber durchaus kräftige Überschreitungen auf. Du bist ein geborener Grenzüberschreiter, manchmal allerdings genau so ein Konservativer, der auf bestimmte Grenzen besonderen Wert legt!
„Grenzüberschreitungen“
13
Da sind zum einen die klassischen Staatsgrenzen, die wir auf den Karten der Erde finden. In erster Linie auf dem Land, aber bei Dir denkt man natürlich genauso an die Grenzen der zunehmend „terraneisierten“ See. Die Fragen um die sogenannte Himmelsgrenze lasse ich hier einmal beiseite, obwohl Deine Tätigkeiten gelegentlich in den Weltraum hinausgreifen. Zweitens kann man von Grenzen der Jurisprudenz sprechen, die gelegentlich überschritten werden. „Das Staatsrecht hört hier auf“, lautet das Thema von Wolfgang März. Auch die meisten anderen Referate scheinen sich in diesen Zusammenhang einzuordnen. Ähnlich den Rechtsgrenzen gibt es Gebote der Religion. Auch tatsächlicher Gebrauch und Gewohnheit, woraus bekanntlich Recht entstehen kann, ziehen ihrerseits Grenzen. Drittens sind da eine Art von „unsichtbaren Grenzen“, die weder physisch noch mit den Geboten des Rechts gezogen worden sind, sondern von höheren Mächten der Moral, des Taktes und Anstandes. „So etwas tut man nicht“. Heute wird gerne von „Tabus“ gesprochen, die gebrochen werden sollen, oder von alten Zöpfen, die abzuschneiden sind. Der Wandel von Anstand und Moral ist besonders wesentlich für den Gesamtzustand einer Gesellschaft.
Staatsgrenzen und ihre Überwindung Ein paar Worte zu den Grenzen des Staates, aber auch zu ihrer heute oftmals geforderten Überwindung. Weshalb haben Staaten ungefähr seit dem Ende des Mittelalters feste Grenzen ihres Gebietes? Das Staatsgebiet und seine Grenzen, die Seegrenzen, das ist zu einem Deiner großen Themen geworden, gipfelnd im Artikel „Staatsgebiet“ in den drei Auflagen des Handbuches des Staatsrechts oder im Abschnitt über den Raum in Deinem Völkerrechtslehrbuch. Seit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts wollen Landgrenzen das eigene Volk von den „Fremden“ scheiden, bis hin zu den „ethnischen Säuberungen“ des letzten Jahrhunderts. Man suchte mittels Eroberung nach
14
Thomas Oppermann
„gerechten“ oder „natürlichen“ Grenzen, ein unerschöpfliches Thema. Inzwischen denkt man wieder an die Überwindung von Staatsgrenzen. Überwindung bedeutet eine positive Grenzüberschreitung, im Gegensatz zur inzwischen vom Völkerrecht verbotenen kriegerischen Überschreitung mit dem Ziel von Eroberungen. Können Nationalstaaten in einer größeren multiethnischen Gemeinschaft aufgehen? Du hast am Beispiel von Bosnien-Herzegowina die Chancen eines multiethnischen Föderalismus und einer multiethnischen Demokratie mit Hilfe auswärtiger Mächte eingehend untersucht. Die Ergebnisse sind bis heute fragil. Einen anderen großen Versuch positiver multiethnischer Verbindung, den Du gedanklich immer wieder begleitet hast, stellt die europäische Integration dar. Ihr Kernstück, der Binnenmarkt, ist laut Definition in Art. 14 EG ein „Raum ohne Binnengrenzen“, und das „Europa von morgen“, wie Du formulierst hast, soll gemäß dem Leitspruch in der immer noch Not leidenden Vertragsverfassung „In Vielfalt geeint“ sein. Wieder anders das Dir nahestehende Seerecht. Hier ist es bisher völkerrechtlich um archaische Grenzausdehnungen im Sinne von „Eroberungen“ gegangen, gemäß einer immer weiter gehenden Beherrschbarkeit des Meeres von der „Kanonenschussweite“ früherer Jahrhunderte bis zur 200-Seemeilen-Wirtschaftszone des großen Abkommens von 1982. Du hast das die „Terraneisierung“ der Meere genannt. Das zukunftweisende „gemeinsame Erbe der Menschheit“ hat gegenüber dem Gebietshunger der Anrainerstaaten große Mühe, sich durchzusetzen. Soviel zu den klassischen Grenzen. Jurisprudenz und Ausgreifen in angrenzende Gebiete Den „Grenzen des Rechts“ war bereits das erste Kolloquium anlässlich Deines 60. Geburtstages gewidmet. Sie spielen auch heute und morgen wieder eine große Rolle. Du hast vor fünf Jahren die Grenze zwischen der Rechtsordnung und der Real-
„Grenzüberschreitungen“
15
ordnung – anders ausgedrückt, zwischen dem Sollen und dem Sein – als die für den Juristen wichtigste bezeichnet. Mit dieser Grenzziehung hast Du Dich oftmals beschäftigt. Wie hat sich das Recht auf die „Realien“ einzustellen? Das gefährliche Wort von der normativen Kraft des Faktischen weist auf eine Unterordnung des Rechts unter die Tatsachen hin. Darf man alles tun, was heute möglich ist und morgen kraft der Fortschritte durch Wissenschaft und Technik? Etwa in der Biotechnologie oder in der Gentechnologie? Du hast Dich zusammen mit Deiner Schule immer wieder mit solchen Fragen befasst und dabei zumeist den konservativen Standpunkt eingenommen, dass es wohlbegründete Gebote an den Grenzen des Rechts gibt, die im Konfliktfall verrechtlicht werden sollten. So siehst Du die Menschenwürde des Art. 1 GG als Unantastbarkeit im Geiste Deines Amtsvorgängers Günter Dürig und gegen den schneidigen Grenzüberschreiter Matthias Herdegen. „Eher Kant als Klon!“ – so lautet einer Deiner entschlossenen Zwischenrufe. „Unsichtbare Grenzen“ oder die Voraussetzungen von Recht und Staat Noch einige weitere Bemerkungen zu diesen „unsichtbaren Grenzen“ des Rechts. Von Ernst-Wolfgang Böckenförde stammt das – durch zahllose Wiederholungen ziemlich abgenutzte – Wort, dass der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Das Diktum braucht deshalb nicht weniger richtig zu sein. Man kann es sogar auf das Recht insgesamt erweitern. Lieber Wolfgang, Du hast Dich immer wieder für Bereiche jenseits der Jurisprudenz interessiert, welche auf die Rechtsordnung einwirken, sie beeinflussen oder sie in extremen Lagen zugunsten höherer Gebote sogar außer Kraft setzen. Die „Gesetze des Geistigen“ hast Du das einmal genannt und Politik und positives Recht gegenübergestellt. Du hast diese höheren Forderungen verschiedentlich in der Dichtkunst gefunden, bei Hermann Broch, einmal sogar Günter Grass, aber natürlich vor allen anderen bei Stefan George, dem seinerzeitigen Künder eines „Neuen“ – zeitweilig schrecklich missverstandenen – „Rei-
16
Thomas Oppermann
ches“. Wir sind vor wenigen Tagen bei der Eröffnung der Stauffenberg-Stätte in Stuttgart wieder daran erinnert worden, welche Gebote gerade aus der Dichtung als der stärksten Formung und Bündelung des Geistigen in bestimmten Situationen hervorgehen können. Bei Claus Schenk Graf von Stauffenberg führte der Weg auf diese Weise vom vermeintlichen Landesverräter zur heutigen Personifizierung des Kämpfers für ein an höheres Recht gebundenes Deutschland. Gustav Radbruch hat das Recht oder sogar die Pflicht zu Grenzüberschreitungen gegen einen „Unrechtsstaat“ kurz nach 1945 bekanntlich in eine berühmte Formel gegossen. Du hast in zahlreichen Schriften wie kaum ein anderer in diesem Sinne den deutschen Widerstand im Nationalsozialismus legitimiert – unter dem schönen Wort Carl Friedrich Goerdelers von der „Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts“. Lieber Wolfgang, man könnte manch weitere Beobachtungen und Überlegungen zu Deiner vielfältigen Spurensuche an den Grenzen des Rechts und des Staates anstellen. Etwa im Zusammenhang mit Deiner kritischen Begleitung des gewisse Grenzen missachtenden Umgangs der Bundesrepublik mit dem Bodeneigentum in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung. Hier würdest Du wahrscheinlich in Umkehr eines Deiner Titel von „Mehr Demokratie als Rechtsstaat“ sprechen. Aber für die Eröffnung eines Kolloquiums, welches sich mit diesen Grenzen und ihrer Überschreitung vielfältig beschäftigen wird, müssen diese kursorischen Bemerkungen genügen. Schließlich wusste schon Oscar Wilde, dass der Redner, der sein Thema erschöpfen will, lediglich die Zuhörer erschöpft. Dir, lieber Wolfgang, und uns allen wünsche ich zunächst ein spannendes Kolloquium, wie es sich ganz offensichtlich anbahnt, und sodann weitere glückliche Jahre zusammen mit den Deinen. Mögen wir Beide in bewährter Freundschaft die Grenzen manch weiterer Jahre überschreiten!
Staat und Gesellschaft nach Privatisierung Zur Bedeutung privater Rechtsetzung und Selbstregulierung Von Jörn Axel Kämmerer, Hamburg*
I. Einleitung: Die Mär vom Staatssterben „Das Staatssterben“, beklagte der Publizist Heribert Prantl am 6. November 2006 in der Süddeutschen Zeitung, „ist weiter vorangeschritten als das Waldsterben.“1 Mit diesem Befund bezog er sich auf die Hinterlassenschaft der Privatisierungswelle, die aus nordwestlicher Richtung in den achtziger und neunziger Jahren auf Deutschland zugerollt war2. Dass sie bis heute nicht abgeebbt ist, zeigen die jüngsten Kontroversen um die Veräußerung kommunaler Wohnungsbaugesellschaften – in Dresden beschlossen, in Freiburg verhindert, in München unterbunden3 – oder um die Weigerung des Bundespräsidenten, das Gesetz zur Neuregelung (lies: Privatisierung) der Flugsicherung auszufertigen4. Bei dieser handelt es sich keineswegs um ein Déjà-vu: Das Gesetz, das auszufertigen sich Köhlers Vorgänger Richard von Weizsäcker 15 Jahre zuvor geweigert hatte,5 war lediglich * Verf., Dr. iur., von 1995 bis 2000 wiss. Assistent am Lehrstuhl des Jubilars, ist seit 2000 Professor für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Bucerius Law School Hamburg. 1 „Der Herbst des Staates“ (S. 3). 2 Vgl. Kämmerer, JZ 1996, 1042 (1042) m.w.N. 3 Vgl. Die Welt vom 14.6.2006, S. 23; Süddeutsche Zeitung vom 14.11.2006, S. 6; kritisch Der Spiegel Nr. 51 vom 18.12.2006, S. 64 ff. („Der große Schlussverkauf“). 4 BT-Drs. 16 / 3262 v. 26.10.2006. 5 Schreiben an den Bundeskanzler, die Präsidentin des Deutschen Bundestages und den Präsidenten des Bundesrates, Bull. BReg. 1991, Nr. 8, S. 46; zustimmend Epping, JZ 1991, 1102 (1104); Riedel / Schmidt, DÖV
18
Jörn Axel Kämmerer
auf die Organisationsprivatisierung der weiter als Behörde fungierenden Flugsicherung gerichtet. Die jetzt ins Auge gefasste Novelle lässt die Beleihung der Deutschen Flugsicherung GmbH mit Luftsicherungsaufgaben an sich zunächst fortbestehen, erlaubt allerdings künftig die Kapitalbeteiligung Privater.6 Während das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu den Traditionsgegenständen des Staatsrechts und insbesondere der Staatslehre zählen, ist das Phänomen „Privatisierung“ erst spät vom öffentlichen Recht entdeckt worden. Zu den Pionieren zählt Graf Vitzthum mit einem Beitrag über die Grenzen der Privatisierung kommunaler Wirtschaftsunternehmen aus dem Jahr 1979. Das kommunale Wirtschaftsrecht hat seither manche Änderung erfahren, aber die Grundaussagen des Aufsatzes7 zum Imperativ des Demokratieprinzips haben an Aktualität nicht verloren. Die neueren Privatisierungsphänomene allerdings, dies soll im Folgenden verdeutlicht werden, lassen sich mit solchen Maßstäben nicht mehr immer fassen – denn wo kein Staat mehr ist, zeitigt das Demokratieprinzip keine Wirkung mehr.8 Prantls Warnung, zu viel Entstaatlichung werde zur Gefahr für die Demokratie, ist, so gesehen, zwar nicht unbegründet. Sie blendet aber mehrere relevante Umstände aus: Erstens verschwindet der Staat nicht, sondern er wandelt sich in der Regel nur vom Leistungs- zum „Gewährleistungsstaat“.9 Wie wirksam der Staat zu agieren vermag und wie weit bei alledem das Demokratieprinzip reicht, ist eine andere Frage. Zweitens: Von der öffentlichen Kritik sind Bereiche völlig ausgenommen, in denen sich Pri1991, 371 (371 f.); Nolte / Tams, Jura 2001, 158 (163 f.); Rau, DVBl. 2004, 1 (1). 6 Näher dazu infra II.4. 7 Verfassungsrechtliche Grenzen der Privatisierung kommunaler Aufgaben, AöR 104 (1979), 580 ff. 8 Vgl. dazu allgemein Säcker, RdE 2003, 305 ff.; Schulze-Fielitz, DVBl. 1994, 657 (659 f.); für abgestuften Anforderungen an die demokratische Legitimation nach Maßgabe der Intensität des grundrechtsrelevanten Handelns Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 193 f.; vgl. auch Ehlers, JZ 1987, 218 (223). 9 Vgl. dazu Schuppert, Staatswissenschaft, 2003, S. 289 ff., 571 ff.; Ritter, AöR 104 (1979), 389 ff.; Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 121; Trute, Die Verwaltung 32 (1999), 73 (94).
Staat und Gesellschaft nach Privatisierung
19
vatisierung gleichsam schleichend vollzieht, ohne dass die Akteure immer dichteren regulativen Kontrollvorgaben unterliegen. Damit sind auch Formen bürgerschaftlichen Engagements, insbesondere in Gestalt von Stiftungen, angesprochen. Drittens muss die Frage aufgeworfen werden, inwieweit der Rückzug des Staates auf Genehmigung, Überwachung und ggf. Verbote durch regulative Vorgaben für die Binnenstruktur der Marktakteure auch kompensiert wird. Nicht vertieft werden kann an dieser Stelle eine vierte, auf die axiomatischen Grundlagen des Gemeinwesens weisende Frage: Inwieweit kann grundrechtlich vermittelte Marktteilnahme, insbesondere wenn sie Effizienzvorteile aufweist, demokratisch legitimiertes Staatshandeln surrogieren? Die Annäherung an die Antworten soll in drei Schritten erfolgen, beginnend mit einer konzis gefassten Darstellung der Wirkungen von Privatisierung auf den Staat und seine Tätigkeit. Der Staat erfährt eine Wandlung hin zum Regulierungsstaat,10 der nach Maßgabe eines, wie Teile der Staatslehre11 es nennen würden, Gewährleistungsverwaltungsrechts operiert. Wie dies geschieht und mit welchen Defiziten der Prozess mitunter behaftet ist, wird sodann an Beispielen veranschaulicht, die dem Kapitalmarktrecht (einer, was häufig verkannt wird, typischen Regulierungsmaterie), dem Stiftungsrecht, dem Hochschulrecht und – nicht nur aus aktuellen Gründen – dem Luftverkehrsrecht entnommen werden. An dritter Stelle steht die Frage nach den künftigen Koordinaten von Staat und Gesellschaft. Manche schreiben das Menetekel von der Götterdämmerung des Staates an die Wände der Parlamentsgebäude,12 andere feiern private 10 Majone, West European Politics 17 (1994), 77 (77, 80); Grande, Vom produzierenden zum regulierenden Staat, in: König / Benz (Hrsg.), Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 578 (586); Kämmerer (o. Fn. 4), S. 489; Schuppert, Die Verwaltung, Beiheft 4, 2001, S. 201 (221); Baumann, DÖV 2003, 790 (792 f.). 11 Grundlegend Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), S. 266 (304 ff.); zustimmend Kißler, in: Gusy (Hrsg.), Privatisierung von Staatsaufgaben: Kriterien – Grenzen – Folgen, 1998, S. 57 (81); Weiß, Privatisierung von Staatsaufgaben, 2002, S. 191.
20
Jörn Axel Kämmerer
„governance“ und „shareholder value“ als Inbegriff neuer Freiheitsspielräume,13 und eine dritte Gruppe deutet Regulierung hoffnungsvoll als Vehikel für „bringing the state back in“.14 So groß sind die Unterschiede zwischen denen, die an die Gemeinwohlsicherung durch Staatshandeln, und anderen, die an die Selbststeuerungskraft der Gesellschaft glauben, dass man versucht ist, resigniert zu antworten: Der echte Ring vermutlich ging verloren. Aus staatswissenschaftlicher Sicht könnte diese Erkenntnis allerdings auch eine Chance bieten – die zu einer unvoreingenommenen Neubewertung des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft. II. Regulierungsstaat – Regulierungsgesellschaft? Die Folgen aufgabenbezogener Privatisierung seien hier in wenigen Worten zusammengefasst: Der Staat zieht sich in den meisten Fällen nicht zurück, sondern bleibt von Verfassung wegen verpflichtet, zum einen den grundrechtlich gebotenen Mindeststandard im Bereich von Leistungen der Daseinsvorsorge zu gewährleisten,15 und zum anderen hat er in Wahrnehmung grundrechtlicher Schutzpflichten private Grundrechtskollisionen zwischen Privatisierungsadressaten und Leistungsempfängern aufzulösen.16 Grundlegende Staatsaufgaben bleiben erhalten, untergeordnete Staatsaufgaben werden abgegeben, dafür aber fallen neue Staatsaufgaben regulativen Charakters an. Der Modus administrativer Tätigkeit wandelt sich: Ihr Gegenstand ist nicht mehr unmittelbare staatliche Leistung von Sachen oder Rechtstiteln, sondern staatliche Gewährleistung privater 12 Hierzu Schulze-Fielitz, Der Leviathan auf dem Wege zum nützlichen Haustier?, in: Voigt (Hrsg.), Abschied vom Staat – Rückkehr zum Staat?, 1993, S. 95 (105); ausführlich Benz, Kooperative Verwaltung, 1994, S. 335 ff. 13 Benz, Die Verwaltung 28 (1995), 337 ff. 14 Begriff von Schuppert, Der Staat 28 (1989), 91 ff.; vgl. dazu auch Fehling, AöR 121 (1996), 59 ff. 15 Dies ergibt sich aus Grundrechtsbestimmungen, aber auch aus speziellen verfassungsrechtlichen Gewährleistungsvorgaben wie z.B. Art. 87e Abs. 4 und Art. 87f Abs. 1 GG. 16 Kämmerer (o. Fn. 4), S. 88; Knauff, Der Gewährleistungsstaat: Reform der Daseinsvorsorge, 2004, S. 89.
Staat und Gesellschaft nach Privatisierung
21
Leistung,17 auch wenn sich der Staat selbst hier weiter des klassischen verwaltungsrechtlichen Instrumentariums bedient, also auch des Eingriffs in die unternehmerische Freiheit der Anbieter – durch Marktzugangsregulierung, Preisregulierung, Güterallokation etc. Insoweit muss Voßkuhles Ansicht, neben den überkommenen Verwaltungsformen der Leistung und des Eingriffs bilde sich ein Tertium namens Gewährleistungsverwaltung heraus,18 mit Skepsis begegnen werden. Der „Gewährleistungsstaat“ ist eine staatswissenschaftliche, keine rechtsdogmatische Größe. Regulierung ist nach meinem bisherigen Verständnis begriffslogisch staatliche Regulierung, nämlich der ordnende und gestaltende Ausgleich gegenläufiger Rechtspositionen, insbesondere bei Marktakteuren, durch Normgebung und Setzen von Einzelakten.19 Im Gegensatz zu einer verbreiteten Auffassung verstehe ich Regulierung nicht als bloß transitorisches Phänomen zwischen einstigem Monopol und freiem Markt, sondern als ein – sektorspezifisches – Kontinuum.20 Der Akzent der vorliegenden Betrachtung liegt auf dem Attribut „staatlich“. Private sind zu neutralem Ausgleich weder fähig noch berufen, da sich in ihren Akten, auch wenn sie mit dem Anspruch gemeinnützigen oder unparteiischen Handelns ergehen, notwendigerweise grundrechtlich geschützte private Egoismen manifestieren. Für eine gleichwertige „private Selbstregulierung“21 ist in einem rechtsstaatlichen System also kein Raum; immer bleiben private 17 Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001, S. 182; König / Benz, in: dies. (Hrsg.), Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 13 (35); Schuppert, Privatisierung und Deregulierung, in: Nettesheim / Schiera (Hrsg.), Der integrierte Staat, 1999, S. 41 (49 ff.); Wieland, Die Verwaltung 28 (1995), 315 (332). 18 Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), S. 266 (307 ff.); vgl. auch supra Fn. 10. 19 Kämmerer (o. Fn. 4), S. 487. 20 Vgl. auch Berringer, Regulierung als Erscheinungsform der Wirtschaftsaufsicht, 2004, S. 111 m.w.N. 21 Aus dem fast unüberschaubar gewordenen Schrifttum Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 169 ff.; Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), S. 235 ff.; Trute, DVBl. 1996, 950 ff.; Kloepfer / Elsner, DVBl. 1996, 964 ff.; Voßkuhle, in: Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und schlankem Staat, 1999, S. 47 (60 ff.); Lübbe-Wolff, NVwZ 2001, 481 (491 ff.); Christiansen, MMR 2000, 123 ff.; Groß, NVwZ 2004, 1393 ff.; Lehmann, GRUR Int. 2006, 123 ff.
22
Jörn Axel Kämmerer
Ausgleichsmechanismen staatsregulativ umhegt. Dennoch gibt es nicht wenige Fälle, in denen Privatisierung entweder selbst in der Rücknahme der staatlichen Kontrolldichte besteht oder mit einem Transfer auch der Regulierungsmechanismen innerhalb der zur Privatisierung stehenden Strukturen auf Private übergeht. Staatliche wird insoweit zwar durch private Rechtsetzung abgelöst, und der Staat beschränkt sich auf Fixierung eines Regulierungsrahmens. Auch die frühen Fürsprecher der Selbstregulierung (die übrigens in der Regel nicht transitorisch verstanden wird) haben indes nie abgestritten, dass die Vorteile der Entlastung des Staates nicht erkauft werden dürfen durch die Erosion des Grundrechtsschutzes und der demokratischen Kontrolle, und räumen ein, dass sie nur in der Form der „staatlich regulierten Selbstregulierung“ und schwerlich als autonomes Steuerungsmodell vor dem Grundgesetz Bestand haben kann.22 Das Diktum von der Verantwortungs- oder Kompetenzteilung zwischen Staat und Gesellschaft23 ist zumindest insoweit verfehlt. Da der Gesetzgeber nun selbst begonnen hat, sich den Begriff der Selbstregulierung zu Eigen zu machen,24 erscheint weiterer Widerstand gegen diese Terminologie allerdings aussichtslos. „Private Rechtsetzung“25 wird im Folgenden als Oberbegriff für ein Gesamtphänomen verwendet, das sich außer in privater Selbstregulierung auch, wie zu zeigen sein wird, in privater Fremdregulierung manifestiert. Von Selbstregulierung soll hier insbesondere gesprochen werden, wenn eine Entität für sich selbst oder wenn eine homogene Gruppe – z.B. Aktiengesellschaften – für ihre eigenen Mitglieder Recht setzt. Im weiteren Sinne kann man darunter aber auch den – meist vertraglichen – Ausgleich zwischen gesellschaftlichen Antipoden, etwa Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden fassen. Spezielles Au22 Vgl. insoweit Burgi (o. Fn. 9), S. 89; Schmidt-Preuß, Rechtliche Rahmenbedingungen selbstregulativer Gemeinwohlverwirklichung, in P. Kirchhof (Hrsg.), Gemeinwohl und Wettbewerb, 2005, S. 19 (S. 21). 23 Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 297 f. 24 § 34b Abs. 4 Wertpapierhandelsgesetz (WpHG); ebenso z.B. § 11a Hamburgisches Pressegesetz. 25 Grundlegend F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 511 ff.
Staat und Gesellschaft nach Privatisierung
23
genmerk soll autonomer Selbstregulierung zuteil werden, also allein auf privater Initiative beruhender privater Rechtsetzung, da sie ein mögliches Indiz für Regulierungsausfall des Staates ist. Wesentlich diffuser ist die Bedeutung heteronomer, d.h. staatlich initiierter, begleiteter oder überwachter Selbstregulierung, die entweder als Inpflichtnahme Privater und damit ihre funktionale Verstaatlichung26 oder als geordneter Rückzug des Staates aus dem Regulierungsgeschäft gedeutet werden kann.27 Tatsächlich ist der Staat, wie zu zeigen sein wird, in manchen Bereichen zum „Durchregulieren“ nicht mehr fähig, da ihm die Sachnähe und damit die Sachkunde für die Erstellung der erforderlichen detaillierten Regulierungskonzepte fehlt. Es wird aber auch zu belegen sein, dass sich der Staat andernorts ohne Not aus dem regulativen Geschäft zurückzieht und damit selbst die Reichweite demokratisch legitimierter Steuerung einschränkt. III. Private und staatliche Aktionsbereiche in ausgewählten Sektoren 1. Unternehmen im Kapitalmarkt: Schein und Sein privater Regulierung Staat und Markt werden traditionell als Antipoden betrachtet.28 Insofern verwundert es auf den ersten Blick wenig, dass der Rückzug des Staates am deutlichsten im Bereich der Marktordnung zum Ausdruck kommt. Moderat fällt er im Wettbewerbsrecht aus: Kraft Art. 1 Abs. 1 und 2 der EG-„Kartellverordnung“ 1 / 2003 bedürfen Vereinbarungen zwischen Unternehmen keiner Genehmigung durch die Europäische Kommission oder nationale Wettbewerbsbehörden mehr, sondern sind nach materiellrechtlicher Maßgabe des Art. 81 EG nunmehr unmittelbar 26
Skeptisch Trute, DVBl. 1996, 950 (955) m.w.N. Vgl. – unter Anführung weiterer Beispiele – Trute, DVBl. 1996, 950 (953 f.): „Regulierungsverwaltungsrecht für private Selbstregulierung“. 28 Vgl. dazu Streit, Das Wettbewerbskonzept der Ordnungstheorie, in ders., Freiburger Beiträge zur Ordnungsökonomik, 1995, S. 57 (61). 27
24
Jörn Axel Kämmerer
erlaubt oder verboten. Diese sekundärrechtlich verfügte Deutung seines dritten Absatzes als Legalausnahme29 führt zu einer Risikoverlagerung auf private Unternehmen30 und wird daher nicht nur positiv bewertet.31 Die von ihnen verlangte Selbstveranlagung32 ist zuallererst Rücknahme präventiver Kontrolle und nicht im engeren Sinne Selbstregulierung. Der Kommission und dem Bundeskartellamt bleibt das Recht zu repressiven Maßnahmen erhalten, die insbesondere im Bußgeldbereich (vgl. Art. 23 VO 1 / 2003) sehr wirkungsvoll sind33. Was die sektorspezifische Regulierung netzgebundener Versorgungsdienstleistungen34 betrifft, die einst meist staatlich monopolisiert waren, also Gegenstand von Privatisierungsmaßnahmen gewesen sind, so scheint sie an Schärfe derzeit zumindest nicht verloren zu haben; dies gewährleistet auch die Zuständigkeitskonzentration bei der Bundesnetzagentur35 und möglicherweise künftig bei einer europäischen Regulierungsbehörde, wenn es nach dem Willen der Kommission geht. Stärker zurückgewichen zu sein scheint der Staat in anderen Marktordnungsbereichen, insbesondere im Kapitalmarktrecht.
29
Art. 1 Abs. 1, 2 VO (EG) Nr. 1 / 2003. Vgl. Deringer, EuZW 2000, 5 (8); Mestmäcker, EuZW 1999, 523 (525 f.). 31 Vgl. Deringer, ebd.; Mestmäcker, ebd., S. 528 f.; a.A. Geiger, EuZW 2000, 165 (166 f.). 32 Vgl. hierzu die Leitlinien der Kommission zur Anwendung von Artikel 81 Abs. 3 EG-Vertrag, Amtsblatt Nr. C 101 vom 27.4.2004, S. 997–1118. 33 Die Höhe der von der Kommission wegen unerlaubter Kartellabsprachen verhängten Geldbußen ist mittlerweile an die Milliardengrenze herangerückt; vgl. Süddeutsche Zeitung vom 22.2.2007, S. 22. Von den wegen Marktabsprachen im Aufzugs- und Rolltreppensektor insgesamt fälligen EUR 992 Mio. Geldbußen entfällt fast die Hälfte (EUR 479,7 Mio.) auf das deutsche Unternehmen Thyssen-Krupp. 34 Zum Begriff der netzgebundenen Versorgungsleistungen vgl. im Überblick Koenig / Kühling / Theobald (Hrsg.), Recht der Infrastrukturförderung, 2004, Einl. S. XIII; vgl. auch die Ausführungen der Monopolkommission, Wettbewerbspolitik in Zeiten des Umbruchs, Hauptgutachten 1994 / 95, 1996, S. 25, Tz. 49; C. von Weizsäcker, WuW 1997, 572 (572). 35 Vgl. Gesetz über die Bundesnetzagentur vom 7.7.2005, BGBl. I S. 1970; Angenendt / Gramlich / Pawlik, LKV 2006, 49 ff.; Kühne / Brodowski, NVwZ 2005, 849 (855 ff.). 30
Staat und Gesellschaft nach Privatisierung
25
a) Finanzanalysten: Staatlich kanalisierte „Selbstregulierung“ Die Verhaltensmaßstäbe für Finanzanalysten seien an dieser Stelle besonders hervorgehoben, weil sie eine der raren gesetzlichen Regelungen sind, in die das Wort „Selbstregulierung“ ausdrücklich Eingang gefunden hat. Der Staatsrechtler hat sich der (durch die Marktmissbrauchsrichtlinie europarechtlich vorgezeichneten36) Entscheidung des Gesetzgebers zu beugen, auch wenn sie konzeptionell wenig durchdacht sein mag. Das vor allem im Wertpapierhandelsgesetz niedergelegte Kapitalmarktrecht ist im Kern eine klassische öffentlich-rechtliche Regulierungsmaterie. Unter anderem regelt es, wie Finanzanalysen zu erstellen und zu präsentieren sind, und sichert so die Transparenz sekundärer Kapitalmärkte. Nach Maßgabe der Kommissions-Richtlinie 2003 / 125 / EG37 hat der Bundesgesetzgeber in § 34b WpHG die Finanzanalysten einer Reihe von Pflichten unterworfen, deren Einhaltung durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BAFin) überwacht wird. Diese Regeln gelten nach § 34b Abs. 4 aber nicht für Journalisten, die einer den gesetzlichen Regelungen vergleichbaren Selbstregulierung unterliegen. Auslegen müssen wird man die übrigens ausgesprochen kryptisch gefasste Vorgabe in der Zusammenschau mit § 34c wie folgt: Finanzanalysten können sich, indem sie die Anzeige ihrer Tätigkeit gegenüber der BaFin mit dem Nachweis eines innerbetrieblichen Selbstregulierungskonzepts verbinden, von deren verwaltungsrechtlicher Kontrolle freikaufen, solange das Konzept das staatliche Regulierungsmodell imitiert.38 Damit aber erweist sich die versprochene Selbstregulierung als pure Fassade: Nicht nur gibt der Staat en détail Parameter für sie vor, sie ist also ihrerseits staatlich reguliert, sondern ob sie den gesetzlichen Vorgaben genügt, unterliegt wiederum behördlicher Prüfung. Vermutlich aus Rücksicht auf die Pressefreiheit der 36 Vgl. hierzu die Richtlinie 2003 / 6 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.1.2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), ABl. Nr. L 96 vom 12.4.2003, S. 16. 37 Richtlinie 2003 / 125 / EG der Kommission vom 22.12.3003, Abl. Nr. L 339 vom 24.12.2003, S. 73. 38 Näher dazu Kämmerer / Veil, BKR 2005, 379 (383 ff.) m.w.N.
26
Jörn Axel Kämmerer
Journalisten39 wird der sie beschäftigende Finanzanalyst zum Vasallen der BAFin erklärt. Private Selbstregulierung, wie das WpHG sie versteht, ist eine fast identische Kopie der gesetzlichen Vorgaben, nur hat sie, formal gesehen, einen anderen Urheber. In funktionaler Hinsicht wird der Private dem Staat damit angeglichen. Was mit einer solchen Form der „privaten Regulierung erreicht werden soll und ob dem möglichen Ziel, Journalisten mit Blick auf Art. 5 Abs. 1 GG Schonung zu gewähren, mit einer Beschränkung des Analysten auf die formale Urheberschaft der Regulierungsrechtsakte gedient ist, erscheint bei alledem mehr als zweifelhaft. b) „Deutscher Corporate Governance Kodex“: Staatlich anerkannte private Gesetzesergänzung Ein beachtliches Maß an Autonomie scheint privaten Akteuren beim Erlass von Kodizes eingeräumt zu sein, die überwiegend als „soft law“ gelten, aber vom Gesetzgeber durchaus in Bezug genommen werden. Ein typisches Beispiel, diesmal aus dem Grenzbereich von Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, ist der Deutsche Corporate Governance Kodex von 2003.40 Auch bei diesem handelt es sich nicht um ein auf privater Initiative beruhendes Produkt; tatsächlich gab den Anstoß zu seiner Entstehung die Bundesregierung, die 2001 eine Kodexkommission aus Wissenschaftlern und Praktikern (aber ohne Politiker) einsetzte.41 Corporate Governance wird als der rechtliche und faktische Ordnungsrahmen für die Leitung eines Unternehmens verstanden42 und hat damit über den Gesellschaftsvertrag hinaus immer auch gesetzliche Wurzeln. Der Kodex erkennt dies, so39 Vgl. dazu Begründung Regierungsentwurf zum Anlegerschutzverbesserungsgesetz, BT-Drs. 15 / 3174, S. 39; zustimmend Spindler, NZG 2004, S. 1138 (1141 f.); zum Journalistenbegriff im Rahmen von § 34b WpHG ausführlich Kämmerer / Veil, BKR 2005, 379 (380 f.) m.w.N. 40 In der aktuellen Fassung abrufbar unter www.corporate-governancecode.de; abgedruckt außerdem in NZG 2003, S. 21. 41 Vgl. zur Entwicklungsgeschichte und zur Zusammensetzung der Kommission Ringleb, in: von Werder / Ringleb (Hrsg.), Deutscher Corporate Governance Codex, 2. Aufl. 2005, Vorb. Rn. 9 ff. 42 Vgl. dazu Ringleb (o. Fn. 41), Rn. 1.
Staat und Gesellschaft nach Privatisierung
27
weit er rechtsbeschreibend wirkt, durchaus an, geht jedoch in manchen Bereichen in einer Weise darüber hinaus, die ihn einer privaten Metagesetzgebung nahe kommen lässt.43 Für die Unternehmen verbindlich ist er nach h.M. gleichwohl nicht44 und damit auch nicht vollstreckbar. Anderes gilt für die Pflichten, die der Gesetzgeber an den Kodex knüpft: Nach § 161 AktG müssen Vorstand und Aufsichtsrat jährlich erklären (und die Erklärung den Aktionären dann zugänglich machen), dass den im elektronischen Teil des Bundesanzeigers bekannt gemachten Empfehlungen des Kodex entsprochen wurde. Wurde und wird davon abgewichen – was Unternehmensstruktur oder -ethos durchaus einmal nahe legen können –, ist dies ebenfalls zu notifizieren. Die Einschätzung Di Fabios,45 im Selbstregulierungsmodus des Kodex komme nicht staatliche Schwäche, sondern vielmehr staatliche Stärke zum Ausdruck, scheint ihre Bestätigung darin zu finden, dass er ohne die Initiative der Bundesregierung wohl nicht zustande gekommen wäre. In diesem Fall wäre den Privaten nicht Ausgestaltungsfreiheit zugestanden, sondern gegolten hätte das nur in Grenzen dispositive Gesetz. Andererseits ist der Kodex offenkundig Frucht der Erkenntnis, dass die gesetzlichen Vorgaben zur Steuerung der Organe von Aktiengesellschaften nicht ausreichen, ohne dass deren Präzisierung erwogen worden wäre. Tröstlich für Staats- und Verwaltungsrechtler mag die Unverbindlichkeit des Kodex sein, dessen Nichtbeachtung lediglich im Binnenverhältnis gegebenenfalls haftungsrelevant ist.46 Letztlich dient er der Selbstvergewisserung der Unternehmen über die eigenen Rechte und Pflichten. Einwände, 43 Dies gilt z.B. für die Bestellung der Mitglieder und die Funktionsweise des Aufsichtsrates, Nr. 5 des Kodex. 44 Vgl. RegE, BT-Drucks. 14 / 8769, Begründung zu Nr. 16; Semler, in MüKo-AktG, 2006, § 161 Rn. 29 f.; Bachmann, WM 2002, 2137 (2139). 45 „Der CEO kommt – der Gesetzgeber geht? Der Corporate Governance Kodex in der Unternehmenspraxis“, Vortragsveranstaltung an der Humboldt Universität Berlin, 6.5.2002 (zit. n. Ringleb [o. Fn. 41], Rn. 65 m. Fn. 135); zustimmend auch Hommelhoff / Schwab, in: FS Kruse, 2001, S. 693 (712 ff.). 46 Semler, in: MüKo-AktG, § 161 Rn. 188 ff.; Borges, ZGR 2003, 508 (514 ff.); Lutter, in: von Werder / Ringleb (Hrsg.), Deutscher Corporate Governance Kodex, 2005, Rn. 1626 ff.
28
Jörn Axel Kämmerer
er sei als mittelbar staatliche Maßnahme demokratiewidrig erlassen worden, sind mit Recht zurückgewiesen worden,47 und als nichtstaatliche Maßnahme braucht der Kodex auch den Verhältnismäßigkeitsanforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG – anders als dem Art. 49 EG – nicht zu genügen.48 c) IFRS: Private Gremien als „think tank“ des Staates Von einer unabhängigen Stiftung aus Delaware wird das International Accounting Standards Board (IASB) mit Sitz in London getragen,49 das allgemeine internationale Standards für die Rechnungslegung mit dem Ziel entwickelt, die Konvergenz der nationalen Vorschriften zu fördern. Die IASB-Mitglieder müssen wissenschaftliche Erfahrung mitbringen; daneben bestehen 22, vor allem aus transnationalen Unternehmen rekrutierte Trustees, während im Advisory Board vor allem die Präsidenten von Notenbanken, aber auch der Weltbankpräsident, vertreten sind. Mit der Verordnung (EG) Nr. 1606 / 200250 hat die EG beschlossen, die vom IASB entwickelten IFRS51 – International Financial Reporting Standards – zur Grundlage der schnelleren Vollendung des Binnenmarktes im Bereich der Finanzdienstleistungen zu erheben. Die Kommission wurde ermächtigt, durch Erlass von Durchführungsverordnungen die IFRS, wenn sie bestimmten inhaltlichen Mindesterfordernissen (Art. 3) entsprechen, für verbindlich zu erklären. Dies ist seither in einer Reihe von Fällen52 auch geschehen. Das IASB betreibt i.e.S. keine Selbstregu47 In diese Richtung Heintzen, ZIP 2004, 1933 (1933 f.); Seidel, ZIP 2004, 285 (289); a.A. Bachmann, WM 2002, 1569 (1571); Lutter (o. Fn. 46), Rn. 1623 f. 48 Petersen, Unternehmensführung und Unternehmensprotokolle in Aktiengesellschaften, 2006, S. 71; a.A. Seidel, ZIP 2004, 285 (291). 49 Vgl. Angaben des IASB unter www.iasb.org. 50 Verordnung EG Nr. 1606 / 2002 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 19.7.2002 betreffend der Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. Nr. L 243 vom 11.4.2002, S. 1. 51 Hierzu F. Kirchhof, Außerstaatliche Normsetzung am Beispiel von IFRS – Perspektiven und rechtliche Probleme, in: Hopt / Veil / Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im europäischen Binnenmarkt, 2008 (im Erscheinen).
Staat und Gesellschaft nach Privatisierung
29
lierung, da es sich nicht in erster Linie um eine von den Adressaten der Regeln gestützte Normgebung handelt, wohl aber um private Rechtsetzung. Diese Rechtsetzung aber bleibt unvollkommen: So sehr die Regeln auf Verbindlichkeit gerichtet sind, sie bedürfen hierfür dennoch eines staatlichen Normanwendungsbefehls. Man könnte von einer Teilprivatisierung der Regulierung sprechen oder auch von einer regulativen Symbiose von Staat und gesellschaftlichen Kräften: Wohl bleibt die Durchsetzung der Regelungen Angelegenheit der BAFin und damit – funktional – des Staates, doch der Inhalt der Regulierungsvorschriften ist privat vorgeprägt. Dies haben die IFRS zwar z.B. gemein mit Tarifverträgen, die für allgemeinverbindlich erklärt werden, nur findet insoweit keine Ersetzung staatlicher Regulierung durch private statt, sondern das Gegenteil ist – unter Ausreizung des verfassungsrechtlichen Spielraums übrigens – der Fall. Mit der verbindlichen Übernahme von IFRS verzichtet die EG darauf, selbst Norminhalte zu formen, obschon dies rein formal ihre Aufgabe wäre; die hoheitliche Normsetzung wird zur hoheitlichen Fassade. Ist dieses Verfahren demokratiewidrig? Verfechtern dieser Ansicht53 ist entgegenzuhalten, dass die IASB-Normen nicht automatisch übernommen werden, sondern es zu ihrer Verbindlichkeit eines Normanwendungsbefehls der Kommission bedarf und dieser durch VO (EG) Nr. 1606 / 2002 insoweit Prüfungspflichten auferlegt sind.54 Wenn das Verdikt der Demokratiewidrigkeit überhaupt gefällt werden kann, dann darf es allenfalls auf die allzu lange Legitimationskette bei delegierter Rechtsetzung durch die Kommission gestützt werden.55 52
Vgl. z.B. Verordnung (EG) Nr. 2106 / 2005 der Kommission vom 21.12. 2005, ABl. Nr. L 337 vom 22.12.2005, S. 16, betreffend IAS 39 „Bilanzierung von Fremdwährungsrisiken“; Verordnung (EG) Nr. 211 / 2005 der Kommission vom 4.2.2005 betreffend der Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. Nr. L 41 vom 11.2.2005, S. 1, betreffend IAS Nr. 12, 16, 19, 32, 33, 38 und 39 „Bilanzierung von anteilsbasierten Vergütungstransaktionen inkl. Aktienoptionen für die Unternehmensleitung und die Belegschaft“. 53 P. Kirchhof, ZGR 2000, 681 (689 ff.). 54 Art. 3 Abs. 2 VO (EG) Nr. 1606 / 2002. 55 Auch dieses Argument steht aber auf tönernen Füßen. Es ist weithin anerkannt, dass der Rat bei der Wahrnehmung der Delegationsrechte ungeachtet des Wortlauts von Art. 202 S. 1 Spstr. 3 EG nicht allein handelt,
30
Jörn Axel Kämmerer
Dass aus dem quasi-notariellen Zertifizierungsverfahren durch die Kommission am Ende bessere und konsistentere Normen hervorgehen, als sie die Gemeinschaftsbürokratie mit Hilfe einzelner privater Rechtsexperten hätte entwickeln können, sollte allerdings auch bedacht werden. Die Überforderung des durch zu viele Aufgaben überlasteten Staates ist oft beschworen worden. Zu wenig Aufmerksamkeit wird der Überforderung des Staates mit der Regelung einer Materie aufgrund ihrer extremen Komplexität zuteil, die eine Regulierung mit formeller Beteiligung der sachnahen und sachkundigen privaten Regelungsadressaten im Grunde unentbehrlich macht. Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten, dass sich im vermeintlich staatsfeindlichsten Bereich des Aktien- und Kapitalmarktrechts, dem Reich der „Heuschrecken“, noch keineswegs eine Gegenbewegung zum Staat herausgebildet hat. Ganz im Gegenteil verleiht die regulierende Kraft des Staates den Marktakteuren die erforderliche Transaktionssicherheit. Selbst wo es ihr an Wirkmächtigkeit fehlt und sich staatliche Regulierung auf die Zertifizierung oder auch nur Beglaubigung privater Normierungskonzepte beschränkt, ist die hiervon ausgehende Legalisierungswirkung für das Marktgeschehen essenziell. Nicht überall aber fügt sich private Rechtsetzung so harmonisch ins Bild. An anderen Stellen – für die hier exemplarisch die Akkreditierung von Studiengängen genannt werden soll – ist Regulierung heute nicht nur nahezu staatsfrei, sondern die klassische Regulierungsbeziehung scheint sich umzukehren: Reguliert werden auch Organe des Staates, der Regulator aber ist ein privater Akteur.
sondern dass je nach Sachmaterie auch das Parlament beteiligt ist; vgl. EuGH, Rs. C-259 / 95, Slg. 1997, I-5303, Rn. 26; explizit auch Wichard, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EU- / EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002, Art. 202 Rn. 18; Jacqué, in: von der Groeben / Schwarze, EU- / EG-Vertrag, Bd. IV, 6. Aufl. 2004, Art. 202 Rn. 5. Dann aber unterscheidet sich der Erlass von Durchführungsrechtsakten, bei dem das Parlament nur am Rande mitwirkt (vgl. Wichard, a.a.O., Rn. 19), vom Erlass von Verordnungen der staatlichen Exekutive – dessen Demokratiekonformität kaum bezweifelt wird – nur wenig. Kritisch mit Blick auf das zur Anwendung gebrachte Komitologieverfahren allerdings F. Kirchhof (o. Fn. 51).
Staat und Gesellschaft nach Privatisierung
31
2. Hochschulrecht: Ansätze zu privater Fremdregulierung Welchen materiellen Voraussetzungen Studiengänge zu genügen haben, ergibt sich eigentlich aus dem Hochschulrecht der Länder. Für die von der EG im Rahmen des sog. Bologna-Prozesses56 geförderten Bachelor- und Masterstudiengänge, überdies auch für postgraduale und neue Studiengänge, ist aber neuerdings bestimmt (für Hamburg beispielsweise in § 52 Abs. 8 HmbHG), dass die Hochschulen eine Akkreditierung in einem „anerkannten Verfahren“ vornehmen lassen. Der Passus „anerkanntes Verfahren“ verweist zunächst auf nordrhein-westfälisches Recht und von dort weiter auf private Rechtsetzung. Denn vorgenommen wird die Akkreditierung von derzeit sechs Akkreditierungsagenturen – gemeinnützigen Vereinen, die das Qualitätssiegel des Deutschen Akkreditierungsrates führen.57 Der Akkreditierungsrat ist Organ einer durch nordrhein-westfälisches Gesetz vom 15.2.2005 auf Initiative der Kultusministerkonferenz gegründeten öffentlich-rechtlichen Stiftung. Das Stiftungsgesetz58 regelt die Zusammenarbeit zwischen Rat und Agenturen, überlässt die Akkreditierungsmaßstäbe aber weitgehend den Letzteren. Manche unter ihnen sind gemeinsame Gründungen von Hochschulen oder Ländern, andere gehen auf private Initiativen 56
Vgl. zum Bologna-Prozess die Erklärung der europäischen Bildungsminister vom 19.6.1999, abrufbar unter www.bologna-berlin2003.de; vgl. auch das sog. Londoner Kommuniqué vom 18.5.2007, www.bmbf.de / pub / Londoner_Kommunique_Bologna_d.pdf („Auf dem Wege zum Europäischen Hochschulraum. Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung“). 57 Agentur für Qualitätssicherung durch Akkreditierung von Studiengängen (AQAS); Akkreditierungsagentur für Studiengänge der Ingenieurwissenschaften, der Informatik, der Naturwissenschaften und der Mathematik (ASIIN); Akkreditierungsagentur für Studiengänge im Bereich Heilpädagogik, Pflege, Gesundheit und Soziale Arbeit e.V. (AHPGS); Akkreditierungs-, Certifizierungs- und Qualitätssicherungs-Institut (ACQUIN); Foundation for International Business Administration Accreditation (FIBAA); Zentrale Evaluations- und Akkreditierungsagentur Hannover (ZEvA). 58 Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Stiftung zur Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland“ vom 15.2.2005, GVBl. NW vom 25.2.2005, S. 45 ff.
32
Jörn Axel Kämmerer
zurück. Das Problem mit den Akkreditierungsagenturen besteht darin, dass sie die Erfüllung bestimmter Eigenschaften evaluieren, die sie – jeweils für sich – vorgeben, um die Hochschulen auf den internationalen Wettbewerb besser vorzubereiten. Die Akkreditierung ist keine Pflicht, ist auch nicht notwendigerweise an Qualitätskriterien ausgerichtet, verleiht aber Studiengängen ein Prädikat, das letztlich auch den Wert des erworbenen Abschlusses determiniert. Mit ihrem Akkreditierungskonzept lehnt sich die Kultusministerkonferenz an ein in den USA gängiges Verfahren an, verabschiedet sich aber von deutschen verwaltungsrechtlichen Standards. Zwar finden im Bereich technischer Normierung Akkreditierung und Zertifizierung in ganz ähnlicher Weise statt, doch ist die grundrechtliche Brisanz der Akkreditierung oder ihres Unterbleibens dort wesentlich geringer. Was die Agenturbescheide von IFRS unterscheidet, ist das fast völlige Fehlen eines staatlichen Regulierungsrahmens, der Verzicht des Staates auf Nachprüfung der von den Agenturen gesetzten Maßstäbe, aber auch die Koexistenz differenter Normsysteme, wohingegen das IASB von Europarechts wegen zur einzigen Normierungsautorität erhoben worden ist. Ob das Akkreditierungssystem demokratischen Anforderungen noch entspricht,59 hängt davon ab, ob das Demokratieprinzip hier überhaupt zur Anwendung kommt. Daran muss gezweifelt werden, denn die Agenturen sind weder beliehen, noch attestieren sie den Hochschulen etwas anderes als die Erfüllung der von ihnen, den privaten Agenturen, selbst gesetzten Maßstäbe. Unter grundrechtlichem und rechtsstaatlichem Aspekt bedenklich erscheint, dass gegen die Verweigerung der Akkreditierung kein Rechtsschutz eröffnet ist, obwohl die Genehmigung von Studiengängen und teils auch privater Hochschulen von einer Akkreditierung abhängig gemacht wird. Auch die fachliche Nähe und damit auch die Sachkunde sind nicht unbedingt gewährleistet.60 59 Pautsch, WissR 2005, 200 ff.; Lege, JZ 2005, 698 (703 ff.); Pünder, ZHR 170 (2006), 567 (594 ff.); für die Produktsicherheit Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), S. 234 (267 f.); Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 160 (172). 60 In der Akkreditierungskommission für den LL.B.-Studiengang der Bucerius Law School beispielsweise war kein Jurist vertreten.
Staat und Gesellschaft nach Privatisierung
33
3. Stiftungsrecht: Apotheose privater Rechtsetzung Mit Privatisierung – diesen Eindruck vermitteln nicht nur Medien, sondern auch Juristen – verhält es sich ähnlich wie mit dem Cholesterin: Sie existiert in einer guten und einer zunehmend für böse erachteten Variante, wobei der Topos vielfach nur für die zweite verwendet wird, weil es an der Wahrnehmung der anderen fehlt. Tatsächlich ist Privatisierung, in welcher Form auch immer, ambivalent. Das vor der Öffentlichkeit gezeichnete schwarzweiße Bild ist verzerrt, weil die Erosion des Staates an Stellen, wo sie am stärksten ist, übersehen und regulative Anstrengungen unterlassen werden. Gemeint ist das so genannte bürgerschaftliche Engagement, das amerikanisierendunscharf auch der „civil society“ oder einem „dritten Sektor“ 61 zugeordnet wird. Selten nur vernimmt man zum Aufschwung des privaten Stiftungswesens kritische Töne.62 Dies verwundert insofern, als private Stifter oft mit dem Anspruch auftreten, Lükken staatlicher Leistungserbringung zu schließen und den Staat, wo möglich, zu surrogieren, Stiftungen bei alledem aber vergleichsweise laxen Regulierungsvorgaben unterliegen. Bedenklich wird dies dort, wo die öffentliche Hand ihre Aufgabenerfüllung zugunsten privater Stiftungen zurücknimmt, wo sie private Stiftungen fördert oder mit ihnen kooperiert oder wo sie zum Zweck der eigenen Aufgabenerfüllung selbst Stiftungen des privaten oder öffentlichen Rechts begründet. Das geradezu blinde Vertrauen, das in private Stiftungen gesetzt wird, gründet auf der fälschlichen Gleichsetzung von Gemeinnützigkeit und Gemeinwohlorientiertheit. Die Tätigkeit einer Stiftung wird bestimmt und begrenzt durch den Willen des Stifters, der mit sei61 Vgl. Dettling, in: Robert Bosch Stiftung (Hrsg.), Ehrenamt in der Bürgergesellschaft, 1999, S. 22. 62 Vgl. Graf Vitzthum / Kämmerer, Bürgerbeteiligung vor Ort. Defizite, Formen und Perspektiven bürgerschaftlichen Engagements in den Kommunen (hrsg. von der Robert Bosch Stiftung), 2000, S. 43; vgl. auch Kämmerer, Kommunale Stiftungen zwischen Stifterwillen und Gemeinwohl, in: Walz et al. (Hrsg.), Non Profit Law Yearbook 2004, S. 59 (S. 60); kritisch in Bezug auf den Einsatz der Stiftung im Hochschulbereich auch Fehling, Hochschulen in Rechtsformen des öffentlichen Rechts, in: Kämmerer / Rawert (Hrsg.), Hochschulstandort Deutschland, 2003, S. 83 (85).
34
Jörn Axel Kämmerer
nem Stiftungsakt, auch wenn der Zweck der Stiftung vielleicht objektiv einem Interesse der Allgemeinheit entspricht, einem Eigeninteresse nachgeht.63 Kraft dieser funktionalen Begrenzung sind Stifter- und Stiftungshandeln immer partikulär; es fehlt die Abwägung zwischen allen öffentlichen Belangen, die einer Entscheidung des Staates und der Kommunen zugrunde liegen soll. Von einem Wirtschaftsunternehmen unterscheidet sich die gemeinnützige Stiftung nur darin, dass ihr profitorientiertes Handeln verwehrt bleibt.64 Die Kontrolle des Stiftungsgebarens ist eine weitgehend formale, ein übergreifendes materielles Regulierungsziel existiert nicht. Kein Zweifel kann daran bestehen, dass Existenz und Wirken privater Stiftungen in den meisten Fällen segensreich sind. Was aber bedenklich stimmt, ist die Willfährigkeit, mit welcher die öffentliche Hand Stiftungen das Feld überlässt. Auch insoweit wird die Reichweite des Demokratieprinzips verkürzt, ohne dass auf Stiftungsseite Ersatz geschaffen werden könnte,65 denn die Versteinerung des Stifterwillens – ein einziger, in der Vergangenheit liegender privater Rechtsakt – würde selbst einer Binnendemokratie der Stiftungsleitung Grenzen setzen. Rechtlich (und nicht nur rechtspolitisch) bedenklich wird dies grundsätzlich erst, wo Staat oder Kommunen selbst dazu übergehen, zur eigenen Aufgabenerfüllung allein oder im Zusammenwirken mit Privaten Stiftungen zu gründen. Durch die damit einhergehende zweckgebundene Ausgliederung kommunalen Vermögens wird die Stiftung dem Zugriff künftiger Wahlgremien entzogen.66 Die Stiftungsgesetze mancher Länder, wenn auch keineswegs aller, erklären die Gründung kommunaler Stiftungen auch im Bereich der freiwilligen Aufgaben immerhin für subsidiär.67 Inwieweit Zustiftungen der Gemeinde zu privaten
63
Kämmerer (o. Fn. 62),S. 70 ff. Vgl. dazu Schauhoff, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Gemeinnützigkeit, 2005, § 6 Rn. 111 f. 65 Dewald, Die privatrechtliche Stiftung als Instrument zur Wahrnehmung öffentlicher Zwecke, 1990, S. 57; Twehues, Rechtsfragen kommunaler Stiftungen, 1996, S. 150; Kämmerer (o. Fn. 62), S. 75. 66 Twehues, ebd. 64
Staat und Gesellschaft nach Privatisierung
35
Stiftungen und solche Privater zu kommunalen Stiftungen zulässig sind, wird kontrovers beurteilt.68 In jedem Fall bleibt der Befund, dass der demokratisch legitimierten und zu komplexen Abwägungsprozessen angehaltenen öffentlichen Hand in Gestalt privater Stiftungen, nicht zuletzt den kommunalen Bürgerstiftungen, Konkurrenz erwächst. Die Zukunft der Gemeinden, deren Rolle als „Gehschulen der Demokratie“ auch Graf Vitzthum immer wieder beschworen hat,69 ist nicht nur aus diesem Grunde durchaus ungewiss. 4. Flugsicherung: Metamorphose einer Regulierungsinstanz Ein kurzer Blick sei – nicht nur aus aktuellem Anlass – noch auf die Deutsche Flugsicherung GmbH (DFS) geworfen, deren Teilveräußerung an Private der Bundespräsident zunächst gestoppt hat. Sie sollte nach der Vorstellung der Gesetzgebers in einem Umfang gestattet sein, dass dem Bund nur noch eine Sperrminorität von 25,1% in jedem Fall verblieben wäre – und auch dies zwingend nur für einen Übergangszeitraum von maximal 20 Jahren. Danach wäre mit Genehmigung der Bundesregierung unter bestimmten Voraussetzungen auch die Verlagerung des Gesellschaftssitzes ins Ausland statthaft gewesen; so hätte dieser u.a. die „ordnungsgemäße und sichere Erfüllung der Aufgaben der Flugsicherung“ nicht entgegenstehen dürfen.70 Einzelheiten, auch zum Prozedere, sind nicht verfügt. Die so genannte Sitztheorie hat unbeschadet der Überseering-Rechtsprechung des EuGH für die Abwanderung deutscher Unternehmen ins Ausland provisorisch fortgegolten.71 Auch wenn im 67 Vgl. § 120 HessGO, § 101 Abs. 4 BWGO, § 100 Abs. 3 NWGO, § 84 Abs. 2 RPGO, § 107 Abs. 4 SaarlKSVG, § 94 Abs. 4 SächsGO, § 115 Abs. 4 GO LSA, § 67 ThürKO. 68 Vgl. dazu Schlüter / Krüger, DVBl. 2003, 830 (835). 69 So bereits in AöR 104 (1979), 580 (625 ff.). 70 Gesetz zur Neuregelung der Flugsicherung, BR-Drs. 274 / 06 vom 28.4.2006, Art. 1 Nr. 11 lit. b, d. 71 EuGH, Rs. C-208 / 00, Überseering, Slg. 2002, I-9919; vgl. dazu Assmann, in: Hopt / Wiedemann, Großkomm AktG, 2006, Einl. Rn. 547; Altmeppen, in: MüKo-AktG, Bd. 9 / 2, 2006, Rn. 139 ff.; vgl. auch BayObLG, BB 2004, 570 ff.; OLG Brandenburg, BB 2005, 849 (850).
36
Jörn Axel Kämmerer
Zuge der GmbH-Reform72 mit ihrer Ersetzung durch die Gründungstheorie zu rechnen ist und damit die Verlagerung des tatsächlichen Geschäftssitzes einer deutschen Gesellschaft ins europäische Ausland möglich wird, bleiben Fragen offen. Dass die DFS in gesellschaftsrechtlicher Hinsicht dem Recht des Gründungsstaates Deutschland unterworfen bliebe,73 bedeutet noch nicht, dass auch das deutsche Verwaltungsrecht – einschließlich der Beleihungsregeln – Anwendung finden kann. Insoweit ist grundsätzlich das Recht des Niederlassungsstaates maßgeblich. Über die Frage, wie der Bund seiner Ingerenzpflicht im Verlagerungsfalle überhaupt hätte nachkommen können, scheinen sich die Parlamentarier wenig Gedanken gemacht zu haben. Die Verweigerung der Ausfertigung durch den Bundespräsidenten jedenfalls war geboten.74 Art. 87d Abs. 1 S. 2 GG stellt zwar frei, die Flugsicherung öffentlich- oder privatrechtlich zu organisieren, erklärt sie aber in jedem Fall zum Teil der „bundeseigenen Verwaltung“.75 Bereits die Beteiligung Privater hätte eine hybride Konstruktion geschaffen, und spätestens mit dem Verlust der Sperrminorität des Bundes wäre an die Stelle des jetzt bestehenden Modells endgültig ein Gewährleistungsregulierungskonzept getreten, wie ihm bereits – im Einklang mit grundgesetzlichen Vorgaben – Anbieter von Post-, Telekommunikations- und Bahntransportdienstleistungen unterworfen sind:76 hier ein zumindest teilprivates Flugsicherungsunterneh-
72 Vgl. Art. 1 Nr. 2 und Art. 5 Nr. 1 des (Referenten-)Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG), einzusehen unter www.bmj.bund.de / media / archive / 1236.pdf. 73 Grundlegend hierzu EuGH, Rs. C-167 / 01, Inspire Art, Slg. 2003, I10155, Rn. 100 ff. 74 Ebenso Tams, NVwZ 2006, 1226 (1228 f.); Gramm (o. Fn. 17), S. 112; Baumann, DVBl. 2006, 332 (335 f.). 75 Vgl. Giemulla / Wenzler, DVBl. 1989, 283 (284); Trampler, Verfassungsund unternehmensrechtliche Probleme der bundesdeutschen Flugsicherung, 1993, S. 108; Horn, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. III, 5. Aufl. 2005, Art. 87d Rn. 11; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Rn. 1; Baumann, a.a.O.; kritisch Windthorst, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 87d Rn. 32 ff.
Staat und Gesellschaft nach Privatisierung
37
men, dort eine staatliche Regulierungsinstanz in Gestalt des neu zu errichtenden Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung. Der Staat wollte mehr preisgeben, als er preiszugeben berechtigt war, und mehr auch, als ihm Gemeinschaftsrecht abverlangt; denn die Verordnungen zum „Single European Sky“77 zwingen die nationalen Flugsicherungseinrichtungen nicht in vollen Wettbewerb, sondern halten nur entsprechende Optionen offen. Es ist anzunehmen, dass ebenso wie in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Versuch unternommen wird, dem Gesetz nachträglich die Verfassungsgrundlage unterzuschieben. De constitutione ferenda würde dann die Möglichkeit eröffnet, in einem zentralen Gefahrenabwehrbereich staatliche Polizeigewalt durch Unternehmen des privaten Sicherheitsgewerbes zu ersetzen. Ob diese Vorgehensweise Art. 79 Abs. 3 GG genügen kann,78 ist nicht sicher. Schwerer noch wiegt die rechtspolitische Diagnose, dass der Staat sich in einem seiner angestammten Bereiche – der Aufgabe, für Sicherheit zu sorgen – für entbehrlich zu erklären beginnt. IV. Diagnose: Krise des „Regulierungsund Zertifizierungsstaats“ Soweit sich die wenigen Pinselstriche dieses Beitrags zu einem Bild fügen, ist dieses jedenfalls nicht uniform oder monochrom: Keineswegs ist der Staat, wie Privatisierungskritiker befürchten, der Bedeutungslosigkeit nahe, sondern wird als zentrale Steuerungsinstanz gerade des Marktgeschehens weiter 76 Vgl. zu den Anbietern von Post-, Telekommunikations- und Bahntransportdienstleistungen Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), S. 266 (291); vgl. auch den Hinweis des Verfassungsgesetzgebers in BR-Drs. 130 / 93, S. 10 f. zu den Aufgaben der „Eisenbahnverkehrsverwaltung“ und der parallelen Begriffsverwendung von „Luftverkehrsverwaltung“ in Art. 87d GG. 77 Regelungspaket des Europäischen Rates und des Parlaments, bestehend aus den VO (EG) Nr. 549 / 2004, ABl. Nr. L 96 vom 31.3.2004, S. 1; VO (EG) Nr. 550 / 2004, ABl. Nr. L 96 vom 31.3.2004, S. 10; VO (EG) Nr. 551 / 2004, ABl. Nr. L 96 vom 31.3.2004, S. 20; VO (EG) Nr. 552 / 2004, ABl. Nr. L 96 vom 31.3.2004, S. 26; vgl. dazu auch Scherer, EuZW 2005, 268 ff. 78 Eine Verletzung von Art. 79 Abs. 3 GG verneint BVerwG, NVwZ-RR 1997, 648 (649); vgl. dazu auch Gielen, JR 1997, 272 (275).
38
Jörn Axel Kämmerer
dringend benötigt. Das Schlagwort von der Re-Regulierung79 bringt zum Ausdruck, dass die Überantwortung von Funktionen an Private die regulative Kompetenz des Staates weiterhin dauerhaft und in einigen Bereichen mehr denn je beansprucht. Die Entscheidungsgewalt allerdings verlagert sich vom Parlament schon jetzt immer mehr auf hochspezialisierte, teilunabhängige Regulierungsinstanzen der mittelbaren Staatsverwaltung auf der Ausführungsebene, während zugleich normative Vorgaben in weitem Umfang von der Ministerialbürokratie der Europäischen Gemeinschaft kommen. An den IFRS zeigt sich, dass auch die Sachhoheit des europäischen Gesetzgebers beschränkt ist und er diese Selbsterkenntnis, anstatt IASB-Regeln nur nachzuvollziehen, durch den Verweisungsmechanismus auch dokumentiert. Selbstregulierung Privater ist in weitem Umfang ein heteronomes Phänomen, sie fände also ohne eine Umhegung durch Gesetzgeber und Verwaltung nicht so statt. Der Ruf nach Reaktivierung des Gesetzgebers und der staatlichen Verwaltung führt nicht mehr weiter, wo deren Sachkunde nicht ausreichen würde, um eine Regulierungsordnung gleicher Qualität und Konsistenz wie private Entitäten zuwege zu bringen. Die Erwartungen in die steuernde Kraft staatlichen Rechts nehmen damit nicht notwendigerweise ab; vielmehr sind etwa die Unternehmen, an die sich IFRS richten, auf die einigende und legitimierende Verbindlicherklärung durch die Kommission angewiesen. Die Kommission zertifiziert oder beglaubigt; sie spielt eine Rolle, die der eines Notars gleicht. Anders verhält es sich, wo verbindliche staatliche Regulierung durch eine Vielfalt von Vorgaben teils konkurrierender nichtstaatlicher Akteure abgelöst wird, wie im Akkreditierungsbereich, ohne dass die Regulierungsinhalte staatlich-normativ vorgeprägt sind. Hier läuft der Staat Gefahr, nicht nur die Regulierungshoheit zu verlieren, sondern das Regulierungsverhältnis auf den Kopf zu stellen. Verfassungsrechtlich ist der Verlagerung von Rechtsetzungsgewalt auf gesellschaftliche Kräfte nur in Grenzen beizukom79
Vgl. Kämmerer (o. Fn. 4), S. 483 m.w.N.
Staat und Gesellschaft nach Privatisierung
39
men. Warnungen vor der Aushöhlung des Demokratieprinzips laufen ins Leere, wo der Staat an Rechtsetzung gar nicht mehr beteiligt ist. Der paradoxe Effekt, dass der Demokratiewidrigkeit durch Privatisierung abgeholfen werden kann, legt die Frage nach einer Neujustierung des Demokratieprinzips selbst nahe; nachgegangen werden kann ihr hier leider nicht. Was den grundrechtlichen Mindeststandard betrifft, so wird ihm, wo der Staat zumindest noch Überwachungsfunktionen wahrnimmt und sich Eingriffsrechte vorbehält, in der Regel genügt. Der „Privatisierungsfolgenstaat“ befindet sich also nicht in einer Legitimationskrise; eher durchlebt er eine Identitäts- und Vermittlungskrise. Tritt er sich doch gleichsam mit einer Tarnkappe auf: Als bloß regulierender Akteur, der sich mitunter auf notarielle Funktionen beschränkt, wird der Staat von den Bürgern aller behördlichen Aktivitäten zum Trotz meist nur dann wahrgenommen, wenn sie auch Adressaten der Regulierungsmaßnahme sind. In dem Maße, wie Berührungen mit dem Staat rar werden, muss auch die Bereitschaft zu demokratischer Beteiligung schwinden, weil ihr keine ausreichende Steuerungsrelevanz mehr beigemessen wird. Verstärkt wird dieser Verlust an Direktionskraft durch die Verlagerung des überkommen „vertikalen“ Grundrechtsschutzes auf die Schutzpflichtdimension: Beim Ausgleich von Grundrechtskollisionen zwischen Privaten wird dem Staat eine weite Einschätzungsprärogative zugebilligt.80 Wer Klage über den Verlust staatlicher Integrationskraft führt,81 verkennt freilich oft, dass insbesondere die Veräußerung von Staatseigentum in vielen Fällen nur Entscheidungsspielräume wiederherstellen soll, die den infolge von Aufgabenüberlastung hochverschuldeten Gemeinwesen abhanden gekommen sind.82 Dies gilt beispielsweise für den u.a. von Prantl83 als Beispiel für den Niedergang von Staat und Kommunen herangezo80 Vgl. Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), S. 266 (292); Kämmerer (o. Fn. 4), S. 453 f., 463. 81 Vgl. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 214; Grimm, Die Verfassung im Prozess der Entstaatlichung, in: FS Badura, 2004, S. 145 (156 ff.). 82 Vgl. statt vieler (und als einer der ersten, die diese Diagnose stellten) Siedentopf, VOP 1980, 63 (64). 83 O. Fn. 1.
40
Jörn Axel Kämmerer
genen angeblichen Wegfall der Politikkompetenz im Wohnungsbereich als Folge der Veräußerung von Wohnungsbauunternehmen. Kritisch wird es, wo sich der Staat im Bereich seiner bisherigen Kernkompetenzen, wie bei der Gefahrenabwehr, auf Regulierung privaten Handelns beschränkt und damit suggeriert, zwingend nur noch als Aufsichts- und Zertifizierungsinstanz benötigt zu werden. Der nach innen und außen souveräne, ubiquitäre und nach überkommener – aber wenig überzeugender84 – Ansicht auch mit einem „Gewaltmonopol“ ausgestattete Verfassungsstaat blickt erst über eine relativ kurze Geschichte zurück. Nichts berechtigt zur Annahme, als Ordnungsmodell werde er ewige Gültigkeit beanspruchen können. Dem aktuellen Vermittlungsund Identitätsdilemma entkommt der Staat, dessen Ordnungsmodell Isensee „Zukunft auf Widerruf“ attestiert hat,85 jedenfalls nicht. Globalisierung, erhöhte Komplexität gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Prozesse, der Trend zum Expertentum, kurz: die „neue Unübersichtlichkeit“,86 spielen privater Rechtsetzung in die Hände und zielen Ratio und Wirksamkeit staatlichen Handelns zunehmend in Zweifel. Als Regulierungs- und nun auch Zertifizierungs- und Beglaubigungsinstanz, welche normative Rahmenbedingungen verbindlich setzt, autoritativ billigt, die ihnen den Anwendungsbefehl oder ganz einfach die „höheren Weihen“ des Hoheitlichen erteilt, wird der Staat weiter gebraucht. Als Identifikations- und Bezugsgröße wird er an Bedeutung unweigerlich verlieren. Sterben wird er gewiss nicht, aber seinen Bürgern wird er immer weiter entrückt.
84
Grundlegend Max Weber, Der rationale Staat als anstaltsmäßiger Herrschaftsverband mit dem Monopol legitimer Gewaltsamkeit, aus: ders., Politik als Beruf (Oktober 1919), in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Halbbd., 1956, S. 1042 ff.; mit Recht ablehnend Pitschas, DÖV 1997, 393 (397); Kämmerer, in: Stober / Olschok (Hrsg.), Handbuch des Sicherheitsgewerberechts, 2004, D II, Rn. 10 f. m.w.N. 85 JZ 1999, 165 (278). 86 Der Begriff ist Habermas (Die neue Unübersichtlichkeit, 1985) entlehnt, der allerdings von einem engeren Verständnis ausgeht.
Staat und Sport Grenzen staatlicher und europäischer Regulierungsbefugnisse Von Andreas Wax, Tübingen*
Das Begriffspaar „Staat und Sport“ nimmt auf zwei Leidenschaften des Jubilars Bezug. Die Auseinandersetzung Graf Vitzthums mit dem Staat, dem „Staat der Staatengemeinschaft“,1 territorial begrenzt durch das „Staatsgebiet“,2 ist jedem an Recht und Politik Interessierten – gar über (Staats-)Grenzen hinweg – gegenwärtig. Im persönlichen Gespräch kommt man zudem regelmäßig in den Genuss, an der Vorliebe des Jubilars für den Sport teilzuhaben. Dem Gesprächspartner hat er nicht nur stets die aktuellen Tennis- und Schachergebnisse parat; vielmehr wird die Lage der Fußballnation gemeinsam analysiert und diskutiert. Vor allem aber ist Graf Vitzthum selbst am Ball, jeden Donnerstag (zu grenzwertig früher Zeit) um sieben Uhr morgens. Zum – dies entspricht der wesentlichen Eigenschaft des eben erwähnten Balles – runden3 Geburtstag des Staatsrechtslehrers und Sportlers will die nachfolgende Skizze die Beziehung zwischen Staat und Sport beleuchten. Konkret geht es um * Verf., Dr. iur., Maîtrise en droit (Aix-en-Provence), war von Juli 2005 bis März 2007 wiss. Mitarbeiter am Tübinger Lehrstuhl von Prof. Ronellenfitsch. Seit März 2007 ist er Rechtsanwalt in Stuttgart. 1 Graf Vitzthum, Der Staat der Staatengemeinschaft. Zur internationalen Verflechtung als Wirkungsbedingung moderner Staatlichkeit, 2006. 2 Graf Vitzthum, Raum und Umwelt im Völkerrecht, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, 5. Abschn., S. 396 ff., insb. S. 404 ff. (aus völkerrechtlicher Sicht); ders., Staatsgebiet, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 18, S. 163 ff. (aus staatsrechtlicher Sicht). 3 „Der Ball ist rund“ (Josef [„Sepp“] Herberger zugeschrieben).
42
Andreas Wax
Grenzen zwischen Staat und Sport, um die Be- und Abgrenzung von Regulierungsbefugnissen: Wer steht wann auf dem Platz, wer beobachtet nur von der Tribüne? Wem gelingt es, die (begehrte) Kapitänsbinde (der Regelungshoheiten) zu erlangen? Wer erweist sich gegenüber dem Ansturm des (vermeintlichen) staatlichen oder sportverbandlichen Kontrahenten geschickter, seine Abseitsfalle – stets Fähigkeit genauester Grenzziehung – zu stellen? Oder sollte dieses Abseits bereichsweise gar abgeschafft werden? I. Sport – kein rechtsfreier Raum Hinsichtlich des Verhältnisses von staatlichem Recht und Sport „zweifelt niemand mehr daran, dass Recht und Sport nicht wie Feuer und Wasser miteinander unvereinbar sind“.4 Vielmehr ist heute anerkannt, dass sich der Sport grundsätzlich nicht im „rechtsfreien Raum“ bewegt. Ganz im Sinne des Hugo Grotius zugeschriebenen „ubi societas, ibi ius“5 beeinflusst das staatliche Recht6 nicht nur „die gesamte autonome Regelung des Sports“,7 sondern setzt ihr auch Grenzen. Selbst die genuine Spielregel, einst „letzter Mann“ des Sports gegenüber der Offensivkraft staatlicher Einflussnahme, „wackelt“ gelegentlich, unterliegt doch auch sie in eingeschränktem Maß der Überprüfbarkeit durch staatliche Gerichte. Dies führt dazu, dass sich die 4 Grunsky, Die Entwicklung des Sportrechts bis zum Bosman-Urteil, in: Württembergischer Fußballverband e.V. (Hrsg.), Sportrecht damals und heute, 2001, S. 7, 9. 5 de Cocceji, Grotius illustratus seu commentarii ad Hugonis Grotii de iure belli et pacis libros tres, Bd. I, 1744, Prolegomena, § 8, XI, unter Verweis auf Cicero und Seneca. Auch die Schifffahrt auf dem Meer, ein weiteres Schlüsselthema von Grotius und Graf Vitzthum, bewegt sich nicht in einem rechtsfreien Raum, vgl. insg. Graf Vitzthum (Hrsg.), Handbuch des Seerechts, 2006. 6 Pfister, Der rechtsfreie Raum des Sports, in: Hadding (Hrsg.), Festgabe Zivilrechtslehrer 1934 / 35, 1999, S. 457, 459 Fn. 5 folgend ist unter „Recht“ i.S.d. rechtsfreien Raums nur das staatliche Recht zu verstehen, nicht auch das von Sportorganisationen (privat) gesetzte Recht. Allg. zur nichtstaatlichen Normbildung Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987. 7 Pfister, Autonomie des Sports, sport-typisches Verhalten und staatliches Recht, in: FS für Werner Lorenz zum siebzigsten Geburtstag, 1991, S. 171.
Staat und Sport
43
Justiz bisweilen mit für sie nicht alltäglichen Sachverhalten zu beschäftigen hat. Angeführt sei ein Verfahren vor dem Landgericht Chemnitz,8 in dem im Rahmen der Nachprüfung einer Verbandsentscheidung zu klären war, ob ein im Elfmeterschießen getretener Penalty als verwandelt gilt, wenn der Fußball zunächst vom Torhüter erfolgreich abgewehrt wird, dann aber fünf Meter vor dem Tor-Aus derart auf dem Spielfeld auftrifft, dass ihn der dort vermittelte Effet nach einigen Sekunden – der Torhüter hatte sein Gehäuse bereits verlassen – letztendlich doch ins Tor befördert.9 Weit mehr noch, als der Staat dem Sport die Kreidelinien der Spielfeldmarkierung zieht, zeigt die Europäische Gemeinschaft dem Sport Grenzen auf. Wie Udo Steiner bemerkt, hat die „Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs […] [dem Sport gar] Leid angetan“.10 Nachdem hier zunächst auf Grenzen zwischen Sport und Staat in Vergangenheit und Gegenwart eingegangen wird, ist daher abschließend ein Blick auf Beschränkungen von Regelungsbefugnissen des Sports durch die supranationale Europäische Gemeinschaft zu werfen. II. In der „Abseitsfalle“ des Staates: Die totale staatliche Regulierung des Sports im „Dritten Reich“ als Paradigma Trotz der Überprüfbarkeit sportverbandlicher Entscheidungen durch staatliche Gerichte ist ein Kennzeichen des heutigen Sports dessen Autonomie.11 Dem war nicht immer so. Während der Staat den Sport vor 1933 im Großen und Ganzen „sich selbst überlassen“12 hatte, zeigt die Zeit von 1933 bis 1945, dass im „Dritten Reich“ keinerlei „Freiraum“ für den Sport („das Ende des freien Sports“13) bestand. 8
LG Chemnitz, Urt. v. 24.4.1997, SpuRt 1998, 41 f. Hierzu Steiner, Die Autonomie des Sports, 2003, S. 19. 10 Steiner (Fn. 9), S. 22. 11 Hierzu unten III.1. 12 Vgl. auch Lohbeck, Das Recht der Sportverbände. Eine entwicklungsgeschichtliche und rechtstatsächliche Untersuchung zum Verbandsgefüge und Satzungswerk der deutschen Sportverbände, 1971, S. 42. 13 Ebd. 9
44
Andreas Wax
Dies war die Folge – Peter Häberle spricht vom „übermächtige[n] […] Staatssport“14 – der intensiven (unrechtlichen) Auseinandersetzung des NS-Regimes mit dem Sport. Sport war ein „Pfeiler nationalsozialistischen Denkens und Arbeitens“.15 Er genoss für die NS-Machthaber höchstes Ansehen. Der Welt sichtbar wurde dies (Schlagwort: Sport als „Demonstrationsobjekt totalitärer Regierungssysteme“16) bei den zu Propagandazwecken missbrauchten Olympischen Spielen 1936 in Garmisch-Partenkirchen und Berlin.17 Diesem Stellenwert trugen rechtliche Regelungen wie die Hochschulsportordnung von 193418 Rechnung, die für Studierende der ersten drei Semester Pflichtsport vorsah.19 Die Anmeldung zur ersten juristischen Staatsprüfung erforderte gar, „daß der Bewerber […] sich körperlich gestählt hat, wie es einem jungen deutschen Manne zukommt“.20 Der juristische Vorbereitungsdienst in Preußen schloss mit einem sechswöchigen Gemeinschaftslager ab, das der sportlichen Betätigung diente.21 Zudem wurden dem Sportbetrieb wie zu keiner anderen Zeit von Rechts wegen „Privilegien“22 zuteil. Deutlich wird dies am Nachbarrechtsbeschränkungsgesetz vom 13. Dezember 1933.23 Dieses brachte erstmals den NS-Grundsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ zum Aus14
Häberle, „Sport“ als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, in: FS für Werner Thieme, 1993, S. 25, 45. 15 Geibel, Leibesübungen und Recht, 1936, S. 2. 16 Lauerbach, Sport und Gesellschaft, in: Schroeder / Kauffmann (Hrsg.), Sport und Recht, 1972, S. 6. 17 Vgl. nur Krüger, Sport und Gesellschaft, 1981, S. 32. 18 Erlaß des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 30.10.1934 (abgedr. bei Briese, Hochschulsportordnung vom 30.10.1934, 1937, S. 9 ff.). 19 Vieweg, Gleichschaltung und Führerprinzip. Zum rechtlichen Instrumentarium der Organisation des Sports im Dritten Reich, in: Salje (Hrsg.), Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, 1985, S. 244; Buss, Die Entwicklung des deutschen Hochschulsports vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des NS-Staates. Umbruch und Neuanfang oder Kontinuität?, 1975, S. 168. 20 § 2 der Justizausbildungsordnung v. 22.7.1934, RGBl. 1934 I S. 727. 21 Pohlmann, Leibesübungen in den Referendar-Arbeitsgemeinschaften, DJ 1937, 1674 ff. 22 Im Kontext verwandte Begrifflichkeit von Vieweg (Fn. 19), S. 244, 247. 23 RGBl. 1933 I S. 1058; amtliche Erläuterungen in DJ 1933, 862 f.
Staat und Sport
45
druck und räumte der Sportausübung gegenüber dem Nachbarschutz vielfach Vorrang ein.24 Als weiteres Exempel mag das Beurlaubungsgesetz vom 15. Februar 193525 dienen, das Arbeitgeber verpflichtete, Beschäftigte für der Leibeserziehung dienende Lehrgänge freizustellen.26 Kehrseite dieser „Privilegien“ war eine erdrückende Einflussnahme des Staats auf den Sport, initiiert durch den Prozess der Gleichschaltung (des Sportverbandswesens).27 Diese Entwicklung vollzog sich zunächst durch das Verbot der etwa 3.400 Vereine betreffenden Arbeitersportbewegung, das auf Grundlage der Verordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 193328 erlassen wurde. Die Gleichschaltung des Sports war weiterhin geprägt durch die Untersagung des konfessionellen Sportvereinswesens, die Diskriminierung jüdischer Sportvereine sowie die Einsetzung des Reichssportkommissars Hans von Tschammer und Osten, der im Juli 1933 zum Reichssportführer ernannt wurde.29 Zudem wurde das bestehende Sportverbandswesen, das in etwa 300 Verbände zersplittert war, gänzlich umstrukturiert.30 Nach Auflösung des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen (DRA)31 wurde im Juli 1934 der Deutsche Reichsbund für Leibesübungen (DRL) gegründet, der 193832 in Nationalsozialistischer Reichsbund für Leibesübungen (NSRL) umbenannt und zu einer von der NSDAP betreuten Organisa24
Vieweg (Fn. 19), S. 244, 247 f. m.w.N. RGBl. 1935 I S. 197. 26 Vieweg (Fn. 19), S. 244, 247 f. 27 Vgl. Scherer, „Die Geschichte erwartet das von uns“. Fußball im Dritten Reich, in: Deutscher Fußball-Bund (Hrsg.), 100 Jahre DFB. Die Geschichte des Deutschen Fußball-Bundes, 1999, S. 283. 28 RGBl. 1933 I S. 83 („Reichstagsbrandverordnung“). 29 Insg. Lohbeck (Fn. 12), S. 44 f., 47; Vieweg (Fn. 19), S. 244, 251, 252. Nach dem Tod von Tschammer und Ostens am 25. März 1943 wurde Karl Ritter von Halt zum kommissarischen Reichssportführer ernannt (Begov / Bernett / Teichler, in: Röthig / Prohl [Hrsg.], Sportwissenschaftliches Lexikon, 7. Aufl. 2003, S. 398). 30 Vieweg (Fn. 19), S. 244, 249, 251. 31 Hierzu Scherer (Fn. 27), S. 283, 293. 32 Führererlaß vom 21.12.1938 (RGBl. 1938 I S. 1959), Ausführungsbestimmungen in RGBl. 1939 I S. 958. 25
46
Andreas Wax
tion wurde, die dem Reichssportführer unterstand.33 Die erdrosselnde Einflussnahme auf den Sport wird schon an der Stellung des Reichssportführers sichtbar, der für das Satzungsänderungsrecht34 und für die Zustimmung bei Verfügungen über vereinseigenen Grundbesitz35 zuständig war. Darüber hinaus hatte er die Disziplinar- und Strafgewalt über die Verbandsmitglieder inne36 und konnte Verbände und Vereine auflösen.37 Die Befugnis, Sportorganisationen aufzulösen, mithin die ultimative Nichtanerkennung von Grenzen, fand denn auch regen Gebrauch. Fortan wurde für jede Sportart – was zur Auflösung zahlreicher Sportverbände führte – nur noch jeweils ein Sportverband anerkannt. Insgesamt entstanden so 15 nationale Spitzenverbände,38 die unter staatlicher Aufsicht und Weisungsgebundenheit standen. Die Auflösung der übrigen Verbände führte damals – anders dann in den 1950er Jahren hinsichtlich gewisser hieraus resultierender vermögensrechtlicher Streitigkeiten – nicht zu gerichtlichen Verfahren.39 Dies lässt sich mit der Funktion der Justiz im „Dritten Reich“ begründen, die dem „Schutz der nationalsozialistischen Volksordnung“ zu dienen bestimmt war, nicht aber der Gewährleistung subjektiver (öffentlicher) Rechte.40 Die staatliche Kontrolle wurde durch Schaf33 § 5 Abs. 1 der Satzung des NSRL vom 24.11.1939 (RMinBl. 1940 S. 18, 19); hierzu Lohbeck (Fn. 12), S. 52. 34 Art. VI Führererlaß vom 21.12.1938 (Fn. 32). 35 § 9 Abs. 4 der Einheitssatzung für die dem NSRL angeschlossenen Gemeinschaften v. 23.1.1940 (RMinBl. 1940 S. 20, 21). 36 § 3 Abs. 3 der Satzung des NSRL (Fn. 33); § 8 Abs. 2 der Einheitssatzung für die dem NSRL angeschlossenen Gemeinschaften (Fn. 35). 37 § 17 Abs. 2 der Einheitssatzung für die dem NSRL angeschlossenen Gemeinschaften (Fn. 35). – Insg. auch Lohbeck (Fn. 12), S. 55; Vieweg (Fn. 19), S. 244, 257 f. Zu den Aufgaben des Reichssportführers im Allgemeinen Waldeyer, Die Rechtsverhältnisse im deutschen Sport, 1934, S. 17 („[der] Reichssportführer hat […] das staatliche Aufsichtsrecht über Vereine und Verbände auszuüben“). 38 § 2 S. 2, § 3 der Anordnung über die Organisation des deutschen Berufssports vom 31.1.1938 (RMinBl. 1938 S. 29); Scherer (Fn. 27), S. 283, 295; Lohbeck (Fn. 12), S. 50. 39 Vieweg (Fn. 19), S. 244, 255. Zu den Rechtsstreitigkeiten der Nachkriegszeit nur BGH, Urt. v. 13.1.1955, BGHZ 16, 143 ff. 40 Maunz, Verwaltung, 1937, S. 204 f.; auch Vieweg (Fn. 19), S. 244, 256.
Staat und Sport
47
fung eines einheitlichen Satzungs- und Ordnungsrechts durch den DRL bzw. NSRL gewährleistet.41 Zudem wurden die Posten der jeweiligen Verbandsführer als Folge des Führerprinzips durch von Tschammer und Osten mit NS-Personen besetzt sowie das bestehende Mehrheitsprinzip in den Vereinen abgeschafft.42 Dieser Ansatz mündete in die totale Beseitigung der Autonomie des Sports. Das Verwaltungsmonopol der Sportverbände, welches sich auf den Amateur- und den schon vorhandenen Berufssport erstreckte,43 wurde von nun an gänzlich von staatlicher Seite ausgeübt.44 Freilich ließen sich viele Verbände auch „problemlos“ gleichschalten, da ihr völkisch-nationales Selbstverständnis weitgehend mit den Ideen des Nationalsozialismus konform ging. Ein Beispiel ist die im Juni 1933 an Hitler gerichtete Zusicherung des damaligen Vorsitzenden der Deutschen Turnerschaft (DT) Edmund Neuendorff: „[D]as alles gibt mir den Mut, Ihnen anzubieten, daß die DT […] unter Ihrer Führung Schulter an Schulter mit SA und Stahlhelm den Vormarsch ins Dritte Reich antritt“.45 Auch die Arbeitersportverbände suchten sich mit der Neuordnung des deutschen Sports zu arrangieren, indem sie öffentlich „die ehrliche Bereitschaft […][,] sich in die staatliche Neuordnung des Sportwesens vorbehaltlos einzuordnen“,46 proklamierten.
41
Vieweg (Fn. 19), S. 244, 256 Fn. 117. Umfassend Lohbeck (Fn. 12), S. 55. 43 Zur Frage, welche Sportarten professionell betrieben werden durften, s. § 1 der Anordnung über die Organisation des deutschen Berufssports (Fn. 38). 44 Waldeyer (Fn. 37), S. 17 („staatliche[r] Aufsichtsverwaltung“). 45 Zit. nach Bohus, Sportgeschichte, 1986, S. 149. Zur Rolle des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) Scherer (Fn. 27), S. 283, 284 ff.; Havemann, Fußball unterm Hakenkreuz, APuZ 2006, B 19 (8.5.2006), S. 33 ff. 46 Öffentliche Erklärung der Zentralkommission für Arbeitersport und Körperpflege vom April 1933, zit. nach Lohbeck (Fn. 12), S. 42 f. 42
48
Andreas Wax
Nach Kriegsende löste der Alliierte Kontrollrat47 alle Sportverbände auf, erlaubte aber die Einrichtung nichtmilitärischer Sportvereinigungen lokalen Charakters.48 Freilich darf nicht übersehen werden, dass der grundsätzliche Ausschluss der Organisationsgewalt des privaten Sports zwar in seiner wohl hässlichsten Spielart im „Dritten Reich“ zu Tage trat, dennoch aber keine exklusive Eigenart des NS-Regimes war; allgemein wurde (und wird) Sport in totalitären Systemen von Staats wegen gelenkt.49 III. Staat und Sport heute: „Gleiche Höhe“ oder gar Übergewicht des Staats? 1. Bundesrepublik Deutschland Ein Charakteristikum des deutschen Sports ist heute die „Ausgrenzung und Abschirmung gegenüber staatlicher Indienstnahme“.50 Ein Missbrauch des Sportwesens soll im Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht stattfinden. Sport, so Paul Kirchhof, stellt vielmehr „eine Privatsache von staatserheblicher Bedeutung“ dar.51 Der deutsche Staat kommt seiner „Rechtspflicht […], die Selbstregulierungskompetenz der […] Institutionen im Bereich des Sportwesens […] zu achten“,52 im Wesentlichen nach. Anlass hierfür ist die bereits mehrfach erwähnte Autonomie des 47
Direktive Nr. 23 über die Beschränkung und Entmilitarisierung des Sportwesens in Deutschland vom 17.12.1945, Amtsblatt des Kontrollrats Nr. 3 vom 31.1.1946, S. 49; zu bemerken ist, dass die Direktive zwar in der Ostzone, selten aber in den Westzonen vollzogen wurde. Hierzu Lohbeck (Fn. 12), S. 66. 48 Zur Nicht-Auflösung von Sportvereinen örtlichen Charakters KG, Beschl. vom 1.7.1957, WM 1957, 1001; hierzu Vieweg (Fn. 19), S. 244, 256. 49 Zum Sport im Staatsbild (ehemaliger) sozialistischer Verfassungen Häberle (Fn. 14), S. 25, 37 ff. 50 Burmeister, Sport als Aufgabe kommunaler Selbstverwaltung?, in: Burmeister (Hrsg.), Sport im kommunalen Wirkungskreis, 1988, S. 37, 39. 51 Kirchhof, Sport und Umwelt als Gegenstand des Verfassungsrechts und der Verfassungspolitik, in: ders. (Hrsg.), Sport und Umwelt, 1992, S. 41. 52 Stern, Grundrechte der Sportler, in: Schroeder / Kauffmann (Hrsg.), Sport und Recht, 1972, S. 142, 143.
Staat und Sport
49
Sports.53 Sie findet ihre normative Grundlage in Art. 9 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG.54 Wenn das Bundesverfassungsgericht in seinem „Mitbestimmungsurteil“ allgemein zur Vereinigungsfreiheit sagt, dass „[d]er Schutz des Grundrechts […] sowohl für die Mitglieder als auch für die Vereinigung die Selbstbestimmung über die eigene Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung ihrer Geschäfte [umfasst]“,55 findet die hierauf gründende Autonomie des Sports ihre Ausprägung darin, dass die privaten Sportorganisationen eigene sportethische Wertvorstellungen verfolgen, Regelungen hinsichtlich eigener Angelegenheiten erlassen („Lust und Last der Sportgesetzgebung liegen nicht beim Staat“56) und Verstöße hiergegen im Rahmen interner Streitschlichtung ahnden können.57 Die Selbstverwaltung des Sports, als Triebfeder der „Stärke des deutschen Sports“58 apostrophiert, gilt indes nicht grenzenlos: „Der Sport ist [kein] Staat im Staate“.59 Ihre Grenze findet die Sportselbstverwaltung grundsätzlich im staatlichen Recht. Hinsichtlich dessen verhält sich der Gesetzgeber zu Gunsten des Sports auffallend zurückhaltend. Ein Beleg dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland dem nationalen Sport Unabhängigkeit zugesteht, ist der Umstand, dass der Gesetzgeber kein all53 Statt vieler Zinger, Diskriminierungsverbote und Sportautonomie. Eine rechtsvergleichende Untersuchung im deutschen, europäischen und USamerikanischen Recht, 2003, S. 57 ff. 54 Interessant ist im Kontext die Verfassung der Republik Guatemala, die die Autonomie des Sports expressis verbis manifestiert (República de Guatemala, Constitución Política reformada por Acuerdo Legislativo No. 18-93 del 17.11.1993, Art. 92). In ähnlicher Weise agiert auch die Verfassung Brasiliens (Constituição da República federativa do Brasil de 5.10.1988, Texto consolidado até a Emenda Constitucional nº 52 de 8.3.2006, Art. 217). 55 BVerfG, Urt. vom 10.3.1979, BVerfGE 50, 290 (354). 56 Steiner, Verfassungsfragen des Sports, NJW 1991, 2729, 2730. 57 Nolte, Staatliche Verantwortung im Bereich Sport – Ein Beitrag zur normativen Abgrenzung von Staat und Gemeinschaft, 2004, S. 240; Steiner (Fn. 56), 2729, 2730. 58 10. Sportbericht der Bundesregierung vom 20.6.2002, BT-Drs. 14 / 9517, S. 15. 59 Nolte, Sport und Recht, Ein Lehrbuch zum internationalen, europäischen und deutschen Sportrecht, 2004, S. 19.
50
Andreas Wax
gemeines Sportgesetz erlassen hat.60 Verstärkt wird dieser gesetzgeberische self-restraint dadurch, dass es – von einzelnen bau-, steuer-, sozial- oder arzneimittelrechtlichen Vorschriften61 abgesehen – an speziellen Gesetzen für den Sport, d. h. solchen, die den Sport bzw. seine Ausübung unmittelbar zum Gegenstand haben, mangelt.62 Allerdings darf nicht übersehen werden, dass dennoch fast das gesamte staatliche Recht auf den Sport Anwendung finden kann.63 Ein besonderer Blick gilt hier dem Verfassungsrecht. In diesem Sinn hat Steiner treffend formuliert: „Den Freiheitsstatus des Sports bestimmt das Grundgesetz […], den Förderungsstatus das Landesverfassungsrecht. Beides zusammen macht den Verfassungsstatus des Sports aus; ihm entsprechen Distanz und Nähe des Sports zum Staat“.64 Dieser „Förderungsstatus“, allgemein bekannt als „Sportförderung“, Element der von der Bundesregierung propagierten „partnerschaftliche[n] Zusammenarbeit von Sport und Staat“,65 findet seit den 1990er Jahren seinen normativen Niederschlag als Staatszielbestimmung in 15 der 16 Landesverfassungen;66 allein Hamburg stellt insofern eine Ausnahme dar. Im Grundge60 Vgl. Pfister, in: Fritzweiler / Pfister / Summerer, Praxishandbuch Sportrecht, 2. Aufl. 2007, S. 9, Rn. 9. 61 Z.B. §§ 1 Abs. 6 Nr. 3, 5 Abs. 2 Nr. 2, 136 Abs. 3 Nr. 2c BauGB; §§ 2 Abs. 3 Nr. 2, 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO; §§ 52 Abs. 2 Nr. 2, 58 Nr. 9, 67a AO 1977; § 29 Abs. 1 Nr. 4e) SGB I; §§ 6a, 95 Abs. 1 Nr. 2a AMG. 62 Vgl. Kirschenhofer, Sport als Beruf, 2002, S. 6. 63 Gemeinsam mit den Regelungen der Sportorganisationen und den spezifisch den Sport betreffenden Vorschriften stellt dieses „allgemeine“, auf den Sport anwendbare Recht das nationale Sportrecht dar. 64 Steiner, Der Sport auf dem Weg ins Verfassungsrecht. Sportförderung als Staatsziel, SpuRt 1994, 2, 3. 65 Vgl. 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 58), S. 15, 3.2.3. Partnerschaftliche Zusammenarbeit. 66 Zu den „Geburtsstunden“ der Verankerung der Sportförderung in den Verfassungen der „neuen“ Länder Nolte (Fn. 57), S. 218. Es darf nicht übersehen werden, dass es für die Staatszielbestimmung Sport von Vorteil war, dass Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen, die bei der Aufnahme des Sports in die Landesverfassungen eine Pionierstellung einnahmen, ab 1990 ohnehin einen Verfassungsneuanfang vornehmen mussten (Hölzl, Sport in der Verfassung und in der Verfassungswirklichkeit unter Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts. Der Sport als Staatszielbestimmung, 2002, S. 43).
Staat und Sport
51
setz findet eine Sportförderklausel trotz wiederholter Debatten um eine entsprechende Verfassungsänderung67 und im Unterschied zu anderen staatlichen Verfassungen68 jedoch keine Berücksichtigung. Gegner einer derartigen Staatszielbestimmung – diese könnte gemeinsam mit der Kultur ihren Platz in einem neuen Art. 20b GG finden69 – begründen ihre Ablehnung insbesondere mit der Gefahr einer „Übernormierung“70 und der Befürchtung, das Grundgesetz könne bei Einführung eines Staatsziels Sport „zum Lesebuch des Staatsparadieses“71 verkommen. Zudem könnte die Festschreibung des Sports im Grundgesetz einen Kompetenzverlust zu Lasten der sportfördernden Länder bedeuten.72 Für eine Aufnahme spricht die überragende (rechts)tatsächliche Bedeutung des Sports mit seinen vielfältigen sozialen, gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Dimensionen.73 Durch seine Verankerung im Grundgesetz erhielte der Sport ein deutliches Signal der Anerkennung, eine „Garantieerklärung, dass sein Anliegen aus staatspolitischer Sicht keine schöne, schnöde Nebensache voller Beiläufigkeiten“74 darstellt, sondern vom Staat zu beachten ist. Zudem geht das Argument, ein grundgesetzliches Staatsziel Sport führe zwingend zu einer Kompetenzverlagerung zu Lasten der Länder,75 schon deshalb 67
Vgl. nur F.A.Z. vom 24.11.2006, S. 36. Z.B. Brasilien (Constituição da República federativa do Brasil de 5.10. 1988, Texto consolidado até a Emenda Constitucional nº 52 de 8.3.2006, Art. 217), Spanien (Constitución Española de 27.12.1978, Art. 43 Abs. 3), die Schweiz (Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.4.1999, AS 1999, 2556, Art. 68 S. 1) oder Polen (Verfassung der Polnischen Republik vom 2.4.1997, Dz.U. Nr. 78, 483, ber. am 26.3.2001, Dz.U. Nr. 28, 319, Art. 68 Abs. 5). 69 Vgl. den Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion aus dem Frühjahr 2006 zur Einführung eines Art. 20b GG mit folgendem Wortlaut: „Der Staat schützt und fördert die Kultur. Sport ist als förderungswürdiger Teil des Lebens zu schützen“ (abgedr. bei Schück, Das Für und Wider einer Staatszielbestimmung Sport im Grundgesetz, Olympisches Feuer 2 / 2006, 26, 29). 70 Zum diesbezüglichen Meinungsstand Nolte (Fn. 57), S. 69. 71 Steiner (Fn. 56), 2729, 2730. 72 Ebd. 73 Vgl. Nolte (Fn. 57), S. 234. 74 Schück (Fn. 69), 26, 29. 75 Dies freilich nur, wenn man überhaupt der umstr. Ansicht folgt, dass Staatszielbestimmungen (automatisch) Kompetenzen mit sich bringen. 68
52
Andreas Wax
fehl, da bereits heute (ungeschriebene) Sportzuständigkeiten des Bundes bestehen. In seine Gesetzgebungszuständigkeit fällt z.B. die Unterstützung von Sportlern an staatlicher Repräsentation dienenden Sportveranstaltungen (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG). Bezüglich der Finanzförderung76 des Sports obliegen dem Bund im Bereich der Beteiligung der Nationalverbände an internationalen Sportgroßveranstaltungen (Art. 32 GG) oder der Sportförderkompanien der Bundeswehr (Art. 87a GG)77 Verwaltungskompetenzen. Eine Sportförderklausel von Verfassungsrang würde der „Absicherung des selbstlosen Auftrages“,78 den der Bund mit seinen Fördermaßnahmen bereits leistet, dienen. Erwähnt sei, dass die „Ablösesumme“, die der Sport für seine Autonomie bezahlt, darin besteht, dass die öffentliche Sportförderung stets eine lediglich subsidiäre ist. Sie greift dann Platz, wenn die „Organisationen des Sports […] zuvor ihre eigenen Finanzierungsmöglichkeiten voll ausgeschöpft haben“.79 Was den „Freiheitsstatus“ betrifft, stellt der Sport im Grundgesetz „eine grundrechtliche Thematik“80 dar. Sportliche Aktivität findet in Grundrechten Schutz, zum einen in ihrer primären Funktion als gegen den Staat gerichtete Abwehrrechte, zum anderen in ihrer in die zivilrechtlichen Beziehungen zwischen Sportorganisation und Sportler ausstrahlenden Drittwirkung.81 76 Nach dem Konnexitätsprinzip (Art. 104a Abs. 1 GG) leiten sich aus Verwaltungskompetenzen Finanzierungszuständigkeiten ab. 77 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 58), S. 15. 78 Schück (Fn. 69), 26, 29. Zu dennoch vorhandenen „Gefahren“ unten IV. 79 10. Sportbericht der Bundesregierung (Fn. 58), S. 15, 3.2.3. Subsidiarität der Sportförderung. 80 Tettinger, Sport als Verfassungsthema. Die Rolle des Sports im deutschen Verfassungsrecht und innerhalb der gemeinsamen Werte der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Sport im Schnittfeld von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht. Bosman – Bilanz und Perspektiven, 2001, S. 9, 10. Vgl. auch Ronellenfitsch, Die Zulassung von Automobilsportveranstaltungen, DAR 1995, 241. 81 Anerkannt seit BVerfG, Urt. vom 15.1.1958 („Lüth“), BVerfGE 7, 198, 205. Vgl. auch Kämmerer, Privatisierung, Typologie – Determinanten – Rechtspraxis – Folgen, 2001, S. 450 m.w.N. – Steiner, in: Pfister / Steiner, Sportrecht von A–Z, 1995, S. 73 f., betont, dass Ansprüche des Bürgers auf
Staat und Sport
53
So ist nicht nur den Sportorganisationen Unabhängigkeit vom Staat gewährleistet, sondern auch den Sportlern Freiheit gegenüber den – oft übermächtigen – Sportverbänden. Letzteren zeigt der Staat Grenzen auf, er schützt den Sportler. Soweit Sport professionell betrieben wird, untersteht er dem Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG, welcher im Verhältnis Verband – Sportler von Relevanz ist, wenn es um Sperren des Sportlers oder Nichtzulassungen zum Wettkampf geht.82 Dass Fußball nicht nur dann Kunst darstellt, wenn er von Ronaldinho, Klose oder dem VfB Stuttgart betrieben wird, sondern auch dem entsprechenden Begriff des Art. 5 Abs. 3 GG unterfällt, hat die Rechtsprechung83 früh festgestellt. Offensichtlich ist auch, dass Sport – entgegen Bertolt Brecht84 – grundsätzlich Gesundheit und Wohlbefinden fördert. Art. 2 Abs. 2 GG verpflichtet alle staatlichen Organe, die körperliche Unversehrtheit vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu bewahren.85 Eine Pflicht, den Bürger vor Selbstschädigung zu schützen, besteht allerdings nicht. Wer dopen will, darf dopen, da Art. 2 Abs. 1 GG die geistige und körperliche Selbstgestaltung prinzipiell der Selbstbestimmung des Einzelnen überlässt, weshalb in seinem Schutzbereich auch die freiwillige Einnahme von Dopingsubstanzen seine „verfassungsrechtliche Ordnungsgarantie“86 hat. Art. 2 Abs. 1 GG schützt zudem die allgemeine Handlungsfreiheit in einem umfassenden Sinn,87 wozu auch sportliche Freizeitaktivitäten gehören.88 Häberle ordnet die Sportausübung als „Stück individueller […] Freiheitserfüllung“ Förderung des Sports oder auf Teilhabe an diesem den Grundrechten allerdings nicht zu entnehmen sind. 82 Gubelt, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 5. Aufl. 2000, Art. 12 Rn. 63 m.w.N. („Berufsverbot“). 83 BSG, Urt. vom 20.12.1961, BSGE 16, 98 (105). 84 Vgl. Brecht, Schriften zur Politik und Gesellschaft, 1919–1956, 1968, S. 28: „Selbstverständlich ist Sport […], riskanter Sport, nicht gesund.“ 85 Kirchhof (Fn. 51), S. 41, 46 f., der ebd. auch die Entwicklung dieser Rechtsprechung darstellt. 86 Kirchhof (Fn. 51), S. 41, 47. 87 St. Rspr. seit BVerfG, Urt. vom 16.1.1957 („Elfes“), BVerfGE 6, 32 (36 ff.). 88 Nur vereinzelt wird sportliche Betätigung vom Schutzbereich der Norm ausgenommen (BVerfG, Beschl. vom 6.6.1989, BVerfGE 80, 137 ff.; abw. Meinung Grimm, 164 ff.).
54
Andreas Wax
gar dem Schutzbereich der Menschenwürdegarantie – diese sei hier, der Jubilar möge mir dies nachsehen, im Rahmen der Grundrechte angesprochen89 – zu.90 Auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht betrifft den Sport im Zusammenhang mit Werbung am Menschen, Kinderhochleistungssport, der Transferpraxis im Mannschaftssport91 oder im Bereich des Dopings, dort bei der oft mangelhaften Abschirmung der aus Dopingkontrollen gewonnenen Erkenntnisse92 oder der Praxis der Kontrollen selbst. Hier fällt das Stichwort der „Urinabgabe unter Aufsicht“, jüngst einer breiten Öffentlichkeit in Sönke Wortmanns Kinofilm „Deutschland. Ein Sommermärchen“ am Beispiel von Oliver Neuville präsentiert. Wie das Beispiel der Grundrechte zeigt, kann sich der Sport dem staatlichen Recht, können sich also sportverbandliche Entscheidungen der Überprüfbarkeit durch staatliche Gerichte93 nicht entziehen. Da die Sport(verbands)gerichte in Deutschland pro Jahr mit etwa 850.000 Fällen befasst sind, was eine dreifach größere Verfahrensanzahl als in der gesamten Verwaltungsgerichtsbarkeit darstellt,94 kann nur vermutet werden, in wie vielen
89 Graf Vitzthum, Zurück zum klassischen Menschenwürdebegriff! Eine Erinnerung an Lüth, Dürig und Kant, in: Henne / Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht: die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, 2005, S. 349, 365: „Garantie der Würde des Menschen, die, was bekanntlich streitig ist, kein Grundrecht ist.“ 90 Häberle (Fn. 14), S. 25, 42, 44. 91 Aufzählung nach Steiner (Fn. 81), S. 75. 92 Kirchhof (Fn. 51), S. 41, 48. Erinnert sei an den (freilich nicht im Geltungsbereich des Grundgesetzes befindlichen) Fall Lance Armstrong. Der siebenfache Tour-de-France-Sieger sah sich im Sommer 2005 mit der Veröffentlichung (s)einer positiven Dopingprobe durch die französische Zeitschrift L’Équipe konfrontiert, ohne diesbezüglich zuvor auch nur angehört worden zu sein (L’Équipe vom 23.8.2005, S. 1 ff.). 93 Zum Umfang dieser Überprüfbarkeit nur BGH, Urt. vom 28.11.1994, BGHZ 128, 93 ff. Das Recht des Sportlers, Verbandsmaßnahmen überprüfen zu lassen, ist heute allgemein anerkannt (vgl. nur Oschütz, Sportschiedsgerichtsbarkeit. Das Schiedsverfahren des Tribunal Arbitral du Sport vor dem Hintergrund des schweizerischen und deutschen Schiedsverfahrensrechts, 2005, S. 2).
Staat und Sport
55
Fällen staatliche Gerichte mit Fragen des Sports in Berührung kommen. Wenn auch bisweilen die zunehmende „Verrechtlichung des Sports“95 angeprangert wird, so ist doch festzustellen, dass der deutsche Sport heute grundsätzlich Unabhängigkeit genießt. Der Staat vermeidet es – bereichsweise womöglich in übertriebenem Maße96 –, „in bezug auf den Sport eigene Ordnungspolitik zu betreiben“.97 Staat und Sport befinden sich in Deutschland durchaus auf „gleicher Höhe“, bisweilen betreiben sie, etwa auf dem Gebiet der Sportförderung, gar “teamwork”. Jedenfalls hat „die deutsche staatliche Gerichtsbarkeit […] dem Sport […] noch kein Leid angetan“.98 Wie Steiner – unter Rückgriff auf die rechtsprechungskritische Terminologie Josef Isensees99 – treffend ausführt, hat (auch) die „Ausstrahlungswirkung der Grundrechte […] beim Sport […] keine ‚Strahlungsschäden‘ hinterlassen“.100 2. Ein Blick über die (Staats-)Grenze Anders als die Bundesrepublik oder auch das Vereinigte Königreich101 haben andere europäische Staaten allgemeine Sportgesetze bzw. Gesetze, die spezifische Fragen des Sports (etwa die Bekämpfung des Dopings) regeln, erlassen. In Frankreich wurden seit 1941 diverse „Sportgesetze“ auf den Weg gebracht. Zentrale Bedeutung kam hierbei bis vor kurzem dem Gesetz über die Organisation und Förderung des Sports vom 16. Juli 94
So Schickhardt, Sportgerichtsbarkeit in Deutschland. Praxis, Bedeutung, Grenzen, in: Justizministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Sport und Recht, 2001, S. 70, 76. 95 Adolphsen, Internationale Dopingstrafen, 2003, S. 19, versteht hierunter den „wachsenden Einfluss staatlichen Rechts auf die organisierte Sportausübung entgegen dem Prinzip der Nichtintervention“. 96 Zur Diskussion um ein staatliches Anti-Doping-Gesetz unten III.3. 97 Steiner (Fn. 81), S. 223. 98 Steiner (Fn. 9), S. 22. 99 Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis BVerfG?, JZ 1996, 1085, 1090. 100 Steiner (Fn. 9), S. 22 m.w. Ausführungen. 101 Evans, Sportrecht in England, in: Will (Hrsg.), Sportrecht in Europa, 1993, S. 31, 33.
56
Andreas Wax
1984102 zu, das in den letzten Jahren zahlreiche Änderungen erfahren hatte 103 und aus Gründen der Rechtsvereinheitlichung104 jüngst durch Verordnung vom 23. Mai 2006105 in den (teilweise noch im Entstehungsprozess befindlichen) Code du sport (Sportgesetz) überführt wurde. Ferner wurde seit 1998 ein halbes Dutzend weiterer Gesetze erlassen, die sich spezifisch dem Sport widmen.106 Hieran wird deutlich, dass Staat und Sport in Frankreich seit jeher enger miteinander verbunden sind, als dies in Deutschland (nach 1945) der Fall ist.107 Zwar proklamiert Art. L. 131-1 Abs. 2 (ex-Art. 16 I. Abs. 3) Sportgesetz die Unabhängigkeit der privaten108 Sportorganisationen; andererseits ordnet Art. L. 111-1 II. S. 1 (ex-Art. 16 I. Abs. 5) Sportgesetz aber auch die umfassende staatliche Aufsicht über die Tätigkeit der Sportverbände an („L’État exerce la tutelle des fédérations sportives“). Dahinter steht der Gedanke, dass die Organisation des Sports in Frankreich nicht primär der Regelungskompetenz der Sportverbände zukommt, sondern vielmehr als staatliche Aufgabe (Art. L. 131-9 Abs. 1 Sportgesetz: „missions de service public“) betrachtet wird, deren Ausübung den Verbänden lediglich im Wege der Beauftragung (délégation109) zusteht.110 Somit unterliegt die Normsetzung und -anwendung
102
Loi n˚ 84-610 du 16.7.1984 relative à l’organisation et à la promotion des activités physiques et sportives (JO du 17.7.1984, 2288). 103 Loi n˚ 92-652 du 13.7.1992 (JO n˚ 163 du 16.7.1992), Loi n˚ 2000-627 du 6.7.2000 (JO n˚ 157 du 8.7.2000, 10311), Loi n˚ 2003-339 du 14.4.2003 (JO n˚ 89 du 15.4.2003, 6632), Loi n˚ 2003-708 du 1.8.2003 (JO n˚ 177 du 2.8.2003, 13274). 104 Loi n˚ 2004-1343 du 9.12.2004 de simplification du droit (JO n˚ 287 du 10.12.2004, 20857). 105 Ordonnance n˚2006-596 du 23.5.2006 relative à la partie législative du code du sport (JO n˚ 121 du 25.5.2006, 7791). 106 Übersicht bei Pautot / Pautot, Le sport et la loi, 2. Aufl. 2004, S. 23. 107 Autexier, Sportrecht in Frankreich, in: Will (Fn. 101), S. 11 m.w.N.; Röthel, Das Recht der französischen Sportvereine und Sportverbände, Ein Überblick aus Anlass der jüngsten Änderungen des Sportgesetzes, SpuRt 2001, 89. 108 Art. L. 131-2 Abs. 1 Sportgesetz. Vgl. auch Conseil d’État, arrêt du 22.11.1974 (F.I.F.A.S.), RDP 1975, 1109 ff. 109 Art. L. 131-14 Abs. 1 (ex-Art. 17.I Abs. 1 S. 1) Sportgesetz.
Staat und Sport
57
des Sports einer (erschöpfenden) staatlichen Rechtmäßigkeitskontrolle. Allgemein gilt, dass ein dichtes Geflecht von Überwachungsmechanismen existiert, durch die der Staat auf die privaten Sportorganisationen Einfluss nimmt.111 Klarstellend sei erwähnt, dass die staatliche Kontrolle auch in Frankreich keine erdrückende ist; der Staat „laisse généralement au milieu sportif le soin de s’épanouir librement“.112 Wie in Frankreich existiert auch in Italien ein Sportgesetz.113 Dass Sport und Staat in Italien eng verflochten sind, zeigt – abgesehen von Sportgesetz und staatlichem Anti-Doping-Gesetz – auch der Rechtsstatus des Comitato Olimpico Nazionale Italiano (C.O.N.I), welches 1907 gegründet und am 16. Februar 1942 per Gesetz n. 426114 vom Staat anerkannt wurde. Wie im Falle des NSRL wurde das C.O.N.I. seinerzeit der Partito Nazionale Fascista untergeordnet und sein Vorsitzender von Mussolini persönlich benannt.115 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Einfluss des Staates auf das C.O.N.I. Bestand, indem dieses zunächst dem Regierungschef, später der Aufsicht des Ministeriums für Fremdenverkehr und kulturelle Veranstaltungen unterstellt wurde.116 Auch heute noch, nach Aufhebung des Gesetzes n. 426 im Juli 1999,117 ist das C.O.N.I. Staatsbehörde.118 Seine 110 Hierzu Röthel (Fn. 107), 89, 91 m.w.N. Die französischen Sportverbände stellen daher juristische Personen des Privatrechts dar, die Hoheitsgewalt ausüben (Autexier [Fn. 107], S. 11, 15). 111 Autexier (Fn. 107), S. 11 m.w.N.; Miège, Les institutions sportives, 2. Aufl. 1997, S. 80. Konsequenterweise ist in den Fällen, in denen der Staat oder Private Entscheidungen der Sportverbände, die ein hoheitliches Mandat ausüben, vor staatlichen Gerichten überprüfen lassen, die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte eröffnet (Art. L. 131-20 Abs. 1 Sportgesetz). 112 Pautot / Pautot (Fn. 106), S. 74. 113 Legge 17 ottobre 2003, n. 280 (Conversione in legge, con modificazioni, del decreto-legge 19 agosto 2003, n. 220, recante disposizioni urgenti in materia di giustizia sportiva, GU n. 243 del 18.10.2003). 114 Legge 16 febbraio 1942, n. 426 (Costituzione e ordinamento del Comitato Olimpico Nazionale Italiano (C.O.N.I.), GU n. 112 del 11.3.1942). 115 Vgl. De Cristofaro, Sportrecht in Italien, in: Will (Fn. 101), S. 55. 116 Art. 2 Abs. 2 Legge 31 luglio 1959, n. 617 (Istituzione del Ministero del Turismo e dello Spettacolo, GU n. 195 del 14.8.1959). 117 Decreto Legislativo 23 luglio 1999, n. 242 (Riordino del Comitato olimpico nazionale italiano – C.O.N.I., a norma dell’articolo 11 della legge 15 marzo 1997, n. 59, GU n. 176 del 29.7.1999).
58
Andreas Wax
Einbettung in den Staatsapparat verdeutlicht eine weniger scharfe Grenzziehung der Regulierungsbefugnisse zwischen Staat und Sport als in Deutschland. Wenn hinsichtlich der Rechtslage in Frankreich und Italien bemerkt wird, dass auch hier dem Sport weitgehend Autonomie gewährt wird,119 geschieht dies stets mit dem Zusatz, dass diese Staaten „sogar darüber hinaus“ gehen, indem sie den Sportorganisationen „teilweise […] sogar die Ausübung von Hoheitsgewalt“120 zugestehen. Ob dieses Zugeständnis tatsächlich zur Folge hat, dass dem Sport ein höheres Maß an Autonomie zukommt, als dies in der Bundesrepublik der Fall ist, ist im Ergebnis zu verneinen. Denn Kehrseite der zuerkannten Hoheitsgewalt sind erhöhte Kontroll- und Regulierungsbefugnisse des Staates. Die Kreidelinien des Spielfeldes sind verwischt. Fraglich ist, wie dies zu bewerten ist. Solange kein Staatssport besteht – an das Beispiel des „Dritten Reichs“ sei erinnert – bzw. kein derart beherrschender Einfluss ausgeübt wird, dass Entscheidungsprozesse des organisierten Sports sämtlich oder weit überwiegend in staatlicher Hand liegen oder die Funktionsfähigkeit des Sports nicht mehr gewährleistet ist (Wesensgehaltsgarantie121), sind vermehrte staatliche Regulierungsbefugnisse nicht nur hinnehmbar, sie können vielmehr bisweilen sogar förderlich sein. Bevor auf die Begründung dieser These eingegangen wird, ist zu ergänzen, dass der Sport selbst – auf Ebene „seiner“ internationalen Organisation – über Regelungsinstrumente verfügt, die übermäßiger staatlicher Intervention Einhalt gebieten können. 118 Vgl. Decreto Legislativo 23 luglio 1999, n. 242 (Fn. 117), Art. 1 Abs. 1, Comitato olimpico nazionale italiano: „Il Comitato olimpico nazionale italiano […] ha personalità giuridica di diritto pubblico.“ 119 Vgl. Art. 1 Abs. 1 des italienischen Sportgesetzes: „La Repubblica riconosce […] l’autonomia dell’ordinamento sportivo nazionale“ bzw. die amtliche Überschrift des entsprechenden Art. 2: „Autonomia dell’ordinamento sportivo“. 120 Pfister (Fn. 60), S. 10, Rn. 9. Vgl. auch Pautot / Pautot (Fn. 106), S. 27: „la toute puissance des fédérations sportives“. 121 Vgl. Vieweg / Röthel, Verbandsautonomie und Grundfreiheiten, ZHR 2002, 6, 15.
Staat und Sport
59
Deutlich wurde dies im Juli 2006 am Beispiel der Suspendierung des griechischen Fußballverbandes (HFF) durch die Fédération Internationale de Football Association (FIFA). Während in Deutschland alle Konzentration der Fußballweltmeisterschaft galt, spielte sich zwischen Zürich und Athen folgendes Szenario ab: Da der griechische Staat, wohl auch motiviert durch Art. 16 Abs. 9 seiner Verfassung („Der Sport steht unter dem Schutz und der […] Aufsicht des Staates. Der Staat subventioniert und kontrolliert alle Verbände von Sportvereinen“122), die Autonomie der HFF (nach Ansicht der FIFA) in einem Ausmaß beschnitten hatte, dass jegliche Unabhängigkeit ihrer Entscheidungsprozesse ausgeschlossen war, und auch Versprechen, diesem Missstand per Änderung der nationalen Sportgesetzgebung Abhilfe zu verschaffen, uneingelöst ließ, wurde die HFF von der FIFA von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen.123 Da dies einen Aufschrei der Entrüstung im griechischen (Fußball-)Volk auslöste – schließlich handelt es sich bei Otto Rehhagels Mannen um den amtierenden Fußball-Europameister –, sah sich Athen derart unter Druck gesetzt, dass die nationale Gesetzeslage binnen acht (!) Tagen zugunsten der geforderten Autonomie des Sports abgeändert wurde. Daraufhin hob das Dringlichkeitskomitee der FIFA die ausgesprochene Suspendierung wieder auf,124 ein Beispiel dafür, wie die internationale Sportgemeinschaft gravierende Autonomieverluste ihrer Mitglieder im Sinne der sanction of non-participation125 zu „regulieren“ vermag. Auch vor dem Hintergrund derartiger „Kontrollinstanzen“ ist (verstärkter) staatlicher Einfluss auf den nationalen Sport zu akzeptieren, sofern dem Sport wesentliche Organisationsbefugnisse verbleiben. In Anbetracht der bisweilen (über-)mächtigen Stellung, die nationale Sportorganisationen gegenüber den ih122 Verfassung der Griechischen Republik vom 9.6.1975, zuletzt geänd. durch Gesetz vom 16.4.2001. Dt. Übersetzung der entsprechenden Vorschrift Häberle (Fn. 14), S. 25, 29. 123 F.A.Z. vom 4.7.2006, S. 38. 124 F.A.Z. vom 13.7.2006, S. 32. Vgl. auch Panagiotopoulos / Mournianakis, Verbandsautonomie und staatliche Regulierung. Der Konflikt zwischen FIFA und Griechischem Fußballbund, SpuRt 2006, 189 ff. 125 Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964, S. 92.
60
Andreas Wax
nen zugehörigen Athleten bekleiden, erscheinen staatliche Kontroll- und Regulierungsbefugnisse nachgerade geboten. Förderlich kann (mehr) staatliche Regulierung insbesondere dann sein, wenn Staat und Sport die gleichen Ziele verfolgen, diese vom Sport aber nicht zureichend realisiert werden können. Diesbezüglich wird die Rede laut von staatlichen Anti-Doping-Gesetzen. 3. Der Grenzfall staatlicher Anti-Doping-Gesetze Ein Anti-Doping-Gesetz besteht in Deutschland nicht. Anders verhält es sich im europäischen Ausland. Im Jahr 1999 hatte Frankreich – anders als Berlin versteht Paris die Bekämpfung des Dopings traditionell als „staatliche Gestaltungsaufgabe“126 – bereits sein drittes Anti-Doping-Gesetz erlassen,127 dieses jedoch in großen Teilen zwischenzeitlich in den Code de la santé publique (Gesundheitsordnung) überführt. Im Bestreben, ein Gesetz zu schaffen, das sämtliche den Sport betreffenden Materien vereinheitlicht, wurden diese Regelungen jüngst in das Sportgesetz integriert.128 So untersagt Art. L. 232-9 Abs. 1 Nr. 1˚ Sportgesetz (ex-Art. L.3631-1 Gesundheitsordnung) den Gebrauch von Dopingsubstanzen; Art. L. 232-10 Abs. 1 Sportgesetz (exArt. L.3631-3 Gesundheitsordnung) verbietet den Handel, das Verschreiben, das Inverkehrbringen und die Verabreichung solcher Präparate. Wer gegen diese Regelungen verstößt, unterliegt zunächst verbandsrechtlichen Sanktionen, ferner aber auch der Sanktionsgewalt der Agence française de lutte contre le dopage129 (AFLD, Art. L. 232-5 ff. Sportgesetz). Diese Staatsbehörde (Art. L. 232-5 I. S. 1 Sportgesetz) kann Verbandsentschei126
Röthel, Neues Doping-Gesetz für Frankreich, SpuRt 1999, 20. Loi n˚ 99-223 du 23.3.1999 relative à la protection de la santé des sportifs et à la lutte contre le dopage (JO n˚ 70 du 24.3.1999, 4399), zuletzt geänd. durch Loi n˚ 2006-405 du 5.4.2006 (JO n˚ 82 du 6.4.2006, 5193). Die Vorgängerregelungen waren Loi n˚ 65-412 du 1.6.1965 (JO du 2.6.1965, 4531) und Loi n˚ 89-432 du 28.6.1989 (JO du 1.7.1989, 8146). 128 Art. 5 Nr. 1˚, 8 Ordonnance n˚ 2006-596 du 23.5.2006 (Fn. 105). 129 Hierbei handelt es sich um die Nachfolgeorganisation des bis zum September 2006 bestehenden Conseil de Prévention et de Lutte contre le Dopage. 127
Staat und Sport
61
dungen abändern sowie Disziplinarstrafen (Art. L. 232-22 ff. Sportgesetz) aussprechen. Schließlich schreibt das Sportgesetz in Art. L. 232-25 ff. Straftatbestände fest, nach denen für die Tatmodalitäten des Art. L. 232-10 Abs. 1 Geld- oder Freiheitsstrafen von bis zu fünf, in schweren Fällen auch bis zu sieben Jahren (Art. L. 232-26 Sportgesetz) sowie Berufsverbote (Art. L. 232-27 Nr. 4˚ Sportgesetz) verhängt werden können. 130 Bei alledem unterscheidet das französische Strafrecht zwischen Konsument und Händler. Die Selbsteinnahme von Dopingsubstanzen ist – ebenso wie deren Besitz – straflos. Der Sportler macht sich nur strafbar, wenn er sich bei Kontrollen den Anweisungen der AFLD widersetzt bzw. deren Disziplinarmaßnahmen missachtet (Art. L. 232-25 Sportgesetz). Bereits vor den Olympischen Winterspielen 2006 in Turin,131 besonders aber während der Spiele geriet die Dopinggesetzgebung in Italien in das Blickfeld der Weltöffentlichkeit, als österreichische Wintersportler aufgrund eines Dopingverdachts frühmorgens um halb vier in ihren Quartieren einer Polizeirazzia ausgesetzt waren, die zur Flucht zweier Biathleten sowie – in einer spektakulären Verfolgungsjagd – des Trainers Walter Mayer132 in die heimische Alpenrepublik führte.133 Gesetzliche Grundlage des Einsatzes war das italienische Anti-Doping-Gesetz (n. 376) vom 14. Dezember 2000.134 Dieses sieht neben der verwaltungsrechtlichen Seite der Ahndung des Dopings – diese 130
Art. L. 232-29 Sportgesetz ordnet die Versuchsstrafbarkeit an. Im Vorfeld der Spiele gab es intensive Diskussionen zwischen dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und der italienischen Regierung über die Anwendbarkeit des italienischen Anti-Doping-Gesetzes; vgl. nur Mario Pescante: „Wir werden nicht verhindern können, daß die Polizei bei einem Vergehen die Olympiadörfer durchsucht“ (F.A.Z. vom 19.11. 2005, S. 32). 132 Mayer war bereits nach den Winterspielen 2002 in Salt Lake City wegen des Einsatzes unerlaubter Mittel („Blutbeutel-Affäre“) vom Internationalen Skiverband lebenslang gesperrt worden, hatte gegen dieses Berufsverbot jedoch vor dem Arbeitsgericht Innsbruck erfolgreich geklagt (F.A.Z. vom 21.2.2006, S. 35). 133 F.A.Z. vom 21.2.2006, S. 35. 134 Legge 14 dicembre 2000, n. 376 (Disciplina della tutela sanitaria delle attività sportive e della lotta contro il doping, GU n. 294 del 18.12.2000). 131
62
Andreas Wax
erfolgt über die vom Gesundheitsministerium eingesetzte Commissione (Art. 3 Anti-Doping-Gesetz) – auch dessen strafrechtliche Ahndung vor. So normieren die in Art. 9 Anti-DopingGesetz enthaltenen Bestimmungen, dass sich nicht nur das Umfeld des dopenden Sportlers, insbesondere der „behandelnde“ Arzt, sondern auch der Dopingsubstanzen verwendende Sportler selbst (Art. 9 Abs. 1, Abs. 2 Anti-Doping-Gesetz sieht drei Monate bis drei Jahre Haft bzw. 5 - 100 Mio. LIT135 Geldstrafe vor) strafbar machen,136 wobei die Strafe in schweren Fällen erhöht werden kann.137 Auch in Italien ist der bloße Besitz von Dopingsubstanzen straflos. In Deutschland wird „[d]er Ruf nach einem Gesetz, das Doping im Sport verbietet, […] immer stärker“.138 Auch wenn Max Kohlhaas seine Äußerung bereits 1972 traf, ist dieser Ruf bis heute nicht verstummt, sondern, nicht nur aufgrund der Gesetzeslage im europäischen Ausland,139 lauter denn je vernehmbar. Dies belegt der Umstand, dass der Freistaat Bayern am 22. September 2006 den Antrag für ein Gesetz zur Dopingbekämpfung in den Bundesrat eingebracht hat.140 Derartige Initiativen basieren auf der vorhandenen Gesetzeslage, die mitunter als 135
Eine Anpassung des Gesetzes an den Euro ist bislang nicht erfolgt. Vgl. Gattiker, Die rechtliche Stellung des Arztes bei Doping und Heilmittelmissbrauch, in: Arter (Hrsg.), Sport und Recht, 2004, S. 193, 196. 137 Art. 9 Abs. 3 Anti-Doping-Gesetz. 138 Kohlhaas, Doping aus rechtlicher Sicht, in: Acker (Hrsg.), Rekorde aus der Retorte. Leistungssteigerung im modernen Hochleistungssport, 1972, S. 53. 139 Anfang November 2006 hat auch das spanische Parlament mit großer Mehrheit ein Anti-Doping-Gesetz verabschiedet (F.A.Z. vom 3.11.2006, S. 32). 140 Antrag Bayerns vom 13.9.2006, BR-Drs. 659 / 06. Davon, dass der Rechtsauschuss des Bundesrates diesen Entwurf vorerst gestoppt hat, will sich die bayerische Staatsregierung nicht beirren und den Vorstoß demnächst erneut auf die Tagesordnung setzen lassen (Der Spiegel vom 9.10. 2006, S. 19). – Der vorliegende Beitrag gibt die Gesetzeslage zum Zeitpunkt des Kolloquiums (Ende November 2006) wieder. Seitherige Entwicklungen wie das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport v. 31.10.2007 (GVBl. I S. 2510), die sich auf den Inhalt dieser Skizze im übrigen nicht auswirken, konnten nicht oder nur noch am Rande berücksichtigt werden. 136
Staat und Sport
63
„totes Recht“141 bezeichnet wird. § 6a i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 2a, Abs. 2, Abs. 3 AMG142 normiert das Verbot von Arzneimitteln zu Dopingzwecken im Sport. Untersagt ist gemäß § 6a Abs. 1 AMG das Inverkehrbringen, die Verschreibung oder Anwendung derartiger Mittel bei Dritten, sanktioniert mit Geld- oder Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren (§ 95 Abs. 1 Nr. 2a AMG)143, in besonders schweren Fällen von bis zu zehn Jahren (§ 95 Abs. 3 AMG); der Versuch ist strafbar (§ 95 Abs. 2 AMG). Hingegen macht sich der Sportler, der die Substanz dem eigenen Körper zuführt – die umstrittene Strafbarkeit wegen Betruges (§ 263 StGB) einmal ausgenommen144 –, nicht strafbar.145 Ebenso verhält es sich mit dem Besitz von Dopingmitteln. Ihre Leistungsfähigkeit manipulierende Sportler können allein von Verbands wegen belangt werden. Dass sich der Staat de lege lata weitestgehend aus einer Sanktionierung des Dopings heraushält, wird auch an der Organisationsform des deutschen Pendants zur AFLD und Commissione, der am 15. Juli 2002 in Bonn gegründeten Nationalen Anti Doping Agentur (NADA), sichtbar. Diese übt keinerlei Hoheitsrechte aus, sondern agiert als private Stiftung, wobei Bund und Länder den maßgeblichen Anteil am (zu geringen) Stiftungskapital tragen.146
141 § 6a AMG gilt deshalb als „totes Recht“, da seit Inkrafttreten der Vorschrift 1998 trotz positiver Kontrollen keine einzige Anklage wegen Verstoßes hiergegen erhoben wurde (Dury, Kann das Strafrecht die DopingSeuche ausrotten?, SpuRt 2005, 137, 139). 142 Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln vom 24.8.1976 (BGBl. 1976 I S. 2445), neugef. durch Bek. vom 12.12.2005 (BGBl. 2005 I S. 3394), zuletzt geänd. durch Gesetz vom 14.8.2006 (BGBl. 2006 I S. 1869). 143 Bei Fahrlässigkeit drohen Freiheitsstrafen von bis zu einem Jahr oder Geldstrafen (§ 95 Abs. 4 AMG). 144 Ausführlich Cherkeh, Betrug (§ 263 StGB), verübt durch Doping im Sport, 2000. 145 Hierzu insg. Heger, Die Strafbarkeit von Doping nach dem Arzneimittelgesetz, SpuRt 2001, S. 92 ff. 146 Müller-Platz, Neue Entwicklungen in der Dopingbekämpfung, in: Bundesinstitut für Sportwissenschaft (Hrsg.), Jahrbuch 2003, 2003, S. 115, 120. Das Stiftungsvermögen der NADA beträgt derzeit 6,6 Mio. EUR. Bei Gründung war ein Kapital in Höhe von 60 – 80 Mio. EUR vorgesehen (F.A.Z. vom 26.10.2006, S. 35).
64
Andreas Wax
Befürworter eines Anti-Doping-Gesetzes sehen dessen Notwendigkeit neben den dem Gesetzzweck geschuldeten Schwächen des AMG – dieses umfasst nur Arzneimittel, nicht aber auch die (populären) Nahrungsergänzungsmittel sowie Blutdoping147 – darin, dass Doping wirksam nur bekämpft werden kann, wenn dies zusätzlich zu den Sportorganisationen auch der Staat in dem Maße tut, dass der dopende Sportler „zum Subjekt strafrechtlicher Ermittlungen“148 wird. Gefordert wird, dass auch der Besitz von Dopingmitteln – die per Konsum mögliche Selbstschädigung ist nach deutschem Recht straflos, zumindest solange, als der sich selbst Gefährdende das eingegangene Risiko umfasst149 – bestraft wird.150 Die Gegner einer gesetzlichen Regelung begründen ihre Haltung damit, dass ein Sportler als Beschuldigter im Strafverfahren die Aussage verweigern könnte; damit würden Ermittlungen gegen die Hintermänner erschwert.151 Zudem würde eine staatliche Verfolgung zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Verbandsgerichte führen, da vor Strafgerichten der in dubio pro reo-Grundsatz gilt, verbandsintern jedoch grundsätzlich die strict liability-Regel zur Anwendung gelangt. Diese führt bereits zur Ahndung, wenn der Athlet seine Unschuld nicht nachweisen kann (Beweislastumkehr).152 Mithin seien widersprüchliche Resultate nicht auszuschließen. Insgesamt wird die Autonomie des Sports als gefährdet erachtet.153 147
F.A.Z. vom 3.11.2006, S. 32. Prokop, Anti-Doping-Gesetz. Pro und Contra, Pro: Argumente für ein Anti-Doping-Gesetz, SpuRt 2006, 192, 193. 149 Vgl. nur BGH, Urt. vom 14.2.1984, BGHSt 32, 265 ff. 150 Vgl. nur den Antrag Bayerns vom 13.9.2006 (Fn. 140); ebenso Röwekamp, Bekämpfung des Doping mittels eines Anti-Doping-Gesetzes?, ZRP 2006, 239. Vgl. auch Vieweg, Staatliches Anti-Doping-Gesetz oder Selbstregulierung des Sports?, SpuRt 2004, 194 ff. 151 Krähe, Anti-Doping-Gesetz. Pro und Contra, Contra: Argumente gegen ein Anti-Doping-Gesetz, SpuRt 2006, 194. 152 Hierzu statt vieler Haug, Doping. Dilemma des Leistungssports, 2006, S. 170 ff. 153 Haug (Fn. 152), S. 206: „In Deutschland wurde die Einführung eines speziellen Gesetzes bisher von den politisch Verantwortlichen unter Berufung auf die Autonomie des Sports abgelehnt“. Vgl. auch F.A.Z vom 30.8. 2006, S. 30. Ausführlich auch Der Spiegel vom 27.11.2006, S. 156 ff. 148
Staat und Sport
65
Auch wenn hier kein genereller Aufruf für oder wider ein Anti-Doping-Gesetz erfolgen soll,154 ist doch Stellung zu nehmen zu der Frage, ob die Grenzen zwischen Sport und Staat unzulässigerweise zum Nachteil des Sports verschoben wären, wenn dieser seinen Stammplatz in der Sanktionierung von Dopingsündern verlieren würde.155 Dies wäre gewiss nicht der Fall. Zwar ist zuzugeben, dass eine einschlägige staatliche Intervention Autonomierechte des Sports beschränken würde. Dies wäre jedoch gerechtfertigt. Der (Leistungs-)Sport scheint mehr und mehr außer Stande, die Geißel des Dopings alleine zu bekämpfen. Der Preis, den er hierfür bezahlt, besteht im Verlust der Glaubwürdigkeit der im Sport erbrachten Leistungen, mithin seiner Glaubwürdigkeit („sportethische Beurteilung der breiten Bevölkerung“156). Wer war wirklich der Ansicht, dass Floyd Landis die „grande boucle“ 2006, seine das Peloton deklassierende Soloflucht auf der Alpenetappe zwischen Saint-Jean-deMaurienne und Morzine „sauber“ fuhr? Wer von uns saß zu 154 Beide Ansichten begegnen Zweifeln. So ist bereits fraglich, ob der Besitz von Dopingsubstanzen beim Aktiven regelmäßig überhaupt vorhanden ist, da die ihm verabreichten Mittel exakt dosiert und gegebenenfalls mit anderen Präparaten in Einklang gebracht werden müssen, was eher für das Vorhandensein der entsprechenden Substanzen bei biochemischen Experten oder Ärzten spricht (vgl. F.A.Z. vom 17.11.2006, S. 35). Zudem scheint eine Besitzstrafbarkeit unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgrundsatzes fraglich, da gemäß § 29 Abs. 5 BtMG (Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln vom 28.7.1981 (BGBl. 1981 S. 681, 1187), neugef. durch Bek. vom 1.3.1994 (BGBl. 1994 I S. 358), zuletzt geänd. durch Gesetz vom 21.6.2005 (BGBl. 2005 I S. 1818)) von Strafe abgesehen werden kann, „wenn der Täter die Betäubungsmittel lediglich zum Eigenverbrauch in geringer Menge […] besitzt“ (in ähnlichem Sinn Dury (Fn. 141), 137, 138). Denjenigen, die ein solches Gesetz ablehnen, ist zu entgegnen, dass jedenfalls nicht einzusehen ist, dass der dopende Sportler deshalb nicht bestraft werden soll, damit Ermittlungserfolge gegen die Hintermänner nicht gefährdet werden. Dann dürften ja die „kleinen Fische“ im „großen Teich“ der organisierten Kriminalität aus vergleichbaren kriminalpolitischen Gründen grundsätzlich auch nicht (mehr) belangt werden. 155 Dieser basiert darauf, dass die (betroffene) „Gewährleistung sportlicher Fairness […] durch Maßnahmen der Gremien des Sports“ erfolgt (Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 3.3.1998, BT-Drs. 13 / 9996, 13). 156 Haug (Fn. 152), S. 190.
66
Andreas Wax
diesem Zeitpunkt noch vor dem Fernseher, hatte Interesse an der von illegaler Leistungsmanipulation geprägten Rundfahrt? Dopingfälle gibt es freilich auch im deutschen Sport zur Genüge. Mit der bloßen Begründung des Autonomieverlustes darf ein deutsches Anti-Doping-Gesetz jedenfalls nicht abgelehnt werden. Was nützen dem (deutschen) Sport autonome Regelungsbefugnisse, wenn er die Geister, die ihn bedrohen, (alleine) nicht mehr los wird? Er wäre gut beraten, seine Grenzen zu öffnen. Effektive Dopingbekämpfung, und nur diese bewahrt dem Sport seine lebensnotwendige Glaubwürdigkeit (bzw. gibt sie ihm wieder), funktioniert dort besser, wo auch die Justiz sich der Sache annimmt.157 Ins Abseits würde sich der Sport hierdurch keinesfalls begeben. Die Autonomie des Sports wäre erst verletzt, wenn von Staats wegen in den Wesensgehalt der Selbstregulierungsbefugnisse eingegriffen würde, mithin die Funktionsfähigkeit des Sports nicht mehr gewährleistet wäre.158 Eine derartige Verletzung des Wesensgehalts würde ein staatliches Anti-Doping-Gesetz jedoch nicht zeitigen. Staat und Sport könnten bei der Dopingbekämpfung vielmehr einen Doppelpass – eine arbeitsteilige Aufgabenwahrnehmung – spielen. Wenn aber gemeinsam gespielt wird, gehören „Abseitsregelungen“ abgeschafft.
157 Es ist schlicht festzustellen, dass „überall dort, wo wir Erfolg in der Dopingbekämpfung haben, […] sich das außerhalb von sportlichen Institutionen ab[spielt]“ (Dieter Baumann, F.A.Z. vom 3.11.2006, S. 32). Ein dem „ne bis in idem“ (Art. 103 Abs. 3 GG) entgegenstehendes Doppelbestrafungsverbot im Verhältnis von Verbandssanktion und staatlicher Strafe würde hierbei nicht bestehen (Fahl / Reschke, Sportverbandsgerichtsbarkeit und Doppelbestrafungsverbot, SpuRt 2001, 181 ff.). Ob der Staat gar „zum Schutz des wirtschaftlichen Wettbewerbs“ zum Handeln legitimiert ist, wie Haug (Fn. 152), S. 214 f., dies vertritt, kann hier nicht behandelt werden. 158 Vgl. allg. Vieweg / Röthel (Fn. 121), S. 6, 15.
Staat und Sport
67
IV. Zugriff der supranationalen Gemeinschaft auf den Sport: „Internationale Härte“ oder Regelverstoß? Abschließend ist die „grenzrechtliche Situation“ von supranationaler Gemeinschaft und Sport zu beleuchten. Es wurde bereits erwähnt, dass die „Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs [dem Sport] Leid angetan“159 hat. Dies war Anstoß dafür, dass sich der sonst so besonnene Franz Beckenbauer dazu hinreißen ließ, EG-Funktionäre als eine „Ansammlung gescheiterter Existenzen“160 zu bezeichnen. Auch wenn es sich hierbei um die Worte des „Kaisers“ handelt, muss die Frage erlaubt sein, wie diese Aussagen vor dem Hintergrund der Grenzbetrachtungen zu verstehen sind. Handelt es sich bei der betreffenden Judikatur um bloße „internationale, besser:161 supranationale Härte“, oder sind gar Regel(ungsbefugnis)verstöße seitens der Gemeinschaft festzustellen? Bevor auf die die zitierten Äußerungen auslösende Luxemburger Rechtsprechung eingegangen wird, verdient zunächst die grundsätzliche Auseinandersetzung des Europarechts mit dem Sport Beachtung. Hier fällt auf, dass der Sport im Gemeinschaftsrecht de lege lata nicht ausdrücklich erwähnt ist.162 Der EG-Vertrag begründet insoweit weder eine Kompetenz der Ge159
Steiner (Fn. 9), S. 22. Zit. nach Streinz, Die Rechtsprechung des EuGH nach dem BosmanUrteil. Spielräume für Verbände zwischen Freizügigkeit und Kartellrecht und Verbandsautonomie, in: Tettinger (Hrsg.), Sport im Schnittfeld von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, Bosman – Bilanz und Perspektiven, 2001, S. 27, 28 Fn. 5. 161 Der dem Sportjargon entlehnte Terminus der „internationalen Härte“ dürfte im Kontext durchaus auch einer „supranationalen Härte“ den Vortritt lassen, stellt das Gemeinschaftsrecht trotz seiner im Ursprung völkerrechtlichen Provenienz doch kein internationales Recht i.S.d. Völkerrechts dar. Hierzu Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Rechtsquellen des Seerechts, in: Graf Vitzthum (Fn. 5), S. 1, 8, Rn. 7; Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, S. 139 Rn. 5. 162 Hierzu statt vieler Hozé, Le mouvement sportif a-t-il une vision de l’Europe?, in: Schirmann (Hrsg.), Organisations internationales et architectures européennes 1929 – 1939, 2003, S. 163, 176. 160
68
Andreas Wax
meinschaft, noch normiert er allgemeine vertraglich formulierte Zielsetzungen. Bislang hat der Sport expressis verbis allein unter Nr. 29 der Schlussakte der Amsterdamer Konferenz163 einen freilich bescheidenen Startplatz gefunden: Es handelt sich lediglich um eine politische Willensbekundung.164 So ist ein zweiter Blick auf das Europarecht nötig, um festzustellen, dass der Sport dennoch einen „gemeinschaftsrechtlichen Status enthält“, und zwar „mittelbar und über solche Bestimmungen […], die im Rahmen ihrer allgemeinen Zwecksetzungen auch sportliche Sachverhalte erfassen“.165 Eine generelle Bereichsausnahme zugunsten des Sports, wie sie bisweilen von Sportorganisationen,166 von der Rechtswissenschaft167 oder der Politik168 gefordert wird,169 existiert nicht. Der Sport bzw. seine Ausübung unterfallen freilich insofern gemeinschaftsrechtlicher Regulierung, als „sie einen Teil des Wirtschaftslebens […] ausmachen.“170 Im Umkehrschluss steht das Gemeinschaftsrecht solchen Regelungen der Sportorganisationen nicht entgegen, die auf nichtwirtschaftlichen Gründen basieren.171 Hierunter fallen 163
Schlussakte der Amsterdamer Konferenz mit Erklärungen vom 2.10. 1997 (BGBl. 1998 II S. 438). 164 Allg. zu den Sport betreffenden Projekten der Gemeinschaft Oppermann (Fn. 161), S. 598 f. Rn. 63. 165 Krogmann, Grundrechte im Sport, 1998, S. 190 f. 166 Krogmann, ebd., S. 191 Fn. 743 m.w.N. 167 Palme, Das Bosman-Urteil des EuGH: Ein Schlag gegen die Sportautonomie?, JZ 1996, 238, 239 f.; Kahlenberg, Zur EG-rechtlichen Zulässigkeit von Ausländerklauseln im Sport, EWS 1994, 423, 425 ff. 168 Vgl. nur die Begründung der Bundesregierung im Verfahren Bosman (EuGH, Slg. 1995, I-4921, Rn. 72). 169 Vgl. insg. Heermann, Verbandsautonomie versus Kartellrecht. Zu Voraussetzungen und Reichweite der Anwendbarkeit der Art. 81, 82 EG auf Statuten von Sportverbänden, Causa Sport 2006, 345. 170 EuGH, Urt. vom 12.12.1974 (B.N.O. Walrave and L.J.N. Koch v Association Union cycliste internationale, Koninklijke Nederlandsche Wielren Unie et Federación Española Ciclismo), Rs. 36 / 74, Slg. 1974, 1405, 1418; hierzu Oppermann (Fn. 161), S. 523 Rn. 18; EuGH, Urt. vom 14.7.1976 (Gaetano Donà v Mario Mantero), Rs. 13 / 76, Slg. 1976, 1333, 1340, Rn. 12 / 13. 171 Schwarze / Hetzel, Der Sport im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechts, Europarecht 2005, 581, 583, 586, Fn. 32 („bereichsspezifische Ausnahme“) m.w.N.; Heermann (Fn. 169), S. 345, 346.
Staat und Sport
69
Regelungen über die Nominierung von Nationalmannschaften172 oder über die Auswahl nationaler Teilnehmer für internationale Wettkämpfe.173 In einer aktuellen Entscheidung – hierbei ging es um die Vereinbarkeit des IOC-Dopingreglements mit dem Gemeinschaftsrecht – hat der Gerichtshof diese Rechtsprechung erstmals auch auf das europäische Kartellrecht erweitert.174 Sofern das Europarecht Anwendung auf den (semiprofessionell oder professionell175 betriebenen) Sport findet – Regelungen, denen wirtschaftlicher Bezug zugesprochen wurde, sind Transferklauseln,176 Transferstichtagsklauseln,177 Vorschriften über Ausländerbeschränkungen in Vereinsmannschaften178 oder das FIFA-Spielervermittler-Reglement179 –, hat das Europarecht grundsätzlich die Autonomie des Sports zu achten. Diese hat ihre Grundlage im von der Rechtsprechung (unter Bezugnahme auf Art. 11 EMRK180 bzw. auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, die gemäß Art. 6 Abs. 2 EU 172
EuGH, Urt. vom 12.12.1974 (Fn. 170), 1405, 1419, Rn. 4 / 10; EuGH, Urt. vom 14.7.1976 (Fn. 170), 1333, 1340, Rn. 14 / 16. 173 EuGH, Urt. vom 11.4.2000 (Christelle Deliège v Ligue francophone de judo et disciplines associées ASBL, Ligue belge de judo ASBL, Union européenne de judo and François Pacquée), verb. Rs. 51 / 96 u. 191 / 97; Slg. 2000, I-2595, I-2618 f., Rn. 64; hierzu Heermann (Fn. 169), S. 345, 346. 174 EuGH, Urt. vom 18.7.2006 (Meca-Medina and Majcen v Commission), Rs. C-519 / 04 P, SpuRt 2006, 195 ff., Rn. 45. 175 Nur Streinz, Die Auswirkungen des EG-Rechts auf den Sport, SpuRt 1998, 1, 4 ff. 176 EuGH, Urt. vom 15.12.1995 (Union royale belge des sociétés de football association ASBL v Jean-Marc Bosman, Royal club liégeois SA v JeanMarc Bosman and others and Union des associations européennes de football [UEFA] v Jean-Marc Bosman), Rs. C-415 / 93, Slg. 1995, I-5040, I5073, Rn. 114. 177 EuGH, Urt. vom 13.4.2000 (Jyri Lehtonen and Castors Canada Dry Namur-Braine ASBL v Fédération royale belge des sociétés de basket-ball ASBL (FRBSB)), Rs. 176 / 96, Slg. 2000, I-2714, I-2735, Rn. 60. 178 EuGH, Urt. vom 15.12.1995 (Fn. 176), I-5040, I-5078, Rn. 137. 179 EuG, Urt. vom 26.1.2005 (Laurent Piau v Commission), Rs. T-193 / 02, WuW 2005, 325 ff.; hierzu Vetter, Das FIFA-Spielervermittler-Reglement im Spannungsverhältnis zum europäischen Kartellrecht, SpuRt 2005, 233 ff. 180 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950 (BGBl. 1952 II S. 685, Neubek. i.d.F. des Prot. Nr. 11, BGBl. 2002 II S. 1054).
70
Andreas Wax
den Schutz der Gemeinschaftsrechtsordnung genießen181) anerkannten Gemeinschaftsgrundrecht der Vereinigungsfreiheit. Auch hier wird die „Minimalgrenze“, die die Gemeinschaft stets zu achten hat, „durch die Wesensgehaltsgarantie bestimmt“.182 Dass eben dieser Wesensgehalt durch den EuGH verletzt worden sei – in diesen Zusammenhang sind die These Steiners bzw. der Unmut Beckenbauers einzuordnen –, wird zu Recht vertreten.183 Konkret stand der Fall des belgischen Fußballprofis Jean-Marc Bosman in Rede.184 Das Bosman-Urteil schaffte die bis dahin für Vereinsmannschaften bestehenden Ausländersperrklauseln ab; zudem entfielen Ablösesummen für Spielertransfers nach Vertragsende. Die Auswirkungen dieses Judikats sind bekannt. Neben seiner grundlegenden Bedeutung für die Dogmatik der Grundfreiheiten – der EuGH äußerte hier erstmals, dass auch die Freizügigkeitsgarantie nicht nur ein Diskriminierungs-, sondern auch ein allgemeines Beschränkungsverbot beinhaltet185 – waren die Folgen für den Fußball, ja für den ganzen Sport in Europa unübersehbar.186 Bereits kurz nach dem Urteil änderte sich das Erscheinungsbild nationaler Sportteams grundlegend. War beispielsweise der ruhmreiche FC Barcelona einst eine Mannschaft vorwiegend spanischer Spieler, hatten dort fortan Niederländer – Ajax Amsterdam, im Jahr des Bosman-Urteils noch Gewinner der UEFA Champions League, mutierte in der Folge zum Ausbildungsverein – das Spielgeschehen am Fuß.187 181
Vgl. nur Vieweg, Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände. Eine rechtstatsächliche und rechtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Sportverbände, 1990, S. 159. 182 Vieweg / Röthel (Fn. 121), S. 6, 15. 183 Statt vieler Scholz / Aulehner, Die „3+2“-Regel und die Transferbestimmungen des Fußballsports im Lichte des europäischen Gemeinschaftsrechts, SpuRt 1996, 44 ff. 184 EuGH, Urt. vom 15.12.1995 (Fn. 176). 185 Nettesheim, Die europarechtlichen Grundrechte auf wirtschaftliche Mobilität (Art. 48, 52 EGV), NVwZ 1996, 342 ff; Streinz (Fn. 160), S. 27, 29. 186 Insg. Dinkelmeier, Das „Bosman“-Urteil des EuGH und seine Auswirkungen auf den Profifußball in Europa, 1999. 187 In der Saison 1998 / 99 beschäftigte der spanische Traditionsclub neben dem niederländischen Coach Louis van Gaal mit dessen Landsmännern Ruud Hesp, Winston Bogarde, Frank und Ronald de Boer, Micha-
Staat und Sport
71
Nicht anders sah es auf deutschen Plätzen aus, zumal der Gerichtshof die Geltung der Bosman-Grundsätze in späteren Entscheidungen auch auf Partnerschafts- und Assoziierungsabkommen erstreckte.188 Der Fortfall der Ablösesummen nach Vertragsablauf führte zur Zahlung von immensen „Handgeldern“.189 Ebenso explodierten Transferzahlungen für Spieler, die aus laufenden Vertragsverhältnissen „herausgekauft“ wurden.190 Dieser Richterspruch „veränderte Europas Fußball wie keine andere Entscheidung“191 – zum Leidwesen vieler Vereine, des organisierten Sports insgesamt und schließlich auch des „Kaisers“. Bevor zu klären ist, weshalb hier eine Grenzverletzung vorlag, ist zu erwähnen, dass sich in Luxemburg derzeit „Bosman II“ anbahnt, nachdem der Gerichtshof auf Vorlage des Tribunal de commerce de Charleroi zu prüfen hat, ob die FIFA-Regelung, dass Nationalspieler kostenfrei an ihre Ländermannschaften abzustellen sind („Abstellpflicht“192), mit Freizügkeitsgebot und Dienstleisungsfreiheit vereinbar ist.193 Ein Urteil ist nicht vor Sommer 2007 zu erwarten, bereitet der FIFA aber bereits heute große Sorgen. Anders als im Fall des griechischen Gesetzgebers ist es nun der Weltverband, der den Druck Europas verspürt. el Reiziger, Phillip Cocu, Boudewijn Zenden und Patrick Kluivert allein acht niederländische Spieler. 188 EuGH, Urt. vom 8.5.2003 (Deutscher Handballbund eV v Maros Kolpak), Rs. C-438 / 00, Slg. 2003, I-4153 ff.; EuGH, Urt. vom 12.4.2005 (Igor Simutenkov v Ministerio de Educación y Cultura and Real Federación Española de Fútbol), Rs. C-265 / 03, SpuRt 2005, 155 ff.; vgl. Oppermann (Fn. 161), S. 523 Rn. 18. 189 F.A.Z. vom 14.12.2005, S. 31. 190 Vgl. Dinkelmeier (Fn. 186), S. 124 ff.; Streinz (Fn. 160), S. 27. 191 F.A.Z. vom 14.12.2005, S. 31. 192 FIFA-Reglement bezüglich Status und Transfer von Spielern vom 1.7.2005, Anhang 1, Art. 1, 2 (abrufbar unter: www.fifa.com / documents / static / regulations / Status_Transfer_DE.pdf). 193 F.A.Z. vom 21.6.2006, S. 22. Ausgangspunkt des Verfahrens ist eine Klage des SC Charleroi gegen die FIFA auf Schadensersatz von über 600.000 EUR, der dafür geleistet werden soll, dass sich Charlerois marokkanischer Nationalspieler Abdelmajid Oulmers bei einem Länderspiel derart verletzt hatte, dass er seiner Vereinsmannschaft sieben Monate nicht zur Verfügung stand.
72
Andreas Wax
Die tiefgreifenden Veränderungen, die das Bosman-Urteil zur Folge hatte, sind als nicht gerechtfertigte Verletzung des „Kernbereichs“, des Wesensgehalts der Autonomie des Sports zu qualifizieren, da hierdurch „die Funktionsfähigkeit der Fußballvereine und -verbände sowie das Prinzip freier […] Selbstbestimmung“194 untergraben wurde. Der Gerichtshof hatte Grenzen überschritten, Regulierungsbefugnisse des Sports – es war nicht mehr der Sport, der sein Spiel bestimmte durfte – missachtet.195 Dem EuGH wurde insbesondere vorgeworfen, eine „einseitig wirtschaftlich orientierte Sicht des professionellen Sports“196 an den Tag gelegt zu haben. Möglich war dies allerdings auch nur deshalb, weil die Autonomie des Sports auf europäischer Ebene nur die Rolle eines Ersatzsspielers übt. Zwar wurde sie – gerade in Bosman – anerkannt; dennoch hat sie stets mit den Schwächen des „Leihgrundrechts“ Art. 11 EMRK zu kämpfen.197 Auch darf sich der Sport keiner Unterstützung durch Art. 12 der Charta der Grundrechte198 erfreuen, mangelt es dieser doch (bis auf weiteres) an rechtlicher Verbindlichkeit. Besserung könnte der Verfassungsvertrag,199 dessen Zukunft derzeit freilich ebenso ungewiss scheint wie ein nochmaliger Weltmeistertitel für die squadra azzurra, mit sich bringen.200 Zum einen normiert er in Art. II-72 die Vereinigungsfreiheit, womit diese – die Charta der Grundrechte würde in den dann 194
Statt vieler Scholz / Aulehner (Fn. 183), 44, 45. Freilich: Für einzelne Sportler war die Entscheidung ein Segen – sie überschritten Staatsgrenzen, um „grenzenlos“ zu verdienen. 196 Steiner (Fn. 9), S. 35. 197 Steiner (Fn. 9), S. 36. 198 Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7.12.2000, ABl. 2004 C 364 / 01 vom 18.12.2000, 1. 199 Vertrag über eine Verfassung für Europa (Verfassungsvertrag) vom 29.10.2004, BR-Drs. 983 / 04 vom 17.12.2004, 9. 200 Eine hierdurch bedingte „Besserung“ bezweifelnd Summerer, in: Fritzweiler / Pfister / Summerer, Praxishandbuch Sportrecht, 2. Aufl. 2007, S. 593 Rn. 27. – Der Verfassungsprozeß erlebtes ein endgültiges Scheitern im Juni 2007. Die im Folgenden angeführten Vorschriften finden sich (weitgehend) unverändert im sog. Reformvertrag wieder, auf dessen Text sich die Staats- und Regierungschefs am 18. und 19.10.2007 in Lissabon einigen konnten. 195
Staat und Sport
73
rechtlich verbindlichen Verfassungsvertrag inkorporiert – erstmals glaubhafte grundrechtliche Qualität erlangen könnte. Der Autonomie des Sports wäre dies förderlich.201 Zum anderen enthält der Verfassungsvertrag mit Art. III-282 Abs. 1 S. 3 („Die Union trägt unter Berücksichtigung der besonderen Merkmale des Sports […] zur Förderung […] des Sports bei“) eine Sportförderklausel, die mit den aktuellen Überlegungen zu einer Grundgesetzergänzung (Art. 20b GG)202 korrespondiert. Sport als Staats- und Unionszielbestimmung – hier würde der Sport in der Tat höchste normative Weihen erfahren, freilich aber auch Gefahr laufen, unter einer Woge weicher normativer Worte seine agonale Seele einzubüßen. Abschließend sei eine persönliche Anmerkung gestattet. Auch wenn die europäische Gemeinschaft bisweilen Grenzen überschritten hat, so kann dies – bei aller gebotenen sonstigen staatlichen Zurückhaltung – gelegentlich doch auch vom Staat erwartet werden. Angespielt sei auf das Vorhaben eines französischen Anwalts, die Wertung des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft 2006 vor Gericht anfechten zu wollen, da der Platzverweis für Zinedine Zidane aufgrund eines unzulässigen Videobeweises erfolgt sei.203 Hoffen wir mit Blick auf diesen einen Fall, dass der (französische) Staat Grenzen überspringt. Eine Annullierung des Finalergebnisses könnte nämlich zur Folge haben, dass Deutschland doch noch eine Chance auf „seinen“ WM-Titel erhält – ein Geschenk, das sicherlich nicht nur dem Jubilar (grenzenlos) gefallen würde.
201 Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die Autonomie des Sports keine ausdrückliche Aufnahme in den Wortlaut des Verfassungsvertrags gefunden hat, obgleich dies von den Sportorganisationen gefordert wurde (Summerer [Fn. 200], S. 593 Rn. 27). 202 Hierzu oben III. 1. 203 Hierzu Scherrer, Nach der WM-Party die Realität, Causa Sport 2006, S. 343.
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte Von Stefan Talmon, Oxford*
I. Einführung: Grundrechtsimplikationen des Anti-Terror-Kampfs der USA Die Beteiligung deutscher Staatsorgane am Anti-Terror-Kampf der USA wurde bislang fast ausschließlich unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten und insbesondere auf Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention untersucht.1 Die Grundrechte haben in der Diskussion bislang lediglich eine untergeordnete Rolle gespielt. Dabei stellen sich hier interessante Fragen nach dem räumlichen Geltungsbereich der Grundrechte, der extraterritorialen Wirkung der Grundrechtsordnung sowie den Schutzpflichten des deutschen Staates gegen Grundund Menschenrechtsverletzungen ausländischer Staatsorgane sowohl im Bundesgebiet als auch im Ausland. Zwar ist die aus* Priv.-Doz. Dr. Stefan Talmon, LL.M., M.A., ist Reader in Public International Law an der Universität Oxford und Fellow am dortigen St. Anne’s College. – Das Manuskript wurde am 1.3.2007 abgeschlossen. 1 Siehe z.B. Tomuschat, Internationale Terrorismusbekämpfung als Herausforderung für das Völkerrecht, DÖV 2006, 357 ff.; Weissbrodt / Bergquist, Extraordinary Rendition: A Human Rights Analysis, Harvard Human Rights Journal 19 (2006), 123 ff.; Council of Europe / Parliamentary Assembly / Committee on Legal Affairs and Human Rights, Alleged secret detentions and unlawful inter-state transfers of detainees involving Council of Europe member states [Marty Report], Doc. 10957, 12 June 2006; European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Opinion on the International Legal Obligations of Council of Europe Member States in Respect of Secret Detention Facilities and Inter-State Transport of Prisoners, Opinion no. 363 / 2005, 16 March 2006, CDL-AD(2006)009 (www.venice.coe.int / docs / 2006 / CDL-AD(2006)009-e.asp).
76
Stefan Talmon
ländische Staatsgewalt, auch wenn sie im Bundesgebiet handelt, nicht an die Grundrechte gebunden, doch sind die deutschen Staatsorgane verpflichtet, Grundrechtsverstöße ausländischer Staatsorgane im Bundesgebiet zu verhindern oder zu unterbinden. Wie das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, haben die Gewährleistungen des Grundgesetzes „den Grundrechtsschutz in Deutschland“ und nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zum Gegenstand.2 Die geheimen Gefangenentransporte („Sonderüberstellungen“) durch den US-Geheimdienst CIA außerhalb eines rechtsförmlichen Verfahrens, d.h. außerhalb der Regeln über die Auslieferung oder die internationale Rechtshilfe in Strafsachen,3 durch das Gebiet und den Luftraum der Bundesrepublik Deutschland wirft somit die Frage auf, inwieweit hier eine Schutzpflicht des deutschen Staates für die Menschenwürde, das Leben, die Freiheit und die körperliche Unversehrtheit der Gefangenen besteht und wie diese im einzelnen zu erfüllen ist.4 Kraft der Geltungsanordnung des Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte die deutsche Staatsgewalt als unmittelbar geltendes Recht auch, wenn diese – zulässig oder unerlaubt – im Ausland handelt.5 Es stellt sich somit die Frage, ob es mit der Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt vereinbar ist, wenn Angehörige deutscher Sicherheitsbehörden (BND, BfV, BKA) sog. „Geisterhäftlinge“, die von den US-Behörden außerhalb eines rechtsstaatlichen Verfahrens im Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba oder an anderen geheimen Orten im Ausland ohne
2
BVerfG, NJW 1993, 3047 (3049). Siehe dazu den Bericht von Amnesty International “United States of America: Below the radar – Secret flights to torture and ‘disappearance’”, 5.4.2006, AI Index: AMR 51 / 051 / 2006 (web.amnesty.org). Siehe auch die Entschließung des Europäischen Parlaments zu der behaupteten Nutzung europäischer Staaten durch die CIA für die Beförderung und das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen (P6_TA-PROV(2007)0032) vom 14.2. 2007. 4 Siehe Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 Abs. 1 und 2 GG. 5 Badura, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II, 2006, § 47 Rn. 4 m.w.N. 3
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte
77
Kontakt zur Außenwelt festgehalten werden, unter Umständen befragen, in denen davon auszugehen ist, dass die Gefangenen gefoltert oder auf sonstige Weise grausam, unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden. Macht es hier einen Unterschied, ob die Befragung durch Angehörige der Nachrichtendienste oder der Strafverfolgungsbehörden vorgenommen wird?6 Ist es grundrechtsrelevant, ob die Vernehmung im „Foltergefängnis“ oder „an einem anderen Ort“ vorgenommen wird?7 Können grundrechtliche Grenzen staatlichen Handelns dadurch umgangen werden, dass Befragungen nicht selbst durchgeführt, sondern statt dessen Fragenkataloge an die vernehmenden USBehörden übermittelt werden?8 Verbietet die grenzüberschreitende grundrechtliche Schutzpflicht der deutschen Staatsorgane für Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde die Übermittlung von Ermittlungsergebnissen über Personen, die in Geheimgefängnissen gefangengehalten werden, wenn zu befürchten ist, dass diese Informationen zur fortgesetzten geheimen Inhaftierung oder zur weiteren Vernehmung mit Foltermethoden zur Verifizierung der deutschen Ermittlungsergebnisse führen? Die Fragen in diesem Bereich reichen sicherlich für mehrere Dissertationen unter der Betreuung des Jubilars aus, der sich als Funktionsnachfolger von Günter Dürig, dem Vater der „Objektformel“, wiederholt mit Fragen der Menschenwürde und dem Grundrechtsschutz befaßt hat.9 Ich möchte mich hier auf einen
6 Siehe den Bericht der Bundesregierung (Offene Fassung) gemäß Anforderung des Parlamentarischen Kontrollgremiums vom 25.1.2006 zu Vorgängen im Zusammenhang mit dem Irakkrieg und der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, Berlin, 23.2.2006, S. 82 f., wo eine dahingehende Unterscheidung getroffen wird. 7 Vgl. Interview mit Bundesjustizministerin Zypries, Die Zeit vom 26.1. 2006, S. 9. 8 Siehe FAZ vom 21.4.2006, S. 1 („Murray: Deutschland nutzte FolterVerhöre“). 9 Siehe z.B. Graf Vitzthum, Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, JZ 1985, 201 ff.; ders., Gentechnologie und Menschenwürde, MedR 1985,
78
Stefan Talmon
Fall beschränken, der bereits die deutschen Gerichte beschäftigt hat, und bei dem die Tatsachen weitgehend unstreitig sind: die Verwertung von Zusammenfassungen von Aussagen sogenannter „Geheimgefangener“ der CIA im deutschen Strafprozess.10
249 ff. Siehe auch die unter der Betreuung des Jubilars entstandene Doktorarbeit von Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff. Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 GG, 1990. 10 Die Praxis der Geheimgefängnisse wurde von US-Präsident Bush in seiner Rede „Krieg gegen den Terrorismus ist Kampf für Freiheit“ am 6.9. 2006 bestätigt. Der Präsident erklärte: „Nach den Anschlägen vom 11. September führte unsere Koalition Einsätze auf der ganzen Welt durch, um den Terroristen ihre Zufluchtsorte zu nehmen und Kämpfer und Anführer der Terroristen festzunehmen oder zu töten. […] In einigen Fällen stellen wir fest, dass die von uns festgenommenen Personen eine erhebliche Bedrohung darstellen oder sie über nachrichtendienstliche Erkenntnisse verfügen, die wir oder unsere Verbündeten zur Verhinderung weiterer Anschläge benötigen. Viele von ihnen sind Al-Kaida-Gefolgsleute oder Taliban-Kämpfer, die versuchen, ihre Identität zu verschleiern. Sie enthalten uns Informationen vor, die das Leben von Amerikanern retten könnten. In diesen Fällen ist es erforderlich, die betreffenden Personen in ein Umfeld zu verlegen, in dem sie getrennt von anderen Gefangenen verhört und gegebenenfalls aufgrund ihrer terroristischen Verbrechen strafrechtlich verfolgt werden können. Einige dieser Personen werden auf den US-Marinestützpunkt in Guantánamo Bay auf Kuba verlegt. […] Außer der in Guantánamo inhaftierten Terroristen wurde eine geringe Anzahl während des Kriegs festgenommener führender Terroristen und Kämpfer im Rahmen eines separaten CIA-Programms außerhalb der Vereinigten Staaten inhaftiert und befragt. […] Viele Details dieses Programms, einschließlich des Aufenthaltsorts der Häftlinge oder Einzelheiten über ihre Haft können nicht preisgegeben werden. Wenn wir das täten, würden wir unseren Feinden Informationen liefern, die sie für Vergeltungsschläge gegen unsere Verbündeten und gegen unser Land verwenden könnten.“ (http: / / amerikadienst. usembassy.de). Bereits im Dezember 2005 hatte der Sprecher des US-Außenministeriums gesagt, dass es „einige Gefangene“ gebe, denen nach Überzeugung der amerikanischen Regierung kein Kontakt zur Außenwelt gestattet werden solle (FAZ vom 13.5.2006, S. 5).
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte
79
II. Der Fall Motassadeq und die Verwertung von Zusammenfassungen der Aussagen von Geheimgefangenen des US-Nachrichtendienstes CIA 1. Der Motassadeq-Prozess und der Beschluss des OLG Hamburg vom 14. Juni 2005 Am 8. Januar 2007 verurteilte der 7. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamburg den Marokkaner Mounir El Motassadeq wegen Beihilfe zum Mord in 246 Fällen sowie Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 15 Jahren Haft.11 Mit der Entscheidung des Hanseatischen Oberlandesgerichts kam der weltweit erste Prozess im Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika (zumindest vorläufig) zum Ende.12 Das Verfahren, das im Jahr 2002 begann, beschäftigte nicht nur drei Senate des Oberlandesgerichts, sondern auch zweimal den Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht. Bereist am 19. Februar 2003 hatte der 2. Strafsenat des OLG Hamburg Motassadeq wegen Beihilfe zum Mord in 3.066 Fällen sowie zum versuchten Mord und zur gefährlichen Körperverletzung in fünf Fällen in Tateinheit mit Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 15 Jahren Haft verurteilt.13 Der Urteil wurde jedoch vom Bundegerichtshof am 4. März 2004 wegen mangelhafter Beweiswürdigung aufgehoben und an den 4. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts zur Neuverhandlung zurückverwiesen.14 Der 2. Strafsenat hatte sich in seinem Urteil vom 19. Februar 2003 nur recht oberflächlich damit befasst, dass potenziell wichtige Zeugen nicht zur Verfügung standen; insbesondere eine Aussage von Ramzi Binalshibh, der an der Planung der Anschläge maßgeblich beteiligt gewesen sein soll und zur Hamburger Al Qaida-Zelle zählte, gab es nicht. Binalshibh war im September 2002 in Pakistan festgenommen worden und befand 11
Pergande, Die Höchststrafe für Motassadeq, FAZ vom 10.1.2007, S. 4. Die Verteidigung hat einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens und den Gang nach Straßburg angekündigt. 13 OLG Hamburg, Urteil vom 19.2.2003 – 2 StE 4 / 02-5 – 2 BJs 88 / 01 – 5. 14 BGHSt 49, 122 = NJW 2004, 1259. 12
80
Stefan Talmon
sich im Gewahrsam der Vereinigten Staaten, doch weigerten sich die US-Behörden, ihn vor dem Oberlandesgericht Hamburg aussagen zu lassen oder dem vom Gericht vernommenen Beamten der US-Bundespolizei FBI eine diesbezügliche Aussagegenehmigung zu erteilen. Das Bundeskanzleramt und das Bundesministerium der Justiz verweigerten ebenfalls erfolgreich Auskünfte zum Inhalt von Unterlagen über geheimdienstliche Befragungen Binalshibs, die dem Bundesnachrichtendienst durch „Stellen der Vereinigten Staaten von Amerika“ zur Verfügung gestellt worden waren.15 Der Bundesgerichtshof wies deshalb darauf hin, dass, wenn ein für die Wahrheitsfindung potenziell bedeutsamer Zeuge durch Maßnahmen der (inländischen oder ausländischen) Exekutive der Beweisaufnahme völlig entzogen wird, so dass offen bleibt, welches Beweisergebnis durch seine Vernehmung hätte erzielt werden können, der Grundsatz gelten müsste, dass eine durch Maßnahmen der Exekutive bedingte Verkürzung der Beweisgrundlage dem Angeklagten nicht zum Nachteil gereichen dürfe und durch entsprechend vorsichtige Beweiswürdigung zu kompensieren sei.16 Im zweiten Motassadeq-Prozeß wurde der Angeklagte am 19. August 2005 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, nicht aber wegen Beihilfe zum Mord, zu sieben Jahren Haft verurteilt.17 Auf die Revision der Bundesanwaltschaft hin hob der Bundesgerichtshof das Urteil am 12.Oktober 2006 auf und sprach Motassadeq neben der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung auch der Beihilfe zum Mord in 246 Fällen schuldig.18 Die Verfassungsbeschwerde des Angeklagten hiergegen wurde nicht zur Entscheidung angenommen.19 In seiner Entscheidung vom 8. Januar 2007 setzte der 7. Strafsenat das Strafmaß auf 15 Jahre fest. 15
BVerwG, Beschluß vom 10.2.2003 – 6 VR 2.03, Buchholz 306 § 96 StPO Nr 3. Das Bundeskanzleramt hatte am 16.1.2003 eine Sperrerklärung nach § 96 StPO abgegeben, in der festgestellt wurde, dass das Bekanntwerden des Inhalts der Unterlagen dem Wohl des Bundes Nachteile bereiten würde (ebd., Rn. 10). 16 BGH, NJW 2004, 1259 (1260, 1261). 17 OLG Hamburg, Urteil vom 19.8.2005 – 2 StE 4 / 02-5. 18 BGH, NJW 2007, 384. 19 BVerfG, JR 2007, 390.
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte
81
Im Rahmen des zweiten Motassadeq-Prozeß erging bereits am 14. Juni 2005 ein Beschluß,20 in dem der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamburg entschied, dass die vom Justizministerium der Vereinigten Staaten im Wege der Rechtshilfe übersandten Zusammenfassungen von Aussagen von drei angeblichen Al Qaida-Mitgliedern – dem angeblichen Drahtzieher der Anschläge, Ramzi Binalshibh, der Nr. 3 der Al Qaida-Organisation, Khalid Scheich Mohammed, und dem Mauretanier Mohamad Ould Slahi – in der Hauptverhandlung nach § 251 Abs. 1 Nr 2 StPO zu Beweiszwecken verlesbar seien. Nach § 251 Abs. 1 Nr 2 StPO kann die nichtrichterliche Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung einer Niederschrift über seine Vernehmung oder eine Urkunde, die eine von ihm stammende schriftliche Erklärung enthält, ersetzt werden, wenn der Zeuge in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann, d.h. wenn er für das Gericht „unerreichbar“ ist. Problematisch war in diesem Fall, dass die drei Beweispersonen seit mehreren Jahren an unbekannten Orten außerhalb eines rechtsstaatlichen Verfahrens gefangengehalten und nach Berichten internationaler Menschenrechtsorganisationen auch gefoltert wurden. Die US-Behörden gaben dem Gericht auch auf mehrmalige Nachfrage keine Auskunft über den Aufenthaltsort der drei Zeugen sowie über die Umstände ihrer Vernehmungen und das Zustandekommen der Zusammenfassungen. Die Bundesregierung weigerte sich ebenfalls, dem Gericht ihr von den US-Behörden allein zu geheimdienstlichen Zwecken überlassene Informationen zur Verfügung zu stellen. Ein Verstoß gegen vereinbarte Verwendungsbeschränkungen würde zur Störung der geheimdienstlichen internationalen Beziehungen führen und deshalb die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Nach Feststellung des Senats befanden sich die Zeugen „mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest im Zugriffsbereich der Administration der USA“,21 ihr Aufenthalt seit der Ergreifung im September 2002 bzw. März 2003 werde jedoch geheim gehalten. Nach Auffassung des Se20 21
OLG Hamburg, NJW 2005, 2326 = NStZ-RR 2005, 380. OLG Hamburg, NJW 2005, 2326 (2327).
82
Stefan Talmon
nats bestanden zwar „Anhaltspunkte“ dafür, dass mutmaßliche Al Qaida-Mitglieder Foltermaßnahmen unterworfen worden seien,22 auch habe die US-Regierung eingeräumt, dass Al QaidaGefangene nicht als dem Schutz internationaler Menschenrechtsabkommen unterfallend anzusehen seien, doch sei die Anwendung von Foltermaßnahmen bei den Vernehmungen der drei Zeugen nicht nachgewiesen.23 Die Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen über Folter von Al Qaida-Mitgliedern ließen sich mangels namentlicher Angabe der Quellen nicht nachprüfen. Der Senat stellte in diesem Zusammenhang darauf ab, dass die Zusammenfassungen sowohl belastende als auch entlastende Angaben enthielten und damit „die Einseitigkeit einer durchgehenden Belastung der in Freiheit befindlichen Personen fehlt, wie sie bei der Anwendung von Foltermaßnahmen [...] zu erwarten wäre.“24 Der Senat stellte abschließend – gleichsam entschuldigend – fest, dass er sich bei der Verwertung der Zusammenfassungen der Problematik des möglichen Einsatzes von Foltermaßnahmen bewusst sei und dies bei der Würdigung der Angaben berücksichtigen werde. Eine Legitimierung des Einsatzes von Foltermaßnahmen sei damit nicht verbunden.25 2. Beweisverwertungsverbot als Folge eines Menschenwürdeverstoßes Das Oberlandesgericht Hamburg hat im Fall Motassadeq zutreffender Weise geprüft, ob die Verlesung der Zusammenfas22 Nach zutreffender Auffassung des Senats handelte es sich bei Art. 15 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe v. 10.12.1984 (BGBl. 1990 II S. 246) um ein innerstaatlich unmittelbar geltendes und in Strafverfahren zu beachtendes Verbot der gerichtlichen Verwertung von durch Folter herbeigeführten Aussagen, das sowohl bei Foltermaßnahmen inländischer Staatsorgane als auch bei im Ausland durch Organe anderer Staaten mittels Einsatzes von Folter herbeigeführten Aussagen eingreift (OLG Hamburg, NJW 2005, 2326 [2327 f.]). Für die unmittelbare Anwendung des Art. 14 des Übereinkommens bereits BVerfG, NJW 1994, 492 (493). 23 OLG Hamburg, NJW 2005, 2326 (2328 f.). 24 OLG Hamburg, NJW 2005, 2326 (2329). 25 OLG Hamburg, NJW 2005, 2326 (2330).
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte
83
sungen der Aussagen der drei Beweispersonen nicht aufgrund eines schweren Menschenwürdeverstoßes ausgeschlossen ist. Der Rückgriff auf die verfassungsrechtlich garantierte Menschenwürde ist hier notwendig geworden, da das Verwertungsverbot für Zeugenaussagen nach § 136a Abs. 3 StPO i.V.m. § 69 Abs. 3 StPO unmittelbar nur unzulässige Vernehmungsmethoden der mit der Strafverfolgung beauftragten Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland erfasst. Eine Drittwirkung kommt dem Verbot grundsätzlich nicht zu. Eine entsprechende Anwendung des § 136a StPO auf Dritte, einschließlich der Behörden fremder Staaten, kommt nach herrschender Ansicht jedoch ausnahmsweise dann in Betracht, wenn die „Erkenntnisse, um deren Verwertung es geht, unter besonderes krassem Verstoß gegen die Menschenwürde“ zustande gekommen sind.26 Dies lässt sich damit erklären, dass § 136a StPO eine Ausprägung der Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG ist. Die Folterung von Beweispersonen stellt unzweifelhaft einen besonders krassen Verstoß gegen die Menschenwürde dar. Das Gericht verneinte im vorliegenden Fall jedoch ein Verwertungsverbot, da die Anwendung von Foltermaßnahmen bei den Vernehmungen der drei Zeugen nicht nachgewiesen werden konnte. Die das Beweisverbot begründenden Umstände müssten wie andere Verfahrensvoraussetzungen und Verfahrenshindernisse zur vollen Überzeugung des Gerichts nachgewiesen werden. Blieben erhebliche Zweifel, sei ein möglicher Verstoß gegen ein Verwertungsverbot nicht erwiesen und die betreffende Aussage verwertbar.27 Die Nichtverwertbarkeit vorliegender Beweismittel müsse im Interesse der gerichtlichen Wahrheitserforschung die Ausnahme sein und dürfe nicht zum Regelfall erhoben werden. Eine etwaige Beeinträchtigung der freien Willensentschließung von Zeugen sei bei nicht erwiesener Anwendung unzulässiger Vernehmungsmethoden auf der Ebene der Beweiswürdigung zu 26 OLG Hamburg, NJW 2005, 2326 (2329). S.a. bereits OLG Celle, NJW 1985, 640 (641) m.w.N. 27 Der Zweifelssatz ist hier nicht anwendbar, da es sich dabei um eine Entscheidungsregel und nicht um eine Beweisregel handelt, die das Gericht erst bei abgeschlossener Beweiswürdigung befolgen kann.
84
Stefan Talmon
berücksichtigen.28 Der Beweis des Verfahrensverstoßes ist von Amts wegen zu führen;29 dabei gilt Freibeweis. Praktisch stellt sich die Frage, wie der Nachweis der Folter durch ausländische Geheimdienste von in Inkommunikationshaft und an geheimen Orten festgehaltenen Personen geführt werden kann. Es handelt sich hier nicht nur um eine besonders schwierige Beweislage, sondern um eine fast unmögliche Beweislage, weil der betreffende ausländische Staat den Zugriff auf solche Quellen verwehrt, von denen weitergehende Informationen zu erwarten wären. Im Fall von in Geheimgefängnissen im Ausland illegal gefangengehaltenen Beweispersonen ist zu überlegen, ob der Anspruch des Angeklagten auf eine faires, rechtsstaatliches Verfahren nicht eine Beweislastumkehr gebietet.30 Danach wäre in Fällen, in denen konkrete Anhaltspunkte für Foltermaßnahmen vorliegen, zur vollen Überzeugung des Gerichts nachzuweisen, dass keine Folter der Beweispersonen stattgefunden hat. Bleiben erhebliche Zweifel, sind die Aussagen von Geheimgefangenen unverwertbar.31 28
OLG Hamburg, NJW 2005, 2326 (2329 f.). Das House of Lords verweist in seiner Entscheidung im Fall A and others v. Secretary of State for the Home Department (No. 2) auf die Entscheidung des OLG Hamburg vom 14.6.2005 und erlegt den Gerichten eine Ermittlungs- und Prüfungspflicht auf, sobald der Angeklagte einen Folterverdacht konkret vorgetragen hat ([2005] 3 WLR 1249, paras. 116, 122 [Lord Hope] und paras. 140, 141 [Lord Rodger]. Bleiben Zweifel an den Foltervorwürfen, sollen die Aussagen wie im Motassadeq-Fall jedoch verwertbar sein. Zur Entscheidung des House of Lords siehe du Bois-Pedain, Das kleine Einmaleins des Rechtsstaats und die Fallstricke der Terrorismusbekämpfung in England, HRRS 7 (2006), S. 209 ff. 30 Nach Auffassung des BVerfG (NJW 1981, 1719 [1722]) kann „der Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren […] auch durch verfahrensrechtliche Gestaltungen berührt werden, die der Ermittlung der Wahrheit und somit einem gerechten Urteil entgegenstehen“. 31 Im Ergebnis ebenfalls für eine Beweislastumkehr Lords Bingham, Nicholls und Hoffmann im Fall A and others v. Secretary of State for the Home Department (No. 2), [2005] 3 WLR 1249, paras. 55, 80, 98 (HL). Im Fall vor dem House of Lords kam erschwerend hinzu, dass dem Betroffenen weder die Beweise noch die Beweispersonen, von denen sie stammten, bekannt waren. Im Hinblick auf den Beschluß des OLG Hamburg vom 14.6.2005 stellt Lord Bingham fest: “This is not a precedent which I would wish to follow” und “One might have supposed that the summaries would, without more, have been excluded.” (ebd., para. 60). Auch Manfred Nowak 29
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte
85
Das Gericht prüft auch, ob es sich bei lang andauernder Inhaftierung der drei Beweispersonen ohne Gerichtsverfahren und ohne Zugang zu einem Verteidiger sowie zu sonstigen externen Personen um einen Verstoß gegen die Menschenwürde handelt. Zwar liegt es gegenüber den möglichen Foltermaßnahmen nach Ansicht der Gerichts näher, diese Umstände als erwiesen anzusehen, doch könne dies dahingestellt bleiben, da ein Beweisverwertungsverbot aufgrund der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes nur in Fällen „besonders gewichtiger Menschenrechtsverletzungen in Betracht“ komme. Dazu zähle „die bloße Nichtgewährung von Freiheit und Außenkontakten sowie die Versagung eines geordneten Gerichtsverfahrens […] nach dem hier anzunehmenden Zeitraum von höchstens noch unter drei Jahren wie im Fall des im September 2002 festgenommenen RB [Ramzi Binalshibh] noch nicht“.32 Nach Auffassung des Gerichts war bei dieser Einschätzung auch „zu berücksichtigen, dass die amerikanische Rechtsordnung diese Behandlung der Al QaidaMitglieder offenbar zulässt“.33 Dieses Ergebnis des 4. Strafsenats begegnet im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Menschenwürde erheblichen Bedenken. Der Senat hat hier sowohl den Begriff der „besonders gewichtigen Menschenrechtsverletzung“ als auch den des „krassen Verstoßes gegen die Menschenwürde“ verkannt.
(Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission zu Fragen der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe) spricht sich im Zusammenhang mit dem Beschluss des OLG Hamburg für eine Beweislastumkehr aus, allerdings aus menschenrechtlichen und nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen; siehe UN Doc. A / 61 / 259, 14 August 2006, S. 17, para. 64. 32 OLG Hamburg, NJW 2005, 2326 (2330). 33 Ebd., S. 2330.
86
Stefan Talmon
a) Die Inkommunikationshaft in Geheimgefängnissen als schwerwiegender Verstoß gegen die Menschenwürde Die langandauernde Inkommunikationshaft in Geheimgefängnissen stellt m.E. einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Menschenwürde dar. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehören Achtung und Schutz der Menschenwürde zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes.34 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang vor allem das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur lebenslangen Sicherungsverwahrung zum Schutz der Allgemeinheit aus dem Jahr 200435 und das Urteil zur Kontaktsperre zur Abwehr schwerer terroristischer Gefahren aus dem Jahr 197836 sowie die Rechtsprechung zur Menschenwürde allgemein. Im Folgenden ist auf diese Entscheidungen näher einzugehen. (1) Sicherungsverwahrung zum Schutz der Allgemeinheit In seinem Urteil zur Sicherungsverwahrung hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Menschenwürde weder der lebenslangen Freiheitsstrafe37 noch der Sicherungsverwahrung als solcher grundsätzlich entgegenstehe.38 Es ist der staatlichen Gemeinschaft danach nicht verwehrt, sich gegen einen gemeingefährlichen Terroristen durch Freiheitsentzug zu schützen. Dabei ist es unerheblich, ob der Freiheitsentzug als Sicherungsmaßnahme oder als Strafe verhängt und vollzogen wird.39 Die Sicherungsverwahrung ist dabei auch als Präventivmaßnahme zum Schutz der Allgemeinheit zulässig. Dies verstößt im Hinblick auf die Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums 34 BVerfGE 117, 71 ff.; 109, 133 (149); 102, 370 (389); 96, 375 (398); 87, 209 (228); 45, 187 (227). 35 BVerfGE 109, 133 = NJW 2004, 739. 36 BVerfGE 49, 24 = NJW 1978, 2235. 37 Siehe dazu BVerfGE 45, 187 = NJW 1977, 1526; BVerfGE 117, 71 ff. 38 BVerfG, NJW 2004, 739 (739). 39 BVerfG, NJW 2004, 739 (740); BVerfG, NJW 1977, 1526 (1529).
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte
87
nicht gegen das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG. Das Grundgesetz hat die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.40 Die Freiheitsentziehung muss jedoch gewissen, sich aus der Menschenwürdegarantie ergebenden Mindestanforderungen entsprechen; insbesondere muss sie menschenwürdig ausgestaltet sein und im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens mit wiederkehrenden Überprüfungsmöglichkeiten erfolgen.41 Letzteres ist im Falle der von der CIA in Geheimgefängnissen festgehaltenen Personen gerade nicht der Fall. (2) „Kontaktsperre“ zur Abwehr schwerer terroristischer Gefahren Die Inkommunikationshaft der des Terrorismus verdächtigen Personen lässt sich mit der gegen die RAF-Terroristen im Jahr 1977 angeordneten sog. „Kontaktsperre“ vergleichen. Das Bundesverfassungsgericht hat die „Kontaktsperre“ zur Abwehr schwerer terroristischer Gefahren, d.h. die Unterbrechung jedweder Verbindung von gefangenen Mitgliedern terroristischer Vereinigungen untereinander und mit der Außenwelt einschließlich des schriftlichen und mündlichen Verkehrs mit dem Verteidiger, als grundsätzlich mit der Menschenwürde der Gefangenen vereinbar angesehen.42 Die Kontaktsperre kann von der Regierung sowohl gegen Straf- als auch Untersuchungsgefangene verhängt werden. Zwar kann die Verhängung einer Kontaktsperre je nach den Umständen des konkreten Falles einschneidend in die Grundrechte des Gefangenen eingreifen,43 doch lässt sie sich mit der aus Art. 2 Abs. 2 GG ergebenden Pflicht des Staates zum Schutz des menschlichen Lebens, der körperlichen Unversehrtheit und der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 40
BVerfG, NJW 2004, 739 (740). BVerfG, NJW 2004, 739 (740); BVerfG, NJW 1977, 1526 (1528 f.). S.a. §§ 66, 66a, 66b StGB und § 275a StPO. 42 BVerfG, NJW 1978, 2235. 43 BVerfG, NJW 1978, 2235 (2236). 41
88
Stefan Talmon
GG) gegen rechtswidrige Angriffe von Seiten Dritter rechtfertigen. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts wäre es „eine Sinnverkehrung des Grundgesetzes, wollte man dem Staat verbieten, terroristischen Bestrebungen, die erklärtermaßen die Zerstörung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel haben und die planmäßige Vernichtung von Menschenleben als Mittel zur Verwirklichung dieses Vorhabens einsetzen, mit den erforderlichen rechtsstaatlichen Mitteln wirksam entgegenzutreten.“44 Die Kontaktsperre muss jedoch mit den anderen Grundsätzen der Verfassung, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Rechtsstaatsprinzip, in Einklang stehen.45 Die Kontaktsperre bei Terroristen wurde nicht generell, sondern nur unter den engen im Kontaktsperregesetz vorgesehenen Voraussetzungen als mit der Menschenwürdegarantie für vereinbar angesehen. Voraussetzung ist danach – wie im Entführungsfall Schleyer – eine gegenwärtige konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer bestimmten Person, die von einer terroristischen Vereinigung ausgeht. Eine latente generelle Gefahr terroristischer Angriffe ist hierfür nicht ausreichend. Das Bundesverfassungsgericht hat zudem ausdrücklich darauf abgestellt, dass der mit „der Kontaktsperre etwa verbundene Eingriff in Grundrechte von Gefangenen zeitlich begrenzt bleibt“.46 Nach dem Kontaktsperregesetz verliert die Maßnahme spätestens nach Ablauf von dreißig Tagen ihre Wirkung; soll sie länger als zwei Wochen dauern, bedarf sie gerichtlicher Bestätigung. Die zeitliche Begrenzung trägt entscheidend dazu bei, dass die Kontaktsperre nicht zur Aushöhlung von Grundrechten der Gefangenen führt. Die Kontaktsperre verletzt die Menschenwürde nur „bei Beachtung der
44
BVerfG, NJW 1978, 2235 (2236). Ebd. Im Fall des mehr als vier Jahre im Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba festgehaltenen Murat Kurnaz stellte das VG Bremen (InfAuslR 2006, 198 [200]) fest: „Es kann dahingestellt bleiben, ob die dortigen Haftbedingungen gegen das Völkerrecht verstoßen. Jedenfalls ist die dort für den Kläger bestehende weitgehende Kontaktsperre und das langfristige Vorenthalten anwaltlichen Beistands mit den bundesdeutschen Grundsätzen über ein rechtsstaatliches Verfahren nicht vereinbar.“ 46 BVerfG, NJW 1978, 2235 (2238). S.a. ebd., S. 2239. 45
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte
89
gesetzlichen Vorschriften“ nicht.47 Eine Kontaktsperre von annähernd drei Jahren ohne gerichtliche Bestätigung und ohne eine konkrete Gefährdungslage verstößt danach gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes. (3) Die Geheimgefangenen als bloße „Objekte der Terrorismusbekämpfung“ Dieses Ergebnis stimmt auch mit den allgemeinen Überlegungen zur Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes überein. Menschenwürde ist auch dem eigen, der sich wie der Terrorist selbst außerhalb der Gesellschaftordnung stellt. Wie das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, geht sie selbst durch „unwürdiges“ Verhalten nicht verloren.48 Mit der Menschenwürde ist der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen geschützt, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine prinzipielle Subjektqualität in Frage stellt.49 Art. 1 Abs. 1 GG verbietet somit eine grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung von Gefangenen. Langandauernde Inkommunikationshaft kann u.a. zu deformierenden Persönlichkeitsveränderungen und Haftschäden führen. Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen hat in ihrer Resolution Nr. 39 vom 19. April 2005 alle Staaten daran „erinnert, dass die dauerhafte Inkommunkationshaft eine Form der grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder sogar Folter darstellen kann.“50 Zudem erfüllt die Inkommunikations47
BVerfG, NJW 1978, 2235 (2238). BVerfG, NJW 2004, 739 (739). 49 BVerfGE 117, 71 ff.; 109, 133 (149f.); 45, 187 (228); 27, 1 (6). 50 Resolution 2005 / 39 – Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe – vom 19.4.2005, para. 9, UN Doc. E / CN.4 / 2005 / 135, S. 153. Ebenso Resolution 2004 / 41 vom 19.4.2004, para. 8, UN Doc. E / CN.4 / 2004 / 127(Part 1), S. 152. Siehe z.B. El-Megreisi v. Libyan Arab Jamahiriya, Communication No. 440 / 1990, UN Doc. CCPR / C / 50 / D / 440 / 1990, 24.3.1994, para. 5.4 (“the Committee finds that Mr. Mohammed Bashir El-Megreisi, by being subjected to prolonged incommunicado detention in an unknown location, is the victim of 48
90
Stefan Talmon
haft in Geheimgefängnissen zusammen mit der Weigerung, Informationen über den Aufenthaltsort der gefangenen Personen zu geben, den Tabestand des „zwangsweisen Verschwindenlassens von Personen“ – einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung.51 Gemäß Art. 1 Abs. 1 des am 7. Februar 2007 in Paris unterzeichneten Internationalen Abkommens zum Schutz aller Personen gegen zwangsweises Verschwindenlassen ist die geheime Inhaftierung ohne Ausnahme verboten und von den Vertragsstaaten mit Strafe zu belegen.52 Das zwangsweise Verschwindenlassen kann zudem nach Art. 7 Abs. 1 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs unter bestimmten Umständen den Tatbestand des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ erfüllen.53 Das bloße Wegschließen von Terroristen ist weder mit dem Schuldgrundsatz, der aus der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen folgt, noch mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar. Die US-Behörden nehmen für sich in Anspruch, ohne jede Kontrolle über das Schicksal der betroffenen Menschen zu entscheiden. Die Gefangenen
torture and cruel and inhuman treatment, in violation of articles 7 and 10, paragraph 1, of the Covenant”). 51 Der österreichische Staatssekretär Hans Winkler erklärte am 6.2.2007 anlässlich der Unterzeichnung des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen: „Das Verschwindenlassen von Personen ist eine der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen. Weder Krieg, politische Instabilität noch ein anderer öffentlicher Notstand darf jemals als Rechtfertigung zum Verschwindenlassen von Personen dienen.“ (http: // diplomacymonitor.com). 52 Der Text des Übereinkommens wurde von der UN-Generalversammlung am 20.12.2006 angenommen; siehe A / RES / 61 / 177, 12.1.2007, Annex. Der Vertrag wurde von 57 Staaten unterzeichnet, jedoch nicht von Deutschland, Italien, Spanien, dem Vereinigten Königreich und den USA. 53 Siehe Art. 7 Abs. 1 lit. (i) des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17.7.1998 (BGBl. 2000 II S. 1393). Nach Art. 7 Abs. 2 lit. (b) des Statuts bedeutet „zwangsweises Verschwindenlassen von Personen“ die Festnahme, den Entzug der Freiheit oder die Entführung von Personen durch einen Staat oder eine politische Organisation oder mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates oder der Organisation, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen oder Auskunft über das Schicksal oder den Verbleib dieser Personen zu erteilen, in der Absicht, sie für längere Zeit dem Schutz des Gesetzes zu entziehen.
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte
91
haben keine Möglichkeit, gegen ihre Inhaftierung vorzugehen. Ihr Wohl und Wehe liegt in den Händen der US-Behörden, denen sie vollständig ausgeliefert sind. Der personale Eigenwert wird den Weggeschlossenen damit abgesprochen. Sie werden unter Verletzung ihres verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs zu bloßen Objekten der Terrorismusbekämpfung gemacht. b) Begründung des Beweisverwertungsverbots Das Vorliegen eines schweren Menschenwürdeverstoßes sagt aber noch nichts über das Bestehen eines Beweisverwertungsverbotes und wie ein solches zu begründen ist. Die lang andauernde Inkommunikationshaft in ausländischen Geheimgefängnissen stellt zwar einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Menschenwürde der Beweispersonen dar, doch wird dieser nicht von deutschen, sondern von US-Behörden begangen. Letztere sind bei ihren Handlungen nicht an die deutschen Grundrechte gebunden.54 Für sie gilt zum Beispiel nicht die Abschaffung der Todesstrafe nach Art. 102 GG, nicht das Folterverbot nach Art. 1 Abs. 1 und nicht das Habes-corpus-Grundrecht nach Art. 104 GG. Den Grundrechten kommt insoweit keine extraterritoriale Geltung zu; andernfalls wäre das ausländische Staatshandeln generell am Grundrechtsstandard des Grundgesetzes und nicht nur an der Menschenwürdegarantie zu messen. Dies wäre jedoch mit der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und der daraus folgenden Pflicht zur Achtung anderer Rechtsordnungen nicht vereinbar. Das Verhalten der US-Behörden ist der deutschen Staatsgewalt auch nicht zuzurechnen. Die grundrechtliche Verantwortlichkeit der staatlichen deutschen, an das Grundgesetz gebundenen öffentlichen Gewalt endet nämlich grundsätzlich dort, wo ein Vorgang in seinem wesentlichen Verlauf von einem fremden souveränen Staat nach dessen eigenem, von der Bundesrepublik Deutschland unabhängigen Willen gestaltet wird.55 54 Zur extraterritorialen Wirkung der Grundrechtsordnung Badura (Fn. 5), Rn. 1–4.
92
Stefan Talmon
55
Es ist dogmatisch bislang nicht geklärt, wie sich aus einem schwerwiegenden Verstoß gegen die Menschenwürde einer Beweisperson durch eine ausländische Staatsgewalt ein Beweisverwertungsverbot im deutschen Strafprozess ergibt. Sowohl das Oberlandesgericht Hamburg als auch das Schrifttum machen hier keine näheren Ausführungen. Die Verwertung eines Beweismittels, das unter Verletzung der Menschenwürde der Beweisperson durch einen ausländischen Staat erlangt wurde, stellt keinen Verstoß gegen die Menschenwürde des Angeklagten durch die deutsche Staatsgewalt dar. Durch die Verwertung der Zusammenfassungen der Aussagen verletzt das Gericht auch nicht selbst die Menschenwürde der Beweispersonen. Die Verwertung des Beweismittels als solche ist wertneutral. Eine Fernwirkung kommt dem ausländischen Menschenwürdeverstoß nicht zu. Zu denken ist zunächst an eine Parallele zur Rechtslage im internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht, wie sie in Art. 6 S. 2 EGBGB ihren Ausdruck findet.56 Danach sind ausländische Rechtsnormen und Hoheitsakte durch deutsche Staatsorgane nicht anzuwenden bzw. nicht anzuerkennen oder zu vollstrekken, wenn sie mit den Grundrechten unvereinbar sind. Die Grundrechte dienen hier als Maßstab für ausländische Hoheitsakte, die in der Bundesrepublik Rechtswirkung entfalten sollen. Es handelt sich hierbei nicht um eine unzulässige Ausdehnung des Geltungsbereichs des Grundgesetzes gegenüber fremden Staaten. Die ausländischen Hoheitsakte werden nicht generell auf eine Übereinstimmung mit dem Grundgesetz überprüft. Vielmehr kommt es allein darauf an, ob eine innerstaatliche Rechtshandlung deutscher Staatsgewalt in Bezug auf einen konkreten Sachverhalt mit Inlandsbezug – hier die Beweisverwertungsentscheidung – zu einer Grundrechtsverletzung führt. Adressat der Grundrechte ist und bleibt die deutsche Staatsgewalt. Die Beweisverwertung durch die deutschen Gerichte stellt aber selbst keine Grundrechtsverletzung dar. Eine Übertragung der Grundsätze aus dem internationalen Privatrecht 55 56
Vgl. BVerfGE 57, 9 (23 f.). Vgl. Badura (Fn. 5), Rn. 4.
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte
93
hätte zudem zur Folge, dass die dem Beweismittel zugrunde liegenden Handlungen ausländischer Staatsorgane – zumindest indirekt – allgemein am Grundrechtsstandard des Grundgesetzes zu messen wären. Maßstab ist nach herrschender Ansicht jedoch nur die Menschenwürdegarantie. Das Beweisverbot bei Verstoß gegen die Menschenwürde der Beweisperson durch ausländische Staatsorgane lässt sich in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Auslieferungsfällen begründen. Danach haben die deutschen Gerichte bei ihrer Entscheidung das Verhalten der ausländischen Staaten, das durch die Auslieferung ermöglicht wird, zu berücksichtigen. Dieses wird aber nicht generell an den Grundrechten gemessen, sondern die Gerichte haben lediglich zu prüfen, ob dieses Verhalten „mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar“ ist.57 Zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung – oder kurz zum deutschen ordre public – gehört aber gerade die Menschenwürdegarantie als eines der Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes. Die deutschen Gerichte sind danach verpflichtet, bei ihrer Verwertungsentscheidung zu prüfen, ob die dem zu verwertenden Beweismittel zugrunde liegenden Handlungen ausländischer Staatsorgane mit den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung vereinbar sind. Dieses Ergebnis lässt sich damit begründen, dass das Bekenntnis des Grundgesetzes zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG der deutschen Staatsgewalt eine überstaatliche Orientierung gibt.58 Deutschland macht sich dadurch nicht zum Grundrechtszensor anderer Staaten. Der Sache nach handelt es sich hier nicht um die Grundrechte, sondern um deren menschenrechtliches Fundament, wie es das 57
BVerfG, NJW 1982, 1214; NJW 1987, 1726 (1727). Siehe aus jüngster Zeit BVerfG, NStZ-RR 2006, 149 (150); NStZ 2004, 308 (309); NJW 2001, 3110. 58 Siehe Badura (Fn. 5), Rn. 2.
94
Stefan Talmon
Grundgesetz in Art. 1 Abs. 1 und 2 anerkennt und das für alle Staaten gilt.59 Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass sich – entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts Hamburg – aufgrund der menschenunwürdigen Behandlung der Beweispersonen durch die US-Behörden im vorliegenden Fall ein Verwertungsverbot unmittelbar aus der Verfassung ergibt. 3. Beweisverwertungsverbot als Folge eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens Neben dem Beweisverwertungsverbot als Folge der menschenunwürdigen Behandlung der Beweispersonen durch die US-Behörden lässt sich auch noch an ein – von den vorangegangenen Überlegungen unabhängiges – Verwertungsverbot aufgrund der verfahrensmäßigen Gestaltung des Strafprozesses wegen eines Verstoßes gegen den Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahrens denken. Die Wurzeln des fairen Verfahrens als eines allgemeinen Prozessgrundrechts finden sich in den in einem materiell verstandenen Rechtsstaatsprinzip verbürgten Grundrechten und Grundfreiheiten des Menschen, insbesondere in dem durch ein Strafverfahren bedrohten Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG), dessen freiheitssichernde Aufgabe auch im Verfahrensrecht Beachtung erfordert. Es folgt ferner aus Art. 1 Abs. 1 GG, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt eines staatlichen Verfahrens herabzuwürdigen, und deshalb einen Mindestbestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen des Angeklagten voraussetzt.60 Das 59 Das BVerfG (NJW 1984, 601) hat festgestellt, dass sich der „menschenrechtliche Schutzbereich der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte und Grundfreiheiten gegen jedwede hoheitliche Gewalt“ richtet (Hervorhebung durch Verf.). 60 BVerfG, NJW 2001, 2245 (2246); NJW 1981, 1719 (1722). Zum Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren allgemein Dörr, Faires Verfahren. Gewährleistung im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 1984; Tettinger, Fairneß und Waffengleichheit, 1984.
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte
95
Verfahren muss die wirksame Sicherung der Grundrechte des Angeklagten gewährleisten, insbesondere muss es das aus der Würde des Menschen als eigenverantwortlich handelnder Person abgeleitete Prinzip, dass keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf, sicherstellen. Als zentrales Anliegen des Strafprozesses erweist sich daher die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann. Der Anspruch auf ein faires Verfahren kann deshalb auch durch verfahrensrechtliche Gestaltungen berührt werden, die der Ermittlung der Wahrheit und somit einem gerechten Urteil entgegenstehen.61 Bei den von Beamten der CIA erstellten Zusammenfassungen von Aussagen der drei angeblichen Al Qaida-Mitglieder handelt es sich nicht um wörtliche Niederschriften über einzelne Vernehmungen dieser Personen und auch nicht um von ihnen stammende schriftliche Erklärungen. Der Senat hat die Zusammenfassungen dennoch den Urkunden in § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO gleichgesetzt, die in der Hauptverhandlung zu Beweiszwecken zu verlesen sind.62 Bei den Zusammenfassungen handelt sich in Wirklichkeit jedoch um schriftliche Erklärungen sog. „Zeugen vom Hörensagen“ (nämlich von unbekannten CIABeamten), die mittels Verlesung einer Urkunde in den Prozess eingeführt wurden. Diese verfahrensrechtliche Gestaltung begegnet im Hinblick auf den Grundsatz des fairen Verfahrens Bedenken. a) Der mittelbare Beweis durch Urkunden Das Bundesverfassungsgericht hat sich sowohl mit dem „Zeugen vom Hörensagen“ als auch mit dem Beweis durch Urkunden befasst. Nach § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO kann die nichtrichterliche Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung einer Niederschrift über eine Vernehmung oder eine Urkunde, die eine von ihm stammende schriftliche Erklärung enthält, ersetzt werden, wenn der Zeuge in absehbarer Zeit gerichtlich nicht 61 62
BVerfG, NJW 2001, 2245 (2246). OLG Hamburg, NJW 2005, 2326 (2327).
96
Stefan Talmon
vernommen werden kann. Eine Beweisperson ist in diesem Sinne „unerreichbar“ für die gerichtliche Vernehmung, wenn die Bemühungen des Gerichts, sie herbeizuschaffen, vergeblich geblieben sind oder vergeblich bleiben müssen, weil eine begründete Aussicht, sie in absehbarer Zeit beibringen zu können, nicht besteht. Eine Person ist nach ständiger Rechtsprechung auch dann unerreichbar, wenn staatliche Stellen den Aufenthalt des Zeugen nicht preisgeben.63 Bei den nach § 251 I Nr. 2 StPO verlesenen Urkunden handelt es sich um sog. „mittelbare“ Beweismittel, die den wirklichen oder vermeintlichen sachlichen Inhalt des dem Beweisthema nächsten Originalbeweismittels lediglich berichten. Infolge der bei dieser Reproduktion nicht auszuschließenden Fehlerquellen stellt es typischerweise einen weniger zuverlässigen Weg zur Erforschung der Wahrheit dar.64 Im Hinblick auf eine vollständige und umfassende Sachverhaltsaufkklärung sind „mittelbare Beweismittel“ nicht grundsätzlich als unzulässig ausgeschlossen, sofern diese für die Wahrheitsfindung Bedeutung haben. Ein generelles Beweisverbot für mittelbare Beweismittel würde aufgrund seiner mangelnden Flexibilität der Wahrheitsfindung entgegenstehen. Den Gefahren einer flexibleren Handhabung des Beweisrechts begegnet die StPO nach Ansicht der Verfassungsgerichts mit der freien richterlichen Beweiswürdigung,65 die insoweit als Korrektiv zur Wahrung des fairen Verfahrens grundsätzlich ausreicht. b) Der Zeuge vom Hörensagen als mittelbares Beweismittel bei unerreichbaren Auslandszeugen Beim „Zeugen vom Hörensagen“ handelt es sich ebenfalls um eine Form des „mittelbaren Beweises“. 66 Das Bundesverfassungsgericht hat anerkannt, dass es verfassungsmäßig legitimierte staatliche Aufgaben wie die Verbrechens- und Terrorismusbekämpfung gibt, die zu ihrer Erfüllung der Geheimhal63 64 65 66
BVerfG, NJW 1981, 1719 (1721). BVerfG, NJW 1981, 1719 (1722). Siehe § 261 StPO. BVerfG, NJW 1996, 448 (449); NJW 1992, 168.
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte
97
tung bedürfen, ohne dass verfassungsrechtliche Bedenken zu erheben wären. Diese Aufgaben würden erheblich erschwert und in weiten Teilen unmöglich gemacht, wenn die Aufdeckung geheimhaltungsbedürftiger Vorgänge im Strafverfahren ausnahmslos geboten wäre.67 Voraussetzung ist jedoch die rechtliche Gebundenheit dieser Aufgaben und dass sie nicht außerhalb des Rechtsstaates stehen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Regeln über den Zeugen vom Hörensagen auch auf einen Auslandszeugen angewandt, dessen Identiät den Verfahrensbeteiligten zwar bekannt war, dessen Aufenthaltsort aber nicht zu ermitteln war und dessen Angaben durch die Vernehmung von Verhörspersonen in die Hauptverhandlung eingeführt wurde.68 Auch im Fall des Zeugen vom Hörensagen sind wegen der begrenzten Zuverlässigkeit des Beweismittels besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung zu stellen. Der Tatrichter ist gehalten, den Beweiswert dieses weniger sachnahen Beweismittels besonders sorgfältig zu prüfen. Hier darf der Tatrichter nicht übersehen, dass es die Exekutive ist, die eine erschöpfende Sachaufklärung verhindert und es den Verfahrensbeteiligten unmöglich macht, die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen zu überprüfen. Auf die von einem Vernehmungsbeamten wiedergegebenen Aussagen darf eine Feststellung regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn diese Angaben durch andere nach der Überzeugung des Tatrichters wichtige Beweisanzeichen bestätigt worden sind.69 c) Beweisverwertungsverbot bei „doppelter Mittelbarkeit“ Jede Form des mittelbaren Beweises für sich genommen führt danach nicht zu einem Beweisverbot. Zu überlegen ist jedoch, ob die Kombination der beiden mittelbaren Beweismittel – Urkunde über eine schriftliche Erklärung und anonymer Zeuge vom Hörensagen – im vorliegenden Fall infolge einer Verlet67
BVerfG, NJW 1981, 1719 (1724). Vgl. BVerfG, NJW 1997, 94. 69 BVerfG, NJW 1996, 448 (449); NJW 1992, 168, NJW 1981, 1719 (1725). 68
98
Stefan Talmon
zung des Anspruchs des Angeklagten auf ein faires Verfahren zu einem verfassungsunmittelbaren Beweisverwertungsverbot führt. Aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren folgt insbesondere ein Anspruch auf materielle Beweisteilhabe, also auf Zugang zu den Quellen der Sachverhaltsfeststellung.70 Jedes der beiden mittelbaren Beweismittel für sich führt bereits zu einer erheblichen Einschränkung der Rechte des Angeklagten, die über das Korrektiv der freien Beweiswürdigung zusammen mit dem Zweifelssatz auszugleichen sind. Im Falle der Verlesung von Aussagezusammenfassungen, die von unbekannten CIABeamten angefertigt wurden, die vom Gericht nicht über die Aussage vernommen werden können, wird die verfahrensrechtliche Stellung des Angeklagten weiter verschlechtert. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist „ein generelles Mißtrauen gegenüber dem Beweiswert von Polizeiprotokollen […] im Staat des Grundgesetzes nicht gerechtfertigt“.71 Fraglich ist, ob sich dies im Hinblick auf die Foltervorwürfe gegen den US-Geheimdienst CIA mit gleicher Sicherheit auch für Aussagezusammenfassungen der CIA sagen läßt. Der Angeklagte kann hier nicht nur die Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht überprüfen, sondern auch nicht die der (anonymen) Vernehmensperson. Weder der Zeuge noch die Vernehmensperson stehen unter Eideszwang; die Verteidigung kann sich keinen persönlichen Eindruck vom Zeugen und der Vernehmensperson machen, ihre Glaubwürdigkeit kann nicht umfassend beurteilt werden. Die Möglichkeit von Fragen, Vorbehalten und Gegenüberstellungen scheidet aus. Das Recht des Angeklagten Erkundigungen über den Zeugen oder die Vernehmensperson einzuholen, läuft leer. Der Beweiswert solch schriftlicher „Erklärungen anonymer Zeugen vom Hörensagen“ tendiert de facto gegen Null. Eine Verwertung doppelt mittelbarer Beweismittel ist mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens nur schwer vereinbar. Die besonderen Gefahren der beweisrechtlichen Lage lassen sich im vorliegenden Fall durch die freie und besonders vorsichtige Beweiswürdigung des Tatrichters und den Zweifelssatz kaum 70 71
Vgl. BVerfG, NJW 2001, 2245 (2246). BVerfG, NJW 1981, 1719 (1723).
Der Anti-Terror-Kampf der USA und die Grundrechte
99
mehr ausgleichen72 und können rechtstaatsgemäß nur noch durch ein Beweisverwertungsverbot aufgefangen werden. III. Schlussfolgerung Das Oberlandesgericht Hamburg hat mehrmals ausdrücklich darauf abgestellt, dass die Zusammenfassungen der Aussagen sowohl den Ageklagten belastende als auch entlastende Angaben enthalten. Der dem Angeklagten günstige Inhalt der Zusammenfassungen scheint somit für die Entscheidung des Gerichts von ausschlaggebender Bedeutung gewesen zu sein.73 Bereits im ersten Hamburger Terroristenprozess gegen den Marokkaner Abdelghani Mzoudi hatten die Richter die Zusammenfassung der Aussage eine „Auskunftsperson“, die sich im Gewahrsam der CIA befand,74 als Beweismittel verwertet und zugunsten des Angeklagten gewertet.75 Für den Angeklagten Motassadeq mag die Verwertung der vom US-Geheimdienst zur Verfügung gestellten Zusammenfassungen der Aussagen der drei mutmaßlichen Al Qaida-Mitglieder im vorliegenden Fall von Vorteil gewesen sein, dies muss jedoch nicht immer der Fall sein. Grundsätzliche Erwägungen sprechen gegen eine Ver72 Detter (Einige Gedanken zu audiovisueller Vernehmung, V-Mann in der Hauptverhandlung und der Entscheidung des Bundesgerichtshofs in der Sache El Motassadeq, StV 2006, S. 544 [550]) weist zu Recht darauf hin, dass, soweit vom Tatgericht eine Würdigung der Glaubwürdigkeit des Zeugen und der anonymen Vernehmensperson verlangt wird, tatsächlich Unmögliches verlangt wird. A.A. BGH, NJW 2007, 384 (387), der davon ausgeht, dass „wegen der Unmöglichkeit, diese beiden Zeugen [Binalshibh und Ould Slahi] persönlich zu vernehmen oder auch nur die Verhörspersonen zu befragen oder zumindest vollständige Vernehmungsprotokolle zu erhalten, die von den USA überlassenen ‚Zusammenfassungen‘ einer besonders vorsichtigen Würdigung zu unterziehen waren“. 73 Vgl. OLG Hamburg, NJW 2005, S. 2326 (2329). Ein anderer Senat des OLG Hamburg hat die Angaben, die Binalshibh und Ould Slahi nach dem Inhalt der von den USA überlassenen „Zusammenfassungen“ ihrer Aussagen in US-Gewahrsam gemacht haben, je für sich als unglaubhaft bewertet (BGH, NJW 2007, 384 [387]). 74 Es wurde allgemein angenommen, dass es sich bei der „Auskunftsperson“ um Ramzi Binalshib handelte. 75 OLG Hamburg, Urt. vom 5.2.2004 – 2 StE 5 / 03-5.
100
Stefan Talmon
wertung schriftlicher Zusammenfassungen von Aussagen von Personen, die von ausländischen Staaten über längere Zeit in Inkommunikationshaft in Geheimgefängnissen festgehalten werden. Auch im Anti-Terror-Kampf dürfen die Grundrechte nicht außer Betracht bleiben. Sie bilden vielmehr ein wichtiges Korrektiv zu den rechtsstaatswidrigen Auswüchsen des AntiTerror-Kampfs der USA – zumindest soweit deutsche Staatsorgane involviert sind.
Asymmetrische Einkommensteuer und Demokratieprinzip Von Bernd Becker, Niebüll*
Mindestens einmal jährlich erscheint in den großen Wochenund Tageszeitungen, in der Regel nur im Wirtschaftsteil,1 mehr oder minder umfangreich, ein Bericht über die Verteilung der Steuern vom Einkommen („Einkommen- und Lohnsteuern“) auf die Bevölkerung. Der Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft (iwd) hat 2004 diese Nachricht schlagwortartig betont und mit „Ein Viertel zahlt drei Viertel“ übertitelt.2 Seitdem wird diese Aufmerksamkeit erheischende, aber nachprüfungswerte Meldung auf dem jeweils neuesten Stand (unregelmäßig) wiederholt. Wäre diese Nachricht wahr, so lägen die Schlussfolgerungen nahe. Regelmäßig werden solche jedoch nur in Bezug auf die „Steuergerechtigkeit“ oder die „soziale Gerechtigkeit“ oder gar die sozusagen reine „Gerechtigkeit“3 (o.A.m.4) bezogen, nicht aber auf den auf der Hand liegenden Zusammenhang mit dem * Verf. ist Universitätsprofessor für Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsrecht im Ruhestand an der Universität der Bundeswehr München. 1 So Süddeutsche Zeitung (SZ) Nr. 147 vom 29.6.2005, unter Hinweis auf die Statistiken des Statistischen Bundesamts von 2001. 2 In iwd 2004 Nr. 49 (aus den Quellen des Bundesministeriums der Finanzen – BMF – 2005); iwd 2005 Nr. 27, S. 2 „Millionärssteuer – Rolle rückwärts“. 3 SZ Nr. 251 vom 31.10.2006, S. 21 („Eine Frage der Gerechtigkeit“). 4 Z.B. die Folgen für die individuelle Steuerlast von „fast 65 Prozent“ (iwd 2005, Nr. 27, S. 2) oder die der Kapitalflucht oder auch Folgen der Flucht besonders betroffener Steuerzahler in einen günstigeren Staat. Dabei erinnern sich viele an die 90%-Besteuerung im Schweden der 70er Jahre, die sogar zur Auswanderung der erklärten Patriotin Astrid Lindgren führte.
102
Bernd Becker
Staatsgrundsatz Demokratie: Wenn tatsächlich nur ein Viertel drei Viertel zahlen, dann beteiligen sich drei Viertel der Bevölkerung kaum an den Staatseinnahmen. Zum Kern der Politik gehört aber die bindende Festlegung der Arten der Einnahmen und deren Höhe, der Arten der Ausgaben und deren Höhe durch das Gesetz der Parlamente. Bei deren Zusammensetzung wäre dann aber das Stimmengewicht total umgekehrt bemessen: Drei Viertel überstimmen – rein zahlenmäßig gesehen – ein Viertel und bestimmen somit die Politik und somit wiederum die Einnahmen und Ausgaben, Arten und Höhe und Pflichtige sowie Nutznießer. Ist dies im Sinne des Demokratiegrundsatzes? Oder hat dieser Grundsatz nichts mit der Verteilung der Steuerlast zu tun? Zuerst muss der Wahrheitsgehalt der Nachrichten geklärt und dann die Frage nach dem Demokratiebezug beantwortet werden. I. Der statistische Befund Im Jahr 2004, wohl dem Ursprungsjahr der genannten Berichterstattung, trugen dem Bericht des Institut der deutschen Wirtschaft5 zufolge zum gesamten Aufkommen der „Steuern vom Einkommen“ (zum Begriff und Umfang siehe unten) bei – – – –
bis 5% der Steuerpflichtigen ca. 41% des Aufkommens; (kumulativ) bis 10% der Steuerpflichtigen ca. 53%; (wiederum kumulativ) bis 15% der Steuerpflichtigen ca. 61% und (wiederum kumulativ) bis 25% der Steuerpflichtigen ca. 73% der „Steuern vom Einkommen“,6 was das Institut der deutschen Wirtschaft zum o.a. Titel „Ein Viertel zahlt drei Viertel“ animierte.
Umgekehrt zahlten – bis 25% der Steuerpflichtigen ca. 0% der „Steuern vom Einkommen“, – und kumulativ bis 50% der Steuerpflichtigen nur ca. 8%.7 5 6
iwd 2004 Nr. 49, S. 1, Basis BMF 2004. iwd 2004 Nr. 49, S. 1.
Einkommensteuer und Demokratieprinzip
103
In der Zeit bis 2006 erschienen einige weitere Berichte für 2005 und das vollendete Jahr 2006,8 die allesamt den ersten Befund bestätigten: Ein Viertel der Steuerpflichtigen trägt tatsächlich drei Viertel des Aufkommens der Einkommensteuer. In Bruchteilen zahlten also von 2001 bis 2006 – ein Viertel drei Viertel, – zwei Viertel ein Viertel, – ein Viertel nichts der Steuern vom Einkommen, die besser Steuern auf Arbeit genannt werden sollten. Dabei muss aber beachtet werden, dass sich die Aussagen auf die Steuerpflichtigen einerseits und das Aufkommen der Steuern vom Einkommen9 andererseits beziehen. Zunächst soll der Bezug zu den Steuerpflichtigen und deren Anteil an der Gesamtbevölkerung betrachtet werden. Die Ge-
7
iwd 2004 Nr. 49, S. 1. Und zwar: SZ Nr. 147 vom 29.6.2005, S. 19: „Viele Deutsche zahlen keine Einkommensteuer“, mit folgenden Einzelheiten (Basis Statistisches Bundesamt, Einkommensteuerstatistik 2001): 11,2% des gesamten Aufkommens an Einkommensteuer (= 176,7 Mrd. EUR) trägt 0,1% der Steuerpflichtigen (= 28,8 Mio. EUR), und „die oberen 30% der Steuerpflichtigen zahlen 81% der festgesetzten Lohn- und Einkommensteuer“. iwd 2005, Nr. 27, S. 2: „Spitzensteuer: Weniger ist mehr“ (Basis: BMF und Statistisches Bundesamt, offenbar 2004), mit folgenden Einzelheiten: 10% der Steuerpflichtigen zahlen 51,5% der Einkommensteuer, und 50% (kumuliert) zahlen 88,6%. iwd 2006, Nr. 11, S. 1: „Reichensteuer existiert bereits“ (Basis: BMF 2005) mit folgenden Einzelheiten: „[D]as obere Viertel der Einkommensbezieher speist immerhin 75% der Steuerquelle“ (‚Tendenz über die Jahre steigend‘), und ein Viertel der Steuerpflichtigen zahlt keine Steuer. Der Artikel war mit der Anmerkung „[D]ie Einkommensteuer ist bereits heute eine Reichensteuer – auch ohne Anhebung der Tarife“ versehen. SZ Nr. 251 vom 31.10.2006, S. 21: „Topverdiener zahlen weniger an den Staat“ (Basis: BMF, offenbar 2006), mit folgenden Einzelheiten: „1,6 Mio. der Steuerpflichtigen kommen für fast die Hälfte der Einkommensteuer auf“ (= 78 Mrd. EUR von insgesamt 180 Mrd. EUR), und „8% trägt fast 44% des gesamten Aufkommens“. 9 iwd 2004 Nr. 49, S. 1. 8
–
–
–
–
104
Bernd Becker
samtanzahl der Steuerpflichtigen betrug von 200110 an unverändert jährlich bis 2004 jeweils etwa 10 Mio. Alleinstehende und 11,5 Mio. zusammen veranlagte Ehepaare,11 die jeweils als ein Steuerpflichtiger geführt werden. Mithin ist mit wohl 32 Mio. Menschen zu rechnen,12 die in den genannten Statistiken als Zahlende gemeint sind. Daran hat sich bis 2006 nichts geändert. Der Bezugspunkt „Steuern vom Einkommen“13 meint in der Steuergruppe des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) „Steuern auf Einkommen und Vermögen“ die Untergruppe „Steuern vom Einkommen“; diese setzt sich im Wesentlichen14 zusammen aus: – der Lohnsteuer, also der Steuern auf den Ertrag der Arbeit der unselbstständigen Arbeitnehmer, – der Einkommensteuer auf den Ertrag der Arbeit der Selbstständigen, – der Körperschaftssteuer, und – dem Solidaritätszuschlag, der im Wesentlichen den beiden ersten Teilgruppen zugerechnet werden muss. Aus den Statistiken geht hervor, dass der tatsächlich gewählte Bezugspunkt der Bruchteils- und Prozentrechnungen die drei ersten Teilgruppen plus den dazu zu rechnenden Solidaritätszuschlag umfasst – also die Körperschaftssteuer (2004: 13.123 Mio. EUR und 2006 22.898 Mio. EUR) herausgerechnet wurde. Mithin ist der Satz „ein Viertel zahlt drei Viertel“ nur insoweit richtig, als er sich auf die direkte Besteuerung natürlicher Personen bezieht; dieser Teil der sog. direkten Steuern wird auch als Personalsteuern bezeichnet.
10
Basisjahr der entsprechenden Statistiken, hier des Statistischen Bundesamtes. 11 Nach verschiedenen Berichten, z.B. SZ Nr. 147 vom 29.6.2005, S. 19 (aus der Statistik des Statistischen Bundesamtes). 12 Unter Verdoppelung der zusammen veranlagten Ehepaare. 13 iwd 2004 Nr. 49, S. 1. 14 Zuzüglich der nicht veranlagten Steuern von Erträgen, der Kapitalertragsteuer und der Zinsabschlagsteuer, deren Beträge aber im Hinblick auf das Gesamtaufkommen in dieser Gruppe nicht ins Gewicht fallen.
Einkommensteuer und Demokratieprinzip
105
Innerhalb der gesamten Steuereinnahmen des Jahres 200415 in Höhe von 442.838 Mio. EUR (2006: 488.444 Mio. EUR) betrugen die Steuereinnahmen aus den Personalsteuern 156.089 Mio. EUR (2006: 170.993 Mio. EUR).16 Drei Viertel von 170.993 Mio. EUR sind 128.244 Mio. EUR; dies ist etwas mehr als ein Viertel der Gesamteinnahmen. Dieses Viertel des Gesamtaufkommens an Steuern (!) wird also von einem Viertel der Steuerpflichtigen getragen. Ein Viertel der Steuerpflichtigen sind etwa 8 Mio. Menschen;17 dies sind ein Zehntel der Gesamtbevölkerung. Mithin zahlt in Wahrheit ein Zehntel der Gesamtbevölkerung ein Viertel der gesamten Steuerlast. Beim Satz „ein Viertel zahlt drei Viertel“ muss – wie gezeigt – zusätzlich bedacht werden, dass das gewählte Bezugsobjekt die „Steuerpflichtigen“ sind, diese stellen insgesamt (bereinigt), wie gezeigt, ca. 32 Mio. Menschen der Gesamtbevölkerung dar. Somit zahlen also 50 Mio. Menschen nichts. Davon sind etwa 9 Mio. Menschen unter 18 Jahre alt. Womit sich ergibt, dass von der erwachsenen Bevölkerung etwa 40 Mio. – außerhalb der indirekten Steuern – nichts zahlen. Dies ist ca. die Hälfte der Einwohner. Die direkten Steuern, insbesondere die Personalsteuern und darin die erst Ende des 19. Jahrhunderts eingeführte Einkommen- (bzw. Lohn-)steuer18 spielten schon immer eine besondere Rolle in den staatspolitischen Funktionen aller Steuerarten (Steuergruppen), weshalb zu Recht die Frage gestellt werden muss, 15 Nach www.bundesfinanzministerium.de: „Kassenmäßige Steuereinnahmen nach Steuergruppen 1999 bis 2005“. 16 Also 35% (2004 und 2006) der gesamten Einnahmen. Die wichtigste indirekte Steuer, die Umsatzsteuer, betrug übrigens 137.366 Mio. EUR (= 31% des gesamten Steueraufkommens; 2006: 146.688 Mio. EUR = 30% des gesamten Steueraufkommens). 17 Die im Übrigen an den anderen Steuern zusätzlich massiv beteiligt sind. 18 Vgl. dazu z.B. J. Lang, Besteuerung von Einkommen – Aufgabe, Wirkungen und europäische Herausforderungen (zum 66. DJT), NJW 2006, 2209 ff.; s. schon J. Conrad und O. Gerlach, Art. „Einkommensteuer“, in: J. Conrad u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. III, 3. Aufl. 1909, S. 695 ff., 697 ff.
106
Bernd Becker
welche Schlussfolgerungen aus dem statistischen Befund gezogen werden können bzw. müssen. Eine neuere Studie19 mit einem weiter gefassten Fokus (Verteilung der Finanzierungslast des Sozialstaats) bestätigt die Relevanz der zu stellenden Fragen und zu ziehenden Schlussfolgerungen. II. Schlussfolgerungen Auch wenn alle Zahlen gerundet sind, muss angesichts der doch erstaunlichen Werte gefragt werden, was der obige Befund für einen der obersten Staatsgrundsätze, die „Demokratie“ der Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG bedeutet. Um die Relevanz einer solchen Fragestellung zu verdeutlichen: Wäre es denn – überspitzt formuliert – im Sinne der Verfassung, wenn eine sich nicht an der Steuerlast beteiligende Mehrheit auf Kosten einer einkommensstarken (weil arbeits- und leistungsstarken) Minderheit dank einer entsprechenden Gestaltung20 des Steuerrechts lebt?21 Im Folgenden geht es also nicht um die Fragen der gerechten Besteuerung und auch nicht irgendwelche anderen Aspekte einer gerechten Steuer oder Steuergerechtigkeit22 und auch nicht um die Gleichheit der Verteilung der Steuerlast im Verhältnis der einzelnen Bürger zueinander, also die horizontale Steuergerechtigkeit23, und auch nicht um das Über19 iwd 2007, Nr. 46, S. 4: „Besserverdienende zahlen die Zeche“. Aus den Ergebnissen: „Das obere Drittel der Haushalte trägt 62% der Finanzierungslast des Sozialstaats“, und: „ein Drittel der Haushalte erhält 60% der Transferzahlungen und zahlt 5% aller Steuern und Sozialabgaben“. 20 Durch eine Anhebung der Besteuerungsgrenze und Steigerung der Progression. Das BVerfG (E 116, 164 ff.) zieht die Grenzen hierfür sehr weit in die Gestaltungsfreiheit (fast schon in das Belieben) des Steuergesetzgebers hinein. 21 Die Frage ist natürlich dann nicht berechtigt, wenn die an der Steuerlast nicht beteiligte Mehrheit der Bürger mangels finanzieller Mittel gar keine Möglichkeit hat, die Steuerlast mit zu tragen. 22 Vgl. z.B. Elicker, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Besteuerung, DVBl. 2006, 480 ff.; J. Lang, NJW 2006, 2209 ff., und vor allem Di Fabio, Steuern und Gerechtigkeit, JZ 2007, 749 ff. 23 Z.B. BVerfGE 116, 164 ff.. Die vertikale Dimension meint das Verhältnis höherer zu niedrigeren Einkommen.
Einkommensteuer und Demokratieprinzip
107
schreiten gewisser Grenzen (z.B. des sog. „Halbteilungssatzes“) einer individuellen Steuerbelastung.24 Es ist leicht zu sehen, dass die formalen Dimensionen25 des Demokratieprinzips des Grundgesetzes26 keine Resonanz zur Frage aufweisen – ausgenommen das ihm systemimmanente Mehrheitsprinzip.27 Es geht also nicht um das Prinzip, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht, oder dass diese Gewalt des Volkes durch gewählte Organe der Gesetzgebung ausgeübt wird und auch nicht um die Grundelemente der Wahlen (Art. 28 Abs. 1, 38 Abs. 1 GG) zu den gesetzgebenden Organen dieser Staatsgewalt, denn nur um diese Teilgewalt geht es augenscheinlich bei der Formulierung einer rationalen28 Fragestellung. Jeder Einzelne und jede echte oder auch nur formale Gruppe der Bevölkerung hat formal gleiche Rechte daran, die durch eine asymmetrische Verteilung der Steuerlast nicht berührt wird. Ganz offensichtlich werden auch nicht die materiellen Dimensionen29 des grundgesetzlichen Demokratieprinzips berührt, also 24 Z.B. BVerfGE 116, 164 ff. (hier ca. 60% Gesamtbelastung aus Einkommensteuer und Gewerbesteuer zusammen). Es geht auch nicht um eine Richtigstellung der oder um eine Entgegnung auf die empirisch unhaltbaren Befunde von Lauterbach, Systematisch ungerecht. Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren, Berlin 2007. 25 Diese sind gemäß Art. 20 Abs. 2 GG: (1) „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“; (2) „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt“ und (3) „Sie wird durch besondere Organe der Gesetzgebung ausgeübt“. 26 Vgl. hierzu z.B. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977, S. 439 ff., 447 ff. m.w.N.; Herzog, in Maunz-Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Lbl. Stand Nov. 2006, Erl. zu Art. 20 GG (1978) m.w.N.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 20 Rn. 11 ff. m.w.N.; von Arnim / Heiny / Ittner, Politik zwischen Norm und Wirklichkeit. Systemmängel im deutschen Parteienstaat aus demokratietheoretischer Perspektive, 2. Aufl. 2006. 27 Vgl. dazu die Zusammenfassung von Höfling / Burkiczak, Das Mehrheitsprinzip im deutschen Staatsrecht – ein systematisierender Überblick, Jura 2007, 561 ff. 28 Es wird unterstellt, dass die asymmetrische Verteilung der Steuerlast kein Zufallsereignis ist oder eine andere irrationale Ursache hat. 29 Exemplarisch vom BVerfGE 2, 1 (Leitsatz Nr. 2) zum Demokratieprinzip in Art. 21 GG formuliert: „Selbstbestimmung des Volkes“, „Freiheit und Gleichheit“, „Anerkennung der Menscherechte, des Rechts der Persönlich-
108
Bernd Becker
auch nicht die im Demokratieprinzip eingeschlossene Bindung an die Grundrechte.30 Anders sieht es hinsichtlich des im Demokratiegrundsatz eingeschlossenen Rechtsstaatsprinzips und des Verbots der Willkürherrschaft aus. Das im Demokratieprinzip enthaltene Verbot der Willkürherrschaft ist eine Verlängerung des Verbots individuell wirksamer Willkür des Art. 3 GG und zielt – zusammen mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung31 – auf eine Verhinderung der tyrannischen (absoluten Mehrheits32) Herrschaft nur formal demokratischer Systeme33 bis hin zu willkürlich herrschenden Oligarchien oder gar Ochlokratien. Das Verbot der Willkürherrschaft ist also ein wichtiges materielles Konstruktionsprinzip des grundgesetzlichen Staates und ergänzt die individuell wirksame Werteordnung der Grundrechte – und hängt in einem demokratischen System untrennbar mit dem Mehrheitsprinzip zusammen, weil es dieses materiell begrenzt. Eine asymmetrische vertikale Verteilung der Steuerlast – ohne Überschreitung individueller wirksamer Grenzen einer Überbelas-
keit auf Leben und freie Entfaltung“, „Volkssouveränität“, „Gewaltenteilung“, (parlamentarische) „Verantwortlichkeit der Regierung“, „Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“, „Unabhängigkeit der Gerichte“, „Mehrparteienprinzip“, „Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit der Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition“ und „Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft“ und „rechtsstaatliche Herrschaftsordnung“. 30 Zusamenfassend: Di Fabio (o. Fn. 22). 31 Auch die Gewaltenteilung hat einen materiellen Gehalt: Sie soll nämlich schon seit Montesquieu, der US-Verfassung von 1787 und den Federalist Papers Machtkumulation verhindern und somit die Freiheit allgemein und individuell sichern helfen. 32 So von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, S. 133. Zum formalen Mehrheitsprinzip als einem grundlegenden Merkmal des Demokratiegrundsatzes, vgl. z.B. Stern (o. Fn. 26), S. 458 ff. m.w.N.; Herzog (o. Fn. 26), Art. 20 Rn. II 14 ff. m.w.N.; Sachs (o. Fn. 26), Art. 20 Rn. 21 ff. m.w.N. 33 Gemeint sind nicht nur die sozialistische Volksdemokratie, die Rätedemokratie, sondern auch zeitweilige Zustände altgriechischer Stadtstaaten, die Diktatur Cromwells und seines Parlaments und auch beispielsweise Venedigs, aber auch vor allem der Reichstag, die NSDAP und Hitler sowie die Volkskammer, die SED und der Staatsrat.
Einkommensteuer und Demokratieprinzip
109
tung34 – muss also darauf überprüft werden; die Frage liegt auf der Hand.35 Das Bundesverfassungsgericht hat sie in der Entscheidung von 18.1.2006 zwar gesehen, aber keine Prüfung vorgenommen: „Ferner ist zu bedenken, dass die Ausgestaltung der unterschiedlichen Steuersätze in Form eines Tarifs primär am Maßstab verfassungsrechtlich gebotener Lastengleichheit auch in vertikaler Richtung zu messen ist“.36 Die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich zur Besteuerung niedrigerer Einkommen ist angemessen auszugestalten.37 Weder dieses Gebot vertikaler Steuergerechtigkeit (Art. 3 Abs. 1 GG) noch das Verbot übermäßiger Steuerbelastung (Art. 14 GG) geben jedoch einen konkreten Tarifverlauf vor; vielmehr setzen beide den unmittelbar demokratisch legitimierten Entscheidungen des Parlaments einen äußeren Rahmen, der nicht überschritten werden darf.“38
Das Gericht geht in dieser Entscheidung nicht auf strukturelle Folgen ein, auch nicht für die Konstruktion des formalen und materiellen demokratischen Staats.39 Der Verweis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27.6.1991 zeigt aber nicht nur die Bedeutung des Gebots der horizontalen Lastengleichheit, sondern enthält einen interessanten Hinweis auf frühe Dokumente (französische Erklärung der Menschenrechte von 1789, Bayerische Verfassung von 1818 und die Badische Verfassung von 1818 sowie die Preußische Verfassung von 1850), wonach alle Bürger ohne Unterschied zu allen öffentlichen Lasten beitragen sollen, also Belastungsgleichheit bestehen 34
Vgl. auch Art 106 Abs. 3 GG und BVerfGE 115, 97 ff. Anders ist die Entscheidung BVerfGE 107, 27 ff. gestaltet, denn dort wird auf das Willkürverbot und das Verhältnismäßigkeitsprinzip eingegangen (ebd., S. 46 f.), womit dort aber die primär die individuelle und gruppenbezogene horizontale Gleichheit gemeint ist. 36 Es folgt ein Hinweis auf BVerfGE 84, 239 (268 ff.). 37 Es folgen Hinweise auf BVerfGE 82, 60 (89); 99, 236 (260); 107, 27 (47) und 112, 268 (279). 38 Auch in der Entscheidung BVerfGE 112, 268 ff. wird nur gesagt, dass die vertikale Steuerpolitik „dem Gerechtigkeitsgebot genügen muss“ – also wiederum nur Art. 3 Abs. 1 GG; vgl. auch Di Fabio (o. Fn. 22), S. 752. 39 Auch nicht in der früheren Entscheidung BVerfGE 82, 60 (46 f.) („horizontale Steuergerechtigkeit“ versus vertikale Steuergerechtigkeit). 35
110
Bernd Becker
solle (Badische Verfassung); die Weimarer Reichsverfassung von 1919 fügte den Zusatz „im Verhältnis ihrer Mittel“ hinzu. Das Bundesverfassungsgericht sah in diesen und anderen Hinweisen jedoch nur – wegen der Eigenart der Verfassungsbeschwerde – das horizontale Gleichheitsgebot im Sinne gleicher Anwendung des Gesetzes.40 Es sei auch keine Willkür darin zu sehen, dass Bürger mangels ausreichenden Einkommens aus der Besteuerung ausgenommen werden – im Gegenteil, dies ist eine gesetzgeberische Pflicht, wobei hier eine bestimmbare Grenze für das existenznotwendige und deshalb steuerfreie Einkommen besteht.41 Es ist jedoch immer zu beachten, dass die asymmetrische vertikale Verteilung der Steuerlast zwei Facetten hat: die Minderheit („das eine Viertel, Fünftel oder Zehntel“42), die den Löwenanteil der Staatseinahmen trägt, einerseits und die Mehrheit (hier die Hälfte aller Bürger) dieses Staates, die nichts zu den Staatseinnahmen beiträgt, aber infolge des Mehrheitsprinzips den Löwenanteil der Stimmengewichte innehat, andererseits. Gerade die zweite Facette wird übersehen: Die Mehrheit lenkt, beteiligt sich aber an den Mühen der Aufrechterhaltung nicht. Willkürlich ist dies aber, wie gezeigt, nicht, sofern diese Mehrheit, mangels ausreichendem Einkommen, gar nicht in der Lage ist, sich an den Staatseinnahmen zu beteiligen. Ganz anders sieht dies erst dann aus, wenn unterstellt wird, dass die asymmetrische Verteilung Ergebnis einer absichtsvollen Tarifgestaltung ist,43 welche die Besteuerungsgrenze für die unteren Einkommen systematisch noch oben zieht, was bereits heute schon der Fall ist,44 und so die von der Besteuerung ausgenomme40
Ebd. BVerfGE 99, 236 ff.; so auch BVerfGE 82, 60 ff. 42 Je nach Bezugspunkt. 43 Siehe oben: Anhebung der Besteuerungsgrenze und Steigerung Progression – bis hin exponentieller Belastungsfunktionen. 44 Folgende Beispiele seien gegeben: Ein Beamter der mittleren Laufbahn im Besoldungsamt A 7, Stufe 8, Hauptschulabschluss, verheiratet, 2 Kinder, Werbungskosten bis zur Pauschale, Sonderausgaben (Versicherungen etc.) bis zur Pauschale, erhält etwa 27.000 EUR Gehalt im Jahr (etwa 2.150 EUR monatliches Grundgehalt einschl. Familienzuschlag) zuzüglich etwa 300 41
Einkommensteuer und Demokratieprinzip
111
nen Menschen ebenso systematisch vermehrt. Eine solche Politikgestaltung wäre wohl sehr bald parasitär45 und näherte sich ganz schnell willkürlicher, aber formal demokratisch legitimierter, parlamentarischer Herrschaft46 und verließe den Boden des Grundgesetzes.47 Deshalb ergänzt der Hinweis: „Das Mehrheitsprinzip setzt ein Mindestmaß an politischer, sozialer und kultureller Homogenität des die Staatsgewalt ausübenden Volkes voraus“48 die sich aufdrängenden Schlussfolgerungen. Eine solche Konstellation wäre dann aber wohl der Beginn des Verlustes konstruktiver Stabilität49: Jedes staatliche System benötigt fortlaufend den Konsens50 aller Bürger. Ein hoher Konsens mit Staat und Gesellschaft wäre aber bei einem solchen EUR monatlich Kindergeld. Einem gängigen Steuerprogramm zufolge zahlt er knapp 100 EUR Lohnsteuer monatlich. In der Fläche Deutschlands reicht dies für ein eigenes Haus (mit staatlicher Eigenheimförderung) und für eine moderne Ausstattung der Familie. Ein Angestellter mit den gleichen Merkmalen zahlt wegen der Beiträge zur Sozialversicherung knapp 80 EUR monatlich Steuern. – Ein Beamter der gehobenen Laufbahn im Besoldungsamt A 11, Stufe 8, Abitur, ansonsten gleiche Merkmale wie zuvor, erhält etwa 36.200 EUR im Jahr und zahlt 300 EUR monatlich Einkommensteuer / Lohnsteuer; ein Angestellter mit den gleichen Merkmalen zahlt wegen der Sozialversicherungsbeiträge 270 EUR monatlich Einkommensteuer / Lohnsteuer. – Ein Beamter der Besoldungsamt B 3, mit 2 Staatsexamina, im Übrigen mit den gleichen Merkmalen wie zuvor, hat jährlich 75.700 EUR Gehalt und zahlt monatlich 1.300 EUR usw. – Die asymmetrische, exponentielle Tarifgestaltung wird durch die Beispiele deutlich: Zwischen den Gehaltsstufen A 7 und B 3 liegt hinsichtlich des Gehalts der Faktor 2,8, zwischen der Steuerlast aber der Faktor 13. 45 Oder auch hochtrabend: sozialistisch. 46 Möglicherweise schnell ochlokratischer Struktur. 47 Das Rechtsstaatsprinzip, welches ebenfalls (wie auch die grundrechtliche Werteordnung) im Demokratieprinzip des Grundgesetzes eingeschlossen ist, wird durch asymmetrische Verteilungen – strukturell gemeint – nur hinsichtlich des darin enthaltenen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns tangiert und führt somit in das Verbot der Willkür zurück. 48 Aus Höfling / Burkiczak (oben Fn. 27), mit Verweisen auf Dreier, Heun, Badura und Klein. 49 Die „innere“ Auflösung und Zerstörung der Weimarer Republik (Herzog [o. Fn. 26], Rn. 28) ist ein Beispiel, wenn auch Ergebnis anderer Ursachen. 50 „Support“ im Sinne von D. Easton.
112
Bernd Becker
extremen Systemzustand bei der finanziell ausgebeuteten Minderheit sicherlich nicht mehr vorhanden.51 Umgekehrt wäre er aber bei der alimentierten Mehrheit nicht zwangsläufig hoch, sondern wohl eher niedrig. Der innere Konsens der dermaßen herrschenden Mehrheit wäre dann zudem strukturell schwach, weil nur parasitär und ohne Wertbindungen, denn dies ist die Essenz der Willkür. Alle Willkürherrschaften waren in der Geschichte – systemnotwendig – labil,52 weil insgesamt ohne inneren Halt, und gingen nach mehr oder minder langer Dauer unter.53
51
Und sucht fortlaufend andere Alternativen (siehe A. Lindgren). Die Endphase Roms hat dies gezeigt: Der willkürlich nach oben oder nach unten gerichtete Daumen des Pöbels. 53 Dies entspricht auch einer altgriechischen These des Werdegangs der Verfasstheit von Gemeinwesen (von der mon-archie zur oligo-archie und demo-kratie und dann zur an-archie und zurück). 52
Verfassungsgehaltsgrenzen Zur Dysfunktionalität eines narrativen gliedstaatlichen Konstitutionalismus Von Daniel Hahn, Tübingen*
I. Einleitung Es mangelt nicht an Großforschungsbereichen des Jubilars. „Weiten Feldern“ hat er sich gewidmet: vom deutschen Widerstand und dem parlamentarischen Regierungssystem über das Völkerrecht und den Meeresboden bis hin zu Fragen von Grundrechtsfunktionen und Gentechnik, Menschenwürde und Gerechtigkeit, Geist und Macht. Im Folgenden soll sich der Blick auf das Landesverfassungsrecht richten. Hierbei handelt es sich um eine Materie, mit der sich Graf Vitzthum insbesondere in den Jahren vor und nach der Wiedervereinigung Deutschlands rege und spurenreich beschäftigt hat. Davon zeugen insbesondere sein Referat zur „Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts“ bei der Staatsrechtslehrertagung 1988 und seine Arbeiten zum Föderalismus in der europäischen und internationalen Einbindung der Staaten, zur Stellung des Landes Baden-Württemberg im bundesstaatlichen und internationalen Beziehungsgeflecht (beide 1990) sowie zu den Verfassungsentwürfen der neuen Länder (1991). In einem ersten Schritt wird nachfolgend ein „narrativer gliedstaatlicher Konstitutionalismus“ als Zug unserer Zeit skizziert. Im Anschluss daran rücken die Auswirkungen einer solchen Form der Konstitutionalisierung in den Blick. In einem dritten Schritt * Verf., Dr. iur., von Apr. 2002 bis Apr. 2007 wiss. Assistent am Lehrstuhl des Jubilars, ist Beamter in der Verwaltung des Landes Baden-Württemberg.
114
Daniel Hahn
werden – als Brückenschlag zu den „Grenzen des Staates“, dem Oberthema unseres Kolloquiums – die wichtigsten bundesstaatlichen Grenzsteine für die Verfassungshoheit und die Verfassungsgehalte der Länder markiert.1 Zur Abrundung folgt ein kurzes Resümee. II. Narrativer gliedstaatlicher Konstitutionalismus – ein Zug der Zeit Die Vielzahl von Staatszielbestimmungen, die in den seit der Wiedervereinigung Deutschlands verabschiedeten Landesverfassungen enthalten sind, wie auch die vielen Verfassungsänderungen der letzten zwei Jahrzehnte, deren Gegenstand die Aufnahme von weiteren einschlägigen Zielvorgaben war, sprechen eine deutliche Sprache: Die Zunahme der verfassungsrechtlichen Fixierung von Aufgaben und Zielen staatlichen Handelns als Staatszielbestimmungen markiert einen Zug unserer Zeit.2 Der konstitutionelle Normtyp „Staatszielbestimmungen“ sucht staatliches Handeln nicht zu begrenzen, wie es die Grundrechte in ihrer traditionsreichen subjektiven Abwehrfunktion tun. Er sucht das Staatshandeln vielmehr (positiv) zu steuern. Staatszielbestimmungen sind rechtlich verbindliche Grundsätze und normative Leitlinien für das staatliche Handeln,3 „dirigierende Verfassungsgehalte“ im Sinne Peter Lerches.4 Staatszielbestimmun1 Bekanntermaßen ist dem durch das Grundgesetz konstituierten Bundesstaat Bundesrepublik Deutschland die Staatlichkeit des Gesamtstaates wie auch diejenige der deutschen Länder immanent. 2 Die Aktualität des Sujets der Staatszielbestimmungen gründet insoweit auch darin, dass es mitunter ein schwieriges Unterfangen darstellt, Inhalte divergierender Staatszielbestimmungen im Drei-Ebenen-Modell von EU / EG, Bundesrepublik Deutschland und deutschen Ländern gewissermaßen unter einen Hut zu bringen und Zielkonkurrenzen ohne Schaden für die Geltungskraft der betroffenen Verfassungen aufzulösen. Dazu Hahn, Staatszielbestimmungen im integrierten Bundesstaat, 2008 (i.E.). 3 Vgl. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: FS für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, 2. Aufl. 1974, S. 325 (335 f.); Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, AöR 107 (1982), 15 (20 ff.).
Verfassungsgehaltsgrenzen
115
gen müssen freilich konkretisiert werden. Erst durch Umsetzung in das einfachgesetzliche Recht entfalten sie volle Wirksamkeit. Die erforderliche Kompetenz für den Erlass konkretisierender einfachgesetzlicher Regelungen ist dabei nicht den Staatszielbestimmungen selbst zu entnehmen. Maßgeblich sind vielmehr die Kompetenzverteilungsschemata der Art. 70 ff. GG.5 Die Analyse der normativen Spielräume, über welche die gliedstaatlichen Gesetzgeber im Kraftfeld dieser Schemata hinsichtlich der Konkretisierung der landesverfassungsrechtlichen Staatszielbestimmungen verfügen, ergibt ein ernüchterndes Bild. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Verfassung des Landes Brandenburg, die sich auch im Übrigen am wenigsten an die Konzeption des Grundgesetzes anlehnt.6 Die brandenburgischen Staatszielbestimmungen weisen zumeist lediglich geringe oder keine normative Steuerungskraft auf. Etwas anderes gilt im Grunde lediglich für die im Bereich Bildung und Kultur anzusiedelnden Verfassungsgehalte. Hier sind grundsätzlich allein die Länder zuständig, hier ist das „bespielbarste“ und ausgedehnteste Feld der Staatszielbestimmungen und der sie konkretisierenden Landesgesetze. Alle Staatszielbestimmungen hingegen, die anderen Agenden gewidmet sind, laufen in der Regel an der entscheidenden Transformationsstelle leer.7 Sie greifen Materien auf, für die 4 Peter Lerche (Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 61 ff.) hat bereits früh den Begriff der „dirigierenden Verfassung“ geprägt und gelehrt, dass „dirigierende Verfassungsgehalte“ stetigen staatlichen Vollzug des sich immer wieder neu aktualisierenden Verfassungsauftrags verlangen (ebd. S. 64 f.). 5 Eine Staatszielbestimmung enthält keine Ermächtigung für staatliches Handeln, sondern lediglich einen Auftrag. 6 Die Verfassung des Landes Brandenburg hat nicht nur kein Grundrecht des Grundgesetzes unverändert übernommen, sondern zudem neue Grundrechtsverbürgungen (etwa: Grundrecht auf eine von Zeugnispflicht, Beschlagnahme und Durchsuchung unbehinderte journalistische Tätigkeit [Art. 19 Abs. 5], Anerkennung der Schutzbedürftigkeit nichtehelicher Lebensgemeinschaften [Art. 26 Abs. 2]) geschaffen. Zum Ganzen Dietlein, Die Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, 1993; von Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer, 2. Aufl. 1997, S. 59 ff.
116
Daniel Hahn
ausschließlich der Bund über die Gesetzgebungszuständigkeit verfügt bzw. die der Bund unter Inanspruchnahme seiner konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit einfachgesetzlich meist erschöpfend geregelt hat, so dass dem Landesgesetzgeber kaum Raum für ein eigenständiges Tätigwerden bleibt.8 Den Ländern ist daher oftmals etwa die Konkretisierung ihrer Staatszielbestimmungen im sozialen Bereich verwehrt. Für die insofern einschlägigen Gesetzesmaterien ist weitgehend der Bund zuständig, und er hat von seinen Kompetenzen in weitem Umfang Gebrauch gemacht. So besitzt der Landesgesetzgeber für die einfachgesetzliche Konkretisierung z.B. der Staatszielbestimmungen Arbeit, Wohnraum und soziale Sicherung (nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Europäischen Union) allenfalls noch äußerst rudimentäre Zuständigkeiten. Gleiches gilt für die Materien Wirtschaft und Finanzen.9 Durch ehrgeizige, aber „nicht vollziehbare“ Staatszielbestimmungen verspricht eine gliedstaatliche Verfassung mehr, als der primäre Adressat, der Landesgesetzgeber, einlösen kann. Die „Diskrepanz zwischen narrativem Text und normativer Steuerungskraft“10 ist offenkundig. Mit Blick auf die landesverfassungsrechtlichen Staatszielbestimmungen, die Materien außerhalb der Kompetenzräume der Länder aufgreifen, tritt die normative Kraft der Verfassung hinter politischer Lyrik, Rhetorik oder Volkspädagogik zurück. Die gleichwohl zunehmende Zahl entsprechender Verheißungen mit lediglich deklamatorischem 7 Auch diese Staatszielbestimmungen fungieren zwar als Auslegungshilfe und ermessensleitende Kriterien für die Verwaltung und als normative Vorgaben für die Rechtsprechung. Sie sind jedoch landesstaatlich nicht bzw. kaum steuerbar. 8 Zu diesen Zielvorgaben mit äußerst geringer normativer Steuerungskraft rechnen u.a. die Politikziele wie etwa Art. 39 Abs. 9 BbgVerf. Sie sind bereits per definitionem solchen Materien gewidmet, die unter die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes fallen; ihre einfachgesetzliche Konkretisierung ist daher (bei unveränderter Kompetenzverteilung) von vornherein ausgeschlossen. 9 Zur bereichsspezifischen Analyse der normativen Steuerungskraft landesverfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen Hahn (o. Fn. 2). 10 Graf Vitzthum, Auf der Suche nach einer sozio-ökonomischen Identität?, VBlBW 1991, 404 (412).
Verfassungsgehaltsgrenzen
117
Gehalt lässt sich als Hinwendung zu einem „narrativen Konstitutionalismus“ kennzeichnen.11 Die betreffenden narrativen, also „erzählenden“ Zielvorgaben hinterlassen prima facie einen schalen Nachgeschmack. Allzu oft scheitert ihre einfachgesetzliche Konkretisierung bereits an der Kompetenzordnung des Grundgesetzes, allzu oft kann das Land den hochfliegenden Worten seiner Verfassung keine Taten folgen lassen. Derartige „’verfassungsutopische’ Leuchtfeuer“12 kennzeichnen eine Abkehr vom nüchternen Stil des Grundgesetzes.13 Dieses ist nicht mit Resten symbolischer Verfassungsgebung bzw. -änderung übersät, sondern zeichnet sich durch normativ-disziplinierte Grundhaltung und Terminologie aus, insofern durch Normenklarheit und deren integrative Qualität.
III. Auswirkungen eines narrativen Konstitutionalismus Was folgt aus jener landesverfassungspolitischen Hinwendung zu einem narrativen denn normativ-disziplinierten Vorgehen? Diese Frage ist vor dem Hintergrund der stetigen Zunahme von Staatszielbestimmungen mit lediglich deklamatorischem Gehalt aktuell und virulent.
11
Dieser Befund wird freilich dadurch abgemildert, dass die Staatszielbestimmungen mit geringer normativer Steuerungskraft zumindest verfassungsprozessuale Bedeutung haben. Ggf. eröffnen sie (nach Maßgabe der prozessualen Vorschriften) den Zugang zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit. Auch kann solchen Zielvorgaben größere normative Steuerungskraft zuwachsen, wenn der betreffende Sachbereich nicht (mehr) in die ausschließliche bzw. die konkurrierende Zuständigkeit des Bundes fällt, und wenn zugleich keine erschöpfende einfachgesetzliche Regelung durch den Bund vorliegt. 12 Grimm, Verfassungsrecht, in: ders. / Papier (Hrsg.), Nordrhein-Westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, 1986, S. 1 (62), mit Blick auf die ambitionierten Bestimmungen der nordrhein-westfälischen Verfassung zu einer gerechten Wirtschafts- und Sozialordnung. 13 Ebenso Merten, Verfassungspatriotismus und Verfassungsschwärmerei, VerwArch. 83 (1992), 283 (297 f.); Graf Vitzthum (o. Fn. 10), S. 413 f.
118
Daniel Hahn
Die Wirkung von Staatszielbestimmungen besteht zunächst darin, dass sie dem Einzelnen die Verfassung näher bringen und darum integrierend wirken können: Der Bürger findet mit ihnen verfassungsrechtliche Regelungen vor, welche zumeist Grundfragen (und oft auch Sorgen) seines Lebens, seiner Lebenswirklichkeit betreffen. Staatszielbestimmungen können es ihm daher, ebenso wie andere materiale Regelungen einer Verfassung, erleichtern, sich mit dem Staat zu identifizieren.14 Die verfassungsrechtliche Fixierung eines Belangs als Staatszielbestimmung kann sich folglich einheits- und identitätsstiftend auswirken.15 Ob und ggf. in welchem Ausmaß Staatszielbestimmungen ohne bzw. mit geringer normativer Steuerungskraft eine solche integrative Wirkung auch in praxi entfalten, ist letztlich eine empirische, nur in transdisziplinärer Forschung beantwortbare Frage. Gleichwohl können auch aus allein rechtswissenschaftlicher Sicht einige generelle Feststellungen zur Integrationswirkung solcher Verfassungsgehalte getroffen werden. Nach einem weitverbreiteten Ansatz haben die landesverfassungsrechtlichen Staatszielbestimmungen durchweg eine eindeutig integrierende Wirkung. Ihr Gegenstand seien typischerweise die wichtigsten Anliegen und existentiellen Lebensbedürfnisse der Bürger. Daher weckten sie Vertrauen und Einverständnis der Bürger in die Grundordnung des Staates.16 Integrations14 Vgl. etwa Häberle, Die Schlussphase der Verfassungsbewegung in den neuen Bundesländern, JöR N.F. 43 (1995), 355 (395); Hinds, Die neue Verfassung des Freistaates Sachsen, ZRP 1993, 149 (151); Kutscha, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in den neuen Landesverfassungen, ZRP 1993, 339 (344); Simon, Plädoyer zur verfassungskräftigen Anerkennung sozialer Rechte, ArbuR 1992, 289 (289); Sterzel, Staatsziele und soziale Grundrechte, ZRP 1993, 13 (17). 15 Vgl. Bundesminister des Innern / Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Staatszielbestimmungen / Gesetzgebungsaufträge. Bericht der Sachverständigenkommission, 1983, S. 35 f. Rn. 32 f.; Dahnke, Verfassungsentwürfe der neuen Länder, in: Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. III, 1992, S. 119 (137); Heitmann, Eine besondere Bewusstseinslage in den neuen Ländern, in: Rüttgers / Oswald (Hrsg.), Die Zukunft des Grundgesetzes, 1992, S. 25 (28). 16 Vgl. H.-J. Vogel, Die Reform des Grundgesetzes nach der deutschen Einheit, DVBl. 1994, 497 (503).
Verfassungsgehaltsgrenzen
119
wirkung wird sogar den landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen attestiert, für deren einfachgesetzliche Konkretisierung auf Seiten des Landes kein nennenswerter Spielraum besteht.17 Diesem Ansatz kann, jedenfalls in dieser Pauschalität, nicht gefolgt werden. Eine Verfassung wird zwar anschaulicher und womöglich auch „attraktiver“ durch einzelprogrammatische soziale Staatszielbestimmungen.18 Auch die landesverfassungsrechtlichen Zielvorgaben mit geringer normativer Steuerungskraft haben daher zunächst integrierende Wirkung. Dieser Effekt kann jedoch in sein Gegenteil umschlagen. Dies wird desto mehr der Fall sein, je weniger die betreffenden Zielvorgaben verwirklicht werden,19 je weniger also die Verfassungswirklichkeit den Verheißungen der Verfassung entspricht. Die mittels der Staatszielbestimmungen beabsichtigte Steigerung der Legitimations- und Integrationskraft der Verfassung verkehrt sich in dem Maße in ihr Gegenteil, in welchem die durch diese konstitutionellen Verheißungen geweckten Erwartungen enttäuscht werden. Desintegrierende Auswirkungen sind in höherem Maße zu besorgen, wenn es sich um rein narrative Normen handelt. Die durch narrativen Konstitutionalismus geweckten Erwartungen der Bürger müssen enttäuscht werden, wenn ihre Erfüllung nicht im Bereich der Kompetenzen des Landesgesetzgebers 17 So etwa mit Blick auf das Staatsziel Arbeit Stiens, Chancen und Grenzen der Landesverfassungen im deutschen Bundesstaat der Gegenwart, 1997, S. 270. 18 Vgl. die Darstellung bei Lücke (o. Fn. 3), S. 16. 19 Vor der Gefahr desintegrativer Enttäuschungserlebnisse warnend statt vieler Starck, Die Verfassungen der neuen Länder, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 1997, § 208 Rn. 82 f.; Magiera, Verfassunggebung der Länder als Gliedstaaten der Bundesrepublik Deutschland, in: Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. III, 1992, S. 141 (148, 158); Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung, JZ 1994, 213 (216); Jahn, Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zur Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes, DVBl. 1994, 177 (184); H.H. Klein, Staatsziele im Verfassungsgesetz – Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen?, DVBl. 1991, 729 (736); Merten (o. Fn. 13), S. 297; Graf Vitzthum, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen morgen, ZfA 22 (1991), 695 (698, 708 und 711).
120
Daniel Hahn
liegt.20 Solche Zielvorgaben bergen folglich ein kaum zu überschätzendes desintegratives Potential. Der Glaubwürdigkeit der Verfassung und damit letztlich des Verfassungsstaates sind sie ebenso wenig dienlich wie der Integration des Einzelnen.21 Die desintegrative Wirkung dürfte umso stärker ausfallen, je missverständlicher die betreffenden Normen formuliert sind. Dies gilt für Staatszielbestimmungen insbesondere dann, wenn im betreffenden Verfassungsraum der Rechtsbehelf der Individualverfassungsbeschwerde eingeräumt ist. In einer solchen Konstellation ist die einheitliche Verwendung des Ausdrucks „Recht“ bei der Verbürgung von (strikt geltenden) Grundrechten einerseits und der Normierung von narrativen Gehalten andererseits geeignet, die irrtümliche Vorstellung zu wecken, beide Rechtskategorien müssten vergleichbare Rechtsfolgen haben.22 Dies gilt umso mehr, wenn die betreffende Verfassung keine Norm enthält, welche die Verbindlichkeit der Staatszielbestimmungen für die Staatsgewalten im Unterschied zu derjenigen der Grundrechte regelt,23 und wenn nicht festgelegt ist, welche Verfassungsbestimmungen als Staatszielbestimmungen und welche als Grundrechte einzuordnen sind. Die verheißungsvolle Formulierung „Recht“ erweist sich nachgerade als „Etiketten20 Vgl. Starck (o. Fn. 19), Rn. 82; Merten (o. Fn. 13), S. 297: „leeres, weil brotloses Verfassungsversprechen“. 21 Dieses besondere Problem eines narrativen Konstitutionalismus ist in der Literatur nicht immer hinreichend vergegenwärtigt. Nicht berührt wird es etwa bei Franke / Kneifel-Haverkamp, Die brandenburgische Landesverfassung, JöR N.F. 42 (1994), 111 (143 ff.). – Krit. Beurteilung der Auswirkungen landesverfassungsrechtlicher Sozialbestimmungen auf die Glaubwürdigkeit einer Verfassung auch bei Isensee, Verfassung ohne soziale Grundrechte, Staat 19 (1980), 367 (376 ff.); Graf Vitzthum (o. Fn. 10), S. 413 f. 22 Siehe Starck, Die Verfassungen der neuen deutschen Länder, 1994, S. 46; Dahnke (o. Fn. 15), S. 136; Dietlein, Die Verfassunggebung in den neuen Bundesländern, NWVBl. 1993, 401 (403); vgl. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 419. 23 „Vorbildlich“ sind insoweit lediglich die sächsische Verfassung (s. Art. 13 und 36 SächsVerf.), die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt (s. Art. 3 Verf. LSA) und diejenige des Freistaats Thüringen (s. Art. 42 f. ThürVerf.). Vgl. von Mangoldt, Die Verfassung des Freistaates Sachsen, SächsVBl. 1993, 25 (34); zum Ganzen ders. (o. Fn. 6), S. 36 ff.
Verfassungsgehaltsgrenzen
121
schwindel“,24 sofern es sich nicht um einen individuell einklagbaren Anspruch handelt, also um ein Recht im juristisch-technischen Sinne.25 Besonders konfliktträchtig ist insoweit wiederum die Konzeption der brandenburgischen Verfassung. In ihr sind nicht lediglich die klassischen Grundrechte in ihrer Funktion als Abwehrrechte als Recht bezeichnet (etwa das „Recht auf Leben“ [Art. 8 BbgVerf.]), sondern auch die sozialen Staatszielbestimmungen; diese sind suggestiv-verheißungsvoll wie Grundrechte formuliert (wenn auch z.T. relativiert durch objektiv-rechtliche Einkleidung).26 So ist das Land etwa nach Art. 48 Abs. 1 BbgVerf. „verpflichtet, im Rahmen seiner Kräfte durch eine Politik der Vollbeschäftigung und Arbeitsförderung für die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit zu sorgen, welches das Recht jedes einzelnen umfasst, seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte Arbeit zu verdienen“. In ähnlicher Weise ist von einem „Recht auf Wohnung“ (Art. 47 Abs. 1 BbgVerf.) die Rede.27 24 Graf Vitzthum (o. Fn. 19), S. 700 f.; ebenso (allg. zum „Recht auf Arbeit“) bereits Pietzcker, Recht auf Arbeit, in: Universität Bonn (Hrsg.), Recht auf Arbeit: Vorträge anlässlich des Symposiums zum 70. Geburtstag von Karl Josef Partsch, 1984, S. 15 (17). 25 Krit. auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 938; ebenso Zöllner, Arbeitsrecht unter neuen verfassungsrechtlichen Vorgaben, ZfA 22 (1991), 713 (726): „Rosstäuschermethoden“. Vgl. Starck, Verfassunggebung in den neuen Ländern, ZG 7 (1992), 1 (43): „Seit wann werden Staatsziele als Rechte bezeichnet?“ – Die Formulierung „Recht auf …“ ist freilich eine aus dem Völkerrecht durchaus geläufige Formel, die in menschenrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auch für soziale Staatsziele Verwendung findet. Zu diesen Menschenrechten etwa Sommermann, Die Fortentwicklung der Menschenrechte seit der Allgemeinen Erklärung von 1948, ZfP N.F. 37 (1990), 37 (45 ff.). 26 Die sozialen Grundrechte der brandenburgischen Verfassung verheißen zunächst viel, nehmen dies aber sogleich wieder zurück: „eine Art soziale Springprozession“ (Merten, Grundgesetz und Verfassungen der neuen deutschen Länder, in: Blümel u.a. [Hrsg.], Verfassungsprobleme im vereinten Deutschland, 1993, S. 47 [62]). Sie werden daher nicht ganz unberechtigt als eine „Kreuzung“, als „Grundrechtszielbestimmungen“ oder „Zielgrundrechte“ bezeichnet, s. etwa Merten, Über Staatsziele, DÖV 1993, 368 (374); krit. auch Schwabe, Anmerkungen zum Verfassungshandwerk, ZRP 1991, 361 (363).
122
Daniel Hahn
27
Im Falle derartiger Staatszielbestimmungen, die Gestaltung versprechen, aber nicht einlösen (können), ist „Verfassungsfrust“ programmiert.28 Als besonders problematisch erweist sich insofern, dass etwa die wohnungs- und arbeitsrechtlichen Zielvorgaben gewissermaßen konjunkturabhängige Verbürgungen darstellen, deren Popularität besonders dann ansteigt, wenn der Staat sie am wenigsten verwirklichen kann.29 In ihnen liegt daher auch die Gefahr begründet, dass sich ökonomische Krisen zu konstitutionellen Krisen auswachsen.30 Die sozialen Staatszielbestimmungen können sich noch aus einem weiteren Grund langfristig als desintegrierend auswirken. Die Versprechen, mit denen diese Zielvorgaben eine freiheitliche Verfassung belasten, sind im Grunde unerfüllbar.31 Sie gaukeln etwas vor, was der Staat in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie nie leisten kann.32 Dem freiheitlichen Verfassungsstaat fehlt nahezu vollständig die Verfügungsgewalt etwa über das Gut Wohnraum; staatlicher Wohnungsbau wäre, selbst bei vollen Kassen, nicht bedarfsdeckend zu betreiben. Gleiches gilt bezüglich der Staatszielbestimmung Arbeit. Auch über diese 27 Die Fehlvorstellung, Grundrechte und Staatszielbestimmungen hätten vergleichbare Rechtsfolgen, wird noch verstärkt, wenn keine klare Trennung zwischen diesen beiden Normtypen erfolgt. 28 Vgl. Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 25: elementare „Hypothek für das Verfassungsbewusstsein der Bürger“; Starck (o. Fn. 22), S. 57 f. – Zur desintegrierenden Wirkung uneinlösbarer Verfassungsversprechen auch bereits Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 386. 29 Dazu Dietlein (o. Fn. 6), S. 146. Zur Konjunkturabhängigkeit der Forderung nach Verbürgung eines „Rechts auf Arbeit“ oder eines solchen auf eine Wohnung auch Nebendahl, Grundrecht auf Arbeit im marktwirtschaftlichen System?, ZRP 1991, 257 (257). 30 Vgl. Isensee (o. Fn. 21), S. 381. – „Vorbildlich“ daher etwa die Klarstellung in Art. 36 Abs. 1 Verf. LSA: „im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten“. 31 Vgl. Scholz (o. Fn. 28), S. 25: „von vornherein utopisch, wenn nicht illusorisch“. 32 Vgl. Dietlein (o. Fn. 22), S. 403; P. Kirchhof, Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz?, 1992, S. 34 f; Scholz, Neue Verfassung oder Reform des Grundgesetzes?, ZfA 22 (1991), 683 (691 ff.): In letzter Konsequenz sind soziale Staatszielbestimmungen lediglich in einem zentralverwaltungswirtschaftlichen bzw. sozialistischen System denkbar.
Verfassungsgehaltsgrenzen
123
„Ressource“ verfügen in erster Linie Private.33 In einer freiheitlich-demokratischen Ordnung kommt dem Staat die Aufgabe zu, das freie Spiel der Marktkräfte durch einen entsprechenden Ordnungsrahmen zu kanalisieren und bei Fehlentwicklungen regulierend einzugreifen, nicht aber etwa die, durch unmittelbare Aktivitäten (wie Beschäftigungsprogramme) selbst Arbeitsplätze zu schaffen. Eine landesverfassungsrechtliche Staatszielbestimmung „Arbeit“ verpflichtet im Grunde zu dem, was bereits Art. 109 Abs. 2 GG i.V.m. § 1 StabG besagt: dass ein hoher Beschäftigungsstand anzustreben sei.34 Auch wird es häufig an den tatsächlichen Möglichkeiten fehlen, um gerade die ausgreifenden sozialen Zielvorgaben zu verwirklichen.35 Insoweit ist nicht zuletzt von Bedeutung, dass es die Mitgliedstaaten der EU / EG, die der Währungsunion beigetreten sind, nicht mehr in der Hand haben, ihre Politik und Gesetzgebung frei auf soziale Wohltaten auszurichten. Ihre Finanz- und Haushaltspolitik wird vielmehr durch ständige Überwachung der Staatsverschuldung (Art. 104 Abs. 2 EG) und der Wirtschaftspolitik (Art. 99 Abs. 3 EG) eingeschränkt; bei Verstößen gegen die Haushaltsdisziplin drohen Sanktionen.36 Unter dem Gesichtspunkt der finanziellen Leistungskraft und daraus resultierenden haushaltsrechtlichen Erwägungen ist daher mittelbar auch den Möglichkeiten der deutschen Länder eine enge Grenze gezogen, als Gliedstaaten eines Mitglieds der 33 Weder kann der Staat Private zur Vergabe von Arbeitsplätzen zwingen, noch unterliegt die Erhaltung konkreter Arbeitsplätze im marktwirtschaftlich orientierten System in einem nennenswerten Maße den rechtlichen und tatsächlichen Steuerungsmöglichkeiten des Staates. 34 Vgl. allg. W. Schmidt, Soziale Grundrechte im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Der Staat 20 (1981), Beiheft 5, S. 9 (24); Wipfelder, Ein „Recht auf Arbeit“ im Grundgesetz?, VBlBW 1990, 367 (369); ebenso (mit Blick auf Art. 7 SächsVerf.) Hinds (o. Fn. 14), S. 150. 35 Ebenso Starck, Verfassunggebung in Thüringen, ThürVBl. 1992, 10 (15). 36 S. Art. 116 Abs. 3 i.V.m. Art. 104 Abs. 9 u. 11 EG. – Die EG ist eine Stabilitätsgemeinschaft; in ihrem Mittelpunkt steht das Ziel der Preisstabilität (vgl. Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie Art. 111 Abs. 1 S. 1, 2 und Abs. 2 S. 2 EG), und die Geldpolitik des Europäischen Systems der Zentralbanken ist auf die Preisstabilität als vorrangiges Ziel ausgerichtet, s. Art. 105 Abs. 1 S. 1 EG.
124
Daniel Hahn
EWWU durch Investitionsförderung etwa bestehende Arbeitsplätze zu sichern bzw. weitere zu schaffen und dadurch die Staatszielbestimmung Arbeit umzusetzen. Gleiches gilt für die Gewährung von Mietzuschüssen und den Bau landes- oder kommunaleigener Wohnungen.37 Ebenso wenig unbegrenzt ist die finanzielle Leistungsfähigkeit der Länder mit Blick auf die Förderung von Museen, Bibliotheken, Theatern und von anderen kulturellen Einrichtungen.38 Je geringer die normative Steuerungskraft landesverfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen, desto geringer auch die Geltungs- und Gestaltungskraft der Verfassung.39 Im Falle narrativer Zielvorgaben verspricht die Verfassung etwas, was das Land aufgrund der Kompetenzverteilungsschemata der Art. 70 ff. GG nicht einlösen kann. Die Normierung jener Staatszielbestimmungen, die außerhalb der engeren Landesgesetzgebungskompetenzen liegende Bereiche regeln, schwächt folglich den Charakter der Verfassung als Rechtssatz. Je ausgeprägter die Hinwendung zu einem solchen narrativen Konstitutionalismus, desto schwächer die normative Kraft der Verfassung.40 37 Die Verpflichtung Brandenburgs, „im Rahmen seiner Kräfte für die Verwirklichung des Rechts auf eine angemessene Wohnung zu sorgen“ (Art. 47 Abs. 1 BbgVerf.), tendiert insoweit gegen Null, s. von Mangoldt (o. Fn. 6), S. 24; ebenso (mit Blick auf Art. 7 Abs. 1 SächsVerf.) Rincke, Staatszielbestimmungen der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, S. 96. 38 Vor dem Hintergrund des Vorbehalts des Möglichen, unter dem alle Staatszielbestimmungen stehen, gibt es zudem keine verfassungsrechtliche Garantie des erreichten status quo der Zielverwirklichung. So ist bspw. auch eine Zurücknahme sozialstaatlicher Leistungen zulässig. 39 Vgl. Graf Vitzthum (o. Fn. 10), S. 413 f.; Würtenberger, Die Verfassunggebung in den neuen Bundesländern, in: Merten / Schreckenberger (Hrsg.), Kodifikation gestern und heute, 1995, S. 115 (117 f.). Insoweit räumen sogar Befürworter der Aufnahme landesverfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen ein, solche Zielvorgaben seien eher kontraproduktiv, s. etwa Wahl, Grundrechte und Staatszielbestimmungen im Bundesstaat, AöR 112 (1987), 26 (44 f.); Hufen, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, BayVBl. 1987, 513 (519). 40 Verfällt die Verfassungspolitik in Utopismen und „Verfassungsschwärmerei“ (Merten [Fn. 13], bes. S. 290 ff.), gibt sie letztlich die Normativität der Verfassung preis. – Zwischen Verfassungstext und vorgefundener Wirklichkeit besteht freilich ein notwendiges Spannungsverhältnis; dazu Badu-
Verfassungsgehaltsgrenzen
125
Die landesverfassungsrechtlichen Staatszielbestimmungen mit lediglich geringer normativer Steuerungskraft gefährden mithin den Charakter der Verfassung als Rechtssatz.41 Die Folgen treten deutlich vor Augen: Liegt auf der Verfassung erst einmal der Schein partieller Redundanz, werden die Anordnungen, die konkret verwirklichungsfähig wären, unter Umständen gar nicht mehr zur Kenntnis genommen bzw. nur noch unwillig respektiert.42 Im Zuge der mit dieser Art von Konstitutionalismus zwangsläufig einhergehenden Enttäuschungserlebnisse werden Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Verfassung schwinden. Letztere kann dabei noch aus weiteren Gründen abnehmen. Erstens steigt mit der Dichte des Geflechts narrativer Zielvorgaben der verfassungsrechtliche Aktualisierungs- bzw. Reformbedarf im Zuge der fortlaufenden Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit.43 Häufige Verfassungsänderungen aber schwächen das Ansehen der Verfassung und entwerten ihre normative Kraft.44 Zweitens besteht die Gefahr, dass narrative Verfassungsnormen dauerhaft Akzente zu setzen suchen, die nicht alle Bürger bejahen. Drittens führt die Normierung gerade von Staatszielbestimmungen mit geringer normativer Gestaltungskraft zu einer zunehmenden „Aufladung“ der Verfassung mit Themen der Tagespolitik,45 so dass die betreffenden Zielvorgaben in der ra, Verfassung und Verfassungsgesetz, in: FS für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag, 1973, S. 19 (27). 41 Vereinzelt (s. etwa Simon, Wegweisendes Verfassungsmodell aus Brandenburg, NJ 1991, 427 [429]) wird es allerdings positiv gesehen, dass sich die Staatszielbestimmungen gegen den Charakter der Verfassung als Rechtssatz richten. 42 Vgl. Menzel, Landesverfassungsrecht, 2002, S. 370. 43 So wird etwa auf Veränderungen der sozialen Rahmenbedingungen im Falle einer Verfassung, die einzelprogrammatische soziale Staatszielbestimmungen enthält, desto eher durch eine Verfassungsänderung reagiert werden müssen, je zahlreicher die in ihr verankerten sozialen Zielvorgaben ausfallen. – Ein Staatszielkatalog kann lediglich eine zeitbedingte Gewichtung von Prioritäten zum Ausdruck bringen. 44 Vgl. etwa Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 15. 45 Der Gesetzgeber wird sich gerade in kontroverser Lage eher auf Verfassungsvollzug berufen, als ohne diese Abstützung zu legiferieren, vgl. Stern (o. Fn. 25), S. 86; H.-P. Schneider, Direkte Anwendung und
126
Daniel Hahn
politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzung instrumentalisiert werden. Zu einer solchen „Politisierung des Verfassung“46 kommt es umso mehr, je detaillierter die Verfassung vorgibt, wie die jeweilige Staatszielbestimmung verwirklicht werden soll. Während die grundsätzliche Anerkennungswürdigkeit etwa der Aussagen der sozialen Staatszielbestimmungen unbestritten ist, bestehen unterschiedliche Meinungen im Hinblick darauf, wie die Zielvorgaben umzusetzen sind, also mit Blick auf Wertungsspielräume und Abwägungsschritte im Einzelfall. Mit einer Staatszielbestimmung sind heterogene Erwartungen verbunden, häufig ein ganzes Bündel aus Visionen, Utopien und Illusionen, aber auch aus konkreten Schutz- und Handlungshoffnungen und Gestaltungswünschen. Eine Zielformel lenkt nur auf den ersten Blick davon ab, dass sich hinter ihr höchst unterschiedliche Interessen sammeln, ohne dass ein Konsens über die Konkretisierung vorliegt. Je situationsbezogener eine Frage ist, desto eher tritt bei der Antwort Dissens an die Stelle von Konsens; je mehr Vorgaben für die Zielverwirklichung konstitutionalisiert werden, desto mehr wird politischer Streit zum Verfassungsstreit, desto größer ist der Schaden für die Akzeptanz der Verfassung. Ohne Grundkonsens ist diese nicht „überlebensfähig“.47 Schließlich lauern in einem zu dicht gewobenen Narrativ-Gefüge Gefahren für den Charakter und die Werbekraft einer Verfassung als normative Grund- und Rahmenordnung des staatlich-gesellschaftlichen Lebens. Namentlich mit einem gewissermaßen „entzeiteten“ Charakter ist eine Verfassung zukunftstauglich und -offen. Wäre sie nicht in diesem Sinne jeweils zeitindirekte Wirkung von Verfassungsnormen, in: Bernhardt / Beyerlin (Hrsg.), Deutsche Landesreferate zum Öffentlichen Recht und Völkerrecht, 1982, S. 23 (44 f.): „Alibieffekt des Vollzugspostulats“. 46 Böckenförde, Zur Diskussion um die Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung, AöR 106 (1981), 580 (598), mit Blick auf „die Anreicherung der Verfassung mit Politikzielen“. 47 Zur Bedeutung eines Grundkonsenses für das Überleben der Verfassungsordnung etwa Badura (o. Fn. 40), S. 35; grundlegend Scheuner, Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 33 (61 f.).
Verfassungsgehaltsgrenzen
127
gemäß, d.h. hinreichend offen und dadurch anpassungsfähig und auch flexibel, könnte sie ihre normative Leitfunktion als auf Dauer angelegte Rahmenordnung nicht erfüllen.48 Allzu schnell veraltend, würde sie auch in normativer Hinsicht alsbald hinfällig, ja obsolet werden. Zu beachten bleibt andererseits: Die Verfassung kann auch mittels Staatszielbestimmungen über das aufgaben- und zielpolitische Ethos des Staates Auskunft geben. Der moderne Verfassungsstaat definiert und legitimiert sich wesentlich von seinen Aufgaben her. Die Verfassung hat auch eine Informationsfunktion für den Bürger, der Auskunft über das Selbstverständnis seines Staat sucht. Vereinzelt hat denn auch – auf Landesebene – die Vorstellung der Verfassung als „Lesebuch für den Bürger“ Eingang in die Verfassungstexte gefunden.49 Gerade die gliedstaatlichen Verfassungen haben sich demnach keineswegs auf bloße Organisationsstatute oder die Bändigung der staatlichen Gewalt durch die Gewährleistung von Grundrechten zu beschränken.50 Sie können Staatstätigkeit durchaus auch in positiver Erscheinungsform dokumentieren, dem Staat also Aufgaben stellen und Pflichten auferlegen. Die Landesverfassungen können also ohne Weiteres „nachhaltig“ Staatsaufgaben festschreiben und derart über das aufgaben- und zielpolitische Programm der Länder Auskunft geben. Dem Staat durch Staatszielbestimmungen eine materiale Zielrichtung zu geben, bleibt legitim.
48
Allg. zur Flexibilität der Verfassung als Voraussetzung für ihre Dauerhaftigkeit Stern (o. Fn. 25), S. 87 f., 100: Die Verfassung „muss genügend Elastizität aufweisen, um die Wirklichkeit in sich aufnehmen und verarbeiten zu können“; vgl. Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978), 566 (585 ff.). 49 S. etwa Art. 188 BayVerf., wonach jeder Schüler vor Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung des Freistaates Bayern erhält. 50 Als Organisationsstatut wird eine Verfassung bezeichnet, die auf die (für jedwede Verfassung unentbehrliche) Organisation der Staatsgewalt, auf das organisatorische Gefüge (das Institutionelle also) beschränkt ist. Eine Vollverfassung enthält hingegen auch materiale Regelungen wie etwa Grundrechte.
128
Daniel Hahn
Diese Informations- und Programmierungsfunktion der Landesverfassungen darf ihre juristische aber nicht vereiteln.51 Die normative Kraft der Bestimmungen darf nicht hinter ihren appellativen Charakter zurücktreten.52 Auch die Verfassungen der Gliedstaaten sollen nicht „als eine Art Gesamtwerte-Register, als Groß-Bilderbuch“ formuliert werden.53 Verfassungen sind „keine Sonntagspredigt“.54 Dieser Grenzziehung wurde im Falle vieler landesverfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen nicht hinreichend Rechnung getragen. Grenzen denkbarer Verfassungsgehalte wurden zu wenig bedacht. IV. Bundesstaatliche Grenzen der Verfassungshoheit Welches sind die bundesstaatlichen Grenzsteine für einen gliedstaatlichen Konstitutionalismus, wie er in der zunehmenden Normierung landesverfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen mit lediglich deklamatorischem Gehalt zum Ausdruck kommt? Diese Grenzziehung ist zunächst durch die Kollisionsvermeidungsmechanismen des Grundgesetzes bestimmt.55 Lan51
Zur kulturellen und juristischen Funktion einer Verfassung Badura, Die Verfassung des Bundesstaates Deutschland in Europa, 1993, S. 26 ff.; vgl. Stern (o. Fn. 25), S. 82. 52 Letztlich bedarf es eben nicht einer lediglich wohlklingenden, sondern auch und gerade einer verbindlichen Verfassung, s. Scholz, Aufgaben und Grenzen einer Reform des Grundgesetzes, in: FS für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 65 (74 f.). – Rechtsvergleichende Studien zeigen freilich, dass sich im Weltmaßstab ein Verfassungsverständnis auf dem Vormarsch befindet, demzufolge die Verfassung weniger als grundrechtlich gebändigtes Entscheidungsprogramm zu sehen ist, sondern primär als „Grundwerte-Modell“; hierzu Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 370 ff.; vgl. Brugger, Kultur, Verfassung, Recht, Staat, AöR 126 (2001), 271 (282 ff.). 53 Eine entsprechende Tendenz konstatiert bereits Lerche, Verfassungsnorm, Verfassungswirklichkeit, Verfassungswandel, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.), Verfassungsdiskussion in Deutschland, 1992, S. 15 (19). 54 Graf Vitzthum (o. Fn. 10), S. 410. 55 Dazu wie auch zur gemeinschaftsrechtlichen Dimension der Fragestellung Hahn (o. Fn. 2).
Verfassungsgehaltsgrenzen
129
desrecht, welches von den grundgesetzlichen Kompetenznormen nicht gedeckt oder in Verletzung des Grundsatzes der Bundestreue ergangen ist, ist ultra vires ergangen und demnach ex tunc nichtig. Einen Schritt nachgelagert verlangt Art. 31 GG als Kollisionsentscheidungsnorm Beachtung.56 1. Art. 70 ff. GG Nach umstrittener, freilich zutreffender Auffassung unterliegen landesverfassungsrechtliche Normen von vornherein nicht den Bindungen der Art. 70 ff. GG.57 Die Länder sind im Rahmen ihrer Verfassungshoheit vielmehr grundsätzlich frei, von allen Normtypen und Norminhalten Gebrauch zu machen.58 Dem widerspricht der wohl vorherrschende Ansatz, wonach das gesamte Landesverfassungsrecht der Zuständigkeitsverteilung durch die Art. 70 ff. GG untersteht.59 Verschiedentlich wird da56 Die Rangfrage stellt sich erst dann, wenn im Falle eines inhaltlichen Widerspruchs zwischen Landes- und Bundesrecht Landesnorm und bundesrechtliche Vorschrift kompetenzgemäß zustande gekommen sind. 57 Ebenso etwa Pietzcker, Zuständigkeitsordnung und Kollisionsrecht im Bundesstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR IV, 2. Aufl. 1999, § 99 Rn. 35; Bernhardt / Sacksofsky, in: Dolzer u.a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Lbl. Stand September 2007, Art. 31 Rn. 17 ff.; Boehl, Verfassunggebung im Bundesstaat, 1997, S. 193 ff.; Dietlein (o. Fn. 6), S. 44 f., 48; Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 255, 429; Storr, Verfassunggebung in den Ländern, 1995, S. 209 ff.; grundlegend von Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, 1980, S. 157 f.; Sacksofsky, Landesverfassungen und Grundgesetz – am Beispiel der Verfassungen der neuen Bundesländer, NVwZ 1993, 235 (239). 58 Die Ausführung und Konkretisierung der landesverfassungsrechtlichen Normen durch das einfache Gesetzesrecht ist freilich an jene Kompetenzregeln gebunden. 59 Vgl. P.M. Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 31 Rn. 15; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, 1989, S. 171 ff. (s. aber inzwischen ders., in: von Mangoldt / Klein / Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. II, 5. Aufl. 2005, Art. 31 Rn. 88: Landesverfassungsrecht sei nicht von den Kompetenzverteilungsschemata der Art. 70 ff. GG erfasst); Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, 1995, S. 344 ff.; Isensee, Chancen und Grenzen der Landesverfassung im Bundesstaat, SächsVBl. 1994, 28 (30); Sachs, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, DVBl. 1987, 857 (863).
130
Daniel Hahn
bei – nicht erst seit der Föderalismusreform60 – ein kompetenzrechtlicher Anknüpfungspunkt für die Länder auch im Falle der konkurrierenden Zuständigkeit des Bundes (Art. 72, 74 GG) bejaht. Insoweit ist etwa von „Gesetzgebungsaufträgen auf Vorrat“61 die Rede. Es handele sich jedenfalls um eine potentielle Gesetzgebungszuständigkeit der Länder.62 Nach einem anderen Unteransatz verfügen die Länder hingegen für das gesamte Landesverfassungsrecht über eine ungeschriebene Kompetenz kraft Natur der Sache.63 Die Vertreter der h.L., derzufolge auch das Landesverfassungsrecht an die Art. 70 ff. GG gebunden ist, verweisen darauf, dass das Grundgesetz kompetenzrechtlich nicht zwischen einfacher Gesetzgebung und Verfassungsgesetzgebung der Länder trenne. Die Verfassunggebung sei (nur) eine (besondere) Form der Gesetzgebung. Des Weiteren führen sie ins Feld, die Form des Verfassungsrechts biete „keine Handhabe, eine fehlende Sachkompetenz zu überspielen“:64 Das Wesen der gesamtstaatlichen Organisation werde nicht im Gegeneinander der Verfassungsrechtsordnungen von Bund und Ländern deutlich, sondern ausschließlich in deren Neben- und Miteinander. Deshalb könne 60
Nach Art. 72 Abs. 3 GG n.F. haben die Länder für bestimmte Materien die Möglichkeit, vom an sich fortgeltenden Bundesrecht abweichende Regelungen zu treffen. Krit. zu dieser „Abweichungsgesetzgebung“ als neuer Spielart der konkurrierenden Gesetzgebung Degenhart, Die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen durch die Föderalismusreform, NVwZ 2006, 1209 (1212 f.); Selmer, Die Föderalismusreform – Eine Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung?, JuS 2006, 1052 (1056 f.). 61 Jutzi, Landesverfassungsrecht und Bundesrecht, 1982, S. 44. 62 Darüber hinaus wird ein solcher Anknüpfungspunkt vereinzelt sogar im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 71, 73 GG) gesehen, da es gem. Art. 71 GG zu einer Regelungsermächtigung der Länder durch den Bund kommen könne: Bis die Regelungskompetenz des Landes infolge entsprechender Regelungsermächtigung vorliegt, sei die betreffende landesverfassungsrechtliche Norm suspendiert, vgl. Jutzi (o. Fn. 61), S. 42, 47. 63 Siehe Sachs, Die Landesverfassung im Rahmen der bundesstaatlichen Rechts- und Verfassungsordnung, in: Simon / Franke / Sachs (Hrsg.), Handbuch der Verfassung des Landes Brandenburg, 1994, § 3 Rn. 13 ff.; Rincke (o. Fn. 37), S. 83 f.; Franke / Kneifel-Haverkamp (o. Fn. 21), S. 144. 64 Siehe Sachs (o. Fn. 59), S. 863.
Verfassungsgehaltsgrenzen
131
das Landesverfassungsrecht keine Aussagen für Materien treffen, die sich der Bund zur Gesetzgebung vorbehalten habe. Die besseren Argumente sprechen jedoch gegen eine solche Bindung des Landesverfassungsrechts an die Art. 70 ff. GG. Diese positiven Kompetenznormen finden sich im VII. Abschnitt des Grundgesetzes („Die Gesetzgebung des Bundes“), und zwar in unmittelbarer Nachbarschaft zu den das Gesetzgebungsverfahren des Bundes regelnden (eher technischen) Normen. Demgegenüber steht Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG – die elementare Vorschrift für die Zuständigkeit der Länder zur eigenen Verfassunggebung – im II. Abschnitt („Der Bund und die Länder“), ebenso wie auch die anderen Normen, die das grundsätzliche BundLänder-Verhältnis betreffen (etwa Art. 20 Abs. 1, Art. 30 bis 32 GG). Dies ist, auch wenn das Grundgesetz mit Blick auf die Kompetenzverteilung im Bundesstaat nicht ausdrücklich zwischen einfacher Gesetzgebung und Verfassunggebung unterscheidet, ein erster Anhaltspunkt dafür, dass die Kompetenzverteilungsschemata der Art. 70 ff. GG das einfache (Bundes- und) Landesrecht erfassen, nicht aber das Verfassungsrecht65 – dieses liegt auf einer (ganz) anderen Ebene.66 Auch würde der von Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG geschützte Gestaltungsspielraum der Länder bei der Ausgestaltung ihrer verfassungsmäßigen Ordnung übermäßig beschränkt, wenn die Normen des Landesverfassungsrechts allesamt an den Art. 70 ff. GG zu messen wären:67 Aus einer solchen Unterwerfung würde ein „Verfassungstorso“68 resultieren.69 Eine derartige Zerstückelung der 65 Dieses Ergebnis wird auch dadurch gestützt, dass nach allgemeiner Auffassung (vgl. Maunz, in: ders. / Dürig [Begr.], Grundgesetz, Lbl. Stand Juni 2007, Art. 142 Rn. 1 f.) auch die Verfassungsgesetzgebung des Bundes nicht den Kompetenzverteilungsregeln der Art. 70 ff. GG unterfällt. Art. 79 GG weist dem verfassungsändernden Gesetzgeber auf gesamtstaatlicher Ebene eine besondere Kompetenz-Kompetenz zu, welche die regulären Kompetenzverteilungsnormen der Art. 70 ff. GG überlagert. 66 Ähnlich Pietzcker (o. Fn. 57), Rn. 35, demzufolge Gesetzgebung und Verfassunggebung nicht auf derselben Ebene liegen. 67 Ebenso i.E. BVerfGE 36, 342 (364 ff.); März, in: von Mangoldt / Klein / Starck (o. Fn. 59), Art. 31 Rn. 87. 68 BVerfGE 36, 342 (361). 69 In diese Richtung auch Pietzcker (o. Fn. 57), Rn. 35.
132
Daniel Hahn
Landesverfassungen ist aber aus bundesstaatlicher Sicht weder angezeigt noch erforderlich. Ebenso wenig zu überzeugen vermag der Unteransatz, der den Ländern eine ungeschriebene Kompetenz für Landesverfassungsrecht kraft Natur der Sache zuspricht. Einem solchen Kompetenztitel „Landesverfassung“ steht die Regelungssystematik der Art. 70 ff. GG entgegen.70 Auch wäre sein materieller Gehalt zu unscharf, um praxistauglich sein zu können:71 Grenzen für die Aufnahme von Rechtssätzen in die Landesverfassung ergeben sich insbesondere aus deren Charakter als normative Grund- und Rahmenordnung des staatlich-gesellschaftlichen Lebens, welche das für das jeweilige Gemeinwesen Wichtige zum Ausdruck bringen muss.72 Die Verfassungsdignität einer Vorschrift ist daher jeweils im konkreten Fall anhand einer Gesamtbetrachtung zu ermitteln.73 Es kann folglich umfangreiche wie auch weniger detaillierte Verfassungstexte geben.
70 Die Länder verfügen gem. Art. 70 Abs. 1 GG dann über Gesetzgebungsbefugnisse, wenn diese dem Bund nicht ausdrücklich bzw. ggf. ungeschrieben zugewiesen sind. Ungeschriebene Befugnisse der Länder kraft Natur der Sache sind mit dieser Regelungssystematik nicht zu vereinbaren. 71 A.A. Rincke (o. Fn. 37), S. 83; ebenso wohl Sachs (o. Fn. 59), S. 863. 72 Die Funktion der Verfassung, die wesentlichen Grundentscheidungen zu treffen, steht ihrer Überfrachtung mit Detailregelungen entgegen, s. Brenner, Die neuartige Technizität des Verfassungsrechts und die Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung, AöR 120 (1995), 248 (265 ff.). Daraus ergibt sich eine Grenze auch für die Aufnahme einfachen Bundesrechts in eine Landesverfassung; allg. Ossenbühl, Probleme der Verfassungsreform in der Bundesrepublik Deutschland, DVBl. 1992, 468 (477): In die Verfassung solle „sowenig wie möglich und so viel wie nötig“ aufgenommen werden. 73 Zunehmend, vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts, findet in der Verfassung nicht allein das Wesentliche Verankerung, sondern auch das, was man der Änderung mit einfacher Mehrheit entziehen will (dazu Stern [Fn. 25], S. 89 f.). Angesichts der Anreicherung der Verfassung durch solche „Verankerungsnormen“ (Forsthoff, Einiges über Geltung und Wirkung der Verfassung, in: FS für Ernst Rudolf Huber zum 70. Geburtstag, 1973, S. 3 [7]) warnt etwa Böckenförde (o. Fn. 46), S. 600, vor einer den juristischen Gehalt der Verfassung aufweichenden „Überfrachtung und Überforderung des Verfassungsbegriffs, aber auch der Verfassungsfunktion“.
Verfassungsgehaltsgrenzen
133
Die landesverfassungsrechtlichen Normen unterliegen demnach nach der hier vertretenen Meinung von vornherein nicht den Bindungen der Art. 70 ff. GG. Es greift insbesondere zu kurz, die Frage dieser Bindung je nach dem Normtyp der in Rede stehenden landesverfassungsrechtlichen Regelung zu bejahen oder zu verneinen.74 Vereinzelt findet sich zwar eine Differenzierung zwischen unmittelbar anwendbaren Verfassungsnormen (also etwa den Staatsfundamentalnormen und Grundrechten) auf der einen Seite und den Gesetzgebungsaufträgen sowie Staatszielbestimmungen als umsetzbarem bzw. umsetzungsbedürftigem – und daher an die Art. 70 ff. GG gebundenem – Verfassungsrecht auf der anderen.75 Gegen diesen Ansatz sprechen jedoch die Argumente, die bereits einer Bindung des gesamten Landesverfassungsrechts an die Kompetenzverteilungsschemata der Art. 70 ff. GG entgegenstehen. Zudem liefert das Grundgesetz keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Art. 70 ff. GG auf den einen landesverfassungsrechtlichen Normtyp anwendbar sind, auf den anderen aber nicht. Schließlich ist die Zuordnung zu den einzelnen Normtypen auch nicht immer trennscharf möglich, so dass jener Auffassung auch die Grundsätze der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit entgegenstehen. 2. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG Gleichwohl verfügen die Länder mit Blick auf das Landesverfassungsrecht über keine Vollkompetenz i. S. einer einheitsstaatlichen Verfassung.76 Art. 28 Abs. 1 GG ist bekanntlich nicht 74
So aber Jutzi (o. Fn. 61): Die Landesverfassungen seien im Grundsatz von den Art. 70 ff. GG freigestellt (S. 21 f.), die Wirksamkeit der landesverfassungsrechtlichen „Verfassungsaufträge“ und „Programmsätze“ aber sei im Regelfall an die kompetenzrechtliche Zuständigkeit der Adressaten für die Verwirklichung geknüpft (S. 41 ff., 47). 75 S. etwa (angelehnt an Jutzi [Fn. 61], S. 30 ff.) Kanther, Die neuen Landesverfassungen im Lichte der Bundesverfassung, 1993, S. 116 ff. 76 Auch eine solche Vollkompetenz wäre freilich eine lediglich virtuelle Allzuständigkeit. Der Staat darf den Menschen nicht vollständig vereinnahmen, sondern er ist sektoraler Staat; Gleiches muss für die Verfassung gelten. Dazu Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: ders. / Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 2. Aufl. 1996, § 57 Rn. 159.
134
Daniel Hahn
lediglich eine Garantienorm für die Verfassungshoheit der Länder. Hier werden vielmehr der verfassungsmäßigen Ordnung in den Ländern zugleich gewisse Grenzen gezogen. Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates i.S.d. Grundgesetzes entsprechen. Die Landesverfassungen sind demnach an den „Gestaltungsvorgaben“77 der Homogenitätsklausel zu messen.78 Als Rechtsfolge ergibt sich aus Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG im Falle des Verstoßes gegen seine Vorgaben nach weit überwiegender Auffassung die Nichtigkeit des homogenitätswidrigen Landesrechts.79 Nach der Gegenauffassung sind die Länder lediglich verpflichtet, die Homogenitätsmängel zu beheben; tun sie dies nicht, ist der Bund zum Einschreiten nach Art. 28 Abs. 3 GG berechtigt.80 Letzterer Ansatz greift zu kurz. Er reduziert die Vorgaben der Homogenitätsklausel auf Verfassungsimperative, die nichts über die Rechtsfolgen ihrer Missachtung aussagen. Er setzt sich dadurch in Widerspruch zu der auch im Verhältnis 77
BVerfGE 22, 180 (204). Die Homogenitätsgrundsätze des Art. 28 Abs. 1 GG binden den Landesverfassungsgeber, ohne im Falle seiner Untätigkeit integrierter Bestandteil des Landesverfassungsrechts zu werden, s. BVerfGE 1, 208 (227); 6, 104 (111); Maunz / Scholz, in: Maunz / Dürig (o. Fn. 65), Art. 28 Rn. 2, 20; März (o. Fn. 59), S. 191; Sachs, Die Landesverfassung im Rahmen der bundesstaatlichen Rechts- und Verfassungsordnung, ThürVBl. 1993, 121 (122). 79 Vgl. BVerfGE 83, 37 (50); 83, 60 (70); Tettinger, in: von Mangoldt / Klein / Starck (o. Fn. 59), Art. 28 Rn. 67; Löwer, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 5. Aufl. 2001, Art. 28 Rn. 13; März (o. Fn. 67), Rn. 93 f. – Soweit nach anderem Ansatz im Fall homogenitätswidrigen Landesrechts bzgl. der Rechtsfolge auf Art. 31 GG zurückgegriffen wird, hat dies nach den Vertretern jener Ansicht gleichfalls die Nichtigkeit des betreffenden Landesverfassungsrechts zur Folge, vgl. etwa Bartlsperger, Das Verfassungsrecht der Länder in der gesamtstaatlichen Verfassungsordnung, in: Isensee / Kirchhof (o. Fn. 57), § 96 Rn. 23, 26; Maunz / Scholz (o. Fn. 78), Rn. 40, 82; Stern, in: BK (o. Fn. 57), Art. 28 Rn. 16 (ders. allerdings jetzt zurückhaltender in seinem „Staatsrecht“ [Fn. 25], S. 706). 80 Vgl. Böckenförde / Grawert, Kollisionsfälle und Geltungsprobleme im Verhältnis von Bundesrecht und Landesverfassung, DÖV 1971, 119 (126 f.): Gestalten die Länder die betreffenden Vorschriften nicht um bzw. heben sie diese nicht auf, stünden dem Bund alle Mittel aus Art. 28 Abs. 3 i.V.m. Art. 37 GG zu Gebote. 78
Verfassungsgehaltsgrenzen
135
von Bundes- und Landesverfassungsrecht geltenden Normenhierarchie. Soweit das Grundgesetz wie etwa in Art. 28 Abs. 1 GG Vorgaben für die gliedstaatliche Kompetenzausübung enthält, sind diese höherrangigen Vorschriften zugleich (positive oder negative) Rechtsgeltungsnormen für landesrechtliche Regelungen. Ein Verstoß gegen solche Kompetenznormen bedeutet unweigerlich, dass die betreffende Regelung ultra vires ergangen, also ex tunc nichtig ist. Gegen die Vernichtbarkeit als Rechtsfolge spricht auch die mit ihr einhergehende erhebliche Rechtsunsicherheit. Landesverfassungsrechtliche Normen, die gegen die Homogenitätsklausel verstoßen, könnten Geltung beanspruchen (also auch Rechtsfolgen erzeugen), bis das Land vom Bund zu einer Änderung gezwungen würde. Schließlich steht der Nichtigkeit homogenitätswidrigen Landesrechts auch nicht etwa der Gewährleistungszweck des Art. 28 Abs. 3 GG entgegen. 3. Art. 142 GG Art. 142 GG ist zum einen auf den Bereich der Grundrechte bezogene Garantienorm für die Verfassungshoheit der Länder; zum anderen fungiert diese Vorschrift für den Fall, dass eine Landesverfassung Grundrechte normiert, als negative Kompetenznorm. Landesgrundrechte, die nicht in Übereinstimmung mit den Artikeln 1 bis 18 des Grundgesetzes stehen, sind demnach kompetenzwidrig zustande gekommen und folglich unwirksam. Zu den Grundrechten i. S. d. Art. 142 GG zählen bekanntlich nicht nur die landesverfassungsrechtlichen Verbürgungen, die ausdrücklich als Grundrechte ausgewiesen oder im Abschnitt Grundrechte der Landesverfassung verankert sind. Maßgeblich ist vielmehr, gestützt auf das Telos des Art. 142 GG, ein materielles Grundrechtsverständnis.81 Über seinen Wortlaut 81 Vgl. zuletzt BVerfGE 96, 345 (364); Denninger, in: ders. u.a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (AKGG), Lbl. Stand August 2002, Art. 142 Rn. 8; P.M. Huber, in: Sachs (o. Fn. 59), Art. 142 Rn. 6; a.A. Kratzer, Artikel 142 des Grundgesetzes und die Grundrechte in der Bayerischen Verfassung, in: Süsterhenn u.a. (Hrsg.), Verfassung und Verwaltung in Theorie und Wirklichkeit. FS für Wilhelm Laforet anlässlich seines 75. Geburtstages, 1952, S. 107 (109).
136
Daniel Hahn
hinaus schützt Art. 142 GG auch solche landesverfassungsrechtlichen Grundrechtsbestimmungen, die mit außerhalb des Katalogs der Art. 1–18 GG stehenden Grundrechtsverbürgungen des Grundgesetzes (etwa Art. 33 Abs. 1, Art. 101 ff. GG) übereinstimmen.82 Entscheidend ist allein, dass die betreffenden verfassungsrechtlichen Normen zumindest (auch) grundrechtsähnliche Positionen gewährleisten, also Individualrechtsschutz umfassen können. Dies ist dann der Fall, wenn die betreffende Regelung auch eine subjektive Komponente enthält und diese mit dem objektiven Gehalt der Regelung untrennbar verbunden ist. Auf rein objektiv-rechtliche Regelungen (etwa solche mit Blick auf die wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Lebensverhältnisse) bezieht sich Art. 142 GG folglich nicht.83 Insbesondere den Staatszielbestimmungen fehlt eine subjektivrechtliche Ausrichtung. 4. Art. 1 Abs. 3 GG i.V.m. Grundrechten bzw. grundrechtsgleichen Rechten Der kompetenzregulierenden Sperre des Art. 1 Abs. 3 GG i.V.m. den Grundrechten bzw. grundrechtsgleichen Rechten unterliegt neben dem verfassungsändernden Gesetzgeber auch der Landesverfassungsgeber selbst.84 Landesverfassungsrecht, das mit den Bundesgrundrechten unvereinbar ist, ist wegen Verstoßes gegen den negativen Kompetenzgehalt des jeweiligen Bundesgrundrechts kompetenzwidrig, also unwirksam und somit nichtig: Die Art. 1 Abs. 3 GG nachfolgenden Grundrechte verkörpern nicht lediglich eine objektive Wertordnung,85 son82 S. BVerfGE 22, 267 (271); Maunz (o. Fn. 65), Rn. 5 ff.; Kunig, in: von Münch / Kunig (o. Fn. 79), Bd. III, 5. Aufl. 2003, Art. 142 Rn. 10; Böckenförde / Grawert (o. Fn. 80), S. 120. 83 Ebenso Pietzcker (o. Fn. 57), Rn. 42; Dietlein (o. Fn. 6), S. 28 ff., 32, 42, 125. 84 S. nur Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 1269. 85 Dazu etwa BVerfGE 5, 85 (204 f.); 6, 55 (72); 7, 198 (204 f.); 21, 362 (371 f.); 49, 89 (141 f.); 61, 1 (10 f.); 74, 297 (323). Zur Rechtsprechungsentwicklung Stern (o. Fn. 84), S. 897 ff.
Verfassungsgehaltsgrenzen
137
dern sie wirken (auch) als negative Kompetenznormen. Die geltungsvernichtende Durchgriffswirkung erfasst alle in den Landesverfassungen enthaltenen Normtypen.86 5. Grundsatz der Bundestreue Als weitere (und letzte) Grenze für das kompetenzgemäße Zustandekommen landesverfassungsrechtlicher Normen ist der Grundsatz der Bundestreue herauszustellen. Dieser Grundsatz bezeichnet anerkanntermaßen die Verpflichtung, im Rahmen der bundesstaatlichen Ordnung wechselseitig Rücksicht zu nehmen und Auswirkungen auf andere Beteiligte zu berücksichtigen. Die Verpflichtung zum bundestreuen Gebrauch der Kompetenzen erstreckt sich auch auf die gesamte Landesstaatsgewalt, und zwar auf den Landesverfassungsgeber ebenso wie auf den verfassungsändernden Gesetzgeber. Aus einem Verstoß gegen diese Kompetenz(ausübungs)schranke folgt die Nichtigkeit des betreffenden Landesverfassungsrechts.87 Es entsteht also von vornherein kein wirksames Recht. 6. Kollisionsentscheidung durch Art. 31 GG Welches Recht gilt aber, wenn kompetenzgemäß zustande gekommenes Landesverfassungs- und Bundesrecht denselben Sachverhalt unterschiedlich regeln? Dies bestimmt sich nach Art. 31 GG. Entgegen einem vereinzelt vertretenen Ansatz88 findet diese Kollisionsentscheidungsnorm auf Landesverfassungsrecht auch dann Anwendung, wenn sich dieses in den Grenzen des weitherzigen Homogenitätsgebotes des Art. 28 86
Vgl. März (o. Fn. 67), Rn. 101. Vgl. allg. BVerfGE 76, 1 (77) m.w.N. 88 Siehe H.-P. Schneider, Verfassungsrecht der Länder – Relikt oder Rezept?, DÖV 1987, 749 (752); ebenso E. Klein, Landesverfassung und Landesverfassungsbeschwerde, DVBl. 1993, 1329 (1330); Degenhart / Šar cevic´, Landesstaatlichkeit im Rahmen bundesstaatlicher Rechtsordnung des Grundgesetzes, in: Degenhart / Meissner (Hrsg.), Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 3 Rn. 12. 87
138
Daniel Hahn
Abs. 1 GG hält. Auch Normen der Landesverfassung sind ja an Bundesrecht jeder Stufe (also etwa auch an Rechtsverordnungen des Bundes) zu messen.89 Die gegenteilige Auffassung findet bereits keine Stütze im Wortlaut, heißt es doch in Art. 31 GG: „Bundesrecht bricht Landesrecht“, nicht etwa „Bundesrecht bricht Landesrecht mit Ausnahme von Landesverfassungsrecht“. Auch dogmatisch ist es nicht schlüssig, Landesverfassungsrecht vom Anwendungsbereich des Art. 31 GG auszunehmen. Andernfalls müsste Art. 142 Abs. 1 GG nicht auf Art. 31 GG verweisen, sondern auf Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG. Zudem wäre Art. 142 Abs. 1 GG überflüssig, da er dann lediglich die Regelung des Art. 28 Abs. 1 GG für den Grundrechtsbereich wiederholen würde.90 Die Herausnahme des Landesverfassungsrechts aus dem Anwendungsbereich des Art. 31 GG ist schließlich auch nicht etwa deshalb geboten, um der Verfassungshoheit der Länder und dem föderalistischen Prinzip hinreichend Rechnung tragen zu können. Mit der Anwendbarkeit der Kollisionsentscheidungsnorm ist noch nichts über deren Rechtsfolge gesagt. Entscheidendes Kriterium für die Anwendung des Art. 31 GG ist das Vorliegen einer Normenkollision. Eine solche Kollisionslage setzt voraus, dass eine Landes- und eine Bundesnorm auf denselben Sachverhalt anwendbar sind, und dass sie bei Anwendung zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.91
89 S. BVerfGE 1, 264 (281); 96, 345 (365); Pietzcker (o. Fn. 57), Rn. 25; Korioth, in: Maunz / Dürig (o. Fn. 65), Art. 31 Rn. 19; Dietlein (o. Fn. 6), S. 46, 55; Sachs (o. Fn. 59), S. 862. Vgl. mit Blick auf die Rechtslage unter der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 und unter der Weimarer Reichsverfassung Graf Vitzthum, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, VVDStRL 46 (1988), S. 7 (31). 90 Zur Bedeutung des Art. 142 GG März (o. Fn. 59), S. 192 ff. 91 Vgl. etwa BVerfGE 26, 116 (135); 36, 342 (363); 96, 345 (364); Stern (o. Fn. 25), S. 721; P.M. Huber (o. Fn. 59), Rn. 16; Sacksofsky (o. Fn. 57), S. 237. – Im Einzelnen sind die Voraussetzungen einer Kollisionslage i.S. des Art. 31 GG allerdings durchaus umstritten, s. etwa die Frage, ob die einander widersprechenden Normen auch denselben Adressaten haben müssen.
Verfassungsgehaltsgrenzen
139
Schließlich ist die Rechtsfolge des Art. 31 GG im Fall bundesrechtswidrigen Landesverfassungsrechts zu klären. Nach der überwiegend vertretenen Auffassung entfaltet Art. 31 GG derogierende Kraft, auch gegenüber Regelungen des Landesverfassungsrechts.92 Landesverfassungsrecht, das dem Grundgesetz widerspricht, wäre demnach automatisch, d.h. ohne förmliche Aufhebung, seiner normativen Existenz beraubt.93 Ebenso endgültig und vollständig beseitigt wäre die Geltungskraft landesverfassungsrechtlicher Bestimmungen, die einfachem Bundesrecht widersprechen.94 Die besseren Argumente sprechen freilich für die im Vordringen befindliche Auffassung, die mit Blick auf die Rechtsfolge des Art. 31 GG zwischen einfachem Landesrecht und Landesverfassungsrecht differenziert. Während einfaches bundesrechtswidriges Landesrecht nichtig sei, werde bundesrechtswidriges Landesverfassungsrecht lediglich überlagert (suspendiert).95 Dies hat zur Folge, dass bundesrechtswidrige Normen einer Landesverfassung in ihrem ursprünglichen Umfang wiederaufleben können.96 Bei einem späteren Wegfall des entgegenstehenden Bundesrechts oder nach dessen Ände92 Vgl. Bartlsperger (o. Fn. 79), Rn. 23; Pietzcker (o. Fn. 57), Rn. 40; Stern (o. Fn. 25), S. 720 f.; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, S. 136; Dietlein (o. Fn. 6), S. 56 f.; Storr (o. Fn. 57), S. 207 f.; Sachs, Das materielle Landesverfassungsrecht, in: FS für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 475 (506); grundlegend Böckenförde / Grawert (o. Fn. 80), S. 123. 93 So auch die Rspr. des Bundesverfassungsgerichts, s. etwa BVerfGE 29, 11 (17); 31, 141 (145). 94 Vgl. Korioth (o. Fn. 89), Rn. 20 ff.; März (o. Fn. 67), Rn. 43 ff.; P.M. Huber (o. Fn. 59), Rn. 12 f.; Friesenhahn, Zur Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. I, 1976, S. 748 (767). 95 Vgl. Starck (o. Fn. 19), Rn. 21; Bernhardt / Sacksofsky (o. Fn. 57), Rn. 60 ff.; Schilling (o. Fn. 57), S. 553 f.; Badura, Supranationalität und Bundesstaatlichkeit durch Rangordnung des Rechts, in: Starck (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 107 (113 f.); Franke, Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder – Grenzen und Möglichkeiten, in: Däubler-Gmelin u.a. (Hrsg.), Gegenrede: Aufklärung – Kritik – Öffentlichkeit, FS für Ernst Gottfried Mahrenholz, 1994, S. 923 (931); Sacksofsky (o. Fn. 57), S. 238 f. 96 Vgl. von Olshausen (o. Fn. 57), S. 133.
140
Daniel Hahn
rung erstarkt die ausschließlich virtuelle normative Bedeutung der betreffenden Landesverfassungsnorm zu aktueller Bedeutung. Eine suspendierte (und damit faktisch wirkungslose) Norm hat damit eine Reservefunktion. Allein durch diesen differenzierenden Ansatz lässt sich in der Tat der Verfassungshoheit der Länder hinreichend Rechnung tragen und überdies eine Zerstückelung der Landesverfassungen vermeiden. Ginge man von der Nichtigkeit bundesrechtswidrigen Landesverfassungsrechts aus, würde ein Teil der Artikel der Landesverfassungen durch Bundesrecht jedweden Rangs endgültig beseitigt.97 Das Eingreifen des Art. 31 GG hat auch im Fall einer landesverfassungsrechtlichen Staatszielbestimmung, die im Widerspruch zu Bundesrecht steht, die (bloße) Suspension dieser Zielvorgabe zur Folge. Die betreffende Staatszielbestimmung ist daher wirkungslos, solange die Kollisionslage besteht. Nach deren Wegfall, durch Änderung oder Aufhebung des entgegenstehenden Bundesrechts, hat der Landesgesetzgeber sie dagegen zu beachten. 7. Fazit Auf der Stufe der Kollisionsvermeidungsmechanismen sind der Verfassungshoheit der Länder weite Grenzen gezogen. Die Kompetenznormen des Grundgesetzes belassen den Ländern bei der Aufnahme jeglicher Bestimmungen in die Landesverfassungen eine erhebliche Gestaltungsfreiheit. Mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen der Eigenstaatlichkeit der Länder auf der einen Seite und dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung im Bundesstaat auf der anderen steht hier das Prinzip der föderalen Verfassungsvielfalt im Vordergrund. Demgegenüber löst Art. 31 GG Normenkollisionen zwischen landes- und 97 Die „harte“ Folge der Nichtigkeit im Fall von bundesrechtswidrigem Landesverfassungsrecht ist auch nicht etwa aus Gründen der Rechtssicherheit vorzugswürdig: Die Rechtsklarheit fällt bei Zugrundelegung der Nichtigkeit bundesrechtswidrigen Landesverfassungsrechts nicht größer aus als bei dessen Suspension, da die Länder im Bereich des Verfassungsrechts meist keine Rechtsbereinigung durchführen.
Verfassungsgehaltsgrenzen
141
bundesrechtlichen Vorschriften zugunsten des Bundesrechts auf. Diese Kollisionsentscheidung hat allerdings nicht die Derogation des bundesrechtswidrigen Landesverfassungsrechts zur Folge, sondern lediglich dessen Suspension. Der Eigenstaatlichkeit der Länder sind also auch bei der Betätigung ihrer Verfassungshoheit Grenzen gezogen.98 Dies zeigt einmal mehr, dass die Staatsqualität der in das „Bundes-Ganze“ eingeordneten deutschen Länder spezifisch bundesstaatlichen Bedingungen unterliegt. Die Länder besitzen, auch nach eigenem Staatsverständnis,99 eine Staatlichkeit besonderer Art. Anders als die Bundesrepublik Deutschland als Gesamtstaat verfügen sie nicht über Souveränität. Sie sind als nicht-souveräne Staaten in den Gesamtstaat (und dessen europäische und internationale Bezüge) eingebunden.100 V. Resümee Auch eine Landesverfassung gibt über das aufgaben- und zielpolitische Ethos des Staates Auskunft. Dies ist keineswegs bedenklich, hat die Verfassung doch auch eine Informationsfunktion. Durch Hinwendung zu einem eher narrativen denn 98 Es versteht sich von selbst, dass die Länder mit Blick auf die Landesverfassungen auch bis an die Grenzen gehen dürfen, die der Verfassungshoheit durch die Kompetenznormen des Grundgesetz gezogen sind, vgl. Häberle, Die Verfassungsbewegung in den fünf neuen Bundesländern Deutschlands 1991 bis 1992, JöR N.F. 42 (1994), 149 (196). 99 Vgl. die auf den Gesamtstaat bezogene Selbstdefinition in den Landesverfassungsurkunden etwa durch die Begriffe „Land der Bundesrepublik Deutschland“ (so bspw. Art. 1 S. 1 SächsVerf., Art. 1 Abs. 1 BbgVerf., Art. 44 Abs. 1 S. 1 ThürVerf.) bzw. „Glied der deutschen Republik“ (Art. 64 HessVerf., Art. 64 BremVerf.) bzw. der Bundesrepublik Deutschland (Art. 23 Abs. 2 BWVerf.). Leicht anders akzentuiert Art. 178 S. 1 BayVerf.: „Bayern wird einem künftigen deutschen demokratischen Bundesstaat beitreten.“ 100 Souveränität ist „kein wesentliches Merkmal“ eines Staates i. S. der traditionellen (von Jellinek entwickelten) Lehre; näher etwa Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. I, 1970, S. 413 ff. – Souveränität ist unteilbar: Suprema potestas meint „einheitliche oberste Gewalt“; dazu Graf Vitzthum (o. Fn. 89), S. 17.
142
Daniel Hahn
normativ-disziplinierten Konstitutionalismus wächst allerdings die Gefahr desintegrativer Enttäuschungserlebnisse. Zudem werden auch die Geltungskraft, der Rechtssatzcharakter und die Akzeptanz der Verfassung selbst geschwächt. Die Maxime bei der Betätigung ihrer Verfassungshoheit muss für die Länder daher einmal mehr lauten, dem Bund zu lassen, was des Bundes ist – das Recht dazu, aber auch die Verantwortung dafür. In den Landesverfassungen sollten daher keine Staatszielbestimmungen verankert werden, deren normative Gestaltungs- und Steuerungskraft hinter ihrem appellativen Charakter deutlich zurücktritt. Nicht alles, was politisch wünschenswert sein mag, muss Eingang in eine Landesverfassung finden. Freilich, diese Maxime zieht der Verfassungshoheit der Länder keine juristische Grenze. Es liegt vielmehr ein Gebot verfassungspolitischer Vernunft darin, auch in einer Landesverfassung nicht mehr zu versprechen, als Regierung und Parlament des Gliedstaats zu halten imstande sind.101 Die Notwendigkeit, dieses Gebot der Verfassungsehrlichkeit einzuhalten, sei abschließend mit einer Passage aus dem Drama „Glaube, Liebe, Hoffnung“ von Ödön von Horváth untermauert (schon wegen des Jubilars nachhaltigem Interesse am „Law and Literature“-Thema):102 „PRÄPARATOR: Aber das Fräulein dort wollte doch ihre Leiche verkaufen, Herr Oberpräparator – – OBERPRÄPARATOR: Ihre Leiche? Schon wieder? Stille. BARON: Beispiellos. 101
Zu diesem (verfassungspolitischen) Gebot der Verfassungsehrlichkeit etwa Merten (o. Fn. 13), S. 297 f.; von Mutius / Friedrich, Verfassungsentwicklung in den neuen Bundesländern, StWuStP 2 (1991), S. 243 (263 f.); Starck (o. Fn. 25), S. 27; ebenso bereits Isensee (o. Fn. 21), S. 382 f. 102 Zit. nach der im Suhrkamp Taschenbuch Verlag erscheinenden kommentierten Werkausgabe, Band VI, 1984, S. 9 (18). – Es fänden wohl nicht gar so viele „beispiellose Ansichten über die Pflichten des Staates“ einen Ankerplatz in den Verfassungstexten der deutschen Länder, hätten die Landesverfassungsgeber bzw. die verfassungsändernden Gesetzgeber beispielsweise die Äußerungen des Jubilars, der die Entwicklung des Verfassungsrechts stets mit wachem Sensorium begleitet und zu beeinflussen versucht hat, (noch) mehr beachtet.
Verfassungsgehaltsgrenzen
143
OBERPRÄPARATOR: Wir haben es zwar schon weißgottwieoft dementiert, dass wir keine solchen lebendigen Toten kaufen, aber die Leut glauben halt den amtlichen Verlautbarungen nichts! Die bilden sich gar ein, dass der Staat für ihren Corpus noch etwas daraufzahlen wird – gar so interessant kommen sie sich vor! Immer soll nur der Staat helfen, der Staat! BARON: Eine völlig beispiellose Ansicht über die Pflichten des Staates. OBERPRÄPARATOR: Wird schon noch anders werden, Herr Baron. BARON: Hoffentlich.“
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung Das Bundesverfassungsgericht und die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof Von Alexander Proelß, Tübingen* Die Frage nach einer Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage von Fragen über die Auslegung und Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) nach Art. 234 Abs. 3 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag – EG)1 ist in jüngerer Zeit anlässlich mehrerer verfassungsgerichtlicher Verfahren auf die Tagesordnung gelangt. So wies das Bundesverfassungsgericht im NPD-Verbotsverfahren einen Antrag der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands auf Aussetzung des Verfahrens und * Verf., Dr. iur., von Dez. 2004 bis Aug. 2007 wiss. Assistent am Lehrstuhl des Jubilars, ist seit Sept. 2007 Professor für Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Seerecht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 1 BGBl. 1957 II S. 766; konsolidierte Fassung: ABl. EG 2002 Nr. C 325 S. 33. Art. 234 EG lautet: „Der Gerichtshof entscheidet im Wege der Vorabentscheidung a) über die Auslegung dieses Vertrags, b) über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft und der EZB, c) über die Auslegung der Satzungen der durch den Rat geschaffenen Einrichtungen, soweit diese Satzungen dies vorsehen. Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen. Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet.“
146
Alexander Proelß
Vorlage an den EuGH zur Vorabentscheidung mit Beschluss vom 22. November 2001 als unbegründet zurück.2 Im Verfahren zum Europäischen Haftbefehl, dem eine Verfassungsbeschwerde zugrunde lag, vertrat die Bundesregierung in ihrer schriftlichen Stellungnahme die Auffassung, eine Vorlage an den EuGH komme auch dann in Betracht, wenn das Bundesverfassungsgericht Bedenken gegen die Vereinbarkeit der angegriffenen Entscheidungen mit den deutschen Grundrechten habe. Entsprechend der Regelung in Art. 234 Abs. 3 EG seien alle deutschen Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden könnten, zur Vorlage verpflichtet. Die verfahrensrechtliche Angleichung der unionsrechtlichen Vorabentscheidung an das Gemeinschaftsrecht erlaube es, die zu Art. 234 Abs. 3 EG geltenden Maßstäbe auf Verfahren nach Art. 35 Abs. 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUVertrag – EU)3 zu übertragen.4 Im gleichen Verfahren spielte die Frage der Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung eine – wenn auch untergeordnete – Rolle. So regte ein als sachkundiger Dritter geladener Vertreter des Deutschen Anwaltsvereins an, die Frage der Vereinbarkeit des EU-Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union5 mit dem EU-Vertrag dem EuGH vorzulegen.6 Nachdem zwar nicht das Bundesverfassungsgericht, wohl aber die belgische Cour d’arbitrage in der Folge ein solches Vorlageverfahren hinsichtlich der Gültigkeit 2
BVerfGE 104, 214 ff. BGBl. 1992 II S. 1253; konsolidierte Fassung: ABl. EG 2002 Nr. C 325 S. 5. 4 Die Stellungnahme ist abgedruckt bei F. Schorkopf (Hrsg.), Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht, 2006, S. 53 ff. (85 ff.). 5 ABl. EG 2002 Nr. L 190 S. 1. 6 Nachweise aus dem Wortlautprotokoll bei Schorkopf (o. Fn. 4), S. 271. Vgl. auch ebd., S. 289, 330, 332. – In ähnlicher Weise regte der Bevollmächtigte der Länder Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg in der mündlichen Verhandlung der Verfahren zur Bund-Länder-Haftung für EUAnlastungen (2 BvG 1–2 / 04) am 4.7.2006 an, die Frage der Auslegung und Gültigkeit der den Verfahren zu Grunde liegenden Anlastungsentscheidungen der Kommission dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. 3
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
147
des in Rede stehenden Rahmenbeschlusses eingeleitet hatte, äußerte Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in seinen Schlussanträgen – wohl nicht zuletzt mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht – die Hoffnung, „dass das Beispiel Schule macht und andere Verfassungsgerichte, die nicht dazu neigen, ihre Aufgaben als Gemeinschaftsrichter wahrzunehmen, mit dem Gerichtshof einen Dialog aufnehmen, der für den Aufbau eines vereinten Europas unverzichtbar ist“.7 Solche Äußerungen müssen aus deutscher Sicht überraschen, ist doch jedenfalls auf den ersten Blick kein Anwendungsfall für eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts erkennbar, da sich die Zuständigkeitsbereiche von Bundesverfassungsgericht einerseits und EuGH andererseits – lässt man einmal den Problemfall des ausbrechenden Rechtsakts außer Betracht8 – grundsätzlich nicht überschneiden.9 Während der EuGH nach Art. 220 EG die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EG-Vertrags sichert, prüft das Bundesverfassungsgericht bei Verfassungsbeschwerden nach einer von ihm entwickelten gängigen Formel ausschließlich spezifische Verletzungen des Verfassungsrechts.10 Auch die Art. 234 EG gewidmete deutsche Kommentarliteratur geht unter Hinweis darauf, dass unter „Rechtsmittel“ im Sinne der Norm nur ordentliche Rechtsbehelfe zu verstehen seien, nahezu einhellig davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht jedenfalls im Rahmen von Verfassungsbeschwerden nicht zur Vorlage gemäß Art. 234 Abs. 3 EG verpflichtet sein könne.11 7
EuGH, Rs. C-303 / 05, Advocaten voor de Wereld VZW / Leden van de Ministerraad, Schlussanträge des Generalanwalts Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer vom 12.9.2006, Rn. 28 (Anm. 20). Die Schlussanträge sind unter http: // curia.europa.eu abrufbar. 8 Vgl. BVerfGE 89, 155 (188). 9 Vgl. Broß, Das deutsche Bundesverfassungsgericht und das Vorabentscheidungsverfahren, in: Verfassungsgericht der Tschechischen Republik (Hrsg.), Das Vorabentscheidungsverfahren und die nationalen Gerichte, 2005, S. 108 (110); Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, 2003, S. 148 f.; ders., Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen und europäischen Verfassungsgerichten, DVBl. 2006, 1088 (1092 f.). 10 Grundlegend BVerfGE 7, 198 (205 ff.); 18, 85 (92 f.).
148
Alexander Proelß
Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass nach wie vor keine Klarheit besteht, ob und ggf. in welchen Situationen das Bundesverfassungsgericht nach Art. 234 Abs. 3 EG zur Vorlage an den EuGH verpflichtet ist.12 Die einzige eingehende Auseinandersetzung mit dem Thema stammt von Konrad Feige aus dem Jahre 1975;13 sie wurde von anderer Seite – zu Unrecht – als „in sich widersprüchlich und kaum mehr nachvollziehbar“ qualifiziert.14 Es ist deshalb an der Zeit, die Frage nach dem Bestand verfassungsgerichtlicher Vorlagepflichten einer neuerlichen, zumindest skizzenhaften Begutachtung zu unterziehen. Die eingangs erwähnten Verfahren verdeutlichen, dass es sich 11 Vgl. nur Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 234 EGV Rn. 42; Wohlfahrt, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union, Altbd. II, Art. 177 Rn. 50; Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2002, Art. 234 EGV Rn. 40; Wegener, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 234 EG Rn. 23. Vgl. auch Borchardt, in: Lenz / Borchhardt (Hrsg.), EU- und EG-Vertrag, 2003, Art. 234 EGV Rn. 42: Dass außerordentliche Rechtsbehelfe wie die Verfassungsbeschwerde bei der Beurteilung, ob noch weitere Rechtsmittel gegeben seien, außer Betracht zu bleiben hätten, sei „unstreitig“. – In eine ähnliche Richtung geht der wiederholt (freilich erfolglos) im Rahmen von Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vorgebrachte Einwand der Bundesregierung, hinsichtlich der Frage, ob die Bundesrepublik wegen der Dauer des verfassungsgerichtlichen Verfahrens Art. 6 EMRK verletzt habe, müsse die besondere Rolle des Bundesverfassungsgerichts in der deutschen Rechts- und Verfassungsordnung berücksichtigt werden; vgl. etwa EGMR, Urteil vom 8. Januar 2004, Voggenreiter gegen Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 47169 / 99), EuGRZ 2004, 150 (Rn. 28). 12 Für Art. 35 EU gelten nachfolgende Ausführungen entsprechend. Freilich räumt der deutsche Wortlaut des Art. 35 Abs. 3 lit. a EU dem letztinstanzlichen Gericht – vorbehaltlich einer entsprechenden Erklärung des Mitgliedstaats nach Art. 35 Abs. 2 EU – ein Ermessen hinsichtlich einer Vorlage an den EuGH ein. Es ist umstritten, ob es sich dabei um ein Redaktionsversehen handelt. Dazu etwa Brechmann, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft: EUV / EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 35 EU Rn. 4. Die Bundesrepublik hat Art. 35 Abs. 3 EU mit Gesetz vom 6. August 1998 (BGBl. 1998 I S. 2035) dahingehend konkretisiert, dass auch auf dem Gebiet der polizeilich-justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen eine Vorlagepflicht der letztinstanzlichen Gerichte besteht. 13 Feige, Bundesverfassungsgericht und Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, AöR 100 (1975), 530 ff. 14 Lieber, Über die Vorlagepflicht des Artikel 177 EWG-Vertrag und deren Missachtung, 1986, S. 100 Fn. 277.
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
149
dabei – ungeachtet des Umstands, dass das Bundesverfassungsgericht bislang noch keine Vorlagefrage an den EuGH gerichtet hat – keineswegs um eine rein akademische Frage handelt. So erklärte Bundesverfassungsrichter Brun-Otto Bryde im Rahmen des Vierten Europarechtlichen Symposiums 2003 in Erfurt, dass er eine Vorlage des Bundesverfassungsgerichts zwar generell für denkbar halte, diese Möglichkeit aber intern umstritten sei.15 Aktualität und Relevanz des Themas belegt ferner der Beratungsgegenstand „Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte“ im Rahmen der Jahrestagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 2006 in Rostock („Bundesstaat und Europäische Union zwischen Konflikt und Kooperation“). Damit steht das Thema der Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausgestaltung des viel zitierten, freilich nach wie vor wenig konkreten „Kooperationsverhältnisses“ zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht.16 Letztlich geht es um die Grenzen der Zuständigkeit der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, mit denen sich auch der Jubilar, dem die hier angedeuteten Gedanken in dankbarer Verbundenheit zugedacht seien, wiederholt befasst hat. So wies Wolfgang Graf Vitzthum in seiner Abhandlung „Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht“17 darauf hin, dass „beim Grundrechtsschutz in Deutschland […] kein Über- oder Unterordnungsverhältnis, sondern eine das Kooperationsverhältnis auszeichnende ‚komplementäre Lage‘ besteht“. Dass sich diese Lage verfassungsprozessual gerade im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG abbildet, soll im Folgenden gezeigt werden. Die These meiner Skizze lautet: Das Bundesverfassungsgericht ist zwar dem Grunde nach verpflichtet, Fragen der Auslegung und Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts dem 15 Vgl. den Tagungs- und Diskussionsbericht von Treber, RdA 2003, Sonderbeilage zu Heft 5, S. 50 (51 f.). 16 Mögliche Deutungen bei Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 7. Aufl. 2007, S. 206 ff. (Rn. 364 ff.). 17 JZ 1998, 161 (162).
150
Alexander Proelß
EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen; mit Blick auf die gerichtliche Praxis ist jedoch kaum ein Fall denkbar, in dem diese Pflicht zur Anwendung gelangen könnte. Dies hat, und das ist das Entscheidende, weniger mit richterlichem Stolz18 bzw. dem Unwillen Karlsruhes zu tun, eine Demutsgeste gen Luxemburg zu senden, als mit der Ausgestaltung des Vorlagefalles auf der gemeinschaftsrechtlichen Ebene einerseits und den begrenzten Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts auf der nationalen andererseits. Die Grenzen der beiden Gerichtsbarkeiten, somit primär kompetenzieller Natur, verhindern das Entstehen nennenswerter Schnittmengen bzw. Überschneidungskonflikte. Im Folgenden wird zunächst dargestellt, warum das Bundesverfassungsgericht in den Anwendungsbereich des Art. 234 Abs. 3 EG fällt (I.), bevor auf die bisherigen Stellungnahmen des Gerichts zur Frage einer Vorlage an den EuGH eingegangen wird (II.). Anschließend ist am besonders problematischen Beispiel der Verfassungsbeschwerde zu untersuchen, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen Situationen denkbar sind, in denen die Vorlagepflicht in der gerichtlichen Praxis zur Anwendung gelangen kann (III.). I. Das Bundesverfassungsgericht als letztinstanzliches Gericht im Sinne von Art. 234 Abs. 3 EG 1. Der Begriff des letztinstanzlichen Gerichts Bei der Antwort auf die Frage nach der Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts ist auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene anzusetzen, wo die in Rede stehende Pflicht festgeschrieben ist. Hiernach wäre das Bundesverfassungsgericht zu einer Vorlage an den EuGH verpflichtet, wenn die Voraussetzungen von Art. 234 Abs. 3 EG erfüllt sind. Dazu müsste es sich zunächst 18 Siehe aber Bergmann, Das Bundesverfassungsgericht in Europa, EuGRZ 2004, 620 (627).
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
151
um ein letztinstanzliches Gericht im Sinne der Norm („dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“) handeln. Hiergegen scheint zu sprechen, dass das Bundesverfassungsgericht nach innerstaatlichem Recht nicht in den Instanzenzug eingebunden ist. Ebenso wenig wie die Verfassungsbeschwerde ein ordentlicher Rechtsbehelf ist,19 handelt es sich beim Bundesverfassungsgericht um ein „ordentliches“ Gericht oder – mit seinen Worten – um eine „Superrevisionsinstanz“.20 Der Wortlaut des Art. 234 Abs. 3 EG streitet auf den ersten Blick aber dafür, dass das in Rede stehende Gericht in einen Instanzenzug eingebunden sein muss („selbst nicht mehr“).21 Eine genauere Betrachtung führt indes zum gegenteiligen Ergebnis. Feige hat zutreffend darauf hingewiesen, dass es sich bei der eine Beschränkung auf „ordentliche“ Gerichte nahe legenden Formulierung in Art. 234 Abs. 3 EG um eine Besonderheit der deutschen Fassung handelt.22 Ihr ist vor dem Hintergrund von Art. 314 EG – der Wortlaut des EG-Vertrags ist in den Sprachen aller Mitgliedstaaten verbindlich – keine qualifizierende Wirkung beizumessen. So spricht die englische Version lediglich von „a court or tribunal […] against whose decisions there is no judicial remedy under national law“, ohne das in der deutschen Fassung enthaltene Wort „mehr“ aufzugreifen. Würde sich Art. 234 Abs. 3 EG ausschließlich auf Gerichte beziehen, die am Ende des Instanzenzugs mit einer Frage nach der Auslegung oder Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts konfrontiert würden, hätte dies zur Folge, dass die Vorlagepflicht zum EuGH in Mitgliedstaaten, in denen von vorne herein kein Rechtsmittel gegen die Entscheidung eines „ordentlichen“ Gerichts vorgesehen ist, nicht zum Tragen käme. Dies wäre mit dem Sinn und Zweck des Art. 234 Abs. 3 EG, die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den 19
Vgl. nur BVerfGE 18, 315 (325); 49, 252 (258); 68, 376 (379 f.). BVerfGE 18, 85 (92 f.); 21, 209 (216). 21 So Ehle, Verfassungskontrolle und Gemeinschaftsrecht, NJW 1964, 321 (325). 22 Feige (o. Fn. 13), S. 535. 20
152
Alexander Proelß
Mitgliedstaaten sicherzustellen,23 nicht vereinbar. Die herrschende Meinung geht denn auch zu Recht davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich zu den letztinstanzlichen und damit theoretisch vorlagepflichtigen Gerichten im Sinne von Art. 234 Abs. 3 EG zählt.24 Unzweifelhaft in diesem Zusammenhang ist zunächst, dass es sich beim Bundesverfassungsgericht – ungeachtet seiner Stellung (auch) als Verfassungsorgan25 – um ein Gericht im Sinne der Norm handelt. Angesichts seiner Normierung in Art. 234 Abs. 3 EG ist der Terminus „Gericht“ ein solcher des Gemeinschaftsrechts,26 weshalb seiner Interpretation durch den EuGH maßgebliche Bedeutung zukommt. Der Gerichtshof hat zur Begriffsbestimmung auf eine Reihe von Kriterien abgestellt, die 23 Vgl. nur EuGH, Rs. 166 / 73, Rheinmühlen-Düsseldorf / Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1974, 33, Rn. 2. Aus der Literatur etwa Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 2. Aufl. 2004, S. 3 ff.; Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, S. 235 (Rn. 54); Pescatore, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EWGVertrag und die Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, BayVBl.1987, 33 (35 f.); Herrmann, Die Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht in der neueren Rechtsprechung des EuGH, EuZW 2006, 231. 24 Vgl. nur Guggemoos, Die Vorlagepflichten deutscher Gerichte an das Bundesverfassungsgericht und an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1971, S. 62; Ahlt / Deisenhofer, Europarecht, 3. Aufl. 2003, S. 128; Gaitanides, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Bd. IV, 6. Aufl. 2006, Art. 234 EG Rn. 65; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 90 f., 112; Daig, Aktuelle Fragen der Vorabentscheidungen nach Art. 177 EWG-Vertrag, unter besonderer Berücksichtigung von Rechtsprechung und Praxis des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1968, 371 (373); Koenig / Pechstein / Sander / Busch / Kubicki, EU- / EG-Prozessrecht, 2. Aufl. 2002, Rn. 797; Riegel, Zum Verhältnis zwischen gemeinschaftsrechtlicher und innerstaatlicher Gerichtsbarkeit, NJW 1975, 1049 (1055); Lieber (o. Fn. 14), S. 100; Herrmann (o. Fn. 23), S. 234; Ehricke (o. Fn. 11), Rn. 41; Schwarze (o. Fn. 11), Rn. 43; Oppermann (o. Fn. 23), S. 238 (Rn. 68). 25 Dazu Schlaich / Korioth (o. Fn. 16), S. 18 ff. (Rn. 31 ff.). 26 EuGH, Rs. C-24 / 92, Pierre Corbiau / Administration des Contributions, Slg. 1993, I-1277, Rn. 15. Allgemein Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, 2005, S. 99 ff.
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
153
in der Formel „unabhängige Stelle auf gesetzlicher Grundlage, die eine ständige und obligatorische Gerichtsbarkeit ausübt und deren potenziell verbindliche Entscheidungen unter Anwendung von Rechtsnormen zustande kommen und auf rechtsstaatlichen Grundsätzen basieren“ zusammengefasst werden können.27 Hierunter ist das Bundesverfassungsgericht unschwer fassbar. Da seine Entscheidungen gemäß § 31 BVerfGG ferner automatisch in formelle Rechtskraft erwachsen und damit unanfechtbar sind, handelt sich um ein Gericht, „dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können.“ Das Bundesverfassungsgericht fällt mithin dem Grunde nach in den Anwendungsbereich der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht. 2. Erfasst Art. 234 Abs. 3 EG nur „ordentliche“ Rechtsbehelfe? Eine andere Frage ist, ob sich die dem Grunde nach bestehende Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts in der Praxis überhaupt manifestieren kann. Dies wird für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde in der Literatur nahezu einhellig verneint, weil der Begriff des Rechtsmittels in Art. 234 Abs. 3 EG nur ordentliche Rechtsbehelfe erfasse.28 Als letztinstanzliche Gerichte seien ausschließlich die an der Spitze des jeweiligen Instanzenzuges stehenden Fachgerichte anzusehen, weil andernfalls die merkwürdige Konsequenz einträte, dass nur das Bundesverfassungsgericht zur Vorlage an den EuGH verpflichtet sei.29
27 Nachweise zur Rechtsprechung des EuGH bei Ehricke (o. Fn. 11), Rn. 27. 28 Siehe die Nachweise in Fn. 11. 29 So Tomuschat, Die gerichtliche Vorabentscheidung nach den Verträgen über die europäischen Gemeinschaften, 1964, S. 51; Middeke, Das Vorabentscheidungsverfahren, in: Rengeling / Middeke / Gellermann (Hrsg.), Rechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, § 11 Rn. 385; Lieber (o. Fn. 14), S. 97.
154
Alexander Proelß
Diese Auffassung überzeugt in ihrer Begründung jedoch nicht. Es ist bereits nicht frei von Widerspruch, wenn das „nicht-ordentliche“ Bundesverfassungsgericht zunächst umstandslos zu den vorlagepflichtigen Gerichten gezählt, eine Vorlagepflicht im Verfahren der Verfassungsbeschwerde jedoch anschließend unter pauschalem Hinweis auf eine Beschränkung auf „ordentliche Rechtsmittel“ abgelehnt wird. Denn mangels Rechtswegs im engeren Sinne existieren von vorne herein keine ordentlichen Rechtsbehelfe zum Bundesverfassungsgericht. Konsequenter Weise müsste mangels Anwendungsfalls insofern bereits die Vorlagepflichtigkeit des Bundesverfassungsgerichts als solche abgelehnt werden. Ein solcher Schritt wäre aber mit Art. 234 Abs. 3 EG und der ihm zugrunde liegenden Übertragung von Hoheitsrechten an die Organe der Gemeinschaft (vgl. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG) nicht vereinbar. Darüber hinaus ist es aus der maßgeblichen Sicht des Gemeinschaftsrechts keineswegs zwingend, den Rechtsmittelbegriff des Art. 234 Abs. 3 EG auf ordentliche Rechtsbehelfe zu beschränken. So könnte mangels EG-vertraglicher Definition durchaus erwogen werden, das Bundesverfassungsgericht neben den im Instanzenzug jeweils an oberster Stelle stehenden Fachgerichten als zusätzliches letztentscheidendes Gericht im Sinne von Art. 234 Abs. 3 EG zu betrachten.30 Eine solche Konstruktion würde dem Sinn und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens Rechnung tragen und damit gemeinschaftsrechtlichen Ansprüchen genügen.31 Darauf ist zurückzukommen. Aus Sicht des nationalen Rechts streitet für diese Lösung, dass die Verfassungsbeschwerde bei formaler Betrachtung nach rechtskräftigem Abschluss des fachgerichtlichen Verfahrens ein neues Ver30 Vgl. Mayer, Das Bundesverfassungsgericht und die Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, EuR 2002, 239 (252); Feige (o. Fn. 13), S. 540. 31 Vgl. auch Daig (o. Fn. 24), S. 373; Riegel (o. Fn. 24), S. 1055: Angesichts ihrer besonderen Autorität bei der Rechtsauslegung seien die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte in besonderem Maße zur Zusammenarbeit mit dem EuGH berufen, um gemeinsam mit ihm Konfliktstoffe aus dem Weg zu räumen.
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
155
fahren eröffnet,32 auf das Art. 234 Abs. 3 EG angesichts der Unanfechtbarkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung wiederum ohne weiteres anzuwenden ist. Die Konsequenz, dass nur das Bundesverfassungsgericht zur Vorlage an den EuGH verpflichtet wäre, könnte im Verfahren der Verfassungsbeschwerde also nur dann eintreten, wenn die Verfassungsbeschwerde – was nicht unvertretbar erscheint – wegen des sachlichen Zusammenhangs mit der dem fachgerichtlichen Verfahren zugrunde liegenden Rechtssache33 diesem im Rahmen von Art. 234 Abs. 3 EG zugeordnet würde.34 Die Vorlagepflicht der letztinstanzlichen Fachgerichte ließe sich in diesem Fall unter Hinweis darauf aufrechterhalten, dass das Bundesverfassungsgericht nur dann zur Vorlage an den EuGH verpflichtet ist, wenn im Verfahren der Verfassungsbeschwerde erstmals eine Frage nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts gestellt wird.35 Doch ist es statthaft, dergleichen auf dem nationalen Recht fußende Erwägungen im Zusammenhang mit der hier interessierenden gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht anzustellen? 3. Der gemeinschaftsrechtliche Gehalt des Rechtsmittelbegriffs Diesbezüglich ist festzustellen, dass auch die Frage nach der Definition des Rechtsmittelbegriffs zunächst eine solche des Gemeinschaftsrechts ist. Der Gerichtshof hat freilich nur selten 32 Dauses (o. Fn. 24), S. 112; Feige (o. Fn. 13), S. 540; Schima (o. Fn. 23), S. 61. Vgl. auch BVerfGE 107, 395 (413 f.): „Verfassungsbeschwerden hindern den Eintritt der Rechtskraft der angegriffenen Entscheidungen nicht […]; auch können Verfassungsbeschwerden regelmäßig erst zu einem Zeitpunkt eingeleitet werden, in dem das fachgerichtliche Verfahren seinen Abschluss gefunden hat und die Phase der Vollstreckung oder des Vollzugs eröffnet ist. Das Verfassungsbeschwerdeverfahren setzt das fachgerichtliche Verfahren nicht einfach fort. Es dient nur der Überprüfung auf Verfassungsverstöße.“ 33 Siehe etwa die Sachverhaltsdeutung in BVerfGE 93, 266 (305 ff.). 34 Vgl. Feige (o. Fn. 13), S. 537. 35 So im Ansatz Graf Vitzthum / Proelß, Weinimporte aus Frankreich, VBlBW 2002, 167 (172).
156
Alexander Proelß
Gelegenheit, sich mit den hier interessierenden funktionellen Anforderungen an die Vorlageverpflichtung zu befassen.36 Legt nämlich ein mitgliedstaatliches Gericht dem Gerichtshof eine Frage des Gemeinschaftsrechts nach Art. 234 EG vor, muss es nicht klären, ob es hierzu auch gemäß Art. 234 Abs. 3 EG verpflichtet war. Unterlässt es hingegen eine Vorlage mit dem Argument, es entscheide nicht als letztinstanzliches Gericht im Sinne der Norm, fehlt dem EuGH im Falle der gemeinschaftsrechtwidrigen Ablehnung der Vorlagepflicht – vorbehaltlich der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens seitens der Kommission oder eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 226 f. EG – eine unmittelbare Handhabe, den Verstoß gegen Art. 234 Abs. 3 EG festzustellen.37 Besondere Beachtung verdienen daher solche Verfahren, in welchen sich das vorlegende Gericht mit einer Frage nach der Auslegung des Art. 234 Abs. 3 EG selbst an den Gerichtshof wendet. Genau dies war im Fall Lyckeskog geschehen. Ein schwedisches Gericht hatte sich an den EuGH mit der Frage gewandt, ob ein nationales Gericht, das praktisch als letztinstanzliches entscheide, da das Rechtsmittel zum obersten Gericht des Landes der Zulassung bedürfe, ein Gericht im Sinne von Art. 234 Abs. 3 EG sei.38 Der Gerichtshof verneinte die Frage: „Die Entscheidungen eines nationalen Rechtsmittelgerichts, die von den Parteien bei einem obersten Gericht angefochten werden können, stammen nicht von einem ‚einzelstaatlichen Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können‘, wie es in Artikel 234 EG heißt. Der Umstand, dass eine solche Anfechtung nur nach vorheriger Zulassungserklärung durch das oberste Gericht in der Sache geprüft werden kann, führt nicht dazu, dass den Parteien das Rechtsmittel entzogen wird.“39 36 Keine Rolle spielen im vorliegenden Zusammenhang die Vorlagepflicht nicht-letztinstanzlicher Gerichte im Sinne der Foto-Frost-Entscheidung des EuGH sowie das Entfallen der Vorlagepflicht eines letztinstanzlichen Gerichts nach der ebenfalls vom Gerichtshof entwickelten C.I.L.F.I.T.-Doktrin; vgl. dazu Herrmann (o. Fn. 23), S. 232 ff.; Schima (o. Fn. 23), S. 56 ff., 63 ff. 37 Herrmann (o. Fn. 23), S. 231. 38 Vgl. EuGH, Kenny Roland Lyckeskog, Slg. 2002, I-4839, Rn. 9.
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
157
39
Das von Art. 234 Abs. 3 EG verfolgte Ziel der Sicherstellung der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten sei vielmehr bereits erreicht, wenn „die obersten Gerichte […] und alle Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angegriffen werden können“, der Vorlagepflicht unterlägen.40 Insoweit schloss sich der EuGH der bis dahin umstrittenen Position an, dem Begriff des letztinstanzlichen Gerichts eine – im Ergebnis einengende – konkrete Betrachtungsweise zugrunde zu legen.41 Es ist diese aus dem Sinn und Zweck der Vorlagepflicht abzuleitende Folgerung, in der sich der gemeinschaftsrechtliche Gehalt des Rechtsmittelbegriffs äußert. Hinsichtlich der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen im konkreten Einzelfall ein Rechtsmittel gegen eine gerichtliche Entscheidung zur Verfügung steht, verweist das Gemeinschaftsrecht in Art. 234 Abs. 3 EG demgegenüber ausdrücklich auf das innerstaatliche Recht.42 Stellt dieses zwar ein Rechtsmittel gegen eine gerichtliche Entscheidung zur Verfügung, schaltet ihm jedoch ein Zulassungsverfahren vor, ist eine Vorlagepflicht des zunächst erkennenden Gerichts daher unabhängig von der Frage der Zulassung des Rechtsmittels im konkreten Einzelfall (und insoweit doch abstrakt) abzulehnen. Die gemeinschaftsrechtliche Dimension des Rechtsmittelbegriffs kommt dann erst wieder im Rahmen der anschließenden Entscheidung des nächst höheren Gerichts über die Zulassung des Rechtsmittels zum Tragen.43 Damit liegt Art. 234 Abs. 3 EG in seiner Ausformung durch den EuGH das Modell eines Zusammenwirkens von nationalen Gerichten und EuGH zugrunde: Während das Gemeinschaftsrecht einerseits die Struktur des mitgliedstaatlichen Rechtsschutzsystems und Gerichtsaufbaus respektiert und den nationa39
Ebd., Rn. 16. Ebd., Rn. 15 (Hervorhebung hinzugefügt). 41 Vgl. auch Herrmann (o. Fn. 23), S. 232; Borchardt (o. Fn. 11), Rn. 41. Zur Streitfrage etwa Pescatore (o. Fn. 23), S. 38 ff. 42 Tomuschat (o. Fn. 29), S. 48. 43 EuGH, Rs. C-99 / 00, Kenny Roland Lyckeskog, Slg. 2002, I-4839, Rn. 18. 40
158
Alexander Proelß
len Gerichten hinsichtlich der Entscheidungserheblichkeit der in Rede stehenden Auslegungsfrage einen weiten Einschätzungsspielraum zugesteht,44 sind diese andererseits verpflichtet, die nationalen Bestimmungen über die Zulassung von Rechtsmitteln gemeinschaftsrechtskonform im Lichte der Vorlagepflicht auszulegen45 und darüber hinaus die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EG-Vertrags durch den EuGH einschließlich seines hinsichtlich von Sekundärrechtsakten grundsätzlich46 bestehenden Verwerfungsmonopols allgemein zu respektieren.47 Da für die Frage, ob ein nationales Gericht als letztinstanzliches Gericht entscheidet, nach alledem grundsätzlich die innerstaatliche Ausgestaltung des Rechtszugs maßgeblich ist, können aus dem Umstand, dass andere nationale Verfassungsgerichte zwischenzeitlich den EuGH gemäß Art. 234 Abs. 3 EG angerufen haben,48 keine Folgerungen hinsichtlich einer etwaigen Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts 44 EuGH, Rs. 244 / 80, Pasquale Foglia / Mariella Novello, Slg. 1981, 3045, Rn. 15 ff. 45 Kokott / Henze / Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, 633 (634). 46 Zur vorläufigen Verwerfungskompetenz der nationalen Gerichte im einstweiligen Rechtsschutz vgl. EuGH, Rs. C-143 / 88, Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest / Hauptzollamt Itzehoe und Hauptzollamt Paderborn, Slg. 1991, I-415, Rn. 14 ff. 47 Vgl. auch EuGH, Rs. 244 / 80, Pasquale Foglia / Mariella Novello, Slg. 1981, 3045, Rn. 20: „Zwar verpflichtet der Geist der Zusammenarbeit, in dem die dem innerstaatlichen Gericht und dem Gerichtshof der Gemeinschaften durch Artikel 177 jeweils zugewiesenen Aufgaben wahrzunehmen sind, den Gerichtshof, den eigenen Verantwortungsbereich des innerstaatlichen Gerichts zu respektieren; er verlangt jedoch gleichzeitig, dass das innerstaatliche Gericht bei der Inanspruchnahme der durch Artikel 177 eröffneten Möglichkeiten auf die besondere Aufgabe Rücksicht nimmt, die der Gerichtshof in diesem Bereich erfüllt.“ 48 Vgl. nur den Vorlagebeschluss des österreichischen Verfassungsgerichthofs vom 10.3.1999, EuGRZ 1999, 365 ff. In seiner Vorabentscheidung (Rs. C-143 / 99, Adria-Wien Pipeline und Wietersdorfer & Peggauer Zementwerke / Finanzlandesdirektion für Kärnten, Slg. 2001, I-8365 ff.) hielt der EuGH die Vorlage für zulässig. Die Feststellung, es sei nicht Sache des Gerichtshofs zu prüfen, ob die Vorlageentscheidung den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren entspreche (ebd., Rn. 19), bezog sich freilich nicht auf die Vorlagepflicht des Verfassungsgerichtshofs, sondern auf die von Österreich angezweifelte Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofs in den Ausgangsverfahren.
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
159
gezogen werden. Die Offenheit von Art. 234 Abs. 3 EG gegenüber mitgliedstaatlichen Vorgaben über die Ausgestaltung des Rechtszuges ist im Übrigen auch aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht praktisch sinnvoll. So hat der EuGH – auf diesen Umstand hat der Jubilar nachdrücklich hingewiesen49 – seit 1999 angesichts der Vielzahl eingeleiteter Vorabentscheidungsverfahren wiederholt die Einführung einer Auswahlbefugnis unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten gefordert.50 Insofern erscheint ein differenzierendes Verständnis dessen, welches Gericht letztinstanzlich entscheidet, konsequent. Als Zwischenergebnis ist damit festzuhalten, dass es sich beim Bundesverfassungsgericht – erstens – um ein Gericht im Sinne von Art. 234 Abs. 3 EG handelt, dessen grundsätzlich bestehende Vorlagepflicht – zweitens – auch im Hinblick auf das Verfahren der Verfassungsbeschwerde nicht allein mit dem Argument abgelehnt werden kann, die Norm erfasse nur ordentliche Rechtsbehelfe. Die Frage, ob und wann sich die theoretisch bestehende Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts in der Praxis aktivieren kann, ist – drittens – auf der Grundlage des nationalen Rechts zu klären. II. Die Vorlagepflicht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung nicht nur die Zuständigkeit des EuGH gemäß Art. 234 Abs. 3 EG zur Kenntnis genommen, sondern seine eigene Vorlagepflicht dem Grunde nach anerkannt. 49 Graf Vitzthum, Annahme nach Ermessen bei Verfassungsbeschwerden?, JöR N.F. 53 (2005), 319 (331). 50 Aus mitgliedstaatlicher Perspektive wird die Einführung von prozessualen Instrumenten zur Einschränkung der Möglichkeit, Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH einzuholen, primär unter dem Blickwinkel diskutiert, dass auf diese Weise „der ungehemmten Entfaltung des Sendungsbewusstseins der EuGH-Richter“ entgegengewirkt werden könnte, vgl. Hailbronner, Hat der EuGH eine Normverwerfungskompetenz?, NZA 2006, 811 (815). Vgl. auch die Beschränkung des Vorabentscheidungsverfahrens auf letztinstanzliche Gerichte in Art. 68 EG.
160
Alexander Proelß
1. „Solange I“ In seiner „Solange I“-Entscheidung vom 29. Mai 1974,51 dem ein vom Verwaltungsgericht Frankfurt am Main nach Art. 100 Abs. 1 GG eingeleitetes Normenkontrollverfahren zugrunde lag, nahm das Bundesverfassungsgericht erstmals zur Frage einer Vorlage an den EuGH Stellung. In einer bis heute wenig beachteten Passage52 führte es aus, dass „[d]as Bundesverfassungsgericht […] niemals über die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts [entscheidet]. Es kann höchstens zu dem Ergebnis kommen, dass eine solche Vorschrift von den Behörden oder Gerichten der Bundesrepublik Deutschland nicht angewandt werden darf, soweit sie mit einer Grundrechtsvorschrift des Grundgesetzes kollidiert. Inzidentfragen aus dem Gemeinschaftsrecht kann es (ebenso wie umgekehrt der Europäische Gerichtshof) selbst entscheiden, sofern nicht die Voraussetzungen des auch für das Bundesverfassungsgericht verbindlichen Art. 177 des Vertrags [jetzt: Art. 234 EG] vorliegen oder schon eine nach dem Gemeinschaftsrecht das Bundesverfassungsgericht bindende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs eingreift.“53
Das Bundesverfassungsgericht erkannte demnach nicht nur allgemein an, dass es selbst zur Vorlage berechtigt und verpflichtet sein kann, sondern hob zugleich die Möglichkeit einer Bindung an eine bereits ergangene Entscheidung des EuGH hervor – Konsequenz der verfassungsrechtlich abgesicherten Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Gemeinschaft, infolge derer die deutsche Gerichtsbarkeit einschließlich derjenigen des Bundesverfassungsgerichts innerhalb der von Art. 23 Abs. 1 GG bzw. Art. 24 Abs. 1 GG a.F. gezogenen Grenzen in ihren Kompetenzen eingeschränkt wurde.54 Letztlich unterstrich es damit die über die Rechtskraft der Entscheidungen des Gerichtshofs vermittelte und insofern von Art. 234 Abs. 3 EG bewirkte Verklammerung von fachgerichtlichem Verfahren einerseits und Verfassungsprozess andererseits, ohne auf Einzelheiten einzugehen. 51 52 53 54
BVerfGE 37, 271 ff. So der zutreffende Hinweis von Feige (o. Fn. 13), S. 530. BVerfGE 37, 271 (281 f.), Hervorhebung hinzugefügt. Vgl. nur Schlaich / Korioth (o. Fn. 16), S. 202 (Rn. 361).
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
161
2. „Vielleicht“ In seiner „Vielleicht“-Entscheidung55 vom 25. Juli 1979, die ebenfalls auf einen Normenkontrollantrag des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main erging, bestätigte und konkretisierte das Bundesverfassungsgericht, dass „die nach Maßgabe des Art. 177 EWGV ergangenen Urteile des Gerichtshofs […] für alle mit demselben Ausgangsverfahren befassten staatlichen Gerichte bindend [sind] […]. Dies folgt aus Sinn und Zweck der Art. 177 und Art. 164 EWGV. Insoweit sind sie für das Bundesverfassungsgericht auch im Verfahren der inzidenten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG bindend (für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde vgl. BVerfGE 45, 142 [162]). Denn auch in dieser Verfahrensart ist das Bundesverfassungsgericht mit dem Ausgangsverfahren im Sinne des Art. 177 EWGV befasst. […] Der Senat sieht im vorliegenden Verfahren auch keinen Anlass, die Richtigkeit oder Klarheit der im Ausgangsverfahren gefällten Vorabentscheidung des Gerichtshofs, soweit sie das Gemeinschaftsrecht betrifft, in Zweifel zu ziehen; er ist deshalb nicht gehalten, die dem Gerichtshof vom Verwaltungsgericht vorgelegten Fragen neuerlich gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV vorzulegen.“56
Während es in der „Solange I“-Entscheidung noch allgemein auf Art. 177 EWGV Bezug genommen hatte, stellte das Bundesverfassungsgericht mit dem ausdrücklichen Verweis auf Abs. 3 der Norm nunmehr klar, dass es sich selbst als letztinstanzliches Gericht im Sinne der Norm betrachtet und damit nicht nur zur Vorlage berechtigt, sondern ggf. auch verpflichtet sein kann. Ungeachtet des Umstands, dass diese Schlussfolgerung bereits dem Wortlaut der „Solange I“-Entscheidung („sofern nicht die Voraussetzungen des auch für das Bundesverfassungsgericht verbindlichen Art. 177 des Vertrags vorliegen“) entnommen werden konnte, war bis zur „Vielleicht“-Entscheidung in Teilen des Schrifttums spekuliert worden, dass das Gericht lediglich seine Vorlageberechtigung habe anerkennen wollen.57 Von Bedeutung ist ferner die Bezugnahme auf den Beschluss des Bun55 56 57
BVerfGE 52, 187 ff. BVerfGE 52, 187 (201). Vgl. die Nachweise bei Feige (o. Fn. 13), S. 533 f.
162
Alexander Proelß
desverfassungsgerichts vom 8. Juni 1977,58 mit der die Verfassungsbeschwerden mehrerer Handelsfirmen zurückgewiesen wurden. In dieser Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf Art. 177, 164 EWGV (jetzt: Art. 234, 220 EG) fest, dass Vorabentscheidungen, die der EuGH im Rahmen der den Verfassungsbeschwerden zugrunde liegenden Ausgangsverfahren getroffen habe, für das Bundesverfassungsgericht verbindlich seien. Damit unterstrich es erneut, dass das fachgerichtliche Ausgangsverfahren einschließlich eines in seinem Rahmen durchgeführten Vorabentscheidungsverfahrens einerseits und die gegen die letztinstanzliche Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde andererseits, vermittelt über die Rechtskraft der Entscheidungen des EuGH, in engem Zusammenhang stehen. Können Letztere hiernach im Verfahren der Verfassungsbeschwerde Bindungswirkung entfalten, legt dies nahe, dass Auslegung und Geltung einer sekundärrechtlichen Norm des Gemeinschaftsrechts auch im Verfahren der Verfassungsbeschwerde – ungeachtet des an sich begrenzten verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs – für die Entscheidung erheblich sein können. Das Bundesverfassungsgericht schien jedenfalls 1979 von dieser Möglichkeit auszugehen. 3. „Solange II“ Unter dem 22. Oktober 1986 entschied das Bundesverfassungsgericht in seiner bedeutenden, die Frage nach dem Bestand eines hinreichenden gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandards nunmehr positiv beantwortenden „Solange II“Entscheidung, dass der EuGH gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei; letztinstanzliche Gerichte, die entgegen Art. 177 Abs. 3 EWGV (jetzt: Art. 234 Abs. 3 EG) die Frage der Vereinbarkeit einer sekundärrechtlichen Norm mit dem primären Gemeinschaftsrecht nicht dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegten, verstießen gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter, soweit sich die Nichtvorlage als willkürlich 58
BVerfGE 45, 142 ff.
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
163
darstelle.59 Da das Bundesverwaltungsgericht im konkreten Fall eine erneute Vorlage frei von Willkür abgelehnt habe, scheide „[j]edenfalls aus diesen Gründen […] auch im vorliegenden Verfahren der Verfassungsbeschwerde eine Vorlage der genannten Fragen durch das Bundesverfassungsgericht an den Europäischen Gerichtshof aus.“60 Diese Aussage begegnet freilich Bedenken. Wenn das Bundesverfassungsgericht es nicht von vorne herein ausschließt, dass es im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde zur Vorlage an den EuGH verpflichtet sein könnte („jedenfalls“), ist der Verweis auf die Gründe der fehlenden Willkür der unterlassenen Vorlage seitens des Bundesverwaltungsgerichts nicht nachvollziehbar. Ist nämlich das Bundesverfassungsgericht in einer bestimmten Situation zur Vorlage gemäß Art. 234 Abs. 3 EG verpflichtet, kann es die Frage der eigenen Vorlagepflicht im konkreten Fall nicht am Willkürmaßstab messen, den es hinsichtlich der fachgerichtlichen Vorlagepflicht in Ansatz bringt. Von daher entsteht der Eindruck, dass das Bundesverfassungsgericht der Frage, ob Situationen denkbar sind, in denen die dem Grunde nach anerkannte Vorlagepflicht eine Aussetzung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens und Einholung einer Vorabentscheidung gebieten könnte, in der „Solange II“-Entscheidung letztlich aus dem Wege gehen wollte.61
59
BVerfGE 73, 339 (366 ff.). Zu den vom Bundesverfassungsgericht etablierten Fallgruppen der willkürlichen Nichtvorlage vgl. BVerfGE 82, 159 (195 f.). 60 BVerfGE 73, 339 (371). 61 Nach Warnke, Die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EGV in der Rechtsprechungspraxis des BVerfG, 2004, S. 80, hat das Bundesverfassungsgericht auch in seinem Beschluss vom 22.1.1997 (Warnhinweise für Tabakerzeugnisse) eine Vorlage an den EuGH erwogen, jedoch ohne nähere Begründung abgelehnt. Der Zusammenhang mit dem Grundsatz der Subsidiarität, in dem die einschlägige Feststellung („eine vorherige Anrufung des Europäischen Gerichtshofs kommt nicht in Betracht“) erfolgt (vgl. BVerfGE 95, 173 [180]), spricht freilich dafür, dass sich das Gericht nicht mit einer Vorlage durch sich selbst, sondern allgemein mit der Frage beschäftigte, ob für die Beschwerdeführerinnen eine zumutbare Möglichkeit bestand, der geltend gemachten Beschwer anderweitig abzuhelfen.
164
Alexander Proelß
4. „NPD-Verbotsverfahren“ Im Rahmen des NPD-Verbotsverfahrens, auf das bereits einleitend Bezug genommen wurde, wies das Bundesverfassungsgericht einen Antrag der NPD auf Einstellung des Verfahrens und Vorlage an den EuGH zur Vorabentscheidung bezüglich mehrerer europarechtlicher Fragen als unbegründet zurück, da eine Vorlage im konkreten Fall unzulässig sei.62 Diese Entscheidung wurde in der Literatur – primär unter rechtspolitischen Gesichtspunkten – kritisiert.63 Freilich kann dem Gericht nicht ernstlich der Vorwurf gemacht werden, es finde sich in dem Beschluss kein expliziter Hinweis darauf, dass sich das Bundesverfassungsgericht selbst an Art. 234 EG gebunden sehe.64 So ist nicht nur das genaue Gegenteil der Fall, wenn das Gericht formuliert, dass „[d]ie Voraussetzungen für die Vorlage auf Vorabentscheidung beim Europäischen Gerichtshof nach Art. 234 Abs. 1 Buchstabe a EGV […] nicht vor[liegen]“.65 Vielmehr hat auch der EuGH in seiner C.I.L.F.I.T.-Entscheidung ausdrücklich klargestellt, dass es grundsätzlich Sache des die Vorlage in Betracht ziehenden Gerichts sei, zu beurteilen, ob für den Erlass seiner eigenen Entscheidung eine Entscheidung über eine gemeinschaftsrechtliche Frage erforderlich sei.66 Es begegnet im hier relevanten Zusammenhang daher keinen Bedenken, dass das Bundesverfassungsgericht in knapper Form Gemeinschaftsrecht auslegte.67 Bereits in seiner Portelange-Entscheidung hatte der EuGH unterstrichen, dass „die Entscheidung darüber, ob die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften oder Begriffe, deren Auslegung beantragt wird, tatsächlich auf den konkreten Fall anwendbar sind, […] der Zuständigkeit des
62
BVerfGE 104, 214 (218 ff.). Bergmann (o. Fn. 18), S. 626; Mayer (o. Fn. 30), S. 251 f. 64 So aber Mayer (o. Fn. 30), S. 251. 65 BVerfGE 104, 214 (218). Bergmann (o. Fn. 18), a.a.O., räumt denn auch ein, dass das Bundesverfassungsgericht nicht zwingend zur eigenen Vorlageverpflichtung Stellung nehmen musste. 66 EuGH, Rs. 283 / 81, SRL C.I.L.F.I.T. und Lanificio di Gavardo S.P.A. / Ministerio della Sanità, Slg. 1982, 3415, Rn. 10. 67 Anders wohl Mayer (o. Fn. 30), S. 243 f. 63
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
165
Gerichtshofs entzogen und dem vorlegenden Gericht vorbehalten [ist].“68
Dann aber muss es auch in dem Fall, dass das nationale Gericht seine Vorlagepflichtigkeit im Ergebnis verneint, Aufgabe des die Vorlage in Betracht ziehenden Gerichts sein, die Anwendbarkeit der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Normen zu prüfen. Eben dies hat das Bundesverfassungsgericht in seiner NPD-Entscheidung getan. Da Art. 234 Abs. 3 EG auf Abs. 1 der Norm verweist („derartige Frage“), begegnet es im Übrigen keinen Bedenken, dass sich das Bundesverfassungsgericht lediglich auf Art. 234 Abs. 1 lit. a und b EG bezog.69 Das Gericht trug damit dem zwischen den Absätzen 3 und 1 der Norm bestehenden systematischen Zusammenhang70 Rechnung. Denn hätte es sich für generell nicht vorlagepflichtig gehalten, hätte keine Notwendigkeit bestanden, zur Erforderlichkeit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im konkreten Verfahren Stellung zu nehmen. 5. „Kampfhunde“ Schließlich setzte sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Kampfhundeentscheidung vom 16. März 2004 eingehend mit Art. 234 Abs. 3 EG auseinander. Es betonte zunächst, dass das Rechtsschutzbedürfnis für die erhobene Verfassungsbeschwerde fehlen würde, wenn bereits feststünde, dass die gerügten Bestimmungen des Bundesgesetzes zur Bekämpfung gefährlicher Hunde dem Gemeinschaftsrecht widersprächen und deshalb innerstaatlich nicht angewendet werden dürften. Dies gelte aber dann nicht, wenn noch keine Entscheidung des EuGH zu der mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Frage vorliege. In diesem Fall komme eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts nicht in Betracht, weil der EuGH im Ungewissen 68 EuGH, Rs. 10 / 69, S.A. Portelange / S.A. Smith Corona Marchant International u.a., Slg. 1969, 309, Rn. 5 / 8. 69 Kritisch hingegen Mayer (o. Fn. 30), S. 251. 70 Vgl. EuGH, Rs. 283 / 81, SRL C.I.L.F.I.T. und Lanificio di Gavardo S.P.A. / Ministerio della Sanità, Slg. 1982, 3415, Rn. 5 f.
166
Alexander Proelß
darüber bleibe, ob die Vorabentscheidung eine nach innerstaatlichen Maßstäben gültige und deshalb entscheidungserhebliche Norm betreffe, solange nicht geklärt sei, dass das innerstaatliche Recht mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Zu diesem Zweck müsse das Bundesverfassungsgericht zunächst über die Verfassungsbeschwerde entscheiden.71 Ungeachtet des Umstands, dass die Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf das in § 2 Abs. 1 Satz 1 des Hundeverbringungs- und -einfuhrbeschränkungsgesetzes normierte Einfuhr- und Verbringungsverbot, dessen Unvereinbarkeit mit der gemeinschaftsrechtlichen Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 EG) die Beschwerdeführer gerügt hatten,72 unbegründet war,73 ging das Bundesverfassungsgericht auf die Möglichkeit einer Vorlage an den EuGH in der Folge nicht mehr ein.74 Offenbar hielt das Bundesverfassungsgericht die in diesem Judikat eingangs erwogene Vorlage an den EuGH angesichts der erfolgten Klärung der verfassungsrechtlichen Frage und eingedenk seiner auf die Prüfung der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts begrenzten Kompetenzen nunmehr für entbehrlich, wenn nicht gar für unzulässig. III. Anwendungsfälle der verfassungsgerichtlichen Vorlagepflicht im Verfahren der Verfassungsbeschwerde Vor diesem Hintergrund fragt sich, ob überhaupt Konstellationen denkbar sind, in denen das Bundesverfassungsgericht eine Frage der Auslegung oder Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts dem EuGH gemäß Art. 234 Abs. 3 EG vorlegen muss. Zweifelhaft erscheint dies angesichts des begrenzten verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs und vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Subsidiarität insbesondere im Verfahren der Verfassungsbeschwerde.75 71
BVerfGE 110, 141 (155 f.). Vgl. BVerfGE 110, 141 (147). 73 BVerfGE 110, 141 (1. Leitsatz und 155 ff.). 74 Kritisch deshalb Bergmann (o. Fn. 18), S. 626. 75 Für die konkrete Normenkontrolle gelten die nachfolgenden Ausführungen im Wesentlichen entsprechend, da eine Vorlage an das Bundes72
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
167
1. Verfassungsbeschwerde gegen Hoheitsakte, hinsichtlich derer ein Rechtsweg vorhanden und seine Erschöpfung zumutbar ist a) Bei Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen (so genannte Urteilsverfassungsbeschwerden), hinsichtlich derer gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zunächst der Rechtsweg zu erschöpfen ist, kann die Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 234 Abs. 3 EG von vornherein nur ausnahmsweise zum Tragen kommen. Ein denkbarer Anwendungsfall ist die vom Bundesverfassungsgericht in Anspruch genommene Kontrolle der grundrechtskonformen Ausfüllung von Spielräumen bei der Umsetzung von EG-Richtlinien und EU-Rahmenbeschlüssen in nationales Recht.76 Fehlte es an entsprechenden Umsetzungsspielräumen, wäre nämlich eine Prüfung des nationalen Umsetzungsgesetzes am Maßstab der Grundrechte ausgeschlossen, da ein solches Vorgehen mittelbar eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des umzusetzenden Europarechtsaktes verkörperte. Dies spricht dafür, die europarechtlich zu beurteilende Frage nach der Reichweite der Umsetzungsspielräume77 – freilich: vorbehaltlich der positiven Beurteilung ihrer Entscheidungserheblichkeit durch das Bundesverfassungsgericht – dem Anwendungsbereich der Vorlagepflicht zu unterwerfen.78 verfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG nur unter der Bedingung der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Frage zulässig ist. Davon wiederum ist erst dann auszugehen, wenn nur noch die verfassungsrechtliche Frage zu klären ist; vgl. Feige (o. Fn. 13), S. 539, 550 ff. 76 Für diese Konstellation Benda / Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, S. 308 (Rn. 722). Zum Gemeinschaftsrecht vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.5.1989, NJW 1990, 974; Beschluss vom 9.7.1992, NVwZ 1993, 883; Beschluss vom 27.7.2004, NVwZ 2004, 1346 (1347); Beschluss vom 9.1.2001, NJW 2001, 1267 (1268); Beschluss vom 13.3.2007 (Senat!), NVwZ 2007, 937 (938). Zum Unionsrecht Urteil vom 18.7.2005, NJW 2005, 2289 (2291); insoweit kritisch Klink / Proelß, Zur verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte bei Umsetzungsakten von Rahmenbeschlüssen der Europäischen Union, DÖV 2006, 469 ff. 77 Sie spielte im Verfahren zum Europäischen Haftbefehl – soweit erkennbar – keine Rolle. 78 So Kokott / Henze / Sobotta (o. Fn. 45), S. 634.
168
Alexander Proelß
Eine Pflicht zur Vorlage liegt auf den ersten Blick auch dann nahe, wenn dem Bundesverfassungsgericht bei der Bezugnahme auf eine Norm des Grundgesetzes Zweifel an deren Gemeinschaftsrechtmäßigkeit kommen. Jedenfalls im Verfahren der Verfassungsbeschwerde ist in einem solchen Fall indes an eine entsprechende Anwendung des Grundsatzes der materiellen Subsidiarität zu denken. In diesem Sinne erscheint es auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts79 nicht unvertretbar, einen Beschwerdeführer grundsätzlich zu verpflichten, bereits im fachgerichtlichen Verfahren, zu welchem unter verfassungsprozessrechtlichen Gesichtspunkten auch der EuGH gehört (das vorlegende Gericht bleibt während des gesamten Ablaufs des Vorabentscheidungsverfahrens Herr des Verfahrens80), alle gemeinschaftsrechtlichen Fragen des Rechtsstreits zu klären.81 Ob sich die Vorlagepflicht ungeachtet aller verfahrensrechtlichen Voraussetzungen in Situationen, in denen die Europarechtswidrigkeit einer Norm des Grundgesetzes selbst in Rede steht,82 überhaupt manifestieren kann, ist zudem auch deshalb zweifelhaft, weil die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren der Verfassungsbeschwerde auf die Prüfung der Grundrechtsmäßigkeit der angegriffenen Entscheidungen beschränkt sind. Das Gericht prüft nicht die Verletzung von Gemeinschaftsrecht, sondern nur die Verletzung der in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten Rechte durch die deutsche Staatsgewalt.83 Nach der innerstaatlichen Ausgestaltung des Verfahrens kann und darf das Bundesverfassungsgericht die Auslegungstätigkeit, für die dem EuGH gegenüber den nationalen Gerichten das Monopol eingeräumt worden ist, nicht ausüben.84 Seine Zuständigkeit lässt sich auch nicht unter Hinweis darauf begründen, dass das nationale Recht in vielfältiger Weise von den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts 79
Vgl. nur BVerfGE 68, 384 (389); 79, 275 (278 f.); 86, 15 (22 f.). Dazu Ehricke (o. Fn. 11), Rn. 5. 81 Allgemein Dörr (o. Fn. 9), S. 1093. 82 Vgl. Dörr (o. Fn. 9), S. 1094 f. 83 Broß (o. Fn. 9), S. 113, 131; Kokott / Henze / Sobotta (o. Fn. 45), S. 634; Schlaich / Korioth (o. Fn. 16), S. 264 f. (Rn. 366). 84 Feige (o. Fn. 13), S. 546. 80
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
169
durchdrungen wird. Ungeachtet des engen Zusammenhangs zwischen beiden Normebenen sind diese nicht dergestalt zu einer einheitlichen Rechtsordnung verschmolzen, dass im Falle einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts automatisch von einer Verletzung auch des Grundgesetzes auszugehen wäre. Insbesondere Art. 23 GG lässt sich eine solche Verknüpfung mit der Folge der Fehleridentität nicht entnehmen. Eine Vorlagepflicht ergibt sich in diesen Situationen auch nicht aus dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts85 oder aus Art. 10 Abs. 1 Satz 1 (Ausführungspflichten) bzw. Satz 2 (Förderungspflichten) EG, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, das Gemeinschaftsrecht zu wahren.86 Art. 234 Abs. 3 EG weist die Frage, welches mitgliedstaatliche Gericht zur Vorlage verpflichtet ist, ausdrücklich dem nationalen Recht zu. Eine Pflicht zur Kompetenzanmaßung seitens des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den Fachgerichten lässt sich dem Gemeinschaftsrecht nicht entnehmen, zumal den mitgliedstaatlichen Fachgerichten nach Ansicht des EuGH kraft Gemeinschaftsrechts (Anwendungsvorrang) gegenüber gemeinschaftsrechtswidrigen nationalen Rechtsakten ohnehin eine eigenständige Nichtanwendungskompetenz zukommt.87 Der Ausschluss des verfassungsgerichtlichen Rechtswegs hinsichtlich von Verletzungen des Gemeinschaftsrechts verstößt damit nicht gegen den sich aus Art. 10 EG ergebenden Grundsatz der Gleichwertigkeit, nach dem die Schlechterstellung gemeinschaftsrechtlich determinierter Rechtsschutzverfahren gegenüber rein national-rechtlichen verboten ist.88 Angesichts des verfassungsunmittelbar begrenzten Beschwerdegegenstandes ist für eine Vorlage des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 234 Abs. 3 EG demnach in aller Regel kein Raum. 85
Siehe nur BVerfGE 75, 223 (224); 85, 191 (204), 92, 203 (227). So aber Bergmann (o. Fn. 18), S. 627. 87 EuGH, Rs. C-118 / 00, Gervais Larsy / Institut national d´assurances sociales pour travailleurs indépendants (Inasti), Slg. 2001, I-5063, Rn. 51; Rs. C-213 / 89, The Queen / Secretary of State for Transport, ex parte Factortame Ltd. u.a., Slg. 1990, I-2433, Rn. 20 f. Dazu auch Dörr (o. Fn. 9), S. 139 f., 152 f. 88 Vgl. Dörr (o. Fn. 9), S. 49 f. m.N. zur Rechtsprechung des EuGH. 86
170
Alexander Proelß
Etwas anderes ließe sich allenfalls unter Hinweis auf Art. 2 Abs. 1 GG als eines Grundrechts auf Anwendung und Einhaltung des Gemeinschaftsrechts,89 die Bindung der Fachgerichte an Gesetz und Recht einschließlich des Gemeinschaftsrechts gemäß Art. 20 Abs. 3 GG oder die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anzutreffende Tendenz, das einfache Recht verfassungskonform auszulegen und anzuwenden und infolgedessen in die Kompetenzsphäre der Fachgerichte einzugreifen („Durchentscheiden“), vertreten. Denn wenn das Bundesverfassungsgericht in der Sache die Aufgaben eines Fachgerichts wahrnimmt und seine Entscheidungs- und Kontrollkompetenz damit über den Bereich „spezifischen Verfassungsrechts“ hinaus ausdehnt, ist auf den ersten Blick kein Grund ersichtlich, es insoweit nicht auch den gleichen prozessualen Anforderungen zu unterwerfen und also als vorlagepflichtiges Rechtsmittelgericht im Sinne von Art. 234 Abs. 3 EG zu behandeln.90 Anders als im Hinblick auf das einfache Bundesrecht hat sich das Gericht bislang freilich nicht angemaßt, Gemeinschaftsrecht verfassungskonform auszulegen oder in sonstiger Weise einer Prüfung zu unterziehen. Sein auf den ersten Blick abweichendes Vorgehen im Rahmen des Beschlusses vom 22. November 2001 (NPD-Verbotsverfahren) diente allein der Prüfung der Entscheidungserheblichkeit der in Rede stehenden Auslegungsfrage, für die, wie gesagt, das nationale Gericht auch nach Ansicht des EuGH zuständig ist.91 Auch unter diesem Gesichtspunkt ist daher für eine Aktivierung der an sich bestehenden prinzipiellen verfassungsgerichtlichen Vorlagepflicht nichts ersichtlich. b) Kommt eine Vorlage des Bundesverfassungsgerichts an den EuGH im Verfahren der Verfassungsbeschwerde nach Erschöpfung des Rechtsweges nach alledem nur in Ausnahmefällen in Betracht, wird das von Art. 234 Abs. 3 EG verfolgte Ziel der 89 So – aufbauend auf der „Elfes“-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 6, 32 [41]) – Klein, Gedanken zur Europäisierung des deutschen Verfassungsrechts, in: Festschrift für Stern, 1997, S. 1301 (1309). 90 Feige (o. Fn. 13), S. 547 f. 91 Siehe o. Fn. 66, 68.
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
171
Sicherung der einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts gleichwohl auf anderem Wege, namentlich über die verfassungsgerichtliche Grundrechtskontrolle, gewährleistet. Wie erwähnt, hat das Bundesverfassungsgericht den EuGH frühzeitig als gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG anerkannt. Scheitert eine eigene Vorlage regelmäßig an der auf den Grundrechtsschutz gemäß Grundgesetz begrenzten Zuständigkeit, muss das Bundesverfassungsgericht, soll der Pflicht zur Ausführung und Förderung des Gemeinschaftsrechts nach Art. 10 Abs. 1 EG genüge getan werden, die Fachgerichte strikt dazu anhalten, ihrerseits als letztinstanzliche Gerichte der Vorlagepflicht zu entsprechen.92 Dies spricht dafür, im Hinblick auf unterlassene Vorlagen an den EuGH durch die letztinstanzlichen Fachgerichte im Rahmen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einen strengeren Prüfungsmaßstab als den der objektivierten Willkür in Ansatz zu bringen. Denn anders als im Falle von Fehlern des nationalen Richters im nationalen Recht kann das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Auslegung und Anwendung des Europarechts materielle Fehler nicht beseitigen, sondern ist strikt auf die Feststellung des formellen Verstoßes gegen die Vorlagepflicht beschränkt.93 Diese Lösung hätte zwar zur Folge, dass die Anwendung des Art. 234 Abs. 3 EG auf die Ebene der Verfassung durchschlüge. Unterließe ein letztinstanzliches Fachgericht eine Vorlage an den EuGH, obwohl es eine Frage der Auslegung oder Gültigkeit für entscheidungserheblich erachtete, verletzte dies hiernach nur dann nicht das Recht auf den gesetzlichen Richter, wenn nach der C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung des EuGH eine Vorlage ausnahmsweise entbehrlich wäre. Dies erscheint jedoch hinnehmbar, weil der materielle Prüfungsmaßstab im Rahmen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unter dem Eindruck der Gebundenheit auch des Bundesverfassungsgerichts an die C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung nicht zwingend vorgegeben ist. Anhaltspunkte dafür, dass das Bundesverfassungsgericht seine Kontrollfunktion in diesem Zusammenhang strenger hand92 Treffend Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, EuGRZ 2005, 193 (196). 93 Ebd.
172
Alexander Proelß
habt, indem es den nationalen Prüfungsmaßstab sachte demjenigen des EuGH annähert, sind in der jüngeren Rechtsprechung unverkennbar.94 2. Verfassungsbeschwerde gegen Hoheitsakte, hinsichtlich derer ein Rechtsweg nicht vorhanden bzw. seine Erschöpfung unzumutbar ist Anders kann sich die Situation bei Verfassungsbeschwerden gegen Hoheitsakte darstellen, hinsichtlich derer kein Rechtsweg gegeben ist. a) Dies ist zum einen der Fall bei Verfassungsbeschwerden gegen ein Gesetz (so genannte Rechtssatzverfassungsbeschwerden). Da das Bundesverfassungsgericht insoweit als einziges Gericht entscheidet, liegt es vordergründig nahe, es nach Art. 234 Abs. 3 EG zur Vorlage an den EuGH zu verpflichten, um dessen Vorabentscheidungskompetenz zu wahren.95 Der Fall der Kampfhundeverordnung zeigt indes, dass sich angesichts der auf die Prüfung der Grundrechtskonformität beschränkten Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts die Frage der Vorlage auch in dieser Situation nicht stellt. Ist ein Gesetz am Maßstab des Grundgesetzes ohnehin nichtig, erübrigt sich eine Vorlage an den EuGH. Kommt das Gericht – wie im Urteil zu den Kampfhunden – demgegenüber zu dem Ergebnis, dass die angegriffene Norm in den auch europarechtlich relevanten Bereichen verfassungsgemäß ist, scheitert eine Vorlage an den EuGH an folgender Erwägung: Setzte das Bundesverfassungsgericht nach Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der betroffenen Rechtsnorm das Verfahren aus und leitete ein Vorabentscheidungsverfahren ein, müsste es nach erfolgter Vorabentscheidung des EuGH die Europarechtmäßigkeit des angegriffenen nationalen Hoheitsaktes prüfen. Hierfür ist es nach dem 94 Nachweise bei Jaeger (o. Fn. 92), S. 197. Vgl. auch Füßer, Durchsetzung der Vorlagepflicht zum EuGH gemäß Art. 234 III EG, DVBl. 2001, 1574 ff.; Mayer (o. Fn. 30), S. 248 f.; Kokott / Henze / Sobotta (o. Fn. 45), S. 635 ff.; Dörr (o. Fn. 9), S. 161 ff. 95 So Feige (o. Fn. 13), S. 541 f.
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
173
Grundgesetz jedoch nicht zuständig.96 Eine Vorlage kommt daher nicht in Betracht.97 Der Bürger wird infolge dessen auch nicht rechtsschutzlos gestellt, sondern kann sich vor den Verwaltungsgerichten im Wege der negativen Feststellungsklage (§ 43 VwGO) um eine Vorlage an den EuGH bemühen. b) Richtet sich die Verfassungsbeschwerde hingegen gegen eine gerichtliche Entscheidung, und ist die Erschöpfung des Rechtsweges ausnahmsweise gemäß § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG entbehrlich, kann die Vorlagepflicht des Art. 234 Abs. 3 EG zur Anwendung gelangen, wenn das Bundesverfassungsgericht der Beschwerde nicht stattgibt. Denn in diesem Fall verfügt der konkret betroffene Bürger jedenfalls dann, wenn das Bundesverfassungsgericht die Erschöpfung des Rechtswegs für unzumutbar98 gehalten hat, faktisch über keine anderweitige Möglichkeit, hinsichtlich der Frage der Auslegung und Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht Rechtsschutz zu erlangen. Auch steht der Rüge der Europarechtswidrigkeit mangels Vorliegens eines anderen in Betracht kommenden Gerichts weder der Grundsatz der materiellen Subsidiarität entgegen, noch kann dem Beschwerdeführer Rechtsschutz im Wege des Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt werden. Insofern liefe das mit Art. 234 Abs. 3 EG verfolgte Ansinnen leer, würde die Vorlagepflicht des Gerichts unter Hinweis auf seine begrenzten Zuständigkeiten negiert. Freilich dürfte es sich bei dieser Konstellation um einen praktisch kaum relevanten Ausnahmefall handeln. 3. Ausblick Die am Beispiel der Verfassungsbeschwerde untersuchten Konstellationen stützen die einleitend aufgestellte These, nach 96
Kritisch Bergmann (o. Fn. 18), S. 626. Gegen eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts in dieser Situation auch Jaeger (o. Fn. 92), S. 195. 98 Anders dürfte es sich dann verhalten, wenn der Rechtsweg wegen allgemeiner Bedeutung der Verfassungsbeschwerde im Sinne von § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nicht zu erschöpfen ist. 97
174
Alexander Proelß
der die dem Grunde nach bestehende Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts in der Praxis nur über äußerst geringe Relevanz verfügt. Im Bereich des Vorabentscheidungsverfahrens findet das Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht seinen Ausdruck vor allem in der verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Grundrechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, auf mittelbarem Wege also. Das mag unter Gesichtspunkten der Einheitlichkeit des innergemeinschaftlichen Rechtsschutzsystems kritisiert werden, findet seine Ursache indes allein in der normativen Ausgestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens einerseits und den kompetenziellen Grenzen der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit andererseits. Eine unmittelbare Kooperation zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht kann von vornherein nur dann in Betracht kommen, wenn und soweit die einschlägigen Verfahrensrechtsnormen eine solche vorgeben. Eben dies ist in vorliegendem Zusammenhang nicht der Fall. Ohnehin gehen beide Gerichte in der Sache viel pfleglicher miteinander um, als es in der (fach-)öffentlichen Wahrnehmung vielfach den Anschein hat.99 Dies zeigt nicht zuletzt das Urteil zum Europäischen Haftbefehl, in dem das Bundesverfassungsgericht in Anlehnung an seine Rechtsprechung zum supranationalen Richtlinienrecht zwischen Umsetzungsspielräumen und zwingenden Vorgaben des Unionsrechts differenzierte100 und seine Kontrollzuständigkeit damit auf einen europarechtlich nicht zwingend vorgegebenen Bereich zurücknahm.101 Insofern liegt es neben der Sache, wenn das Bundesverfassungsgericht des Festhaltens an überholten Souveränitätsvorstellungen bezichtigt wird.102 Es bleibt zu hoffen, dass Versuche der Grenzziehung auf dem Gebiet der staatlichen Rechtsschutzverantwortung künftig weniger am Maßstab des für politisch vorzugswürdig 99
Vgl. auch Broß (o. Fn. 9), S. 112. BVerfG, Urteil vom 18.7.2005, NJW 2006, 2289 (2291). 101 Klink / Proelß (o. Fn. 76), S. 470 f. 102 Vgl. etwa die Kritik von Wildhaber, Bemerkungen zum Vortrag von BVerfG-Präsident Prof. Dr. H.-J. Papier auf dem Europäischen Juristentag 2005 in Genf, EuGRZ 2005, 743 (744), dort freilich bezogen auf den Görgülü-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 111, 307 ff.). 100
Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung
175
Erachteten denn anhand einer nüchternen Bestandsaufnahme und kritischen Würdigung der einschlägigen normativen Grundlagen unternommen werden. Ein gewisses Maß an Unsicherheit wird dabei im Staatenverbund EU angesichts der Vielfalt der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und des nicht immer reibungslosen Ineinandergreifens von gemeinschaftsrechtlicher und mitgliedstaatlicher Ebene zu akzeptieren sein. Dies freilich ist als Nebenfolge eines jeden selbstbewussten Prozesses der Grenzüberschreitung hinnehmbar, soweit nicht infolge dessen die grenzüberschreitende Zusammenarbeit als solche gefährdet wird.
Staat und Symbol Farben, Fahnen, Flaggen in Recht und Dichtung Von Philipp Molsberger, Stuttgart*
I. Einleitung In seiner Bonner Antrittsvorlesung im Jahre 1967 befasste sich der Völkerrechtler Karl Josef Partsch, ein Angehöriger des Kreises um den vom Jubilar so geschätzten Dichter Stefan George,1 mit der Würde des Staates und betonte die Notwendigkeit ihrer Erkennbarmachung durch Formen der Selbstdarstellung.2 Bei näherer Betrachtung lässt diese Aussage einen zweifachen Zweck staatlicher Symbole erkennen. Zum einen ist es ihre Aufgabe, die Würde einer Nation auszudrücken, indem sie als Insignien der Macht Hoheit und Autorität der Staatsgewalt verdeutlichen und intensivieren. Freilich gilt: Eine staatliche Ordnung, die sich in isolierter Selbstbezogenheit eine bestimmte Art und Menge an Würde zumisst, ist ein vom Staatsvolk abgekoppelter Organismus, ein nacktes Herrschaftsinstrument, das Würde als alleiniges „Attribut der Machthaber“ qualifiziert. Wem fällt in diesem Zusammenhang nicht der erste Aufzug in Friedrich von Schillers „Wilhelm Tell“ ein? Auf einem öffentlichen Platz * Verf., Dr. iur., von Okt. 2004 bis Sept. 2006 wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl des Jubilars, ist seit Okt. 2006 im Justizdienst des Landes Baden-Württemberg tätig. 1 Zum Einfluss des Dichters auf den Wissenschaftler siehe Graf Vitzthum, Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Stefan Georges?, in: Böschenstein u.a. (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, 2006, S. 83 ff. 2 Partsch, Von der Würde des Staates, 1967, S. 22; gewidmet „zur Erinnerung an Ernst Kantorowicz“, ein weiteres Mitglied des Kreises um Stefan George.
178
Philipp Molsberger
der Ortschaft Altdorf wird – begleitet vom Dröhnen einer Trommel und überschattet von den fortschreitenden Arbeiten an der Feste Zwing Uri – ein Hut auf einer Stange herbeigetragen, flankiert von einem Ausrufer und der aufgewühlten Menge. Der Herold wendet sich an die Umstehenden: „Ihr sehet diesen Hut, Männer von Uri! Aufrichten wird man ihn auf hoher Säule, Mitten in Altdorf, an dem höchsten Ort, Und dieses ist des Landvogts Will und Meinung: Dem Hut soll gleiche Ehre wie ihm selbst geschehn, Man soll ihn mit gebognem Knie und mit Entblösstem Haupt verehren - Daran will Der König die Gehorsamen erkennen. Verfallen ist mit seinem Leib und Gut Dem Könige, wer das Gebot verachtet.“
Im Verfassungsstaat moderner Prägung, der auf dem von Georg Jellinek als Dreiklang von Volk, Gewalt und Gebiet konzipierten Gefüge gründet,3 drücken Symbole diesen Akkord aus – unabhängig davon, welche konkrete Staatsform das Gemeinwesen innehaben mag. Staatliche Symbole haben eine greifbare Verbindung, ein „Scharnier“, zwischen Staat und Volk herzustellen, die Wechselbeziehung (Sehen, Erleben, Identifizieren)4 zwischen beiden zu fördern. Ihre integrierende oder desintegrierende Bedeutung, auf die Rudolf Smend in Anbetracht des verhängnisvollen Flaggenstreits der Weimarer Republik hinwies,5 verleiht bzw. entzieht einem Staatswesen den Rang einer Wertegemeinschaft. Die durch Symbole vermittelte Würde des Staates steht hier also nicht als abstraktes Gebilde im menschenleeren Raum. Vielmehr beruht sie auf dem Wirken des Symbols als Identifikation stiftendes Bindeglied zwischen Staatsgewalt und Volk (sowie Gebiet)6. 3 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1900 (unveränderter Nachdruck des 5. Neudrucks der 3. Auflage, 1966). 4 Vgl. Classen, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, Bd. II, Art. 22 Rn. 1. – „Der Staat braucht die Übereinstimmung mit seinen Bürgern“, von Simson, Zur Theorie der Legitimität, in: FS für Karl Loewenstein, 1971, S. 467. 5 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 217.
Staat und Symbol
179
6
Ganz gleich ob man die Bedeutung staatlicher Symbole vornehmlich in ihrer historisch begründeten7 Eigenschaft als Quelle der Selbstdarstellung von Herrschaftsgewalt oder in ihrer integrierenden Kraft als „Kennzeichen überwältigender Wertegemeinschaft“ (Smend)8 sieht – jede Gemeinschaft bedarf eigener Zeichen als Bindemittel („Zement“).9 Ausgehend vom Menschen als „animal symbolicum“ (Ernst Cassirer)10 findet daher auch Staatlichkeit seit jeher ihren Ausdruck in Symbolen.11 Der Terminus des „staatlichen“ oder „staatsrechtlichen“ Symbols bzw. des „Staatssymbols“ – die Begriffe dürften inhaltlich gleichbedeutend sein – ist freilich „außerordentlich unscharf“12 und damit schwer zu bestimmen. Üblicherweise werden darunter sinnlich wahrnehmbare13 Gegenstände verstanden („Verkörperung einer geistigen oder seelischen Weseneinheit in ein mit Sinnen wahrnehmbares Gebilde“)14. Die Frage, ob dem Symbolbegriff in extensiver Betrachtungsweise etwa auch Ämter15, Institutionen16 und Normen17 zugeordnet werden können, bedarf hier keines 6 Da ein Staat ohne Gebiet nicht denkbar ist, versinnbildlicht das Staatssymbol als Zeichen einer Nation immer auch dieses Element, vgl. Classen (o. Fn. 4), Art. 22 Rn. 1. 7 Classen (o. Fn. 4), Art. 22 Rn. 1; Fehrenbach, Über die Bedeutung der politischen Symbole im Nationalstaat, HZ 213 (1971), 296 ff. 8 Smend (o. Fn. 5), S. 217. 9 Vgl. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 226; Graf zu Dohna, Die staatlichen Symbole und der Schutz der Republik, in: Anschütz / Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 200. 10 Cassirer, An Essay of Man, 1944, S. 26 f. 11 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 276. 12 Herzog, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Lbl. Stand August 2005, Art. 22 Rn. 1. 13 „Sinnlich wahrnehmbar“ erfasst dabei nicht nur sichtbare, sondern auch hörbare Symbole (bspw. die Nationalhymne), vgl. u.a. Herzog, ebd., Art. 22 Rn. 5. 14 Krüger (o. Fn. 9), S. 226. 15 Vgl. etwa Art. 1 der Japanischen Verfassung von 1946: „Der Kaiser soll das Symbol des Staates und der Einheit des Volkes sein“; siehe Krüger (o. Fn. 9), S. 227. 16 Bspw. das Parlament oder das höchste Gericht. 17 Bspw. Grundrechte oder die Gesamtheit einer Verfassung, vgl. Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der Deutschen
180
Philipp Molsberger
näheren Eingehens.18 Jedenfalls Farben, Fahnen und Flaggen, um die es im Folgenden gehen soll, haben als sinnlich wahrnehmbare Zeichen der Präsenz und Identität19 nach allgemeiner Auffassung Symbolcharakter. Sie gehören zu den „klassischen“ Erscheinungsformen staatlicher Symbolik20 – empor gehängt, weithin sichtbar, geachtet oder gefürchtet. Als Zeichen des nicht-wertegemeinschaftlichen Staates, sondern als Sinnbild der „Obrigkeit“ wird dem Symbol allenfalls – wie Gesslers Waffenknechte Leuthold und Friesshardt im Dritten Aufzug des „Tell“ erkennen – mit Zwang die Reverenz erwiesen: „Nur schlecht Gesindel lässt sich sehn und schwingt Uns zum Verdriesse die zerlumpten Mützen. Was rechte Leute sind, die machen lieber Den langen Umweg um den halben Flecken, Eh sie den Rücken beugten vor dem Hut.“
Gegenstand dieser Skizze sollen nicht die Symbole im Land der stolzen Eidgenossen sein. Vielmehr wendet sich der Blick zum nördlich gelegenen Nachbarn der Confoederatio Helvetica. Zunächst soll der Evolutionsprozess der Farben, Flaggen und Fahnen als Staatssymbole im deutschen Staats- und Verfassungsrecht skizziert werden. Der Flaggenstreit der Weimarer Republik erfährt eine bündige Darstellung im Zusammenhang mit den Ausführungen zu Art. 3 der Weimarer Reichsverfassung, ebenso wie die schleichende „Umfärbung“ der Republik, die letztlich im NS-Staat ihr Ende fand. Der Bonner Verfassungsgesetzgeber Reichsverfassung im allgemeinen, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. I, 1929, S. 10 f. 18 Zum Symbolbegriff vgl. Krausnick, Symbole der Europäischen Verfassung – die Verfassung als Symbol, in: Die europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 2005, S. 132 ff.; Herzog (o. Fn. 12), Art. 22 Rn. 2 ff.; Stern (o. Fn. 11), S. 276 f. 19 Herzog (o. Fn. 12), Art. 22 Rn. 5. 20 Vgl. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 538. Grundlegend zu Geschichte und Bedeutung von Fahnen, Bannern etc. Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik, Bd. II, 1955, S. 643 ff.; speziell zum Purpur als klassischem Staats- und Herrschaftssymbol instruktiv Blum, Purpur als Staatssymbol in der griechischen Welt, 1998.
Staat und Symbol
181
knüpfte an die Entwicklungslinien vor dem „Dritten Reich“ an. Sein Entscheidungsweg hin zu schwarz-rot-gold als Symbol für nationale Einheit und freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie21 wird anhand der Diskussionen im Herrenchiemseer Konvent und Parlamentarischen Rat beleuchtet. Daran schließt sich die Erörterung der die Farben-, Fahnen- und Flaggenfrage auf Verfassungsebene regelnden Bestimmung des Art. 22 GG an. Anhand weiterer Beispiele aus der Literatur soll aufgezeigt werden, wie insbesondere die Dichtkunst die Farben der verschiedenen deutschen Epochen aufgriff und verarbeitete. Künstler wie beispielsweise der Kämpfer in den napoleonischen Befreiungskriegen Theodor Körner, der Verweigerer und Visionär22 Stefan George, sogar der schelmische Schauspieler und Humorist Heinz Erhardt: Sie alle haben die deutschen Farbsymbole in ihren Werken besungen, freilich – verherrlichend, verdammend oder verspottend – aus sehr unterschiedlichen Beweggründen. An ihren Werken und einigen weiteren Beispielen bis hin zur deutschen Popkultur des 21. Jahrhunderts soll im Folgenden die Relevanz des jeweiligen Symbols in seiner Epoche und für seine Umgebung veranschaulicht werden. Hieraus mögen auch Anhaltspunkte für die generelle Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Staatswesen entnommen werden können: der Dichter als Kritiker und Empörer, gar als Zersetzer oder als wertevermittelnde – integrierende – Stütze des Gemeinwesens?23
21
Vgl. Classen (o. Fn. 4), Art. 22 Rn. 3. Graf Vitzthum, Die Gesetze des Geistigen und des Politischen, in: Kilian (Hrsg.), Dichter, Denker und Staat, 1993, S. 27. 23 Vgl. dazu Graf Vitzthum, ebd., S. 27; zur Frage nach dem Verhältnis der Dichtkunst zum Staatswesen, zu Interdependenzen und gegenseitiger Bedingtheit Jens / Graf Vitzthum, Dichter und Staat, 1991. 22
182
Philipp Molsberger
II. Farben, Fahnen und Flaggen in der Weimarer Reichsverfassung 1. Schwarz-rot-gold und schwarz-weiß-rot: Herkunft und Bedeutung a) Schwarz-rot-gold Versuche, schwarz-rot-gold als „deutsche Farben“, als „Farben des alten Reiches“, möglichst weit in die Geschichte bis ins Mittelalter zurückzuführen, gab es vielfach. Sie dürften indes historisch kaum haltbar sein.24 Diese Farbkombination ist vielmehr Kind des 19. Jahrhunderts. Sie wurde zunächst von der studentischen deutschpatriotischen Bewegung verwendet, die sie in verklärendem Rückblick meist auf die Farben des Waffenrocks der Lützowschen Jäger bezog,25 dessen Grundkolorierung schwarz, Aufschläge, Kragen, Achselklappen und Feldmütze hingegen rot waren.26 So erwählte die aus dem Kreis um das Freikorps Lützow mit hervorgegangene Jenaer Burschenschaft zunächst schwarz und rot als ihre Farben. Theodor Körner, selbst Mitglied des Freikorps und im August 1813 im Kampf gegen napoleonische Truppen gefallen, setzte der Lützowschen Schar unter anderem in dem martialischen Gedicht „Die schwarzen Jäger“ ein rühmendes Denkmal: Noch trauern wir im schwarzen Jägerkleide Um den verlornen Mut; Doch fragt man Euch, was dieses Rot bedeute: Das bedeutet Frankenblut.
Das Hinzutreten der dritten Farbe gold wird auf unterschiedliche Quellen zurückgeführt: Einerseits wird es mit der Farbe der Knöpfe der Uniform in Verbindung gebracht, was aber schon deswegen zweifelhaft ist, weil diese Knöpfe den meisten Quel24 Dazu ausführlich Buschkiel, Die deutschen Farben von ihren Anfängen bis zum Ende des zweiten Kaiserreiches, 1935, S. 30 ff.; Wentzcke, Die deutschen Farben – Ihre Entwicklung und Deutung sowie ihre Stellung in der deutschen Geschichte, 1955, S. 63 ff. 25 Siehe beispielsweise Wentzcke, ebd., S. 82. 26 Buschkiel (o. Fn. 24), S. 41.
Staat und Symbol
183
len zufolge gelb waren.27 Zudem besaß die Kolorierung der Knöpfe keinerlei symbolische Relevanz für das Freikorps.28 Sie wurde nicht als spezifische symbolträchtige Farbe „Lützows wilder, verwegener Jagd“ angesehen.29 Damit war auch keine symbolische Rezeption durch die burschenschaftliche Bewegung vonnöten. Wahrscheinlicher ist, dass die Farbe gold erst auf Umstände in der Geschichte der Burschenschaft selbst zurückgeht: Das (schwarz-rote) Burschenband wurde üblicherweise von einem goldfarbenen (bisweilen auch silberfarbenen) Saum aus Metalldraht zusammengehalten; dieser gehörte zwar nicht zu den Bandstreifen, wurde aber oftmals „mitgezählt“.30 Deutlicher noch kam die goldene Farbe hinzu, als die Jenenser Frauen 1816 den Mitgliedern der Burschenschaft eine rotschwarz-rote Fahne zum Geschenk machten, welche in der Mitte einen goldenen Eichenzweig enthielt.31 Dass sich letztlich nicht die Lützowschen Farben, sondern der Dreifarb durchsetzte, liegt an seiner gestalterischen Nähe zur wenige Jahre zuvor geschaffenen Trikolore: Zwar war die patriotische Bewegung der Burschenschaft entwicklungsgeschichtlich von „Franzosenfeindlichkeit“ geprägt; daneben stand aber weiterhin das prägende (Vor-)Bild der französischen Revolution und ihrer freiheitlich-demokratischen Zielrichtung als Triebfeder der Reformbestrebungen. Eine „eigene Trikolore“ vermochte beides zu symbolisieren: Idee einer deutschen Nation und Liberté, Egalité, Fraternité. Die mit der Trikolore verbundene (zunächst) friedlich-schwärmerische Hoffnung auf Veränderung zeigt beispielsweise die 1843, also fünf Jahre vor den Barrika27
Buschkiel, ebd., S. 42; Wentzcke (o. Fn. 24), S. 83. – Heraldisch korrekt ist aber in der Tat die (übliche) gelbe Kolorierung des Dreifarbs; die Farbbegriffe gold und silber (in der Fachterminologie: „Metalle“) werden in der Flaggenkunde synonym mit gelb und weiß verwendet; in Flaggen kommen gold und silber als Farbarten jedoch traditionell nicht – jedenfalls nicht großflächig – vor; dazu Rabbow, Schwarz-Rot-Gold oder Schwarz-RotGelb?, Neue Heraldische Mitteilungen 1968, 30 ff. 28 Wentzcke (o. Fn. 24), S. 83. 29 Hattenhauer, Deutsche Nationalsymbole – Geschichte und Bedeutung, 3. Aufl. 1998, S. 11. 30 Buschkiel (o. Fn. 24), S. 41. 31 Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 1998, Art. 22 Rn. 1.
184
Philipp Molsberger
denkämpfen von Berlin, entstandene „Deutsche Farbenlehre“ von Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Über unserem Vaterland ruhet eine schwarze Nacht, und die eigene Schmach und Schande hat uns diese Nacht gebracht. Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht unsere Hoffnung in funkelnder Pracht? Und es kommt einmal ein Morgen, freudig blicken wir empor: Hinter Wolken lang verborgen, bricht ein roter Strahl hervor. Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht unsere Hoffnung in funkelnder Pracht? Und es zieht durch die Lande überall ein goldnes Licht, das die Nacht der Schmach und Schande und der Knechtschaft endlich bricht. Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?
Mit der gescheiterten Revolution von 1848 / 49 (die Paulskirchenversammlung hatte schwarz-rot-gold 1848 noch zu den Reichsfarben ernannt) 32 sank der Stern des Dreifarbs. Der Versuch der unter der schwarz-rot-goldenen Flagge kämpfenden Revolutionäre, einen Nationalstaat zu etablieren, wurde von preußischen bzw. österreichischen Truppen bis 1849 gewaltsam beendet. Otto von Bismarck, Fürsprecher der Monarchie in der Märzrevolution und den nachfolgenden Wirren, wurde 1862 preußischer Ministerpräsident. Wen wundert es, wenn etwa in Erinnerung an einige Strophen aus dem Werk „Schwarz-RotGold“ des offen zum gewaltsamen Umsturz aufrufenden Dichters Ferdinand Freiligrath – entstanden im Jahr 1848 während seiner Londoner Emigration – nicht nur Otto von Bismarck, sondern auch seinem König Wilhelm die Farben „des Aufruhrs und der Barrikaden“ zuwider waren?33
32 Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 1932, Art. 3, S. 78. 33 Otto von Bismarck: „Sonst ist mir das Farbenspiel ganz einerlei. Meinethalben grün und gelb und Tanzvergnügen oder auch die Fahne von Mecklenburg-Strelitz. Nur will der preußische Troupier (= der König) nichts von Schwarz-Rot-Gold wissen“; zit. nach Hattenhauer (o. Fn. 29), S. 20.
Staat und Symbol
185
[…] Das ist noch lang die Freiheit nicht, Wenn man, statt mit Patronen, Mit keiner andern Waffe ficht, Als mit Petitionen! Du lieber Gott: - Petitioniert! Parlamentiert, illuminiert! Pulver ist schwarz, Blut ist rot, Golden flackert die Flamme! Das ist noch lang die Freiheit nicht, Sein Recht als Gnade nehmen Von Buben, die zu Recht und Pflicht Aus Furcht nur sich bequemen! Auch nicht: daß, die ihr gründlich haßt, Ihr dennoch auf den Thronen laßt! Pulver ist schwarz, Blut ist rot, Golden flackert die Flamme! […]
b) Schwarz-weiß-rot In seinem Entwurf einer Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 9. Dezember 1866 wählte von Bismarck persönlich die Farbkombination schwarz-weiß-rot für die Handelsflagge aus.34 Gleiches sollte auch für die Flagge der Kriegsmarine gelten. Von allgemeinen Bundesfarben war hingegen noch nicht die Rede, da Preußen die Flaggenhoheit als Teil der einzelstaatlichen Souveränität erachtete35 und somit keine Notwendigkeit zur Schaffung einer eigenen Nationalflagge sah. Die Herleitung der Farben schwarz-weiß-rot ist weit weniger umstritten als die des revolutionären schwarz-rot-gold: Schwarz und weiß waren die alten Farben des Deutschen Ordens, der sich im Gebiet des späteren Preußen niedergelassen hatte; sie wurden damit später die preußischen Farben. Rot und weiß 34 35
Wieland (o. Fn. 31), Art. 22 Rn. 4. Wentzcke (o. Fn. 24), S. 124.
186
Philipp Molsberger
waren die Farben der Hansestädte und Holsteins, rot zudem die brandenburgische Farbe. Die Wahl dieser Farbkombination verband daher die Symbole der im Norddeutschen Bund zusammengeschlossenen Gebietseinheiten. Sowohl die Verfassung des Norddeutschen Bundes als auch die Reichsverfassung von 1871 bestimmten jeweils in Art. 55: „Die Flagge der Kriegs- und Handelsmarine ist schwarz-weiß-rot“. Nach dem Inkrafttreten der Verfassung von 1867 hatte Wilhelm I. im Namen des Norddeutschen Bundes detailliert verkündet: „Die Bundesflagge, welche von den Kauffahrteischiffen der Norddeutschen Bundesstaaten als Nationalflagge ausschließlich zu führen ist, bildet ein längliches Dreieck, bestehend aus drei gleich breiten horizontalen Streifen, von welchen der obere schwarz, der mittlere weiß und der untere rot ist. Das Verhältnis der Höhe der Flagge zur Länge ist wie zwei zu drei […]“.36 Der Begriff „Nationalflagge“ bezog sich in dieser Verordnung zwar zunächst allein auf die deutschen Farben zur See, der Weg hin zu allgemeinen Nationalfarben war aber nun vorgezeichnet. Am 8. November 1892 wurde durch kaiserliche Verordnung – auf Grundlage der dem Kaiser zustehenden Organisationsgewalt für militärische Behörden und Kommandostellen37 – amtlich bestätigt, dass die „Bundesflagge in der […] für die Schiffe der deutschen Handelsmarine festgesetzten Form […] die Nationalflagge bildet […]“. Die Niederlegung dieser Entscheidung in formellem Reichsgesetz erfolgte 1899 in § 1 des Gesetzes über die Flaggenrechte der Kauffahrteischiffe38 (dort hieß es statt „Nationalflagge“ sinngemäß „Reichsflagge“). Spätestens damit war auch die Reichskriegsflagge39, die im Bewusstsein der Bevölkerung teilweise die Rolle der Nationalflagge eingenommen hatte,40 als allgemeines Symbol des deutschen Reiches verdrängt. Nunmehr galten schwarz-weiß-rot im Volk als Reichsfarben, nicht bloß im „tech36
BGBl. 1867 S. 35, 37, zit. nach Buschkiel (o. Fn. 24), S. 94. Gebhard (o. Fn. 32), Art. 3, S. 77. 38 RGBl. S. 319. 39 Weißes Flaggentuch, durch schwarzes Kreuz viergeteilt. Im Schnittpunkt des Kreuzes der preußische (jetzt Reichs-)Adler. Im oberen linken Eck schwarz-weiß-rot mit aufgelegtem eisernen Kreuz. 40 Buschkiel (o. Fn. 24), S. 97. 37
Staat und Symbol
187
nischen Sinne des Schifffahrtsrechts, sondern im allgemeinen, staatsrechtlichen Sinne, als Symbol der Reichseinheit.“41 Diese Genese entspricht nicht dem üblichen Weg der Herausbildung einer Rechtsordnung, welche sich von allgemeinen Grundsätzen und Leitentscheidungen hin zu den detaillierten Einzelregelungen entwickelt. Nach diesem Schema hätte zuerst eine allgemeine Farbenwahl erfolgen müssen, sodann wären die jeweiligen Einzelflaggen etc. für die einzelnen Bedarfsträger herausgebildet worden. Das Kaiserreich wählte den entgegengesetzten Weg einer Farbengenese vom Speziellen zum Allgemeinen:42 Wurde für das Staatssystem des Norddeutschen Bundes eine eigene Staatsflagge nicht für notwendig erachtet, bestand der Bedarf für ein solches Merkmal sehr wohl für das Militär43 und für die aufstrebende deutsche Handelsschifffahrt. In den Häfen der Welt stellt die Flaggeneinheit ein wesentliches Merkmal für Erkennbarkeit, Stärke und Verlässlichkeit einer Flotte dar. Die Binnenstruktur eines Staatswesens, das für sein internes „Funktionieren“ gegebenenfalls keines einheitlichen Symbols bedarf, steht hintan, soweit es um den Außenauftritt geht. Nach Inkrafttreten der Reichsverfassung von 1871 bestand Nachholbedarf für auch intern verbindende Nationalfarben: Die Entwicklung von Partikularsymbolen staatlichen Außenauftritts hin zu einer allgemeinen Nationalflagge als Symbol der deutschen Einheit im Kaiserreich war daher nur konsequent. Die Dichtkunst hat auch die kaiserlichen Farben aufgegriffen – oft mit beißend-kritischem Unterton. So spricht der aus Bingen am Rhein stammende Dichter Stefan George in seinem 1907 erschienenen Gedicht „Rhein I–VI“ aus dem Zyklus „Der siebente Ring“: Nun fragt nur bei dem furchtbaren gereut Ob sich das land vor solchem dung nicht scheut! 41 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933 (Unveränderter Nachdruck 1960), Art. 3, S. 51. 42 Vgl. Gebhard (o. Fn. 32), Art. 3, S. 77. 43 Ab 1874 wurde die schwarz-weiß-rote Kokarde bereits von den Seeoffizieren und Kadetten getragen, ab 1897 auch von den Soldaten des Heeres. Siehe Buschkiel (o. Fn. 24), S. 97.
188
Philipp Molsberger Den eklen schutt von rötel kalk und teer Spei ich hinaus ins reinigende meer.
Rötel, Kalk und Teer: Rot, weiß, schwarz, also eigentlich die „falsche“ Reihenfolge. Diese Verdrehung dürfte freilich nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern wegen des Versmaßes – die Gedichte des Spracherneuerers Stefan George sind geprägt von Formstrenge und der Maxime poetischer Ästhetik44 – vorgenommen worden sein. Der Dichter selbst antwortete jedenfalls auf die Frage, ob man aus diesen Begriffen die kaiserlichen Farben ableiten könne: „So kann man die Verse verstehen.“ George, Verkünder eines neuen, eines geheimen Deutschlands, drückt hier unverhohlen seine Distanz zu dem als ungeistig empfundenen späten Kaiserreich aus.45 Sein Staatsbild war geprägt von den Vorstellungen einer Polis der Dichter, einer geistig beseelten und zugleich leibhaftigen Herrschaft.46 Wie entfernt stand davon doch der hohle Kulissenzauber der Wilhelminischen Spätzeit, welchen George auch in anderen Werken, etwa dem Gedicht „Der Krieg“ (1917) als „der feigen jahre wust und tand“ geißelte. Ungleich ätzender als Stefan George äußerten sich andere Literaten. Ein besonders krasses Beispiel liefert Bertolt Brecht in seiner 1917 entstandenen „Legende vom toten Soldaten“, in welcher ein Gefallener exhumiert und – für kriegsverwendungsfähig („k.v.“) befunden – mit Marschmusik die Strassen entlang getragen wird: Sie malten auf sein Leichenhemd Die Farben Schwarz-Weiß-Rot Und trugen’s vor ihm her; man sah Vor Farben nicht mehr den Kot. 44
Graf Vitzthum, Staatsdichtung und Staatslehre, NJW 2000, 2138. Graf Vitzthum (o. Fn. 22), S. 25 f. 46 Graf Vitzthum (o. Fn. 22), S. 26. – Die Farben schwarz, weiß, rot (neben grün und blau) werden auch in dem Gedicht „Voyelles“ (Vokale) des französischen Lyrikers Arthur Rimbaud (1854–1891) thematisiert, welches u.a. von Stefan George übersetzt wurde. Dort („schwarzer samtiger panzer dichter mückenscharen […] helligkeit von dämpfen und gespannten leinen […] purpurn ausgespienes blut gelach der Holden“) geht es freilich nicht um Staatssymbolik. 45
Staat und Symbol
189
2. Der Weimarer Flaggenstreit Am 21. Februar 1919 legte die Reichsregierung der Nationalversammlung den Entwurf einer neuen Verfassung vor. Darin war bestimmt, dass die künftigen Reichsfarben schwarz-rot-gold sein sollten, ein insbesondere von der Regierung der (neugebildeten) Republik Österreich unterstützter Vorschlag: Diese erstrebte zwar den „Anschluss“ an das Deutsche Reich, war sich jedoch der Unpopularität der „preußischen“ Farben schwarzweiß-rot in Österreich bewusst und konnte sich deswegen nur schwarz-rot-gold als Farben eines gemeinsamen Staatswesens47 vorstellen.48 Die Farbenfrage wurde in der Sitzung des Verfassungsausschusses am 3. / 4. Juni 1919 sowie im Plenum der Nationalversammlung am 2. / 3. Juli 1919 erörtert. Für das Beibehalten von schwarz-weiß-rot votierten die beiden Rechtsparteien sowie Teile der Demokraten und des Zentrums.49 Die Argumente hierfür waren recht unterschiedlich: Zum einen verstoße ein Farbenwechsel nach dem verlorenen Krieg gegen die nationale Würde; zum anderen sei schwarz-weiß-rot in der Handels- und Schifffahrtswelt außerordentlich bekannt und geachtet; ferner sei von Seeleuten bestätigt worden, dass die Farbkombination 47
Eine allerdings in ferner Zukunft liegende Vorstellung, da die Siegermächte eine solche Verbindung mit dem Deutschen Reich nicht gestatten wollten und später im Vertrag von St. Germain (September 1919) ausdrücklich untersagten. Der „Anschluss“ sollte erst (nach dem Einmarsch der Wehrmacht) im Februar 1938 erfolgen. Die „großdeutsche“ Tendenz von schwarz-rot-gold ist freilich als Bedeutungsgehalt im Grundgesetz nicht mehr enthalten; dem stehen bereits die Präambel sowie die frühere Fassung von Art. 23 GG, dem jetzigen „Europaartikel“, entgegen, vgl. Herzog (o. Fn. 12), Art. 22, Rn. 12. 48 Gebhard (o. Fn. 32), Art. 3, S. 78; Rautenberg, Schwarz-Rot-Gold: Das Symbol für die nationale Identität der Deutschen, Vortrag am 23. Juli 2002 (im Internet unter www.erinnerungsstaette-rastatt.de / SRG4.pdf), S. 15. In Österreich setzte die sozialdemokratische Mehrheit die Rückkehr zu der (vom Schild der aus dem Heiligen Land zurückkehrenden Markgrafen von Babenberg hergeleiteten) Farbkombination rot-weiß-rot durch, vgl. Wentzcke (o. Fn. 24), S. 145. 49 Anschütz (o. Fn. 41), Art. 3, S. 48.
190
Philipp Molsberger
schwarz-weiß-rot von besonderer „Sichtigkeit“ auf See sei.50 Der Vertreter (und Gründer) der USPD, Oskar Cohn, trat für rot als alleinige Reichsfarbe ein,51 konnte sich mit diesem Vorschlag, der eine Parteifahne zur Staatsfahne erhoben hätte,52 jedoch nicht durchsetzen. Die Befürworter von schwarz-rot-gold verwiesen auf die besondere Bedeutung dieser Farbkombination für die vormärzlichen Einheitsbestrebungen.53 Die SPD-Abgeordneten Hermann Molkenbuhr und Max Quarck stellten im Verfassungsausschuss einen Kompromissantrag, welcher am 4. Juni 1919 angenommen wurde. Die Reichsfarben sollten schwarz-rot-gold sein, die Handelsflagge hingegen „durch Reichsgesetz bestimmt“ werden. Bei der Schlussberatung und Abstimmung im Plenum am 2. / 3. Juli 1919 wurde diese Textfassung nochmals abgeändert und die Position der Befürworter von schwarz-weiß-rot insoweit gestärkt, als diese Farbkombination als Farben der Handelsflagge im neuen Art. 3 WRV nunmehr mit Verfassungsrang ausgestattet wurde – mit einer kleinen Abwandlung: Auch in der Handelsflagge waren nun die Reichsfarben enthalten, klein in der oberen inneren Ecke. Mit dieser Kompromissentscheidung war der Streit jedoch keineswegs ausgestanden. Im Gegenteil: Die Positionen der maßgeblichen politischen Kräfte entzündeten sich immer neu an der Frage des Staatssymbols. Der Flaggenstreit wurde letztlich selbst zum Symbol der Zerrissenheit54 der Weimarer Republik. Unter den schwarz-weiß-roten Farben versammelten sich die Gegner der Republik, so während des sog. Kapp-Putsches im März 1920.55 Auf der anderen Seite wurde der republikanische Frontkämpferbund „Reichsbanner schwarz-rot-gold“ gegründet,56 der ein Symbol für das überparteiliche Bekenntnis
50 Hierzu Gebhard (o. Fn. 32), Art. 3, S. 78; Anschütz (o. Fn. 41), Art. 3, S. 48 f.; Rautenberg (o. Fn. 48), S. 16. 51 Vgl. Gebhard (o. Fn. 32), Art. 3, S. 78. 52 Diese „Karriere“ war der Hakenkreuzfahne des „Dritten Reiches“ vorbehalten. 53 Anschütz (o. Fn. 41), Art. 3, S. 49. 54 Wieland (o. Fn. 31), Art. 22, Rn. 5. 55 Wentzcke (o. Fn. 24), S. 149.
Staat und Symbol
191
zum demokratischen Nationalstaat darstellen sollte; da diese Organisation jedoch sozialdemokratisch dominiert erschien, nahmen große Bevölkerungsteile die von ihr demonstrativ geführte Fahne als „Parteifahne“ wahr, was im Ergebnis zu noch gesteigerter Ablehnung führte.57 Die Gegenzeichnung der (zweiten) Flaggenverordnung des Reichspräsidenten58 führte schließlich im Mai 1926 nach heftigen Auseinandersetzungen zur Annahme eines Misstrauensantrags gegen die Reichsregierung und zum Rücktritt des Kabinetts Luther. Die Verordnung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg vom 12. März 193359 läutete das Ende der Reichsfarben schwarz-rot-gold ein; die mit „neuem Glanz versehenen“ alten „kaiserlichen“ Farben sollten allerdings nur für kurze Zeit neben dem Zeichen der nationalsozialistischen „Bewegung“ bestehen können. „Bald flattern Hitlerfahnen über allen Straßen“ – jedenfalls mit dieser Zeile seines später zur Parteihymne der NSDAP avancierenden Kampflieds sollte der 1930 erschossene SA-Führer Horst Wessel leider Recht behalten. 3. Regelungsgehalt und Konkretisierungen von Art. 3 WRV Art. 3 WRV unterscheidet seinem Wortlaut nach zwischen den Reichsfarben und der Handelsflagge, eine auf den ersten Blick fragwürdige Gegenüberstellung. Sie ist allerdings gewollter Ausdruck des hierarchischen Verhältnisses der Farbkombinationen zueinander. Wäre der „Handelsflagge“ der Begriff der „Reichsflagge“ gegenübergestellt worden, ständen die jeweiligen Farbkombinationen in deutlich nivellierterer Abstufung zueinander. Die Formulierung in Art. 3 Satz 1 WRV zeigt hingegen, dass schwarz-rot-gold nicht nur die Farben einer bestimmten Flagge, 56 Vgl. Wentzcke (o. Fn. 24), S. 152. Weitere Verbände, deren Namen sich auf Fahnen / Flaggen bezogen, waren etwa die „Reichsflagge“ und die „Reichskriegsflagge“; letzterer Kampfverband nahm unter Ernst Röhm am Hitler-Putsch des Jahres 1923 teil, vgl. Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland, 1950, S. 55. 57 Rautenberg (o. Fn. 48), S. 18. 58 VO vom 5.5.1926, RGBl. I S. 217. 59 RGBl. 1933 I S. 103.
192
Philipp Molsberger
sondern die allgemeinen Farben des Staates sind. Dass auch die Nationalflagge schwarz-rot-gold sein muss, geht damit bereits (wenn auch ungeschrieben) aus dem Verfassungstext hervor und hätte keiner Konkretisierung in der (ersten) Flaggenverordnung aus dem Jahre 192160 bedurft: Die Definition der Reichsfarben schließt die Bestimmung der Nationalflagge ein, jedenfalls, solange nichts anderes bestimmt ist.61 Nachrangig dazu steht die Handelsflagge. Schwarz-weiß-rot ist demnach kein allgemeines staatssymbolisierendes Farbmuster, sondern nur spezielles Symbol einzelner Formen staatlichen (Außen-) Auftritts. Zudem trägt auch die Handelsflagge die Reichsfarben in einer Ecke (nicht aber umgekehrt die Nationalflagge die Farben der Handelsflagge); die Hierarchisierung besteht somit auch hier.62 Die in der Weimarer Reichsverfassung noch niedergelegte Vorrangstellung von schwarz-rot-gold wurde bald durch unterverfassungsrechtliche Bestimmungen aufgeweicht. Das „Ausfüllen“ des Rahmens von Art. 3 WRV erfolgte durch (insgesamt drei) Verordnungen des Reichspräsidenten. Seine Zuständigkeit wurde unterschiedlich begründet. Für Ludwig Gebhard etwa resultierte sie aus der allgemeinen Organisationsgewalt des Reichspräsidenten sowie der Ermächtigung in § 1 Abs. 2 des Gesetzes über die Flaggenrechte der Kauffahrteischiffe63 vom 22. Juni 1899 i.V.m. § 4 des Übergangsgesetzes vom 4. März 191964 und Art. 179 Abs. 1 WRV.65 Gerhard Anschütz lehnte eine 60
VO vom 11.4.1921, RGBl. S. 483. Im „Dritten Reich“ wurde zwischen Reichsfarben (schwarz-weiß-rot) und Reichs- und Nationalflagge (mit dem Motiv des Hakenkreuzes) unterschieden. 62 Vgl. Wentzcke (o. Fn. 24), S. 58. Eine solche Unterscheidung zwischen Reichsfarben / Nationalflagge und Seeflagge wirkt ungewöhnlich, steht aber in alter Tradition: Schon Richard Löwenherz ließ während der Kreuzfahrt ins Heilige Land das Georgskreuz (rotes Kreuz auf weißem Grund) hissen, während sein persönliches Wappen drei goldene Löwen darstellte. 63 RGBl. 1899 S. 319. 64 RGBl. 1919 S. 285. 65 Gebhard (o. Fn. 32), Art. 3, S. 79. Letztgenannter Bestimmungen bedarf es dabei, um von der vormaligen Zuständigkeit des Kaisers zu der des Reichspräsidenten zu gelangen. 61
Staat und Symbol
193
entsprechende Zuständigkeit des Reichspräsidenten aufgrund allgemeiner Organisationsgewalt ab, soweit sie sich an die Handelsmarine richte. Die Verordnung stelle eine instruktionelle Regelung (Dienstanweisung) dar; die Handelsmarine sei aber „kein Teil des Reichsorganismus“, gegenüber ihr könne mithin keine Organisationsgewalt bestehen.66 Bereits in der Flaggenverordnung des Jahres 192167 zeigten fünf der insgesamt zehn geregelten Flaggen68 die Reichsfarben, die anderen führten schwarz-weiß-rot, es bestand also zumindest numerische Parität. Fraglich ist allerdings, ob die durch diese Flaggenverordnung vorgenommene Bestimmung der schwarz-weiß-roten Farbkombination nicht allein zum Symbol der Handels-, sondern auch der Kriegsmarine einen Verstoß gegen den materiellen Regelungsgehalt des Art. 3 WRV darstellte. Die Gleichstellung geht auf Art. 55 der Reichsverfassung von 1871 zurück, welche schwarz-weiß-rot zu Farben der „Kriegs- und Handelsmarine“ erklärte. Zwar benannte § 1 des Gesetzes über die Flaggenrechte der Kauffahrteischiffe69 in seinem ersten Absatz die in Art. 55 der Verfassung von 1871 bezeichnete Flagge als „Reichsflagge“, deren Führung gemäß dem zweiten Absatz durch kaiserliche (wegen § 4 des Übergangsgesetzes vom 4. März 191970 und Art. 179 Abs. 1 WRV nunmehr vom Reichspräsidenten zu erlassende) Verordnung geregelt werden sollte. Im Wege dieser formell verfassungsgemäßen Zuständigkeitsbegründungskette schwarz-weiß-rot als materiell verfassungsgemäße allgemeine deutsche Farben zur See anzusehen, widerspricht jedoch dem Wortlaut des Art. 3 WRV, der in Anbetracht der gewollten Farbenhierarchie einer „strengen Auslegung“ bedurft hätte.71 Das pragmatische Argument der für die Marine wichtigen besonderen „Sichtigkeit“ von schwarzweiß-rot erscheint jedenfalls schon deshalb vorgeschoben, da 66
Anschütz (o. Fn. 41), Art. 3, S. 52. VO vom 11.4.1921, RGBl. S. 483. 68 Auflistung u.a. bei Wieland (o. Fn. 31), Art. 22 Fn. 15 zu Rn. 5. Dazu auch Anschütz (o. Fn. 41), Art. 3, S. 54 f. 69 RGBl. 1899 S. 319. 70 RGBl. 1919 S. 285. 71 Anschütz (o. Fn. 41), Art. 3, S. 55. 67
194
Philipp Molsberger
die Verordnung auch die Beflaggung der Dienstgebäude der Kriegsmarine regelt. Noch deutlicher erscheint der Verfassungsverstoß in Bezug auf die Regelung der Flaggenverordnung, wonach die (in den Farben schwarz-weiß-rot gehaltene) Reichskriegsflagge zur amtlichen, dem Landheer zugeordneten Flagge bestimmt wurde. Auch diese Bestimmung mag, was die Erlasszuständigkeit betrifft, in den Kompetenzbereich des Reichspräsidenten fallen. Materiell jedenfalls stellt sie sich außerhalb des von Art. 3 WRV gesetzten Rahmens.72 Diese „Umfärbung des Staates“ ist ein besonders auffälliges Beispiel für die „schleichende“ Entwertung der Weimarer Reichsverfassung, die (sowenig wie die Bismarcksche zuvor) kein ausdrückliches Gebot enthielt, dass Änderungen der Verfassung auch im Text der Verfassungsurkunde ihren Niederschlag zu finden hätten.73 Der damit ermöglichte Widerspruch zwischen tatsächlich geltendem Recht und geschriebenem Text war später Anlass für den Verfassungsgesetzgeber, das Novum des Textänderungsgebots in Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG zur Verhinderung solcher Verfassungsdurchbrechungen einzufügen.74 Die Flaggenverordnung vom 5. Mai 192675 bewirkte eine weitere Nivellierung des Hierarchieverhältnisses der beiden Farbkombinationen. Von nun an mussten die „auswärtigen Missionen, Botschaften, Gesandtschaften und Konsulate an außereuropäischen Plätzen und an solchen europäischen Plätzen, die von Seehandelsschiffen angelaufen werden“, neben der Nationalflagge auch „die Handelsflagge“ führen. Zwar scheint die Verordnung durch die Bezugnahme auf den Seehandel einen ausreichenden inhaltlichen Zusammenhang mit der Farbkombination schwarz-weiß-rot als Handelsflagge gemäß Art.3 Satz 2 WRV herzustellen. Die „Entmaritimisierung“ der Flagge, welche ursprünglich als Kennzeichnung der deutschen Handelsschiffe dienen sollte,76 ist jedoch unverkennbar. 72
Siehe auch Anschütz (o. Fn. 41), Art. 3, S. 55. Hain, in: von Mangoldt / Klein / Starck (o. Fn. 4), Bd. III, 5. Aufl. 2005, Art. 79 Rn. 5. 74 Dazu Hain, ebd., Art. 79 Rn. 6 ff. 75 RGBl. 1926 I S. 217. 73
Staat und Symbol
195
76
Den letzten Weimarer Akt im Kampf um die Farben läutete die am 12. März 1933 von Reichspräsident von Hindenburg erlassene und von Reichskanzler Hitler gegengezeichnete (vorläufige) Regelung betreffend die Flaggenhissung ein.77 Der Erlass sah vor, „dass vom morgigen Tage bis zur endgültigen Regelung der Reichsfarben die schwarz-weiß-rote Fahne und die Hakenkreuzfahne gemeinsam zu hissen sind. Die Flaggen verbinden die ruhmreiche Vergangenheit des Deutschen Reiches und die kraftvolle Wiedergeburt der Deutschen Nation. Vereint sollen sie die Macht des Staates und die innere Verbundenheit aller nationalen Kreise des deutschen Volkes verkörpern.“78 Diese Verordnung wirkt zum einen ungenau, weil sie den in der Fachsprache vorgenommen Unterschied zwischen Fahnen und Flaggen – dazu später im Rahmen der Ausführungen zu Art. 22 GG – vernachlässigt. Sie begegnet aber noch schwerwiegenderer inhaltlicher Kritik: Der Begriff „die schwarzweiß-rote Fahne“ kann sich in einer verfassungskonkretisierenden Verordnung nur auf Art. 3 Satz 2 WRV beziehen. Danach hat die schwarz-weiß-rote Handelsflagge stets zusätzlich die schwarz-rot-goldenen Reichsfarben zu führen. Das Zufügen der Reichsfarben zu schwarz-weiß-rot erfolgte auch in allen Fahnen und Flaggen, welche durch die (erste und zweite) Flaggenverordnung für einzelne Reichsbehörden etc. festgelegt wurden.79 Die Verordnung von 1933 lässt indes die Reichsfarben unberücksichtigt, schwarz-weiß-rot soll nach ihrem Wortlaut ohne weitere Zusätze gehisst werden. Daneben wird das Hissen der Hakenkreuzfahne angeordnet, dem Verordnungstext nach als neben schwarz-weiß-rot gleichwertig stehendes Staatssymbol – bis zur „endgültigen Regelung der Reichsfarben“, welche bereits in Art. 3 Satz 1 WRV zweifellos endgültig geregelt waren. In 76
Vgl. Gebhard (o. Fn. 32), Art. 3, S. 78. RGBl. 1933 I S. 103. 78 Zit. nach Wentzcke (o. Fn. 24), S. 158. 79 Mit Ausnahme der Dienstflagge der Reichsbehörden zur See in der Fassung der ersten Flaggenverordnung von 1921. Hier war lediglich das (seinerseits schwarz-rot-goldene) Reichsschild (mit dem Reichsadler) auf die schwarz-weiß-roten Querstreifen gesetzt. Die zweite Flaggenverordnung von 1926 fügte dieser Flagge aber dann auch die Reichsfarben in der oberen inneren Ecke hinzu. 77
196
Philipp Molsberger
Art. 3 WRV ist die Hakenkreuzfahne nicht vorgesehen. Die Verordnungsgewalt des Reichspräsidenten beschränkt sich darauf, „im Vollzuge des Art. 3 Form und Führung der in diesem Artikel vorgesehenen Reichsflaggen […] zu regeln“.80 Er ist also (nur) befugt, diese Rahmenregelung zu konkretisieren,81 nicht aber, eine neue Fahne zum Staatssymbol82 zu machen. Mit dieser Verordnung positionierten sich Reichspräsident und Reichsregierung eindeutig gegen die Reichsverfassung. Nach dem Erlass weiterer die Flaggenfrage regelnder Vorschriften83 setzte das Reichsflaggengesetz vom 15. September 193584 (das erste der drei „Nürnberger Gesetze“) einen Schlussstrich unter den jahrzehntelangen Flaggenstreit. § 1 dieses Gesetzes bestimmt: „Die Reichsfarben sind schwarz-weiß-rot“. Durch diese Festlegung der „alten ruhmreichen Farben“85 als Farben des „Dritten Reiches“ sollten in erster Linie die „vor-weimarischen“ konservativen Kräfte für den nationalsozialistischen Staat gewonnen werden. Die Farbkombination schwarz-weiß-rot war jedoch nicht mehr in der bekannten quergestreiften Form für eine Flagge vorgesehen. § 2 des Reichsflaggengesetzes legte vielmehr fest: „Reichs- und Nationalflagge ist die Hakenkreuzflagge. Sie ist zugleich Handelsflagge.“ Schwarz-weiß-rot war damit im wahrsten Sinne des Wortes im „Symbol der Bewegung“, der Hakenkreuzflagge, „aufgegangen“. Zwar gab es noch einige Flaggen, welche die Farben schwarz-weiß-rot ohne die Swastika führten, etwa im Bereich der Heeresleitung. Dies waren jedoch nachrangige Kennzeichen, welche nie symbolische 80
Anschütz (o. Fn. 41), Art. 3, S. 55. Vgl. Gebhard (o. Fn. 32), Art. 3, S. 79. 82 Zum Symbolgehalt der Hakenkreuzfahne vgl. u.a. Wentzcke (o. Fn. 24), S. 157 ff. 83 VO über die vorläufige Regelung der Flaggenführung vom 31.3.1933, RGBl. I S. 179; Erlass über das Setzen der Hakenkreuzflagge auf Kauffahrteischiffen vom 29.4.1933, RGBl. I S. 244; Verordnung über die vorläufige Regelung der Flaggenführung auf Kauffahrteischiffen vom 20.12.1933, RGBl. I S. 1101; s. Wieland (o. Fn. 31), Art. 22 Fn. 19 zu Rn. 6. 84 RGBl. 1935 I S. 1145. 85 So Reichstagspräsident Hermann Göring auf dem Reichsparteitag, auf welchem der Reichstag das Flaggengesetz annahm, in seinen einleitenden Worten. Zit. nach Wentzcke (o. Fn. 24), S. 158 f. 81
Staat und Symbol
197
Bedeutung für den Staat als solchen besaßen. Hier galt allein das Hakenkreuz. Trotz der Bezeichnung als „Reichsfarben“ kam schwarz-weiß-rot keine eigenständige Bedeutung mehr zu. Der Verweis auf alte Traditionen vornationalsozialistischer Zeit war nur vorgetäuscht. In Wahrheit diente die Farbkombination allein der ominösen Zeichendeutung durch das NS-Regime.86 Die alten Reichsfarben schwarz-rot-gold existierten in der Symbolwelt des „Tausendjährigen Reiches“ nicht mehr. III. Farben, Fahnen und Flaggen im Grundgesetz 1. Die Beratungen im Herrenchiemseer Konvent und im Parlamentarischen Rat In seinem Gedicht „Ampeln“ präsentiert der hintergründighumoristische Schauspieler und Schriftsteller Heinz Erhard die Entstehung der Farben der Bundesrepublik Deutschland: Wir hatten einst – die Zeit ist tot – als Landesfarben Schwarz-Weiß-Rot. Dann hat man sie nicht mehr gewollt, und wir bekamen Schwarz-Rot-Gold.
So einfach war es freilich nicht. Der Ursprung der Diskussionen über die Farben des Neuanfangs nach dem Zusammenbruch 1945 ist in Bayern zu suchen, in einem ehemaligen Chorherrenstift auf der Insel Herrenchiemsee, der größten der drei Inseln des Chiemsees. Dort tagte vom 11. bis zum 23. August 1948 ein von den Ministerpräsidenten der Länder beauftragter Sachverständigenausschuss mit dem Auftrag, dem späteren Parlamentarischen Rat einen Verfassungsentwurf als Beratungsgrundlage zu erarbeiten. Dieser Herrenchiemseer Konvent ging die Frage nach der Gestaltung der künftigen Hoheitssymbole allerdings eher zögernd an. Grund dafür war zum einen die Überlegung, dass der „provisorische“ Charakter des auf eine Wiedervereinigung angelegten geplanten Staatswesens einer so weitgehenden Regelung wie der von Staatsfarben entgegen86
Vgl. Wentzcke (o. Fn. 24), S. 157 ff.
198
Philipp Molsberger
stehen könnte.87 Zum anderen sollte der werdenden Republik ein Flaggenstreit nach Weimarer Muster erspart bleiben.88 Eine Minderheit in der Kommission schlug daher vor, auf die Aufnahme eines Flaggenartikels in das Grundgesetz zu verzichten. Zwar bestanden kaum sachliche Einwände gegen schwarzrot-gold als künftige Flaggenfarben; die entsprechenden Regelungen sollten jedoch einem später zu kodifizierenden Flaggengesetz überlassen werden.89 Andere Kommissionsmitglieder schlugen eine Regelung vor, wonach bis zur gesetzlichen Regelung der Farbenfrage die Bundesbehörden, Auslandsvertretungen und Seeschiffe vorläufig die Farben schwarz-rot-gold führen sollten.90 Dieser Vermittlungsvorschlag basierte auf der pragmatischen Erkenntnis, dass das neue Gemeinwesen eines Minimums an Hoheitszeichen91 bedurfte, um seine Präsenz (insbesondere im Außenverkehr) vergegenwärtigen zu können.92 Mehrheitlich war man sich indes des Erfordernisses bewusst, „trotz des provisorischen und fragmentarischen Charakters des Bundes“93 diesem auch aus politischen Gründen eine Flagge zu geben. Neben der Notwendigkeit eines (zunächst wert- und bedeutungsneutralen) Symbols staatlicher Präsenz wurde die politische Bedeutung eines Sinnbilds in der besonderen Situation des geteilten Deutschlands zu Recht hoch eingeschätzt. Der mit einer Flagge zu symbolisierende Bund sollte „nichts anderes sein [...] als der heute einzige in wenigstens relativer Freiheit 87
Hattenhauer (o. Fn. 29), S. 34. Vgl. Hattenhauer (o. Fn. 29), S. 34. 89 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz der westlichen Besatzungszonen, Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, 1948, S. 24 f. 90 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, ebd., S. 25. 91 Hattenhauer (o. Fn. 29), S. 34. 92 Nach dem Kontrollratsgesetz vom 20.9.1945 besaß Deutschland keine offizielle Flagge mehr. Das Kontrollratsgesetz vom 12.11.1946 schrieb den deutschen Kauffahrteischiffen auf Hoher See als Erkennungszeichen eine Behelfsflagge vor, die sich auf das internationale Flaggenalphabet gründete („C-Stander“, versehen mit einem Einschnitt am Ende); diese Flagge diente vom 17.11.1946 bis zum 26.1.1950 als provisorische deutsche Handelsflagge; vgl. Hattenhauer (o. Fn. 29), S. 37. 93 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz (o. Fn. 89), S. 24. 88
Staat und Symbol
199
nach dem Willen des deutschen Volkes organisierte Teil Deutschlands.“94 Dem Staatssymbol wurde also in Anbetracht der politischen Gegebenheiten eine bislang nicht ausdrücklich erörterte Bedeutung beigemessen: Eine eigene Fahne vermochte die Existenz Deutschlands als Staat und als Mitglied der Staatengemeinschaft zu verdeutlichen. Während bei „vollsouveränen“ Staaten diese Funktion staatlicher Symbole zwar ebenfalls besteht, in ihrer Wirkung gegenüber dem Volk und nach außen hin faktisch aber in den Hintergrund tritt, da die staatliche Existenz als solche in der Regel unbestritten ist, stellte sich die Sachlage für Deutschland anders da: Zwar bewirkte die Kontinuität Deutschlands vor und nach 1945 auch einen Fortbestand der Souveränität,95 ihre Ausübung oblag jedoch den vier hauptverantwortlichen Siegermächten. Auch der Deutschlandvertrag im Jahre 1955 übertrug zwar der Bundesrepublik die „volle Macht eines souveränen Staates“, die Westmächte behielten indes ihre Zuständigkeiten betreffend „Deutschland als Ganzes“.96 Vergleichbar war die Situation in der DDR: Ein Jahr zuvor hatte die Sowjetunion den ostdeutschen Staatsteil ebenfalls für „souverän“ erklärt, gleichzeitig sich aber eine Reihe von „Funktionen“ vorbehalten.97 An diesem Raster sollte sich bis zum 3. Oktober 1990 nichts Wesentliches ändern. In dieser komplexen, intransparenten Situation war ein Symbol staatlicher Existenz vor allem für das Bewusstsein der Bürger, Staatsbürger Deutschlands und nicht bloße Bewohner einer Zone zu sein, von Bedeutung. Entsprechendes galt für die Stellung Deutschlands im Konzert der Staaten. Die Mehrheit des Konvents blieb aber nicht bei diesem ersten Schritt, der Vergegenwärtigung staatlicher Existenz als solcher, stehen. Die Bundesrepublik Deutschland sollte vielmehr als der legitime Sachwalter gesamtstaatlicher Bemühungen erscheinen. 94 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz (o. Fn. 89), S. 24. 95 Vgl. BVerfGE 36, 1 (15 f.). 96 Blumenwitz, Deutsche Souveränität im Wandel (1949–1999), in: Wehrrecht und Friedenssicherung. FS für Klaus Dau zum 65. Geburtstag, 1999, S. 3. 97 Blumenwitz, ebd., S. 3 f.
200
Philipp Molsberger
Damit kamen separate „westdeutsche“ Farben, eine „Westdeutschlandflagge“, von vorneherein nicht in Betracht.98 Nach der Intention des Konvents vermochte das künftige Gemeinwesen nur die „Farben zu führen, die in der gesamtdeutschen Tradition begründet sind.“99 Zur Begründung dieses Integration und Identifikation vermittelnden gesamtdeutschen Bedeutungsgehaltes von schwarz-rot-gold wurde zum einen im Konvent darauf verwiesen, dass diese Farbkombination schon im alten Reichsschild enthalten war,100 ein Ansatz, der in Anbetracht der historischen Farbengenese eher zweifelhaft ist. Zum anderen stellte man darauf ab, dass die Farben schwarz-rot-gold „seit Beginn einer deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung allgemein als die Embleme der Deutschen Republik“101 galten, bezog sich also auf den spezifisch im 19. Jahrhundert zu verortenden Ursprung – eine Rückbesinnung, die sich gerade in Anbetracht der fast gleichzeitig begangenen Hundertjahrfeier der Paulskirchenversammlung102 als besonders zugkräftig erweisen konnte. Mit dieser Begründungslinie war zum einen der Wunsch nach einer Wiedervereinigung des geteilten Landes deutlich ausgesprochen; zum anderen konnte durch die Rückbesinnung auf diese Epoche auch in der Symbolfrage klar zum Ausdruck gebracht werden, dass das künftige Grundgesetz kein „Ausfluss der Weimarer Verfassung“103 war, sich also nicht in politischer Kontinuität auf die Irrungen und Wirrungen der untergegangenen Republik zu gründen beabsichtigte. Der Mehrheitsvorschlag für Art. 23 des Herrenchiemseer Entwurfs eines Grundgesetzes104 lautete daher: 98
Hattenhauer (o. Fn. 29), S. 34. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz (o. Fn. S. 24. 100 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz (o. Fn. S. 24. 101 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz (o. Fn. S. 24. 102 Hattenhauer (o. Fn. 29), S. 34. 103 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz (o. Fn. S. 24. 104 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz (o. Fn. S. 63. 99
89), 89), 89), 89), 89),
Staat und Symbol
201
(1) Der Bund führt die schwarz-rot-goldene Flagge der Deutschen Republik. (2) Das nähere bestimmt ein Gesetz.
Der ebenfalls in den Entwurf aufgenommene Minderheitsvorschlag für Art. 23105 lautete hingegen: Bis zur Regelung durch ein Gesetz führen die Bundesbehörden, Auslandsvertretungen und Seeschiffe die Farben Schwarz-Rot-Gold.
Der Vorschlag derjenigen Kommissionsmitglieder, die sich gegen die Niederlegung einer Bestimmung über die Farben und die Flagge des Bundes im Grundgesetz aussprachen, wurde in einer Fußnote zum Entwurfstext106 ebenfalls aufgenommen. Die (Grundsatz-)Entscheidung des Herrenchiemseer Konvents für schwarz-rot-gold als Farben einer künftigen deutschen Flagge stand im Parlamentarischen Rat, der in Bonn vom 1. September 1948 bis zum 23. Mai 1949 tagte, kaum zur Diskussion.107 Umstritten war jedoch die Frage, ob eine „vorläufige“ oder eine „endgültige“ Regelung im Grundgesetz getroffen werden sollte.108 Genauso wenig bestand Einigkeit über die Form der zukünftigen Flagge. Während SPD und FDP keine Bedenken hatten, die alte Trikolore in unveränderter Form zu übernehmen (für die SPD war auch eine senkrechte Anordnung der Farbstreifen denkbar), kamen von Seiten der CDU Bedenken auf, das „Symbol des Scheiterns“ (Weimar) in unveränderter Form zum Sinnbild des neuen Staates zu erklären.109 Die CDU / CSU schlug daher für den neuen, die Farben- und Flaggenfrage regelnden Artikel des Grundgesetzes vor: Die Flagge des Bundes zeigt auf rotem Grunde ein schwarzes Kreuz und auf dieses aufgelegt ein goldenes Kreuz. 105
Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz (o. Fn. 89), S. 63. 106 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz (o. Fn. 89), S. 63 Fn. 1. 107 Die Eingaben aus der Bevölkerung an den Parlamentarischen Rat betreffend die Farben- und Flaggenfrage füllten insgesamt acht Bände, vgl. Rautenberg (o. Fn. 48), S. 21. 108 Hattenhauer (o. Fn. 29), S. 35. 109 Hattenhauer (o. Fn. 29), S. 35.
202
Philipp Molsberger
Dieser Flaggenentwurf110 entstammte der Feder des von den Nationalsozialisten hingerichteten Widerstandskämpfers Josef Wirmer, dessen Bruder Mitglied der CDU / CSU-Fraktion war. Das Kreuz in der Flagge sollte als Symbol für den die Kulturländer des Abendlandes einigenden Faktor, das Christentum, stehen. „Etwas in das Kunstgewerbliche hineingeraten“ erschien dem Liberalen Theodor Heuss dieser Entwurf. Auch für die Sozialdemokraten war der Vorschlag nicht akzeptabel, da er aus ihrer Sicht all diejenigen vor den Kopf stoßen musste, die im schleichenden Untergang der Weimarer Republik treu zu deren Farben gestanden hatten. Da auf Ausschussebene eine Einigung nur über die Farben, nicht aber betreffend die Gestalt der künftigen Flagge erzielt werden konnte, beschloss der Hauptausschuss unter Vorsitz von Carlo Schmid, dass die entsprechende Abstimmung bei der letzten Sitzung des Parlamentarischen Rates im Plenum erfolgen sollte.111 Diese zehnte Plenarsitzung fand am 8. Mai 1949 statt. Die SPD beantragte, dem künftigen Art. 22 GG betreffend die Farben- und Flaggenfrage folgenden Wortlaut zu geben:112 Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold.
Der diesbezügliche Vorschlag der CDU / CSU-Fraktion hingegen lautete: Die Bundesfarben sind schwarz, rot, gold. Über die Gestaltung der Flagge entscheidet ein Bundesgesetz.
Damit rückten die Christdemokraten in ihrem Antrag davon ab, die bevorzuge Gestaltung der Flagge nach dem skandinavischen Kreuzmuster bereits in der Verfassung zu verankern. Gleichwohl zeigt der Redebeitrag des Mitglieds des Parlamentarischen Rats Robert Lehr („dass uns daran liegt, in der Flaggengestaltung, in dem Flaggenbild, das Zeichen des Kreuzes zu 110
Siehe dazu Hattenhauer (o. Fn. 29), S. 35 f.; Rautenberg (o. Fn. 48),
S. 20. 111
Rautenberg (o. Fn. 48), S. 20 f. Deutscher Bundestag / Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. IX (Plenum), bearb. von Wolfram Werner, 1996, S. 587. 112
Staat und Symbol
203
verankern, das uns ein Symbol der abendländischen Kultur in Jahrhunderten der Geschichte der Menschheit gewesen ist“)113, dass die Union weiterhin für eine entsprechende Neugestaltung votierte. Das Ratsmitglied Ludwig Bergsträsser entgegnete für die SPD. Die Tradition von schwarz-rot-gold sei „Einheit und Freiheit, oder ich sage vielleicht besser: Einheit in der Freiheit.“114 Jeder Vorschlag einer anderen Formgebung als derjenigen, wie sie vor einhundert Jahren über dem Frankfurter Parlament wehte, entspräche „nicht der Situation gerade auch nach dem geistigen und dem psychologischen Gewicht hin [...]. Eine Flagge ist ein Symbol und als Symbol soll sie zweierlei Elemente enthalten: eines der Tradition und eines, ich möchte sagen, der inneren Willenserklärung; und diesen beiden Anforderungen genügt sie.“115 Der Grund, warum die SPD den Unionsvorschlag eines Kreuzmusters ablehne, sei nicht etwa Religionsfeindschaft oder Unkenntnis der kulturellen Grundlagen. Vielmehr sei sowohl im Interesse der Religionen als auch im Interesse des Staates ein Vermengen beider Gewalten zu vermeiden („denn die staatlichen Dinge sind – wir können sagen: leider! – oft nicht so, dass sie den großen ethischen Anforderungen gerecht werden“).116 Nach den beiden Redebeiträgen kam es zur Schlussabstimmung über den Wortlaut des künftigen Art. 22 GG. Der Antrag der CDU / CSU-Fraktion wurde mit 34 gegen 22 Stimmen abgelehnt, daraufhin derjenige der SPD mit großer Mehrheit (49 gegen 1 Stimme) angenommen.117 2. Art. 22 GG In Art. 22 GG hat der Verfassungsgesetzgeber seine Entscheidung über die Bundesflagge der Bundesrepublik Deutschland getroffen. Die Verbandskompetenz für diese Regelung liegt 113 Robert Lehr, zit. nach: Deutscher Bundestag / Bundesarchiv, ebd., S. 587 (Hervorhebung i.O.). 114 Ludwig Bergsträsser, zit. nach: Deutscher Bundestag / Bundesarchiv (o. Fn. 112), S. 588 (Hervorhebung i.O.). 115 Ludwig Bergsträsser, ebd., S. 588 (Hervorhebung i.O.). 116 Ludwig Bergsträsser, ebd., S. 588 (Hervorhebung i.O.). 117 Deutscher Bundestag / Bundesarchiv (o. Fn. 112), S. 589 f.
204
Philipp Molsberger
offensichtlich beim Bund und gründet in der Natur der Sache.118 Auch die Organkompetenz der Legislative zur Schaffung dieser Grundgesetzbestimmung begegnet keinen Zweifeln. Zwar liegt nach internationaler Praxis die Bestimmung und Ausgestaltung der Staatssymbole und der sonstigen Gegenstände staatlicher Selbstdarstellung beim Staatsoberhaupt, in der Bundesrepublik Deutschland damit beim Bundespräsidenten,119 dessen Entscheidung nach Art. 58 S. 1 GG einer Gegenzeichnung durch die Bundesregierung bedarf.120 Dem verfassungsgesetzgebenden Gesetzgeber war es freilich gestattet,121 die Entscheidungszuständigkeit über die zukünftige Bundesflagge an sich zu ziehen (Grundsatz der legislatorischen Allzuständigkeit).122 Die Ausgestaltung der durch Art. 22 GG vorgegebenen Bundesflagge erfolgte im Einzelnen dann durch Anordnung des Bundespräsidenten im Jahre 1950.123 In Bezug auf die Kompetenzfrage gilt gleiches für die jeweiligen Modifikationen der Bundesflagge, etwa die Bundesdienstflagge der Bundesbehörden124, die Dienstflagge der Seestreit118
Classen (o. Fn. 4), Art. 22 Rn. 7. Vg. etwa Classen (o. Fn. 4), Art. 22 Rn. 7; Wieland (o. Fn. 31), Art. 22 Rn. 15. 120 Herzog (o. Fn. 12), Art. 22 Rn. 32, Art. 60 Rn. 52. 121 Angesichts der Bedeutung der Flaggenwahl für Außendarstellung und Selbstverständnis des deutschen Staates nach dem „Tausendjährigen Reich“ war eine gesetzgeberische Regelung evtl. sogar im Sinne der Wesentlichkeitstheorie geboten, vgl. Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, S. 68; Murswiek, Verfassungsfragen der staatlichen Selbstdarstellung – Anmerkungen zur Staatspflege und zu staatlichen Selbstdarstellung im demokratischen Verfassungsstaat, in: Staat – Souveränität – Verfassung. FS für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, 2000, S. 324 f. 122 Herzog (o. Fn. 12), Art. 22 Rn. 32, Art. 60 Rn. 50. 123 Anordnung über die deutschen Flaggen vom 7.6.1950, BGBl. 1950 I S. 205: „Die Bundesflagge besteht aus drei gleich breiten Querstreifen, oben schwarz, in der Mitte rot, unten goldfarben. Verhältnis der Höhe zur Länge des Flaggentuches wie 3 zu 5.“ Die Flaggenführung auf Schiffen regelt das Flaggenrechtsgesetz vom 8.2.1951, BGBl. 1951 I S. 79, zuletzt geändert im Jahr 2004. 124 Die Bundesdienstflagge entspricht der Bundesflagge, trägt aber zusätzlich noch den schwarzen Bundesadler mit roten Klauen und Schnabel auf goldfarbenem Schild in der Mitte, vgl. Anordnung über die deutschen Flaggen vom 13.11.1996, BGBl. I S. 1729. 119
Staat und Symbol
205
kräfte der Bundeswehr125, die Truppenfahne der Bundeswehr126 oder die Standarte des Bundespräsidenten127, auch wenn letztere den Rahmen dessen, was noch als (modifizierende) Ausgestaltung der einen Bundesflagge verstanden werden kann, erheblich dehnt128. Art. 22 GG gestattet freilich solche Spezialsymbole, solange ihr Bedeutungsgehalt nicht gegen Telos und Grundaussage von schwarz-rot-gold verstößt. Auch hierfür liegt die Verbandskompetenz kraft Natur der Sache129 beim Bund. Die Organkompetenz hat der Bundespräsident inne und übt sie im Zusammenwirken mit der Bundesregierung aus,130 solange der Gesetzgeber die Materie nicht zur eigenen Regelung an sich zieht.131 So knapp Art. 22 GG auch gefasst ist, er wirft doch eine Reihe inhaltlicher Fragen auf: Bereits das Objekt der Regelung („Bun125
Entspricht der Bundesdienstflagge, ist zusätzlich aber am fliegenden (mastabgewandten) Ende eingeschnitten, Anordnung des Bundespräsidenten über die Dienstflagge der Seestreitkräfte der Bundeswehr (BGBl. 1956 I S. 447). 126 Entspricht der Bundesdienstflagge, ist aber quadratisch, mit schwarzrot-goldener Kordel und goldenen Fransen eingefasst, Anordnung über die Stiftung der Truppenfahnen für die Bundeswehr (BGBl. 1964 I S. 817). 127 „Die Standarte des Bundespräsidenten oder der Bundespräsidentin ist ein gleichseitiges, rotgerändertes, goldfarbenes Rechteck, darin der Bundesadler, schwebend, nach der Stange gewendet, Verhältnis der Breite des roten Randes zur Höhe der Standarte wie 1 zu 12“, Anordnung über die deutschen Flaggen vom 13.11.1996, BGBl. 1996 I S. 1729. 128 Hoog, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 5. Aufl. 2003, Art. 22 Rn. 18. 129 Die Ausgestaltungskompetenz für die entsprechenden Spezialflaggen kann nicht etwa direkt aus Art. 22 GG entnommen werden (so aber Huber, in: Sachs [Hrsg.], Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 22 Rn. 5), da Ausführungen des Grundgesetzes zu materiell-verfassungsrechtlichen Aspekten keine Verbandskompetenz begründen, Classen (o. Fn. 4), Art. 22 Rn. 7. 130 Dies gilt auch für andere Staatssymbole wie etwa die dritte Strophe des Deutschlandliedes, welche durch einen Schriftwechsel zwischen Bundespräsident von Weizsäcker und Bundeskanzler Kohl im Jahre 1991 als Nationalhymne bestätigt wurde, Wieland (o. Fn. 31), Art. 22 Rn. 16. Zum Deutschlandlied siehe auch Reichel, Schwarz-Rot-Gold – Kleine Geschichte deutscher Nationalsymbole, 2005, S. 32 ff. 131 Herzog (o. Fn. 12), Art. 22 Rn. 32, Art. 60 Rn. 32. Ausführlich Klein, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Lbl. Stand September 2005, Art. 22 Rn. 50 ff.
206
Philipp Molsberger
desflagge“) bedarf der Erörterung. Offenkundig ist, dass unter Bundesflagge das Staatssymbol zu verstehen ist, welches den deutschen Staat als Ganzes, nicht bloße Teile oder Behörden der Staatsorganisation, symbolisiert.132 Die Symbolisierung solcher Glieder oder Teile des Staatswesens ist den Spezialsymbolen vorbehalten. Da ein Teil eines Ganzen freilich nie dem Ganzen widersprechen darf, darf sich auch der aus der Gestaltung dieser Spezialflaggen ableitbare Bedeutungsgehalt nicht von der Grundaussage der Bundesflagge als Symbol des Gesamtstaates absetzen.133 Über den Gestaltungsbefehl für die eigentliche Bundesflagge hinaus entfaltet Art. 22 GG also eine Leitfunktion für alle staatlichen Symbole und fordert bei ihrer Ausgestaltung eine Orientierung an der Leitfunktion besitzenden Bedeutung des Dreifarbs (Gebot der Symbolwiderspruchsfreiheit).134 Näherer Betrachtung bedarf der Begriff „Flagge“. In der vexillologischen Fachterminologie135 versteht man darunter ein symbolisches Zeichen, dessen wesentliche Eigenschaft darin besteht, dass es mittels einer Leine an einer Stange o.ä. beweglich hochgezogen und wieder abgenommen werden kann.136 Diese Möglichkeit des Hissens besteht bei einer Fahne nicht, diese ist an ihrem jeweiligen Träger unbeweglich befestigt.137 Auch wenn die beiden Begriffe umgangssprachlich oft synonym verwendet werden, so besteht doch ein inhaltlicher Unterschied zwischen ihnen. Aus diesem vexillologischen Befund indes zu schließen, Art. 22 GG gestatte für fest montierte schwarz-rot-goldene Tu132
Herzog (o. Fn. 12), Art. 22 Rn. 32, Art. 60 Rn. 14. Schwarz-weiß-rote o.ä „Zusätze“ in Spezialflaggen dürften bspw. genauso wenig zulässig sein wie etwa Hammer, Ährenkranz und Zirkel als Emblem der ehemaligen DDR, vgl. Classen (o. Fn. 4), Art. 22 Rn. 6; Hoog (o. Fn. 128), Art. 22 Rn. 7. – Das Zeigen einer schwarz-weiß-roten Flagge durch Privatpersonen stellt als solches jedoch keine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar, vgl. VGH Mannheim, NJW 2006, 635 f. 134 Klein (o. Fn. 131), Art. 22 Rn. 38, 79; Huber (o. Fn. 129), Art. 22 Rn. 2a. 135 Umfangreiche Informationen zur Vexillologie (Fahnen- / Flaggenkunde) als historische Hilfswissenschaft liefert die Homepage der Deutschen Gesellschaft für Flaggenkunde e.V. (www.flaggenkunde.de). 136 Vgl. etwa Herzog (o. Fn. 12), Art. 22 Rn. 16. 137 Herzog (o. Fn. 12), Art. 22 Rn. 16. 133
Staat und Symbol
207
che als gesamtstaatliche Symbole der Bundesrepublik Deutschland andere Regeln als für bewegliche, wäre verfehlt; die Bestimmung ist demzufolge erweiternd auszulegen138 und erfasst alle Fahnen, Flaggen, Standarten und sonstigen Darbietungsformen139, mittels derer „der Sache nach flaggengleich“ die Bundesrepublik als Ganzes symbolisiert werden soll. Art. 22 GG gibt auch verbindlich eine Reihenfolge der in der Bundesflagge zu führenden Farben vor. Der Parlamentarische Rat beschloss bewusst die Verbindung der drei Farbarten mit Bindestrichen, während der Vorschlag der CDU / CSU-Fraktion, die eine von der Flagge der Weimarer Republik abweichende Gestaltung der künftigen Bundesflagge favorisierte, eine Verbindung mittels Kommata vorgeschlagen hatte. Die Vorgabe eines Nacheinander der Farben durch die Formulierung schwarz-rotgold führt zwangsläufig zur Form der Trikolore, da nur dieses Schema eine eindeutige Farbfolge erzielen kann.140 Hiervon ist freilich die Frage zu trennen, ob Art. 22 GG zusätzlich auch die dem Weimarer Vorbild entsprechende horizontale Anordnung der Farbstreifen gebietet, oder ob nicht genauso die in der europäischen Staatenlandschaft durchaus übliche vertikale Aneinanderfügung denkbar wäre.141 Mag auch der Wortlaut des Art. 22 GG die Ungewissheit nicht zu beseitigen, so führt doch eine historische Auslegung der Vorschrift recht eindeutig zu dem Ergebnis, dass die Bundesflagge dem Symbol der Einheitsund Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts sowie der Verbindung von Nation und Demokratie in Weimar entsprechend ausgestaltet („wie sie vor einhundert Jahren über dem Frankfurter Parlament wehte“)142 sein sollte.143 Der Parlamentarische Rat knüpfte bei seiner Entscheidungsfindung bewusst an die Tradi138
Herzog (o. Fn. 12), Art. 22 Rn. 16. Wieland (o. Fn. 31), Art. 22 Rn. 14. 140 Hoog (o. Fn. 128), Art. 22 Rn. 9. 141 So bspw. Hoog (o. Fn. 128), Art. 22 Rn. 9. 142 Ludwig Bergsträsser, zit. nach Deutscher Bundestag / Bundesarchiv (o. Fn. 112), S. 588 143 Vgl. Klein, Die Staatsymbole, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, S. 197. 139
208
Philipp Molsberger
tion von Einheit in Freiheit an. Die Ratsmitglieder, die sich für eine andere Formgebung aussprachen, stellten bei der Abstimmung über den künftigen Art. 22 GG eine klare Minderheit dar. Die Vorstellungen und Absichten des Verfassunggebers können bei der Bestimmung des Regelungsgehalts des Art. 22 GG herangezogen werden144 und sind in der Lage, den bei einer allein am Wortlaut orientierten Auslegung weit erscheinenden Tatbestand der Norm zu präzisieren. Art. 22 GG überlässt, richtig verstanden, die Entscheidung über die Gestalt der Flagge im Sinne eines Für oder Gegen horizontale Streifen nicht „der politischen Entscheidung der Verfassungsorgane“.145 Diese wesentliche Entscheidung hat der Verfassunggeber selbst getroffen, der „unversperrt“ erscheinende Wortlaut der Bestimmung dürfte in Anbetracht des nachweislichen Entscheidungsprozesses im Herrenchiemseer Konvent und im Parlamentarischen Rat nicht für eine bewusste Nichtregelung der Flaggengestaltung sprechen. Vielmehr ist anzunehmen, dass dem Verfassunggeber offensichtlich war, dass der mit überwältigender Mehrheit beschlossene Wortlaut des Art. 22 GG für die Bundesflagge des künftigen deutschen Staates kein anderes Formgebot als das von Frankfurt und Weimar beinhalte. Art. 22 GG schreibt somit neben der aus der vorgegebenen Farbreihenfolge zwangsläufig resultierenden Trikoloregestaltung auch die horizontale Farbenanordnung vor.146 Art. 22 GG regelt nach herrschender Meinung auch die Bundesfarben.147 Treffend erscheint der Ansatz, die für die Nationalflagge ausgesuchte Farbkombination „automatisch“ dann als 144
Anderer Auffassung ohne weitere Begründung Hoog (o. Fn. 128), Art. 22 Rn. 9. 145 So aber Herzog (o. Fn. 12), Art. 22 Rn. 13. 146 Klein (o. Fn. 145), S. 197; ders. (o. Fn. 131), Art. 22 Rn. 30; Wieland (o. Fn. 31), Art. 22 Rn. 14 stützen sich neben der historischen vor allem auf eine teleologische Interpretation des Art. 22 GG; gegen eine Entscheidung des Art. 22 GG für die horizontale Farbanordnung Hoog (o. Fn. 128), Art. 22 Rn. 9; Herzog (o. Fn. 12), Art. 22 Rn. 13; unentschieden Classen (o. Fn. 4), Art. 22 Rn. 5. 147 Bspw. Herzog (o. Fn. 12), Art. 22 Rn. 17; Klein (o. Fn. 131), Art. 22 Rn. 8; Wieland (o. Fn. 31), Art. 22 Rn. 14; Murswiek (o. Fn. 121), S. 313; s.a. BVerfGE 2, 1 ff. (62); a.A. bspw. Hoog (o. Fn. 128), Art. 22 Rn. 7.
Staat und Symbol
209
Bundesfarben anzusehen, wenn daneben keine weiteren Farben als Symbole des Gesamtstaates gewählt wurden. Dies ist, anders als in Art. 3 Satz 1 WRV, bei schwarz-rot-gold offensichtlich der Fall. Der Parlamentarische Rat entschied sich bewusst gegen eine Mehrzahl von Farbsymbolen. Auf diese Weise sollte ein neuer Flaggenstreit von vorneherein vermieden und mittels schwarz-rot-gold allein das Bekenntnis Deutschlands zu Freiheit und Einheit148 verkörpert werden. Bezeichnenderweise sah auch der bei der Schlussabstimmung letztlich unterliegende Antrag von CDU / CSU betreffend die Flaggenfrage schwarz-rot-gold als Bundesfarben vor.149 Der mit großer Mehrheit angenommene Antrag der SPD war diesbezüglich nicht etwa der Gegenentwurf zum Vorschlag der Union. Vielmehr votierten die Sozialdemokraten für ein „Mehr“ an Symbolregelung, das auch die Flaggengestaltung umfassen sollte. Über den Wortlaut des Art. 22 GG hinaus sind damit auch die Bundesfarben der Bundesrepublik Deutschland festgelegt worden. IV. Zusammenfassung Jede Gemeinschaft bedarf ihrer Symbole.150 Für den Staat gilt nichts anderes. Gerade die deutsche Geschichte der letzten zweihundert Jahre zeigt wechselvolle Erfahrungen mit Symbolen. Schwarz-rot-gold und schwarz-weiß-rot, die rote Fahne, die Swastika, der Bundesadler, die goldenen Sterne auf blauem Grund151 und viele weitere Symbole152 stehen für Prägung und 148
Wieland (o. Fn. 31), Art. 22 Rn. 14. Deutscher Bundestag / Bundesarchiv (o. Fn. 112), S. 587. 150 Vgl. Graf zu Dohna (o. Fn. 9), S. 200. 151 Die „Europaflagge“, die Flagge der EG, ist kein deutsches Hoheitszeichen. Nach einem Erlass des Bundesinnenministeriums aus dem Jahre 1986 wird sie jedoch bei „Anlässen mit europäischem Bezug“ gehisst; die bisherige Kompetenz der Gemeinschaft zur Schaffung einer Flagge wird aus ihrer Organisationsgewalt abgeleitet, vgl. Wieland (o. Fn. 31), Art. 22 Rn. 10. Ursprünglich war die Flagge Symbol des Europarats; nachdem das Europäische Parlament im Jahre 1983 die Flagge angenommen hatte, wurde sie ab 1986 aufgrund eines Ratsbeschlusses der Staats- und Regierungschefs als offizielles Emblem der Europäischen Gemeinschaften übernommen; mittlerweile stellt sie (auch) das Symbol der Europäischen Union dar, Zip149
210
Philipp Molsberger
Polarisierung des deutschen Gemeinwesens in Vergangenheit und Gegenwart. Von Frankfurt über Weimar nach Bonn und Berlin waren die Debatten über nationale Zeichen oft heftiger als die Diskussionen über die von ihnen symbolisierten Ideen und Ideologien.153 Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich daher nicht für ein „Kaninchenfell als Reichsflagge“ (Gottfried Benn)154 entschieden, sondern bewusst an die Tradition des in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnenen und von Rückschlägen begleiteten Kampfes für Einigkeit, Recht und Freiheit angeknüpft.155 Art. 22 GG verleugnet nicht die Weimarer Republik: Zwar ist das Grundgesetz gerade auch in diesem Artikel nicht als „Ausfluss der Weimarer Verfassung“156 oder gar als Kopie konzipiert.157 In seinem spezifisch demokratisch-republikanischen Bedeutungsgehalt ist Art. 22 GG aber eher Weimar denn Frankfurt verbunden.158 Die in Art. 22 GG verankerte Flagge ist in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland angekommen. Schwarz-rot-gold ist für den größten Teil der Bevölkerung – besonders eindrucksvoll zeigte sich dies jüngst in den Stadien und auf den Straßen während der Fußballweltmeisterschaft – das anerkannte Staatssymbol. Die Farben repräsentieren und pelius / Würtenberger (o. Fn. 121), S. 70. Im Vertrag über eine Verfassung für Europa ist die Europaflagge als Symbol der Union ausdrücklich in Art. I-9 niedergelegt, die bestehende Praxis also verrechtlicht worden, Streinz / Ohler / Herrmann, Die neue Verfassung für Europa – Einführung mit Synopse, 2005, S. 56; Krausnick (o. Fn. 18), S. 132 ff.; zur europäischen Dimension vgl. auch Graf Vitzthum, Die Identität Europas, EuR 2002, 1 ff. 152 Bspw. Nationalhymnen, Feiertage, Gebäude, dazu instruktiv Reichel (o. Fn. 130). 153 Krüger (o. Fn. 9), S. 226. 154 Zit. nach Knopp / Kuhn, Das Lied der Deutschen. Schicksal einer Hymne, 1988, S. 107. 155 Wieland (o. Fn. 31), Art. 22 Rn. 1. 156 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz (o. Fn. 89), S. 24. 157 Hierzu Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. 1999. 158 Vgl. Herzog (o. Fn. 12), Art. 22 Rn. 11.
Staat und Symbol
211
symbolisieren unser Land, seine Menschen und (das wichtigste!) die wechselseitige Beziehung beider. Das einzige ausdrücklich in der Verfassung verankerte Staatssymbol hat integrative Kraft entwickelt und den Wertegemeinschaftscharakter unseres Staatswesens gestärkt – jedenfalls in weiten Teilen der Gesellschaft. Ende des Jahres 2003 gab es erheblichen Wirbel um die Berliner Pop-Gruppe ‚MIA.‘. Die sich selbst als „links“ bezeichnende Band bemühte sich – angeregt von der im Ausland unter anderem aufgrund der Positionierung der Regierung Schröder zum Irak-Krieg als positiv erfahrenen Belegung Deutschlands159 – um einen neuen Umgang mit den Farben der Bundesrepublik Deutschland. Die Musiker von MIA. zeigten sich bei Auftritten in schwarz-rot-gold gewandet und sangen in dem Lied „Was es ist“160: Ein schluck vom schwarzen kaffee macht mich wach Dein roter mund berührt mich sacht In diesem augenblick es klickt Geht die gelbe sonne auf. […] Und die schwarze nacht hüllte uns ein Mein roter mund will bei dir sein In diesem augenblick es klickt Leuchtet uns ein heller tag.
159
Schwarz-rot-gold hat gerade im Ausland einen oft hohen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad. Daher sind etwa die Soldaten deutscher Auslandskontingente regelmäßig darauf bedacht, die Bundesflagge möglichst deutlich erkennbar als Hoheitszeichen zu führen; zumindest eine Zeit lang galten die deutschen Farben am Hindukusch als wertvolle „Lebensversicherung“. – Amerikanischen Spezialeinheiten wird vorgeworfen, die Beliebtheit von schwarz-rot-gold dahingehend auszunutzen, dass sie bei sog. „Antiterror-Einsätzen“ im Rahmen der Operation Enduring Freedom die Bundesflagge an Jeeps o.ä führen, vgl. etwa Joachim Hagen, NDR Info – Streitkräfte und Strategien, gesendet am 7.8.2004, Text des Beitrags im Internet abrufbar unter www.ag-kdr-res-bw.de / Doc / Manuskript_2004_ 08_07.pdf. 160 Der Titel „Was es ist“ geht auf das gleichnamige Gedicht des in Wien geborenen Dichters Erich Fried (1921–1988) zurück. Beide Werke behandeln das Thema Liebe, bei MIA. speziell zum „Leben“ und zum „Land“.
212
Philipp Molsberger
Diese so ungewöhnliche wie für das (zumindest ganz) linke Spektrum völlig ungewohnte positive161 Perzeption der deutschen Farben in der traditionell eher „staatsfernen“ jugendlichen Musikkultur sorgte sogleich für heftigen Unmut. Es gab Protestkundgebungen vor Konzerten von MIA., die Band wurde mit Eiern und Unrat beworfen, ein Auftritt musste abgebrochen werden. In den folgenden Wochen und Monaten entspann sich ein umfangreicher Diskussionsprozess in der linken Szene – das Problem der Beziehung von (linker) Popkultur und Nation als Neuauflage der Frage des Verhältnisses von Dichter und Staat? Neben den allfälligen Beschimpfungen und Unflätigkeiten in diversen Diskussionsforen (vor allem im Internet) kristallisierte sich eine bemerkenswerte Neuausrichtung einiger der zumeist jugendlichen Diskussionsteilnehmer im Hinblick auf ihre Einstellung zu schwarz-rot-gold und damit „zu Deutschland“ heraus. Im Kern geht es dabei um die Entwicklung eines nichtpolitischen Verhältnisses162 zum Staat, man könnte von einer „spielerisch“ anmutenden Annäherung an die Wertegemeinschaft Deutschland („frische spuren in den weißen strand“163) sprechen. Diese Sichtweise lässt sich mittlerweile immer häufiger vorfinden und hat zu einem deutlich entkrampfteren Verhältnis auch üblicherweise distanzierter Bevölkerungsgruppen zu unserem Land geführt – die weitere Entwicklung ist hier mit Spannung abzuwarten. Zum Abschluss wollen wir Berlin und seine Musikszene verlassen und in die Gegend um den Vierwaldstättersee, den Aus161 Schmähungen und Beschimpfungen der Farben bzw. der Bundesflagge oder anderer Symbole der Bundesrepublik Deutschland waren und sind in der sich selbst als „links“ einschätzenden Kulturszene häufig. Beispielhaft kann hier die Abbildung eines auf die Bundesflagge urinierenden Menschen oder die drastisch-negative „Umdichtung“ des Deutschlandliedes genannt werden; die strafgerichtliche Ahndung beider Beispiele wurde im übrigen vom Bundesverfassungsgericht als unzulässiger Eingriff in die Kunstfreiheit, Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, bewertet, BVerfGE 81, 278 ff.; 81, 298 ff. 162 Vgl. hier Graf Vitzthum (o. Fn. 22), S. 30. 163 MIA., „Was es ist“. Für diese Zeile wurde die Band besonders heftig kritisiert, da hierin (fälschlicherweise) ein Votum für einen „Schlussstrich unter die deutsche Geschichte“ gesehen wurde.
Staat und Symbol
213
gangsort der Betrachtungen, zurückkehren. Friedrich von Schiller verleiht dem Hut im Fünften Aufzug von Wilhelm Tell einen Bedeutungsgehalt, der (cum grano salis) angesichts der gegenwärtigen Diskussionen in Wissenschaft und Rechtsprechung über die Strafbarkeit des Verwendens durchgestrichener Hakenkreuze von gewisser Aktualität164 ist: Gessler, der Reichsvogt in Schwyz und Uri ist tot, die Tyrannei liegt in Trümmern. Das Horn wird geblasen, die Menge sammelt sich um das verhasste Symbol der überwundenen Unterdrückung. Der gewordene Souverän entledigt sich nun nicht etwa des verblichenen Zeichens, wie es die Machthaber des NS-Regimes mit den Bundesfarben der Weimarer Republik taten und wie nach 1945 die Bundesrepublik Deutschland – freilich zu Recht – mit der Swastika verfuhr. Vielmehr wandelt er den Wert dessen, wofür der Hut einst stand, und verleiht ihm neuen Bedeutungsgehalt – ehedem Diktatur, jetzt freiheitlich rechtstaatliche Demokratie. Oder, mit den Worten Schillers: Hier ist der Hut, dem wir uns beugen mussten. Gebt uns Bescheid, was damit werden soll. Gott! Unter diesem Hute stand mein Enkel! Zerstört das Denkmal der Tyrannenmacht! Ins Feuer mit ihm! Nein, lasst ihn aufbewahren! Der Tyrannei musst’ er zum Werkzeug dienen, Er soll der Freiheit ewig Zeichen sein!
Gewiss: Als Staatssymbol taugt das negierte Zeichen der NS„Bewegung“ keinesfalls, Schillers Tell kann und soll insofern der Bundesrepublik Deutschland nicht als Beispiel dienen – auch die Eidgenossenschaft wählte ja letztlich das Schweizerkreuz und nicht den Gesslerhut. Ob freilich der – verfassungstreuen – Bevölkerung das Tabu, die damnatio memoriae, das „Ins Feuer mit ihm“ als einzig akzeptable Form des Umgangs mit Relikten der Tyrannis befohlen werden kann, ist eine andere Frage …
164 Etwa LG Tübingen, Urt. v. 16.3.2006 – 23 Ns 15 Js 11522 / 05; BGH, NJW 2007, 1602 ff.; w.N. bei Lackner / Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 86a Rn. 4; s.a. Molsberger / Wax, Tatbestand und Korrektur, JZ 2006, 140 ff.
Diskussionsbericht Von Michael Allmendinger (I. – III.) und Alexander Kees (IV. – VI.)
I. Jörn Axel Kämmerer eröffnete die von ihm geleitete Diskussion zum Luftsicherheits-Referat mit Diskussionsanstößen zu den „Grenzgängen“ von Wolfgang März. Im Hinblick auf die Frage, ob der staatlich angeordnete Abschuss eines als Terrorwaffe missbrauchten Passagierflugzeugs gerechtfertigt werden könne, stoße das Staatsrecht wohl in der Tat an seine Grenzen. Habe der Staat nicht auch eine Schutzpflicht gegenüber den am Boden bedrohten Bürgern? Könne mit Hilfe des Aufopferungsoder des Notrechtsgedankens ein staatlicher Abschuss nicht doch gerechtfertigt werden? Wolfgang Graf Vitzthum unterstrich die von März herausgearbeiteten verfassungsgeschichtlichen und rechtsvergleichenden Aspekte des Themas. Auch er verbinde die Diskussion um ein Luftsicherheitsgesetz mit der Frage nach den Grenzen des Staates bzw. nach den auch funktionellrechtlichen Grenzen der Schutzpflichten der einzelnen Staatsorgane. Mit Paul Tillich sei ihm „die Grenze der Ort der Entscheidung“, aber Grenzen ließen sich ja auch verändern, überwinden. Eckhard Barth sprach zunächst rechtspraktische Aspekte eines etwaigen Indemnitätsakts an. Wie solle eine solche staatliche Maßnahme die Strafverfolgung der Akteure oder gar die zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche der Betroffenen bzw. Hinterbliebenen verhindern können? In seiner Antwort verwies März hinsichtlich der durch einen Indemnitätsakt staatlich angeordneten Nichtdurchsetzbarkeit zivilrechtlicher Ansprüche auf
216
Michael Allmendinger / Alexander Kees
das Staatshaftungsrecht. Die Folgen des Handelns der staatlichen Akteure müssten staatshaftungsrechtlich geregelt, aber auch begrenzt werden. Ein Indemnitätsgesetz könne dem Solidaritätsgedanken durch entsprechende Versicherungen oder Entschädigungen im Vorfeld Rechnung tragen. Kämmerer betonte die Schwierigkeit, den Anwendungsbereich einer solchen Indemnitätsmaßnahme festzulegen. Wie sollte der Fall der Fälle definiert werden? Graf Vitzthum zog in diesem Kontext Vergleiche zum Umweltrecht, auch zum Institut der existenziellen Gefährdung. Sollte das gefährliche Flugobjekt in einem konkreten Fall Vorbote eines größeren, umfassenderen Angriffs sein, könne man wohl auch an das Rechtsinstitut des Staatsnotstands denken. Ein solcher sei ja in Extremfällen anerkannt, er ließe sich auch nachträglich feststellen. Aber handele es sich bei dem vom Luftsicherheitsgesetz in Auge gefassten, begrenzteren Szenario um einen Staatsnotstand? Hier zeige sich, dass Notstandsrecht, Verteidigungsfall und vergleichbare Rechtsinstitute auf diese Sonderlage nicht recht passten und dass letztlich, wenn konkret zu entscheiden sei, zwischen Schutzpflichten und Freiheitsrechten abzuwägen sei. Im Hinblick auf die strafrechtliche Verfolgung der Akteure fragte Kai Trümpler nach. Was sei eigentlich der Unterschied zwischen einem Indemnitätsgesetz und einem neugeschaffenen entschuldigenden Notstand, etwa einem § 35a StGB? März erläuterte, auch ein Indemnitätsgesetz würde letztlich eine Freistellung im Sinne einer Entschuldigung darstellen. Diese könne gegebenenfalls erst nachträglich, in Form eines Einzelfallgesetzes, erfolgen. Sie wäre somit eher mit einer Begnadigung oder mit einer Amnestie zu vergleichen. Hierzu bemerkte Philipp Molsberger, dem eigentlichen Problem werde dadurch aber nicht abgeholfen. Zwar werde das Individuum vor Strafverfolgung geschützt, der Staat handele aber nach wie vor ohne gesicherte Ermächtigungsgrundlage. Nicht die Rechtmäßigkeit der Handlung solle durch ein solches Indemnitätsgesetz gegebenenfalls sichergestellt werden, betonte daraufhin März; dies sei im Hinblick auf die betroffene, „unantastbare“ Menschenwürde auch kaum denkbar. Jedoch stehe außer Frage, dass in einer
Diskussionsbericht
217
solchen extremen Situation – ein anfliegendes von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug – die verantwortlichen Stellen handeln müssten. Die Entlastung von Strafverfolgung könnte dann die Motivation für ein Initiativwerden erhöhen. Keinesfalls würde dies die Sache – den etwaigen Abschuss der vollbesetzten Maschine – „besser“, gar im Ergebnis rechtmäßig machen. Alexander Proelß verwies in diesem Zusammenhang auf verfassungsdogmatische Implikationen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz. Die Betonung der Rechtswidrigkeit aufgrund des durch den Abschuss des Flugzeugs erfolgenden Eingriffs in die Grundrechte der Passagiere hierarchisiere den Grundrechtsgehalt in dem Sinn, dass der Abwehrgehalt eines Grundrechts prinzipiell Vorrang vor den staatlichen Schutzpflichten genieße. Hier scheinen auch die von Graf Vitzthum thematisierten funktionell-rechtlichen Grenzen der Rolle der Gerichtsbarkeit, der Dritten Gewalt, auf. Ursula Blanke-Kießling warf die Frage auf, ob im Zuge einer weiteren Privatisierung das Problem der Grundrechtsbindung nicht dadurch umgangen werde, dass der etwaige Abschuss auf eine private Sicherheitsfirma übertragen werde. Demgegenüber betonte Kämmerer die verbleibende, nicht abschüttelbare Ingerenzhaftung des Staates aufgrund von Schutzpflichtverletzungen durch mangelnde Vorfeldkontrolle. Freilich wäre in einem solchen Fall ein Haftungsausschluss zugunsten des Staates aufgrund der Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB denkbar. Graf Vitzthum lehnte eine auf diesem Privatisierungspfad erstrebte Freizeichnung des Staates als „nicht möglich“ ebenfalls ab. Zugleich kritisierte er die „liberalistische“ Perspektive des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum Luftsicherheitsgesetz. Die Bedeutung der Schutzpflichten, der nach Thomas Hobbes primären Staatsaufgabe „Sicherheit“ also, werde nicht hinreichend gewürdigt. Gewiss, derartige Rechtslagen an der Grenze des Staatsrechts seien nur schwer normierbar; der missglückte Versuch einer Kodifizierung und damit Positivierung des Widerstandsrechts in Art. 20 Abs. 4 GG habe das gezeigt. Letztlich sei es in diesen Grenzfällen an den Handlungsfähigen, Initiative zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen, mit allen
218
Michael Allmendinger / Alexander Kees
daraus auch für sie selbst resultierenden Konsequenzen. Das Bundesverfassungsgericht habe aber bereits in seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch das zu schützende – und schutzlose – werdende Leben im Ergebnis weitestgehend zur Disposition, also zum Abbruch, gestellt, zugunsten des Selbstbestimmungsrechts der werdenden Mutter. Aus der Perspektive der Herabstufung jener staatlichen Schutzpflichten gegenüber diesen Freiheitsrechten setze die aktuelle Entscheidung die zum Schwangerschaftsabbruch fort. In beiden Fällen wurde die Schutzpflicht des Staates (für das werdende Leben bzw. für die Personen am Boden) zurückgenommen, im ersteren Fall durch den Gesetzgeber, im Luftsicherheitsfall durch die Judikative – eine dogmatisch zulässige Herabstufung? März wies in diesem Zusammenhang auf einen seiner Ansicht nach bedeutenden Unterschied hin. Im Falle des Schwangerschaftsabbruchs bestehe ein besonderes Näheverhältnis zwischen den betroffenen Rechten. Ein solches lasse sich im Falle der Flugzeuginsassen und der sich am Boden befindlichen Menschen nicht feststellen. Beiden Entscheidungen sei zwar ein gewisser Grad an Utilitarismus nicht abzusprechen; er halte freilich an seiner Ansicht fest, dass die gesetzliche Herstellung der Rechtmäßigkeit des Abschusses eines vollbesetzten Flugzeuges zur Terrorabwehr verfehlt sei, nämlich eine Verletzung der Grenzen des Staates, hier: der Grenzen der Schutzpflicht des Staates. II. Zu Beginn der von ihm geleiteten Diskussion zum Privatisierungs-Referat von Jörn Axel Kämmerer bemerkte Wolfgang März, private Rechtsetzung sei durchaus nichts gänzlich Neues; sie komme zudem gerade im Technikrecht häufig vor. Problematisch sei „Rechtsetzung durch Private“ dann, wenn der Staat wesentliche Aufgaben aus der Hand gebe, diese aber weitestgehend privaten Akteuren überlasse. Hier stellten sich dann nicht nur staatsorganisatorische Fragen wie etwa im Hinblick auf die Flugsicherung; vielmehr könnten auch grundrechtliche Aspekte, zumal im Bereich des Hochschulrechts, betroffen sein.
Diskussionsbericht
219
Letztlich stelle sich stets die Frage, inwiefern Privatisierungsakte noch mit dem Demokratieprinzip vereinbar seien, wenn die verbleibende staatliche Ingerenz mehr und mehr auf ein bloßes Letztentscheidungsrecht schrumpfe. Rechtssetzung durch private Akteure sei in der Tat nichts Ungewöhnliches, meinte Kämmerer. Jedoch seien heute zunehmend die Funktionsgrundlagen der Gesellschaft betroffen. Auch in diesen wesentlichen Bereichen ziehe sich der Staat in bedenklicher Weise zurück – auf sein durch die entstandenen „Lagen“ bereits in mancher Hinsicht präjudiziertes Recht der Letztentscheidung. Soweit die unmittelbare Wahrnehmung von Staatsaufgaben durch den Staat selbst zurückgehe, könne dies auch zur Konsequenz haben – so Wolfgang Graf Vitzthum –, dass der Staat als identitätsstiftende Größe, als ein integrationsfähiges und erhaltenswertes Gefüge aus dem Blick gerät. Jenes Sich-Zurück-Nehmen des Staates äußere sich auch darin, dass staatliche Handlungen zunehmend von „weichen Formen“ bestimmt würden, etwa im Wege von Mediation im Planungs- und Genehmigungsverfahren beim Ausgleich verhärteter widerstreitender Interessen. Die Grenze zur Selbstaufgabe des Staates und zum damit verbundenen Rechtstaats- und Demokratieverlust könne insoweit fließend werden. Dies zeige sich etwa an der sogenannten e-governance-Initiative, bemerkte März. Hier mache sich der Staat in seiner Leistungsfähigkeit von einem Kommunikationsmittel abhängig, das er letztlich nicht mehr selbst kontrollieren könne. Welche Aufgaben der Öffentlichrechtler im Horizont dieser Entwicklungen habe, fragte Graf Vitzthum. Müsse er lediglich den faktischen Wandel „in Form bringen“ und so zu dessen Legalisierung und Positivierung beitragen? Oder sollten wir „das Faktische“ nicht vielmehr kritischer normativer Würdigung unterziehen, die Veränderungen also nicht einfach „notifizieren“ und das Recht entsprechend „nachführen“, sondern im Hinblick auf die Vereinbarkeit der Änderungen mit dem Demokratieprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip überprüfen? Bereits gegen die These, der Staat wirke identitätsstiftend, meldete Kämmerer Bedenken an. Weniger dem Staat als sol-
220
Michael Allmendinger / Alexander Kees
chem als dem Land komme diese Eigenschaft potenziell zu. Die „harten Formen“ als traditioneller Modus staatlichen Handelns verschwänden im Übrigen tatsächlich mehr und mehr, der Staat füge sich auch insoweit zunehmend in die Gesellschaft ein. In Zukunft werde sogar die Unterscheidung Öffentlichrechtler / Zivilrechtler verschwinden. Was bleibe, sei die besondere Rolle des Staats- und Verfassungsrechtlers. Dieser habe die künftigen Entwicklungen im Übergangs- und Überschneidungsbereich Staat / Gesellschaft vorherzusehen, die diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Auswirkungen darzustellen und gegebenenfalls vor ihnen grenzziehend und öffentlich zu warnen. Alexander Proelß griff den Gedanken auf, die Verfassungsmäßigkeit der Privatisierung der Flugsicherung an Art. 79 Abs. 3 GG zu messen. Hier stelle sich jedoch die Frage, inwiefern diese Kernbestimmung überhaupt betroffen sein könnte. Gerade bei der Privatisierung der Flugsicherung, konzedierte Kämmerer, seien viele Fragen offen. Je nach Grad der Privatisierung sei zumindest nicht auszuschließen, dass Kernbereiche möglicherweise betroffen seien. Dies sei letztlich von der Intensität der Regulierung, der Effektivität des Grundrechtsschutzes und der verbleibenden Kontrollkompetenzen des Staates abhängig. Zu bedenken sei dabei auch, dass, jedenfalls nach momentaner Ausgestaltung, die Möglichkeit bestehe, dass künftig auch eine im Ausland ansässige private Gesellschaft für die deutsche Flugsicherung zuständig wäre. Insoweit frage sich dann, inwieweit ein solcher Akteur als Beliehener überhaupt deutsche Staatsgewalt ausüben könnte. Michael Kanz sprach die zunehmend auch im internationalen Bereich zu beobachtenden Privatisierungstendenzen an, etwa im Bereich der Telekommunikation. So sei INTELSAT zunächst als eine Internationale Organisation gegründet, später dann in ein privates Unternehmen, das von einer Internationalen Organisation reguliert werde, umgewandelt worden. Kämmerer betonte demgegenüber, ein Zugriff der Staaten sei hier nur noch in beschränktem Maße möglich. Letztlich zeige sich auch hier, dass sich der Staat ubiquitär auf dem Rückzug befinde. Dies treffe besonders für technische Bereiche zu. Entsprechende nichtstaatliche Gremien seien aufgrund ihrer
Diskussionsbericht
221
besseren Sachkenntnis letztlich ohnehin in jedem Fall zu beteiligen. Der Frage nach einem tragfähigen Kriterium für Grenzen der Privatisierung ging Daniel Hahn nach. Hierzu verwies er auf die Wesentlichkeitstheorie. Demnach könnte der Grad des zu erwartenden Eingriffs in Grundrechte als ein Indikator für die Zulässigkeit einer Privatisierungsmaßnahme herangezogen werden. Kämmerer stimmte diesem Ansatz im Ergebnis zu, wies freilich darauf hin, dass die Wirkung der Grundrechte in diesem Bereich nicht überschätzt werden dürfe. Gerade bei Minderheitsbeteiligungen des Staates stelle sich ja auch die Frage nach den verbliebenen Möglichkeiten seiner Kontrolle. Anders formuliert: Wie hoch muss die Beteiligung der öffentlichen Hand sein, um dem Rechtstaats- und dem Demokratieprinzip (noch) zu genügen? Kai Trümpler unterstrich, es bestehe eine gewisse Diskrepanz zwischen Regulierungsmaßnahmen durch Private einerseits und dem Interesse der privaten Akteure an Gewinnmaximierung andererseits. Schließe letzteres nicht eine unbegrenzte Regulierung durch Private aus? Hierzu verwies Kämmerer zunächst auf die Ansicht der Europäischen Union, wonach Wettbewerb als solcher stets positiv zu bewerten sei. Diese Wirkungen seien aber im Privatisierungsfall beschränkt, da die Interessen der Privaten nicht spezifisch auf die Regulierung der Marktprozesse gerichtet seien. Letztlich bleibe der Staat auch deshalb, als unabhängige Größe in diesem Regulierungsprozess, zur tatsächlichen Herstellung des Gemeinwohls unentbehrlich. Abschließend wies Graf Vitzthum darauf hin, dass die intensivierte Diskussion um die Privatisierung staatlicher Aufgaben im Verwaltungsrecht auch die teilweise disparate (ewige) Diskussion um das Gemeinwohl im Staatsrecht animiert und ein gutes Stück weiter geführt habe. III. Wolfgang März unterstrich zu Beginn der von ihm geleiteten Diskussion zum Verfassungsprozessrechts-Referat von Alexan-
222
Michael Allmendinger / Alexander Kees
der Proelß die Bedeutung des Prozessrechts für den Bürger. Letztlich wäre das materielle Recht ohne die durch das Prozessrecht hergestellte Durchsetzbarkeit wenig wert. Wolfgang Graf Vitzthum unterstrich die Aktualität des Problems der Jurisdiktionskonflikte („geradezu ein Modethema, auch im Völkerrecht“). Nicht nur das Verhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof, sondern auch das zwischen Karlsruhe und Straßburg sei belastet. Beobachtenswert sei zudem das Verhältnis zwischen Straßburg und Luxemburg. Insgesamt äußerte er Kritik am Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts, wonach dieses bei Verfassungsbeschwerden, aufgrund der Beschränkung des Prüfungsmaßstabes auf die Grundrechte, eine Verpflichtung zur Vorlage zum Europäischen Gerichtshof nicht erkennen könne. Auch Thomas Oppermann kritisierte diesen Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts. Dieses Verhalten Karlsruhes sei „unschön“. Andere mitgliedsstaatliche Verfassungsgerichte hätten eine Vorlagepflicht ihrerseits bejaht und dies längst auch praktiziert. Letztlich sei das Ziel doch die einheitliche Auslegung der europäischen Rechtsordnung, und die Verfolgung dieses Ziels falle nun einmal in die Kompetenz des Europäischen Gerichtshofs. Proelß betonte demgegenüber die politische Sensibilität der Frage nach der Vorlagepflicht des Verfassungsgerichts. Im Übrigen sei ein Vergleich mit anderen europäischen Verfassungsgerichtshöfen nur bedingt möglich. So habe etwa der österreichische Verfassungsgerichtshof, im Unterschied zum Bundesverfassungsgericht, auch Zugriff auf das einfache Recht. Dennoch gebe es Konstellationen, in denen auch eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts denkbar wäre. Das gab auch Kämmerer zu bedenken. Eine Vorlage müsse jedenfalls dann erfolgen, wenn sich die Frage stelle, inwieweit eine Norm des Verfassungsrechts mit dem Europarecht vereinbar sei. Zudem sei denkbar, dass sich im Rahmen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Vorfrage nach der europarechtskonformen Auslegung einfachen Rechts stelle. Auch dies müsse zu einer Vorlage – dieser Frage – an Luxemburg führen. Abschließend unterstrich Graf Vitzthum seine Bedenken gegenüber der bishe-
Diskussionsbericht
223
rigen Karlsruher Praxis der Nichtvorlage mit dem Hinweis darauf, dass die Verfassungsbeschwerde das Gros der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ausmache. Dieses Herzstück der Arbeit der Verfassungsgerichtsbarkeit aus dem Kreis der vorlagefähigen Verfahren herauszunehmen, erscheine künstlich und sei desintegrierend. Aus dogmatischer Sicht lasse es sich letztlich wohl nicht nachvollziehen. IV. Im Anschluss an das Referat von Daniel Hahn eröffnete Jörn Axel Kämmerer die Diskussion über Wesen und Bedeutung „narrativer Verfassungsnormen“. Vor dem Hintergrund der vom Referenten verdeutlichten Gefahren für die Funktion von Verfassungen gab Wolfgang Graf Vitzthum zu bedenken, dass ein Verfassungsgeber mit jener „erzählenden“ Regelungstechnik die „Quadratur des Kreises“ zu versuchen scheine. Denn zum einen seien narrative Normen nicht als bloße Ordnungsrahmen konzipiert. Zum anderen schüfen allzu ausgreifende Textsorten eine Gefahr für die normative Kraft einer Verfassung. Aufgabe einer Verfassung sei es, einige wenige, dafür aber grundlegende Ziele des Staates dauerhaft festzuhalten, also zu sagen, was gilt und was nicht gilt. Narrative Verfassungsnormen dürften gleichwohl nicht eo ipso verurteilt werden. Ihre Rolle hänge vielmehr von der Funktion ab, die einer Verfassung zugedacht werde. So könne schon aus rechtstechnischer Sicht manches für den Rückgriff auf solches „Präambel-Staatsrecht“ sprechen. Zeitigten narrative Normen nicht auch konkrete Auswirkungen auf Legislative, Exekutive und Judikative, etwa wenn sie Prioritäten unter den vom Staat zu verfolgenden Zielen setzten oder die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe oder die Ausfüllung von Ermessensspielräumen beeinflussten? Beruhe ein Teil der Kritik nicht in Wirklichkeit darauf, dass allzu hochgreifende Grundgesetznormen mit den Verbandskompetenzen der Länder in Konflikt gerieten?
224
Michael Allmendinger / Alexander Kees
Mit Blick auf die damit angesprochenen Verfassungsfunktionen merkte Hahn an, dass Verfassungen in der Tat auch einen Informationsauftrag besäßen, der etwa bei der neugefassten Verfassung der Schweiz in hohem Maß eingelöst sei. Zu hohe Technizität der Terminologie berge die Gefahr von Missverständnissen und Fehlentscheidungen, die freilich durch bessere Formulierungen gebannt werden könne, wie der von Graf Vitzthum erwähnte Artikel 20a GG zeige. Gleichwohl bleibe das Risiko, dass durch die Normierung immer weiterer Lebensbereiche auf der Ebene der Verfassung zu viele Einzelheiten geregelt, „promoviert“ und womöglich petrifiziert würden. Müsse auf die Umwelt als Verfassungswert nicht auch der Sport oder zumindest die Kultur folgen? Eine Grenze lasse sich hier doch kaum mehr ziehen. Zudem führten narrative Normen zu der Gefahr, dass die Gerichte versucht sein könnten, zu weit in den Bereich der Politik einzugreifen, justizstaatlichen Versuchungen also nachzugeben. Kämmerer zog eine Parallele zum Antidiskriminierungsrecht. Dort zeige die jüngste Entwicklung – das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ vom 14. August 2006 –, dass die Auswahl einzelner Persönlichkeitsmerkmale und deren Festlegung als Gegenstände verbotener Ungleichbehandlungen zu einer erheblichen Differenzierung zwischen geregelten und ungeregelten Rechtsgütern führe. Ein sachlicher Grund, weshalb einige Rechte mehr, andere weniger geschützt würden, sei nicht ersichtlich. Dem hielt Alexander Rehs entgegen, eine entsprechende Differenzierung sei auf internationaler Ebene etwa bei den Menschenrechtspakten von 1966 durchaus erfolgt. Während die Rechtsgüter des Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte als einklagbar ausgestaltet seien, stellten die des Paktes über wirtschaftliche und soziale Rechte eine bloße Einigung auf Werte dar. Ergebe ein solcher „bloßer“ Wertekonsens über einklagbare bzw. über nicht einklagbare Rechte nicht auch im Verfassungsrecht Sinn? Hahn erwiderte, völkerrechtlichen Verträgen komme eine grundlegend andere Funktion zu, weshalb auch andere Anforderungen an sie gestellt würden als an Verfassungen, die als wirksame Rahmenordnungen effektiv und
Diskussionsbericht
225
nicht nur narrativ sein müssten. Graf Vitzthum äußerte Zweifel an den „Menschenrechten der dritten Generation“, wie am „Menschenrecht auf eine gesunde Umwelt“ oder an dem auf „Gesundheit“ oder auf „Wasser“. Aufgrund ihres unbestimmten Charakters schwächten derartige Menschenrechte die normative Kraft derjenigen Rechte, die als unmittelbar einklagbar ausgestaltet seien. Zudem seien die entsprechenden Texte, etwa auch zum Problem der Überbevölkerung, in der Regel äußerst soft. Alexander Proelß sprach grundgesetzliche Bezüge narrativer Verfassungsnormen an. Auf seine Frage, ob Landesverfassungsrecht, dessen Kompetenznormen gegen Art. 72 Abs. 2 GG verstießen, nicht selbst kompetenzwidrig und daher aufgrund von Art. 31 GG nichtig sei, erwiderte Hahn, nur die einfache Gesetzgebung, nicht auch die Landesverfassungen seien schematisch an die Vorschriften der Art. 70 ff. GG gebunden. Nicht Derogation, sondern Suspension von grundgesetzwidrigem Landesverfassungsrecht sei die Rechtsfolge des Art. 31 GG. Erlösche das entgegenstehende Bundesrecht, entfalle die Kollision, das Landesverfassungsrecht lebe wieder auf. Die Gefahr der Desintegration ansprechend, fragte Wolfgang März nach dem tatsächlichen Steuerungspotential von Verfassungsnormen. Welche Schlüsse ziehe die Bevölkerung real aus „ihren“ Verfassungen? Und seien die präkonstitutionellen Landesverfassungen nicht erheblich „geschwätziger“ gewesen als die nach 1949 erlassenen? Die vom Referenten angesprochenen Konflikte seien nicht erst durch die jüngeren Verfassungen nach 1989, die in der Tat häufig „erzählend“ seien, entstanden. Den ältesten Landesverfassungen sei es darum gegangen, das Positive aus Weimar festzuhalten und andere Erscheinungen der Vergangenheit für die Zukunft anders und betont integrierend zu regeln. Verfassungen bildeten für das Zusammenleben eben nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine politische Grundlage. Dies habe freilich, gab Hahn zu bedenken, seinen primären Grund darin, dass die Verfassungsgeber vor 1949 nicht wissen konnten, welche Entscheidungen die erst noch zu schaffende Verfassung für den Gesamtstaat treffen würde. Nach 1949 seien die Landes-
226
Michael Allmendinger / Alexander Kees
verfassungen denn auch deutlich schmaler ausgefallen: nüchterner, konkreter, normativ „härter“. V. Nach Philipp Molsbergers Vortrag eröffnete Kämmerer die Diskussion über „Farben, Fahnen und Flaggen in Recht und Dichtung“. Die Selbstdarstellung des Staates sei ein altes Thema, dessen Anfänge – so Graf Vitzthum – zumindest bis in das Rom der Antike zurückreichten. Die Staatsselbstdarstellung und -pflege spiele in anderen Disziplinen allerdings eine größere Rolle als in den Rechtswissenschaften. Die staatsstiftende, volksvergewissernde Wirkung von Dichtung verdeutliche etwa Schillers „Tell“ für die Schweiz. Auch die polnische Dichtung (und Musik!) habe die – fast schon „verlorene“ – polnische Nation gestärkt, die Sehnsucht nach dem Wiedergewinn eines eigenen staatlichen Rahmens wachgehalten. Für Deutschland wies Graf Vitzthum auf einen Vorgang aus dem Jahre 1918 hin. Als mit der Monarchie auch die Reichsfarben schwarz-weiß-rot verschwanden, erwiderte der große Liberale Friedrich Naumann auf die entsprechende Klage eines Parteifreundes, man habe doch immer noch Schwarz-Rot-Gold aus den Revolutionsjahren 1848 / 1849! Auf die könne man jetzt zurückgreifen, wie es dann auch – bis zuletzt umkämpft – geschah. Die politische Bedeutung von Symbolen illustrierte Rehs am Beispiel multi-ethischer Gesellschaften. Angesichts der blutigen Volksgruppenkonflikte in Bosnien und Herzegowina etwa hätten der Flagge des neuen Staates nicht schon bestehende Symbole als Vorbild dienen können. Die neue Flagge, die deutlich auf die Sterne der Europaflagge Bezug nehme, sei deshalb am Reißbrett entworfen worden. Die nationale Integration sollte gleichsam übersprungen, der Staat seiner Identität sogleich im supranationalen Europa fündig werden. Eckhard Barth erinnerte an die beinahe inflationäre Verwendung der „deutschen Farben“ während der Fußballweltmeisterschaft 2006. Sei das im Anschluss daran oft bemühte „neue Deutschlandgefühl“ bloßer Schein, oder seien wir hier Zeuge einer echten wertordnungsbezogenen Verbin-
Diskussionsbericht
227
dung geworden? Dass dies vom jeweiligen Ursprung des Farbeneinsatzes abhänge, zeigte Molsberger anhand staatlich gesteuerter Kampagnen („Du bist Deutschland!“), die vergeblich versucht hätten, der Bevölkerung ein Nationalgefühl zu oktroyieren. Der „neue Patriotismus“ während der Weltmeisterschaft sei dagegen nahezu ein Selbstläufer gewesen, ein spontaner Ausbruch der Begeisterung. Er habe insofern in der Tat, wenn auch gewiss oberflächlich, eine werteorientierte Verbindung zwischen den Menschen aufscheinen lassen. Die bisherige deutsche Zurückhaltung beim Einsatz von Symbolen sprach Götz Reichert an. Diese seien in der Nachkriegszeit von geringer, bewusst nicht forcierter Bedeutung gewesen, wegen ihres Missbrauchs durch das NS-Regime. Anders sei schon immer die katholische Kirche mit Symbolen umgegangen. Sie setze deren integrative Wirkung gezielt und konsequent ein und versuche so, die Menschen durch Zeichen und Lichter, durch Farben, ja selbst durch Gerüche – Weihrauch – zu erreichen und zu binden. Den Gründen und dem historischen Ursprung des Symbolmissbrauchs durch die Nationalsozialisten ging Molsberger nach. Anders als im Wilhelminismus habe man ab 1919 auf einen gezielten, „strategischen“ Einsatz von Orden verzichtet. Die Weimarer Republik sei bewusst symbolarm aufgetreten. Sei in dieser Askese ein entscheidender Fehler und damit eine der Ursachen der späteren Loyalitätsaufkündigung zu sehen? Der Missbrauch nach 1933, ergänzte Kämmerer, sei über ein Überlagern alter Zeichen hinausgegangen. Er habe auch den Missbrauch sprachlicher Symbole eingeschlossen. Das NS-Regime habe sich bewusst pseudoreligiöser Terminologie bedient. Für die Gegenwart konstatierte Graf Vitzthum, dass wir in Deutschland insoweit mittlerweile in eine Normallage eingetreten seien. Symbole könnten verwendet, Orden und Ehrenzeichen dürften wieder verliehen werden, ohne dass dies Aufsehen errege oder Assoziationen zu den Symbolmissbräuchen der Vergangenheit wecke. Habe der Staat nicht geradezu die Aufgabe, die Menschen mit Identifikationselementen zu versorgen?
228
Michael Allmendinger / Alexander Kees
Wir alle seien mehr oder weniger auf Zeichen angewiesen, um uns zu orientieren. Versage sich hier der Staat, sickerten in diese Lücke fremde Symbole ein. Die „Festlegung von Symbolen“ freilich, so Kämmerer, sei keine Staatspflicht. Sie sei der Verfassung vielmehr vorgelagert. VI. Proelß eröffnete die von ihm geleitete Diskussion über den Vortrag von Andreas Wax mit Anmerkungen über das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip. Soweit internationale Sportverbände Staaten zu Entscheidungen anregten oder sogar zwängen, wie dies zuletzt etwa beim Einwirken der FIFA auf Griechenland der Fall war, sei womöglich auch die Wirkung dieser Prinzipien zu beachten. Jedenfalls müsse die Legitimationsfrage gestellt werden. Diesen Gedanken aufnehmend, zog Graf Vitzthum eine Parallele zu dem von seinem New Yorker Völkerrechtslehrer Wolfgang Friedmann geprägten Begriff der sanction of non-participation. Die drohende (Ausschluss-)Sanktion habe auch im Fall Griechenlands bewirkt, dass man sich zähneknirschend den Vorgaben der FIFA gebeugt habe – Rechtsgehorsam nicht wegen eines strikten, sanktionsfähigen Verbotes, sondern wegen des drohenden Entzugs von Vorteilen, die im „Dabei-Sein“, im „Mitglied-Sein“ bestünden: „Niemand möchte gerne vor die Tür gestellt und damit makelbehaftet sein. Jeder möchte gerne mitspielen (dürfen)“. Die Diskussion kreiste sodann um die Grundrechte, auf die sich organisierte Sporttreibende berufen können. Hier hob Wax den Unterschied zwischen Spitzen- und Breitensport hervor. Während die Grundrechte der Art. 12 und 9 Abs. 1 GG für den Spitzensport einschlägig seien, sei der Breitensport lediglich durch das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG gesichert. Allerdings wurde auch in Bezug auf Art. 9 GG einschränkend angemerkt, dass er nicht die Betätigungsfreiheit als solche schütze, sondern lediglich das Recht, ein entsprechendes Forum zu gründen. Aus europarechtlicher Perspektive bezweifelte
Diskussionsbericht
229
Proelß, dass der von Wax in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der „Regulierung“ im Gemeinschaftsrecht zutreffend eingesetzt werden könne. Zwar verkörpere die Bosman-Rechtsprechung des EuGH ein schützendes Tätigwerden, gleichwohl gebe es keine Politik der Gemeinschaft in diesem Bereich. Auch Kämmerer war der Ansicht, dass der Gerichtshof keineswegs „regulierend“ tätig werde. Freilich zeige der Vertrag insofern ein eindeutiges Regelungskonzept, als der Sport zum Wirtschaftsleben zu rechnen sei. Diesbezüglich bestehe auch hier zumindest ein regulativer Ansatz, den der Gerichtshof lediglich umsetze und ausgestalte. Mit Blick auf den tatsächlichen – hohen – Einfluss der FIFA fragte Proelß nach der Rechtsnatur dieser Organisation. Wax antwortete, die FIFA sei gemäß Gründungsvertrag eine Nichtregierungsorganisation ohne kommerzielle Zwecke. Diesem Selbstverständnis sei freilich zu widersprechen. Faktisch sei die FIFA schlicht als (überaus erfolgreiches) Wirtschaftsunternehmen zu qualifizieren. Einen anderen Blickwinkel wählte Kämmerer. Die FIFA stütze sich unmittelbar auf staatliche Entscheidungen. Werde etwa die Einbürgerung eines Spielers zurückgenommen, so habe dies direkte – negative – Auswirkungen auf seine Aufstellung in der Nationalmannschaft. Graf Vitzthum fragte nach dem rechtlichen Gehalt der auch von Wax angerufenen „Autonomie des Sports“. Gebe es in Analogie zu Art. 19 Abs. 2 GG einen „Wesensgehalt“ dieser Autonomie“? Wax wies darauf hin, dass „Sportautonomie“ als Begriff und Gegenstand im Sportbericht der Bundesregierung benutzt werde. Zu definieren sei er als Unabhängigkeit und Selbstverwaltung. Er äußere sich durch die Befugnis, eigene Regeln erlassen und Rechtstreitigkeiten selbst entscheiden zu können. Mit dem Institut des „Wesensgehalts“ lasse sich die Grenze ziehen, ab der diese Autonomie verletzt sei. Dem organisierten Sport müsse so viel Spielraum verbleiben, dass die Sportverbände die Wettbewerbe im Grundsatz selbst regeln könnten. Präzisierend wies März darauf hin, dass es primär um die Autonomie der Sporttreibenden gehe.
230
Michael Allmendinger / Alexander Kees
An die Selbständigkeit des Sports anknüpfend, warf Rehs die Frage auf, ob in Deutschland nicht in Wahrheit Staatssport existiere. Die öffentliche Hand fördere den Sport, etwa im Rahmen der Bundeswehr, um ein gutes Abschneiden der Bundesrepublik Deutschland bei internationalen Wettkämpfen zu erreichen. Sportler der Bundeswehr würden vom Dienst freigestellt, um sich ganz ihrer Disziplin widmen zu können und als Sportsoldat ihr Land nach außen hin zu repräsentieren. Wax gab zu bedenken, dass der Begriff „Staatssport“ aus NS-Zeiten stamme. Während damals der Staat den Sport regelrecht instrumentalisiert und gelenkt habe, trete er heute nur subsidiär und fördernd auf. Dem Einwand von Graf Vitzthum, dass der Einsatz des Staates über ein bloßes Lückenfüllen weit hinausgehe, wenn er mit dem Sport gleichsam Identitäts- und Entwicklungspolitik betreibe, widersprach Wax mit dem Hinweis, dass zwischen Förderung und Regulierung deutlich zu trennen sei. Unterstützt wurde er von dem Vergleich, den Hahn zur Kulturpolitik zog. Obwohl der Staat hier finanziell fördere – etwa auch bei den Goethe-Instituten, die ja auch der „Kulturaußenpolitik“ dienten –, bestehe unstreitig keine „Staatskultur“. Für den Sport könne nichts anderes gelten.
Wider den entgrenzten Staat Der Weg der Brüder Stauffenberg Von Wolfgang Graf Vitzthum* Werner von Simson zum 100. Geburtstag Margarethe von Oven war aufgewühlt. Für die lebensgefährliche geheime Arbeit, für die Generalmajor Henning von Tresckow die junge Frau neben Ehrengard Gräfin von der Schulenburg geworben hatte, hatte sie verabredungsgemäß lediglich eine geliehene Schreibmaschine benutzt und stets nur zu Hause und nur mit Handschuhen getippt. Nun aber hatte sie den Entwurf eines Aufrufs geschrieben, der mit den Worten begann: „Der Führer Adolf Hitler ist tot.“ Es ging offenbar um eine Verschwörung zum Hochverrat, um Proklamationen für den Tag eines Staatsstreichs, um ein Attentat auf das Staatsoberhaupt! Zusammen mit seinem Bruder Berthold, einem 38-jährigen Völkerrechtler, bearbeitete Claus Schenk Graf von Stauffenberg diese Aufrufe seit Mitte September 1943. Der Oberstleutnant i.G., 36 Jahre alt, „gläubiger Katholik, sachlich und, wie Fräulein von Oven bemerkte, den Widerschein eines stillen inneren Feuers ausstrahlend“ (Peter Hoffmann), erklärte ihr den Anstoß zur Umsturzverschwörung. Während Tresckow die Ermordung der Juden durch das Hitler-Regime angeprangert hatte, sprach Stauffenberg von der totalen Unmenschlichkeit des entgrenzten totalitären Staates. * Literaturhinweise am Schluss des Textes. Auf Einzelnachweise wird verzichtet. Die Jahreszahlen bei Gedichtzitaten bezeichnen das Datum der Veröffentlichung, ggf. auch das der Entstehung des Gedichts.
232
Wolfgang Graf Vitzthum
Und dann zitierte der Generalstabsoffizier ein Gedicht. Es stammte von dem ein Jahrzehnt zuvor verstorbenen Dichter Stefan George (1868 –1933), aus dessen letztem Gedichtband „Das Neue Reich“ (1928; das Gedicht verfasste George im Jahr 1921), und lautet: Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande Vom nacken geschleudert die fessel des fröners Nur spürt im geweide den hunger nach ehre: Dann wird auf der walstatt voll endloser gräber Aufzucken der blutschein.. dann jagen auf wolken Lautdröhnende heere dann braust durchs gefilde Der schrecklichste schrecken der dritte der stürme: Der toten zurückkunft! Wenn je dieses volk sich aus feigem erschlaffen Sein selber erinnert der kür und der sende: Wird sich ihm eröffnen die göttliche deutung Unsagbaren grauens.. dann heben sich hände Und münder ertönen zum preise der würde Dann flattert im frühwind mit wahrhaftem zeichen Die königsstandarte und grüsst sich verneigend Die Hehren · die Helden!
Aus diesen „Sprüchen an die Toten“, wie die Gedichtreihe betitelt ist, aus diesem poetischen Sprechen im Grenzbereich zwischen lyrischer und rhetorischer Rede – die Tat? Die Willkürherrschaft des NS-Regimes und der organisierte Holocaust waren die primären Gründe für Stauffenbergs Attentat. Wie relevant war daneben die lebenslange Verbundenheit des Täters mit dem Dichter? Ein äußeres Indiz dafür war Stauffenbergs wiederholte Bezugnahme etwa beim Werben von Mitverschwörern auf Gedichte Georges (zum Beispiel auf den „Täter“ und auf den „Widerchrist“ aus den Jahren 1899 bzw. 1907). Was bewirkte also, im Hinblick auf den Tatentschluss, Stauffenbergs Leben mit George, in dessen Freundeskreis, der vor allem aus jungen Künstlern und Wissenschaftlern bestand? Wie bestimmend für Denken und Handeln des Empörers war demnach die Gemeinsamkeit mit den geistig anspruchsvollen, emotional eng verbundenen Freunden, noch Jahre nach dem Tod ihres
Wider den entgrenzten Staat
233
„Meisters“ (George, 1868 geboren, starb am 4. Dezember 1933)? Gab es also einen belegbaren Zusammenhang zwischen „held und sänger“, zwischen ästhetischem Entwurf und regimebekämpfender Aktion, zwischen Dichtung und Staatsstreich? Kam, wonach ein George-Gedicht fragte, „wort vor tat“ (1914), induzierten Dichter und Dichtung gar die Tat? Oder verkennt bereits diese Frage – die Macht des Wortes weit überschätzend – die Wirkungsgrenzen der Dichtung in politicis? Nur um diesen Ausschnitt aus den weiten Themenkreisen „Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ sowie „Geist und Macht in Deutschland“ – konzentriert auf die Einzelfrage „Aus Gedanken die Tat?“ (Hölderlin) – geht es nachfolgend. Für mein Vorhaben, aus dieser Perspektive einen Beitrag zu den „Grenzen des Staates“ zu skizzieren, ist der Weg der Brüder Stauffenberg ein so lohnender wie schwieriger Gegenstand. I. Das schöne leben hatte Stefan George, 44 Jahre vor jener soeben evozierten Einleitungsszene, um die vorletzte Jahrhundertwende also, in seinem Band „Der Teppich des Lebens“ (1899, publiziert mit der Jahreszahl 1900) besungen. Gleich das erste Gedicht erinnert an die Zeit, als der Dichter „bleichen eifers“ nach „dem horte“, nach einer poetischen Inspiration, „forschte“. Durch seine Verse, die er gerne durchsichtig gehabt hätte, „rollten“ nur dumpfe, ungewisse Bilder. Da erscheint ein Engel, als Bote des „schönen Lebens“. Er lehrt den Dichter, der „die lauten fahrten“ – im Fall Georges bis zu jenem Zeitpunkt: vor allem nach Frankreich und Spanien – so geschätzt hatte, sich nicht mehr in die Ferne locken zu lassen. „Der Teppich“ ist dann in der Tat Georges letztes Werk, das noch durch „Fernluft“ reifte, und der erste Gedichtband, der schon in „vaterländischer brache“ wurzelte, Mitte (drei schmale Bände davor, drei danach) und Wendepunkt von Georges Werk (Ute Oelmann). Das schon von Hugo von Hofmannsthal bewunderte „Vorspiel“ lautet (auszugsweise):
234
Wolfgang Graf Vitzthum Ich forschte bleichen eifers nach dem horte Nach strofen drinnen tiefste kümmernis Und dinge rollten dumpf und ungewiss – Da trat ein nackter engel durch die pforte: … Auf seinem haupte keine krone ragte Und seine stimme fast der meinen glich: Das schöne leben sendet mich an dich Als boten …
Dieses „schöne Leben“, lernen wir in den nachfolgenden Gedichten, verleiht unserer Existenz Wert. Es wird innerhalb der irdischen Grenzen geführt, mit den Mitteln des Menschen. Die Geschicke der Welt liegen in unserer Hand. Der Engel symbolisiert das Bild vom eigenen Ich, dem gleichzukommen unsere Seele sich bemüht (Claude David). Es geht, nach dem ubiquitären Siegeszug der Moderne, um das Projekt eines neuen „schönen Lebens“, nun also in der Massen- und Industriegesellschaft. In dieser Umbruchphase verschreibt sich die Lebensgemeinschaft um George der Dichtung und der Wissenschaft, angelehnt an das Vorbild der platonischen Akademie, ihre Gemeinschaft als „staat“ bezeichnend. Insofern handelt dieses lebendige Leben von einer neuen Form geadelten Daseins, von Sinn, Maß und Ausgeglichenheit – und vom Bau der Zukunft aus der Macht des Wortes und des Geistes, womöglich einschließlich eines Projizierens künstlerischer Modelle in die staatlich-politische Sphäre. Aus dem schönen leben also die Tat? Betrachten wir, bevor wir diesen etwaigen Filiationen nachgehen, zunächst die handelnden Personen: die Brüder Stauffenberg (unter ihnen nicht in erster Linie Claus, sondern seine weniger bekannten älteren Brüder Berthold und Alexander), dann den Lyriker Stefan George, „das Haupt einer Dichterschule“ (Ulrich Raulff), sowie die „runde“, den „bund“, den Kreis der nächsten Freunde also, der sich um George gebildet hatte und immer wieder erneuerte und verjüngte. Zu diesem Kreis gehörten die Brüder Stauffenberg, seit 1923. Von der Ideenwelt des
Wider den entgrenzten Staat
235
Dichters waren sie von Anfang an stark beeinflusst, auch in ihrem Mut und Erfolgswillen. Aber waren sie das auch später noch, in den 1940er Jahren, in ihrer Empörung gegen den entgrenzten Staat? Wirkte Georges Wort da als Waffe, als Hebel, um das totalitäre Regime zu stürzen? II. Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, der älteste der drei Brüder, kam am 15. März 1905 in Stuttgart zur Welt, als Sohn des späteren Oberhofmarschalls des letzten württembergischen Königs Wilhelm II. Mit Berthold wurde sein Zwillingsbruder Alexander geboren. Gut zweieinhalb Jahre später, am 15. November 1907, kam ihr Bruder Claus zur Welt. Die geistig bedeutende Mutter, eine geborene Gräfin Üxküll-Gyllenband, stammte aus einer alten baltischen Familie. Einer ihrer Vorfahren war Gneisenau. Berthold und Claus standen sich lebenslang besonders nahe. Wenn irgend möglich, tat der charismatische Claus nichts, was der deutlich zurückhaltendere Berthold nicht wusste oder voraussichtlich nicht gebilligt hätte: der Bruder des Täters als dessen „verkörpertes Gewissen“ (Marion Gräfin Yorck von Wartenburg). Mit Berthold besprach Claus als Erstem seinen Plan der Erhebung. Von dem Älteren erfuhr der Jüngere keine Abmahnung von dem unvorstellbaren Wagnis, sondern wie von einem gleich Tatbereiten Zuspruch und Unterstützung (Eberhard Zeller). Bei all den schweren Rückschlägen in der Vorbereitung des Staatsstreichs sah sich Claus immer wieder durch Berthold bestärkt. Ohne ihn hätte es den 20. Juli so nicht gegeben. Nicht durch sein Mithandeln, das sich ebenfalls wirksam zeigte, war Berthold entscheidend, sondern durch sein Gegenwärtigsein. Mochte George die Einsamkeit als „Lebensbedingung des Starken“ (David), des großen Einzelnen, besungen haben – für den einsamen Täter war die Nähe des Bruders eine entscheidende Stärkung. Und ohne Claus von Stauffenberg, „seinen Mut und seine Entschlossenheit wäre es zu einer vor der Welt sichtbaren
236
Wolfgang Graf Vitzthum
Tat des deutschen Widerstandes gegen Hitler nicht mehr gekommen“ (Thomas Karlauf). Ab Herbst 1913 besuchten Berthold und Alexander das bekannte Stuttgarter Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums. Hier wurde die damals vorherrschende bürgerlich-humanistische Bildung auf höchstem Niveau gepflegt. Zum Kanon gehörten die antiken Sprachen und Mythen, etwa die Erzählung von Harmodios und Aristogeiton, den Tyrannentötern, die freiheitliche Gesinnung, edlen Mut und männliche Schönheit verkörperten. Eine Schlüsselrolle am „Ebelu“, das später auch Claus besuchte, spielten die großen Dichter: Homer und Vergil, Dante, Shakespeare, Goethe und Schiller, Rilke und natürlich der Schwabe Hölderlin. Die Dichtung wurde eine Wirklichkeit, für die die Brüder Stauffenberg Auge und Urteil hatten. Hier standen für sie „die großen Bilder und Normen“ (Zeller). Alexander von Stauffenberg war darüber hinaus selbst dichterisch begabt. Stärker als seine Brüder war er zudem durch den katholischen Glauben geprägt. Mochten die Könige in Deutschland abdanken, ja der Kaiser schmählich nach Holland fliehen – Vater Alfred von Stauffenberg blieb Monarchist, Repräsentant einer untergegangenen Welt, allen Alternativen abhold. Seine Söhne freilich waren Neuem gegenüber aufgeschlossen, durchaus auch der Ersten Republik und ihren Leistungsanforderungen. Wie viele ihrer Standesgenossen wollten sie dem Vaterland dienen, „als Wahrer von Staat, Nation und Volk (gleichsam oberhalb der Republik)“ (Heinz Reif). Diesen Pfad schlugen sie auch im Bewusstsein ihrer adeligen Herkunft ein. Aus ihr leiteten sie die Verpflichtung zu entsprechender Professionalisierung und Lebensführung ab, zum Vorangehen im Dienst am Allgemeinwohl: nicht als eine gestrige „nur› geburtsständisch definierte und herausgehobene Gruppe, sondern als eine künftige republikanische funktionale Elite. Im Krisenjahr 1923 rückten französisch-belgische Truppen ins Ruhrgebiet und ins Rheinland ein. Mit fragwürdiger Begründung verfolgten diese Nachbarländer rücksichtslos ihre Ziele gegenüber der jungen, labilen Republik. Die Deutschen probten den
Wider den entgrenzten Staat
237
Aufstand. Die vaterländisch begeisterten Zwillinge Stauffenberg meldeten sich als Zeitfreiwillige zur Reichswehr, zum Ludwigsburger Kavallerieregiment Nr. 18, wo Alexander zum begeisterten Reiter wurde. Da aber Berthold bald erkrankte und Alexanders militärisches Talent rasch an Grenzen stieß, blieb dieses uniformierte Engagement Episode. Stattdessen machten die Zwillinge Abitur (März 1923), Alexander mit mittelmäßigem Ergebnis, Berthold mit der Note „gut“. Versailles und Völkerbund waren, so schlecht manche Erfahrungen, etwa mit den territorialen Entscheidungen und ihren Konsequenzen, auch sein mochten, nicht die Quelle allen (deutschen) Unglücks. Der Genfer Völkerbund barg, hinreichende Geduld und Vernunft vorausgesetzt, die Chance einer Adjustierung des internationalen Systems, mit strukturellen Vorteilen für das Reich. Hitlers Politik bilateraler Nichtangriffspakte unterhöhlte dann jeden Ansatz kollektiver, zukunftsweisender Friedenssicherung. Über Letztere freilich ist kein gutes Wort der Brüder Stauffenberg und ihrer patriotisch gesonnenen Freunde, die wie so viele damals auf das Souveränitätsdogma und die Machtstaatslehre fixiert waren, überliefert. Sensibilität für Außenminister Stresemanns weitsichtige Locarno- und Verständigungspolitik zeigte im George-Kreis ohnehin fast niemand. Im Sommersemester 1924 setzte Berthold sein in Heidelberg begonnenes Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Tübingen fort. Neben dem juristischen Schwarzbrot leistete er sich geisteswissenschaftliches Weißbrot: Altrömische und frühbyzantinische Geschichte sowie Mittelalterliche Geschichte Frankreichs, Englands und des Orients – kein Bachelor-Schmalspurstudium also, sondern das Vertiefen von Querverbindungen! Nach einem Berlin- und einem München-Semester kehrte er (1925 / 26) nach Berlin zurück, wo damals auch George häufig weilte. Alexander studierte, nach einem Jura-Semester in Heidelberg, ab Wintersemester 1923 / 24 Klassische Altertumswissenschaften in Tübingen, Jena, München und (ab Sommersemester 1926) Halle. Jene frühen Tübinger Monate führten ihn zum Kreis um
238
Wolfgang Graf Vitzthum
Wilhelm Weber, bei dem er 1928 promoviert wurde (Note „sehr gut“), und zur Freundschaft mit Joseph Vogt und Fritz Traeger. Auf Einladung dieser althistorischen Dozenten nahm er bereits im Frühjahr 1924 an einer Italienreise teil (George hatte dazu sein Plazet gegeben). 1931 habilitierte er sich bei Vogt für Alte Geschichte (wie, mehr als drei Jahrzehnte später, auch meine verstorbene Frau Hildegard Temporini). Im Zweiten Weltkrieg als Artillerist zunächst vornehmlich an der Ostfront eingesetzt und mehrfach verwundet, wurde er ab Juni 1944 nach Athen kommandiert. Nach dem 20. Juli in Untersuchungs- und Sippenhaft genommen, durchlief er bis zum Kriegsende eine Reihe von Konzentrationslagern und Gefängnissen (eine direkte Beteiligung am Anschlag der Brüder hatte ihm nicht nachgewiesen werden können). 1948 folgte der Ruf auf den Münchner Lehrstuhl für Alte Geschichte, den er bis zu seinem Tod (1964) inne hatte. Schwerpunkte dieses auch wissenschaftspolitisch bedeutenden „anderen Stauffenberg“ (Karl Christ) waren die Spätantike, das klassische Sizilien und Großgriechenland, jeweils mit Akzentsetzungen auf „Täter“ und „Dichter“, „Macht“ und „Geist“. Wegen seines Freimuts konnten Claus und Berthold den musischen Alexander, der sie zum letzten Mal im Juni 1944 in Berlin traf, nur begrenzt in ihre Pläne einweihen. III. Wer war nun dieser für die Brüder Stauffenberg – und nicht nur für sie! – so bestimmende Dichter Stefan George? Und was war der George-Kreis? Der Kunstanspruch des Dichters richtete sich auf das Leben insgesamt. Das – antike – Postulat der Anmut war das Maß. Das von George besungene „schöne Leben“ der elitären „kleinen Schar“ war auch ein Gegenbild zum „hässlichen“ Naturalismus und zur „egalitären“ Moderne. Die geistige Gemeinschaft der mit George befreundeten Künstler, Philosophen, Historiker, Philologen, Offiziere, Juristen, Ärzte und Nationalökonomen war Korrektiv für – so die Perzeption der Freunde – die mate-
Wider den entgrenzten Staat
239
rialistische Deformierung der (Massen-)Gesellschaft, Korrektiv auch für die christliche Stigmatisierung des Leibes. In diesem Sinne dichtete George (1928) auf Berthold: […] Was dient · sei es auch mehr als frommer wahn · Gleichheit von allen und ihr breitstes glück! Wenn uns die anmut stirbt.
Wenigen, den Brüdern Stauffenberg zweifellos, gelang die Verbindung von Anmut und Leistung, von Treue zur Welt des Dichters und hohem beruflichen Anspruch an sich selbst. Kulturgeprägte, „vormoderne“ Ritterlichkeit verschränkte sich bei ihnen mit effizienter Nützlichkeit, Schönheit mit Stärke, Geist mit Kompetenz. So absolvierte der „anmutige“ Berthold das Erste Juristische Staatsexamen (Mai 1927 in Tübingen) mit Leichtigkeit, Note „ausgezeichnet“. Durch Vermittlung des Altphilologen Albrecht von Blumenthal waren die Brüder Stauffenberg Stefan George im Mai 1923 in Marburg begegnet, die Zwillinge soeben 18, Claus überhaupt erst fünfzehneinhalb Jahre alt. Die Aufwachsenden, die schon im Jahre 1921 stark beeindruckt Georges „Stern des Bundes“ gemeinsam gelesen hatten, fanden im Kreis um den charismatischen Dichter, der sie in Freundschaft aufnahm, in der Auseinandersetzung mit den Grundfragen des Seins vom Künstlerischen und Wissenschaftlichen her ihre eigenen ganzheitlichen Ideale wieder. Die Freundschaft Georges gab ihnen zusätzlichen Halt. Das Leben im George-Kreis lieferte Bezugspunkte, die das Selbstverständnis weiter sicherten, gerade auch später noch, in den Krisenerfahrungen des „Dritten Reiches“, als immer mehr Gewissheiten und Haltepunkte verschwanden. Das Schreiben, das Hersagen und – in „George-Schrift“ – das Abschreiben von Gedichten war ein Ritual im George-Kreis. Am kostbarsten die Stunde, in der im vertrauten Kreis Gedichte vorgetragen (und besprochen) wurden. „Auslegung kann falsch sein, aber Auslegung muss sein“ (George). „Der Mensch erlangt seine Freiheit wieder“, heißt es, „wenn er sich ein Gesetz gegeben hat“ (David). Die Gesetzestafeln stellte George auf. Er hätte auf Hölderlin (oder andere Dichter,
240
Wolfgang Graf Vitzthum
etwa die meist hochpolitischen russischen Schriftsteller) verweisen können. Im Gedicht „Dichterberuf“ (1800 / 1801) hatte Hölderlin, selbstreflexiv und prophetisch, dem Dichter zugerufen: „… gib die Gesetze, gib / Uns Leben, siege, Meister, du nur / Hast der Eroberung Recht …“. Hugo von Hofmannsthal war, ein Jahrhundert später (1897), also bereits in der Moderne, pointiert gegenteiliger Ansicht. Dichter seien keine Gesetzgeber, Dichtung und Moral keineswegs identisch; im Gegenteil. Über die Macht der Dichtung (und die Grenzen der einschlägigen Machtphantasien), über die „Pflicht“ zur Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung sowie über das politisch-gesellschaftliche Engagement von Künstlern und Intellektuellen haben später nicht nur die „Gruppe 47“, die „Frankfurter Schule“ und seit jeher schon der PEN-Klub nachgedacht. Für Georges Freunde war sein Werk ein unantastbares „Gesetzbuch“ (Edith Landmann). Wenn George „seine Gedichte streng band, dann verstand er dies als Reaktion auf eine ungeordnete, chaotische und fließende Welt“ (Dirk von Petersdorff). Noch in der Nacht vom 4. auf den 5. Juli 1944, mitten in den letzten Attentatsvorbereitungen also, erörterten Claus und Berthold (mit einem Freund aus dem George-Kreis, dem aus Athen herbeigerufenen Literaturwissenschaftler Rudolf Fahrner) stundenlang dichterische Texte, zumal die neueste Fassung des großen Gedichts ihres Bruders Alexander „Der Tod des Meisters“ (also Georges). Welche Bedeutung des Dichters, ihres „Meisters“, noch weit über seinen Tod hinaus! Kein „Verlust des Ich“, sondern Sinnstiftung und Sinnbekräftigung, in einer säkularisierten Zeit. In jenem Gedicht über den „königlichen toten“ bekennt Alexander: […] Und scheidend wussten wir: in unserem leben Ein jeder atemzug und schmerzlich beben Bleibt dienst an diesem grab mit geist und blut.
George hatte Führung der Vorragenden betont, Gemeinschaft und Dienst. Er hoffte, seine jungen Freunde – als „ganze Menschen“ ausgebildet – würden sich eines Tages, jeder auf seinem Gebiet und jeder nach seinem Wesen, völlig verwirklichen.
Wider den entgrenzten Staat
241
Jedem müsse klar sein, was ihm auferlegt sei, was er deshalb nicht umgehen dürfe, was kein anderer für ihn tun könne (Zeller). Die „tragische, die heroische Haltung“, „der Einsatz für das Edelste auch gegen den Stärkeren“ (Ernst Gundolf), die Verbindung also von Geist und Haltung, Entscheidung und Ausführung waren zentrale Motive im Freundeskreis: „Wer adel hat erfüllt sich nur im bild / Ja zahlt dafür mit seinem untergang“. Galt Gleiches nicht auch für Georges Gewährsleute, von Homer über Platon und Kaiser Friedrich II. bis Nietzsche? Jede Freundschaft ist auch eine Leistung. Für die Brüder Stauffenberg war die Freundschaft des Dichters Bestätigung und Bestärkung: eine tiefe Bildungs-, eine gelungene Bindungserfahrung. Medium der Gemeinsamkeit war das Gespräch, waren gemeinsame Freunde, Reisen und Feste, war das gemeinsame Arbeiten (an Manuskripten wie an Skulpturen) – hier ließ sich die Gegenseitigkeit der Anregung, das Kollektive in der Kreativität beobachten. Ihre Familien, ihre regionale Verwurzelung, ihre Sozialisation in Schule, Universität und Militär, ihre Berufe, ihre Ehen, ihre Aufgaben als Offiziere formten die jungen Männer, gewiss. Aber prägend für ihren geistigen Weg war eben auch die Freundschaft mit dem Dichter, war dessen Erneuerung einer spezifischen Tradition und Sprache, war das Leben in seinem Freundeskreis, das die Möglichkeit bot, verschiedene Lebensformen zu erproben. „Sie alle sahen rechts – nur Er sah links“, hieß es in einem 1914 veröffentlichten George-Gedicht, das prophetisch (ein halbes Jahr später begann der Erste Weltkrieg) mit dem Wort „Weltabend lohte“ einsetzte. Nicht zuletzt diese dauerhafte „Imprägnierung“ durch die formende Kraft des Dichters, seiner Dichtung und seines Kreises verlieh den Brüdern Stauffenberg – so die These meiner Skizze – die innere Autonomie, sich dem Verhaltensdruck der gleichmacherischen „Volksgemeinschaft“ und dem der meisten Kameraden und Kollegen, Geronten und Standesgenossen zunehmend zu entziehen. Sie öffneten sich einem schmerzhaften inneren Entwicklungsprozess, der schließlich den Weg in den Widerstand wies, ja der, mit letzter Konsequenz, zur Eigenständigkeit im Handeln, zum Kampf um die Freiheit, zur Tat führte. Häufig induzierte im „Dritten Reich“ die soziale Nähe zu einem
242
Wolfgang Graf Vitzthum
Opfer des Regimes die tätige Ferne zu den Nazis, in Einzelfällen auch den Widerstand. Die Fähigkeit freilich, von Abstand zu Widerstand und von Widerstand zu Aufstand überzugehen und an dieser Entscheidung bei größtem Risiko festzuhalten, kann auch auf einem anderen, in unserem Zusammenhang womöglich relevanteren Grund beruhen: auf dem Verbundensein mit einer Person, deren Urteil man für sich als verbindlich ansieht, einer Person, von der man annimmt, sie würde das – unangepasste, gar widerständige, ja umstürzlerische – Verhalten billigen (Harald Welzer). Die Brüder Stauffenberg konnten, ja mussten überzeugt sein, der ihnen so verpflichtend wichtige Stefan George hätte, noch am Leben, ihr „in tyrannum!“ gebilligt. Aus dem schönen leben die Tat! Zwei Wochen vor dem Attentat hatten Claus und Berthold einen „Schwur“ aufgesetzt, mit dem sich der kleine Kreis der Verschwörer seiner gemeinsamen Werte versicherte. „Wir wissen im Deutschen“, hieß es unter anderem, „die Kräfte, die ihn berufen, die Gemeinschaft der abendländischen Völker zu schönerem Leben zu führen.“ Da war das „schöne Leben“ wieder, nun sogar im Komparativ und verbunden mit der „führenden“ Rolle Deutschlands in Europa. „Des edlen edelstes gedeiht nur hier“ (ergänze: in Deutschland), hatte George gedichtet. Die Lehre des geheimen, des heiligen, des europäischen Deutschland verstärkte den Willen zur Erhebung wider den Dämon, von dem Deutschland besessen und öffentlich geschändet war. Man kann insofern von einer metabasis eis allo genos sprechen, von einer Sphärenverschmelzung, einer Umwandlung, einem Umschlag: vom poetischen Wort zur staatsrettenden Tat. Der somit zumindest auch Dichtung-inspirierte 20. Juli beantwortet Hölderlins bange Frage, in seinem Gedicht „An die Deutschen“ (1798), gerichtet an ein Volk, das er bekanntlich als „tatenarm und gedankenvoll“ gescholten hatte: […] Oder kömmt, wie der Strahl aus dem Gewölke kömmt, Aus Gedanken die Tat? Leben die Bücher bald? […]
Wider den entgrenzten Staat
243
IV. Betrachten wir nun Georges Einfluss auf die Brüder Stauffenberg und den gemeinsamen Freundeskreis näher, zumal Grundlage und Richtung, „Ziel“ und Wirkung dieses Einflusses! Mit der Macht der Dichtung suchte George den „Zeiten der Wirren“, der modernen Massen- und egalitären Industriegesellschaft eigene Lebensgesetze sowie ein „geheimes“, ein anderes, ein geistiges Deutschland entgegen zu setzen. „Um eine Art europäischer literarischer Gemeinschaft willen“ (David) hatte der Dichter der Heimat zunächst den Rücken gekehrt. Schon mit dem eingangs zitierten Gedichtband „Der Teppich des Lebens“, der pünktlich zur vorherigen Jahrhundertwende erschien, entfernte sich George aber von dieser „Fernluft“, von seiner bis dahin pointiert romanisch-europäischen Position (ohne sie freilich je ganz aufzugeben). Nun pries George den „umschwung des deutschen wesens“, Deutschlands geistige Schätze. „Unsere jugend“ wollte er jetzt lehren, „freien hauptes schön durch das leben“ zu schreiten: „dass sie schliesslich auch ihr volkstum gross und nicht im beschränkten sinne eines stammes auffasst: darin finde man den umschwung des deutschen wesens bei der jahrhundertwende“ (1897). Der l’art pour l’art-Dichter – „Blätter für die Kunst“, nicht „Blätter für die Pädagogik“ oder gar „Blätter für die deutsche Kulturpolitik“, hieß seine Zeitschrift – wurde seit den Dichtungen des „Siebenten Ringes“ (1907) zum Erzieher, die Dichtung „in Reaktion auf seinem Wesen nach Außerliterarisches“ (Krieg, Moral etc.)“ (Jürgen Wertheimer) programmatisch, prophetisch: als Weltanschauungslyrik hätte man sie früher bezeichnet; aus meiner Sicht handelt es sich um Staatsdichtung (im doppelten Sinne dieses Begriffs). Der Weg führte vom Ästhetischen, ohne dieses je aus dem Blick zu verlieren, ins Politische, von Zeitabgewandtheit zum Bezug auf die Gegenwart. Im Unterschied zu einigen seiner begabtesten Freunde war George freilich bar jedes Chauvinismus, jeder Deutschtümelei. Hellsichtig war er zumal bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Anders als etwa die
244
Wolfgang Graf Vitzthum
unvermutet bellizistisch und gallophob auftretenden „Kulturkrieger“ Max Weber und Thomas Mann stand George über den Dingen, geradezu das Paradigma eines Geistes, der das große Ganze überblickt. Wenn heute George außerhalb des deutschen Sprachraums (nicht anders als etwa Döblin oder Musil) weithin abwesend ist (im Unterschied etwa zu den Brüdern Mann, zu Kafka, Hermann Hesse, Ernst Jünger, Bert Brecht oder Günter Grass), hängt das auch mit jener Richtungsänderung zusammen: mit der Wende von Frankreich-Spanien-Italien nach Deutschland, von der kosmopolitischen und europäischen zur nationalen, heimischen Perspektive. George-Kenner wie der Genfer Literaturwissenschaftler Bernhard Böschenstein betonen demgegenüber die entscheidende Bedeutung jener frühen Baudelaire- und Mallarmé-Phase Georges. Sie, die Entdeckung, Übertragung, Umdichtung und Umdeutung der französischen Symbolisten, mit denen sich George befreundete, hat ihn zum Dichter gemacht, zu einem „Autor der europäischen Moderne“ (Wolfgang Braungart). Die aktuelle, verdienstvolle George-Biographie von Thomas Karlauf (2007) ist dafür weitgehend blind. Der traditionelle Vorwurf verschweigender Beschönigung freilich, zu Recht gegen manche Veröffentlichung über George und seinen in der Epoche des Jugendkultes und der Jugendbewegung geborenen „Männerbund“ erhoben, lässt sich gegenüber diesem Bestseller nicht vorbringen. Manfred Riedels philosophisches Buch „Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg“ (2006) verdichtet demgegenüber Georges lebenslange Offenheit für den „märchenruf“ vom Westen – ohne die französischen Symbolisten wäre George in seinem Ausdruck nicht denkbar – zur packenden Formel vom „geheimen europäischen Deutschland“. Es bleiben Schatten. Schon Georges Satz, dass „des erdteils herz (ergänze: Deutschland) die welt erretten soll“, macht ratlos, selbst wenn er wie ein spätes Echo auf Hölderlins frühen prophetischen „Gesang des Deutschen“ (1797) klingt, der bekanntlich anhebt:
Wider den entgrenzten Staat
245
O heilig Herz der Völker, o Vaterland! Allduldend, gleich der schweigenden Mutter Erd', Und allverkannt, wenn schon aus deiner Tiefe die Fremden ihr Bestes haben! Sie ernten den Gedanken, den Geist von dir, Sie pflücken gern die Traube, doch höhnen sie, Dich, ungestalte Rebe! daß du Schwankend den Boden und wild umirrest.
Bei Heidegger, erst recht bei dem germanistischen GeorgeFreund Ernst Bertram und im Horizont eines mystifizierten, zu Missverständnissen einladenden „geheimen Deutschland“ finden sich ähnliche Vorstellungen von deutscher Auserwähltheit. Diese Vorstellung geht bei Hölderlin und George freilich primär auf Deutschlands Nachfolge Griechenlands zurück, auf Deutschlands geistige Potenzen, nicht also – auch das übersah die kurzzeitige nationalsozialistische George-Aneignung – auf militärische Macht. Der Bildhauer Frank Mehnert, einer der jüngsten und zuletzt wichtigsten aus dem Kreis um den Dichter (in Stuttgarter Schulzeiten der „Knappe“ seines „Ritters“ Berthold Stauffenberg), verbrachte mehrere Jahre mit seiner stilisierten HitlerBüste, deren Kopien sich übrigens gut verkauften. Die Freunde bewahrten Frank, von George spöttisch „unser kleiner Nazi“ genannt, nicht vor dieser Nähe. Der Berner Michael Stettler und der Raffael-Biograph Wilhelm Stein glaubten, wie auch andere Anhänger des Dichters, an den „Führer“. George musste doch die Vulgarität, den Nihilismus, das Barbarentum der Nazis hassen! Wie stimmt dies zusammen? Nicht die Einseitigkeit junger Heroen dieser Jahre ist zu kritisieren, und wohl auch nicht das Verhalten des Dichters, sondern die national angeheizte Luft, die der Historiker Friedrich Wolters und die Seinen, etwa Walter Elze und Kurt Hildebrandt, in die Welt des Dichters brachten und die auch viele seiner reiferen Freunde irregeführt hat. Der „Staat“ des Dichters sollte nach dieser Sicht praktisch im Reich radiziert, der Abgrund zwischen Georges „Neuem Reich“ – der Gedichtband wurde 1928 veröffentlicht – und Hitlers „Drittem Reich“ überbrückt, Poesie und Politik letztlich kurzgeschlossen werden. Georges
246
Wolfgang Graf Vitzthum
Wort, gegenüber NS-Kultusminister Rust, von seiner, des Dichters, „ahnherrschaft der neuen nationalen Bewegung“ (Mai 1933), verstört ebenfalls. Wie viele, viele andere – auch die meisten jüngeren Freunde des Dichters, auch die Brüder Stauffenberg; wer möchte es ihnen vorwerfen! – sah der 65-jährige, bereits schwer erkrankte George im Schicksalsjahr 1933 offensichtlich nicht deutlich, welche Entgrenzung des Staates, welches Willkürregime sich da vorbereitete, ja sich in ersten brutalen Schritten bereits realisierte. Georges „Prophetenstand“ (Böschenstein), hellsichtig-beschwörend noch 1914, bewährte sich in seinem letzten Lebensjahr, als es besonders auf sein Wort angekommen wäre, nicht. Aber auch die Größten, wie Goethe, wie Schiller, von den nicht ganz so großen Benn, Brecht oder Böll ganz zu schweigen, haben ja durchaus zu kritisierende Seiten, auch hinsichtlich ihrer politischen Überzeugung und Wirkung. In Georges Sicht war die Weimarer Republik die bloße Fortsetzung einer bereits seit längerem kranken Zeit. Schon die Begriffe „Republik“, Demokratie“ und „Parlamentarismus“ waren vergiftet. Viele verwendeten sie allein im pejorativen Sinne. „Ich hasse die Demokratie wie die Pest“, proklamierte Ernst Jünger, in seinen (und der Republik) Anfangsjahren ein politisch anstößiger nationalkonservativer Ideologe. Carl Schmitt, der scharfsinnig-verwirrende spätere „Kronjurist des Dritten Reiches“, schrieb (schon methodisch unhaltbar) Vernichtendes über den Parlamentarismus (1926), ebenso wie es etwa der Dichter George B. Shaw tat. Das Phänomen „Jakobinismus“ wurde bei „Republik“ und „Volksherrschaft“ stets mitgedacht: Blutvergießen also, terreur. Das auf staatsbürgerlicher Egalität und allgemeinem, gleichem Wahlrecht aufbauende parteiendemokratisch-parlamentarische System von Weimar taumelte von Krise zu Krise, primär wegen der wirtschaftlichen Misere, die die Instabilität der deutschen Gesellschaft verstärkte. Thomas Manns Bekenntnis zur Republik im Jahr 1922 war die Ausnahme. Latent war bis 1923 Bürgerkrieg: Spartakus-Aufstand, KappPutsch, Fememorde der Freikorps, Straßenschlachten. Die Massendemokratie, mit Massenmedien und Massenkonsum die neue
Wider den entgrenzten Staat
247
Wirklichkeit, wurde von der Mehrzahl gerade der Gebildeten abgelehnt. Dünkelhaft und alternativelos verschloss man die Augen vor dem „Zeitalter der Massenpolitik“ (Brecht): „‚Nur niedre herrschen noch · die edlen starben‘“ (1906). Bedurfte Max Webers entzauberte Welt der Moderne, zumal die nüchtern-mythenlose, gespaltene Gesellschaft Weimars, nicht in der Tat einer „ganz anderen Republik“? Eines „geist“und lebensbejahenden Gefüges, integriert durch Symbole, Emotionen, Dezisionen? Auch vor diesem Hintergrund, der die Frage nach den Grenzen des Staates drastisch vor Augen führt, wurde George für die Brüder Stauffenberg weit bestimmender, als es die zeitgenössischen Schriftsteller für uns in unserer noch geschäftsmäßigeren, noch visionsärmeren, noch zerrisseneren Zeit sein können. Hätte Georges Vorstellung vom „Ewigen Augenblick“ – ein Oxymoron – in unserer Postmoderne Karriere machen können? Im Widerspruch zum christlichen Zeitkontinuum lehrte der Dichter, jeden Augenblick als intensiven Moment zu erleben, exklusiv gegen alle anderen Augenblicke. Nahezu europaweit fragte man seinerzeit weiter: Ließ sich das Neue, zumindest partiell, vielleicht in manchem Alten finden, in „organischen“ Gemeinschafts-, „gestuften“ Gesellschafts- und „entschlossenen“ Regierungsmodellen? Auch der Blick ins Ausland zeigt: Die künstlerische Moderne ging oft Hand in Hand mit politisch Konservativem, ja Reaktionärem. Die bürgerlichen und deutschnationalen verfassungspolitischen Vorstellungen der 1920er Jahre jedenfalls, also der Zeit, in der die Brüder Stauffenberg ihr politisches Bewusstsein entwickelten und die Inflation den Mittelstand und das Kleinbürgertum ruinierte, waren von obrigkeitsstaatlichem Denken, auf das man heute etwa in Putins Russland wieder stößt, geprägt. Verlangten die Bedingungen der Moderne nicht überhaupt nach elitärer Umbildung der egalitären Demokratie, nach „Alleinherrschaft der Besten“ statt „Gesamtherrschaft der Massen“, nach volksgemeinschaftlicher „Einsfühlung“ (Max Scheler) in der Person eines Führers, nach „Einheit“ und Unbedingtheit also, statt nach Pluralismus, Liberalismus und Relativismus?
248
Wolfgang Graf Vitzthum
Die Weimarer Republik, die keinen demokratischen Rückhalt in der Bevölkerung hatte, musste nicht scheitern. Seit dem Kaiserreich gab es mit den im Volk verwurzelten Kirchen (vor allem der übernational-katholischen), mit dem Liberalismus und dem Wachsen der sich international öffnenden Sozialdemokratie Kräfte, die Deutschland über ihre politischen Parteien ohne die Verblendungen des Wilhelminismus und ohne die Katastrophe des Ersten Weltkriegs über kurz oder lang in die Demokratie geführt und einen funktionierenden Parlamentarismus ermöglicht hätten. Diese Kräfte kamen zu schlimmer Zeit ans Ruder. Die Ungeduld und die rigueur, auch bei den weitaus meisten Freunden Georges (etwa bei Friedrich Wolters, Johann Anton und Edgar Salin), die Wirtschaftskrise und der Persönlichkeitsfaktor Hitler gaben den Rest. Der Zeitgeist war, auf allen Seiten, von der Katastrophe von 1918 her vergiftet. V. Vor diesem Hintergrund befreundeten sich die Brüder Stauffenberg im George-Kreis, erhielten sie ihre militärische bzw. universitäre Ausbildung, traten sie in die Welt hinaus, bereit, ihre Pflichten gegenüber Volk und Staat zu erfüllen. Ausgedehnte gemeinsame Auslandsreisen gehörten dazu. Gleich die erste, im Jahr 1924, hatte Berthold ins ferne Palermo ans Grab des bewunderten Kaisers Friedrich des Zweiten geführt. Diese gemeinsamen, langsamen Fahrten und weiten Wanderungen in kultur- und geschichtsträchtiger Landschaft waren Aspekte eines „schönen Lebens“, wie es auch in der „hässlichen“ Massengesellschaft möglich erschien, wobei die als integriert und fassbar perzipierte Antike als Gegenbild zu einer unanschaulichen, zerrissenen Moderne fungierte. Zusammen mit Bertholds vorzüglichen Sprachkenntnissen (Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch) mochten die Reisen auch seinem Eintritt in den Auswärtigen Dienst aufhelfen. In London spielte er Cricket und Tennis. Dann reiste er weiter nach Oxford und Irland, monatelang beurlaubt vom offenbar nicht inspirierenden Reutlinger und Stuttgarter Referendardienst. Das nächste Ziel (1927) war
Wider den entgrenzten Staat
249
Paris. Dort frönte er auch seiner Leidenschaft, dem Reiten. Von Frankreich aus reiste er im Frühjahr 1928 – wieder eine „Entdeckung der Langsamkeit“ – mit seinem (und Max Kommerells) Freund Johann Anton nach Florenz und Locarno (im August 1929 eine ähnliche Reise: Genf, Lyon, Avignon, Arles). Dann nahm der Spitzenjurist Promotionsurlaub. Zügig legte er die Doktorarbeit „Die Rechtsstellung der russischen Handelsvertretungen“ vor (veröffentlicht 1930), umgehend bewertet von der Tübinger Juristenfakultät mit „gut –sehr gut“. Freilich, der nun 24-jährige Dr. jur. wurde nicht ins Auswärtige Amt aufgenommen. Berthold von Stauffenberg, der staatliche Mensch par excellence, gab die Hoffnung auf eine Diplomatenlaufbahn nie ganz auf, auch im Jahr 1933 nicht. Konnte man aber nach der NS-Machtergreifung da eigentlich noch mitmachen? Diese Frage haben sich die Brüder Stauffenberg offenbar nicht gestellt (ebenso wenig wie fast alle deutschen Professoren, Richter, Offiziere und Diplomaten). Im Gegenteil: Wie Claus bejahten Berthold und Alexander das herrschende Machtstaatsdenken: keine Bündnisfähigkeit ohne Macht, keine Durchsetzbarkeit nationaler Interessen ohne massive Aufrüstung, keine Abrüstung oder Rüstungskontrolle also! Speak softly but carry a big stick – hatte sich diese Maxime der weltkriegsentscheidenden USA nicht eben erst „bewährt“? Hitlers Außenpolitik traf sich dann durchaus mit Konzepten deutscher Völkerrechtler und Spitzendiplomaten („Nur, wer kann, darf!“), etwa denen Ulrich von Hassels, der nach dem 20. Juli als Widerstandskämpfer hingerichtet wurde, und Ernst von Weizsäckers, bis 1943 Außenminister Ribbentrops Staatssekretär. So gehorchten auch die Brüder Stauffenberg, trotz früh einsetzender Kritik an einzelnen Phänomenen und Maßnahmen der NS-Herrschaft, ihren Pflichten dem Staat gegenüber, mit voller Passion. „Als 1942 dann aus der Partialkritik die Konsequenzen zum generellen, aktiven Widerstand gezogen wurden, erfüllte der Frontoffizier Alexander weiterhin die für ihn primären militärischen Anforderungen. Der Gelehrte und Dichter erfuhr eine zusätzliche Prägung durch die Verinnerlichung der Existenz des Offiziers, die er sein Leben lang bewahrte“ (Christ).
250
Wolfgang Graf Vitzthum
Im Jahr 1932 hatte Stefan George seinen Freund Robert Boehringer als Universalerben eingesetzt. Da dieser in der Schweiz lebte, setzte er Berthold von Stauffenberg, der eine Referentenstelle am regierungsnahen Berliner Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht bekleidete, zum Ersatz- und Nacherben ein. Dieser wiederum verfügte, dass im Falle seines verfrühten Todes Frank Mehnert für ihn einträte. Als der Bildhauer und George-Adlatus im Frühjahr 1943 an der Ostfront fiel, bestimmte Berthold seinen Bruder Claus zum Inhaber der Anwartschaft. Für diese Zuwahl hatte er sich die Zustimmung Boehringers auf einer Dienstreise nach Genf (Mai 1943) geholt und sie dem im Afrika-Feldzug schwer verwundeten Claus ins Lazarett nach München gebracht – die beiden Brüder lebten um diese Zeit schon ihren Gedanken einer Erhebung. Die Verpflichtung, das Werk Stefan Georges fortzuführen, schultern heute eine Stiftung (mit Archiv) und eine Gesellschaft (mit Museum und Jahrbuch). Das Museum befindet sich in Georges Geburtsort Bingen. Das Jahrbuch geben Wolfgang Braungart und Ute Oelmann heraus. Das Archiv befindet sich, mit dem Hölderlin-Archiv, in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart. Die Stiftung bringt, bei Klett-Cotta, eine kurz vor ihrem Abschluss stehende (neue) Gesamtausgabe der Werke in 18 Bänden heraus – ein schlichtes Schmuckstück, wie es schon die noch überwiegend von George selbst betreute erste Gesamtausgabe (1922 –1934) war. Ab 1936 /37 konnte sich Berthold von Stauffenberg nicht mehr rückhaltlos mit seiner völkerrechtswissenschaftlichen Arbeit identifizieren. Die immer rechtswidrigeren Aktionen des HitlerStaates mochte er nicht im Faltenwurf juristischer Argumentation verstecken. So verlagerte er seine Arbeit auf den „Ausschuss für Kriegsrecht“, der 1938 dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) angegliedert wurde. Hier konnte er endlich etwas schaffen, was das reale Geschehen konkret zu beeinflussen vermochte: die Bändigung der (bevorstehenden) kriegerischen Hybris durch Recht. In diesem Gremium traf er mit Männern zusammen, die ebenfalls die in den letzten Jahren praktizierte Expansion Deutschlands mittels rechtswidriger Ge-
Wider den entgrenzten Staat
251
waltandrohung sowie die Verbrechen der NS-Rassenpolitik ablehnten: neben Helmuth James Graf von Moltke und Adam von Trott zu Solz vor allem Peter Graf Yorck von Wartenburg und Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg. Damals begann Bertholds aktive Widerstandstätigkeit. An Moltkes und Yorcks Kreisauer Beratungen nahm Berthold vier Mal teil. Sie waren ihm aber „zu theoretisch“. Die Vision einer letztlich friedlichen Gemeinschaft, in der alle Gesellschaftsschichten zum Wohle des Ganzen zusammenarbeiten, das Konzept eines aus „kleinen Gemeinschaften“ aufgebauten, durch Diskurs stabilisierten Gemeinwesens war ihm fremd. In der Tat: Bewegtsein ist keine Bewegung, „Tätigsein keine Tat“ (Hartmut von Hentig). In Hitlers Hauptquartier etwa hatten die Generäle Stieff und Fellgiebel, beide seit längerem zum militärischen Widerstand gehörend, direkten Zugang zum „Führer“ – zur Tat rangen sie sich nicht durch. Hitler soll nach der Verhaftung Fellgiebels am 20. Juli 1944 verwundert ausgerufen haben: „Der hat mir nach dem Attentat zur Errettung gratuliert, statt in der allgemeinen Konfusion die Pistole vom Hintern zu nehmen und mich totzuschießen!“ Pläne und Überlegungen, das NS-Regime zu überwinden, den Staat wieder in die Grenzen des Rechts zurück zu zwingen, gab es viele. Aber alles war gegenüber dem Handeln sekundär. Die Tat war das Entscheidende: „Einer stand auf …“ (1914). In einfacher, harter Fügung hatte George schon 1900 / 01 gedichtet: Würdigste gilde Und herrlichster rat! Traumesgebilde Hier wurden sie tat.
Insofern zählt der 20. Juli in der Gedächtniskultur der Bundesrepublik Deutschland „zu den ruhmreichen Tagen der neueren deutschen Geschichte“ (Karlauf). Beim Aufbau der Bundeswehr erwies sich der Aufstand des Gewissens im Kampf um die Freiheit dann auch als anschlussfähig für Baudissins Konzeption der Inneren Führung.
252
Wolfgang Graf Vitzthum
Die Einstellung der Brüder Stauffenberg zum Nationalsozialismus war anfangs, stützt man sich etwa auf Bertholds (foltererzwungene) Aussage vor der Gestapo nach dem 20. Juli, positiv. Auch sie ersehnten „einen Mann“, der Deutschland von den „Fesseln von Versailles“ (und der Kriegsschuldklausel) befreien und ihm „seine“ Position im internationalen System zurückerobern würde. Sie hofften auf ein neues Reich, auf einen radikalen Neuansatz – wie die große Mehrheit der Deutschen, die sich im „Kampf gegen Versailles“ verkämpften. Adolf Hitler fiel ja nicht vom Himmel. Er verdankte seinen Aufstieg, seine spezielle Weltsicht und seine revolutionäre „Grenzenlosigkeit“ einer bestimmten historischen Situation. Zunehmend beobachteten Berthold und Claus von Stauffenberg mit ihrem hohen Informationsstand allerdings das Regime mit Distanz, vor allem dann den Weltanschauungs- und Rassenkrieg im Osten, die fürchterlichen Staatsverbrechen. Hätte es nur mehr Juristen Bertholds – und Moltkes – Schlages gegeben! Vor allem die späteren Denkschriften des Kreisauer Kreises offenbaren einen Weitblick, der uns Heutigen in mancher Hinsicht abhanden gekommen ist. Klimaschutz kann nicht das Herz aller Dinge sein. Zum Oberkommando der Marine (OKM) eingezogen, als seekriegsrechtlicher Berater im (späteren) Rang eines Marineoberstabsrichters, hatte Berthold von Stauffenberg tiefen Einblick in das Kriegsgeschehen gewonnen: in die Massaker an Zivilisten und die Ermordung von Kriegsgefangenen, in das Wüten der Einsatzgruppen im Osten, die Massenmorde durch die SS. Berthold begann, Dokumente über die Verbrechen des Regimes zu sammeln. Die Deutschen selbst sollten die NS-Führer vor Gericht stellen, meinte er, bevor dies die Sieger erledigten. Die Neuordnungspläne der patriotischen Brüder Stauffenberg zielten auf das Ausschalten der politischen Willkür und die Garantie der Menschenrechte. „Rechtsstaatspatriotismus“ charakterisiert als zusammenfassender Begriff dieses Konzept. Wie auch wichtige Verbündete aus dem Lager der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften sahen Claus und Berthold von Stauffenberg im Übergang eine Militärdiktatur als unumgänglich an. Sie setzten sich für freie Wahlen zum frühestmöglichen Zeit-
Wider den entgrenzten Staat
253
punkt ein, um auf einen neuen Staatsaufbau hinzuwirken. Über den wollten sich die Kreisauer eher Vorstellungen machen als sie. „An der Staatsform war [schon George] nie gelegen [gewesen], wenn nur die Besten atmen und wirken konnten“ (Ernst Gundolf). An einer republik- und demokratiepolitischen Erziehung oder rechtsstaatlichen Grenzziehung hatte sich der Dichter nie beteiligt. Das war nicht seine Aufgabe, so wie er sie sah. „Das Schweigen Stefan Georges“ beklagte denn auch Klaus Mann, im Herbst 1933, bereits vom Exil aus. Die „unpolitische“ Überzeugung, dass die weltanschaulichen und gesellschaftlichen Entwicklungen ihn nichts angingen – „Am streit wie ihr ihn fühlt nehm ich nicht teil“ (1917) –, hatte George nach der „Machtergreifung“ beibehalten. Hatte er sich aber nicht selbst, in der Tradition Hölderlins, in die Nähe des Propheten und Priesters gerückt? „Durfte“ er jetzt schweigen? Wie aber hätte er sprechen können? Im August 1942 äußerte Claus von Stauffenberg unvermittelt, die deutsche Ausrottungspolitik im Osten vor Augen: „Die erschießen massenhaft Juden. Die Verbrechen dürfen nicht weitergehen.“ Für die Informierten, allen voran Tresckow, definierte die Vernichtung der europäischen Juden die Widerstandslage. Dies, die mörderischen Auswirkungen der NS-Rassenideologie, hat für Claus und Berthold von Stauffenberg die Tyrannentötung und den Staatsstreich noch zwingender gemacht als ihr familiärer und bildungsmäßiger Hintergrund, zwingender auch als ihr Patriotismus, ihr Berufsweg, ihre Existenz als Offiziere und ihr Bezug zur Welt des Dichters. Aber alle diese Wirkungen verstärkten einander. Nicht auf Deutschland als solches bezog sich Claus Stauffenbergs lauter Ausruf im Moment seiner Exekution – „Es lebe das heilige (oder, nach anderem Zeugnis, „das geheime“ oder „das geheiligte“) Deutschland!“ –, nicht auf das „Deutschland, Deutschland über alles“ der Unverbesserlichen. Die Tat zielte auf ein anderes, ein geistiges, ein europäisches Deutschland, auf ein Land, das unverfügbare Gebote kennt und anerkennt. Für dieses Deutschland, das ihnen nicht zuletzt Ste-
254
Wolfgang Graf Vitzthum
fan George gezeigt hatte, waren die Brüder Stauffenberg in den Krieg gezogen, nicht für Hitler. Insofern lässt sich, zugespitzt, von der Geburt der rettenden Tat auch aus dem Geiste der Dichtung sprechen, von „wort vor tat“ im Sinne eines von „vom Wort zur Tat“, ja „durch das Wort zur Tat“. Die Liebe zum Vaterland, die Pflichterfüllung gegenüber Volk und Staat, die Verantwortung für die kommenden Generationen kamen hinzu, und ebenso die – in Deutschland eine so alte wie stets neue, sich gegen allen Anschein hartnäkkig haltende – Überzeugung, „dass der Geist die eigentliche Macht repräsentiere“ (Karlauf), dass der Dichter „als Organ höherer Mächte spricht“ (Petersdorff), dass das Wort (Gottes Wort jedenfalls) eine Waffe ist, die, wie es in Luthers „Ein feste Burg“ heißt, auch Teufel „fällen“ kann. VI. Mutlosigkeit und Erschlaffung, hatten die Brüder Stauffenberg gelernt, werden überwunden, wenn wir aufhören, einem unglücklichen Schicksal die Schuld zu geben, wenn wir begreifen, dass unsere Geschicke und damit auch die unseres Staates und die Wahrung seiner (Rechts-)Grenzen in unsere Hände gelegt sind. Der Mensch ist ein Prometheus, schrieb der französische George-Interpret Claude David, autonom und mit der Fähigkeit der Selbstbestimmung. Er ist zugleich optimistisch genug zu glauben, die Götter verweigerten zur gegebenen Stunde dem nicht die Belohnung, der sie verdient hat. Freilich, Freislers Volksgerichtshof verurteilte Berthold von Stauffenberg zum Tode. Noch am selben Tag, dem 10. August 1944, wurde das Urteil vollstreckt, an einem Fleischerhaken. Damit endet unser Gang durch ein unwegsames, wichtiges Areal unserer kollektiven Erinnerung. Vor allem einen Aspekt des kulturellen Hintergrundes staatlicher Existenz und ihrer Grenzen habe ich skizziert: den Zusammenhang von poetischem Wort und heroischer Tat, die Verbindung also zwischen dem Dichter Stefan George und den für seine Gedichte, seine
Wider den entgrenzten Staat
255
Gedankenwelt und sein Bild vom Staat begeisterten und zugleich über die Entgrenzung des totalitär gewordenen Regimes umso empörten Brüdern Stauffenberg. „Größe und Verhängnis der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts lagen am 20. Juli 1944“, wie skizziert, „dicht beieinander“ (Karlauf). Welch ein Thema, nicht nur für immer neue Stauffenberg-Filme und George-Biographien, sondern auch für das grundsätzliche Überdenken des Verhältnisses von Geist und Macht, von entgrenztem Gemeinwesen und grenzziehendem Tätertum, von Dichtung und Staat – in Deutschland.
Literaturhinweise Robert Boehringer, Mein Bild von Stefan George, 2. Aufl. 1968; Bernhard Böschenstein u.a. (Hrsg.), Wissenschaftler im George-Kreis, Berlin / New York 2005, S. 83 ff.; Karl Christ, Der andere Stauffenberg, München 2008; Claude David, Stefan George, München 1987; Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992; ders., Claus Graf Stauffenberg und Stefan George: Der Weg zur Tat, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 12 (1968), S. 520 ff.; Walter Jens / Wolfgang Graf Vitzthum, Dichter und Staat, Berlin / New York 1991; Thomas Karlauf, Stefan George, München 2007; Alexander Meyer, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg (1905 – 1944), Berlin 2001; Dirk von Petersdorff, Geschichte der deutschen Lyrik, München 2008; Ulrich Raulff, Steinerne Gäste. Im Lapidarium des George-Kreises, in: Marbacher Magazin 121 (2008), S. 5 ff; Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland II, Berlin 2001; Manfred Riedel, Geheimes Deutschland, Köln u.a. 2006; Werner von Simson, Carl Schmitt und der Staat unserer Tage, in: Archiv des öffentlichen Rechts 114 (1989), S. 185 ff.; Peter Steinbach, Widerstand im Widerstreit, 2. Aufl. Paderborn u.a. 2001; Wolfgang Graf Vitzthum, Kein Stauffenberg ohne Stefan George, in: Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, Heidelberg 2007, S. 1109 ff.; Friedrich Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst, Berlin 1930; Eberhard Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg, Paderborn u.a. 1994.
Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum 2003 – 2007* * I.
Selbständig erschienene Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
II. Aufsätze, Beiträge in Sammelwerken und Falllösungen . . . 214 III. Buchbesprechungen, Buchanzeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 IV. Veröffentlichungen als Allein- oder Mitherausgeber . . . . . . 229 V.
Übersetzungen einzelner vorstehend aufgeführter Veröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
VI. Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
I. Selbständig erschienene Schriften 1. Völkerrecht. Lehrbuch (Herausgeber und Mitautor), 3. Aufl. Berlin / New York 2004, 691 S.; 4. Aufl. 2007, 745 S. 2. Der Staat der Staatengemeinschaft. Zur internationalen Verflechtung als Wirkungsbedingung moderner Staatlichkeit Paderborn u.a. 2006, 139 S. (Schönburger Gespräche zu Recht und Staat, Bd. 6) 3. Handbuch des Seerechts (Herausgeber und Mitautor), München 2006, 641 S.
II. Aufsätze, Beiträge in Sammelwerken, Falllösungen 1.
Free Ports; International Sea-Bed Area (Stichworte), in: Encyclopedia of Public International Law (= EPIL), Neuausgabe, hg. von R. Wolfrum et. al., 2008, 4 S. bzw. 11 S. (i.E.) * Stand: 1.3.2008.
258
Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum
2.
Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, in: Völkerrecht. Lehrbuch, hg. von W. Graf Vitzthum, Berlin / New York, 3. Aufl. Berlin / New York 2004, S. 1 – 77; 4. Aufl. 2007, S. 1 – 79
3.
Raum und Umwelt im Völkerrecht, in: ebd., 3. Aufl. 2004, S. 357 – 457; 4. Aufl. 2007, S. 387 – 489
4.
Staatsdichtung und Staatslehre. Das Beispiel Stefan George, in: Recht, Literatur und Kunst in der NJW, Bd. 4 (Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung), hg. v. H. Weber (Nachdruck aus NJW 2000, S. 2138 – 2147), Berlin 2003, S. 103 – 126
5.
Sicherheit im Seeverkehr. Völker- und europarechtliche Entwicklungslinien, in: P. Ehlers / W. Erbguth (Hg.), Aktuelle Entwicklungen im Seerecht II, Baden-Baden 2003, S. 61 – 82
6.
Ethnischer Föderalismus unter Protektoratsbedingungen. Das Beispiel Bosnien-Herzegowina, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hg.), Europäischer Föderalismus im 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2003, S. 118 – 141
7.
Seerechtsglobalisierung. Von der iberischen Epoche bis zur Ära der Vereinten Nationen, in: Praxixhandbuch UNO, hg. von S. von Schorlemer, Berlin / Heidelberg 2003, S. 397- 418
8.
Seerechtsfrühgeschichte. Von der vorklassischen Antike bis zur hellenistisch-römischen Epoche, in: Festschrift für K. W. Nörr, hg. von M. Ascheri u.a., Köln u.a. 2003, S. 1031 – 1056
9.
Der Bundesstaat des Grundgesetzes – in Europa, in: BosnienHerzegowina im Horizont Europas. Demokratische und föderale Elemente der Staatswerdung in Südosteuropa, hg. von W. Graf Vitzthum / I. Winkelmann, Berlin 2003, S. 177 – 194 (TSSVR, Bd. 69); ebd. auch: Vorwort und Nachwort (jeweils mit I. Winkelmann), S. 7 – 8 bzw. 227 – 232
10. Die Organisation der Welt. Der Internationale Seegerichtshof im Horizont von Walther Schückings Weltstaatenbund mit Obligatorium, in: Recht und Organisation, hg. von M. Ruffert, Berlin 2003, S. 133 – 155 (ebd. auch: Schlusswort, S. 162 – 163) 11. Staatsaufbau in Südosteuropa. Bosnien-Herzegowina als Paradigma außengestützter Staatsbildung, in: Festschrift für T. Eitel, hg. von J. A. Frowein u.a., Berlin u.a. 2003, S. 823 – 846 12. A la recherche de la Bosnie-Herzégovine. Une démocratie pluriethnique et un contrôle juridique paradigmatique?, in: Festschrift für R. Hrbek, hg. von M. Chardon u.a., Baden-Baden 2003, S. 135 – 146. Nachdruck Penser la Bosnie-Herzégovine. Une démocratie pluriethnique et un contrôle juridique paradigmatique?,
Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum
259
in: Revue de la Recherche Juridique. Droit prospectif, 2004, S. 1247 – 1257 13. Mehr Abstimmungsdemokratie wagen. Übungsklausur zum Ersten Staatsexamen (mit D. Hahn), in: VBlBW 2003, S. 38, 79 – 87 14. Schlusswort: Über Grenzen, in: An den Grenzen des Rechts. Kolloquium zum 60. Geburtstag von W. Graf Vitzthum, hg. von W. März, Berlin 2003, S. 201 – 212 15. „römischer hauch“. Stefan Georges staatspoetisches Europabild, in: Festschrift für E. Jayme, hg. von H.-P. Mansel u.a., 2 Bde., München 2004, S. 1763 – 1778 16. Europäisches Seerecht. Eine kompetenzrechtliche Skizze, in: Festschrift für P. Badura, hg. von M. Brenner u.a., München 2004, S. 1189 – 1218 17. Penser l’Europe de demain, in: Eine Verfassung für Europa, hg. von K. Beckmann u.a., Tübingen 2004, S. 37 – 50; 2. Aufl. 2005, S. 83 – 95 18. Back to Kant! An Interjection in the Debate on Cloning and Human Dignity, in: S. Vöneky / R. Wolfrum (eds.), Human Dignity and Human Cloning, Leiden / Boston 2004, S. 87 – 106 19. „Um Deutschlands und des Abendlandes willen“. Zu staats- und europapolitischen Konzepten im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in: VBlBW 2004, S. 241 – 247 20. Staatsgebiet, in: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, 3. Aufl., Heidelberg 2004, S. 163 – 192 21. Bundeswehr in den Auslandseinsatz und zurück! Übungsklausur zum Ersten Staatsexamen (mit D. Hahn), in: VBlBW 2004, 39, 71 – 80 22. „Wiederaufrichtung des zertretenen Rechts“. Ehemalige Tübinger rechtswissenschaftliche Doktoranden im Widerstand gegen das NS-Regime, in: Festschrift für D. Fleck, hg. von H. Fischer u.a., Berlin 2004, S. 643 – 662 23. Zurück zum klassischen Menschenwürdebegriff! Eine Erinnerung an Lüth, Dürig und Kant, in: Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, hg. von Th. Henne / A. Riedlinger, Berlin 2005, S. 349 – 367 24. Die Brüder Stauffenberg und Europa im Horizont Stefan Georges, in: Europas Zukunft. Vorstellungen des Kreisauer Kreises um
260
Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum Helmuth James Graf von Moltke, hg. von U. Karpen, Heidelberg 2005, S. 73 – 89
25. Die herausgeforderte Einheit der Völkerrechtsordnung, in: Festschrift für J. Delbrück, hg. von K. Dicke u.a., Berlin 2005, S. 849 – 864 26. Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Stefan Georges? Über Johann Anton, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg und Karl Josef Partsch, in: Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, hg. von B. Böschenstein u.a., Berlin / New York 2005, S. 83 – 113; Nachdruck (erweitert) in: M. Kilian (Hg.), Jenseits von Bologna – Jurisprudentia literarisch, Berlin 2006, S. 445 – 487 27. Gerechtigkeit für Bosnien? Zu Juli Zehs Bildern vom Balkan, in: Fiktionen der Gerechtigkeit. Literatur – Film – Philosophie – Recht, hg. von S. Kaul / R. Bittner, Baden-Baden 2005, S. 117 – 133 28. Annahme nach Ermessen bei Verfassungsbeschwerden? Das writ of certiorari-Verfahren des US Supreme Court als ein systemfremdes Entlastungsmodell, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, N.F. 53 (2005), S. 319 – 343 29. Der funktionale Anwendungsbereich der Grundrechte, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hg. von D. Merten / H.-J. Papier, Bd. 2, Heidelberg 2006, S. 1079 – 1127 30. Aquitoriale Souveränität. Zum Rechtsstatus von Küstenmeer und Archipelgewässern, in: Festschrift für Chr. Tomuschat, hg. von P.-M. Dupuy u.a., Kehl 2006, S. 1067 – 1086 31. Begriff, Geschichte und Quellen des Seerechts, in: Handbuch des Seerechts, hg. von W. Graf Vitzthum, München 2006, S. 1 – 61 32. Maritimes Aquitorium und Anschlusszone, in: ebd., S. 63 – 159 33. Eher Kant als Klon. Zu Biotechnologie und Verfassungsrecht in Deutschland, in: K. Asada u.a. (Hg.), Das Recht vor den Herausforderungen neuer Technologien, Tübingen 2006, S. 41 – 58. Nachdruck in: Juristen-Rechtsphilosophie, hg. von K. Kühl, Hamburg 2007, S. 213 – 230 34. Pauschale Umsetzungsermächtigung im Gentechnikrecht? Referendarexamensklausur Öffentliches Recht, JuS 2006, S. 436 – 441 (mit Th. Klink)
Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum
261
35. Kein Stauffenberg ohne Stefan George. Zu Widerstandswirkungen des Dichters, in: Festschrift für J. Isensee, hg. von O. Depenheuer u.a., Heidelberg 2007, S. 1109 – 1126 36. Rechtsstaatspatriotismus. Zu geistigen Grundlagen und staatspolitischen Vorstellungen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, in: Th. Oppermann / M. Nettesheim (Hg.), Ehrensymposium für E. Kossoy, Tübingen 2007, S. 35 – 59 37. Das Völkerrecht angesichts der „Neuen Kriege“, in: I. Richter (Hg.), Transnationale Menschenrechte, Opladen / Farmington Hills 2008, S. 223 – 240 38. Grundrechtsschutz auch am Hindukusch. Referendarexamensklausur, VBlBW 2008, S. 37, 72 – 78 (mit D. Hahn) 39. Rainer Lagoni und das Seerecht, in: P. Ehlers / M. Paschke (Hg.), Meeresfreiheit und Ocean Governance. Festgabe für R. Lagoni, Hamburg 2008, S. 53 – 72 40. Vaterland Rechtsstaat. Zum Widerstandsmotiv „Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts“, in: St. Schröder / Chr. Studt (Hg.), Der 20. Juli 1944 – Profile, Motive, Desiderate, Münster 2008 (i. E.) 41. Extraterritoriale Grundrechtsgeltung. Zu Bedingungen nachrichtendienstlicher Auslandsaufklärung, in: Th. Marauhn u.a. (Hg.), Festschrift für M. Bothe, Baden-Baden 2008, S. 1213 – 1228 (i. E.) 42. Bürgschaft für das geheime Deutschland. Zu Widerstandstat und Staatsverständnis der Brüder Stauffenberg, in: C. Heiss / H.-G. Richardi (Hg.), Für Freiheit und Recht in Europa. Der 20. Juli 1944 und der Widerstand gegen das NS-Regime in Deutschland, Österreich und Südtirol, 2008 (i. E.) 43. Quelle est l’identité de l’Europe?, in: I. Buffard u.a. (Hg.), Festschrift für G. Hafner, Leiden 2008 (i. E.) 44. Weimarer Republik und Völkerbund aus der Sicht von Berthold Graf Stauffenberg, in: R. Köster u.a. (Hg.), Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis, Berlin 2008 (i. E.)
III. Buchbesprechungen, Buchanzeigen 1. Kotzur, Markus: Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, Berlin 2001, in: DÖV 2004, S. 588
262
Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum
2. Karpen Ulrich / Hof, Hagen (Hg.): Wirkungsforschung zum Recht IV, Baden-Baden 2003, in: DVBl. 2004, S. 1089 3. Frenz, Walter: Handbuch Europarecht, Bd. 1: Europäische Grundfreiheiten, 2004, in: JZ 2005, S. 84 4. Tomuschat, Christian (Hg.): Völkerrecht, 2. Aufl., Baden-Baden 2004, in: DVBl. 2005, S. 170 5. Frenz, Walter: Handbuch Europarecht, Bd. 2: Europäische Kartellrecht, 2006; Bd. 3: Beihilfe- und Vergaberecht, 2007, in: JZ 2008 (i. E.)
IV. Veröffentlichungen als Allein- oder Mitherausgeber 1. (Schriftenreihe) Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht (TSR), Berlin, seit 1983 (z. Zt. 88 Bde.) 2. (Schriftenreihe) Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht (TSSV), Berlin, seit 1989 (z. Zt. 77 Bde.) 3. (Schriftenreihe) Integration Europas und Ordnung der Weltwirtschaft, Baden-Baden, seit 1994 (z. Zt. 34 Bde.) 4. Jahrbuch des Föderalismus (Mitherausgeber), Baden-Baden (z. Zt. 8 Bde.) 5. (Schriftenreihe) Studien zur Geschichte des Völkerrechts (Mitherausgeber), Baden-Baden, seit 2002 (z. Zt. 16 Bde.) 6. Bosnien-Herzegowina im Horizont Europas. Demokratische und föderale Elemente der Staatswerdung in Südosteuropa (Mitherausgeber und Mitautor), Berlin 2003, 232 S. (TSSVR, Bd. 69) 7. Europäischer Föderalismus im 21. Jahrhundert (Mitherausgeber und Mitautor), Baden-Baden 2003 (Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung, Bd. 24) 8. Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft (Mitherausgeber und Mitautor), Berlin / New York 2005, 376 S. 9. Europe et Mondialisation. Europa und die Globalisierung (Mitherausgeber und Mitautor), Aix-en-Provence 2006, 386 S. 10. Thomas Oppermann, Ius Europaeum. Beiträge zur europäischen Einigung (Mitherausgeber), Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht, Band 75, Berlin 2006, 512 S.
Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum
263
V. Übersetzungen einzelner vorstehend aufgeführter Veröffentlichungen 1. Die herausgeforderte Einheit der Völkerrechtsordnung, in: K. Dicke u.a. (Hg.), Festschrift für J. Delbrück, Berlin 2005, S. 849 – 864, in: Diálogo Cientifico, vol. 13 (2004), S. 41 – 53 (spanisch) sowie in: Europe et Mondialisation. Europa und die Globalisierung, Aix-enProvence 2006, S. 297 – 309 (französisch) 2. Völkerrecht. Lehrbuch (Herausgeber und Mitautor), 4. Aufl. 2007 (Russisch-Übersetzung in Bearbeitung)
VI. Sonstiges 1. „Um Deutschlands und des Abendlandes willen“. Zu staats- und europapolitischen Konzepten im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in: Genossenschaft Rheinland-Pfalz-Saar des Johanniterordens (Hg.), Saarbrücken 2003, S. 47 – 86 (Festvortrag) 2. Laudatio auf Bertram Schefold, in: Tübinger Universitätsreden, Verleihung der Ehrendoktorwürde an Professor Dr. B. Schefold am 4. Mai 2004, 2004, S. 25 – 36 3. Freiburg, Fuchsstrasse 16. Erinnerungen an Walter Elze, in: V. Caspari (Hg.), Festschrift für B. Schefold, Frankfurt / M. 2008 (i.E.)
Verzeichnis der bei Wolfgang Graf Vitzthum seit 2003 abgeschlossenen Dissertationen** 1. Allmendinger, Michael: Buchten im Völkerrecht, 2006 (TSR, Bd. 83) 2. Barth, Eckhard: Petitionsrecht und Europäischer Bürgerbeauftragter im Prozess der europäischen Verfassungsgebung, 2004 3. Blanke-Kießling, Ursula: „… dieser Staat ist nicht mein Staat …“. Über das Staats- und Verfassungsdenken Kurt Tucholskys, 2008 4. Brett, Angela: Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerdeverfahren im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, 2008 (TSR, i.E.) 5. Bühler, Margit Hanna: Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2006 (TSR, Bd. 75) 6. Denfeld, Claudia: Hans Wehberg (1885 –1962). Die Organisation der Staatengemeinschaft, 2007 (Studien zur Geschichte des Völkerrechts, i.E.) 7. Hofmann, Björn Jost: Das Küstenmeer im Völkerrecht, 2007 8. Kanz, Michael: Inmarsat. Der Rechtsstatuts der Internationalen Satellitenorganisation für den Seefunkverkehr im Wandel der globalen Kommunikation, 2006 9. Kees, Alexander Oliver: Privatisierung im Völkerrecht. Zur Verantwortlichkeit der Staaten bei der Privatisierung von Staatsaufgaben, 2008 (TSR, Bd. 88)
* Stand: 1.3.2008. Die zuvor abgeschlossenen Dissertationen (und Habilitationen) finden sich in: Wolfgang März (Hg.), An den Grenzen des Rechts. Kolloquium zum 60. Geburtstag von Wolfgang Graf Vitzthum, Berlin 2003, S. 235 –239). – Jahreszahl = Datum der Veröffentlichung. TSR = Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht. TSSV = Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht.
266
Betreute Dissertationen
10. Molsberger, Philipp: Das Subsidiaritätsprinzip im Prozess europäischer Konstitutionalisierung, 2008 (TSR, i. E.) 11. Pröfrock, Matthias: Energieversorgungssicherheit im Recht der Europäischen Union/Europäischen Gemeinschaften, 2007 12. Rehs, Alexander Michael: Gerichtliche Kontrolle internationaler Verwaltung – das Beispiel Bosnien und Herzegowina, 2006 (TSR, Bd. 84) 13. Reichert, Götz: Der nachhaltige Schutz grenzübergreifender Gewässer in Europa. Die Entstehung eines völker- und europarechtlichen Umweltregimes, 2006 (TSR, Bd. 76) 14. Rijsbergen, Claudia Margarete: Der besondere Schutz von Ehe und Familie. Die verfassungsrechtliche Einordnung nichtehelicher Lebensgemeinschaften und Lebenspartnerschaften unter dem Blickwinkel des Verfassungwandels, 2005 15. Frhr. von Saint André-von Arnim, Ferdinand: Der Wert des Kulturerbes für die Gesellschaft. Genesis und Gegenstand der Europarats-Rahmenkonvention von 2005, 2007 16. Scherrer, Philipp: Das Parlament und sein Heer – das Parlamentsbeteiligungsgesetz, 2008 (TSSV, i.E.) 17. Schult, Henning: Das völkerrechtliche Schiffssicherheitsregime zum Schutz der Meere vor Verschmutzung durch Öltankerunfälle. Eine Analyse der Kompetenzen von Küsten-, Hafenstaaten und regionalen Organisationen in der Schiffssicherheit unter besonderer Berücksichtigung der Regelungstätigkeit der Europäischen Gemeinschaft, 2006 (TSR, Bd. 78) 18. Trümpler, Kai: Grenzen und Abgrenzungen des Küstenmeeres, 2007 (TSR, Bd. 85) 19. Wax, Andreas: Internationales Sportrecht. Unter besonderer Berücksichtigung des Sportvölkerrechts, 2008 (TSR, i.E.) 20. Wehrle, Jochen: Der Streit um die Nordanflüge – völkerrechtliche Probleme des Anflugs auf grenznahe Flughäfen. Dargestellt am Beispiel des Flughafens Zürich, 2008 (Schriften zum Planungs-, Verkehrs- und Technikrecht, Bd. 26)