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German Pages 548 [552] Year 1989
Krisis der Metaphysik
w DE
G
Krisis der Metaphysik Herausgegeben von
Günter Abel und Jörg Salaquarda
1989 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)
CIP-Titelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Krisis der Metaphysik: [Wolfgang Müller-Lauter zum 65. Geburtstag] / hrsg. von Günter Abel u. Jörg Salaquarda. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1989 ISBN 3-11-011269-8 NE: Abel, Günter [Hrsg.]; Müller-Lauter, Wolfgang: Festschrift
© 1989 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Wolfgang Müller-Lauter zum 65. Geburtstag
Vorwort Metaphysikkritik ist stets Bestandteil der Metaphysik selbst gewesen. Beide haben in den letzten Jahren erneut und verstärkt Interesse gefunden. Besonders wichtig ist die heute weitverbreitete Auffassung, geschichtlich mit einem Einschnitt von epochaler Bedeutung konfrontiert zu sein und in einer Zeit des Übergangs zu leben. Daß philosophische Grundpositionen mit der Zeit ihre auslegende und orientierende Kraft für das Welt- und Selbstverständnis einbüßen und durch andere ersetzt werden, ist nicht neu. Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts jedoch wird die Frage nach dem ,Ende', der ,Aufhebung', .Auflösung' und ,Überwindung' der Metaphysik und damit der Philosophie als solcher zunehmend relevant. Es war Nietzsche, der wohl als erster die provozierende These formuliert hat, daß die Epoche der Metaphysik, und das heißt: die Metaphysik als Epoche, an ihr Ende gekommen sei und nun etwas Neues beginnen könne und müsse, — ja, wenn auch noch kaum bemerkt, bereits begonnen habe. Unsere geschichtliche Situation ist ambivalent. Einerseits können die großen Projekte der Metaphysik (wie ζ. B. die Erkenntnis dessen, was ist, sowie der Fundamentalismus des Wissens und Erkennens) als gescheitert angesehen werden. Andererseits scheint jeder Satz, den wir sprechen, jeder Gedanke, den wir denken, und jede Handlung, die wir vollführen, auf Metaphysik zu beruhen. Denn die Sinnhaftigkeit unseres Sprechens, Denkens und Handelns, um deren Klärung sich Philosophie bemüht, scheint unaufhebbar an metaphysische Voraussetzungen geknüpft zu sein. Insofern gibt es gute Gründe zu behaupten, daß Philosophie selbst wesentlich Metaphysik ist. Was aber kann dann die Rede von der .Überwindung' der Metaphysik überhaupt bedeuten? Und ist nicht gerade die Absicht der .Überwindung' selbst eine überaus metaphysische Denkfigur? Zudem würde im Ende der Metaphysik auch die Philosophie selbst verschwinden. Andererseits ist unsere geschichtliche Lage jedoch dadurch gekennzeichnet, daß ein Denken ohne ,letzte' Fundamente und ein Leben ohne .letzte' Begründung gefordert scheinen. Wie aber ist das möglich? Und welche Folgen hätte es für das ,,Ιη-der-Welt-Sein" des Menschen? Der vorliegende Band möchte einen Beitrag leisten zu Fragen der Diagnose, der Kritik und der möglichen Zukunft der Metaphysik sowie zur Klärung dessen, was es heißen könnte, über ein nach-metaphysisches Welt- und Selbstverständnis zu verfügen. Die Beiträge sind in drei Gruppen unterteilt. Teil I befaßt sich unter dem Titel „Erste Philosophie" mit
Vili
Vorwort
Problemen der metaphysischen Tradition. In Teil II geht es um die „Kritik der Metaphysik". Zentral ist hier das Denken Nietzsches, in dem radikaler als irgendwo sonst die Probleme der Metaphysik und die Metaphysik als Problem artikuliert werden und ein Bewußtsein von der Notwendigkeit eines Neuanfangs zum Ausdruck kommt. Unter dem Titel „Aspekte nachmetaphysischen Denkens" enthält Teil III Beiträge zu Fragen eines nicht mehr metaphysischen und/oder eines verändert metaphysischen Denkens. Aus der Vielfalt der Themen und Bezüge, die in den einzelnen Beiträgen des Bandes behandelt werden, seien hier zum Zweck einer kurzen orientierenden Übersicht vier Schwerpunkte herausgegriffen, von denen die meisten Autoren mehr als einen erörtern: (1) Differenzierungen hinsichtlich des Verständnisses der metaphysischen Tradition; (2) Würdigung von Phänomenen, die in der Tradition nicht oder nicht genügend zur Geltung gebracht worden sind; (3) Infragestellung der Alternative zwischen dem Gefangensein in der Metaphysik und deren Überwindung; und (4) Aspekte der Erneuerung von Metaphysik und/oder deren Ablösung in einem nach-metaphysischen Denken. Ad 1: In einigen Beiträgen wird argumentiert, daß die metaphysische Tradition in sich differenzierter ist, als sie durch ihre Kritiker, etwa Nietzsche oder Heidegger, gezeichnet wird. So stellt Reding gegen Heideggers Aristoteles-Interpretation heraus, daß schon der Stagirite das „animal rationale" nicht von einer vorausgesetzten allgemeinen „animalitas" her begriffen, sondern als einheitliches Wesen verstanden hat, dessen „animalitas" durch seine Vernunftstruktur bestimmt ist. Borsche argumentiert, umgekehrt ansetzend, daß die für Nietzsches Denken kennzeichnende Beziehung von „Wort und Antwort", aus der sich Wahrheit konstituiert, bereits an wichtigen Stationen der Tradition ablesbar ist. Indem Nietzsche diese Struktur von dem Konzept der „Einheit" ablöst, vollzieht er zwar eine kritische Wendung gegenüber der Tradition, setzt diese aber mit der Grundfigur selbst doch auch fort. Schmithals weist nach, daß Theologie sich von jeher philosophischer Mittel bedienen konnte, ohne deswegen deren Voraussetzungen übernehmen zu müssen. So habe Paulus auf dem Hintergrund der „Botschaft vom Kreuz" die griechische Popularphilosophie gerade dazu benutzt, ihre Unfähigkeit zu wahrer Gotteserkenntnis zu demonstrieren. Bauer macht am Beispiel von Schopenhauers Auseinandersetzung mit Kant auf Wandlungen des Metaphysikverständnisses aufmerksam, die sich mitunter in seltsamen Überschneidungen vollziehen. Schopenhauer hat bei seinem Versuch der Neukonstituierung von Metaphysik einen Begriff derselben wiederaufgenommen, den Kant in seiner kritischen Periode zwar nicht aufgegeben, aber erheblich modifiziert hatte. In eine etwas andere Optik führt der Beitrag von Riedel. Er argumentiert,
Vorwort
IX
daß der junge Nietzsche einem genuinen Verständnis des Parmenideischen Lehrgedichts näher war als alle seine Vorgänger und Zeitgenossen. Daß dennoch auch er schließlich den Sinn der Wendung des Parmenides zur Ontologie mißverstand, liege daran, daß er seiner neuen Einsicht nicht konsequent treu blieb, sondern dem Einfluß der von Aristoteles vorgezeichneten Interpretation erlag. Ad 2: Mag die metaphysische Tradition auch nicht monolithisch gewesen sein, so gab es doch eine Reihe von Phänomenen, mit denen sie sich notorisch schwer tat, weil sie nicht in ihr vorgegebenes Schema paßten. So ist z. B. das „Lachen" von der Tradition zwar als ein „proprium" des Menschen anerkannt, für die Anthropologie selbst aber nicht weiter fruchtbar gemacht worden. Blondel weist demgegenüber auf die zentrale Rolle dieses Phänomens im Denken Nietzsches hin. Diesen Aspekt betont auch Behler, der neben dem Lachen den Tanz und andere Ausdrucksformen des Leibes hervorhebt. Simon betont die Rolle des (von der Metaphysik als einem „ineffabile" vernachlässigten) Individuellen für Nietzsche und für das nach-nietzschesche Denken. Das einverleibte kategoriale Schema der Metaphysik könne man zwar nicht ablegen, aber es doch auf eine je individuelle Weise handhaben und ihm dadurch etwas von seinem Charakter der Allgemeinheit nehmen. Schwan stellt den Person-Begriff ins Zentrum seiner Überlegungen und kommt zu dem Schluß, daß ein postmetaphysisches Denken nicht von einer absolut verstandenen Vernunft, sondern von der Personalität in ihren mannigfachen Bezügen und Verwurzelungen getragen wird. Hinweisen läßt sich auch auf Abels Aufwertung der Musik, wodurch diese nicht nur als Gegenstand einer ästhetischen Theorie in den Blick kommt, sondern zum Paradigma für ein neues Weltgefühl des Menschen wird. Pöggeler und Janke thematisieren das Phänomen der Zeit. Pöggeler tut dies im Zuge eines Plädoyers für das „Erörtern" als der die Zeit berücksichtigenden Methode einer nachmetaphysischen Hermeneutik. Janke entwickelt die Wesensmerkmale der drei Zeitekstasen phänomenologisch aus der Erfahrung des Gestern, Heute und Morgen. Maurer dagegen betont in seiner Thesenreihe nicht die in der Metaphysik vernachlässigten Aspekte, sondern konstatiert ein neues Interesse an dem sokratisch-platonischen Modell des besten Staates. Er erklärt es damit, daß das bisher weithin akzeptierte Hobbessche Modell versage, weil die Pleonexie in einer überbevölkerten, an die Grenzen des Wachstums stoßenden Welt, anders als von Hobbes vorgesehen, auch im Ökonomischen der Zügelung bedarf. Ad 3: Die Alternative „Überwindung der Metaphysik" oder „Gefangensein in der Metaphysik" wird im vorliegenden Band vor allem im Blick auf Nietzsches Denken diskutiert, — unter implizitem Bezug auf Heideggers These von Nietzsche als dem letzten Metaphysiker bzw. von
χ
Vorwort
der Vollendung der Metaphysik im Denken Nietzsches. Diese These, der bekanntlich Müller-Lauter entschieden widersprochen hat, ist von fast allen späteren Interpreten aufgegeben worden. Simon plädiert in dem vorliegenden Band und mit Bezug auf die bereits erwähnte Spannung zwischen dem kategorialen Schema und der Individualität eher für ein ,Sowohl — Als Auch'. Figi kommt bei seinen Überlegungen im Ausgang von der Kontroverse zwischen Derrida und Gadamer über Nietzsches Stellung in der Geschichte des Denkens zu einem ähnlichen Ergebnis. An Nietzsches Hermeneutik zeige sich, daß ein Entweder-Oder nicht ausreicht. Die „Kunst des Lesens" ist für Nietzsche weder beliebiges Spiel ohne Kriterien noch übersieht er die Verborgenheit des zu Verstehenden. Wie ein Text aus einem Lebenszusammenhang stammt, so muß er auch wieder in einen solchen aufgenommen werden, um „verstanden" zu sein. Auch Djuric findet in Nietzsches Denken beides: Motive, die von der Metaphysik geprägt sind, und andere, die über sie hinausweisen, wobei er nur letztere für philosophisch bedeutsam hält. Djuric thematisiert ein solches Motiv in Nietzsches Werk, indem er die Entwicklungen des „tragischen Gedankens" der Frühschriften in den späteren Wiederkunftsgedanken verfolgt. Beide Gedanken sind Ausdruck der Unvergänglichkeit und der lustvollen Erneuerung des Lebens. Wie Figi nimmt auch Behler zu einer Kontroverse Stellung. Auf der einen Seite steht Paul de Man, der in Nietzsches Denken (vor allem in der frühen und inzwischen in großen Partien als Kompilation nachgewiesenen Skizze Uber Wahrheit und Lüge) die Trauer über den Verlust aller Gewißheit vorherrschen sieht. Demgegenüber vertritt Derrida die These, daß die Freude am Neuen, an Stärke, Lachen und Tanz überwiegt. Behler folgt eher Derrida, favorisiert mithin das Moment der Überwindung der Metaphysik. Einige andere Autoren, besonders Grau, Kaulbach und Gerhardt, neigen zu dem Modell bewahrender Verwandlung. Für sie bleibt Nietzsche Metaphysiker, weil Metaphysik indispensabel ist, allerdings erfahre Metaphysik in Nietzsches Denken Veränderungen. Dagegen betont Abel in seinen Überlegungen zur Wahrheitsproblematik diejenigen Aspekte, in denen der Essentialismus der metaphysischen Tradition zurückgelassen werden kann. Dem kontrastiert wiederum Bisers Meinung, der, anders als Schmithals, von der bleibenden Angewiesenheit der theologischen Reflexion des Glaubens auf Philosophie ausgeht. Bisers Überlegungen gelten der Frage, was aus der Theologie wird, wenn Metaphysik und damit Philosophie überhaupt entfallen. Die geschichtlich zutage getretenen Fragwürdigkeiten der Metaphysik prägen auch Werke der Literatur. Stojanovic betont dies im Hinblick auf Dostojewski. Die Folgen des Zusammenbruchs der überlieferten Werte und der Verlust an überkommener Ordnung stehen in Dostojewskis Romanen im Vordergrund. Zugleich wird in
Vorwort
XI
Umrissen eine neue Sichtweise in Gestalt einer paradoxalen Metaphysik der Liebe erkennbar. Die Liebe ermögliche ein wahrhaft menschliches Leben, aber sie lasse sich in der Welt nicht realisieren. Pestalozzi erörtert die Auflösung des metaphysischen Hintergrundes bei zwei anderen Autoren. Musil hat in seinem Törless an Motive Maeterlincks so angeknüpft, daß er die bei diesem noch virulenten metaphysischen Antriebe weitgehend psychologisiert und sie nur noch zitierend-spielerisch verwendet. Ad 4: In der Nietzsche-Forschung wird inzwischen von manchen Autoren nicht nur die Heideggersche These von der Vollendung der Metaphysik bei Nietzsche, sondern darüber hinaus auch Heideggers Verständnis von Metaphysik als „Onto-Theo-Logie" verworfen. In diesem Zusammenhang spielen das Verhältnis Nietzsches zu Kant sowie die Stellung Schopenhauers eine wichtige Rolle. Daß Nietzsche trotz seiner Polemik gegen Kant an dessen Kritizismus anknüpft und sein „Experiment mit der Vernunft" fortsetzt, betonen Kaulbach und Grau, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Grau zeigt, daß hinter Nietzsches kritischen Bermerkungen eine Wertschätzung zumindest der Kritik der reinen (theoretischen) Vernunft unübersehbar ist. Allerdings argwöhnt Grau, daß Nietzsche mit seiner psychologisch-historischen Methode und dann mit seiner Lehre vom Machtwillen sich wieder von Kant entfernt und in einen vorkritischen Dogmatismus zurückzufallen drohe. Kaulbach dagegen betont die Weiterführung des Kritizismus bei Nietzsche. So intendiere auch Nietzsche keine auf Objekte gehende dogmatische Metaphysik, sondern möchte mit Hilfe von Vernunft die Bedeutsamkeit von Perspektiven für den Denkenden und Sprechenden prüfen, die Kaulbach als „Sinnwahrheit" bezeichnet. Stärker als die meisten anderen Interpreten sieht Gerhardt Nietzsche in der Kontinuität der metaphysischen Tradition. Nietzsches Immoralismus habe selbst moralische Wurzeln. Denn „aus Moral" habe Nietzsche sich gegen die platonisch-christliche Auffassung und deren (im Sinne ihres eigenen Anspruchs) unmoralische Grundlage gewandt. Diese Intentionen Nietzsches könne und müsse eine zeitgemäße Ethik aufnehmen. Eine verwandte Einstellung liegt der bereits erwähnten Untersuchung Borsches zugrunde. Abels Studie dagegen möchte ein nach-metaphysisches Wahrheitsverständnis skizzieren, das nicht mehr der metaphysischen Was-Ftage verpflichtet ist. Dies erfolgt in der Optik der Interpretationsphilosophie. Neben Bauer, auf dessen Untersuchung bereits hingewiesen wurde, geht auch Salaquarda auf die Rolle Schopenhauers im Prozeß der Auflösung bzw. Verwandlung von Metaphysik ein. Nietzsche habe nicht nur in seiner Metaphysikkritik, sondern auch in zentralen positiven Bestimmungen seines neuen Denkens an Schopenhauer angeknüpft. Legt man den Metaphysikbegriff der Kantischen Tradition zugrunde, dann läßt
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Vorwort
sich auch Schopenhauers Metaphysikbegriff neu interpretieren und ein Stück weit verteidigen. Die Autoren widmen den vorliegenden Band Wolfgang Müller-Lauter zum 65. Geburtstag. Müller-Lauters Denken ist von der Erfahrung der Krisis der Metaphysik geprägt. Seine Veröffentlichungen gelten ihrer Explikation sowie der Suche nach veränderten, ,anderen' Wegen. Zu vielen der in diesem Band erörterten Themen hat Müller-Lauter wichtige Arbeiten vorgelegt. Im Zentrum stehen seine Studien zu Nietzsche, die für die Forschung richtungweisend geworden sind. Zugleich sind die Untersuchungen zum Denken Heideggers, zur Existenzphilosophie, zur philosophischen Theologie, zur Geschichte des Nihilismus und des Atheismus, zu Kant und zum Deutschen Idealismus zu nennen. Die Herausgeber danken den Autoren für ihre Mitarbeit. Im Verlag Walter de Gruyter ist Herrn Professor Heinz Wenzel für die Aufnahme des Bandes in das Verlagsprogramm und Frau Grit Müller für die Herstellung und Betreuung zu danken. Für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses sind wir der „Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Berlin West)" und der „Evangelischen Kirche der Union" zu Dank verpflichtet. Besonderer Dank gilt den Mitarbeitern am Institut für Philosophie der Technischen Universität Berlin: Frau Bärbel Lehmann im Sekretariat und den Herren Ulrich Dirks, Frank Hilberg und Dieter Hinse für ihre wertvolle Hilfe bei den redaktionellen Arbeiten und für die Erstellung der Register. Das Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Müller-Lauter hat Johannes Neininger angefertigt. Berlin, im Sommer 1989
G.A./J.S.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
VII I. Erste Philosophie
Marcel Reding Zur physisch-metaphysischen Seinsverfassung des Menschen . . . Tilman Borsche Das Eine und die Antwort. Nietzsches Kritik des mystischen Ursprungs der Metaphysik Walter Schmithals Paulus und die griechische Philosophie Martin Bauer animal metaphysicum. Bemerkungen zu Schopenhauers Rehabilitation der Metaphysik Dragan Stojanovic Metaphysik und Die Brüder Karamasow
3
13 34
54 81
II. Kritik der Metaphysik Josef Simon Welt auf Zeit. Nietzsches Denken in der Spannung zwischen der Absolutheit des Individuums und dem kategorialen Schema der Metaphysik Friedrich Kaulbach Kritik der Vernunft und Vernunft der Sinnwahrheit bei Nietzsche Johann Figi Nietzsches Verständnis der „Kunst des Lesens". Skripturalität als hermeneutische Aufgabe im Kontext der Metaphysikdiskussion Mihailo Djuric Nietzsches tragischer Gedanke Eric Blondel „UND DOCH". Zur Philosophie „des goldnen Gelächters" . . . . Gerd-Günther Grau Wille zur Macht oder Wille zur Wahrheit? Nietzsche und Kant Jörg Salaquarda Nietzsches Metaphysikkritik und ihre Vorbereitung durch Schopenhauer
109 134
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258
XIV
Inhaltsverzeichnis
Emst Behler Selbstkritik der Philosophie in der dekonstruktiven Nietzschelektüre 283 Manfred Riedel Präludium zur Ontologie? Nietzsche und Parmenides 307 III. Aspekte nach-metaphysischen Denkens Günter Abel Wahrheit als Interpretation Otto Pöggeler Zeit und Hermeneutik Wolfgang Janke In-der-Zeit-Sein. Beispiele für eine postmetaphysische Kategorienlehre Volker Gerhardt Die Moral des Immoralismus. Nietzsches Beitrag zu einer Grundlegung der Ethik Alexander Schwan Die philosophische Begründbarkeit freiheitlicher Politik Reinhart Maurer Innere Verfassung und Black Box. Thesen über das moderne Interesse an Piatons „Staat" Eugen Biser Philosophie als Schlüssel zu den Dimensionen des Glaubens . . . Karl Pestalozzi Metaphysische Klaustrophobie: Maeterlinck als Schlüssel zu Musils „Törless"
331 364
389
417 448
469 481
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Verzeichnis der Schriften Wolfgang Müller-Lauters
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Register Personen Sachen
525 531
I. Erste Philosophie
M A R C E L REDING
Zur physisch-metaphysischen Seinsverfassung des Menschen Solange das Seiende im Ganzen Physis bedeutete, wie das bei den früheren griechischen Philosophen der Fall war, gab es auch nichts Metaphysisches, was hinter oder über der Physis gestanden hätte. Erst die Reflexionen des Parmenides über das Sein und das Seiende führten zu einem Schnitt zwischen dem Seienden, der wahren Welt, und dem sinnenhaft Erscheinenden, der höchstens wahrscheinlichen, trügerischen Sinnenwelt, was die Sterblichen für das Wahre halten, das Werden und Vergehen, die Ortsveränderung, der Wechsel der Farben, die Daten des blicklosen Auges und des dröhnenden Gehörs, gehört dem Bestand der gängigen Meinungen an. 1 I. Eine Kritik der Zenonischen Argumente für die Thesen des Parmenides, das Nachdenken über Eigenwert und Wesen der Sinneserkenntnis und Sinneswirklichkeit führte Aristoteles zu einer Abgrenzung der Physis, der physischen Wirklichkeit, die nun in einer speziellen Disziplin, der Physik, wissenschaftlich behandelt werden sollte. Physis, Natur, „Naturbeschaffenheit ist eine Art Anfang und Ursache von Bewegung und Ruhe an dem Ding, dem sie im eigentlichen Sinne, an und für sich, nicht nur nebenbei zukommt." 2 Heidegger meint, das Wort Natur habe die Nennkraft der griechischen Physis verloren, ja sie sogar zerstört. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß Thomas v. Aquin in De Ente et Essentia (Kap. 1) Natur als essentia rei secundum quod habet ordinem vel ordinationem ad propriam operationem rei, cum nulla res propria destituatur operatione, bestimmt. Welches sind die Wirklichkeiten, die Bewegung und Ruhe aus einem inneren Prinzip haben? Es sind die aus Form und Stoff bestehenden Wirklichkeiten. 3 Die Form für sich genommen, ohne Verbindung mit der Materie, gehört nicht zu der Natur. 4 Sie ist nicht physisch, natürlich, sie liegt hinter 1 2 3 4
Parmenides, Frg. 7 — 8 Aristoteles, Phys. II, 1, 192 b 2 1 - 2 3 , Übers. Zekl. Aristoteles, Phys. II, 2, 194a 1 2 - 1 3 Aristoteles, Phys. II, 7, 198 a 37
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Marcel Reding
der Natur, oder auch über ihr, jenseits der Natur, ist meta-physisch, nachnatürlich, über-natürlich, wie z. B. der erste Beweger. 5 Es ist schwer, den passenden deutschen Ausdruck fürs Metaphysische zu finden. ,Ubernatürlich' ist durch die christliche Theologie geprägt. Vielleicht wäre ,sinnenhaft', ,naturhaft', für physisch und ,übersinnlich', ,übernaturhaft' für metaphysisch noch das Passendste. Über-naturhaft, weil rangmäßig das Höhere, nach-naturhaft, weil für menschliches Erkennen auf die Sinnenwelt folgend. Doch genug der Wortsuche, damit nicht der Eindruck entstehe, „hier werde, statt die Wesensverhalte zu bedenken, lediglich das Wörterbuch benützt". 6 Der Ubergang von den sinnhaften Dingen zu den reinen Formen ist kein Ubergang vom Individuellen zum Allgemeinen, sondern von den individuellen, materiebehafteten Dingen zu individuellen immateriellen Wirklichkeiten wie den substantiellen Formen und der erste Beweger. Dieser Übergang ist auch Prinzip der Erkenntnis und der Erkennbarkeit. Die Wahrnehmung beispielsweise vermag das Rot deshalb zu erkennen, weil sie die Form des Roten in sich aufzunehmen vermag, ohne selbst rot zu werden, weil ihr ein gewisser Grad von Immaterialität zueigen ist. Im 8. Buch der Physik geht Aristoteles methodisch von der Welt der Bewegung und Veränderungen zum ersten unbewegten Beweger über. Die Welt der Bewegung bedarf einer Quelle der Bewegung, die als Quelle der Bewegung unbewegt, als Quelle einer unendlichen Bewegung unendlich und als unendlich körperlos sein muß. Einen ähnlichen Schritt gibt es von der Beobachtung des Seelenlebens her. Es gibt einen kontinuierlichen Gang von den untersten Stufen des Lebendigen, den Pflanzen, bis zum Menschen. Das Lebensprinzip der Pflanzen ist die vegetative Seele, deren Funktion Fortpflanzung und Ernährung sind. Der Ubergang zu den sinnenbegabten Lebewesen ist bisweilen schwer festzustellen. 7 Den Tastsinn besitzen alle Tiere gemeinsam. 8 Die moderne Psychologie spricht nicht mehr von dem Tastsinn, der in der Haut lokalisiert ist, weil sich unter den in der Haut lokalisierten Empfindungen Unterschiede zeigen, die eine Unterscheidung in Druck-, Temperatur- und Schmerzempfindungen nahelegen. Nach Behandlung der fünf Sinne geht Aristoteles zur Erörterung des inneren Sinnes, der die 5 6 7 8
Aristoteles, Phys. II, 7, 198 b 2 - 3 Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Aristoteles, Hist. An. 13,1 Aristoteles, Hist. An. 1,4
Pfullingen 1954, S. 173
Zur physisch-metaphysischen Seinsverfassung des Menschen
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Sinnesdaten der äußeren Sinne vergleicht, und des Vorstellungsvermögens über, das von der Gegenwart seines Gegenstandes absieht und damit eine größere Freizügigkeit genießt, jedoch auch der Belastung durch Trugvorstellungen ausgesetzt ist. Das Vorstellungsvermögen ist noch vielen Tieren zueigen. Jenseits der Vorstellungen erscheinen die von ihnen verschiedenen unanschaulichen allgemeinen Begriffe, deren Existenz an kein körperliches Organ gebunden ist. Sie erfassen den Kern, das Wesen der Dinge. Bezeichnet man das Wesen der Dinge als das id quod est, als das Seiende, so fángt hier das Reich der Wesenheiten, des Seienden und des Seins an. Wenn man mit Piaton annehmen könnte, es gäbe die Ideen des Seins, des Guten, des Schönen, so brauchte man nur einen geistigen Sinn zu postulieren, der diese Ideen erfassen würde, sei es durch Schau, sei es durch Berührung. Da es diese Ideen nach Aristoteles nicht gibt, muß es ein geistiges Sein geben, das die Wesen aus den Dingen herausarbeitet, um auf diese Weise zu den Begriffen zu gelangen, die Wissen und Wissenschaft ermöglichen. Das Sehen hat ein körperliches Organ, das Auge, das materielle Wirklichkeit ist, die Seele aber, die die Farbe über das Auge aufnimmt, ist in dem Maße immateriell, daß sie die Farbe aufnehmen kann, ohne selber farbig zu werden. Die Immaterialität der Seele ist der Grund für diese Möglichkeit des Sehens. Das Denken als Denken hat kein körperliches Organ. Die tätige Vernunft arbeitet die Wesenstrukturen aus den sinnenhaften Vorstellungen heraus und die leidende Vernunft übernimmt das Ergebnis dieser Tätigkeit. Beide Tätigkeiten sind nur insofern an das Körperliche gebunden, als die Sinne, insbesondere die Vorstellungen, der aktiven Denkkraft den Stoff zuführen, aus dem sie das Wesen herausarbeitet und der leidenden Vernunft vermittelt. Die Ausführungen des Aristoteles im 3. Buch der Psychologie zu unserem Problem sind vielfach dunkel und haben zu vielerlei Interpretationen geführt, die hin bis zu der Annahme reichen, die tätige Vernunft sei mit dem göttlichen Verstand identisch. Thomas von Aquin hat hiergegen opponiert und war der Auffassung, die Denkkraft sei Äußerung eines geistigen Seins der Seele, das über die Körperwelt erhoben sei (inquantum (enim anima humana) habet operationem materialia transcendentem, esse suum est supra corpus elevatum, non dependens ex ipso), 9 daß sie jedoch auf Grund des Sachverhalts, daß sie 9
Sancti Thomae Aquinatis Quaestiones Disputatae, Bd 2, Quaestio de Anima, Art. 1 c.a., Paris 1883, S. 377. Im 4. Band ist de Ente et Essentia mit dem Kommentar von Cajetan abgedruckt.
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Marcel Reding
ihre Begriffe aus den sinnenhaften Vorstellungen erarbeitet, in ihrer Tätigkeit von der Körperwelt abhängig sei (inquantum vero immaterialem cognitionem ex materiali nata est acquirere, manifestum est quod complementum suae speciei esse non potest absque corporis unione). 10 Die Seele hängt in ihrer Denktätigkeit vom Körper ab, jedoch nicht so, daß sie nicht ohne Körper existieren könnte (non tarnen sie dependet a corpore quin sine corpore esse possit). 11 Die Schlußfolgerung des Aquinaten ist, daß die Seele in der Nachbarschaft, in der Nähe der Körperwelt und der getrennten Substanzen, in der Mitte der Körperwelt und der getrennten Substanzen stehe (in confinio corporalium et separatarum substantiarum) mit anderen Worten, an der Grenze der physischen und metaphysischen Wirklichkeit. Als an und für sich betrachtet, als trennbar und getrennt gehört die immaterielle Geistseele dem übersinnlichen Bereich an, als Spitze der einen auch vegetativen und sinnenhaften Seele ist sie, über diese Seelenteile, an die Materie gebunden und gehört in das Reich des Physischen. So kann man die aristotelische Äußerung verstehen, daß nicht die ganze Seele Physis, Natur sei 12 , daß die Vernunft von außen in den Körper eintrete 13 und daß nicht die ganze Psychologie Physik, Naturwissenschaft sei. 14 Die Vernunft ist das Göttliche im Menschen. Als vernünftiges Wesen findet der Mensch seine höchste Glückseligkeit in der Tätigkeit seiner höchsten Fähigkeit in bezug auf den höchsten Gegenstand, eine Tätigkeit, die seine menschliche Seinsverfassung übersteigt und als göttlich bezeichnet werden kann. 15 II. Will man ein Wesen, das einerseits dem Reich der Sinneswirklichkeit angehört, wie die Tiere „Pferde, Rinder, Schweine, Menschen, Schafe, Ziegen, Hunde" 16 , andrerseits dem Reich des Denkens, des Geistes, nach den Regeln der alten Logik definieren, so ergibt sich, daß der Mensch ein vernunftbegabtes Sinnenwesen ist. Das animal rationale ist ein klassisches Beispiel der aristotelischen Logik. Die Begriffsbestimmung ist aus Gattung und Artunterschied zusammengesetzt und von hierher hat es fürs erste den Anschein, als sei das Wesen des Menschen in seinem Gattungssein im sinnenhaften und tierischen zu sehen. Das ist allerdings nur ein Schein, der das aristotelische Verständnis der Definition mißversteht. 10 11 12 13 14 15 16
Sancti Thomae Aquinatis Quaestiones Disputatae, De Anima, art. 1, c. a., Bd 2, S. 377 Sancti Thomae Aquinatis Quaestiones Disputatae, De Anima, art. 1, ad 12 um, S. 379 Aristoteles, Part. A n . 1,1 641 b 9 Aristoteles, Gen. A n . 736 b 27 Aristoteles, Part. A n . 641 a 32 ff. Aristoteles, Eth. Nie. X , 7, 1 1 7 7 b 26 ff. Aristoteles, Hist. A n . 1,1
Zur physisch-metaphysischen Seinsverfassung des Menschen
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Heinrich Cassirer 17 hat mit Recht bemerkt: „Die Gattung kann das Wesen der Sache deshalb niemals bestimmen, weil sie ja notwendigerweise, sofern sie Gattung ist, die Eigentümlichkeit an sich zeigen muß, daß nicht allein das zu Bestimmende, sondern auch Anderes unter sie fallt und ihr zugehörig ist, von dem man dann eben sagt, es gehöre der gleichen Gattung an. Kurzum: Gerade die Allgemeinheit der Gattung vernichtet von vornherein jede Möglichkeit, daß sie eine Sache wesentlich bestimmen könne". Nach Aristoteles ist die Gattung wie die Materie. Erst durch die Form, durch den Artunterschied bekommt sie ihre Bestimmtheit, so „daß der letzte Unterschied das Wesen und die Wesensdefinition der Sache sein muß". 1 8 Genauere Erörterungen besonders von Cajetan in seinem Kommentar zu De Ente et Essentia von Thomas von Aquin 1 9 machen das deutlicher. Im 3. Kapitel seines Werkes handelt Thomas über die Gattung. Im 4. Teil dieses Kapitels befaßt er sich mit folgendem Problem: Was die gleiche Gattung hat, hat das gleiche Wesen. Folglich haben verschiedene Arten das gleiche Wesen, was offenbar falsch ist, weil die Arten sich wesentlich unterscheiden. Cajetan will sich in seinem Kommentar nicht mit der eiligen Auskunft zufrieden geben, die verschiedenen Arten hätten dasselbe gattungsmäßige Wesen und ein verschiedenes spezifisches. Man müsse die Auskunft von einem höheren Prinzip her geben: Die Einheit könne auf zweifache Art gedacht werden, als Einheit in der Bestimmtheit, durch Setzung eines gemeinsamen bestimmt bedeuteten Dinges (per positionem unius determinatae rei significatae). So bedeute humanitas die bestimmte menschliche Natur. Die Einheit könne aber auch eine solche der Unbestimmtheit (per indifferentiam seu indeterminationem plurium rerum importatarum) 20 sein. So bedeute Lebewesen, animal, sinnenhafte Natur, keine gewisse und bestimmte Natur. Es gebe nämlich in der Welt keine Form, die sinnenhafte Seele sei, sondern jegliche sei stierhaft, oder löwenhaft oder menschlich usw. 21 Als Bestätigung hierfür beruft sich Cajetan auf das 10. Buch der Metaphysik22, das 7. Buch der Physik23 und De Anima24, wonach Lebewesen
17 18 19 20 21 22 23 24
Heinrich Cassirer, Aristoteles' Schrift von der Seele, Tübingen 1932, S. 17 Aristoteles, Metaphysik, 7, 12, 1 0 3 8 a 1 9 - 2 0 , Übers. Horst Seidel S. Anm. 9 in Sancti Thomae Aquinatis Quaestiones Disputatae, Bd 4, S. 429 in Sancti Thomae Auinatis Quaestiones Disputâtes, B d 4, S. 429 — 30 Aristoteles, Kap. 8, 1058 a 2 - 8 Aristoteles, Kap. 4, 249 a 23 Aristoteles, 1, 1, 4 0 2 b 6 - 7
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Marcel Reding
ein Pferd, einen Hund, einen Menschen oder G o t t bezeichnen könne. D i e Natur der Lebewesen sei in ihnen allen eine verschiedene
spezifische
und keineswegs eine einheitliche wie die des animal rationale bei allen Menschen. Will man diesen Überlegungen folgen, wäre das animal rationale, das den Menschen bezeichnet, nicht einfach zoologisch als vernünftiges Tier zu verstehen, sondern als vernunftbegabtes spezifisches Sinnenwesen. Dieses Verständnis bejaht den Zusammenhang mit den übrigen Lebewesen zugleich mit der Eigentümlichkeit menschlicher Leiblichkeit. D e r Artunterschied reißt die generelle Allgemeinheit aus ihrer Unbestimmtheit und prägt sie zu einer unvertauschbaren Art der Sinnenhaftigkeit. I I I . Beachtet man diese aus der aristotelischen Tradition stammenden Überlegungen, wird ersichtlich, wie geeignet die Darstellung Martin Heideggers in bezug auf das animal rationale ist, die klassische Definition in ein ungerechterweise ungünstiges Licht zu rücken, und wie geeignet, die Rede von der schon „sprichwörtlich gewordenen Gewaltsamkeit
und
Einseitigkeit des Heideggerschen Auslegungsverfahren" 2 5 glaubwürdig zu machen. A m einseitigsten ist die Kritik an der aristotelischen Definition des Menschen als animal rationale in der zitierten E i n f ü h r u n g . 2 6 „In dieser Definition des Menschen kommt der L o g o s vor, aber in einer ganz unkenntlichen Gestalt und in einer sehr merkwürdigen Umgebung. D i e genannte Definition des Menschen ist im G r u n d e eine zoologische. Das Z o o n dieser Z o o l o g i e bleibt in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Allein in den Rahmen dieser Definition des Menschen ist die abendländische Lehre v o m Menschen, alle Psychologie, E t h i k , Erkenntnistheorie und Anthropologie hineingebaut. Seit langem treiben wir uns in einem wirren Gemisch v o n Vorstellungen und Begriffen herum, die aus diesen Disziplinen bezogen werden." Nach aristotelischem Verständnis der Definition „ k o m m t " der Artunterschied, in unserem Fall der L o g o s , nicht bloß in der Definition „ v o r " , sondern er ist der Kern der Definition, der die Gattung, also Lebewesen, in ihrer Struktur beeinflußt und so gestaltet, daß sie zwar Lebewesen bleibt, jedoch so, daß sie anders ist als das Lebewesen ohne diesen Artunterschied, L o g o s , Vernunft. Lebewesen ist Lebewesen, Lebewesen mit dem Artunterschied der Vernunft ist jedoch, trotz seiner Lebewesenhaf-
25
Martin Heidegger,
26
Heidegger, Einführung, 108
Einführung
in die Metaphysik,
5. Aufl. Tübingen 1987, S. 134
Zur physisch-metaphysischen Seinsverfassung des Menschen
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tigkeit, verschieden von dem Lebewesen ohne den Artunterschied der Vernünftigkeit. Man kann die Abneigung verstehen, das Menschsein von der Zoologie her zu sehen, obwohl Zoon Lebewesen, im Griechischen die Gottheit umgreifen kann. Das kommt daher, daß das Denken als Leben gedacht wird. 2 7 Allerdings hat Aristoteles den Begriff enger und genauer als sinnenhaftes Lebewesen gefaßt. 28 Daß er den Menschen in den Umkreis der sinnenbegabten Lebewesen beheimatete, hängt mit seiner Wertschätzung der Sinneserkenntnis zusammen, allerdings auch damit, daß er, als Angehöriger einer Ärztefamilie, sich genauer mit der Anatomie und Physiologie der Menschen und Tiere befaßte. Anaximander, Demokrit und Empedokles hatten sich bereits mit der Tierwelt beschäftigt. Alkmaion von Kroton 29 (um 500 v. Chr.) und später Diogenes von Apollonia interessierten sich bei ihren Beobachtungen der Tiere für die Physiologie des Menschen. In der Psychologie verdankt Aristoteles der Beobachtung der Tiere wesentliche Einsichten. 30 Heidegger hat seine Stellungnahme zur Definition des Menschen als animal rationale in seiner Schrift „Über den Humanismus"31 differenziert, jedoch im Wesentlichen wiederholt. Er spricht hier sogar von einem Vorstoß des Menschen in die Sphäre der animalitas 32 und einer Verkennung seiner „eigentlichen Würde". 3 3 Wenn man bedenkt, daß nach Aristoteles die Vernunft die Wesensform des Menschen ist, daß dieses Wesentliche auch seine Lebewesenhaftigkeit, seine animalitas prägt — „Mensch und Pferd sind beide Lebewesen", aber „Lebewesen muß für jeden von beiden ein anderes sein" 34 —, kann man Heidegger nicht zustimmen, wenn er sagt, daß mit der aristotelischen Definition „das Wesen des Menschen zu gering geachtet und nicht in seiner Herkunft gedacht wird" 3 5 , daß diese Definition „den Menschen von der animalitas her" denkt und „nicht zu
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Aristoteles, Met. 12,7, 1072b 2 6 - 7 Aristoteles, De anima 11,2 Vgl. den Artikel Zoologie von W. Richter im Kleinen Pauly, München 1979. Cassirer, Aristoteles Schrift, 47 ff. Martin Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1949 Heidegger, Über den Humanismus, 13 Heidegger, Über den Humanismus, 19 Aristoteles, Met. 10, 8, 1058a 3 - 6 Heidegger, Über den Humanismus, 13
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seiner humanitas hin". 36 Das griechischer verstandene „Lebewesen" erlaubt es Heidegger später, den Menschen, der denken kann, als „das vernünftige Lebewesen" zu bezeichnen. 37 Eine sachgerechte Auslegung der aristotelischen Definition und der aristotelischen Definitionslehre hätten wesentliche Punkte der Heideggerschen Kritik überflüssig gemacht. IV. „Die Metaphysik denkt den Menschen von der animalitas her und denkt nicht zu seiner humanitas hin". 38 In der aristotelischen Definition wird die animalitas von der eigentümlichen Form des Menschen, von der vernünftigen Seele her gedacht. Daher ist die animalitas des Menschen eine andere als die der Tiere. Deshalb ist auch der Leib kein Kerker der Seele. Er ist vielmehr der Partner und Mitarbeiter der Seele. Der Leib arbeitet der Seele zu. Nach Piaton und später nach Orígenes war der Leib Kerker der Seele, die Seele im Leibe wie der Matrose im Schiff. Im Artikel 8 der Quaestio Disputata de Anima und weniger eingehend in dem Artikel 5 der Quaestio 86 des ersten Teiles der Summa Tbeologica hat sich Thomas von Aquin mit unserer Frage beschäftigt. Thomas sagt in der Quaestio Disputata, die Materie sei auf die Form hingeordnet, und nicht umgekehrt. Der Leib müsse sich nach der vernünftigen Form richten, die auch Ziel des Leibes sei. Im Reich der Vernunftwesen nehme die menschliche Seele den niedersten Rang ein und habe keine von Natur eingepflanzten Ideen, von denen her sie selbständig denken könne, sondern sei in Potenz zu ihnen. Sie sei eine tabula rasa, ein Papier, auf dem nichts geschrieben sei. Daher müsse sie ihre Ideen von den äußeren Dingen beziehen vermittelst der Sinneserkenntnis, die ohne Sinnesorgane nicht möglich sei. Daher sei die Verbindung der vernünftigen Seele mit dem Leib notwendig. „Wenn also die menschliche Seele deshalb mit dem Leib verbunden werden kann, weil sie darauf angewiesen ist, ihre Ideen von den Dingen vermittelst der Sinne zu empfangen, so ist notwendig, daß der Leib, mit dem die vernünftige Seele verbunden ist, so beschaffen ist, daß er möglichst geeignet sein kann, dem Intellekt jene Sinnesbilder zu repräsentieren, aus denen im Intellekt die Ideen resultieren. So soll also der Leib, der mit der vernünftigen Seele verbunden ist, bestmöglich zur Sinneserkenntnis veranlagt sein." 39 Alle Tiere haben den Tastsinn. 40 Ist der Tastsinn stillgelegt, ruhen die übrigen Sinne. Wegen
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Heidegger, Über den Humanismus, 13 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 129 Heidegger, Über den Humanismus, 13 Sancii Thomae Aquinatis Quaestiones Disputatae, De Anima art. 8, c. a., Bd 2, S. 4 2 7 Aristoteles, de An. 2, 2, 4 1 3 b 8 - 9
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dieser zentralen Bedeutung des Tastsinnes bedarf der Mensch eines möglichst guten Tastsinnes, der beim Menschen der genaueste ist. 41 Die Menschen mit differenzierter leiblicher Konstitution, die molles carne, haben eine gute geistige Veranlagung. Wie es für die Betätigung der äußeren Sinne einer optimalen körperlichen Verfassung bedarf, so für die Tätigkeit der inneren Sinne, der Einbildungskraft, des Gedächtnisses und des Schätzungsvermögens einer guten Verfassung des Gehirns. Das menschliche Gehirn ist proportional größer als das der anderen Lebewesen (habens maius cerebrum inter omnia ammalia secundum proportionem suae quantitatis). Für die Freiheit seiner Bewegungen ist der Mensch im Unterschied zu den Tieren aufrecht, der Kopf steht in der Höhe, und die Wärme des Herzens ermöglicht die aufrechte Haltung, die im Alter abnimmt und zur gebeugten Haltung führt. Daß der Leib verwundbar, ermüdbar und anderswie hinfallig ist, das ist Notwendigkeit seiner materiellen Beschaffenheit. Im paradiesischen Zustand wäre der Mensch von diesen Gebrechen bis zum Tode hin befreit. Durch die Sünde wurde er dieses Privilegs beraubt. Die Seele ist von Aristoteles genau beobachtet und begrifflich durchdrungen worden. „Die Bücher des Aristoteles über die Seele mit seinen Abhandlungen über besondere Seiten und Zustände derselben sind deswegen noch immer das vorzüglichste oder einzige Werk von spekulativem Interesse über diesen Gegenstand. Der wesentliche Zweck einer Philosophie des Geistes kann nur der sein, den Begriff in die Erkenntnis des Geistes wieder einzuführen, damit auch den Sinn jener aristotelischer Bücher wieder aufzuschließen". 4 2 Die eine Seele ist als über das Körperliche hinausragend metaphysisch und zugleich als Form des Leibes physisch, als geistiges Erkenntnisorgan substantiell und dabei auf die Sinnlichkeit angewiesen (substantia incompleta ratione speciei), als geistige Wirklichkeit subsistierend (substantia completa ratione substantialitatis) und gleichzeitig Form eines vergänglichen Körpers. Diese so verschiedenen Seiten seelischer und menschlicher Wirklichkeit sind im Phänomen Mensch begründet. Sie lassen das Fragen um das Wesen des Menschen nicht zur Ruhe kommen. In einem Augenblick der Menschheit, in dem Pflanzen- und Tierwelt von dem Untergang bedroht sind, in dem die Bäume sterben, weil sie die vergiftete Luft nicht mehr atmen können, in dem die Fische im Wasser nicht mehr leben können, in dem immer mehr Tierarten sang- und klanglos 41 42
Aristoteles, de An. 2, 9, 421 a 1 9 - 2 0 Heget, Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften,
Ausgabe Lasson, Leipzig 1930, S. 333
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aus ihren Lebensräumen verdrängt' werden und untergehen, ahnen oder sehen die Nachdenklichen, daß auch ihnen als Lebewesen ein ähnliches Schicksal auf der Erde droht, wenn sie ihm nicht durch ernsthaften Einsatz ihrer Vernunft und ihres guten Willens soweit möglich zu entrinnen versuchen.
TiLMAN BORSCHE
D a s Eine u n d die A n t w o r t Nietzsches Kritik des mystischen Ursprungs der Metaphysik*
I. Einleitung: Der Schauplatz der Wahrheit Noch Luther, so liest man bei Jacob Grimm, scheint sich in der Frage des grammatischen Geschlechts der Antwort „von natur für das neutrum" entschieden zu haben (Dt. Wörterbuch 1, 1854, 508). Das Ant-wort ist ein Wort, das einem anderen Wort wirklich gegenübertritt. Die alte Partikel ,ant', dem griechischen ,anti' und dem lateinischen ,ante' verwandt, hat sich neben Antwort nur noch in Antlitz, kaum kenntlich ferner in Amt erhalten. Als Verbalpräfix ist sie zu ,ent-' geschwächt. Die Antwort entspricht also einem gegebenen Wort. Will man diese Entsprechung recht verstehen, darf man Wort und Antwort nicht nur als linguistische Termini nehmen. Vielmehr sind beide zugleich Taten; ursprünglich an die Gegenwart der Sprechenden gebunden. Mittelhochdeutsch wird zur Antwort gegriffen, wie man zu einem Schwert greift. Antwort wird geboten oder gar geworfen — die Wechselrede als ritterliches Turnier, bei dem die Wahrheit auf dem Spiel steht. Jedenfalls werden Wort und Antwort als Ereignisse erlebt, haben ihren Schauplatz in Raum und Zeit. Sie messen sich aneinander, nicht an einer absoluten Bedeutung. Ihre Wahrheit lebt aus der Kraft dessen, der seine Stimme erhebt, weil er das Recht hat, sie zu erheben, und der etwas als etwas setzt. Sie lebt durch die Antwort eines anderen, der das Recht hat zu erwidern und etwas anderes dagegensetzt. Erst im Moment des wirklichen Widerstreits offenbart sich die Wahrheit. In der Erinnerung an ihr Ereignis gewinnt sie eine gewisse Dauer, durch Wiederholung wird sie in einem gewissen Umfang verbreitet und tradiert. Aber die in der Erinnerung bewahrte, in der Wiederholung
* Dieser Text wurde erstmals am 2. April 1986 auf einer Tagung über Welt und Zeit im Denken Nietzsches in Dubrovnik vorgetragen. Die hier nur skizzierten Gedanken werden ausführlicher entwickelt, begründet und im Kontext der Nietzsche-Forschung diskutiert im letzten Teil der Schrift Was etwas ist. Das Problem der Wahrheit der Bedeutung hei Piaton, Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche, die demnächst erscheinen wird.
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bewährte Wahrheit altert. Junge Kräfte wachsen heran, die den herrschenden Gedanken als fremd empfinden und abschütteln wollen; nicht weil er sich als unwahr erwiesen hätte, sondern weil sein Sieg nicht ihr Sieg war. Zu diesem Zweck müssen sie ihn herausfordern. In der Auseinandersetzung mit dem Neuen wird das Alte sich entweder erneuern oder im Neuen veralten. In beiden Fällen aber lebt es, im Verlauf der Auseinandersetzung sich wandelnd, unvergänglich fort. Die jeweils mächtigere Wahrheit trägt die äußeren Zeichen des Sieges, doch das unterlegene Wort hält sich in der Bedeutung derselben Zeichen als aufgehobene Meinung präsent. Bekanntlich ist die Erfahrung der Zeitlichkeit der Wahrheit ein Angelpunkt im Denken Nietzsches. Dieser Erfahrung entspricht der polemische Stil seines Philosophierens. Nietzsche kann seine Wahrheit nur in der Form einer Herausforderung alter Irrtümer formulieren. Er ehrt die Stärke seiner Gegner, weiß sich ihnen verpflichtet. Zwar läßt er Zarathustra sagen: „Gefahrlich ist es, Erbe zu sein" (Za I, Von der schenkenden Tugend 2.), doch gute Erbschaft ist eine notwendige Bedingung für Macht und Reichtum, auch im Denken. Die Erfahrung von der Zeitlichkeit der Wahrheit setzt eine lange Geschichte des Denkens und die Erinnerung dieser Geschichte als einer Geschichte der Wahrheit voraus. Im Moment dieser Erinnerung wechselt die Wahrheit ihren logischen Ort. Aus der ewigen Ruhe des Einen entäußert sie sich in die Vergänglichkeit des wirklichen Wortes. Wahrheiten mögen rasch vergehen, „die Worte bleiben" (VIII 1 [98]) — länger. Damit übernimmt die verachtete vox verbi die Rolle des platonischen Floßes, auf welchem das menschliche Denken unsicher über den Ozean des Lebens steuert (Phaidon 85 c—d). Zugleich aber trägt sie die teure Last der Wahrheit. Denn diese winkt nicht mehr als Ziel und Ende einer Pilgerreise durch die Finsternis des Irrtums, sondern sie ist,mitten unter uns', wenn wir ,in ihrem Namen' miteinander reden. Thema der folgenden Ausführungen wird es sein zu zeigen, wie durch Nietzsches Kritik des metaphysischen Weltverständnisses der Wahrheit ein neuer Raum eröffnet wird, der begrenzte Raum des Allgemeinen in der Zeit. In dieser Absicht soll zunächst der traditionelle Wahrheitsbegriff auf das ewig unberührte Eine, das alles andere von sich ausschließt, als auf seinen letzten Grund zurückgeführt und historisch umrissen werden. Sodann wird über Nietzsches Erfahrung vom Ende des Einen in der Zeit zu berichten sein. Denn aus einer solchen Erfahrung ergibt sich, wie ich abschließend zu erwägen empfehlen möchte, die Aufwertung des anderen zur Antwort.
Das Eine und die A n t w o r t
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II. Die Lehre von der Wahrheit des Einen in Antike und Mittelalter Der ursprüngliche Ort der Wahrheit ist das Eine. Am Anfang des philosophischen Denkens, so schreibt Nietzsche in dem frühen Fragment über Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, steht „ein metaphysischer Glaubenssatz, der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat, und dem wir bei allen Philosophien, sammt den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen: der Satz ,Alles ist Eins' " (PHG 3; KS A 1, 813). Zwar hat das Eine im Lauf der Geschichte des Denkens verschiedene Namen angenommen, doch bleibt jene mystische Grundlage davon unberührt. Das Eine ist das Unberührbare. Noch ohne festen Namen und ohne metaphysische Hypostasierung ist das Eine bei Parmenides das Maß des wahren Weges des Denkens. Es trägt die Zeichen des Ungewordenen, Unvergänglichen, Unbeweglichen; ist ganz und in festen Grenzen eingeschlossen, vollkommen und gleich einer wohlgerundeten Kugel — kurz, es ist unveränderlich: „als ein Selbiges und im Selben verharrend ruht es in sich selbst" (VS 28 Β 8, 29 u. pass.). Alles andere sind die „Meinungen der Sterblichen" (Β 1, 30; 8, 51.61). Sie haben das „All" ( π ά ν τ α / τταν: Β 9, 1.3) „schicklich" (vgl. Β 8, 60) in „Gegensätze unterschieden" und diese „getrennt voneinander" bezeichnet (B 8, 55 f.). Alle Vielfalt, alles Verschiedene, all das, worüber wir reden, gehört dieser erscheinenden Welt des Werdens an. Auch nach Piaton ist das Wahre selbst oder das Sein der Dinge das Unveränderliche. Er definiert es wiederholt formelhaft als das, was „sich immer auf die gleiche Weise verhält und niemals auf keine Weise irgendeine Veränderung annimmt" (Phaidon 78 d 5 ff.; vgl. Pol. 479 e 7 f. 500 c 2 - 5 ) , gleichgültig, wie es sich im zeit-, orts- und an Personen gebundenen Logos jeweils darstellt. Der Dialektiker als der wahrhaft Wissende kann im Blick auf das wahre Sein der Sache in jeder neuen Lage dieselbe Idee in andere Worte kleiden. Und er wird dies immer so lange tun, bis sie für den Moment „hinreichend" erklärt ist, d. h. bis der wechselvolle Gang der Rede in der Erinnerung der Idee zur Ruhe gekommen ist. Das Nichtsein, interpretiert als das andere (τό ετερον), durchzieht zwar den Logos insgesamt, nicht aber die Wahrheit. Das Unwahre hat wohl ein Sein, nämlich als Anderssein, aber es hat dies nur in der Rede, und folglich auch im Denken, in der Meinung, in der Vorstellung (διάνοια, δόξα, φ α ν τ α σ ί α vgl. Soph. 260 — 264). Die Ideen bleiben davon unberührt. Augustin überträgt den neuplatonischen Gedanken des Einen, aus dem alles andere hervor- und in das alles andere zurückgeht, auf den christlichen Schöpfergott. Alles andere ist, insofern es ist, in Gott, durch Gott und auf ihn hin. Insofern es etwas anderes zu sein scheint, ist es nichts. Insofern
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es dies Anderssein für etwas hält, pervertiert es die göttliche Ordnung des Seins und ist böse. Aber auch in der Gestalt des bösen Willens ist das andere machtlos und vermag es nicht, die Vollkommenheit des Einen auch nur anzutasten. Ein Kampf zwischen Gut und Böse ist ausgeschlossen (vgl. Conf. VII, bes. das Argument des Nebridius: VII 2, 3). Ein weiterer Gang durch die zahllosen Stationen des Einen in der Geschichte — sei es in der Gestalt der Weltvernunft des Heraklit (λόγος VS 22 Β 1, 2; κόσμος Β 30; εν Β 32.41.50: εν πάντα είναι), des stoischen Alls (παν; όλον), das als „System" der begrenzten Welt und des unbegrenzten Leeren bezeichnet wird (vgl. D L VII 132—143), oder in irgendeiner anderen Gestalt — ein solcher Gang macht deutlich, daß das Eine zwar viele Namen, aber keine Geschichte hat. Es läßt sich niemals auf das andere ein. Einen Höhepunkt erreicht diese Metaphysik des Einen im mystischen Spätpiatonismus des Nikolaus von Kues, dessen Philosophie damit zugleich eine Grenze des metaphysischen Denkens überhaupt markiert. Hier werden auch noch die geordnete Vielfalt der platonischen Ideen und der Kanon der christlichen Gottesprädikate aufgelöst. Angesichts der unendlichen Wahrheit des Einen erscheinen sie als endliche Produkte einer eingeschränkten Perspektive unserer Vernunft. Aus theologischen Gründen spricht Cusanus nicht von Irrtum oder Lüge. Gleichwohl wird letztlich alles, was der Unterscheidung von anderem fähig und bedürftig ist, in den göttlichen Abgrund des Einen verschlungen. Nietzsches Metaphysikkritik richtet sich gegen eine Form des Denkens, die er Piatonismus nennt. Im einzelnen jedoch hat er dabei zumeist neuzeitliche Philosophen im Visier: Descartes und Leibniz; Spinoza, Kant und Schopenhauer, um nur einige der für ihn bedeutsamsten zu nennen. Auch wenn er Piaton selbst angreift, legt er ein eher neuzeitliches Verständnis platonischer Texte zugrunde. Seine Kritik der Metaphysik als Platonismus ist vielfach erörtert worden. Nun scheint es aber so zu sein, daß diejenigen philosophischen Gedanken, die in einer neuzeitlich orientierten Metaphysikkritik im Vordergrund stehen, das metaphysische Denken nicht in seinem vollen Umfang treffen. Zum großen Teil, so möchte ich behaupten, ist eine solche Kritik in der durch die Extreme der mittelalterlichen Philosophie hindurchgegangenen Mystik des Kusaners schon aufgefangen und abgewehrt. Wäre dem wirklich so, würde Nietzsches Metaphysikkritik ihre wahre Stärke erst dann erweisen können, wenn man sie auch mit dieser letzten Zuspitzung des metaphysischen Denkens konfrontierte. Im folgenden soll eine solche Konfrontation versuchsweise skizziert werden. Doch scheint es zu diesem Zweck angebracht zu sein, einige erläuternde
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Das Eine und die Antwort
Bemerkungen zur Stellung neuzeitlicher Gestalten der Metaphysik zwischen Cusanus und Nietzsche vorauszuschicken. Ich möchte mich dabei auf Descartes, Leibniz und Kant beschränken.
III. Fortdauer
des Einheitsgedankens
in der neuzeitlichen
Metaphysik
Descartes gegenüber kritisiert Nietzsche die Selbstgewißheit des erkennenden Subjekts. Man kann diese Kritik auch darstellen als eine Kritik der Loslösung der intuitiven Erkenntnis von den leiblichen oder zeitlichen Bedingungen des menschlichen Denkens. Denn obwohl nach Descartes einerseits die Einteilungen, die das Denken im Blick auf seine Gegenstände vornimmt, auch im Blick auf seine eigenen Erkenntniskräfte, der Imagination zu verdanken und zunächst nur von hypothetischer Geltung sind (vgl. Reg. 12: AT X 412 Ζ 3 - 1 3 ; 417 Ζ 1 6 - 2 7 ) , so ist doch andererseits die Unterscheidung von Intuition und Imagination selbst nicht imaginiert. Vielmehr ist der Intellekt oder das Vermögen der intuitiven Erkenntnis vom Körper und den körperlichen Hilfsfunktionen des Erkennens, zu denen er auch die Imagination rechnet, vollkommen unabhängig. Allein der Intellekt aber ist der Wahrheit und des Wissens fähig (Reg. 8: X 398 Ζ 26 f.; Reg. 12: X 411 Ζ 7 f.). Ohne eine solche Voraussetzung der Unbedingtheit des Erkennenden wäre unbedingte Erkenntnis, wäre Philosophie als Metaphysik nicht möglich. Zwar weiß Descartes, ebenso gut wie alle anderen Metaphysiker, daß wir nichts Wirkliches vollständig erkennen können. Dennoch ist die intuitive Erkenntnis notwendiger Verbindungen nicht nur vollkommen leicht, sondern eben damit auch für jeden Intellekt absolut deutlich und, vermittelt durch den Beweis des gütigen Gottes, in seinen erkannten Bestimmungen auch absolut wahr. Nach Nietzsche werden solche Gewißheiten „bei einem Philosophen heute ein Lächeln und zwei Fragezeichen bereit finden" ( J G B 16). Bei Cusanus hingegen findet sich eine Antwort auf das Lächeln des Skeptikers. Die erkenntnistheoretischen Überlegungen, die er in kritischer Fortführung einer langen Tradition von Kommentaren zu Aristoteles' De Anima sehr eigenständig entwickelt, geben sich von vornherein nur als Vermutungen eines gebildeten Laien. Alles menschliche Wissen ist Konjektur, ohne sich der göttlichen Wahrheit anzunähern. Denn nicht nur die Vorstellungen der Einbildungskraft, sondern auch die Begriffe des Verstandes, in denen das Denken sich notwendigerweise artikuliert, sind facta, d. h. sie sind von uns gemacht. Das Denken ist nur dadurch auf die Wahrheit bezogen, daß es in allem letztlich nichts anderes als Gott erkennt. Deutlicher als Descartes hebt Leibniζ die Unvollkommenheit des diskursiven Verstandes hervor, der eine adäquate Erkenntnis des Wirklichen
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in keinem Fall erreichen kann. Anfangs hofft er noch, durch eine gründliche Analyse unserer Begriffe, endlich das Alphabet des menschlichen Denkens auffinden zu können. Auf der Suche nach den wirklich einfachen Begriffen jedoch macht er die Erfahrung, daß die Analyse von Begriffen überhaupt niemals an ein absolutes Ende kommt. Daher stellt Leibniz die Wahrheit aller metaphysischen Urteile — wie exemplarisch desjenigen, daß Gott ist — unter die Bedingung, daß die in ihnen verwendeten Begriffe möglich sind. Zwar können wir die Möglichkeit eines Begriffs nicht beweisen. Doch das ist zu verschmerzen. Denn gewöhnlich bleibt uns ein solcher Beweis erspart, dann nämlich, wenn etwas, das unter den Begriff fallt, als wirklich gegeben angesehen werden kann, d. h. im Fall von unstrittigen empirischen Begriffen. Sobald allerdings ein Begriff als erläuterungsbedürftig erscheint, sind wir genötigt, ihn durch andere Begriffe zu verdeutlichen. Angesichts der Erfahrung, daß der philosophische Diskurs der Verdeutlichung von Begriffen für uns unabschließbar ist — man kann, wenn man will, immer weiter fragen —, setzt Leibniz voraus, daß die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Begriffs im Prinzip, d. h. für Gott, erkennbar ist; nicht durch einen diskursiven Beweis, sondern dadurch, daß Gott alles auf einmal — omnia simul — sieht. Die Möglichkeit oder, wie Leibniz in skotistischer Terminologie zu sagen pflegt, die Realität eines Begriffs ist sein logischer Ort im universellen Kontext aller denkbaren Begriffe. Allein durch das logische Prinzip der Widerspruchsfreiheit ist die Totalität aller möglichen Welten definiert. Die Einheit, Vollkommenheit und Geschlossenheit der wirklichen Welt ist darüberhinaus durch das metaphysische Prinzip des zureichenden Grundes gesichert, das Leibniz durch den platonischen Gedanken der Wahl des Besten interpretiert. Diese in Gott fundierte Einheitsmetaphysik läßt für den Perspektivismus der Monadenlehre wenig Raum — nicht mehr als eine eingezäunte Spielwiese. Die Monaden sind individuelle Durchblicke auf die höchst planvolle, weise und gütige Weltordnung Gottes. Sie legen das vollkommene Sein des Einen in eine größtmögliche Vielfalt von Standpunkten aus, die sich, untereinander wohlgeordnet, harmonisch zu einem vollendeten Ganzen fügen. Jede Perspektive ist verstanden als eine je eigene Einschränkung von Gottes allgegenwärtigem Augenblick. Das je Eigene einer Perspektive ist nicht das, was sie deutlich sieht, sondern das, was sie nicht deutlich zu sehen vermag: ihre Verworrenheit. Diese aber erscheint als Körperlichkeit, Passivität; immerhin nicht mehr als Sünde wie bei Augustin. Denn nicht nur die Vielfalt des Seins der geschaffenen Dinge, sondern auch die Vielfalt der verschiedenen Ansichten des Seins ist schön und gilt als Bereicherung der Welt. Die Tatsache, daß jede Monade die Welt auf je andere Weise eingeschränkt erkennt, bleibt jedoch für die Einheit der Welt
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als solcher folgenlos. Es ist ein und dasselbe Universum, das sich aus jeder Perspektive anders spiegelt, wie es ein und dieselbe Stadt ist, deren Türme von verschiedenen Standpunkten aus anders geordnet erscheinen. Die Tatsache, daß eine im Jahr des Herrn 1646 in Leipzig geborene und auf den Namen Gottfried Wilhelm getaufte Monade den Gedanken von der göttlichen Wahl der besten aller möglichen Welten denkt, gehört für Leibniz der Historie an, nicht der Metaphysik. Diese setzt vielmehr voraus, daß alle historischen Perspektiven sich im Ganzen entsprechen. Bei einer solchen Entsprechung (correspondre, repondre, entrerepondre\ conformité, accord (Phil. Sehr., hg. Gerhardt, IV, 439 f. 484 ff.) geht es nicht um eine in der Zeit sich bildende Ordnung von Rede und Antwort, sondern um eine ewige Wechselbeziehung der Geschöpfe in der Omnipräsenz Gottes. Zudem entspricht die metaphysische Ordnung der Geschöpfe exakt der dynamischen Ordnung ihrer Phänomene in Raum und Zeit. Beide Ordnungen bilden einen vollkommenen Kosmos je für sich, und beide sind, wie es das Uhrengleichnis veranschaulicht, perfekt synchronisiert. Das Reich der Wirkursachen und das der Zweckursachen entfalten sich in vollkommener Harmonie (vgl. PSG VI 620). Leibniz formuliert metaphysische Prinzipien wie das der Wahl des Besten oder das der prästabilierten Harmonie als Hypothesen über notwendige Prädikate Gottes. Insofern ihnen dieser Status göttlicher Absolutheit wirklich zukommt, sind sie auch wirklich unbedingt verbindliche Grundsätze für unser Denken. Daß er ihnen wirklich zukomme, läßt sich freilich nicht beweisen. Ohne ihre Gültigkeit aber — und das erweist nach Leibniz ihre Wahrheit indirekt aus ihrer Fruchtbarkeit — ohne sie wäre alle wahre Erkenntnis unmöglich. Vorsichtiger müßte man vielleicht formulieren, daß es ohne ihre Annahme nicht möglich wäre, einen Begriff von wahrer Erkenntnis zu gewinnen. Gott ist also auch für Leibniz der Garant der Wahrheit unseres Denkens. Nach Nietzsche ist dieser Gott unlängst verstorben. Der Gott des Kusaners hingegen war schon immer für unser Denken verborgen. Er bürgt für kein einziges Urteil unseres Verstandes. Wenn Nietzsche nicht mehr neuzeitlich fragt, wie Erkenntnis möglich sei, sondern endzeitlich, ob es „für uns Erkenntniß giebt", bezieht er diese Frage näher auf den herrschenden „Glauben an die Logik" oder auf den Glauben, „daß ein Begriff das Wahre eines Dinges nicht nur bezeichnet, sondern faßt", „daß Urtheilen wirklich die Wahrheit t r e f f e n könne" (VIII 9 [97]). In diesem Sinn ist Cusanus ungläubig. Kein positives assertorisches Urteil, gleichviel ob es sinnliche oder intelligible Dinge betrifft, kann Anspruch auf Wahrheit erheben. Selbst ein negatives assertorisches Urteil behauptet mehr über die Dinge, als der urteilende Verstand wissen kann. Denn auch
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eine negative Behauptung setzt die Bestimmtheit der Begriffe, die sie verwendet, sowie den Glauben, daß Begriffe „das Wahre eines Dinges" fassen können, voraus. Nach Cusanus ist die Wahrheit im Urteil überhaupt nicht zu erreichen. Die kritische Wende Kants gegenüber der traditionellen Metaphysik besteht bekanntlich darin, daß er das Gebiet der menschlichen Erkenntnis auf die Gegenstände möglicher Erfahrung restringiert. Reine Vernunftbegriffe, sei es als eingeborene Ideen nach Leibniz oder nach Piaton als Ideen des göttlichen Verstandes, können nicht erkannt werden, eben weil sie die Möglichkeit der Erfahrung übersteigen. Gleichwohl hält auch Kant den Gebrauch der Vernunftbegriffe für unentbehrlich. Was nicht erkannt werden kann, muß doch notwendig gedacht werden, damit überhaupt etwas in der Erfahrung erkannt werden kann. Nun kann nach Kant „ein reiner Vernunftbegriff überhaupt durch den Begriff des Unbedingten, sofern er einen Grund der Synthesis des Bedingten enthält, erklärt werden" (KrV Β 379). In diesem Sinn ist der Gebrauch reiner Vernunftbegriffe „notwendig und in der Natur der menschlichen Vernunft gegründet". Denn allein durch sie kann die erkennende Tätigkeit des Verstandes „mit sich selbst durchgehends einstimmig" gemacht werden (B 380). Die Idee des Unbe dingten als die Idee der „Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten" (B 379) bleibt also auch für die durch die Kritik der reinen Vernunft auf Gegenstände möglicher Erfahrung restringierte Erkenntnis konstitutiv. Denn es ist, wie Kant an späterer Stelle feststellt, „nichts für uns ein Gegenstand, wenn es nicht den Inbegriff aller empirischen Realität als Bedingung seiner Möglichkeit voraussetzt" (B 610). Kant nennt diejenigen reinen Vernunftbegriffe, die „alles Erfahrungserkenntnis als bestimmt durch eine absolute Totalität der Bedingungen" betrachten, „transzendentale Ideen" (B 383 f.). Sie sind insofern „notwendig" (B 383), als ohne sie kein Vernunftschluß, mithin auch kein synthetisches Urteil als unbedingt wahr angesehen werden könnte (vgl. Β 388 f.). Sie sind also dann notwendig, wenn erklärt werden soll, wie man a priori etwas als etwas erkennen könne. Nun richtet sich aber das spekulative Interesse der Vernunft genau auf Erkenntnisse dieser Art. Denn „ein jedes Din¿' steht, damit es erkannt werden kann, „unter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung" (B 599). Folglich müßte man, „um ein Ding vollständig zu erkennen, . . . alles Mögliche erkennen" (B 601). Um aber auch nur eine Bestimmung von ihm wirklich zu erkennen, muß man diese als eine von allen möglichen Bestimmungen erkennen. Jede Erkenntnis von etwas als etwas setzt also schon die „Idee von dem Inbegriffe aller Möglichkeit" (B 601) voraus. Kant nennt diese Idee „ein Ideal der reinen Vernunft" (B 602) und bestimmt sie näher als „die Idee von einem All der Realität (omnitudo realitatis)" (B
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603 f.). Auf sie müsse letztlich „alles Denken der Gegenstände überhaupt ihrem Inhalte nach zurückgeführt werden" (B 604). Denn, so erläutert er weiter, „die durchgängige Bestimmung eines jeden Dinges beruht auf der Einschränkung dieses Alls der Realität" (B 605). Kants Kritik dieses Grundbegriffs der traditionellen Metaphysik besteht nun lediglich in der Feststellung, daß wir, einer „natürlichen Illusion" der Vernunft folgend, „das empirische Prinzip unserer Begriffe der Möglichkeit der Dinge, als Erscheinungen, durch Weglassung dieser Einschränkung, für ein transzendentales Prinzip der Möglichkeit der Dinge überhaupt halten" (B 610). An dem Grundgedanken von der Voraussetzung des Unbedingten als Bedingung der Möglichkeit für die Erkenntnis von Bedingtem ändert diese Einschränkung allerdings nichts. Selbstverständlich bleibt „das absolute Ganze aller Erscheinungen" für Kant „nur eine Idee", d. h. „ein Problem ohne alle Auflösung" (B 384). Wenn man die von Kant im Blick auf die vorkritische Metaphysik erwähnten Gefahren des Mißbrauchs dieser Idee, nämlich ihre Realisierung, Hypostasierung und Personifizierung (vgl. Β 611 Anm.) vermeidet, erweist sie sich nicht nur als „unentbehrliche Bedingung jedes praktischen Gebrauchs der Vernunft", sondern auch als „jederzeit höchst fruchtbar und in Ansehung der wirklichen Handlungen unumgänglich notwendig" (B 385). Doch auch das theoretische Erkennen ist eine Handlung und folgt einer praktischen Absicht der Vernunft. Die Absicht der Vernunft auf bestimmte Erkenntnis bleibt für Kant ganz selbstverständlich der Horizont aller spekulativen Philosophie, die nach den Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Erkenntnis fragt, diese mithin nicht nur wirklich als möglich, sondern auch und zuerst als beabsichtigt voraussetzt. Die neuzeitliche Metaphysik hat ihr theologisches Gewand zwar abgelegt und kleidet sich kritisch im aufgeklärten Bürgerrock. Dabei bleibt der Unbedingtheitsanspruch der Vernunft jedoch erhalten. Kant hat sie nur bescheidener einquartiert. Nietzsche fragt demgegenüber „halb misstrauisch, halb spöttisch" ( J G B 5), warum wir denn mit so viel Mühe und Aufwand die Möglichkeit einer Erkenntnis deduzieren, die am Ende doch gar nicht verwirklicht werden kann. Denn gerade nach Kants kritischer Restriktion des Gebiets der menschlichen Erkenntnis können wir unbedingtes oder notwendiges Wissen über irgendein gegebenes Ding durch irgendeinen gegebenen Begriff, sei er rein oder empirisch, niemals erreichen. Dennoch müssen wir uns — um der Möglichkeit der Erkenntnis willen — am transzendentalen Ideal der reinen Vernunft orientieren und nach dem Unerreichbaren streben. Denn nur so gelingt es uns, wenigstens unsere Erfahrung als Erkenntnis zu interpretieren und in dieser, wenn auch je bedingten Er-
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kenntnis fortzuschreiten. Nietzsche versucht gar nicht erst, einer solchen Argumentation zu widersprechen. Als Psychologe der Philosophie, als der er sich versteht, bemerkt er vielmehr, es sei „endlich an der Zeit, die Kantische Frage ,wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?' durch eine andre Frage zu ersetzen ,warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthig?'" (JGB 11). Und er beantwortet diese neue Frage auch psychologisch, indem er das spekulative Interesse der Vernunft an der Wahrheit in Frage stellt und hinter dieser Selbstauslegung je bedingte Interessen von Menschen vermutet, die an der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen arbeiten. Den „Vorurtheilen der Philosophen" setzt er die Behauptung entgegen, „dass zum Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr geglaubt werden müssen", obwohl sie vielleicht „gar nicht ,möglich' " sind (ebd.; vgl. VIII 7 [4]). Wissen, auch bedingtes Wissen, auch solches, das als unwahre Fiktion durchschaut ist, bedeutet bedingte Verfügungsgewalt über einen Aspekt der erscheinenden Natur. Wissen ist Macht, wie nicht erst Nietzsche bemerkt, und darum wird es gesucht. Auch dieser Metaphysikkritik Nietzsches an Kant kommt die cusanische Metaphysik des Einen in gewisser Weise noch zuvor. Die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis in Begriff, Urteil und Schluß bedürfen für ihn keiner transzendentalen Deduktion, weil er gar nicht erwartet, daß wahre Erkenntnis in diesen Formen möglich sei. Alle synthetischen Urteile a priori sind „in unserm Munde . . . lauter falsche Urtheile" (JGB 11), sagt Nietzsche, und Cusanus sagt, alle „assertiones positivae" sind nichts als „coniecturae" {Coni. I 11 η. 57). Das klingt sehr ähnlich. Doch wie so häufig läßt sich auch hier im Moment der größten Nähe die ursprüngliche Differenz am besten verdeutlichen. Die cusanische Konjektur ist nicht einfach Irrtum und schon gar nicht Lüge. Sie ist vielmehr eine endliche Weise, die unendliche Wahrheit darzustellen: „Die Konjektur ist eine Behauptung, die in Andersheit an der Wahrheit, wie sie ist, teilhat (Coniectura igitur est positiva assertio, in alteritate veritatem, uti est, participans)" (ebd.). In solchen Erläuterungen der Konjekturalität unseres Wissens wird der metaphysische Grund des cusanischen Denkens deutlich. Gott ist nicht nur die Wahrheit selbst als „praecisio absoluta" von allem {Id. sap. II n. 29), sondern auch als „absoluta praesuppositio" (a. O., n. 30). Alles andere ist Zeichen, ungenau, vieldeutig, vorübergehend, aber wir glauben, wir setzen absolut voraus, daß es Zeichen des Einen sei. Denn „die Einheit ist in jedem Wissen alles, was gewußt wird" {Coni. I 10 η. 44). Unsere Konjekturen sind auf diese Wahrheit hin entworfen, die allein die Wahrheit ist als der Grund von allem, was sein oder gedacht werden kann. Das Eine hat viele unzulängliche Namen. Besonders treffend, weil er nichts zu treffen vorgibt, ist der Name des non-aliud, eine eigene Erfindung des
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Kusaners. Dieser Name bestreitet die traditionelle Auffassung, die die Wahrheit als Übereinstimmung von Verschiedenem bestimmt, und bezeichnet sie demgegenüber als Abwesenheit von Verschiedenheit, als „carentia alteritatis" (Compi, theol. 2). Er löst die Wahrheit damit von allem Schließen, Urteilen, Begreifen los und setzt sie als Prinzip oder absolute Möglichkeit des Denkens und des Seins, als „posse ipsum" (vgl. Ap. theor. pass.). Im Blick auf diesen Begriff der Einheit bedarf es nur eines kleinen Schrittes, um das von Gott Gesagte auf die Welt zu übertragen. Die Welt ist derselbe allumfassende Begriff wie Gott, nämlich der Begriff der Einheit, innerhalb derer alle Einteilung des Besonderen stattfindet, ohne daß man dieses, nach Cusanus ebenso wenig wie nach Kant, aus der Allheit ableiten könnte. Wenn man Gott und Welt nicht schlechthin identifiziert, wie das in dem bekannten Wort Spinozas ,Deus sive natura' geschieht (Eth. IV, Praef. u. Dem. zu Prop. 4), dann werden Gott als die Ursache von allem und die Welt als die Gesamtheit des Verursachten auseinandergelegt. Doch da auf beiden Seiten nichts außerdem sein kann, ist das Ganze explizit die Welt so sehr wie Gott das Ganze implizit. In diesem Sinn unterscheidet auch Cusanus Gott als das „absolutum maximum" vom „maximum contractual" als der Welt (mundus seu universum). Wie Gott die Einheit ohne Andersheit und Vielheit ist, so ist die Welt die Einheit alles Vielen und Verschiedenen. Alles Seiende ist Teil des Universums und nur in ihm ist es etwas und bestimmt (vgl. bes. Doc. ig». II 4). Diese Einheit Gottes oder der Welt als der allgemeine und unveränderliche Horizont aller möglichen Erkenntnis war in der antiken und mittelalterlichen und bleibt, wie in Bezug auf Descartes, Leibniz und Kant angedeutet wurde, in der neuzeitlichen Metaphysik stets vorausgesetzt. Auch die von Schelling begonnene und von Hegel ausführlich entwickelte Auslegung der Wahrheit in die Geschichte sprengt vielleicht noch nicht den Horizont dieses letzten Grundbegriffs des metaphysischen Denkens. So bezeichnet Schelling zwar in der Vorrede zum System des transcendentalen Idealismus „die gesammte Philosophie . . . als fortgehende Geschichte des Selbstbewußtseyns", schließt dasselbe Werk jedoch mit einem Hinweis auf die „unveränderlichen und für alles Wissen feststehenden Momente in der Geschichte des Selbstbewußtseyns" (Sämtl. Werke, hg. K. F. A. Schelling, I 3, 1858, 331 bzw. 634). — Entsprechendes zeigt sich auch bei Hegel. Zwar ist für ihn das Wahre nicht mehr wie für Cusanus der allgemeine und ungewordene Grund aller Dinge, sondern das konkrete „durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen", nicht Prinzip, sondern „wesentlich Resultat". Doch bleibt diese historische Auslegung der Vernunft dem bekannten Grundsatz „Das Wahre ist das Ganze" untergeordnet, dessen Folgerung lautet: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert,
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kann allein das wissenschaftliche System derselben sein" (Phäti. G., Vorr., hg. Hoffmeister, 1952, 21 bzw. 12). Hegel läßt wohl die Möglichkeit offen, ein solches System, das die notwendige Entwicklung der Wahrheit in der Zeit begreift, selbst als zeitlich zu denken. Er thematisiert diese Möglichkeit aber nicht, wie die sich gerade in dieser Thematisierung als Psychologie auslegende Philosophie Nietzsches das tut.
IV. Das Ende des Einen in der Zeit Doch sei die Frage nach der Zeit vorläufig noch zurückgestellt. Denn Nietzsche bezieht sich nicht unmittelbar auf diese (letzte) Form des metaphysischen Denkens, die die Geschichte der Wahrheit als eine notwendige Vermittlung des Absoluten mit sich selbst begreift. Er knüpft zwar auch nicht unmittelbar an die cusanische, wohl aber an eine jüngere Gestalt der Einheitsmetaphysik an, die zumindest in ihrem mystischen Prinzip der cusanischen durchaus vergleichbar ist, an die Philosophie Schopenhauers. Obwohl Nietzsche sich von Anfang an kritisch gegen seinen „ersten und einzigen Erzieher" (MA II, Vorrede (1886)) wendet, bleibt seine Kritik zunächst doch im Rahmen der Entgegensetzung von Wille und Vorstellung, den Termini Schopenhauers für das Eine und die Vielheit. Zahlreiche Texte und Fragmente der Frühzeit erörtern das Eine unter verschiedenen, aber durchaus vertrauten Namen: als „innersten Grund der Welt" (GT 2; KSA, 31), „ewigen Kern der Dinge" (GT 8; 1, 59), „Ursein" (GT 8; KSA 1, 62) und vor allem als das „Ur-Eine" (GT pass.; KSA 1, 30, 38f., 43 f.; vgl. III 7 [157], [174] u. v. a.). In erstaunlicher Parallele zur Platon-Kritik des Kusaners kritisiert Nietzsche an Schopenhauer, daß dieser die „ewigen Ideen" der Dinge, das „allein eigentlich Wesentliche der Welt" (Welt als Wille u. Vorst. I §36; vgl. §§ 30 — 35 pass.) von der Scheinhaftigkeit unserer zeitlich bedingten Vorstellung ausnehme. Alles, was wir denken, ist, allein schon weil wir es denken, Konjektur für Cusanus, für Nietzsche Schein, Irrtum, Lüge; für beide jedenfalls vergänglich. Alles Bestimmte, Seiendes wie Gedachtes, verschwindet im Abgrund des Ur-Einen. In dieser kritischen Perspektive einer radikalen Mystik zeigt sich schließlich, daß sogar „der Wille nichts als Schein selbst ist und das Ureine nur in ihm eine Erscheinung hat" (III 7 [174]; vgl. a. O. [167]: „Der Wille gehört zum Schein"; „Der Wille bereits Erscheinungsform"). Nun gibt es so viele Gestalten der Mystik wie es verschiedene Gestalten der Philosophie gegeben hat. Trotz der gemeinsamen Orientierung des Denkens an der Alleinheit des Seins geht Nietzsche ganz andere Wege als Cusanus bei der Auslegung des Einen in die Vielheit. Denn er kann sich
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nicht auf eine Offenbarung berufen. Das Eine der cusanischen Mystik ist Gott, den wir zwar niemals und auf keine Weise erkennen können, von dem wir gleichwohl im Glauben die Gewißheit haben, daß er die Wahrheit selbst ist, die wir suchen, und zugleich der Schöpfer aller Dinge, der, obwohl er nichts außer sich und nichts nötig hat, sich in der Vielfalt seiner Schöpfung offenbaren will, usw. — Das Ur-Eine Nietzsches hingegen erscheint ursprünglich als Wille. Als Wille aber — und darin liegt die offene Kritik an Schopenhauer in den frühen Texten — als Wille ist es absolute Bedürftigkeit. „Das Alleine leidet und projicirt zur Heilung den Willen . . . Der Schmerder Widerspruch ist das wahrhafte Sein'''' (III 7 [165]). Es muß sich also offenbaren. Noch deutlicher legt Nietzsche in der Geburt der Tragödie die „metaphysische Annahme" zugrunde, „dass das WahrhaftSeiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht" (GT 4; KS A 1, 38). Natürlich findet es auch, was es braucht, hat es ewig schon gefunden. Denn „die Visionen des Ureinen können ja nur adäquate Spiegelungen des Seins sein" (III 7 [157]). Mit Hilfe der gegen Schopenhauer auf Jakob Böhme zurückweisenden Annahme, daß „der Widerspruch das Wesen des Ureinen" sei (ebd.), läßt sich nach Nietzsche endlich begreifen, inwiefern das Eine bzw. „der eine Wille" zugleich „Urgrund des Daseins" sein kann (III 7 [117]). Denn der eine Wille „gebiert den Schein in jedem kleinsten Moment: der als das Nichtreale auch der Nicht«««, der Nichtseiende, sondern Werdende ist" (III 7 [168]). Folglich ist zwar alles Dasein nur Schein, aber es ist nichtsdestoweniger notwendig und jederzeit vollkommen. Denn „der Schein muß ebenso sein, wie das Sein, unverändert ewig" (ebd.). — Diese Auslegung des Einen bedeutet eine Umkehrung der cusanischen Mystik. Während nach Cusanus die Widersprüche unseres Denkens im unterschiedslosen Einen aufgehoben sind, verlegt Nietzsche gerade sie ins Eine selbst, welches sie ewig aufs neue im Werden seiner Vorstellungen löst. Spekulationen dieser Art bezeichnet Nietzsche später als seine „Artisten-Metaphysik" (vgl. GT, Versuch einer Selbstkritik 2.; VIII 2 [110]), die er sich in interpretierendem Rückblick erneut anzueignen versucht. Doch schon die früheren Entwürfe sind von Zweifeln begleitet, wie sie am deutlichsten in der heute viel zitierten, seinerzeit von Nietzsche geheimgehaltenen Schrift Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne ausgesprochen werden. Dabei handelt es sich nicht mehr nur um spezielle Zweifel daran, ob das Eine wirklich als Wille anzusehen sei, wie Schopenhauer behauptet, selbst aber auch schon relativiert hat (vgl. Welt als Wille u. Vorst. II § 18), sondern um grundsätzlichere Zweifel. Eine Metaphysik, die nicht mehr vom vorgängigen Glauben an das Eine als den sich selbst
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offenbarenden Gott getragen ist, muß, wenn sie redlich und konsequent verfährt, ihre eigenen Grundlagen in Frage stellen. Mystisches Denken versinkt notwendig ins Nichts, sobald das Eine selbst, das Unerkennbare nicht wenigstens als unerkennbar und als das Eine erkannt und festgehalten werden kann. Cusanus trägt dieser Notwendigkeit Rechnung, wenn er paradoxerweise vom nicht erkennenden Erkennen des Einen spricht und dabei eine transsumptive Bedeutung annimmt, die uns ins Licht der offenbar-verborgenen Wahrheit hinüberträgt. Nietzsches Ausarbeitung dieses Zweifels besteht darin, daß er alle Begriffe von philosophischem Rang, vornehmlich die obersten und einfachsten der Tradition, die irgendwann einmal zu Kategorien des Seins erhoben wurden, als Fiktionen des Denkens zu entlarven unternimmt. Dieser dekonstruktiven Genealogie fallen auch der Begriff des Einen und seine verschiedenen Auslegungen zum Opfer. Die gegen Schopenhauer gerichtete Einsicht, daß es einen „Willen gar nicht giebt" (VIII 14 [121]; vgl. 9 [98], 11 [73]), bedeutet in der Folge auch, daß es ein Ding an sich (vgl. VIII 2 [85]), eine Welt an sich (vgl. VIII 14 [93]), ein Ganzes (vgl. VIII 11 [74]) nicht gibt; kurz: auch der Eine Urgrund von allem ist eine Fiktion unseres Denkens. Diese grundsätzliche Metaphysikkritik besagt nicht mehr nur, daß das, was bislang als Wahrheit galt, bloß Meinung sei; das behauptet jede neue Gestalt der Philosophie von der jeweils herrschenden. Sie besagt aber auch nicht nur, daß wir die Wahrheit nicht adäquat erkennen können; denn das weiß ebenfalls, wie man gerne übersieht, alle Metaphysik, sofern sie sich diese Frage stellt. Metaphysik war immer auch eine Lehre von den Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit. Doch Nietzsche geht einen entscheidenden Schritt weiter. Wir können die Wahrheit nicht nur nicht erkennen, wir können sie nicht einmal ernsthaft suchen. Wir sind gar nicht unterwegs zur Wahrheit, sondern überall in der Irre. Die Geschichte des Denkens selbst, so wie Nietzsche sie sich für seine Zeit auf neue Weise repräsentiert, bereitet eine „souveräne Unwissenheit" vor, die sich von der des Sokrates dadurch unterscheidet, daß sie den Glauben an die Wahrheit verloren hat. Sie weckt stattdessen ein „Gefühl" dafür, „daß .Erkennen' gar nicht vorkommt, daß es eine Art Hochmuth war, davon zu träumen, mehr noch, daß wir nicht den geringsten Begriff übrig behalten, um auch nur ,Erkennen' als eine Möglichkeit gelten zu lassen — daß .Erkennen' selbst eine widerspruchsvolle Vorstellung ist" (VIII 5 [14]). Das Eine als Grundbegriff aller möglichen Erkenntnis, mithin aller Metaphysik, schon von Kant als „natürliche Illusion" bezeichnet, insofern es als „transzendentales Prinzip der Möglichkeit der Dinge überhaupt" genommen wird (KrV Β 610), ist nur die erste Voraussetzung, die das
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Denken in seinem jeweiligen Anfang zu machen genötigt ist. Unterscheidend setzt es gleich, verbindet und trennt; so bildet es Begriffe, die Einheiten von Vielheiten repräsentieren, als Einheiten daher immer auch unterschieden bleiben, sowohl nach innen wie auch nach außen (vgl. ζ. B. VIII 2 [85]). Das Eine ist also nicht autark und allumfassend, sondern stets von anderem gehalten, selbst ein anderes. Es ist nach Nietzsche wesentlich „Organisation und Zusammenspiel, ... ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht eins ist" (VIII 2 [87]). Der Begriff des Einen als des Sich-selbst-Gleichen erweist sich also (wie bei Hegel) als ein Reflexionsbegriff; er kann sich von seiner Reflexion im anderen nicht absolvieren. Folglich ist auch die Welt das Ganze nur relativ auf ein Denken, das auslegt, im Moment der Auslegung. „Die W e l t . . . ist essentiell Relations-Welt" (VIII 14 [93]). Eine Korrespondenz der jeweils ausgelegten Welt mit anderen möglichen Welten oder gar zur wahren Welt als dem Inbegriff aller möglichen Welten, wie sie Leibniz um der Alleinheit willen annimmt, ist nicht nur nicht anzugeben. Es ist „Hochmuth", sie auch nur anzunehmen, wie Nietzsche mit einem sehr bezeichnenden und traditionsreichen Wort bemerkt (vgl. o. und die berühmte Fabel von den klugen Tieren, die zweimal vom Hochmut des Erkennens spricht: KSA 1, 875 f.). Die jeweils vorgestellte Welt ist der wirklichen Welt nicht entgegengesetzt, weil auch die wirkliche Welt als unterschieden von der vorgestellten nur eine Vorstellung ist. Wir haben nichts außer der je vorgestellten Welt. Eine Korrespondenz zu anderen und anders vorgestellten Welten ist nur als Erweiterung unserer eigenen Welt vorstellbar. Was wir als Welt haben, sind die gegenwärtigen Begriffe oder Zeichen, als deren Grund wir ein unendliches Ganzes projizieren, das aber nie gegenwärtig sein kann. Wir können niemals von ihm sagen, was es sei, aber wir können wissen, daß es sich mit den gegenwärtigen Begriffen in der Zeit verändern wird. Am Anfang der Metaphysik stand der Satz, daß „alle Menschen von Natur nach Wissen streben" ( A r i s t . , Met. A 1; 980 a 21). Später hieß es weiter, daß Wahrheit die Nahrung des Geistes sei und für diesen ebenso lebensnotwendig wie Brot und Wein für den Körper. Zwar wächst der Appetit beim Essen und kann in dieser Welt niemals vollkommen befriedigt werden, aber zugleich wächst der Genuß, denn die Wahrheit ist süß und unerschöpflich (vgl. z. B. Cusanus, Doc. ign. III 12 n. 258 f.). Was Nietzsche mit der philosophischen Tradition positiv verbindet, ist vornehmlich dieser Wille zur Wahrheit, zur Wahrheit allerdings auch über diesen Willen selbst. Er sieht in ihm, den er Wahrhaftigkeit oder intellektuelle Redlichkeit nennt, seine „letzte Tugend" (VIII 1 [145]), zugleich aber einen großen Luxus, den er teuer bezahlt. Nicht der Hunger, wohl aber der Geschmack hat sich bei ihm gewandelt. Das verrät schon seine Etymologie des
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griechischen Weisen, dessen Namen er auf „sapio ich schmecke, sapiens der Schmeckende" zurückführt und in „sisyphos" als dem „Mann des schärfsten Geschmacks" wiedererkennt (PHG 3.; KSA 1, 816). Ohne die verklärende Gewißheit des Glaubens ist ihm der Quell der Wahrheit salzig geworden; er kann den Durst des Geistes nach Erkenntnis nicht mehr befriedigen. Es kann also dieser Durst dem Menschen nicht natürlich sein, wie alle Philosophie bislang glaubte. In der qualvollen Lage eines Sisyphos der Erkenntnis aus eigenem Entschluß und hierin seiner letzten Tugend treu, die zugleich sein „geistiges Fatum", seine „große Dummheit" ist (JGB 231), wird Nietzsche aus Liebe zur Vernunft unvernünftig. Er versucht, den „schrecklichen Grundtext homo natura" neu zu entziffern, indem er sich, „taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfanger", die „seltsame und tolle Aufgabe" stellt zu fragen, „,warum überhaupt Erkenntniss?' "(JGB 230). Nietzsches Antwort auf diese Grundfrage seiner Philosophie hat zwei Seiten. Einerseits entwirft er eine neue Art von Metaphysik. Der Metaphysik des Seins setzt er eine Metaphysik des Werdens entgegen. Alles ist nicht Wasser, nicht Feuer, nicht Sein, sondern alles ist Leben, und dieses ist ,$7ille %ur Macht — und nichts außerdem" (VII 38 [12]). Keine andere Metaphysik vermochte bislang das Problem des Ursprungs der Bewegung, das Grundproblem der neuzeitlichen Metaphysik, so überzeugend zu lösen wie diese neue Lehre. Zugleich ist sie ein schlagendes Beispiel ihrer selbst. Sie überwältigt ältere Formen der Metaphysik, indem sie ihnen in den Rücken fällt. Ohne irgendwelche Argumente zu widerlegen, fragt sie von außen nach den Interessen derer, die sie vortragen. Die neue Metaphysik ist die psychologische Destruktion aller vorhergehenden. „Denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen" (JGB 23, Schluß des Abschnitts „von den Vorurtheilen der Philosophen"). In diesem Sinn ist der Begriff des Lebens als ein psychologischer Gegenbegriff gegen den des Seins zu verstehen. Er erschließt den Durchblick auf das Eine aus einer neuen Perspektive. Die Lehre vom Willen zur Macht als der „Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens" (z. B. VII 39 [1]; 40 [2]; vgl. VIII 2 [73]) präsentiert sich als Antwort auf die ganz persönlich formulierte Frage: „Und wißt ihr auch, was mir ,die Welt' ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen?" (VII 38 [12]). Doch auch diese neue und siegessichere Gestalt der spekulativen Philosophie bleibt Lehre, Metaphysik und gehört als solche zu den hochmütigen Träumen der Philosophen — aber Nietzsche weiß das auch. „Befreien wir uns", notiert er in dieser Einsicht für sich selbst, „wenn wir nicht zu Schanden den Namen der Philosophie machen wollen, von einigen Abgeschmacktheiten. Z. B. vom Begriff ,Weltprozeß': davon wissen wir nichts. Schon der Begriff,Welt' ist ein Grenzbe-
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griff: mit diesem Wort fassen wir ein Reich, wohin wir alle unsere n o t w e n digen Unwissenheiten schicken" (VIII 6 [10]). Damit zeigt sich andererseits, und das dürfte philosophisch bedeutsamer und folgenreicher sein, daß es aufgrund jener neuen Art der Fragestellung ungereimt wäre, den Begriff des Lebens doch wieder im Sinn eines Grundbegriffs der alten Metaphysik verstehen zu wollen und hier einen säkularisierten, vielleicht evolutionierten Erben Gottes zu vermuten. Denn auch das Leben ist nur ein Vernunftbegriff; allenfalls einer, der in der gegenwärtigen Lage des Denkens zur Realisierung, Hypostasierung, Personifizierung weniger leicht verführt als der des Seins. Denn das Leben hat das andere außer und gegen sich, nicht aber unter oder in sich; es ist also ziemlich ungeeignet, die Funktion des Einen der alten Metaphysik zu übernehmen. Jedenfalls ist es nicht möglich, mit seiner Hilfe andere Begriffe abschließend zu erklären. Vielleicht kann man sie angemessener interpretieren, so nämlich, daß dieses Interpretieren „uns" etwas „angeht" (VIII 2 [77]). Mit dem Übergang vom Sein zum Leben vollzieht sich auch der Übergang vom „Erklären" zum „Auslegen" (vgl. VIII 1 [121]; 2 [82], [86]; 7 [60] u. v. a.), von erschöpfender Erkenntnis zu schöpferischem Interpretationsgeschehen (vgl. VIII 1 [115]; 2 [148]).
Κ Das Andere als Antwort
auf das Wort als das Eine
„Es scheint mir wichtig", vermerkt Nietzsche einige Zeit nach dem Tod Gottes, „daß man das All, die Einheit los wird, irgend eine Kraft, ein Unbedingtes; man würde nicht umhin können, es als höchste Instanz zu nehmen und Gott zu taufen" (VIII 7 [62]). Für den Philosophen, der alles Geschehen als Interpretation begreift, gibt es in diesen Dingen kein Zurück. Es stellt sich allerdings die Frage, wie weiter? „Man muß", antwortet Nietzsche, „das, was wir dem Unbekannten Ganzen gegeben haben, zurücknehmen für das Nächste, Unsre" (ebd.). Damit kann die Frage konkreter gestellt werden: Was ist das Unsre als das Nächste? Wenn man die „wahre Welt" als das Eine, Ganze, Unbedingte „abschafft", dann bleibt als das andere die die wir sind" (VIII14 [103, 2.]). Doch was läßt sich über diese andere Welt noch sagen? Das andere war das Scheinbare, Vorläufige, Belanglose, das an sich selbst Nichtige. Es bleibt uns aber nichts anderes als dieses andere. Die selbstkritische Konsequenz des metaphysischen Denkens führt also notwendig in den Nihilismus. Vom Standpunkt des metaphysischen Denkens aus beurteilt ist dies „der lähmendste Gedanke" (VIII 5 [71, 5.]). Er bricht den Willen des Denkens, indem er es in seinem überkommenen Selbstverständnis als unmöglich und unsinnig
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denkt. Aus dieser Sicht erscheint Nietzsches radikale Erkenntniskritik als eine Steigerung des Nihilismus, nicht als seine Uberwindung; als absurdes Denken, das sich selbst vernichtet. Diese selbstzerstörerische Konsequenz des metaphysischen Denkens ist logisch zwingend, solange dieses sich im Rahmen des gewohnten Gebrauchs der Begriffe von Wahrheit und Erkenntnis artikuliert, auch wenn es gerade das E n d e dieser Begriffe als die Unmöglichkeit ihrer Erfüllung denken will. Wenn allerdings, von einem anderen Standpunkt aus, der Begriff, den das metaphysische Denken von sich je schon hat, selbst als eine Interpretation betrachtet wird, dann geht in der selbstzerstörerischen Konsequenz der alten Begriffe von Wahrheit und Erkenntnis nur „eine Interpretation . . . zu G r u n d e " (a. O., 4.). O b wir den Untergang einer gewohnten Interpretation verwinden, ist aber nicht mehr eine Frage der Logik, sondern eine Frage der Kraft. E s gilt, eine tief verwurzelte Gewohnheit zu brechen. Wenn unsere Kraft dazu reicht, dann können wir lernen, Wahrheit und Erkenntnis anders zu interpretieren. Wenn die Welt nicht Eine ist und wohlgeordnet, wenn sich das Ganze als „Chaos" erweist ( V I I I 11 [74]), dann gewinnt auch das ihm gegenüberstehende andere eine neue Bedeutung. Aus seiner Nichtigkeit in Bezug auf das Eine entlassen, übernimmt das andere die Last des Seins und der Wahrheit. E s gestaltet sie in die F o r m vieler sich selbst organisierender Einheiten — treffender: Andersheiten — von „relativer D a u e r " (ebd.). Die Vielheit der scheinbaren oder vorgestellten Welten bleibt; sie artikulieren sich in der Zeit. Aber die zeitliche Artikulation, Zeichen ihrer Vergänglichkeit und deshalb bislang als Zeichen ihrer Nichtigkeit gedeutet, wird nun verstanden als ihre Wirklichkeit. Diese wirklichen Welten verhalten sich zueinander wie Zeichen. Sie weisen nicht über sich hinaus auf jenseitige Bedeutungen oder die Eine Wahrheit aller Bedeutung, sondern verweisen auf andere Zeichen; sie zeigen in die je erreichbare Tiefe von Vergangenheit und Zukunft und in die je überschaubare Weite des Raums. D i e Dignität eines Zeichens liegt in der Wirkung, die es auf andere Zeichen auszuüben vermag. K u r z gesagt, das eine und das andere, verstanden als Zeichen, bedingen sich wie Wort und Antwort, sie nehmen hier und jetzt aneinander Maß. D a ß überhaupt etwas und was es sei, steht nicht von Ewigkeit und vor allen Zeichen fest. E s muß gesagt, es muß verstanden und anerkannt werden. Das Wissen um die zeitliche Bedingtheit der Grundbegriffe des Denkens führt nun rückblickend dazu, daß die zuvor unterschiedenen zwei Seiten der Antwort auf Nietzsches neue Frage nach dem Warum der Erkenntnis ihrem Inhalt nach zusammenfallen. Denn die exoterische Position des Willens zur Macht als die neue und siegessichere Metaphysik ist
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nichts anderes als der Versuch einer positiven Darstellung der esoterischen Einsicht in die Nichtigkeit aller begrifflichen Positivierungen. Thema der neuen Lehre ist genau jenes dynamische Bedingungsgefüge des jeweiligen Begreifens von Begriffenem und Begreifendem, nach welchem alle Position nur Interpretation sein kann, bedingt durch andere Interpretation und nur zu ihrer Zeit wirksam und verständlich — wie die Antwort auf ein gegebenes Wort. Soweit die Umdeutung des anderen zur Antwort soeben entwickelt wurde, macht sie zwar die Bedingtheit alles Denkens ohne Rückhalt an einem Unbedingten deutlich, zeigt aber noch keinen Weg, wie ein Denken, das nicht mehr von der im Grunde ewigen Wahrheit getragen ist, sich vor dem Abgrund nihilistischer Beliebigkeit bewahren kann. Denn logisch betrachtet, wären auf jedes Wort unabsehbar viele Antworten möglich; keine wäre die unsre als die nächste. Doch das Wort ist hier nicht nur als logisches Element eines möglichen Gedankens zu verstehen, sondern immer auch als Äußerung einer wirklichen Kraft — es wird gesagt. Und es ist nicht gleichgültig, wer es sagt. Sein Wahrheitswert ändert sich nicht nur mit der Zeit, sondern ist schon hier und jetzt bedingt durch die Kraft, die sich in ihm äußert. Der Anspruch auf Wahrheit muß geltend gemacht werden. Vermutlich als erster, jedenfalls aber maßgebend für unsere Tradition hat Augustin die unlösliche Verbindung zwischen Wahrheit und Autorität erkannt und entwickelt. Was wahr sein soll, muß wirklich behauptet und geglaubt werden. Nicht zufallig hatte sich die platonische Dialektik schulintern zur akademischen Skepsis fortentwickelt. Ihrer Lehre fehlte die göttliche Sanktion. Augustin hat erfahren und begriffen, daß das metaphysische Denken den allmächtigen Gott als Garanten der Wahrheit nötig hat. Folglich muß das Wissen im Kultus fundiert werden. Nietzsche bewahrt diese Einsicht auch noch in seiner Überwindung der Metaphysik. Nach dem Tod des „moralischen Gottes" wird die Autorität zerstückelt, sie wird vervielfältigt und verzeitlicht, nicht aber aufgehoben. Wenn sich überhaupt geistige Organismen von größerer Stärke und Dauer bilden sollen, dann muß die sie bildende Sprache geregelt werden. In diesem Sinn ist der Philosoph Gesetzgeber (vgl. J G B 211). Denn er ist Namengeber, ,nomothetes', wie schon Piaton sagte (Krat. 388 e; 389 a.d; 390 d). Freilich bezieht sich die Namengebung nicht nur auf die Spracherfindung, sondern vor allem auf den Sprachgebrauch. Denn dieser trifft die Sprachregelungen, die unser Denken jeweils leiten. „Es genügt", so formuliert Nietzsche diese Einsicht schon in FW 58, „neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue ,Dinge' zu schaffen". Aber nicht jeder ist dazu in der Lage. Später heißt es deutlicher:
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„Die Mächtigen sind es, welche die Namen der Dinge zum Gesetz gemacht haben" (VIII 6 [11]). Besonders deutlich führt Nietzsche die Bedeutung der Autorität für die Wahrheit der Worte am Beispiel Zarathustras aus, der für ihn der Lehrer schlechthin ist, Prophet, Philosoph und Gesetzgeber in einem. Für den Betrachter erscheint dabei die Frage der gesetzgebenden Macht eher als eine Frage des Rechts. Nicht jeder hat das Recht, die Wahrheit zu sagen, nicht jeder das Recht, sie zu hören. Dem „schäumenden Narren", der ihm „Etwas vom Satz und Fall der Rede abgemerkt" hatte, hält Zarathustra entgegen: „Und wenn Zarathustra's Wort sogar hundert Mal Recht hätte·, du würdest mit meinem Wort immer — Unrecht thun" (Za III, Vom Vorübergehen). Recht,haben', im gewöhnlichen objektiven Sinn des Wortes, genügt nicht. Die Wahrheitsdifferenz ist in das Recht ,thun' durch das Wort einbezogen. O b einer aus „Rache" oder aus „Liebe" spricht, das ist hier die Frage. Ob etwas aus „ H u n g e r " oder aus „Überfluß" geschieht, fragt Nietzsche ganz entsprechend in späteren Texten (vgl. z. B. VIII 2 [122]). Entscheidend aber ist die Kraft, die sich im Wort äußert, die sich der Gefahr des Widerspruchs aussetzt, den wirklichen Widerspruch wirklich erträgt. Das Wort ist Ausdruck eines Willens zur Macht, selbst leiblich und von der Kraft des Leibes getragen. So hat es, wie dieser, einen begrenzten Horizont in Raum und Zeit. Losgelöst von diesem besagt es nichts. Aber auch allein gelassen verlöre sich seine Kraft im Leeren. Die Kraft des Wortes fordert eine Hörerschaft oder Leserschaft, die es aufnimmt und weiterträgt, ihm widerspricht. Hörerschaft oder Leserschaft, diese Frage ist sekundär. Primär bleibt stets das gesprochene Wort; nicht aufgrund seiner akustischen Qualität — bekanntlich verständigen sich auch Taubstumme durch Worte —, sondern weil es nur als gesprochenes auch behauptet wird. Nur als gesprochenes oder erwidertes hat es einen Autor, der ihm Dauer verleihen kann. In diesem Sinn ist auch Piatons Schriftkritik zu verstehen. Nicht in der Schrift, sondern in der Behauptung gewinnt das Wort Dauer. Die Stimme verklingt, der Buchstabe ist tot. Solange aber ein Autor des Wortes lebt — gleichgültig ob als Sprecher oder Hörer, Leser oder Schreiber eines Textes, wenn er sich nur für ihn verantwortlich fühlt — solange ich also fürchten muß, daß der Autor bereit wäre, seine Behauptung zu bekräftigen, hat das Wort Geltung — so viel und so weit es als sein Wort Autorität besitzt. Im behaupteten Wort also liegt die weltbildende oder sinnstiftende Kraft des Denkens, die Nietzsche dem post-nihilistischen, über-menschlichen Denken zuspricht. Unsere Welten sind aus dem Affekt geboren, aus endlicher Liebe und endlichem Haß. Das So-und-so-Sein dieser endlichen
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Welten ist unerklärliches unableitbares Produkt der vielen schöpferischen Willen. Folglich ist das neue Wort schön für den einen und lustvoll, schmerzlich aber für andere und häßlich. Es eröffnet neue Horizonte, aber natürlich nur, indem es über bestimmte alte Horizonte hinausführt. Das Alte ist Mitgift und Erblast zugleich. Mit der Zeit aber erlahmt seine Kraft; es wird vergessen, sofern es nicht rituell — durch Erziehung und Bildung — tradiert wird. Natürlicherweise, so scheint es, sehnen wir uns nach neuen Ufern. Das Verhältnis von Wort und Antwort ist so verstanden ein leibliches Verhältnis in der Zeit. Es tritt im nachmetaphysischen Denken, dessen Bedingungen Nietzsche zu artikulieren versucht, an die Stelle des transsumptiven Verhältnisses der vielfältigen anderen als der vergänglichen Zeichen auf die ewige Wahrheit des Einen hin. Erst die wirkliche Antwort gibt dem Wort Bedeutung, indem sie auch noch im Widerspruch ja sagt zu dem, was ist. Sie geht am anderen, das ihr als Wort gegenübertritt, nicht „vorüber" (vgl. Za III, Vom Vorübergehen), sondern interpretiert es. In diesem Sinn bewahrt sie es, läßt es sein. In diesem Sinn wäre vielleicht auch ein Wort des weisen Salomon zu interpretieren, das bei Luther lautet: „ein richtiges antwort ist wie ein lieblicher kus" (Spr. Sal. 24, 26).
WALTER
SCHMITHALS
Paulus und die griechische Philosophie In seiner Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929) fragt Martin Heidegger unter Verweis auf 1 Kor 1,20: „Ob die christliche Theologie sich noch einmal entschließt, mit dem Wort des Apostels und ihm gemäß mit der Philosophie als einer Torheit Ernst zu machen?". 1 Der 1927 und 1928 gehaltene und 1970 unter dem Titel Phänomenologie und Theologie veröffentlichte Vortrag enthält die gleiche Anfrage in schrofferer Form, wenn Heidegger konstatiert, „daß der Glaube in seinem innersten Kern als eine spezifische Existenzmöglichkeit gegenüber der wesenhaft zur Philosophie gehörigen und faktisch höchst veränderlichen Existenzform der Todfeind bleibt". 2 Diese Todfeindschaft schließt indessen auch für Heidegger nicht aus, daß sich die Theologie, weil sie ihre Begriffe ausweisen muß, der Ontologie bedient; denn „alle theologischen Grundbegriffe haben . . . in sich einen zwar existentiell ohnmächtigen, d. h. ontisch aufgehobenen, aber gerade deshalb sie ontologisch bestimmenden vorchristlichen und daher rein rational faßbaren Gehalt. Alle theologischen Begriffe bergen notwendig das Seinsverständnis in sich, das das menschliche Dasein von sich aus hat, sofern es überhaupt existiert" (ebd. 29). Und weil in solcher Weise „in der gläubigen Existenz das überwundene vorchristliche Dasein existentialontologisch mitbeschlossen liegt" (ebd. 29), tue der Theologe gut daran, sich der Ontologie zwar nicht als Direktion seiner Botschaft, wohl aber als Korrektion seiner Begriffe zu bedienen, damit er wissenschaftlich angemessen verfahrt. Rudolf Bultmann, dem Heidegger seine Veröffentlichung von 1970 „in freundschaftlichem Gedenken an die Marburger Jahre 1923—1928" gewidmet hat, hat solche Problematik von Anknüpfung an und Widerspruch zur Philosophie oftmals erörtert. In Übereinstimmung mit Heidegger stellt er fest: „Die Bestimmung zum Selbst ist unverlierbar und bleibt im Menschen ständig wirksam als die ihn ständig — bewußt oder unbewußt, eingestanden oder verdrängt — bewegende Frage nach dem,
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M. Heidegger, Was ist Metaphysik? 71955, 20 M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1970, 32
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was er eigentlich sei." 3 In diesem Sinne ist in den Antworten von Religionen und Philosophien die Frage lebendig, an die der christliche Glaube anknüpfen kann, um seiner eigenen widersprechenden Antwort Einsichtigkeit und Gewicht zu verleihen. Bultmann hat diese Problematik zugleich hermeneutisch ausgeweitet, indem er „auch in ganz simplem Sinne nach dem Anknüpfungspunkt für unsere Verkündigung" (ebd. 122) im Daseinsverständnis des jeweiligen Hörers fragt, der den Widerspruch ja verstehen muß, so daß der Verkündiger der christlichen Botschaft in besonderer Weise dessen „Religion, sein(en) Gottesbegriff, seine Ethik, seine Philosophie" zu berücksichtigen hat (ebd. 121), soll die Botschaft, die er vorträgt, nicht „gewissermaBèn stumm" bleiben. 4 D e r folgende Versuch, dieser Problematik des Verhältnisses von T h e o logie und Philosophie an Hand der Briefe des Apostels Paulus, also an einem historischen Beispiel, exemplarisch nachzugehen, trifft sich, wie ich hoffe, mit den hermeneutischen Interessen des Empfangers dieser Geburtstagsgabe, dem ich für mehr als zwei Jahrzehnte kollegialer Zusammenarbeit zu danken habe. Dabei lasse ich die oft auffälligen Berührungen zwischen der paulinischen Paränese und dem konkreten Weltverhalten der popularphilosophischen Zeitgenossen, auch wenn sie gelegentlich in den Blick treten, außer Betracht. Diese Berührungen erklären sich aus der Profanität der E t h i k des Paulus, der den Gemeinden empfiehlt: ,Was wahr ist, was ehrbar ist, was rechtschaffen ist, was rein ist, was angenehm ist, was in gutem R u f steht, alles Tugendhafte und alles Lobenswerte, danach richtet euch' (Phil 4,8). D i e frühchristlichen Gemeinden passen sich bewußt an die besten Maßstäbe zeitgenössischer Sittlichkeit an und nehmen keine besonderen Einsichten im Bereich der Ethik für sich in Anspruch. Ich richte das Augenmerk vielmehr auf den Umgang des Paulus mit den religiösen Gedanken der Philosophie seiner Zeit sowie auf die Frage, inwieweit und auf welche Weise Paulus mit der zeitgenössischen Philosophie vertraut war. I Seit der Zeit der Alten K i r c h e bildet die offenkundige Nähe von Gedanken Senecas, Epiktets und anderer Popularphilosophen zu dem, was wir in den Briefen des Paulus lesen, ein vielbehandeltes Problem. Trug man im Altertum keine Scheu, die wegen ihrer hochstehenden
Ethik
beliebten Stoiker zu heimlichen Christen zu machen, so wurde noch um 3 4
R. Bultmann, Glaube und Verstehen II, 1952, 120 Heidegger, Phänomenologie, 28
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die letzte Jahrhundertwende von angesehenen Wissenschaftlern (Th. Zahn; Κ. Kuiper) die Ansicht vertreten, der Heide Epiktet habe die Briefe des Paulus gekannt und benutzt. Heute hat sich im Gefolge der Religionsgeschichtlichen Schule die Überzeugung durchgesetzt, daß die spärlichen Überreste der neuzeitlich so genannten ,kynisch-stoischen Diatribe' der Kaiserzeit nach Form und Inhalt aus einer vielfältig verbreiteten Tradition schöpfen, mit der sich auch die entsprechenden Passagen der Paulusbriefe berühren. 5 Nur über die Art und Weise dieser Berührung bestehen Meinungsverschiedenheiten. Zwar hat sich seit den Untersuchungen von A. Bonhoeffer 6 , M. Pohlenz 7 , C. Clemen 8 und anderen die Ansicht immer mehr gefestigt, daß sich das Ideal des stoischen Weisen und das paulinische Daseinsverständnis trotz mancher analoger Züge grundlegend voneinander unterscheiden. Aber daß sich die mannigfachen formalen und gedanklichen Berührungen zwischen Paulus und der kynisch-stoischen Diatribe mit Hinweis auf das Gemeingut der hellenistischen Umgangssprache hinreichend erklären lassen, wie vor allem Bonhoeffer und Heinrici meinten, wurde und wird mit Recht bezweifelt. Indessen bleibt umstritten, auf welchen Wegen Paulus Gedanken und Ausdrucksmittel der Diatribe kennengelernt hat, wie weit seine direkt oder indirekt gewonnenen Kenntnisse reichten und mit welchem Grade eigener Reflexion er diese Kenntnisse im Rahmen seiner Theologie einsetzte. Hat Paulus die entsprechende religiöse Literatur des Hellenismus gelesen oder gar studiert, wie Richard Reitzenstein 9 annimmt, oder wenigstens selbst Einblick in einen unliterarischen Lehr- und Schulbetrieb der Popularphilosophen gewonnen? Mit Sicherheit läßt sich sagen, daß mancherlei diatribenhaftes Gut Paulus durch die Vermittlung der Synagoge zugekommen ist. Das gilt für manche Stilelemente 10 , aber auch für inhaltliche Gedanken, und zwar, wie schon oft gezeigt wurde, vor allem für die Aussagen, daß die unsichtbare Gottheit νοούμενα καθοporrai (Rom 1,20 f.) und daß die Heiden φύσει das sittlich Gebotene tun, wie ihr Gewissen bezeugt (Rom 2,14). Die erste dieser beiden Aussagen begegnet in einer von Paulus zitierten synagogalen 5
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Hinsichtlich des dialogischen Stils vgl. vor allem R. Bultmann, Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe, 1910; Bultmann nimmt Anstöße von G. Heinrici, J. Weiss, P. Wendland, E. Norden und anderen Forschern auf. A. Bonhoeffer, Epiktet und das Neue Testament, 1911; vgl. G. Heinrici, Der zweite Brief an die Korinther, »1900, 441 ff. M. Pohlen^, Paulus und die S toa, ZNW 42, 1949, 69 ff. C. Clemen, Religionsgeschichtliche Erklärung des Neuen Testaments, 1924 Richard Rei\enstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen, 2 1919, 66 Vgl. z. B. H. Thyen, Der Stil der Jüdisch-Hellenistischen Homilie, 1955.
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Gerichtspredigt über die Heiden, in der die ,vernünftige Gotteserkenntnis' wie schon in SapSal 13 — 15 auf die Offenbarung des Schöpfergottes in seiner Schöpfung bezogen wurde. Die andere Aussage gehört zu einer von Paulus gleichfalls bloß zitierten Argumentation der hellenistischen Synagoge, mit der die Einheit von mosaischer Tora und natürlichem Sittengesetz dargetan wurde. Aber auch ein Lobpreis wie Rom 11,36 a (vgl. 1 Kor 8,6; Apg 17,28): ,Von ihm und durch ihn und zu ihm ist alles!', dessen prägnanteste hellenistische Parallele sich bei Mark Aurel (4,23) findet (ώ Φύσις, έκ σοϋ π ά ν τ α , έν σοί π ά ν τ α , εις σέ πάντα), stammt aus der Synagoge, die diese stoische Formel bereits in den Dienst des Schöpfungsglaubens gestellt hatte. Andere Aufnahmen stoischer Gedanken durch Paulus sind ursprunghaft christlich, wenn auch nicht notwendigerweise original paulinisch. In Gal 3,26 — 28 findet sich eine von Paulus auch sonst gerne aufgegriffene (1 Kor 7,17 — 24; 12,13; Kol 3,11) vorpaulinische Lehrformel, wie neben ihrer Form die paulinische Ergänzung ,durch den Glauben' und ihr über den brieflichen Kontext hinausschießender Inhalt zeigen. Diese Lehrformel folgt einem bei Epiktet oftmals begegnenden Argumentationsmuster (siehe unten) und berührt sich auch inhaltlich eng mit stoischem Gedankengut: ,Ihr seid alle Gottes Kinder (durch den Glauben) in Christus Jesus; denn soviel ihr in Christus getauft seid, habt ihr Christus angezogen. Es gibt weder Jude noch Grieche; es gibt weder Sklave noch Freier; es gibt nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle Eines in Christus Jesus.'
Sowohl der in dieser Formel begegnende Kosmopolitismus als auch die Relativierung der Unterschiede von Freien und Sklaven sowie die Gleichwertigkeit der Frau gehören von Anfang an zu den stoischen Grundsätzen. Das Naturrecht bzw. die allgemeine Physis und der in allen waltende Logos lassen die zwischen den Menschen aufgerichteten Schranken nicht zu; allen Menschen kommt die gleiche Würde zu, allen soll dieselbe sittliche Bildung und Erziehung zukommen. Natürlich argumentiert die christliche Lehrformel in Gal 3,26 — 28 nicht im Rahmen des stoischen Intellektualismus und der menschlichen Autonomie. Nicht Unvernunft richtet die Schranken zwischen den Menschen auf, die vielmehr Folge der menschlichen Sünde sind, so daß nicht vernunftgemäße Einsicht, sondern nur die Erlösung durch Christus zur gemeinsamen Kindschaft der Glaubenden führt — auch Epiktet nennt den Weisen ,Kind Gottes' (I 9,6) —, die sich demzufolge nur im Leben der begrenzten christlichen Gemeinde konkret verwirklicht. Aber in solchem
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sachlichen Widerspruch knüpft die Formel ohne Frage an stoisches Gedankengut an, das sie besser zu verstehen beansprucht als die zeitgenössischen Popularphilosophen selbst und das sie in solch besserem Verständnis zugleich in der christlichen Gemeinde realisiert sein läßt. Dies Beispiel einer vorpaulinischen christlichen Uberlieferung zeigt, daß und wie urchristliche Theologie im hellenistischen Raum stoisches Gedankengut reflektierte und hermeneutisch besonnen zum Ausdruck der eigenen Lehre aufgriff. Paulus selbst verfuhr nicht anders. In 1 Kor 7,1—24 nimmt Paulus den in Gal 3,26 — 28 zitierten traditionellen Gedanken in eigener brieflicher Gestaltung auf. Aus einem ihm von der Gemeinde in Korinth gegebenen Anlaß behandelt er in 1 Kor 7,1 — 17 das Verhältnis von Mann und Frau, ihre Gleichberechtigung' voraussetzend. Er argumentiert mit einem Herrenwort, seiner apostolischen Weisung und mit allgemeiner Erfahrung und schließt im Blick auf die Frage von Heirat und Scheidung, jeder solle nach Möglichkeit in dem Stand bleiben, in dem er sich befindet. Dieser Grundsatz wird im folgenden in eine prinzipielle Erörterung eingebaut. 7,18 — 20 zufolge sollen auch Juden und Griechen (nämlich Beschnittene und Unbeschnittene) bleiben, was sie sind, ein Rat, den Paulus mit einem Grundsatz der hellenistischen Synagoge begründet: ,Die Beschneidung ist nichts und die Vorhaut ist nichts, sondern das Halten der Gebote Gottes' (7,19). In 7 , 2 1 - 2 4 empfiehlt Paulus den Sklaven, sich nicht um Freilassung zu bemühen; ,denn der vom Herrn berufene Knecht ist ein Freigelassener des Herrn; ebenso ist, wer als Freier berufen wurde, ein Knecht Christi' (7,22). Mit Recht konstatiert Johannes Weiss 11 , daß zur Erklärung dieses Paradoxon „der stoische Freiheitsbegriff herangezogen" werden muß. Der Stoiker lehrt eine Freiheit, die auf der Unterscheidung zwischen dem inneren Leben, das dem Menschen zur Verfügung steht, und den äußeren Lebensumständen beruht, über die er nicht verfügt. Wahrhaft „frei ist der, dem nichts gegen seinen Willen geschieht, und den niemand hindern kann' (Epiktet I 11,9), und solche Freiheit tritt ein, wo man gelernt hat, ,alles so zu wollen, wie es geschieht' (I 11,15). Dabei liegt wiederum am Tage, daß Paulus, indem er die Freiheit an die Befreiung durch Christus bindet, die Unfreiheit radikaler faßt als die Stoa, für die sich bei vernünftiger Selbstbesinnung die Freiheit unvermeidlich einstellt. Nun kann bei diesem Beispiel aus 1 Kor 7,1 —24, das eine konkrete Anfrage aus Korinth ins Prinzipielle hebt, noch manches an vorpaulinischchristlicher Tradition im Spiel sein. In 1 Kor 9,19 — 22 formuliert Paulus
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Johannes Weiss, Der Erste Korintherbrief,
1910, 189
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indessen ohne Frage selbst, wie der durchgehend autobiographische Z u g verrät: ,Von allen frei, habe ich mich allen zum Knecht gemacht, um möglichst viele zu gewinnen. D e n J u d e n bin ich wie ein J u d e geworden, um die J u d e n zu gewinnen; denen unter dem Gesetz wie einer unter dem Gesetz, obschon selbst nicht unter dem Gesetz, um die unter dem Gesetz zu gewinnen; denen ohne Gesetz wie einer ohne Gesetz, obschon nicht ohne Gesetz, sondern unter dem Gesetz Christi, um die ohne Gesetz zu gewinnen; den Schwachen bin ich schwach geworden, um die Schwachen zu gewinnen. Allen bin ich alles geworden, u m wenigstens einige zu retten.'
Dieser Abschnitt, in dem Paulus wiederum ein Argumentationsschema der Diatribe verwendet (siehe unten), schließt in der ursprünglichen Korrespondenz unmittelbar an die Erörterung des Essens von Götzenopferfleisch in 1 K o r 8,1 — 13 an. Bei der von Paulus behaupteten Freiheit handelt es sich also wie in 1 K o r 10,29 um die Vollmacht (1 K o r 8,9; vgl. 6,12; 10,23), das dem Juden wegen Unreinheit verbotene Fleisch aus heidnischer kultischer Schlachtung essen zu dürfen. Dabei fühlt Paulus sich „wie ein stoischer Weiser" 12 , freilich als ein durch Christus Befreiter und — eine paradoxe, typisch paulinische Wendung ähnlich wie in 1 K o r 7,22 (vgl. Rom 6,18) — so zum Knechtsdienst der Nächstenliebe Berufener. In diesem Zusammenhang verweise ich mit besonderem Nachdruck auf Rom 12,1, wo Paulus mit λογική λατρεία ohne Frage einen Lieblingsbegriff der Stoiker und mit dem Hinweis auf einen dem L o g o s entsprechenden Gottesdienst auch stoisches Gedankengut aufgreift. Der Ausdruck steht in Rom 12,1 f. nämlich neben dem Hinweis auf den antiken Opferkult (,lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer'), auf die apokalyptische Frömmigkeit (,stellt euch nicht diesem Äon gleich') und die Mysterienkulte (.verwandelt euch durch Erneuerung') und repräsentiert folglich in einem durchgehend brieflichen Zusammenhang die besondere Frömmigkeit der Popularphilosophie, so daß in diesem Fall schwerlich von „jüdische(r) Vermittlung" 1 3 gesprochen werden kann. Durch das reflektierte Miteinander von vier Begriffsfeldern aus der religiösen Umwelt des Paulus, die sämtlich seine theologische Sprache auch sonst vielfaltig bestimmen und die in Rom 12,1 f. einheitlich zum Ausdruck des zentralen paulinischen Gedankens dienen, daß der Mensch die Wahrheit seines Daseins allein in der unverfügbaren Gnade Gottes findet, gibt Paulus zugleich zu erkennen, daß ihm die Anknüpfung auch an die Sprache und Gedankenwelt der 12
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Weiss, Korintherbrief, 243 H. Liet^mann, An die Römer,
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1933, 108
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Popularphilosophie nicht nur im vordergründigen Sinn zur semantischen Verständigung mit den Lesern und Hörern dient, sondern daß er sich zugleich dessen bewußt ist, mit seiner Botschaft jene Fragen definitiv und ,in Wahrheit' zu beantworten, die in Opferkult und Philosophie, Apokalyptik und Mysterienreligion eine vorläufige, unzureichende oder falsche Antwort gefunden haben. In diesem Sinn sind auch die paradoxen Beschreibungen speziell des apostolischen Amtes und der christlichen Existenz überhaupt in 2 Kor 4,8 — 11 und 6,9—10, auf deren stoische Parallelen schon oft hingewiesen wurde 14 , zu verstehen. „Die Rhetorik ist ganz die der Diatribe" 15 . Die genannten Stellen sind, wenn auch nicht rein brieflich, so doch original paulinisch und damit Zeugnis einer eigenständigen hermeneutischen Reflexion des Apostels, durch die bestimmte Einsichten und Erfahrungen der Popularphilosophie unter der Direktion des Christuszeugnisses aufgenommen, radikalisiert und ,aufgehoben' werden. Der ,Stil' der kynisch-stoischen Diatribe im engeren Sinn ist nach Bultmanns Dissertation von 1910 erst in jüngerer Zeit wieder monographisch untersucht worden. 16 Im Blick auf den in der Diatribe verwurzelten dialogischen Stil zahlreicher Passagen vor allem des Römerbriefs, in denen Paulus seine Gedanken in einem Dialog mit Einwänden seiner Gegner bzw. Hörer entfaltet (Rom 2,1; 3,2.8 f.; 4,1; 6,1.15; 7,7.13; 9,14; 11,1.11 usw.), war Bultmann der Meinung gewesen, Paulus habe in dieser Weise in bloß äußerlicher Anlehnung an die Form der Diatribe solche Einwände benutzt, um scharf die Paradoxie seiner Sätze zum Ausdruck zu bringen, während andere Forscher der Uberzeugung waren, das Schreiben nach Rom spiegele lebendig den paulinischen Dialog mit den Juden in der Synagoge wider, und noch andere meinten, bei den von Paulus diatribenhaft apostrophierten Gesprächspartnern handele es sich unmittelbar um die Empfänger seines Schreibens in Rom. Demgegenüber haben die neueren Arbeiten gezeigt, daß die Diatribe der Kaiserzeit keineswegs die kynischstoische Volkspredigt wiedergibt, wie weithin angenommen wurde und auch Bultmann 1910 voraussetzte, sondern daß sie aus dem philosophischen Schulbetrieb stammen dürfte. Wir haben es bei den entsprechenden Überlieferungen z. B. der Dissertationen Epiktets mit didaktisch reflektierten Lehrtexten zu tun, die, auch wo sie mündlich vorgetragen wurden., den Dialog — mit typischen Fragern und Kontrahenten — nur imitieren. 14
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Bultmann, Stil der paulinischen Predigt, 27. 80f.; H. Windisch, Der Zweite 1924, 207 ff. Windisch, Der Zweite Korintherbrief, 209 S. K. Stowers, The Diatribe and Paul's Letter to the Romans, 1981; Th. Schneller, die ,Diatribe'. Eine vergleichende Stilinterpretation, 1987
Korintherbrief,
Paulus
und
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Dies gilt auch für die Lehrtexte des Römerbriefs, die den popularphilosophischen Vorbildern folgen. Ob Paulus entsprechende Lehrtexte gekannt hat oder ob er die dialogische Lehrweise der Diatribe in ihrer Adaption durch die Synagoge, gegen die er sie im Römerbrief vor allem einsetzt, kennengelernt hat, läßt sich nicht sagen, zumal das eine das andere nicht ausschließt. Ohne synagogale Vermittlung dürfte jedenfalls ein Argumentationsschema der Diatribe auf Paulus gekommen sein, auf das wir schon zu Gal 3,26 — 28 und 1 Kor 19 — 22 aufmerksam wurden. 1 7 Dies Schema findet sich auch in Rom 3,9 b - 1 9 ; 8 , 3 1 - 3 9 ; 1 1 , 3 3 - 3 6 ; 1 Kor 3 , 2 1 - 2 3 ; 8 , 4 - 6 ; 1 2 , 4 - 1 1 ; Phil 4 , 1 1 - 1 3 und bei Epiktet z. B. Diss I 1 8 , 2 1 - 2 3 ; III 2 0 , 4 - 6 ; IV 3,1 — 3. Es schließt sich bei Paulus in den meisten Fällen nicht nur formal an den Stil, sondern auch inhaltlich an das Gedankengut der Diatribe an. Als Beispiel diene 1 Kor 3,21—23: ,Darum soll sich niemand der Menschen rühmen; denn alles gehört euch: Paulus und Apollos und Kephas, die Welt und Leben und Tod, Gegenwart und Zukunft. Alles gehört euch, ihr aber gehört Christus, Christus aber gehört Gott.'
Der Argumentationsgang ist in diesem Schema ringförmig (a b a) aufgebaut. Zuerst stellt der Lehrer eine These auf, den Basissatder in der Regel der Tradition entnommen wird. Dieser Basissatz wird sodann diskutiert, entfaltet, im Feuer von Einwänden erhärtet oder durch allgemeine Erfahrungen und anerkannte Sätze belegt, die Explikation, so daß er am Ende, nun aber begründet, abgesichert und als Totalitätsaussage gefaßt (,alles'; ,nichts'), wiederholt werden kann, das Resümee. Dabei begegnet in unserem Beispiel mit ττάντα μοί έξεστιν der stoische Gemeinplatz, daß der Weise über allen Dingen und Widerfahrnissen steht und in seiner inneren Freiheit erst recht über das Urteil anderer Menschen erhaben ist. Zugleich weisen Ausführung und christologische Verankerung der Argumentation in 1 Kor 3,21—23 (vgl. Rom 8,38 f.) auf die ganz unstoische Begründung und Füllung des Unabhängigkeitspathos hin: Die Freiheit von allen äußeren Dingen und Urteilen wurzelt nicht in einem autonomen Akt des von vernünftiger Einsicht geleiteten Willens, sondern in der Befreiung von solcher selbst-bewußten Verlorenheit des Menschen an sich selbst in seiner göttlichen Vernunft durch die bleibende, Freiheit je und je schenkende Bindung an den ,Herrn Christus'. 17
D e n Hinweis auf dies Schema verdanke ich einer unveröffentlichten Arbeit von Pfarrer Dieter Schart.
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Die genannten paulinischen Texte, die dem beschriebenen Schema folgen, sind, von Einzelzügen abgesehen, nicht durch das synagogale Lehrhaus geprägt, sondern, auch wo sie synagogale Motive aufnehmen, original christlich. An inhaltlichen Gedanken der Diatribe begegnen der Freiheitsbegriff (1 Kor 9,19 — 22) und dementsprechend das Motiv der Überlegenheit des Weisen über alle Widerfahrnisse und menschlichen Urteile (1 Kor 3,21—23), das Gleichheitsprinzip (Gal 3,26 — 28; vgl. Rom 3,9 b —19) und die verwandte Organismusvorstellung (1 Kor 12,4—11) sowie der Gedanke der autarken Genügsamkeit (Phil 4,11 — 13). Auch 1 Kor 8,4 — 6 und 11,33 — 36 berühren sich, wenn auch in jüdisch-christlicher Metamorphose, mit dem Motiv der einen alles durchwaltenden und weise gestaltenden Gottheit. Alle genannten Texte sind zwar mit Ausnahme des Lehrtextes Rom 8,31—39 brieflich eingebunden und insofern situationsbezogen, zugleich aber handelt es sich in allen Fällen um geprägtes Lehrgut. Es dürfte aus einem urchristlichen Lehr- und Schulbetrieb stammen, in dem mit Bedacht weitverbreitete Gedanken der Diatribe für die christliche Mission und den Gemeindeaufbau ,aufbereitet' wurden. Dies kann nicht ohne genaue Kenntnis von Gedankenwelt und Stil der Popularphilosophie und ihrer Wirkung und Wirkungsweise geschehen sein. Wie weit Paulus aktiv, wie weit rezeptiv an solcher Schularbeit beteiligt war, läßt sich schwer abschätzen. Unzweifelhaft benutzt aber auch er das beschriebene Material nicht unreflektiert hinsichtlich seiner ,religionsgeschichtlichen' Herkunft, wie sich aus der Analyse von Rom 12,1—2 ergab. Es bedarf zu diesem Urteil nicht des Hinweises auf die oft zitierte Äußerung, mit der Strabon (XIV 673) Tarsus, nach Apg 22,3 die Heimatstadt des Paulus, charakterisiert: „Der Eifer, den die Menschen in Tarsus auf die Philosophie und die allgemeine Bildung verwenden, ist so groß, daß sogar Athen und Alexandria übertroffen werden." Auch ohne problematische Rückschlüsse aus dieser Notiz steht außer Frage, daß einem so gebildeten, weitgereisten, religiös interessierten und missionarisch aktiven Hellenisten wie Paulus Herkunft und Sinn der von ihm reichlich benutzten Gedanken und Stilformen der Popularphilosophie nicht unbekannt geblieben sein können. Er konkurriert als Heidenmissionar mit den kynisch-stoischen Wanderlehrern, und angesichts dieser Konkurrenz greift er die Uberlieferungen der Diatribe überlegt auf und setzt sie hermeneutisch reflektiert um und ein. Man wird deshalb auch im Blick auf Paulus und im Blick auf die von ihm aufgenommene und fortentwickelte christliche Schultradition in der Tat urteilen müssen, daß neben der hellenistischen Synagoge „die popularphilosophische Propaganda in weiten Kreisen eine geistige Atmosphäre geschaffen hat, die zur Erklärung der raschen Fortschritte des Christentums
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und seines Verhältnisses zur Philosophie berücksichtigt sein will". 18 Die Gründe, die zum schließlichen Sieg des Christentums über den intellektualistischen Stoizismus führten, kann man dabei aus den markanten Tendenzen entnehmen, mit denen Paulus selbst und schon die von ihm übernommenen Traditionen das popularphilosophische Gedankengut in kritischen Widerspruch interpretiert und umgestaltet.
II Ein unter unserer Fragestellung besonders aufschlußreicher Text findet sich in Rom 7,18 — 20: , . . . in mir wohnt nichts Gutes. Ich will das Gute zwar, aber ich vollbringe es nicht. Nicht das Gute, das ich will, bewirke ich, sondern das Böse, das ich nicht will, das wirke ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann vollbringe nicht mehr ich selbst mein Tun, sondern die Sünde, die in mir wohnt.'
Dieser Abschnitt leitet einen lehrhaften Traktat ein, der zuerst von der Sünde (7,18 — 25), dann von der Erlösung (8,1 — 11) und dem neuen Gehorsam (8,12—17) und schließlich von der eschatologischen Vollendung (8,18 — 30) handelt und mit einer doxologisch gestalteten Klimax schließt (8,31—39). Paulus hat diesen Traktat, der in seinem Kern einer frühen Phase seiner Theologiebildung angehört, in sein Lehrschreiben an die ihm unbekannten Christen Roms eingestellt. Die Form dieses Traktats läßt sich am besten mit Wendland beschreiben, der den „neuen Typus des populären Traktates, der sich trotz aller Abhängigkeit von der älteren Entwicklung stilistisch scharf von der alten Diatribe scheidet", folgendermaßen charakterisiert: „Übersichtliche Disposition, systematische Ordnung der Gedanken, breite und doktrinäre Darlegung, gerundeter Periodenbau . . . , Zurücktreten des dialogischen Elementes .. ." 19 Mit Hilfe einer Personifizierung der Sündenmacht beschreibt Paulus das Sein in der Sünde als Entfremdung des Menschen von sich selbst. Der sündige Mensch verfehlt sich als solcher total. Auch der Sünder bleibt (ontologisch) Mensch. Unter ontischem Aspekt aber verliert er in Wahrheit sich selbst bzw. sein wahres Selbst. Insofern muß man von einem unbewußten Zwiespalt im ,Ich' sprechen, wenn der Mensch der Sünde verfällt: Er greift, weiterhin ein wollendes Ich, nach dem Guten, dem Leben, aber er ergreift, ohne es zu wissen, den Tod. Der 18 19
P. Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur, 1907, 53. vgl. 118 f. Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur, 43
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Mensch will das Leben, aber er realisiert es nie. „Denn das andere Ich, das an sich dasselbe ist, aber in der Hand der Sünde, besorgt sich mit dem Bösen, das es tut, den Tod. Dieses Ich ist der geschichtliche Mensch, das Geschöpf, wie es im geschichtlichen Menschen seit Adam und von Adam her vor-kommt. Dieser bestreitet in seinem Tun und nicht wissend, was er tut — nämlich sich den Tod heimbringend — seine Geschöpflichkeit und desavouiert als der geschichtliche Mensch (in der Hand der Sündenmacht) seinen geschöpflichen Willen zum Leben. Man kann kurz sagen: Ich will das Leben, ich will nicht den Tod. Der das Leben will, ist der Mensch als Geschöpf; der sich den Tod verschafft, ist der geschichtliche Mensch, wie er in der Hand der Sünde vorkommt." 20 , Sünde' ist in Rom 7,18 — 20 also eine transmoralische Kategorie; auch der ,Sünder' will das Gute. Nun hat man freilich oft gemeint, der Apostel wolle sagen, daß der Mensch zwar beabsichtige, das moralisch Gute zu tun, daß es ihm aber nicht gelinge, diese Absicht in die Wirklichkeit umzusetzen. Der Mensch sei zu schwach, seinen guten Willen zu verwirklichen, und er werde deshalb trotz bester Absicht zuletzt doch immer wieder schuldig. Dann schilderte Paulus einen psychologischen Konflikt, den jeder Mensch kennt. Schon Plato hatte in diesem Sinn von zwei widerstreitenden Hälften der Seele gesprochen und beide Hälften mit Rossen verglichen, die in entgegengesetzte Richtungen streben (Phaedrus, 246 Äff.), und Xenophon ließ Araspes sagen, ,er müsse ohne Frage zwei Seelen haben; denn eine Seele könne nicht böse und gut sein und zugleich etwas wollen und nicht wollen' (Cyropaedie, VI 1,41). Bei Ovid liest man: ,Video meliora proboque, deteriora sequor' (Metam VII 19f.). 21 Dieses Verständnis, das mit dem späten Augustin auch Luther vertreten hat, wurde von der neueren Forschung mit Recht aufgegeben. Das von Paulus wirklich Gemeinte läßt sich wiederum mit Hilfe von Epiktet erhellen. Von dem im stoischen Sinn von sich entfremdeten Menschen schreibt Epiktet (Diss II 26,4): ,ö θέλει où ποιεί και ö μή θέλει ττοιεί'. Diese Parallele zu Rom 7,18 — 20 ist nicht nur formal auffallend, sondern auch sachlich erhellend. Nach Meinung der Stoa will der Mensch im Grunde nur das, was ihm gemäß und nützlich ist, und was dies ist, sagt ihm die Vernunft. Jede ,Sünde' enthält deshalb einen menschlichen Selbstwiderspruch: ,παν άμάρτημα μάχην περιέχει' (Diss II 26,1). Wenn der Mensch fehlt, so nicht, weil er dies will, sondern aus Irrtum. Er weicht von seiner vernunftgemäßen Einsicht ab und muß zur Vernunft gebracht werden. Dann wird er auch tun, was er will und allein wollen kann: 20 21
H. Schlier, Der Römerbrief, 1977, 232 Weitere Stellen bei H. Hommel, Das 7. Kapitel des Römerbriefs Theologia Viatorum 8, 1961/62, 90 ff.
im Licht antiker
Überlieferung,
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, J e d e S ü n d e enthält in sich einen W i d e r s p r u c h . D e n n weil d e r S ü n d e r nicht s ü n d i g e n , s o n d e r n richtig h a n d e l n will, s o ist o f f e n k u n d i g , d a ß er nicht tut, w a s er will. D e n n w a s will der D i e b tun? D a s , w a s ihm nützlich ist! Falls i h m d a s Stehlen nicht nützlich ist, tut er f o l g l i c h nicht d a s , w a s er will. J e d e v e r n ü n f t i g e Seele aber w e n d e t sich v o n N a t u r g e g e n d e n W i d e r s p r u c h . Z w a r hindert sie nichts, das W i d e r s p r ü c h l i c h e zu tun, s o l a n g e sie nicht b e g r e i f t , daß sie i m W i d e r s p r u c h lebt. Wenn sie es aber b e g r i f f e n hat, wird sie mit z w i n g e n d e r N o t w e n d i g k e i t d e m W i d e r s p r u c h a b s a g e n u n d ihn fliehen; s o w i e der, welcher erfahren hat, w a s eine T ä u s c h u n g ist, aus harter N o t w e n d i g k e i t der T ä u s c h u n g a b s a g t , w ä h r e n d er ihr als der Wahrheit z u s t i m m t , s o l a n g e sie sich nicht enthüllt.' ( D i s s II 26,1 ff.).
Epiktet fallt so wenig wie Paulus ein moralisches Urteil über den Menschen. Der Mensch ist sich ja seines Irrtums gar nicht bewußt. Er versteht sich selber nicht; er hat sich nicht in seiner Hand und weiß dies nicht einmal. Er lebt in einem objektiven Widerspruch, den er subjektiv nicht empfindet. Die begriffliche Nähe von Paulus und Epiktet liegt am Tage, und Paulus dürfte mit Bedacht seine Gedanken mit Hilfe der Denkweise der Popularphilosophie ausdrücken. Den in beiden Fällen zugrundeliegenden anthropologischen Sachverhalt hat Hans Jonas folgendermaßen beschrieben: „ S o gefaßt ist der Wille nicht irgendein psychischer Einzelakt unter anderen, klassifizierbar unter Wünschen, Begehren, Streben, Trieb usw.; auch nicht so etwas wie ausdrücklicher Entschluß oder dergleichen; überhaupt nichts, was auftreten und wieder verschwinden, manchmal dasein und manchmal fehlen kann: sondern er ist apriori immer da, trägt alle Einzelakte . . . Der ,Wille' ist also nichts anderes als die Grundweise des Seins des Daseins überhaupt, und das Wort bezeichnet nur den existentialen Strukturverhalt, daß das Sein des Daseins so ist, daß es ihm in seinem Sein jeweils um etwas geht und hierin wieder letztlich um sich selbst als um das eigentlich zu betreibende seines eigenen Seins." 2 2 Paulus bezeichnet das vom Willen Gewollte in Rom 7,18 f. mit dem in Rom 7,12 f. 16 bereits eingeführten und in Rom 7,21 noch beibehaltenen, für die griechische Philosophie seit Sokrates zentralen Begriffspaar καλός und άλαθός, und zwar im gleichfalls traditionellen Gegenüber zum K C X K Ô Ç . Das höchste, mit dem Göttlichen in eins gesetzte Gut (αγαθός), wie immer es in den verschiedenen Ausprägungen des griechischen Daseinsideals im einzelnen aufgefaßt wurde, tritt im Guten (καλός) in Erscheinung. Die καλοκαγαθία ist als summum bonum das, wonach jeder Mensch von
22
H. Jonas, Philosophische Meditation über Paulus Römerbrief, Kapitel 7, in: E. Dinkier (Hg.), Zeit und Geschichte (FS Bultmann), 1964, 557 ff., hier 561
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Natur strebt, und der Weise, der freie und zu sich selbst gekommene Mensch, ist der καλός καγαθός, der bonus et optimus (Apul Met 8,9). Paulus versteht die Entfremdung des Menschen allerdings tiefer als Epiktet. D e r an die Sünde verkaufte Mensch kann nicht durch eine vernünftige Aufklärung über sein angeblich bloß törichtes Verhalten zu sich selbst zurückgeführt werden. Aufklärung über sich selbst genügt dem Menschen, der im Widerspruch zu sich selbst lebt, nicht. D e r Sünder bedarf der Erlösung von sich selbst als Sünder; denn sein Wille liegt gefangen, nicht seine Vernunft. E r kann das G u t e nicht tun. Denn nach der durchgehenden Überzeugung des Paulus trachtet der Mensch, der nach dem Leben als dem eigentlich zu Betreibenden seines Daseins strebt, als Sünder danach, dies Leben aus sich selbst zu gewinnen, so daß er, indem er nach dem Leben greift, das Leben verliert; denn Leben kann nur von Gott her erwartet werden, der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ins Sein ruft ( R o m 4,17). Wer in Wahrheit leben will, muß sich deshalb an Gottes G n a d e genügen lassen (2 K o r 12,9). Von anderswoher leben wollen heißt, die Sünde in sich wohnen zu lassen, und das Vertrauen auf die prinzipielle Vernünftigkeit alles Seienden ist ein spezifischer Ausdruck der Sünde. In einem so reflektierten und stilisierten Lehrtext wie dem vorliegenden Traktat erfolgt die zentrale A n k n ü p f u n g an eine fundamentale Terminologie der zeitgenössischen Popularphilosophie nicht zufallig oder beiläufig, sondern mit größter hermeneutischer Bedachtsamkeit. Paulus will mit seiner Botschaft zur Geltung bringen, was seine Zeitgenossen in den edelsten Gestaltungen ihres religiös aufgefaßten Denkens den Mitmenschen nahebringen, das ,Gute und Wahre', wobei für ihn der wirkliche καλός και αγαθός der aus diesem dem Tode verfallenen Dasein Erlöste ist, der das ,Gott sei D a n k durch J e s u s Christus, unsern Herrn' ( R o m 7,24 f.) ausruft. D a auch für Epiktet der Weise, der den Widerspruch der Sünde überwindet, sich in innerer Freiheit ganz dem Willen der Gottheit einordnet und so das höchste G u t gewinnt, ó καλός και άγαθός ist (Diss I 12,7; II 10,5: 14,10; III 3,1 f.; 24,18.50.95.100 usw.), braucht man nicht damit zu rechnen, daß Paulus mit der klassischen Philosophie des Griechentums vertraut war. Die Grundgedanken und Grundbegriff der Popularphilosophie seiner Zeit waren ihm dagegen geläufig.
III Beobachteten wir bei den bisher analysierten Texten die — nie ausdrücklich reflektierte — Übernahme popularphilosophischer Begriffe und
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Paulus und die griechische Philosophie
Stilformen in das theologische Gedankengut des Paulus, so setzt sich Paulus in jenem Abschnitt des Ersten Korintherbriefes, den Martin Heidegger den Theologen zur besonderen Beachtung empfiehlt, ausdrücklich und zugleich kritisch mit der philosophischen Weltanschauung
seiner
hellenistischen Zeitgenossen auseinander. ,(18) Das Wort des Kreuzes gilt den Verlorenen als Torheit, den Geretteten — uns — als Kraft Gottes. (19) Denn es steht geschrieben (Jes 29,14): Ich will vernichten die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen. (20) Wo ist ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Disputant dieses Äons? Hat nicht Gott die Weisheit des Kosmos zur Torheit gemacht? (21) Denn weil der Kosmos in der Weisheit Gottes durch die Weisheit Gott nicht erkannte, hat es Gott gefallen, durch die Torheit der Verkündigung die Glaubenden zu retten. (22) Während nämlich Juden nach Zeichen streben und Griechen nach Weisheit trachten, (23) verkündigen wir den gekreuzigten Christus, Juden ein Ärgernis und Heiden eine Torheit, (24) den Berufenen aber, Juden und Griechen, (verkündigen wir) Christus als Gottes Kraft und Weisheit. (25) Denn die Torheit Gottes ist weiser als die Menschen, und die Schwachheit Gottes ist stärker als die Menschen.' (1 K o r 1 , 1 8 - 2 5 ) Bei diesem Abschnitt haben wir es nicht mit einem brieflichen Text zu tun, sondern mit einem traditionellen Lehr- und Schultext, den Paulus in seinen Brief nach Korinth einstellt. Unmittelbar brieflich ist nur das störende, von manchen Handschriften ausgelassene ,uns' in V. 18; das ,Wir' in V. 23 ist nicht das ,Wir' der Gemeinde, sondern ihrer Lehrer, während von der Gemeinde in 3. Person (die Geretteten; die Glaubenden; die Berufenen) gesprochen wird. Der Übergang von V. 10 — 17 zu V. 18 — 25 ist nicht durchsichtig: Welcher Gedanke verbindet die Kritik an der Spaltung der Gemeinde in einzelne Parteien mit dem Thema .griechische Weisheit — Torheit des Kreuzes'? Erst in 2,1 ff. wird langsam sichtbar, daß eine der in 1,10 ff. genannten korinthischen Parteien Paulus mangelnde Weisheitslehre vorgeworfen hat, wobei Paulus von 2,6 an in deutlichem Widerspruch zu 1,18 ff. seine Fähigkeit zu solcher Weisheitsrede ausdrücklich behauptet und seinen Verzicht auf sie gänzlich anders als in 1,18 ff. begründet. 1 K o r 1,18 — 25 enthält also eine die briefliche Auseinanderset-
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zung in grundsätzlicher Weise vorbereitende Aussage, und nur von diesem schulmäßigen Lehrstück wird der Begriff σοφία in die briefliche Diskussion eingeführt; denn der in Korinth gebrauchte entsprechende Begriff lautet nach Ausweis von 1 Kor 8,1.10 f.; 13,2 usw. nicht σοφία, sondern γνώσις. Vor allem die Beobachtung, daß Paulus sich in 1 Kor 1,18 — 25 nicht mit der orientalischen Gnosis in Korinth, sondern mit der hellenistischen Philosophie auseinandersetzt, weist diesen Abschnitt als eine vorgegebene Uberlieferung aus. Das gewöhnliche Mißverständnis, man müsse diese Passage unmittelbar aus der brieflichen Situation verstehen, verschließt den Auslegern wesentliche Aspekte der paulinischen Aussage. Der tatsächlich vorliegende Lehrtext stammt offensichtlich aus dem paulinischen Schulbetrieb; denn erst Paulus selbst entfaltet auf dem Grunde der traditionellen frühchristlichen Rede vom Dahingegeben-Werden, Sterben, Tod, Blut usw. Jesu eine spezifische Theologie des Kreutles, den λόγος τ ο υ σταυρού. Dieser Lehrtext, der natürlich schulmäßig erläutert wurde, legt den Unterschied zwischen dem christlichen Kerygma und der griechischen Weisheit dar, und zwar zur Vergewisserung der Gemeinde und insofern auch als Einweisung in das apologetische oder missionarische Gespräch mit den bzw. über die popularphilosophischen Kontrahenten und Konkurrenten der heidenchristlichen Lehrer. V. 18 enthält die grundlegende These, V. 19 ein alttestamentliches Schriftzitat zur Begründung der These, die im folgenden im Gegenüber zur griechischen Philosophie entfaltet und gegen Ende des Lehrstücks wiederholt und mit der paradoxen Sentenz in V. 25 unterstrichen wird. Ein interessantes exegetisches Randproblem bildet die Frage, warum Paulus überhaupt und warum er in der vorliegenden Weise die Juden in die Betrachtung einbezieht, obschon der Abschnitt deutlich auf den Gegensatz von philosophischer Weisheit und göttlicher Torheit hin konzipiert wurde. Der γραμματεύς in V. 20 ist freilich nicht der jüdische Schriftgelehrte, den Paulus auch in V. 22 f. nicht den ,Weltweisen' zuordnet, sondern ein hellenistischer Gelehrter. Γραμματεύς bezeichnet in der Kaiserzeit nicht mehr nur den Schreiber, sondern hochgestellte Personen in mannigfacher Funktion, darunter auch schriftgelehrte Kultbeamte. 23 . In V. 22 — 24 stehen aber die Juden deutlich neben den Griechen bzw. Heiden; ,Ärgernis' und ,Torheit' in V. 23 entsprechen sich durchaus. Dabei geht es Paulus offensichtlich nicht nur darum, die Universalität der christlichen Gemeinde sichtbar zu machen, die dem zu Gal 3,26 ff. beobachteten Kosmopolitismus der Popularphilosophen entspricht. Indem das christli23
Vgl. RAC VII 2, 1747 ff.; Apul Met 11,17; Lukian, de sacer 14 (neben .Sophist' und .Prophet'); C. Clemen, Der Isiskult und das NT, in: FS Heinrici, 1914, 35 f.
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che Kerygma in gleicher Distanz zum Judentum wie zum Griechentum erscheint, beugt das Lehrstück bei den apostrophierten Griechen zugleich dem ihnen naheliegenden Mißverständnis vor, das Christentum sei eine Spielart des Judentums. Demzufolge begegnet das Judentum in V. 22 auch in einer heidnischen Optik und mit einer bei Paulus, der sonst, wie auch ,Ärgernis' in V. 24 signalisiert (vgl. Gal 5,11), das Judentum von der Tora und dem Ruhm auf die Erwählung aus definiert, singulären Charakteristik. Zu dieser singulären Aussage, daß die Juden σημεία αίτοΟσιν, verweisen die Kommentare in der Regel freilich auf Mk 8,11 ff. par, die .Zeichenforderung der Pharisäer'. Aber abgesehen davon, daß eine derartige Bezugnahme auf synoptisches Erzählgut bei Paulus singulär wäre und natürlich in heidnischer Optik ganz ausgeschlossen ist, darf das σημεία αίτοΟσιν der Juden nur in Analogie zu dem σοφίαν ζητούσιν der Griechen verstanden werden. Es kann darum nicht auf die Beglaubigung einer Botschaft zielen, sondern muß die Botschaft selbst beschreiben, entsprechend dem, daß die Griechen Weisheit verkündigen-, der Philosophie der Griechen entspricht die Thaumaturgie der Juden. Bei letzterer dürfte an die in der Kaiserzeit massiv nach Westen vordringende ,Magie' zu denken sein, deren orientalische Vertreter meist als ,Chaldäer' bezeichnet werden. Der umfassende Einfluß des Judentums und der Septuaginta bis weit in den heidnischen Zauber hinein ist hinreichend belegt. 24 Jedenfalls ist die Bezugnahme auf die Juden in V. 22 — 23 nur ein Nebenmotiv, das den Gegensatz zwischen der griechischen Weisheit und der Torheit des Kreuzes unmißverständlich herausheben soll. Mit der Formulierung "Ελληνες σοφίαν ζητούσιν (V. 22) trifft Paulus, der sich dabei direkt an der Popularphilosophie seiner Zeit orientieren dürfte, in ebenso knapper wie prägnanter Weise das Zentrum des griechischen Denkens überhaupt. O b er dabei im eher sokratischen Sinne an das Streben nach Weisheit, eben an die Philo-Sophia, oder an die dem Weisen vollkommen erreichbare Weisheit selbst denkt, die der Diatribe seiner Zeitgenossen vor Augen steht und die auch Paulus vor Augen haben dürfte, kann angesichts der für Paulus feststehenden Unmöglichkeit, mit der Weisheit überhaupt Gott zu erkennen, dahingestellt bleiben. Jedenfalls handelt es sich bei der σοφία um den theoretischen und praktischen Zugang zum Ganzen des Kosmos, der dem seine Vernunft recht gebrauchenden Menschen möglich ist, um den Zugang zum σύστημα τ ό έξ άνθρώττων
24
Α. Dieterich, Abraxas, 1891; L. Blau, Das altjüdische Zauberwesen, 1898; A. Deissmann, Bibelstudien, 1895, 23 ff.; Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur, 108; F. Cumont, Die orientalischen Religionen im römischen Reich, 1930, 59.173
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και θεού (Epiktet Diss I 9,4) bzw. zur επιστήμη Θείων τε και ανθρωπίνων πραγμάτων. 2 5 Mit ,Griechen trachten nach Weisheit' faßt Paulus in V. 22 zusammen, was er in V. 21 a unter kritischem Vorzeichen näher ausgeführt hatte. Subjekt der Erkenntnis ist V. 21 a zufolge ò κόσμος. Die Wahl dieses wichtigen philosophischen Begriffs trifft Paulus nicht zufallig. Einer berühmten Stelle bei Plato (Gorg 507 e —508 a) zufolge wird das Ganze des Seienden von den σοφοί als κόσμος (eigentlich = , Schmuck') bezeichnet, weil in der Gemeinschaft des Kosmos „Himmel und Erde und Götter und Menschen und Freundschaft und Harmonie und Besonnenheit und Gerechtigkeit" zusammengehalten werden, so daß in der vernünftigen Anschauung des Kosmos das göttlich Wahre erkannt und dem Menschen wahrheitsgemäße Orientieruag, Einbindung in die Harmonie des Kosmos und seine Ausbildung zum καλός κ αγαθός ermöglicht wird. Der göttliche λόγος bzw. νοϋς, der den Kosmos durchwaltet und ihm seine harmonische Form gibt, so daß er auch ,Gott' oder .göttlich' heißen kann, regiert zugleich das erkennende Subjekt, das selbst göttlicher Natur ist, so daß dem Begriff ,Kosmos' bei den Griechen der seit Demokrit nachweisbare Grundsatz entspricht, daß Gleiches (nur) durch Gleiches erkannt wird. Durch V. 20 (συζητής του αιώνος τούτου und έμώρανεν ó θεός την σοφίαν του κόσμου) rückt Paulus freilich von vornherein diesen griechisch aufgefaßten κόσμος unter das negative Vorzeichen des ουκ εγνω. Im übrigen aber ist die Aussage, daß ό κόσμος ,den Gott' διά της σοφίας (nicht) erkannte, im Rahmen des griechischen Kosmosbegriffs zu verstehen. Paulus wählt dabei den Begriff σοφία nicht nur als Gegenbegriff zur μωρία des Kreuzes, sondern auch, weil er mit σοφία den unverständigen Kosmos als den Kosmos der griechischen Philo-Sophia charakterisieren kann. Er hätte sonst ebensowohl von λόγος oder νους oder auch πνεύμα (vgl. 1 Kor 2,11 ff.) sprechen können. Der Gedanke des Paulus ist im wesentlichen deutlich. Paulus bestreitet, daß es der griechischen Philosophie gelungen sei, mit dem ihr zur Verfügung stehenden Mittel der vernunftgemäßen Weltanschauung zur Erkenntnis des Göttlichen und damit in die eigene Wahrheit zu gelangen. Schwierigkeiten bereitet dem Verständnis und umstritten ist das έν τ η σοφία του θεοϋ. 26 Man verweist zur Erhellung dieser Wendung in der Regel auf Rom 1,19 ff., wo Paulus eine synagogale Gerichtspredigt über die Heiden zitiert, die schuldhaft versäumt haben, Gottes Majestät aus den Werken der Schöpfung zu erkennen. Indessen ist dieser Gedanke an V. 21 a begrifflich und sachlich 25 26
Epiktet, Stoicorum veterum fragmenta, ed. Arnim, II, 1924, Nr. 35 Vgl. A. J. Μ. IVedderburn, V f j σο ία où où - 1 Kor 1,21, ZNW 64, 1973, 132ff.
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herangetragen, und außerdem muß man mit V. 21 a insgesamt auch das έν τ η σοφία του κόσμου primär im Rahmen des philosophischen Denkens der Griechen selbst verstehen, nicht aber von der natürlichen Theologie der Synagoge aus, die in dem vorliegenden Lehrstück nirgendwo in den Blick tritt, weshalb auch die jüdisch-hellenistische Weisheitsspekulation, die nicht selten zur Interpretation von V. 21 a herangezogen wird, außer Betracht bleiben muß. Im Rahmen des griechischen Denkens aber gibt das έν τ η σοφία του κόσμου zusammen mit dem διά της σοφίας in höchst reflektierter Weise wieder, was den Erkenntnisprozeß der griechischen Philosophie überhaupt bestimmt: Der Kosmos erkennt das Göttliche kraft des ihm selbst innewohnenden göttlichen Logos. In der Weisheit Gottes gegründet, erfaßt der Weise durch seine Weisheit das Wesen des Seienden und seinen Ort in der kosmischen Einheit von Göttlichem und Menschlichem. Paulus beschreibt also in V. 21 a prägnant die Autonomie des Weisen, der von der Identität seines Logos mit dem Weltlogos ausgeht und die göttliche Weltordnung in sich, sich aber in der göttlichen Weltordnung wiederfindet, Gleiches durch Gleiches erkennend, und er stellt diesen Erkenntnisweg zugleich unter das Verdikt des ουκ εγνω θεόν. Demgemäß tritt den in solcher Weise nicht nur begrifflich, sondern auch sachlich zusammengehörenden Wendungen έν τ η σοφία του θεού und διά της σοφίας aus V. 21 a in V. 21 b die entsprechende Doppelwendung διά της μωρίας του κηρύγματος entgegen: Die ,Torheit' steht gegen die ,Weisheit', und das κήρυγμα als von außen kommende Botschaft stellt sich gegen das έν τ η σοφία τ ο ΰ Θεοϋ, wie denn auch in V. 21 b nicht mehr der Kosmos, sondern Gott das Subjekt des Heilsgeschehens ist und ,erkennen' dementsprechend durch ,retten' ersetzt wird. Es läßt sich aus 1 K o r 1,18 — 25 nicht eindeutig entnehmen, ob Paulus schon die Überzeugung des griechischen Weisen, ,in der Weisheit Gottes' zu sein und deshalb Gott erkennen zu können, für Torheit hält, oder ob er den griechischen Erkenntnisweg prinzipiell für gangbar ansieht und nur das faktische Scheitern dieses Weges konstatieren will. Sein Interesse in 1 K o r 1,18—25 liegt ohne Zweifel auf dem Faktum des Mißlingens aller Versuche, Gott in und mit der Weisheit zu erkennen, nicht auf einer ontologischen Reflexion. Indessen spricht Paulus in V. 21 wie in V. 24 von der ,Weisheit Gottes' schwerlich außerhalb seines eigenen Gottesbegriffs, so daß es der Gott des jüdisch-christlichen Bekenntnisses ist, der den Griechen die Weisheit zu seiner Erkenntnis gegeben hat. Man muß aber auch beachten, daß die paulinische Analyse und Kritik der hellenistischen Gotteserkenntnis in einer unverkennbaren Parallele zu der entsprechenden Analyse und Kritik des jüdischen Heilsverständnisses
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steht, woraus sich zunächst erkennen läßt, daß Paulus hinsichtlich der Grundbefindlichkeit des Menschen keinen Unterschied 2wischen Juden und Griechen macht.27 Was für den Griechen die σοφία, ist für den Juden der νόμος, die Tora des Mose. Im Blick auf diesen Sachverhalt parallelisiert Paulus in V. 23 das ,Ärgernis', das die gesetzesstolzen Juden an der Verkündigung des Kreuzes nehmen, mit der Torheit, als welche den weisen Griechen diese Verkündigung erscheint. Das καταργεΐν und das μη καυχάσθαι, in 1 Kor 1,28 f. im Blick auf die σοφία herausgestellt, begegnet bei Paulus sonst in seiner Polemik gegen das Gesetz. „So nimmt es denn auch nicht Wunder, wenn die Außerkraftsetzung der σοφία genau so wie die Abschaffung des νόμος als des Heilsweges ein nicht die Griechen bzw. die Juden allein betreffendes, sondern ein den Menschen angehendes Heilsereignis ist." 28 Es war die Intention des von Gott dem Volk Israel gegebenen νόμος, den Menschen in die ζωή zu führen bzw. ihn im Leben zu bewahren (Rom 7,10). Diese Intention wurde aber faktisch wegen des Unvermögens bzw. durch die Schuld des Menschen nicht verwirklicht (Rom 7,14.22 f.; 8,3 f.). Da solches Scheitern des Juden am Gesetz dem Scheitern des Griechen an der Weisheit entspricht, muß man auch deshalb annehmen, daß Paulus in Analogie dazu die hellenistische σοφία gleichfalls für eine den Griechen von dem einen Gott gegebenen Weg zum Leben ansieht, der jüdischen Ansicht entsprechend, daß die Griechen ,natürlich' Gott aus der Schöpfung erkennen können und daß ihnen auch das moralische Gesetz ,ins Herz geschrieben' ist (Rom 2,15). Paulus sieht also bei den Juden und Griechen in prinzipiell gleicher Weise die Möglichkeit des Lebens eröffnet und zugleich von beiden radikal verscherzt, so daß beiden auch die Verkündigung des gekreuzigten Christus als ,Torheit' bzw. als ,Ärgernis' begegnet (V. 23). Demgemäß bildet Rom 8,3 eine recht genaue, auf die Juden bezogene Parallele zu dem Urteil über die Griechen und zu der Proklamation des Heilshandelns Gottes in V. 21: ,Was dem Gesetz unmöglich war, weil es wegen des Fleisches schwach ist, (bewirkte) Gott, indem er seinen Sohn in die Gestalt des Fleisches sandte . . . ' . Dem ,Gesetz' entspricht in V. 21 die ,Weisheit'; der Unfähigkeit des Fleisches entspricht die der σοφία, Gott zu erkennen; Gottes Handeln wird in V. 21 wie in Rom 8,3 gleicherweise dem menschlichen Scheitern entgegengestellt; der Sendung in das .Fleisch' entspricht in V. 21 die (Verkündigung der) Torheit des Kreuzes. Paulus stellt νόμος und σοφία bzw. Juden und Griechen also sehr reflektiert in eine Parallele, und diese Tatsache setzt einen reflektierten Umgang nicht 27 28
Vgl. L. Schottroff, Der Glaubende und die feindliche Welt, 1970, 198. H. Braun, Exegetische Randglossen 1. Kortntherbrief ThViat 1, 1948/49, 26 ff.
P a u l u s u n d die griechische P h i l o s o p h i e
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nur mit seinem jüdischen Erbe, sondern auch mit der griechischen Popularphilosophie seiner Zeit voraus. Das verbreitete Urteil, es sei seinen Briefen nicht zu entnehmen, daß Paulus „in einer der griech(ischen) Schulphilosophien gebildet gewesen sei" 2 9 , beruht, auf 1 K o r 1,18 ff. bezogen, auf dem Mißverständnis, dieser Abschnitt sei ein original brieflicher Text und empfange seine Konturen unmittelbar vom Gegenüber des Paulus, von den ,Weisheitslehrern' in Korinth. Ein solches Urteil ist nicht haltbar, auch wenn man über den Grad der philosophischen ,Bildung' des Paulus streiten mag. Paulus weiß, wovon er redet, wenn er sich gegen die philosophische Weltanschauung der Griechen wendet; er zeigt sich mit der religiösen Position seiner popularphilosophischen Konkurrenten durchaus vertraut, und er bezieht die lehrhafte Auseinandersetzung mit ihrer Position in seinen theologischen Schulbetrieb ein. Diese Erkenntnis bestätigt die zuvor gewonnene Einsicht, daß Paulus ebenso bewußt und mit hermeneutischer Bedachtsamkeit auch an den Stil der Diatribe und an stoische Begrifflichkeit angeknüpft hat. Solche Anknüpfung mindert seinen Widerspruch gegen die Weisheit der Griechen nicht; wenn Paulus seine Gedanken in eine den Hörern vertraute Sprache kleidet, will er vielmehr seine Sache und damit zugleich den Widerspruch verständlich machen. Paulus respektiert das religiöse Interesse seiner jüdischen und griechischen Konkurrenten. Er weiß und sagt, daß es auch ihnen um die Erkenntnis Gottes und die Wahrheit des Menschen geht, aber den Juden ου κατ' έττίγνωσιν (Rom 10,2) und den Heiden où καθώς δει γνώναι (1 K o r 8,3). Paulus nimmt beider Fragen ernst, wenn er ihrem γνώναι θεόν das γνωσθήναι ύττ' αύτοϋ entgegenstellt (1 K o r 8,3), ίνα καθώς γέγραττται ò καυχώ μένος εν κυρίω καυχάσθω (1 K o r 1,31).
29
U . Wikkens,
T h W N T V I I 523, 4 8 f.
M A R T I N BAUER
animal metaphysicum Bemerkungen zu Schopenhauers Rehabilitation der Metaphysik Alle Menschen wollen leben, aber keiner weiß, weshalb er lebt. Arthur Schopenhauer I. Den lapidaren Satz ,Ich glaube an eine Metaphysik' hat Schopenhauer für „das notwendige Kredo aller Gerechten und Guten" 1 gehalten. Bemerkenswerterweise bringt die Glaubensformel nach seiner Interpretation aber kein — auch nur im weitesten Sinne — theistisches Bekenntnis zum Ausdruck, sondern lediglich die Überzeugung, daß „die Ordnung der Natur nicht die einzige und absolute Ordnung der Dinge" 2 ist. Mithin vertritt Schopenhauer, trotz und nach Kants Religionsphilosophie, die für seine philosophischen Zeitgenossen irritierende, wenn nicht häretische Auffassung, daß der pagane Glaube an eine der Natur gegenüber zweite Ordnung die notwendige und hinreichende Voraussetzung einer ethischen Reglementierung der menschlichen Handlungssphäre ist. Jenen alle Moralität begründenden Glauben, der sich gegen die Attribute personalistischer Gotteslehren gänzlich indifferent verhält, kennzeichnet Schopenhauer im Rückgriff auf einen Terminus Kants als den Standpunkt der „Metaphysik überhaupt". 3 Daraus folgt für seine Begriffe zunächst, daß die Metaphysik als solche durchaus nicht auf theistische Implikationen festgelegt ist. Der nicht-theistische Charakter der Metaphysik überhaupt erklärt sonach, warum ihr Standpunkt sowohl den sogenannten philosophischen Überzeugungslehren, wie den religiösen Glaubenslehren gemeinsam ist. Auch wenn sich die zwei Paradigmen, in denen jener 1
2 3
Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II Sämtliche Werke, Hrsg. Wolfgang Frhr. von Löhneysen, Darmstadt 2 1980, Bd. II, 227 (fortan zitiert unter der Sigle W W V mit anschließender Band- und Seitenangabe) Ebd. Ebd.
animal metaphysicum
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Standpunkt durch historisch überlieferte Lehrgestalten geltend gemacht wurde, hinsichtlich der Verfahren ihrer Bewahrheitung radikal unterscheiden, identifiziert Schopenhauer sie als die beiden einzig möglichen „Arten der Metaphysik". 4 Es ist demnach die Ansicht, daß die Natur für uns die diesseitige Erscheinungsform eines anderen Ordnungsgefüges sei, welche die Metaphysik überhaupt als ein Theoriegenus definiert, das nicht eo ipso Domäne der Philosophie ist. Vielmehr zerfallt es in Abhängigkeit von einer sei es religiösen, sei es philosophischen Sprachform, in die sich der metaphysische Urgedanke kleiden kann, in zwei heterogene Spezien. Dabei spricht die Philosophie von der gegenüber der Natur zweiten Ordnung ausschließlich im Medium begrifflicher Artikulationen, während allegorische Darstellungen und Verlautbarungen, die unbestimmt, jedoch anschauungsbezogen sind, das rhetorische Proprium der volksmetaphysischen Glaubenslehren ausmachen. Freilich darf die Religion „ihre allegorische Natur" nie eingestehen, behauptet sich demgegenüber „als sensu proprio wahr" 5 , weshalb sie nach Schopenhauers Urteil die Wahrheit im Gewand der Lüge vorträgt. 6 Über die bloß negative und bewußt vage Explikation, derzufolge die Metaphysik in ihrer Gattungsbestimmung als Metaphysik überhaupt eine Ordnung thematisiert, die nicht die Ordnung der Natur ist, geht Schopenhauer immer dann hinaus, wenn er sich ihrer philosophischen Spezies zuwendet. So legt er etwa in den Kollegmanuskripten, anläßlich einer einleitenden Erörterung des Wortes ,Metaphysik', den prospektiven Zuhörern seiner bekanntlich gescheiterten Berliner Vorlesungsinitiative die begriffsgeschichtlich erworbene Bedeutungsvielfalt des Namens zurecht, indem er vier Verwendungsweisen auflistet, die sich — neben der sozusagen buchhändlerischen im Corpus Aristotelicum — eingespielt haben. Metaphysik bezeichnet danach 1. „das was jenseits der Natur und des bloß Natürlichen, jenseits der Erfahrung liegt" 2. „die Erkenntnis desjenigen dessen Erscheinung die Natur ist, das sich in der Natur offenbart" 3. „die Erkenntnis des Kerns, dessen Hülle die Natur ist" 4. „die Erkenntniß dessen wozu sich die Erfahrung als bloßes Zeichen verhält". 7 4 5 6
7
W W V II, 213 W W V II, 216 Das gegenstrebige Verhältnis von Philosophie und Religion untersucht Alfred Schmidt, Die Wahrheit im Gewände der Lüge. Schopenhauers Religionsphilosophie, München/Zürich 1986, 24 — 56, siehe insbesondere 44 — 48. Arthur Schopenhauer, Metaphysik der Natur. Philosophische Vorlesungen, Teil II, Hrsg. Volker Spierling, München/Zürich 2 1987, 55
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Martin Bauer
Derjenige Sinn, in dem der dozierende Philosoph dann das Wort Metaphysik durch seine Studenten verstanden wissen möchte, wird durch die drei zuletzt aufgeführten Verwendungen wiedergegeben. Im Gegensatz zur ersten Verwendung, die den Begriff der Erkenntnis ausspart, offenkundig also eine Metaphysik bezeichnet, an die geglaubt werden kann, weil sie keine Wissensansprüche anmeldet, paraphrasieren sie jene Bedeutung des Wortes, die nach Schopenhauer im Einklang mit der Etymologie, wie seinem ursprünglichen Bezeichnungszweck steht, galt es doch die vierzehn Bücher des Aristoteles rücksichtlich ihres Gehalts angemessen zu überschreiben. Von diesem im Grunde unterminologischen Gebrauch setzt Schopenhauer eine erste begriffliche Bedeutung ab, wonach Metaphysik in Illustration durch das Modell aristotelischen Philosophierens von „dem Seienden als solchem" handelt und auszumachen sucht, „was sich von jedem Ding sofern es Ding ist, also vom Daseienden als solchen sagen läßt". 8 Er fügt hinzu, daß es zum Erwerb und zur Entwicklung dieses Prinzipienwissens „keiner weiteren Erfahrung" bedarf, lediglich „der Begriff des Seienden überhaupt" werde genommen und in „bloßen Begriffen" weiterbestimmt. 9 Sonach unterscheidet Schopenhauer noch eine zweite begriffliche Bedeutungsebene. Ihr gemäß wird der „Ausdruck Metaphysik und metaphysisch" gebraucht, „um das zu bezeichnen, was uns unabhängig von der Erfahrung und gänzlich apriori bekannt ist: in diesem Sinn fallt das Wort ,,metaphysisch' zusammen mit,transcendental' ", 10 Daß Schopenhauer anhand dieser weiteren Differenzierung der Kantischen Terminologie Rechnung tragen möchte, liegt zutage. So wird eigens vermerkt, Kant habe „die Erkenntniß des apriori Gewissen, mit dem Bewußtsein daß sie vor aller Erfahrung in uns liege: also die Erkenntniß unseres Wissens apriori als eines solchen", in signifikanter Abweichung von den Scholastikern transzendental genannt, während die Scholastik damit „das allerallgemeinste in unserer Erkenntniß" prädizierte, „eigentlich das was noch allgemeiner ist als die zehn Kategorien des Aristoteles, also eben das was allen Dingen als Dingen zukommt, folglich was den Stoff der Metaphysik hergiebt". 11 Schließlich führt Schopenhauer noch einen dritten, „andern Sinn" 12 des Begriffs an, der die Kantische Synonymie von metaphysisch und transzendental zurücknehmen, d. h. wieder mit der ursprünglichen Bedeutung von ,Metaphysik' konform gehen soll. Dazu sieht Schopenhauer sich veranlaßt, 8 9 10 11 12
Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd.,
56 58 58 f. 59
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weil er gefunden hatte, „daß unsre Erkenntniß von der Welt nicht durchaus beschränkt ist auf die bloße Erscheinung, sondern wir allerdings data haben zur Erkenntniß des inneren Wesens der Welt, desjenigen davon sie die Erscheinung ist". 1 3 Gemäß dieser dritten Fassung, die unzweifelhaft auf das Konzept der eigenen Willensmetaphysik gemünzt ist, bezeichnet Metaphysik die Lehre von der Erkenntnis des inneren Wesens der Welt, von einem „Ansich der Natur" 1 4 , das für uns, der Schopenhauerschen Prätention zufolge, zumindest in gewissen Erfahrungsdaten zugänglich sei. Solche Gegebenheiten aus der Erfahrung sieht das metaphysische Erkennen als Repräsentationen eines Jenseits der Erfahrung an, sie gelten ihm mithin als erfahrbare Zeichen des an sich Unerfahrbaren. Die Lehre, welche sich ihrer Interpretation annimmt, tauft Schopenhauer mit einem Anflug von Widerwillen auf den Namen „Metaphysik der Natur" 1 5 , was erlaubt, sie von der Metaphysik des Schönen und der Metaphysik der Sitten zu unterscheiden. Sein Vorbehalt gegen die Begriffsprägung entspringt dem Eindruck, daß der Ausdruck „Metaphysik der Natur" eigentlich „eine Tautologie" 1 6 beinhaltet, handelt die philosophische Metaphysik unter der nun vorliegenden Definiton doch per se vom Wesen der Natur. Schopenhauers Ausführungen zur Metaphysik als einer philosophischen Wissenschaft leuchten den Hintergrund aus, vor dem seine Darlegung über den Standpunkt der Metaphysik überhaupt zu verstehen ist. Einsichtig wird, daß die unumwundene Charakterisierung der Metaphysik als einer atheistischen Zweiweltenlehre nicht primär an antiken Vorbildern orientiert war, sondern auf Kants gnoseologische Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung Bezug nimmt. Von daher ist die Einteilung der Metaphysik überhaupt in philosophische und religiöse Metaphysiken ihrerseits philosophischer Provenienz. Sie beruht auf Schopenhauers Vorstellung, daß der Glaube an ein Jenseits der Natur letztlich aus einer Erfahrung datiert, die der Mensch in seinem Umgang mit innerer und äußerer Natur macht. Als ein Wesen, das der Anschauungen bedarf, um etwas überhaupt als etwas erkennen zu können, lehrt ihn die Natur, zwischen ihren Erscheinungsweisen und dem, was in ihnen jeweils erscheint, zu differenzieren. Kants Erkenntnistheorie hat nach Schopenhauers Verständnis diese Erfahrung erstmalig in der Geschichte des Denkens ausbuchstabiert und in ihren Konsequenzen sowohl für die menschliche Naturerkenntnis, wie für das menschliche Selbstverständnis durch-
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Ebd. Ebd. Ebd., 59 Ebd., 55
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dacht. Sie hat mit anderen Worten im Rahmen einer Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens den Grund des Glaubens an eine andere Ordnung als die der erscheinenden Natur freigelegt. Damit hat Kant der Philosophie den Schlüssel in die Hand gelegt, der das rätselhafte Phänomen einer gattungsweit verbreiteten Metaphysik überhaupt auf2uschließen vermag. Selbstverständlich war Schopenhauer nicht entgangen, daß Kants Theorie die Genese der Metaphysik überhaupt in einem Gedankengang rekonstruiert, der die Einsicht in ihre Ermöglichungsbedingungen mit der Kritik an uneinlösbaren Erkenntnisansprüchen der philosophischen Metaphysik engführt. Deshalb präsentiert sich die Transzendentalphilosophie zugleich als ein Unternehmen, das auf die Begründung der Metaphysik als philosophischer Wissenschaft abgezweckt ist. In der Distanznahme von der Metaphysik überhaupt soll Metaphysik als eine spezifische Form des menschlichen Wissens ausgewiesen werden. Schopenhauers Kantrezeption hält an diesem Motiv der Transzendentalphilosophie grundsätzlich fest, verwirft indes die drastischen Restriktionen, zu denen Kant sich genötigt sah, um den Begriff einer allgemeinen Metaphysik, die a priorische Wissenschaft wäre, widerspruchsfrei explizieren zu können. Insofern sucht Schopenhauer mit Kant einen Begriff von Metaphysik zu verdeutlichen, der den kognitiven Kapazitäten endlicher Wesen Rechnung trägt, wendet sich aber gegen Kant, der argumentiert hatte, ein solcher Begriff könne allein der Begriff einer Wissenschaft von den nicht-empirischen Bedingungen wahrheitsfähiger, empirischer Erkenntnisse sein. Schopenhauer widersetzt sich also der durch Kant propagierten Transformation der metaphysica generalis in eine Geltungstheorie des synthetischen Satzes apriori. Kants Argument verleiht Schopenhauer eine merkwürdig versimplifizierte Fassung: weil für Kant das Ding an sich „schlechthin unerkennbar" sei, „gab es ihm zufolge gar keine Metaphysik, sondern bloß immanente Erkenntnis, d. h. bloße Physik, welche stets nur von Erscheinungen reden kann, und daneben eine Kritik der nach Metaphysik strebenden Vernunft." 17 Den transzendental philosophischen Bescheid, für den Menschen müsse es, soweit ihm an wahrer Erkenntnis gelegen sei, mit der gegenständlichen Naturerkenntnis sein Bewenden haben, will Schopenhauer nicht unterschreiben. Er hält ihn für das letzte Wort einer Metaphysikkritik, die vor dem Vernunftstreben nach einer anderen Modalität von Naturerkenntnis resigniert. Philosophie bescheidet sich mit der Aufgabe, in Gestalt einer Wissenschaftstheorie der Physik einerseits die logischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen der immanenten Erkenntnis zu ermitteln, um 17 W W V
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sie andererseits normativ gegen Erkenntnisansprüche geltend zu machen, die den Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften transzendieren. Aus Kants Merksatz, allein der kritische Weg sei noch offen, extrapoliert Schopenhauer in verblüffender Antizipation neokantianischer Interpretationen ein szientistisches Votum. Es verbietet der Philosophie, sich zum Fürsprecher jenes Strebens der Vernunft nach transzendenter Erkenntnis zu machen. Eingedenk der praktischen Philosophie Kants fühlt Schopenhauer sich jedoch autorisiert, einem solchen Verbot gerade auch im Namen Kants entschieden zu widersprechen. Denn andernfalls würde der sie durchherrschende Impuls zugunsten einer Philosophie verraten, die sich von der genuin metaphysischen Aufgabe dispensiert, Selbstbeschreibungen humaner Subjektivität zu ersinnen und zu überprüfen, in denen das, was das Individuum als seine moralische Verpflichtung fühlt, ihm selbst durchsichtig und verständlich wird. Dazu ist nach Schopenhauer eine philosophische oder religiöse Deutung der menschlichen Existenz vonnöten, die sie ins Verhältnis zu einer absoluten Ordnung setzt. Zweifelsohne vermag die Physik das nicht zu leisten. Es muß daher transzendente Erkenntnis geben. Ihr kommt ethische Bedeutsamkeit allerdings nur unter der Bedingung zu, ein Wissen um die der Welt jenseitige Ordnung bereitzuhalten, das dem Individuum ermöglicht, sich als ein Teil der seine Endlichkeit übergreifenden Ordnung anzusehen, ohne daß es essentielle Dimensionen seiner Selbsterfahrung als leibliches Lebewesen in einer raumzeitlichen Welt preiszugeben hätte. Erst mit der Erfüllung dieser Kondition erfaßt die Metaphysik das Wesen der Natur in einem Deutungsmuster, das unser Wissen von der Welt mit unserem Wissen von der Stellung des Menschen in ihr zu einem Ausgleich bringt. Und weil die Metaphysik überhaupt nach einer derartigen Wissensform ausgreift, in welcher moralische Orientierung und welthaltige Erkenntnis integriert sind, hält Schopenhauer sie für prinzipiell unaufgebbar.
II. Den Standpunkt der Metaphysik überhaupt bezieht, wer einem spezifischen Erkenntnisideal zustimmt. Danach gibt es eine wahre Erkenntnis der Natur, die als theoretische Erkenntnis in einer Weise Auskunft über deren Wesen erteilt, daß diese Wesenerkenntnis zugleich Erkenntnis derjenigen Verfassung ist, die ein menschliches Individuum zu einer moralischen Person macht. Schopenhauers Verteidigung dieses Ideals, das Kants Dichotomie von praktischer und theoretischer Vernunft unterläuft, erzwingt die Revision von dessen Metaphysikkritik. Sie betrifft sowohl ihre erkenntnis-
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theoretischen Voraussetzungen, wie deren metaphysikkritische Konsequenzen. Dabei entsprach es Schopenhauers Selbstverständnis, daß der andere Sinn, den er dem Wort ,Metaphysik' verliehen hat, die gnoseologischen Prämissen Kants ihrem wesentlichen Gehalt nach anerkennt. Schopenhauer war überzeugt, daß seine Konzeption einer Metaphysik, deren Gegenstand das Ansich der Natur insoweit sei, wie es Spuren in der Erfahrung hinterläßt, der Grundeinsicht des Kritizismus genüge leiste. Denn als den Angelpunkt der „Kantischen Katastrophe"18 betrachtet er die Entdeckung, daß die „Erfahrungswelt bloße Erscheinung ist, ihre Ordnung bloße Ordnung der Erscheinung und die Gesetze derselben bloß gültig für Erscheinungen, daher sie nie darüber hinaus führen können". 19 Folglich kann ein philosophischer Entwurf, der sich Kants These von der Phänomenalität der Körperwelt einverleibt, nicht mehr Opfer des naiven Realismus werden, den Kant der vormaligen Metaphysik nachgewiesen hatte. Nun zählt der Phänomenalismus ohne Zweifel zu den Grundsteinen der Willensmetaphysik. Denn sie geht von dem Umstand einer doppelten Selbstgegebenheit des menschlichen Individuums aus. Zum einen erfährt es sich als Leib, der für das Bewußtsein ein raumzeitlich individuiertes Einzelding in einer Welt von Einzeldingen ist. Zum anderen hat es ein der Introspektion geschuldetes und nicht-inferentielles, daher evidentes Wissen von sich als dem Subjekt von Handlungen, die in Willensakten gründen. Sofern solche Volitionen Objekte des erkennenden Bewußtseins sind, erscheinen sie als jederzeit leibvermittelte Tätigkeiten oder Unterlassungen in der Welt. Schopenhauers die Willensmetaphysik fundierender Vorschlag lautet, die erkenntnistheoretische Differenz von Ding an sich und Erscheinung im analogisierenden Ausgang von dieser Selbsterfahrung des menschlichen Individuums zu reinterpretieren. Danach ist die erscheinende Natur die Objektivation des Willens, der ihr als Ding an sich zum Grunde liegt. In dem Maße wie Schopenhauer die Metaphysikkritik Kants auf den Einwand reduziert, traditionelle Metaphysik habe Erscheinungen intellektualisiert, konnte er annehmen, daß seine Willensmetaphysik, die nicht den Anspruch erhebt, das Ding an sich stricto sensu zu erkennen, sondern das An sich der Natur kraft einer Analogisierung deutend erschließt, Bestand hat. Indes trifft Schopenhauers Resümee nur die Facette einer Auseinandersetzung, die Kant insbesondere mit der Leibniz-Wolffschen Schulmetaphysik seiner Zeit geführt hat. Unterschlagen bleibt bei Schopenhauer die fundamentalere These, daß alle theoretischen Urteile über Gegenstände, 18 19
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die nicht Objekte der Erfahrung sind, insofern sinnlose Aussagen darstellen, als keine Geltungsbedingungen für deren Wahrheitsansprüche namhaft gemacht werden können. Wenn angesichts dieser Einsicht weiterhin noch von einer Metaphysik die Rede sein soll, die apriorische Wissenschaft nicht-kontingenter Sachverhalte wäre, schlußfolgerte Kant, dann kann Metaphysik allein in der Gestalt einer Transzendentalphilosophie auftreten, d. h. als die Wissenschaft von den nicht-empirischen Ermöglichungsbedingungen empirischer Erkenntnis. Schopenhauer war also durchaus im Recht als er Kants innovative Verwendung des Metaphysikbegriffs dadurch verdeutlichte, daß er von einer Synonymie der Ausdrücke metaphysisch und transzendental sprach. Trifft seine Erklärung aber zu, so ist nicht einzusehen, wie Schopenhauer die erklärte Absicht, jene Synonymisierung in seinem Metaphysikkonzept wieder rückgängig zu machen, mit dem Anspruch vermittelt, auf dem Boden der Kantischen Erkenntnistheorie zu philosophieren. Der Entwurf einer Philosophie, die Kants Metaphysikkritik grundsätzlich anerkennt, ohne die aus ihr folgende Konsequenz für einen jeden zukünftigen Begriff von Metaphysik akzeptieren zu müssen, schien Schopenhauer deshalb realisierbar, weil er den Mittelpunkt der Transzendentalphilosophie in Kants transzendentale Ästhetik verlegt hatte. Wenn man — wie es in Schopenhauers Kant-Interpretation allenthalben bezeugt ist — unterstellt, daß „Kants wichtigste und glänzendste Grundlehre, die von der Idealität des Raumes und der bloß phänomenalen Existenz der Körperwelt" 2 0 gewesen sei, entsteht der Anschein, als ob eine Konzeption von Metaphysik, die Realismus und Materialismus gleichermaßen durch eine transzendentalidealistische „Dianoiologie" 2 1 vorbeugt, gegen Kantische Einsprüche immunisiert sei. Seine Entdeckung erscheinender Repräsentationen des Ansichs der Natur wähnte Schopenhauer unter den Schutz einer solchen Kuratel gestellt. Folglich war ihm erlaubt, das „Wort Metaphysik" wieder in einem Sinn zu gebrauchen, „der mehr mit dem ursprünglichen übereinstimmt" 2 2 , denn es sollte zur Bezeichnung einer Philosophie dienen, die ihrem Selbstverständnis nach „die Erkenntniß dessen" intendiert, „wozu sich die Erfahrung als bloßes Zeichen verhält". 2 3 Demnach thematisiert Schopenhauers Metaphysik das Ganze der Erfahrung jederzeit mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß es in seiner Stellung als Objekt des metaphysischen Erkenntniswillens eine Totalität 20 21
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W W V II, 73 Schopenhauer spricht seine „Theorie der gesammten Erkenntniß" unter diesem Titel an; vgl. Arthur Schopenhauer, Theorie des gesammten Vorstellens, Denkens und Erkennens, Philosophische Vorlesungen, Teil I, Hrsg. Volker Spierling, München 1986, 60 ff. Schopenhauer, Metaphysik, 59 Ebd., 55
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anschaulicher Zeichen ist. Dank dieser vorgängigen Kategorisierung der Phänomene ist nach Schopenhauers Dafürhalten ein substanzmetaphysischer Ansatz abgewehrt. Sachhaltigkeit wird den Erscheinungsdingen nicht als solchen zugesprochen, sondern mit Hinblick auf ihren kategorialen Sonderstatus: in Ansehung ihrer als Willensobjektivationen eignet den Erscheinungen Zeichencharakter. So tritt die Willensmetaphysik ihnen mit der Präsupposition entgegen, sinnhafte Entitäten zu sein, die deshalb über sich hinaus auf ein Anderes ihrer selbst verweisen, weil sie mit jenem Anderen nicht identisch sind. Insistiert der Metaphysiker Schopenhauer nun gleichzeitig auf dem Umstand, daß jenes Andere der Erscheinung für uns ausschließlich im Verweisungszusammenhang der Erscheinungswelt zugänglich ist, verwehrt er sich das Bedenken, seine Willensmetaphysik ignoriere die transzendentalphilosophische Kritik der metaphysischen Tradition. Denn eine Philosophie, welche die erscheinende Natur zu ihrem ausschließlichen Material erklärt, die sich jeden Gedanken an eine Transzendenz versagt, die nicht immanente Transzendenz wäre, respektiert die dem menschlichen Erkennen dort gezogenen Grenzen.
III. Der eigentliche Gegenstand der Metaphysik Schopenhauers ist also weder das Seiende als solches, noch dessen Transzendentalien, auch nicht Gott oder die Seele, sondern die erscheinende Welt. Ihr Begriff bezeichnet, worauf bereits der Titel des Schopenhauerschen Hauptwerkes das Augenmerk lenkt, den sozusagen intentionalen Gesamtgegenstand aller Erfahrung. Aller Erfahrung deshalb, weil noch die unmittelbare Selbsterfahrung des menschlichen Individuums zunächst Erfahrung eines innerweltlichen Objekts, namentlich des raumzeitlich gegebenen Leibdinges ist. Daher wird sich die Metaphysik, soweit Schopenhauer sie zunächst auf eine Disziplin zurückstuft, die traditionell „cosmologia rationalis" geheißen hätte, von der Physik auch nicht dadurch unterscheiden, daß sie sich des Ganzen der Erfahrung annähme, während die Naturwissenschaft einen solchen Totalitätsbezug vermissen läßt. Zwar mag damit die tatsächliche Praxis der physikalischen Einzelwissenschaften zutreffend beschrieben sein, doch betont Schopenhauer, daß sich Physik und Metaphysik als die Grundformen des menschlichen Wissens nicht durch ihre womöglich inkongruenten Gegenstandsbereiche spezifizieren. Was demgegenüber den Unterschied macht, ist die jeweilige Art des erkennenden Gegenstandsbezugs. Sie aber hängt von dem Vorbegriff ab, der den physikalischen Zugriff auf die Welt im Unterschied zu demjenigen der Metaphysik steuert. Metaphysik und Physik sehen das Ganze der
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Erfahrung als Natur an. Wissenschafltiche Erkenntnis des Ganzen der Erfahrung in Ansehung seiner als Natur bedeutet gemäß Schopenhauers allgemeinem Begriff von Erkenntnis zunächst einfach, daß gegebene Vorstellungen in Verhältnisse zueinander gesetzt werden. Die Physik definiert sich als Naturwissenschaft dann dadurch, daß sie unter allen denkbaren Relationen, anhand derer Vorstellungen geordnet werden können, die besondere Klasse der Kausalrelationen privilegiert. Aufgrund dieser Auswahl, derzufolge die Ordnung der Natur als Ordnung raumzeitlicher Verhältnisse begriffen wird, kommt es zur methodologischen Stabilisierung der naturwissenschaftlichen Erkenntnispraxis. Folglich wird diejenige Naturbetrachtung, die gegebene Vorstellungen am Leitfaden der Kausalkategorie synthetisiert und allgemeine Aussagen über die festgestellten Kausalrelationen formuliert, Naturwissenschaft genannt. Schopenhauers Theorie der physikalischen Erkenntnis hat die Legitimität der kausalwissenschaftlichen Methode nicht in Frage gestellt. Dazu schienen ihm die ihr geschuldeten Resultate, insbesondere jedoch deren Folgen für die Perfektionierung menschlicher Naturbeherrschung zu eindrucksvoll zu sein. Allerdings dürfen die pragmatischen Gesichtspunkte, die jene Privilegierung der Kausalrelation nachträglich rechtfertigen, nicht den Sachverhalt verdunkeln, daß die Naturwissenschaft das Resultat einer Selektion ist. Sie konstituiert sich, indem das Ursache-Wirkungsverhältnis zum exklusiven Ordnungsfaktor der Erscheinungsdinge erhoben wird. Deren wissenschaftliche Erkenntnis wird mithin durch die Kausalkategorie ebensowohl ermöglicht, wie begrenzt. Anlaß zu philosophischer Kritik gibt die Naturwissenschaft daher erst, wenn und insofern die Selektivität jener Wahl, der die Physik ihren Status als methodische Wissenschaft schuldet, aus dem Blick gerät. Dies kann etwa in Form der Behauptung geschehen, die Seinsverfassung der Natur nötige das Erkennen, seine Objekte am Leitfaden der Kausalkategorie in Raum und Zeit anzuordnen. Zwingende Konsequenz der These, wonach die Kausalverhältnisse interne Relationen der vorgestellten Erscheinungsdinge sind, ist zunächst die Auffassung, daß es keine andere Ordnung der Natur gibt, noch überhaupt geben kann, als eben jene, die in der Physik freigelegt wird. Da Natur im gegenwärtigen Zusammenhang das Ganze der Erfahrung meint, folgt sonach aus ihr, daß sich die Physik vermittels ihrer Einsicht in die singuläre Ordnung dieser Natur auch das Anrecht erwirbt, als die einzig wahre Wissenschaft vom Ganzen der Erfahrung aufzutreten. Einen solchen Selbstbegriff naturwissenschaftlicher Erkenntnis attackiert Schopenhauer als „Naturalismus". 24 24
„Eine Physik, welche behauptet, daß ihre Erklärungen der Dinge [ . . . ] wirklich ausreichten und also das Wesen der Welt erschöpften, wäre der eigentliche Naturalismus" WWV II, 226.
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Schopenhauer hat sich nicht zu der Behauptung verstiegen, daß der Naturalismus die notwendige Bedingung der naturwissenschaftlichen Objektivierung anschaulich gegebener Mannigfaltigkeiten zu logischen Gegenständen wahrheitsfähiger, empirischer Urteile ist. Vielmehr bestimmt seine Dissertationsschrift diejenige Gestalt des Satzes vom zureichenden Grunde, die unter der Formel „principium rationis sufficientis fiendi"25 expliziert wird, als transzendentallogische Voraussetzung der Naturwissenschaften. Als solche fungiert das Prinzip vom zureichenden Grund des Werdens, weil es das allgemeine Schema des Verstandes und mithin die Ermöglichungsbedingung jeder Erkenntnis empirischer Realitäten ist. Indem Schopenhauer aber Kants Kategorientafel rigoros ausdünnt und einzig die Kausalkategorie als das transzendentale Konstituens der Verstandeserkenntnis übrig behält, verankert er den Naturalismus im formalen Aufbau der Verstandesleistungen. Wenn nämlich, wofür Schopenhauers Erkenntnistheorie argumentiert, die individuellen Anschauungen als sekundäre Produkte einer vorbewußten Synthesishandlung betrachtet werden müssen, die mit Hilfe der Kausalkategorie das sensorische Reizmaterial zur Einheit der Anschauung formt, dann monopolisiert der Wahrnehmungsakt als solcher bereits die Kausalrelation. Folglich wird der Naturalismus zu einer „Ansicht, die sich dem Menschen von selbst und stets von neuem" 26 aufdrängt und zwar in der Sphäre seiner anschaulichen Bezugnahmen auf Welt und leibliches Selbst. Daher bringt der Naturalismus für Schopenhauer gewissermaßen die Weltanschauung auf den Begriff, die an der Genese sämtlicher Vergegenwärtigungen äußerer und innerer Realität immer schon partizipiert, ohne dem Bewußtsein als solche durchsichtig zu sein. Auf den Glauben, daß die kausalwissenschaftliche Methode die für das menschliche Erkennen erste, einzige und eben auch letzte Ordnung der Natur freilegt, stößt Schopenhauer also nicht — wie doch vermutet werden könnte — als kollektive Hintergrundideologie eines Zeitalters, das sich am immensen Aufschwung der naturwissenschaftlichen Forschung berauscht, sondern im Binnenraum der Verstandestätigkeit selbst. Aus diesem Grund kann „die grundfalsche Ansicht" 27 , die dem Verstand gleichsam ab ovo mitgegeben ist, „nur durch tiefere Spekulation vernichtet werden" 28 , d. h. durch eine kritische Intervention der Vernunft, die den Verstand über die bornierte Einseitigkeit seiner Konstruktion des Wirklichen aufklärt. Arthur Schopenhauer, Werke, Bd. III, 48 26 W W v n ; 227 27 Ebd. 28 Ebd. 25
Über die vierfache
Wurzel des Satzes vom zureichenden
Grunde,
Sämtliche
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Die Kritik des Naturalismus ist für Schopenhauer deshalb von extraordinärer Bedeutung, weil der Naturalismus den Standpunkt der Metaphysik überhaupt unterminiert. Denn im Horizont des Naturalismus, der — aus den dargelegten Gründen — immer auch der Horizont der Verstandeserkenntnis wäre, kommt der Versuch, das Ganze der Erfahrung mit der Intention zu thematisieren, es als eine Welt bedeutsamer Zeichen lesbar zu machen, schlichtweg dem Verzicht auf die wissenschaftliche Erkenntnis eben dieser Welt gleich. Insofern bestreitet der Naturalismus der Metaphysik als einer nicht kausalwissenschaftlichen Naturbetrachtung den Anspruch, zu einer wahrheitsfähigen Deutung des Erfahrungsganzen befähigt zu sein. Doch reicht die naturalistische Metaphysikkritik noch weiter: nimmt man nämlich mit Schopenhauer an, daß der Glaube an eine Metaphysik deshalb die notwendige Voraussetzung ethischer Normbildung ist, weil allein Metaphysik die bindende Macht solcher Normen zu begründen vermag, dann würde der Triumph des Naturalismus die Unverbindlichkeit von Selbstbeschreibungen zur Folge haben, in denen sich die Menschheit ihrer Moralität versichern kann. Deshalb muß die Philosophie ihm entgegentreten. Entscheidend kann sie den Naturalismus freilich nur als spekulative Philosophie kritisieren, weshalb Schopenhauer sich aufgefordert fand, die Metaphysik nach Kant zu rehabilitieren. Da dessen theoretische Philosophie in dem Befund terminiert, wahrheitsfähige Erkenntnis sei nur als immanente Erkenntnis möglich, meinte Schopenhauer als ihr eigentliches Defizit beklagen zu müssen, daß sie die Philosophie zur Ohnmacht gegenüber dem Naturalismus verdamme.
IV. Das Kernstück der Schopenhauerschen Rehabilitation einer auf dem Standpunkt der Metaphysik überhaupt lokalisierten, philosophischen Metaphysik ist die Ansicht, daß der Mensch als ein „animal metaphysicum" 29 der umfassenden Deutung seines endlichen Daseins bedarf. Folglich sucht Schopenhauer die Metaphysik mit anthropologischen Argumenten wieder in ihre durch Kant bestrittenen Rechte einzusetzen. Das soll geschehen, indem die Angewiesenheit sterblicher Organismen, die mit Vernunft und folglich mit dem Wissen um ihre Endlichkeit ausgestattet sind, auf metaphysische Selbstverständigungen dargelegt wird. Solche Abhängigkeit des bewußten Lebens von integralen Deutungsmustern spricht die Spätphilosophie Schopenhauers unter dem Stichwort „metaphysisches Bedürfnis" 29 \ ¡ P W V I I , 2 0 7
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an, um sogleich festzustellen, daß es „stark und unvertilgbar dem physischen auf dem Fuße folgt". 30 Schopenhauer möchte die Metaphysik also dadurch rechtfertigen, daß er sie als Objekt eines Interesses vorführt, das genuin menschlich und in seiner naturgegebenen Faktizität unhintergehbar ist. Die Perspektive, die Schopenhauer sich in apologetischer Absicht zu eigen macht, entspricht jedoch dem Blickwinkel, unter welchem Kant das Problem der Metaphysik ursprünglich exponiert hatte. Wie der allererste Satz der Kritik der reinen Vernunft bezeugt, stellt sich das Problem der Metaphysik, weil die menschliche Vernunft „das besondere Schicksal" hat, „daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft" (KdrV, A VII). Mit diesen Worten hat Kant die Ausgangssituation seines metaphysikkritischen Projekts in voller Schärfe umrissen. Einerseits gründet das Interesse an der Metaphysik in der Natur der Vernunft, andererseits überfordern die mit jenem Interesse assoziierten Wissensansprüche aber die Erkenntnismöglichkeiten eben jener Vernunft. So ist Schopenhauers metaphysisches Bedürfnis bei Kant als die der humanen Species eigentümliche „Verlegenheit" (KdrV, A VII) gegenwärtig, Inhaberin einer Vernunft zu sein, die notwendigerweise Fragen stellt, welche „der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein" können (KdrV, A X). Gleichgültig können sie ihr deshalb nicht sein, weil von ihrer Beantwortung abhängt, ob die Menschheit sich über sich selbst mit dem Ziel verständigen kann, in einer Deutung übereinzukommen, die ihr Richtlinien der Lebensführung anweist. Gleichgültig aber auch deshalb nicht, weil sich gezeigt hatte, daß sich die Vernunft bei dem Versuch, Antworten zu geben, mit sich selbst entzweit. Deshalb stellt die Faktizität des metaphysischen Bedürfnisses oder die Natur der Vernunft paradoxerweise die Möglichkeit einer Vernunft, die reine und dennoch mit sich identische Vernunft wäre, in Zweifel. Die einzige Handhabe diesen Zweifel zu heben, sah Kant daher in einer Kritik der Vernunft „in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie unabhängig von aller Erfahrung streben mag" (KdrV, A XII). Daß Kant dem, was er in signifikanter Abweichung von ihrem vormaligen Begriff Transzendentalphilosophie genannt hat, die Aufgabe stellt, die Möglichkeit von Metaphysik als Wissenschaft auszumachen, wurde bereits erwähnt. Dabei ließ er seinerseits keinen Zweifel daran, daß die Transzendentalphilosophie, insofern sie die Möglichkeit einer solchen Wissenschaft 30
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erkundet, kein Teil der Metaphysik ist. Sie geht der in Aussicht gestellten, wissenschaftlichen Metaphysik vielmehr als deren Begründungstheorie voraus. Gemäß des Kantischen Vorverständnisses, auch davon ist bereits die Rede gewesen, wird Metaphysik allein dann als Wissenschaft möglich sein, wenn synthetische Sätze a priori möglich sind. Dementsprechend befaßt sich die Transzendentalphilosophie mit der allgemeinen Frage, ob solche Sätze möglich sind. Um die aufgeworfene Frage beantworten zu können, erschloß Kant der Philosophie ein neues Gebiet formaler Analyse — die transzendentale Logik. Sie erarbeitet eine Theorie, welche die Wahrheitsfahigkeit empirischer Erkenntnisse begründet und an die Stelle der metaphysica generalis tritt. Deren ontologischen Problemhaushalt kann Kant deshalb innerhalb einer Erkenntnistheorie reformulieren, weil diese zeigt, daß die Bedingungen der Möglichkeit, in wahrheitsdefiniten Urteilen auf Erfahrungsgegenstände Bezug zu nehmen, zugleich die Bedingungen der Möglichkeit solcher Gegenstände sind. Nun setzen die Prolegomena einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können anders als das Darstellungsverfahren, welches Kants Argumentation im Text der Kritik der reinen Vernunft prägt, voraus, daß gewisse synthetische Sätze a priori wirklich sind. Zu dem prima vista merkwürdigen Ansatz, die Existenz einer speziellen Satzform zu behaupten, deren Möglichkeit eigentlich doch erst herzuleiten wäre, findet sich der um eine verständliche Hinführung zu seinem Hauptwerk bemühte Schriftsteller Kant bereit: propädeutische Motive veranlassen ihn, die Resultate der bereits unternommenen Kritik der reinen Vernunft jetzt nicht mehr nach synthetischer, sondern nach analytischer Methode auszubreiten. Unter dieser Methode versteht Kant, „daß man von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich ist" (Prol, § 5, Akademie-Ausgabe S. 276). Die Prolegomena kehren also die Verfahrensrichtung seiner Explikationen um, weshalb der Leser nicht ausgehend von der Transzendentalen Ästhetik zur Transzendentalen Deduktion hinauf-, sondern von der unterstellten Gegebenheit synthetischer Sätze a priori in die elementaren Bedingungen ihrer Geltung gleichsam zurückgeführt wird. Seiner operativen Fiktion, wonach gleich eingangs der transzendentalen Analyse die synthetische, reine Vernunfterkenntnis wirklich ist, verschafft Kant im Rekurs auf zwei Wissenschaften Plausibilität. Weil und insofern es reine Naturwissenschaft, nämlich Newtons theoretische Grundlegung der Mechanik, und reine Mathematik, nämlich Euklids axiomatisch aufgebaute Geometrie, gibt, ist Kants Inanspruchnahme synthetischer Sätze a priori vorläufig gerechtfertigt. Denn die Euklidsche Geometrie bietet ein System von Aussagen über ideale Strukturen eines
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dreidimensionierten Raumes an, dessen Wahrheit insoweit buchstäblich gezeigt werden kann, als sie ihre Erkenntnisgegenstände in der Anschauung darzustellen vermag, ohne deren Idealität empirisch zu kontaminieren. Damit ist das Faktum einer wahrheitsfähigen, a priorischen Erkenntnis, die nicht analytische Erkenntnis aus Begriffen ist, ausgewiesen. An die Wirklichkeit der Geometrie tritt die Transzendentalphilosophie nun mit der ihr eigentümlichen Fragestellung heran, „wie diese Erkenntnis möglich" ist, „damit wir aus den Principien ihrer Möglichkeit die Bedingungen ihres Gebrauchs, den Umfang und die Grenzen desselben" (Prol, § 5, 276) bestimmen können. Ob Metaphysik als reine Wissenschaft möglich ist, soll im Medium einer Analyse zur Entscheidung gebracht werden, welche die Prinzipien der reinen Vernunfterkenntnis ermittelt, um ihnen Umfang und Grenzen des theoretischen Vernunftgebrauchs abzulesen. Doch verlangt der Aufstieg vom Faktum reiner Mathematik zur Metaphysik als Wissenschaft, wie Kant in den Prolegomena eigens hervorhebt, die Anerkennung eines weiteren Faktums. Neben der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft liegt der zu begründenden, wissenschaftlichen Metaphysik für die Perspektive der hier angewandten, analytischen Methode noch eine dritte Sphäre voraus, in der synthetische Erkenntnisse a priori wirklich sind. In der Absicht, seine Inventur der Wirklichkeiten reiner Vernunfterkenntnis zu vervollständigen, d. h. sicherzustellen, daß die Rekonstruktion der Ermöglichungsbedingungen der Metaphysik als Wissenschaft keinesfalls zu kurz greift, rechnet Kant auch „die Naturanlage zu einer solchen Wissenschaft" (Prol, § 5, 279) den unbestreitbaren Gegebenheiten zu, an welche die Transzendentalphilosophie nach analytischer Methode anzuknüpfen hat. Zu diesem Schritt ist er schon deshalb gezwungen, weil die Rechtmäßigkeit des Gebrauches synthetischer Erkenntnisse a priori zuverlässig dann und nur dann bestimmbar ist, wenn alle Prinzipien der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori aufgesucht wurden. Und dies wiederum verlangt, daß die der analytischen Methode vorliegenden AisOb-Wirklichkeiten metaphysischer Erkenntnis restlos erfaßt worden sind. Dennoch muß es befremden, wenn Kant reine Mathematik und reine Naturwissenschaft in einem Atemzug mit der sogenannten Naturanlage zur Metaphysik aufführt. Wie die synthetische Erkenntnis a priori in einer Naturanlage wirklich sein soll, ist schwerlich einzusehen, nachdem Kant deren Realität zuvor an Newtons Mechanik und Euklids Geometrie exemplifiziert hat. Die Beispiele waren doch allein deshalb illustrativ, weil sie sich auf Sätze oder Satzsysteme mit bestimmten Geltungsansprüchen bezogen hatten, die — was etwa die Geometrie anbelangt — anschaulich verifiziert werden konnten. Wirklich war die synthetische Erkenntnis a priori also deshalb, weil solche Erkenntnisansprüche eingelöst wurden.
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Demgegenüber scheint es völlig unsinnig zu sein, eine Naturanlage zum Statthalter von Geltungsansprüchen zu ernennen. Von der Wirklichkeit einer Naturanlage zu sprechen, mag etwa unter der Annahme sinnvoll sein, ihren Begriff wie ein Dispositionsprädikat zu analysieren. Indes liegt auf der Hand, daß Kants Rede von der Naturanlage zu einer wissenschaftlichen Metaphysik auch durch eine solche Deutung nicht prägnanter wird. Selbst wenn es eine derartige Disposition offenbar kognitiver Art gäbe, würde ihre angenommene Existenz nichts für die von Kant intendierte These austragen. Ihr zufolge sollen ja synthetische Erkenntnisse a priori, keineswegs jedoch irgendwelche Dispositionen, auch außerhalb der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft wirklich sein. Seine These rettet Kant durch eine ausgesprochen eigenwillige, wiewohl bedeutsame Erläuterung des in die Transzendentalphilosophie neu eingeführten Begriffes. Danach bezeichnet die Naturanlage zur Metaphysik das, was „gewöhnlichermaßen schon Metaphysik genannt" wurde, freilich „ohne alle kritische Untersuchung ihrer Möglichkeit" (Prol, § 5, 279). Mit anderen Worten sind, abgesehen von Newtons und Euklids Theorien, synthetische Erkenntnisse a priori in dem Maße wirklich, wie in der Geschichte des abendländischen Denkens Behauptungen aufgetreten sind, die ihrem Anspruch nach synthetische Sätze a priori waren. Daß sie diesen Anspruch angemeldet haben, entnimmt Kant dem Sachverhalt, solche Behauptungen unter dem Titel,Metaphysik' rubriziert zu finden. Selbstverständlich kann die Transzendentalphilosophie, deren Aufgabe lautet, jene Ansprüche hinsichtlich der Bedingungen ihrer Möglichkeit zu überprüfen und gegebenenfalls zu restringieren, diese Titulierung nicht umstandslos übernehmen. Ebensowenig kann sie aber die geschichtliche Wirklichkeit von Aussagen ignorieren, die ihrem Selbstverständnis nach metaphysische Aussagen sind. Das entstandene Dilemma, nichts ungeprüft Metaphysik nennen zu dürfen und diesen Titel gleichwohl als eingespieltes Etikett philosophischer Historiographie vorzufinden, löst Kant, indem er die Gesamtheit solcher, ihrer Selbstinterpretation nach metaphysischer Aussagen uminterpretiert. Sie kann nicht Metaphysik als Wissenschaft sein, vielmehr erscheint sie unter dem Blickwinkel der Transzendentalphilosophie, die eine Begründung jener zukünftigen Wissenschaft in Aussicht stellt, als die Naturanlage zu ihr. Während reine Vernunfterkenntnis bei Euklid wirklich ist, weil geometrische Aussagen wahre Behauptungen über nicht-empirische Gegenstände sind, die der Geometer vor den prüfenden Augen seiner Zuhörer konstruieren kann, ist sie in dem, was die überlieferte Einteilung des Wissens ,Metaphysik' genannt hat, ihrem noch ungeprüften Anspruch nach wirklich. Die Wirklichkeit dieses Anspruchs darf die Transzendentalphilosophie
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selbst dann nicht ignorieren, wenn sie ihn am Ende in seiner Rechtmäßigkeit kritisieren sollte. Zur Anerkennung der geschichtlichen Realität von Metaphysik ist die Transzendentalphilosophie verpflichtet, weil sie zufolge des jetzt relevanten, methodischen Konzepts die Prinzipien der Möglichkeit synthetischer Erkenntnis als tatsächlich gegebenen unterstellt. Im analytischen Abstoß von dieser gewissermaßen simulierten Wirklichkeit reiner Vernunfterkenntnis sollen die elementaren Bedingungen ermittelt werden, die den gerechtfertigten Gebrauch synthetischer Erkenntnisse a priori reglementieren. Dementsprechend fächert Kant die Grundfrage der Transzendentalphilosophie, wie nämlich synthetische Erkenntnis a priori möglich ist, in vier besondere Fragen auf: „1) Wie ist reine Mathematik möglich? 2) Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? 3) Wie ist Metaphysik überhaupt möglich? 4) Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?" (Prol, § 5, 280) Mit der dritten Frage greift Kant auf die problematisierte Wirklichkeit reiner Vernunfterkenntnis zurück, wie er sie zuvor noch unter dem Stichwort Naturanlage zur Metaphysik angesprochen hatte. Offensichtlich hält Kant die Hauptfrage nach der Möglichkeit von Metaphysik als Wissenschaft erst dann für zureichend beantwortet, wenn auch der Grund der Möglichkeit jener Naturanlage aufgedeckt ist. Um zu wissen, was Metaphysik als Wissenschaft wäre, muß nach Kant auch gewußt werden, was Metaphysik als Naturanlage möglich macht. Und die Ermöglichungsbedingung der Naturanlage zur Metaphysik ist thematisch, wo nach der Möglichkeit von Metaphysik überhaupt gefragt wird.
V. Mit Blick auf Schopenhauer gilt es an diesem Punkt zweierlei festzuhalten. Zunächst ist daran zu erinnern, daß Schopenhauer Metaphysik in der bestimmten Bedeutung von „Metaphysik überhaupt" zu rehabilitieren sucht. Ihren Standpunkt führt er gegen den Naturalismus ins Feld, der behauptet, daß die immanente Erkenntnis einer Natur, die als ein kausalwissenschaftlich festgestelltes System der Erscheinungsdinge gedacht ist, die allein menschenmögliche Erkenntnis darstellt. Von daher tritt Schopenhauer als ein Advokat derjenigen Wirklichkeit von Metaphysik auf, die Kant zum Vorstadium der wissenschaftlichen Metaphysik zurückgestuft hatte. Sonach ist zu bedenken, daß sowohl der Terminus Naturanlage, wie seine Weiterbestimmung zum Begriff „Metaphysik überhaupt" von einer
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Äquivokation belastet wird. E s waren Dokumente der Philosophiegeschichte, die der Sprachgebrauch der Tradition unkritisch als Metaphysik klassifizierte, auf die Kant nach eigenem Zugeständnis blickte, als er von einer Naturanlage zur wissenschaftlichen Metaphysik sprach. Folglich ist der Sinn der transzendentalphilosophischen Frage, wie Metaphysik überhaupt möglich ist, vorderhand undeutlich. O b Kant nach den Bedingungen der Möglichkeit spezifischer Gestalten von Metaphysik fragt, die den Stoff der Philosophiegeschichte bilden, oder nach einer Disposition der menschlichen Vernunft, von der selbst dann auszugehen wäre, wenn sich keine historischen Zeugnisse fänden, in denen sich jene Disposition literarisch niedergeschlagen hat, bleibt unentscheidbar. Es ist daher fraglich, ob Schopenhauer, der Kants Begriffsbildung aufgreift, sich eine unter Umständen gefährliche Erblast einhandelt. Würde sich etwa ergeben, daß die Verteidigung der Metaphysik überhaupt in Wahrheit die Verteidigung eines zutiefst geschichtlich vermittelten Begriffs von Metaphysik ist, richtet der Rekurs auf ein metaphysisches Bedürfnis nichts mehr aus. Vielmehr wäre dann der Verdacht gegründet, daß auch das metaphysische Bedürfnis eine geschichtliche Größe, als solche kontingent und daher für die philosophische Kritik durchaus hintergehbar wäre. Die zuletzt angestellte Erwägung hat dem Gang der Verhandlung vorgegriffen. Auf ihn wird die Darstellung der zweiten, problemgeschichtlichen Voraussetzung von Schopenhauers anthropologischer Rehabilitation der Metaphysik zurückführen. Diese Voraussetzung kann im Anschluß an die Sachlage verdeutlicht werden, die sich mit der Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik überhaupt einstellt. Kant beantwortet die aufgeworfene Frage in einer Untersuchung, die er nicht umsonst „Transzendentale Dialektik" nennt. Sie legt nämlich dar, wie sich die reine Vernunft notwendigerweise in eine Antithetik verstrickt, wenn Regeln, die den Verstandesgebrauch leiten, auch außerhalb ihres ursprünglichen Geltungsbereichs in Anwendung bleiben. Das Produkt der irregulären Applikation der Verstandesregeln heißt Kant den transzendentalen Schein. Den optischen Täuschungen vergleichbar, ist er als solcher unauflöslich, kann jedoch, kraft der Einsicht in sein Zustandekommen, in reflexiver Einstellung entmächtigt werden. Auf diese Weise begreift die Vernunft, daß sie selbst die Quelle der Beirrungen gewesen ist, welcher sie dank der Konfrontation mit den Antinomien inne wird. Sie macht sich also von Täuschungen frei, indem sie den Grund ihrer Entstehung aufsucht. Dabei wird sie darüber belehrt, daß jene Täuschungen das menschliche Erkennen nicht zufallig heimsuchen. Denn ihr Grund ist nicht ein Anderes der Vernunft, also etwa die Sinnlichkeit oder die Einbildungskraft, sondern das die Vernunft als Vernunft definierende Prinzip, demzufolge sie zu jedem Bedingten die
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Gesamtheit seiner Bedingungen postuliert. Deshalb kann sich die Vernunft auch nicht ein für alle Mal vom transzendentalen Schein losmachen, wie es vorkantische Traktate von der Methode suggeriert hatten. Vielmehr führt die Rekonstruktion des theoretischen Vernunftgebrauchs in der transzendentalen Dialektik zu der Entdeckung eines endogenen Junktims von Vernunfteinsicht und Täuschung. Weil es der Vernunft als Vernunft wesentlich ist, auf Unbedingtes auszugreifen, mutet sie sich nach Kant aus sich heraus Erkenntniskapazitäten zu, die ihre faktischen Möglichkeiten überfordern. Diese Überforderung wird ihr aber erst angesichts der aporetischen Struktur der Aussagen auffällig, zu denen der Ausgriff auf Unbedingtes führt. Daher hat Kant die philosophische Auseinandersetzung mit der Metaphysik auf ein Modell verpflichtet, das jeder Kritik die Zurückführung des Kritisierten in seinen Grund auferlegt. In diesem methodologischen Postulat bringt er seinen epochalen Gedanken zum Austrag, daß der Irrtum, wenn er im Widerstreit der Vernunft mit sich selbst entsteht, eine Erscheinungsform der Vernünftigkeit ist. Deren philosophische Reflexion könnte also nur um den Preis des Verzichts auf einen zureichenden Begriff humaner Rationalität storniert werden. Daß „die ganze Dialektik der reinen Vernunft ( . . . ) das Ziel und der Zweck" 31 der Kantischen Metaphysikkritik gewesen ist, hat Schopenhauer natürlich klar gesehen. Allerdings räumt er ihr nur das, wenn auch „unsterbliche" 32 Verdienst ein, den Theismus aus der Philosophie eliminiert zu haben. Der genaueren Betrachtung erweist sich dies bereits moderierte Lob freilich als vollends vergiftet. Schopenhauers Unterstellung, daß der eigentliche Kontrahent der transzendentalen Dialektik die spekulative Theologie mitsamt ihrer neuzeitlichen Resonanzen bei Descartes, Leibniz und Wolff sei, verschafft ihm die Berechtigung, der Kantischen Kritik ein „allgemeines, bleibendes und rein philosophisches Interesse" abzusprechen. Demgegenüber gebühre ihr „mehr ein temporelles und lokales", da sie „in besonderer Beziehung ( . . . ) zu den Hauptmomenten der bis auf Kant in Europa herrschenden Philosophie" stehe. 33 In leicht verklausulierter Form gibt Schopenhauer damit zu verstehen, daß Kant eine partikulare, historisch und geographisch im Abendland situierte Gestalt des Bewußtseins zum theoretischen Vernunftgebrauch, zur Metaphysik überhaupt hypostasiert und einer Kritik unterzieht, die — was die Widerlegung des für den Theismus zentralen, ontologischen Gottesbeweises anbelangt — 31 W W V I, 683 32 w w v I, 684
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nicht einmal des begrifflichen Instrumentariums bedurft hätte, das die Transzendentalphilosophie bereitstellt. 34 Vernichtender kann ein Urteil über das Pensum, das Kant in der transzendentalen Dialektik absolvierte, nicht ausfallen. Weit davon entfernt, die Metaphysik überhaupt oder die Naturanlage zu einer wissenschaftlichen Metaphysik aus der Zurückführung in ihre Bedingtheit durch die innere Verfassung der Vernunft gerechtfertigt und kritisiert zu haben, bleibt die transzendentale Dialektik Schopenhauers Einschätzung zufolge in einem christlichen Eurozentrismus gefangen. Dessen Suggestionen ausgesetzt, homogenisiere Kant jene disparaten und heterogenen Untersuchungsverfahren und -gegenstände, die seit der Spätantike unter das Wort ,Metaphysik' fallen, kurzschlüssig zum Begriff der Metaphysik überhaupt und setzt das unter ihm Befaßte mit einer noch unkritisierten Vernunft gleich, die theoretisch in Gebrauch genommen wird. Damit wird nach Schopenhauers Ermessen die Tatsache abgeblendet, daß diese Vernunft auch und gerade als Objekt der transzendentalphilosophischen Kritik einen historischen Index auf der Stirn trägt. Rein philosophisch kann das Interesse für die Befunde der transzendentalen Dialektik also deshalb nicht sein, weil Kant in Wahrheit nicht die, sondern bestenfalls eine Vernunft kritisiert hat. An dem Einwand, den Schopenhauer gegen die Kantische Konzeption des theoretischen Vernunftgebrauchs erhebt, läßt sich eine auffällige Verwandtschaft mit seinem Einspruch gegen Kants Konzept der praktischen Vernunft kenntlich machen. Dort hatte er herausgestellt, daß der kategorische Imperativ in Wahrheit ein hypothetischer sei, mithin kein unbedingter, wie Kant meinte dargetan zu haben, sondern ein von empirischen Prämissen abhängiger. 35 Folglich fand Schopenhauer den Universalitätsanspruch von Handlungsnormen, den Kant durch eine am Postulat der Widerspruchsfreiheit ausgerichtete, formale Ethik garantieren wollte, empfindlich verletzt. Nach demselben Muster stellt Schopenhauer den Universalitätsanspruch in Frage, mit dem Kants Antwort auf die Frage ,wie Metaphysik überhaupt möglich ist?' auftritt. Neuerlich sucht Schopenhauer in 34
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„Was nun die Ausführung betrifft, so war zur Widerlegung des ontologischen Beweises des Daseins Gottes gar noch keine Vernunftkritik vonnöten, indem auch ohne Voraussetzung der Ästhetik und Analytik es sehr leicht ist, deutlich zu machen, daß jener ontologische Beweis nichts ist als ein spitzfündiges Spiel mit Begriffen ohne alle Überzeugungskraft. Schon im Organon des Aristoteles steht ein Kapitel, welches zur Widerlegung des ontotheologischen Beweises so vollkommen hinreicht, als ob es absichtlich dazu geschrieben wäre". W W V I, 685 Zu Schopenhauers Kritik des ethischen Formalismus vgl. Hans Ebeling, Sind alle ,kategorischeri Imperative tatsächlich nur hypothetisch? in: ders., Freiheit, Gleichheit, Sterblichkeit, Stuttgart 1982, 1 0 9 - 1 3 1 .
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den formalen Bestimmungen des theoretischen Vernunftgebrauchs eine anonym gebiiebene Dependenz von empirischen Prämissen aufzudecken. Sein Angriffspunkt ist Kants Explikation des theoretischen Vernunftgebrauchs im Ausgang von der „logischen Maxime", es sei „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden" (KdrV, Β 364). Diese als subjektive Regel des Denkens eingeführte Forderung kann nach Kant allein dadurch in ein „Principium der reinen Vernunft" transformiert werden, daß „man annimmt: wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten)" (KdrV, Β 364). Es ist diese Annahme, die jene zunächst bloß logische Vorschrift in das oberste Prinzip der reinen Vernunft verwandelt. Aus ihm entwickelt Kant dann unter Hinzuziehung der den drei Kategorien der Relation zugeordneten Urteilsformen den Gegenstandskatalog der metaphysica specialis. Derart wird die Seele als Thema der rationalen Psychologie, die Welt als Thema der Kosmologie und Gott als Thema der natürlichen Theologie hergeleitet. Schopenhauer bezweifelt nun, daß die „drei Unbedingten, auf welche nach Kant jede Vernunft, ihren wesentlichen Gesetzen folgend, geraten muß" 36 , tatsächlich aus der in ausschließlich formaler Deskription erfaßten Vernunft deduzierbar sind. Um definitiv auszumachen, ob die Themen der speziellen Metaphysik, als da sind: Gott, Seele und Welt, „auch ohne Offenbarung aus der Entwicklung jeder Vernunft hervorgehen müßten als ein dem Wesen dieser selbst eigentümliches Erzeugnis", hält er „die historische Untersuchung" für unabdingbar. 37 Sie soll das Problem entscheiden, inwiefern Kulturen, für deren Selbstverständigung insbesondere das Alte Testament ohne Belang war, „wirklich zu jenen Begriffen gelangt seien". 38 Nun genügt Schopenhauer ein flüchtiger Seitenblick auf den Buddhismus, die Religion, welche „auf Erden am zahlreichsten" vertreten ist und die „durchaus keinen Theismus enthält" 39 , zum Beweis, daß dies nicht der Fall ist. Man braucht also lediglich kulturgeschichtliche Fakten zur Kenntnis nehmen, um Kants Behauptung zu entkräften, daß die Gegenstände der metaphysica specialis „aus der Natur der Vernunft notwendig entspringen". 40 Der Grund, auf den Kants transzendentale Dialektik die Metaphysik überhaupt zurückführt, ist also in Wahrheit eine geschichtlich gewachsene 36 W W V
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und im Fond der europäischen Tradition sedimentierte Vorurteilsstruktur. Ohne sich davon Rechenschaft abzulegen, hat Kant sie unter der irreführenden Bestimmung, Natur der Vernunft zu sein, zur transzendentalen Bedingung der Metaphysik überhaupt promoviert. Allein eine vom historischen Sinn untangierte Metaphysikkritik konnte nach Schopenhauers Urteil einer solchen Verwechslung aufsitzen. Seine Metakritik der transzendentalphilosophischen Metaphysikkritik gipfelt daher in der These, Kants kritisierende Herleitung der metaphysica specialis stilisiere Kontingenzen der europäischen Kulturgeschichte zu transhistorischen Grundsätzen des theoretischen Vernunftgebrauchs. Zwar konzediert Schopenhauer, diese Kritik habe der theistischen Metaphysik den Todesstoß versetzt, doch weigert er sich, die Destruktion des Theismus für die irreversible Kritik der Metaphysik überhaupt zu erachten. Daß es kardinales Prinzip der Vernunft sei, zu jedem gegebenen Bedingten „auch die Totalität der Bedingungen, mithin auch das Unbedingte, dadurch jene Totalität allein vollzählig wird" 41 , zu postulieren, behauptet ein Kant, der, irregeführt von undurchschauten Präjudizien, „die Vernunft selbst zum Sophisten" 42 macht. So führt genau die Tugend, die Hegels Auseinandersetzung mit Kant an dessen transzendentaler Dialektik feierte, daß sie nämlich die notwendig dialektische Natur der sich selbst übersteigenden Verstandeserkenntnis dargetan habe 43 , Schopenhauer dazu, Kants gerade ob seiner Formalität geschichtlich induzierten Begriff von Vernunft ineins mit seinem verkürzten Begriff von Metaphysik zu verwerfen.
VI. Schopenhauers Stellungnahme zur transzendentalen Dialektik erklärt, warum er Kants Deduktion der Metaphysik überhaupt ablehnt. Sie basiert auf einem die Vernunft als Vernunft definierendem Prinzip, dessen geschichtliche Abkünftigkeit Schopenhauer meinte enttarnt zu haben. Kants Begriff von Metaphysik überhaupt war deshalb in einem doppelten Sinne unterbestimmt. Er hat einen Begriff von Vernunft zur Voraussetzung, den Schopenhauer nur als den Begriff einer im abendländischen Theismus situierten Vernunft akzeptiert und leitet aus ihm einen Begriff von Metaphysik ab, der folglich kein transzendentallogischer, sondern der empirische Begriff einer spezifischen Gestalt von Metaphysik ist. Kants Ansinnen, 41 WWV I, 646 42 WWV I, 654 43
Vgl. etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), Hrsg. F. Nicolin u. O. Pöggeler, Hamburg 7 1969, § 11, Anm., S. 44.
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die Metaphysik überhaupt aus einem Prinzip der Vernunft abzuleiten, ist jedoch nicht deshalb als gescheitert zu betrachten, weil er etwa das falsche Prinzip als Deduktionsgrund in Anschlag gebracht hätte. Schopenhauer hat sich vielmehr davon überzeugt, daß ein solches Prinzip nicht zu Gebote steht. Folglich kann die Metaphysik gar nicht im transzendentallogischen Verfahren einer Deduktion kritisiert werden, die zugleich den Grund ihrer Möglichkeit sichtbar macht. Auch die mit einer solchen Deduktion verbundene Hoffnung, notwendige Gegenstände des theoretischen Vernunftgebrauchs isolieren zu können, erscheint Schopenhauer überzogen. Als einzigen Anhaltspunkt der Frage, wie Metaphysik überhaupt möglich ist, will er das kontingente Faktum zugestehen, daß menschliche Individuen, die sich der Grundlage ihrer Moralität zu vergewissern suchen, an eine andere Ordnung als die der Natur glauben. So kann die Problemstellung Kants nur durch die Frage erneuert werden, was die Menschen eigentlich zu diesem Glauben veranlaßt. Sie muß sich also des „dem Menschen allein" eigenen „Bedürfnis einer Metaphysik'"^ annehmen. Da Schopenhauer in diesem Bedürfnis zugleich das Artmerkmal erkennt, das die Menschheit als natürliche Species von anderen Arten in der scala naturae unterscheidet, wird letztinstanzlich die philosophische Anthropologie begründen, warum Metaphysik überhaupt möglich ist. Als Kind der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts knüpft die philosophische Anthropologie, was ihren Grundbegriff anbelangt, an die auf Aristoteles zurückgehende Definition an, derzufolge der Mensch das animal rationale ist. Diesen Definitionsvorschlag modifiziert Schopenhauer. Er plädiert, wie bereits angemerkt, dafür, den Menschen als animal metaphysicum zu bezeichnen. Man könnte meinen, Schopenhauers Neudefinition reiße einen im Grunde belanglosen Wortstreit über die Frage vom Zaune — was ist der Mensch? Dann wäre die nach wie vor gültige Antwort jenes gerupfte Huhn der Cyniker, das sich nach einem kurzen Flug im Garten der Akademie wiederfand. Doch Schopenhauers Kritik am Gattungsbegriff der Tradition ist kein Schattengefecht um Intensionen. Die traditionelle Definitionsofferte überprüft Schopenhauer, weil er das verwendete Attribut nicht mehr als differentia specifica anerkennen kann. Daß Rationalität die Eigenschaft bezeichne, welche die Menschheit mit hinreichender Bestimmtheit von der nächst höheren Gattung unterscheide, provoziert seine Skepsis. Der Zweifel beruft sich sowohl auf begriffsgeschichtliche, wie auf gnoseologische Bedenken. Die begriffsgeschichtlichen Einwände bringt Schopenhauers Hinweis zum Ausdruck, daß ratio, „wenn von einer Geisteskraft gebraucht", zu44
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meist „die eigentlich theoretische Vernunft" gemeint habe. 45 Theoretisch wird die Vernunft nach Schopenhauer in Gebrauch genommen, wenn „die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigt, auf das Handeln der Denkenden keine Beziehung" 4 6 haben. In dieser Bedeutung kann ratio indes kein die Gattung insgesamt kennzeichnendes Merkmal sein, denn nach Schopenhauers aristokratischem Geschmack sind lediglich „sehr wenige Menschen" zum theoretischen Vernunftgebrauch befähigt. Soll die gesuchte Definition sich also nicht an der Majorität der Gattungsmitglieder vergehen, verbleibt als alternativer Kandidat die Rationalität im Sinne des praktischen Vernunftgebrauchs. Und tatsächlich erklärt Schopenhauer, daß die Vernunft „in fast allen Menschen ( . . . ) eine beinahe ausschließlich praktische Richtung" nehme. Allerdings hat sich, wie Schopenhauer erinnert, in der Geschichte der philosophischen Terminologie zur Bezeichnung dieser zweiten Art von Vernunftgebrauch „das lateinische Wort ,prudentia' " eingebürgert. Ihm sagt eine Etymologie Ciceros, die Schopenhauer besonders am Herzen liegt, nach, daß es dem zusammengezogenen pro videntia entstamme. Akkurate Begriffsgeschichte würde folglich den Vorschlag begünstigen, die Gattung Mensch als die der animalia prudentes zu definieren. Diese Definition des Menschen als eines klugen Tieres könnte der von Schopenhauer bemühten Dignität philosophischer Termini ebensosehr Rechnung tragen, wie seiner Überzeugung, daß „dieser praktische Gebrauch der Vernunft das eigentliche Vorrecht" ausmache, „welches der Mensch vor dem Tiere hat". 4 7 Jedoch erregt auch diese Definition Schopenhauers Mißfallen. Würde die Menschheit als die Species der klugen Tiere definiert, wie Nietzsche es in der Abhandlung Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne dann wirklich tun sollte 48 , wäre die von seinem Erzieher explizit eingeräumte Eventualität der theoretischen Ingebrauchnahme von Vernunft definitorisch ausgeklammert. Zu einer solchen Ausgrenzung ist Schopenhauer nicht gewillt. Die eingetretene Schwierigkeit besteht also darin, daß Schopenhauer einerseits das in der Tradition kanonisierte Attribut ablehnt, andererseits am alternativen Klugheitsprädikat bemängelt, es verallgemeinere den praktischen Vernunftgebrauch in einem Umfang, der sich an der Minorität derer versündigt, die ihre Vernunft auch theoretisch gebrauchen. is 46 47 48
I, 694 Ebd. Alle Zitate WWV I, 694 „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden." Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Hrsg. G i o r g i o Colli u. Mazzino Montinari, München/Berlin/New York, 1980, Bd. I, S. 874.
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Weder — so stellt sich Schopenhauer die Sache dar — sind alle Menschen Theoretiker, noch ist jedes kluge Tier ein theoretischer Kopf. Die gesuchte Definition droht also jeweils auf Kosten einer Ausgrenzung deutlich zu werden, deren Rechtfertigung Schopenhauer vermißt. Überdies, und damit treten die erkenntnistheoretischen Vorbehalte gegenüber der traditionellen Definition auf den Plan, ist nicht einmal jedes kluge Tier ein Mensch. Vielmehr lassen sich kognitive Leistungen beobachten, die zweifellos von handlungsbestimmendem Einfluß sind, ohne jedoch Fähigkeiten menschlicher Lebewesen zu sein. Fassen wir den praktischen Vernunftgebrauch vorläufig als das Vermögen auf, Wahrnehmungsobjekte zu Motiven von Handlungsvollzügen zu machen, dann liegen unabweisbare Evidenzen dafür vor, daß „alle Thiere Verstand haben, selbst die Unvollkommensten: denn sie alle erkennen Objekte, und diese Erkenntnis bestimmt als Motiv ihre Bewegungen". 4 9 Dem beschriebenen Sachverhalt gewinnt Schopenhauer die Einsicht ab, daß keine Theorie der Verstandestätigkeit zur Feststellung der humanen Species innerhalb der Hierarchie natürlicher Arten in der Lage ist. Den Verstand in krasser Mißachtung empirischer Daten zu einem Vermögen erklärt zu haben, das den Menschen vom Tier unterscheide, kreidet Schopenhauer der rationalen Psychologie als einen Irrtum an, der überdeutlich den verschwiegenen Anthropozentrismus ihrer Untersuchungen offenbart. Diesem Präjudiz hält Schopenhauer die These entgegen, der Verstand sei „in allen Thieren und Menschen der nämliche" und „überall" durch „dieselbe einfache F o r m " bestimmt: „Erkenntnis der Kausalität, Übergang von Wirkung auf Ursache und von Ursache auf Wirkung, und nichts außerdem". 5 0 Die von Schopenhauer behauptete Ubiquität und Uniformität der Verstandeserkenntnis im gesamten Bereich der animalischen Natur hat den Gedanken zur Folge, daß die Artdifferenz zwischen Mensch und Tier allein im Rahmen einer Klärung des Begriffs praktischer Vernunft bestimmt werden kann. Die phänomenale Grundlage, auf die Schopenhauers Anthropologie diese Klärung stützen wird, war bereits aufgetaucht. Denn im emphatischen Einvernehmen mit Cicero hatte Schopenhauer festgestellt, providentielle Handlungen seien der empirische Beleg dafür, daß Vernunft praktisch in Gebrauch genommen wird. Nur die Wesen, deren Handlungen in Voraussichten gründen, haben praktische Vernunft. Sie sind unter allen Tieren die wahrhaft klugen Tiere. Selbstverständlich ist, daß die qua Providentia eröffnete Bezugnahme eines bewußten Organismus auf die Wirklichkeit nicht primär diejenige momentaner Aufmerksamkeit für etwa49
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ige Umweltgegenstände ist, sondern umgekehrt alles instantané Aufmerken aus einer im wörtlichsten Sinne zu verstehenden Vor-Sicht folgt. Wird jetzt nach den kognitiven Bedingungen providentieller Handlungsvollzüge gefragt, also danach, welche Erkenntnisleistungen für eine Praxis unterstellt werden müssen, in deren Anlage die Antizipation zukünftiger Zustände von Umwelt und Selbst eingehen, so kann ausgeschlossen werden, daß der Verstand solche Leistungen erbringt. Denn ein Verstand, der gegebene Empfindungsdaten nach der Kausalrelation schematisiert, verfahrt nicht antizipatorisch, sondern präsentistisch. Die den Verstand in Schopenhauers Gnoseologie beherrschende Zeitdimension ist die in allen Erkenntnistheorien mit der Gegebenheitsweise von Empfindungsdaten verbundene, also die Gegenwart. An sie ist der Verstand gleichsam versklavt. Aus dieser Versklavung befreit den Menschen seine Fähigkeit zur Begriffsbildung. Diese Fähigkeit nennt Schopenhauer Vernunft. Sie ist das Vermögen, Prädikate zu bilden und zu projizieren. Folglich kann nur ein Wesen, das Vernunft und mithin Begriffe hat, sich von der Gegenwart befreien, Erinnerungen festhalten und Erwartungen formulieren. Solche Erwartungen machen Handlungen zu providentiellen Handlungen, was bedeutet, zu Tätigkeiten, die mißlingen können, weil die Erwartungen, die ihnen zugrunde lagen, falsch gewesen sind. Daher ist einer Praxis, die in Vernunft gründet, die Möglichkeit des Scheiterns essentiell. Wenn enttäuschte Erwartungen aber ein konstitutives Phänomen providentieller Handlungsvollzüge sind, dann ist menschliche Praxis, die sich über das Ausbleiben erwarteter Handlungsfolgen verwundert, insofern metaphysikträchtig, als die Metaphysik mit der Verwunderung anhebt. Denn für Schopenhauer „besteht die eigentlich philosophische Anlage zunächst darin, daß man über das Gewöhnliche und Alltägliche sich zu verwundern fähig ist, wodurch man eben veranlaßt wird, das Allgemeine der Erscheinung zu seinem Problem zu machen". 5 1 Jede dieser Verwunderungen wiederholt eigentlich aber nur die Urszene der Metaphysik, der das metaphysische Bedürfnis entstammt. In ihr „wundert" sich der Mensch „über sein eigenes Dasein". 5 2 Zu dieser primordialen Verwunderung kommt es, weil er im Gegensatz zu allen anderen Lebensformen im Bereich der animalischen Natur allererst bemerkt, daß er ist. Seine Fähigkeit, sich erkennend zur Unmittelbarkeit seines natürlichen Seins verhalten zu können, bestimmt ihn zum Mängel51 WWV II, 207 52 w w v II, 206
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wesen, dessen Blick die „Weisheit der Natur" 5 3 verloren hat. Denn das Objekt seiner Reflexion begreift er nicht. Daß der Mensch aber im ursprünglichen Selbstverhältnis, wo er seines Daseins inmitten einer Welt und zugleich ihr als Ganzer gegenüber gewahr wird, ohne Verständigung ist, macht ihn der Metaphysik bedürftig. Sie wird ihm als Schopenhauersche sagen, daß seine Verwunderung in Wahrheit die des inneren Wesens der Natur gewesen ist, welches „beim Eintritt der Vernunft, also im Menschen zum ersten Male zur Besinnung" kommt und sich lediglich seiner bedient, um in Erfahrung zu bringen, „was es selbst sei". 5 4
53 54
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D R A G A N STOJANOVIC
Metaphysik und Die Brüder
Karamasow
„ W a r u m ist alles, w a s es n u r gibt, so d u m m ? . . . "
Die Frage nach der Metaphysik ist selbstverständlich eine ausgesprochen philosophische. Auch die Frage nach dem Ende der Metaphysik bleibt immer noch vor allem für die Philosophen anziehend und interessant, wird von manchen sogar als brennende Frage angesehen, die zwangsmäßig einem jeden Denkenden als dringend zu lösende oder wenigstens zu erörternde erscheint. Der Philosoph ist dann nicht mehr unbedingt „Metaphysiker", er darf es sogar nicht mehr sein, wenn er philosophisch denken bzw. dasjenige, was die authentische philosophische Herausforderung darstellt, auf entsprechende Weise behandeln will. Wie immer man auch die postmetaphysische oder nicht-mehr-metaphysische Situation des Denkens bezeichnet, bleibt für das Durchdenken der Welt im Ganzen und für das Analysieren des Denkens über die Welt immer noch die Philosophie in einer neuen Sicht zuständig. Das bedeutet wohl nicht, daß sich das Problem des Endes der Metaphysik nicht auch außerhalb der Philosophie stellt oder zeigt. Vor allem in der Kunst läßt sich dieses Problem aufweisen. Wenn es sich um dieses Problem in einem literarischen Kunstwerk handelt, sollte die philosophische Analyse von einer Auslegung des Ganzen des Werkes und der Verhältnisse in ihm ausgehen, bzw. durch eine Interpretation, die die künstlerische Besonderheit und den spezifischen Status des Werkes berücksichtigt, vermittelt werden. Oder ganz einfach gesagt: die an und für sich für die Philosophie interessanten Ideen oder Sachverhalte in einem literarischen Kunstwerk lassen sich nicht philosophisch korrekt interpretieren, wenn sie direkt als solche behandelt werden; korrekt können sie verstanden und gedeutet werden, indem man ihrer Rolle im Entstehen (d. h. im interpretativen Entfalten im Verstehen) des Sinnes des WerkGanzen Rechnung trägt. Das bedeutet meistens auch, daß das überhaupt philosophisch Relevante in einem literarischen Kunstwerk mit dem spezifischen künstlerischen Wert des Werkes und seiner ästhetischen Wirksamkeit zusammenzusehen und aus dieser Verbindung heraus zu deuten ist. Das gilt auch für die Problematik des Endes der Metaphysik, sollte sie in einem literarischen Kunstwerk feststellbar sein.
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Dragan Stojanovic
Nicht überflüssig scheint es zu bemerken, daß die Philosophen oder die an der philosophischen Seite der „schönen Literatur" Interessierten üblicherweise direkt die „Ideen" oder was sie sonst für sich brauchbar finden „anpacken", ohne die erwähnte Vermittlung, die von der grundsätzlichen kontextuellen Bedingtheit der Ideen und ihrer Bedeutung im literarischen Kunstwerk ausgeht und auf ihr beruht, durchzuführen. Das läßt sich nicht durch die Ungeduld oder mangelnde Selbstbeherrschung der philosophisch orientierten Interpreten der Literatur erklären. Die Frage ist eher methodologisch und prinzipiell: Gibt es in der Literatur „Ideen" oder andere philosophisch relevante Sachverhalte, deren Sinn kontextfrei und unabhängig vom Eingefügtsein in das Ganze des Werkes besteht? Unsere Antwort ist negativ: Nur indem man dieses Eingefügtsein aller (auch „philosophischer") Elemente in das Werk beachtet, versteht und als schon so-und-so im Werk strukturiert oder komponiert beurteilt, versteht man auch jenen Sinn, der die Grundlage für die philosophische Interpretation darstellt und die Loyalität dem Werk in seiner Besonderheit gegenüber beim Deuten ermöglicht. Geht es um die Frage des Endes der Metaphysik, gilt es, erstens die Art und Weise, wie diese Frage in der dargestellten „Welt" des betreffenden Werkes erscheint, zu identifizieren; zweitens die Bedeutsamkeit dieser Problematik innerhalb dieser „Welt" zu bestimmen (womit vor allem ihr Einfluß auf das Verstehen des Werkes und nicht etwa die Rekonstruktion der Weltanschauung des Schriftstellers aufgrund des Werkes oder das Testen seines Gedankensystems oder kreativen Vermögens gemeint ist); sowie drittens die Positionen zu sehen, von welchen aus darüber erzählt wird, und die Gestalten, deren Schicksale davon berührt, beeinflußt oder gar ganz bestimmt werden, — möglicherweise auch (wenn die Grundkonzeption des Werkes dies erfordert) im kontrapunktischen Einklangs- oder Dissonanz-Gesamt. Wir werden hier versuchen zu zeigen, wie die „Metaphysik" und ihr Ende in Dostojewskijs letztem Roman Die Brüder Karamasowx als die für die daran interessierte Philosophie relevante Frage künstlerisch in Anspruch genommen und im Gestalten der dargestellten „Welt" ausgenutzt worden ist. Dieser Absicht soll die Erörterung von zwei Fragen dienen: 1) Wann sind wir berechtigt, von Metaphysik zu sprechen, bzw. wann ist eine Überzeugung, die Welt sei so-und-so, metaphysisch und woran mißt man das?
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Fjodor M. Dostojewski], Die Brüder Karamasow, aus dem Russischen übertragen von Hans Ruoff und Richard Hoffmann, München 1980
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2) Zu welcher Überzeugung kommt man in dieser Hinsicht beim Lesen von Die Brüder Karamasowi 1. Als metaphysisch soll jene Konzeption bezeichnet werden, die hinter dem empirisch feststellbaren Chaos und der „Unsinnigkeit" der wirklichen und gesellschaftlichen Welt eine sinnvolle und sinngebende Ordnung vermutet. Diese Ordnung kann entweder so verstanden werden, als ob sie auch das empirische Chaos der Welt letzten Endes doch irgendwie auf sinnvolle, wenn auch für jeden einzelnen Menschen vielleicht nicht unbedingt immer sichtbare Weise reguliert, so daß aus dieser Regulation für die Menschen verbindliche Normen, die in etwas Unbedingtem und Festem wurzeln, hervorgehen — etwa Moral, Religionskodex etc.; oder aber so, daß die metaphysisch ordnenden Kräfte nicht der wirklichen Welt gelten und in sie nicht intervenieren, sondern, die „diesseitige" Welt sich selbst überlassend, erst im Jenseits, dann aber für alle Ewigkeit, auf eine mehr oder weniger erklärte, manchmal ganz geheimnisvolle Weise, alles, was den Menschen, seine Seele, seinen Geist betrifft „in Ordnung bringen", den Sinn des Daseins und des Seins überhaupt erhellen und alles hienieden Geschehene als notwendig oder „gut" rechtfertigen. Beide genannte Verständnisse der metaphysischen Ordnung sind in verschiedenen Varianten möglich, je nachdem, wie man die Instanz Gott dabei sieht. Bei aller Verschiedenheit zahlreicher metaphysischer Konzeptionen impliziert („enthält") jede von ihnen Gott, das Göttliche oder das Gotthafte. Selbst die pantheistische Konzeption, die vom Gott als Schöpfer am weitesten entfernt ist, enthält diesen Aspekt. — Insofern zeigt sich die Frage nach dem Ende der Metaphysik auch als die Frage, die das Nichtsein, das Verschwinden oder den Tod Gottes thematisiert und problematisiert. Diese Frage erschöpft sich weder in der immoralistischen Veränderung oder Überwindung bestimmter ethischer oder religiöser Kodizes, noch in der atheistischen Leugnung der Existenz Gottes, aber beides stellt wichtige Aspekte dieser Frage dar. In diesem Zusammenhang mögen hier jene metaphysischen Vorstellungen als besonders interessant erscheinen, die die Möglichkeit einer diesseitig-paradiesischen, göttlich verklärten, also hiliastischen Regulation der menschlichen Dinge beinhalten, wobei das „ewige Leben" nach dem Tod weder unbedingt ausgeschlossen noch vorausgesetzt werden muß und ein Geheimnis bleibt. In der metaphysisch verstandenen Welt müßte es feste, „endgültige" Wahrheit geben. Wie man die Wahrheit auch immer definiert, ob sie — als metaphysisch feststehende — dem einen oder dem anderen „Erkenntnisorgan" zugänglich ist, ob sie von einem Erkenntnisvermögen (etwa
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vom Verstand) in der Welt gefunden oder von einem anderen (etwa von der Vernunft) für die Welt als Ganzes erst konstituiert und konstruiert wird; ob sie die Erscheinung oder das Wesen der Dinge und Prozesse betrifft, usw. — wichtig ist, daß das Bestehen der Wahrheit immer ein Grundkennzeichen der metaphysisch konzipierten Wirklichkeit ist. Wenn es sich aber um die Frage nach der Metaphysik und ihrem Ende in einem literarischen Kunstwerk handelt, darf nicht übersehen werden, daß sich der Leser außerhalb der im Werk dargestellten „Welt" befindet, was ihm die Einsicht in das, was in ihr wirklich geschehen und was die eigentliche Wahrheit der vorgetragenen Ereignisse, Verhältnisse und Schicksale ist, im Prinzip möglich macht, während sich der Mensch als erkennendes Subjekt freilich immer nur innerhalb der eigenen Welt befindet und nie eine extramundane Position einnehmen kann. Ob die wirkliche Wahrheit der Ereignisse, Verhältnisse und Schicksale auch für die in der geschöpften „Welt" eines literarischen Kunstwerkes agierenden Personen selbst so erreichbar ist, wie sie sich dem außenstehenden Leser darbietet, der diese „Welt" betrachtet und überschaut, ist natürlich eine ganz andere Frage. Die Wahrheit kann für die Menschen der fiktionalen „Welt" des Werkes undurchsichtig, unerreichbar oder in der totalen Relativität verschiedener Standpunkte aufgelöst bleiben, obwohl der Leser weiß, worin sie besteht — so wie sie für die Menschen in der wirklichen Welt undurchsichtig oder aufgelöst bleibt und nur für eine außerweltliche (also eben /metaphysische) Instanz, wenn eine solche bestünde, feststellbar wäre. Ein wichtiges, vielleicht entscheidendes Kriterium bei der Beurteilung, wie es mit der Metaphysik in einem literarischen Kunstwerk steht, ist, wie sich der Schriftsteller zur Möglichkeit der Wahrheit, ihrer Feststellung und Übertragung in seinem Werk stellt. Es ist oft der Fall, daß die sozusagen offiziellen Aussagen eines Schriftstellers über diese Möglichkeit grundverschieden von dem sind, was aus der Interpretation seines Werkes hervorgeht. 2. Zu welcher Überzeugung in puncto Metaphysik kommt man, wenn man Die Brüder Karamasow liest? Das Problem der Metaphysik und ihres Endes konstituiert sich in diesem Roman in verschiedenen Formen der Frage nach der Existenz Gottes und der damit verbundenen Frage des Immoralismus. Gibt es Gott? — diese Frage ist nicht nur der Zentralpunkt in den Gesprächen der Hauptpersonen, sondern stellt auch die entscheidende Motivationsquelle ihrer Handlungen dar. Die daraus abgeleitete Frage ist, wie der Mensch die Konsequenz einer atheistischen bzw. immoralistischen Entscheidung und das, was mit ihm los ist, wenn er versucht, sich an die eventuelle Wahrheit eines radikalen Atheismus anzupassen,
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ertragen kann. Die Annehmbarkeit der Gotteswelt, die Rolle des Verbrechens und die Wiedergutmachung der Schuld durch die Strafe, die Anerkennung der traditionellen Werte und ihr Leugnen, die (Un-)Möglichkeit der Verwerfung des Gewissens und die Folgen der Versuche, es trotzdem zu tun — das alles sind spezifische Aspekte, die Dostojewskij aus jenem Zentralmotiv entwickelt, um die dargestellte Welt konkret und plastisch zu machen. Für die Metaphysikfrage in Die Brüder Karamasow sind die Beziehungen zwischen Iwan, Smerdjakow und dem alten Fjodor Pawlowitsch Karamasow, ihrem Vater, und die Geschichte über das schwerste Verbrechen: Vatermord, die diese drei Figuren zu einer außerordentlich komplexen thematischen Einheit verbindet, am wichtigsten und stehen daher im Zentrum unserer Aufmerksamkeit. In diesem Dreieck identifizieren wir die Hauptthemen: Gott, Gewissen, Moral (besonders durch die Frage, ob alles erlaubt sei, bestimmt), deren Entfaltung in der „Welt" des Werkes ihr metaphysisches Problem konkret macht. Dieses Konkretisieren ist eben jenes Entscheidende, das das Verstehen des Werkes leitet und richtet. Diese thematische Einheit wird durch die Beziehungen der erwähnten Helden zu Aljoscha und Dmitrij Karamasow ergänzt und abgerundet. Damit sind auch die Positionen genannt, die die für das MetaphysikProblem relevanten Perspektiven bestimmen. Die thematische Einheit Sosima-Markel vervollständigt jene Perspektive, die Aljoschas Berührung mit den anderen öffnet. Die Debatten darüber, ob es Gott gibt und welche Konsequenzen für die Moral aus der negativen Antwort auf diese Frage folgen, machen ein wichtiges Moment der Geschichte vom wollüstigen Vater und seinen Söhnen aus, aber als noch wichtiger erscheinen die praktischen Entscheidungen der Akteure dieser Geschichte, das In-der-Welt-sein jeweiliger Ideen darüber, die das Handeln des einen oder des anderen Helden inspirieren und lenken. Für die Entscheidung, um was für eine „Welt" es sich in diesem Werk handelt und ob sie als eine metaphysische bezeichnet werden darf, ist die Beziehung zwischen den Ideen und der Tat entscheidend. Verschiedene Beziehungen, die wir in dieser Hinsicht in ihm sehen können, zeugen von verschiedenen Möglichkeiten der menschlichen Natur und erschweren die endgültige Antwort darauf, wie es eigentlich in dieser „Welt" um Gott und den Menschen bewandt ist. Das zwingt auch dazu, die gegenseitige Beeinflussung der Brüder abzuschätzen und in der Interpretation eine Hierarchie der das Ganze des Werkes motivierenden und bildenden Taten und Täter zu bilden. Dabei wird zu sehen sein, daß auch die versäumten Taten, das Ausgebliebene, eine wichtige Rolle spielen.
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Das Dreiecks-Verhältnis zwischen Iwan, Smerdjakow und Fjodor Pawlowitsch, dem Vater, bildet die für unser Problem wichtigste Figurenkonstellation. Iwan ist der Anstifter, Smerdjakow — der Vollstrecker, Fjodor Pawlowitsch — das Opfer. Aber Iwan ist kein einfacher, selbstbewußter Anstifter, er ist ein übermäßig stolzer Mensch, der aber auch das Gewissen tief in seinem Wesen hat, zusammen mit mörderischen Gedanken und Wünschen. Auch Smerdjakow ist kein einfacher Vollstrecker, kein bloßes „Instrument" des Mordes, wie etwa Fedjka in den Dämonen. Eine halbreife Idee, warum er töten darf (und vielleicht sogar soll), hat er nämlich auch. Fjodor Pawlowitsch ist kein unschuldiges Opfer, vieles in ihm konnte die Verachtung und den Haß in seinen Söhnen hervorrufen. Vieles im Roman dient dazu, den Vatermord irgendwie doch verständlich zu machen. Das sieht man am besten am Ende des Romans, wo der Prozeß gegen den als Mörder angeklagten und für die Anwesenden allem Anschein nach tatsächlich schuldigen Dmitrij geführt wird. Der Leser weiß, daß Dmitrij den Mord nicht begangen hat, obwohl er es hätte tun können und in bestimmten Momenten, von Eifersucht heimgesucht, in seiner Wut auch gewollt hat. Er weiß auch, daß wenige von den in der „Welt" des Romans dargestellten Figuren an Dmitrij s Unschuld glauben, was auch ganz „logisch" ist: alles spricht gegen ihn. Daß fast alle aufgrund der festgestellten Tatsachen auf Dmitrijs Schuld schließen (oder, vom verschiedenen Gerede geführt, ganz alberne Vermutungen hegen, wie z. B. Frau Chochlakowa), bedeutet nicht viel, wenn es um die Wahrheit geht: Die Logik dieser Roman-Welt, die zu in ihr Wahrscheinlichem oder gar „Sicherem" führt, genügt weder für die polizeiliche bzw. gerichtliche noch für die existentielle Wahrheit, in der die Seele eines Menschen, seine Motive und sein Wille, wirkliche Entscheidungsgründe, Entscheidungen selber und vollzogene Taten zu Tage träten. Die Welt ist in dieser Hinsicht undurchsichtig. Die Transparenz besteht im Prinzip für den Leser, der gegenüber der fiktiven Welt des Romans eine „extramundane" Stellung hat. Bei der ersten Untersuchung führt der Staatsanwalt folgenden Dialog mit Dmitrij: „Na, sehen Sie, alle, alle bezeugen es. Das Wort alle bedeutet doch etwas." „Nichts bedeutet es", erwidert Dmitrij, „ich habe geschwindelt, und alle anderen haben es mir nachgeschwätzt." „Warum hatten Sie so nötig zu schwindeln', wie Sie sich ausdrücken?" „Das weiß der Teufel. Aus Prahlerei vielleicht... daß ich so viel Geld verjubelt hatte..." (660). Für Dostojewskij ist das Mißverständnis, nicht nur der Anderen, sondern auch von sich selbst, konstitutiv für die Kommunikation und im „normalen" Menschenleben unausweichlich, es sei denn, die Liebe macht einen „seherisch" sowohl im Verstehen der Anderen als auch im Selbstverstehen.
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Die einzigen, die Bescheid wissen, sind der Vollstrecker des Verbrechens selbst, also Smerdjakow, und ganz am Ende Iwan, der aber einen langen Weg braucht, bis er die Wahrheit darüber, was in der Tat geschehen ist, durch die Gespräche mit Smerdjakow entdeckt, womit sich ihm zugleich sein eigenes Wesen und seine fatale Anstifter-Rolle erhellt. Diese Erkenntnis treibt ihn in den Wahnsinn; die Wahrheit kann er nicht aushalten. Das, was in ihm dies unmöglich macht, kann das „Gewissen" genannt werden. Seine „theoretischen" Überlegungen, daß es Gott nicht gibt, die Smerdjakow so viel bedeuteten, und die logische Gewißheit, die er aus ihnen gewann, sind nicht imstande, ihn von den eigenen Verantwortungsund Schuldgefühlen zu schützen, sobald das Theoretische (als logische immoralistische Konsequenz aus seinem Experimentieren mit dem Atheismus) zum praktischen Verbrechen wird, das sich trotz aller Verschleierung am Ende ganz klar als auf ihn selbst als Inspirator bezogen erweist. Im Moment der endgültigen Entdeckung der Wahrheit, worum es eigentlich mit ihm und Smerdjakow ging, beruft er sich, ohne viel zu überlegen und eine geläufige Redewendung benutzend, auf Gott·. „,Gott ist mein Z e u g e . . . ' Iwan hob die Hand . . . .vielleicht war auch ich schuldig, vielleicht hatte ich wirklich insgeheim den Wunsch, daß . . . mein Vater sterbe, aber ich schwöre dir, ich bin nicht so schuldig, wie du glaubst, und ich habe dich vielleicht überhaupt nicht angestiftet!' " (836). Das bedeutet nicht, daß Iwan plötzlich „glaubt"; das gleich darauf folgende Gespräch mit dem „Teufel" in seinem Fiebertraum zeigt, zusammen mit all dem, was wir schon von ihm wissen, daß seine ganze Situation zu kompliziert ist, als daß man einfach sagen könnte, er glaube oder er glaube nicht. Aus der angeführten Aussage allein kann man natürlich noch nichts schließen. Sicher ist aber, daß Iwan, indem er die für ihn schreckliche Wahrheit über den Vatermord einsieht und keine entschuldigenden Umstände mehr anführen kann, spontan zu Gott als derjenigen Instanz greift, die die menschliche Wahrheit und dadurch die Wahrheit überhaupt zu verbürgen vermag. Dieser „Griff zeigt sich als ein Griff ins Leere. Ob „Gott" in Iwans Ruf nur ein in solchen Situationen geläufiges Wort ist, ein „geläufiger" Begriff, von dem sich selbst ein Immoralist noch nicht losgelöst hat, oder eine wirklich seiende Instanz bezeichnen soll, die ihr Sein nicht bloß der Gewohnheit der bisherigen Menschheit verdankt, das läßt sich nicht aus der Deutung der Iwan-Gestalt allein beantworten. Klar ist aber auf jeden Fall die Tatsache, daß der Mensch nicht imstande ist, die im Verbrechen sich zeigende Wahrheit des Immoralismus und Atheismus ohne die (meistens unseligen) Folgen auf sich und in Kauf zu nehmen. Die weitreichende Frage dieses Romans ist: Warum?
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Smerdjakow ist absichtlich aus der Welt geschieden, ohne ein Wort der Wahrheit oder irgend eine Spur zu ihr zu hinterlassen. Iwan ist in seiner Rede vor den Geschworenen der Wahrheit am nähesten, aber er spricht im Delirium, und niemand kann ihn wirklich verstehen, geschweige denn die Angelegenheit im Ganzen durchschauen. Die Wahrheit über das Zentralereignis im Roman ist für die Menschen in der uns gezeigten „Welt" vollkommen unglaubwürdig, in das lautlose Geheimnis von Smerdjakows Selbstmord versunken oder aber „wahnsinnig" und als solche, wenn man nüchtern urteilt, nicht ernst zu nehmen. Das Publikum, und besonders die „fortschrittlichen Damen", erwarten einen befreienden Rechtsspruch, aber selbst sie glauben meistens, daß Dmitrij den Mord begangen hat. Dostojewskij verspottet zwar durch Dmitrijs Reaktionen die in dieser Welt herrschende, akzeptierte und einzig zu akzeptierende Logik als unzulängliche Logik des „Claude Bernard", also als positivistische Logik, die das Irrationale im Menschen außer Acht läßt, obwohl es gerade das Wesentliche in ihm ist. Dmitrij weiß überhaupt nicht, wer Claude Bernard ist — er nennt ihn zuerst auch Karl — aber gerade deshalb kann er ihm zu einem sozusagen privaten Symbol für alles Dumme, Oberflächige, Routinenhafte und reduktionistisch Verfälschende beim Schließen über die menschlichen Dinge und Schicksale werden. Diese Versinnbildlichung durch Dmitrij hat auch etwas Komisches an sich. Das, was er nur von ungefähr gehört und verstanden hat, verfestigt sich in seinem Bewußtsein als ein ziemlich wichtiger Maßstab in seinem Überlegen über die Dinge und die anderen Leute. So ist zum Beispiel selbst sein Advokat für ihn „ein weicher Spitzbube, ein Mensch aus der Hauptstadt! Ein Bernard!" (787) Muß nicht wenigstens der Anwalt an die Richtigkeit der eigenen Sache, d. h. an die Wahrheit seines Klienten glauben? „Nur glaubt er mir nicht für eine halbe Kopeke. Er glaubt, ich sei der Mörder, stell dir das nur vor — ich sah es gleich" (787), sagt Dmitrij zu Aljoscha. — Wie man auch immer die Wirkung dieser Verspottung der „Bernardhaften" Logik versteht, die Tatsache, daß sich die Wahrheit kaum durchsetzen kann, selbst wenn sie sich, etwa in Iwans wahnsinniger Rede zeigt, bleibt bestehen. Daß es auch solche gibt, die — wie Aljoscha und Gruschenka — die Wahrheit über den Vatermord „fühlen" und, von diesem Gefühl geleitet, überzeugt sind, daß Dmitrij nicht getötet hat, ändert nichts an dieser Feststellung. (Ihre Überzeugung schadet Dmitrij in den Augen der Geschworenen nur — der Staatsanwalt weiß sich über Wert und Charakter solchen im bloßen Gefühl gegründeten Vertrauens mit Erfolg lustig zu machen. Katerina Iwanowna schwankt von einer Überzeugung zur anderen. Haß-Liebe, Eifersucht, Stolz, Eingebildetheit, Beleidigtsein, Hysterie machen es ihr unmöglich, etwas darüber, was
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Dmitrij wirklich getan hat und was nicht, endgültig als wahr zu nehmen. Ihr Benehmen vor Gericht zeigt deutlich, daß nicht einmal sie selbst feststellen kann, was sie im jeweiligen Augenblick für wahr hält. Die Darstellung der Veränderungen in ihren Aussagen gehört zu den Höhepunkten künstlerisch ausgeführter psychologischer Studien bei Dostojewskij.) — Die Wahrheit hat also nicht sehr viel Chancen in dieser „Welt", die uns als Leser vorgeführt wird. Iwan, der Anstifter, ist kein Atheist. Zwar sagt er in einem Gespräch, das vor Fjodor Pawlowitsch (aber auch vor Smerdjakow!) geführt wird, Aljoscha widersprechend mehrmals, daß es Gott nicht gibt. Das prägt sich tief in Smerdjakows Seele ein. In einem anderen, viel wichtigeren Gespräch jedoch, das er unter vier Augen mit Aljoscha über die „letzten Dinge" führt, sagt er auch folgendes: „vielleicht lasse auch ich Gott gelten" (316). Für Iwan ist nicht so sehr die Existenz Gottes problematisch, wohl aber die Möglichkeit, die von ihm geschaffene Welt zu akzeptieren. Iwan lebt in einer bis in die letzte Tiefe seines Wesens reichenden Ambivalenz eines Deisten, der zu einem Antitheisten werden muß, da er eine jede Theodizee mit überzeugenden Argumenten kritisiert und verneint, und, selbst unter der Voraussetzung, daß es zum letzten Gericht in der Weltgeschichte kommen werde, das eigene Teilnehmen an dem Tag, wo sich eben alles als notwendig erweisen wird, ablehnt. Sein „Wesen", seine „These" (318) liegt darin, die mit so unsinnigem Bösen, wie es das Leiden der unschuldigen Kinder ist, ausgefüllte Welt nicht akzeptieren zu wollen. Selbst wenn einmal „die ganze kränkende Komik der menschlichen Widersprüche" (318) verschwinden sollte, erklärte sich Iwan nicht bereit, in der am Ende offenbarten Wahrheit das Gute und das Sinnvoll-Entschuldigende zu sehen und zu bejahen: „Und wenn die Leiden der Kinder dazu verwendet wurden, jene Summe von Leiden vollzumachen, die für den Kauf der Wahrheit notwendig war, so behaupte ich im voraus, daß die ganze Wahrheit einen solchen Preis nicht wert ist. . . . Ich will keine Harmonie, aus Liebe zur Menschheit will ich sie nicht. Ich will es lieber bei den ungerächten Leiden belassen. Lieber belasse ich es bei meinem ungerächten Leiden und bei meinem ungestillten Zorn, selbst wenn ich nicht recht haben sollte. Auch hat man die Harmonie zu hoch bewertet, es geht über meine Verhältnisse, soviel für den Eintritt zu zahlen . . . Nicht Gott lehne ich ab, Aljoscha, sondern ich gebe Ihm nur ehrerbietigst die Eintrittskarte zurück." (331) Den Anspruch darauf geltend machen, daß man außer der offenbarten endgültigen Wahrheit bleibt, selbst dann, wenn man „nicht recht haben sollte" zeugt von großem Stolz auf das eigene Gerechtigkeitsverständnis. Die alttestamentarische Moral der Rache kann nicht helfen. „Doch was
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soll mir die Rache, was nützt es mir, wenn die Peiniger in die Hölle kommen, was kann die Hölle wiedergutmachen, wenn die Kinder schon zu Tode gequält sind? Und was ist das für eine Harmonie, wenn es noch eine Hölle gibt? Ich will verzeihen und umarmen, ich will nicht, daß noch gelitten wird." (330) — Aber gerade das ist unmöglich. Es geschehen Ereignisse, die weder verziehen werden können noch verziehen werden dürfen. Die in jeder Hinsicht unbegrenzte Bereitschaft Jesu Christi, alles, und zwar nicht nur für sich selbst sondern — wie Aljoscha auch bemerkt (332) — für alle Menschen zu verzeihen, wird durch die von Iwan erdichtete Legende vom Großinquisitor in Frage gestellt und als im konkreten menschlichen Leben unplausibel erklärt, da das Ideal Christi zwar durch die Botschaft der Liebe sehr anziehend, aber wohl vollkommen unrealisierbar ist, weil es die menschlichen Kräfte übersteigt. Das Glück könne nur die Unfreiheit und die despotische Autorität, die der Großinquisitor bietet, bringen. — Die Unordnung und die Unsinnigkeit (vor allem die Unsinnigkeit des Leidens) sind unausrottbar und irreparabel. Iwans Stolz wird klarer, wenn man berücksichtigt, daß er sich vor der, wie er selber sagt, „Zentripetalkraft" ekelt, die es „ungeheuer viel auf unserem Planeten" (310) gibt. Diese Kraft ist jener Wille zum Leben, der „auch entgegen aller Logik" (310) besteht. Er besteht „selbst wenn ich nicht ans Leben glaubte, den Glauben an die geliebte Frau und die Ordnung der Dinge verlöre, wenn ich zu der Überzeugung käme, alles sei im Gegenteil ein ungeordnetes, verfluchtes und vielleicht teuflisches Chaos" (310), und hängt mit den „eigenen ersten Jugendkräften" (311), die man liebt, zusammen. Aber auch die Wirkung dieser „Zentripetalkraft", die die Anhänglichkeit an alles Irdische bedeutet, will er nur bis zu seinem dreißigsten Jahr dulden, danach könne er sich das nicht gefallen lassen und werde „den Kelch sicherlich wegwerfen" (310). Wenn sich jemand, wie sein Vater, „bis zum siebzigsten Lebensjahr nicht von seinem Kelch losreißen" (312) und „auf seiner Wollust ebenfalls wie auf einem Fels" (312) stehen will, dann findet Iwan eine solche Treue der Erde „gemein": „Dann schon lieber nur bis dreißig: so kann man noch einen , Schimmer von Vornehmheit' wahren" (312). Iwan spricht auch vom „Schimmer der Vornehmheit" mit einer gewissen (Selbst)Ironie. Aber er kann trotzdem nicht ganz auf diese Vornehmheit verzichten und sich selbst über die verzweifelte und irreparable Unordnung der Welt betrügend, nur noch im „Gemeinen", d. h. Irdischen leben, — mit vollem Bewußtsein übrigens, daß Europa nur noch der „teuerste, allerteuerste Friedhof" (311) ist, wenn es um das „leidenschaftliche Glauben an die Tat, an die eigene Wahrheit" (311) geht. Die für ihn entscheidende Frage, die er nicht nur Aljoscha sondern auch sich selbst stellt, ist also: „Soll man das Leben mehr lieben
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als den Sinn des Lebens?" (311). Aljoscha antwortet prompt und überzeugend, das Leben solle man unbedingt vor der Logik lieben, erst dann werde man auch den Sinn begreifen. Das „Zentripetale" in dieser Liebe ängstigt ihn nicht und ist für ihn, im Gegensatz zu Iwan, kein Grund allgemeiner Weltverurteilung. Das ist für ihn so klar, weil er glaubt. Für jemanden, der wie Iwan meint, nur der „rasende, vielleicht unanständige Lebensdurst" (310) könne die Verzweiflung an der Unsinnigkeit der Welt besiegen, bleibt diese Frage jedoch bestehen. Wenn man die Abwesendheit Gottes und das Ausbleiben seiner heilbringenden Interventionen in die Welt erkennt, steht man vor folgender Wahl: Entweder muß man in dieser gottverlassenen Welt den gemeinen zentripetalen Willen zum Leben in sich selbst verneinen und den „Kelch wegwerfen" (was das auch immer bedeuten mag), um auf diese Weise dem — „zentrifugal", man könnte auch sagen metaphysisch bestimmten — „Schimmer der Vornehmheit" und der nicht begreifbaren (vielleicht auch nicht bestehenden) Logik zu huldigen; oder aber nicht nur die sinnlose Welt verurteilen, sondern Gott als Schöpfer und die Idee des ewigen Lebens nach dem Leben in dieser Welt abwerfen und die atheistische und folglich immoralistische Konsequenz ziehen. Im zweiten Fall übernimmt der Mensch, der verstanden hat, daß es Gott nicht gibt, seinen Platz ein; für ihn ist „alles erlaubt". Er muß nicht warten, bis alle das begriffen haben; — auch bevor alle Menschen diese einfache Wahrheit eingesehen haben (dies kann ja „in Anbetracht der eingewurzelten menschlichen Dummheit" (860) tausend Jahre dauern), kann derjenige, der es verstanden hat, Gottes Platz einnehmen. Dmitrij teilt die Ergebnisse dieser Spekulation Iwans nicht, und das rettet ihn vor den seelischen Folgen, die Iwan und Smerdjakow nicht meiden können. Dmitrij „polemisiert" mit dem atheistischen Gedanken: „Dann, wenn es Ihn nicht gibt, ist der Mensch der Herr der Erde, des Weltengebäudes. Prächtig! Nur wie wird er ohne Gott tugendhaft sein? . . . Denn wen wird er dann lieben, der Mensch nämlich? Wem wird er dankbar sein? Wem wird er Hymnen anstimmen?" (786). Iwan aber steht vor der tragischen Wahl. Sie ist tragisch, da sie von ihm nie endgültig getroffen werden kann, was übrigens gleich am Anfang des Romans Starez Sosima gut in ihm spürt und sozusagen in voraus mitteilt. Iwans überzeugende Kritik der Theodizee und seine in ihr herangezogene Argumentation könnten ihn vielleicht von einem Antitheisten, der „ehrerbietigst die Eintrittskarte zurückgibt", zu einem Atheisten machen, der sich um die Ordnung der Welt nicht viel kümmert. In diesem Sinn kann man auch verstehen, warum er zu Dmitrij sagt: „Fjodor Pawlowitsch, unser Papa, war ein Ferkel, aber er dachte richtig" (787), da der von ihm gehaßte und verabscheute „Papa" ein richtiger, vollkommener
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Atheist ist. Atheismus als Weltanschauung oder bloßes „Theoretisieren" über die Welt wäre für Iwan sogar ein möglicher positiver Ausweg aus der durch die Ungewißheit, ob es Gott und die Unsterblichkeit gibt oder nicht, entstandenen grundsätzlichen Fragwürdigkeit der menschlichen Lage. Das Positive einer solch entschiedenen Option wäre die Vision des MenschGottes 2 , wie die atheistische bzw. post-göttliche Periode im Leben der Menschheit aussehen wird, an die der „Teufel" Iwan, nicht ohne Ironie, wie an etwas, woran er selber noch vor kurzem gedacht hat, erinnert: „Der Mensch, der stündlich und schon ohne Grenzen die Natur besiegt, durch seinen Willen und durch seine Wissenschaft, wird dadurch stündlich einen so hohen Genuß erleben, daß es ihm alle frühere Wonnen der himmlischen Genüsse ersetzt. Jeder erkennt dann, daß er völlig sterblich ist, ohne Auferstehung, und nimmt den Tod stolz und ruhig wie ein Gott an sich. . . . Die Liebe befriedigt dann nur den Augenblick des Lebens, allein schon das Bewußtsein der Augenblicklichkeit des Lebens wird dessen Feuer so sehr verstärken, wie er früher in der Erwartung der jenseitigen und unendlichen Liebe verschwamm" (860). „Nun, und so weiter und so weiter in dieser Art. Allerliebst!" — kommentiert diese Vision der „Teufel". Der definitive Tod und eine ganz neue Qualität des Lebens auf Erden — das wäre die neue, große atheistische Klarheit und das nüchterne, durch die Liebe immerhin verklärte Hinnehmen des Daseins. Damit kämpft Iwan innerlich noch. Aber für die immoralistische Konsequenz, wenn sie „praktiziert" wird und ihn in diese „Praxis" als Anstifter mit einbezieht, ist er nicht stark genug, und alle Ideen, die in diese atheistisch-immoralistische Richtung führten, zeigen sich letzten Endes als des Teufels zweideutigbetrügerische, spöttische Einflüsterungen. Iwans Persönlichkeit muß sich sogar schizophren in „ihn" selbst und den „Teufel" teilen, damit er überhaupt dazu fähig werden kann, sich selbst die Wahrheit über sich selbst zu gestehen: „Übrigens hat er viel Wahres über mich gesagt. Ich selber hätte mir das nie sagen können." (865), sagt Iwan zu Aljoscha über den „Teufel". Die ambivalenten Ideen Iwans können nicht in eine definitive (und in diesem Sinn, als vollzogene, auch eindeutige) Tat übergehen. Er kann Smerdjakow beeindrucken und sozusagen „induzieren", ihn halb bewußt-halb unbewußt, durch das Gesagte aber auch durch das Verschwiegene, durch das bloß Angedeutete und durch das, was er tut, aber auch nicht tun will, zum Verbrechen verleiten, er kann sich vieles einfallen lassen und wünschen, aber weder kann er selber Vollstrecker sein noch ist
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Ähnlich in einer der Träumereien Wersilows aus dem Jüngling. Darüber siehe Dragan Stojanovic, Dostojewski und Thomas Mann lesen. Von der Notwendigkeit und Fragwürdigkeit des Deutens, Frankfurt a / M - B e r n - N e w York 1987, 61 ff.
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er imstande, seine Rolle als Anstifter auszuhalten, als er sich endlich dieser gewiß wird. Angst und Wahnsinn müssen dann auftreten. Es zeigt sich das Teuflische einer solchen Position. Sie ist unerträglich, und der „Teufel", die „teuflische" Seite von Iwans Wesen, formuliert das folgendermaßen: „Aber das Schwanken, aber die Unruhe, aber der Kampf des Glaubens mit dem Nichtglauben — das ist ja manchmal eine solche Qual für einen gewissenhaften Menschen, wie du einer bist, daß es besser wäre, sich gleich aufzuhängen . . . Ich führe dich abwechselnd zwischen Glauben und Ungläubigkeit, dahin, und damit verfolge ich meinen besonderen Zweck. Das ist eine neue M e t h o d e . . . " (855) Aber der Höhepunkt der Unerträglichkeit und der Qual (im Wahnsinn) ist die Frage, woher das Gewissen überhaupt kommt. Iwan hat es nötig, Aljoscha zu überzeugen, daß „er" dies gesagt hätte: „ ,Das Gewissen! Was ist das Gewissen? Ich mache es selber. Warum also martere ich mich? Aus Gewohnheit. Aus der menschlichen Gewohntheit der ganzen Welt seit siebentausend Jahren. So wollen wir es uns abgewöhnen und Götter werden!'" (865). Dostojewskij wollte in diesem Roman ganz klar zeigen, wo sich der Berührungspunkt von Atheismus und Immoralismus befindet und wie er zu verstehen ist. Daß das Gewissen nur ein Vorurteil ist, daß sein Wirken als innere Selbstbestrafung (bis zur Schizophrenie in den zu Strafenden und den Strafenden) aus lauter „Gewohntheit" kommt, ist nicht neu. Dostojewskij hat dieses Thema in früheren Werken variiert und manches, was mit voller Radikalität eine solche oder im wesentlichen verwandte Auffassung zuspitzt, findet man auch viel früher vor Dostojewskij. 3 Der Wille ist das, was entscheidet. Man kann und soll sich alles erlauben, wenn man das einsieht und davon ausgeht — die Tugend hat nichts Objektives, Objektivverbindliches hinter sich, das alles ist, würde man sagen, nur Gewohntheit und Vorurteil. Dostojewskij aber ist wichtig zu zeigen, daß sowohl derjenige, der so denkt wie Iwan, als auch derjenige, der so handelt wie Smerdjakow, keinesfalls wie „Gott" sein kann. Der „Teufel" spottet: „Nicht solche Adler werden über die Erde kreisen!" (867) Aber auch derjenige, der nicht tut, was er tun müßte, und sich dem Verbrechen nicht widersetzt, kann die Sanktion des Gewissens nicht vermeiden. Iwans Nicht-Handeln ist genauso wichtig wie Smerdjakows Tat — im seelischen Bereich, wo über die Schuld entschieden wird, empfindet Iwan selbst das so. In diesen „siebentausend Jahren" ist eine Regulation der Verhältnisse in der 3
So sagt etwa Shakespeares Iago: „Virtue! a fig! ,tis in ourselves that we are thus, or thus. Our bodies are our gardens, to the which our wills gardeners; so that if we will plant nettles or sow lettuce, set hyssop and weed up thyme, supply it with one gender of herbs or distract it with many, either to have it sterile with idleness or manured with industry, why, the power and corrigible authority of this lies in our wills." Othello, I, 3
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menschlichen Welt zustande gekommen, die interiorisiert worden ist und sich im Menschen so verfestigt hat, daß sie als etwas von Natur Gegebenes erscheint. Zu stark und zu tief eingewurzelt ist sie, als daß man sie durch das bloße freie Experimentieren mit (etwa atheistischen) Gedanken, durch das Wirken des „freien Geistes", wegwerfen könnte. Allzu viele Leute sind auf verschiedene Weisen an das Netz dieser Regulation in der Gesellschaft innerlich und äußerlich gebunden, als daß man leichthin aus ihrem Bereich in die Sphäre, in der „alles erlaubt ist" übergehen könnte. In Iwan ist auch die Idee aktiv, daß „in Anbetracht der eingewurzelten menschlichen Dummheit" nur wenige die atheistisch-immoralistische Wahrheit verstehen werden, daß er sozusagen auserwählt ist, sie zu sehen und zu begreifen. Sein Schicksal in der „Welt" des Romans sollte man daher so verstehen, daß schon eine solche Spekulation gefährlich ist und nicht erst durch sie angeleitetes Handeln. Iwan selbst ist an das Netz der Normen gebunden, durch das das Leben des Anderen geschützt ist. Zwar können diese Normen unter bestimmten Umständen (z. B. im Krieg) auch relativiert werden, aber das Leben des eigenen Vaters ist durch die normative Regulation der Welt und der Kultur, in der ein Werk wie der Roman Die Brüder Karamasow entstehen und verstanden werden kann, so geschützt, daß in ihr einfach kein Zusammenhang denkbar ist, in dem der Vatermord unter bestimmten Umständen doch zulässig erscheinen könnte. (Ob es in der Geschichte Kulturen und normative Regulationen der menschlichen Verhältnisse gegeben hat, in denen auch der Vatermord unter Umständen gerechtfertigt werden konnte, oder ob eine solche Regulation, wenn auch schwer, wenigstens im Prinzip denkbar ist, mag hier dahingestellt bleiben — Iwans Ruf im Delirium: „Er hat ihn ermordet, und ich stiftete ihn zu dem Mord a n . . . Wer wünschte nicht den Tod seines Vaters?..." (908) deutet an, daß es in der Tiefe des Menschen auch Schichten gibt, die eventuell auch solcher „Normierung" entsprächen — klar ist allerdings, daß in einer solchen Kultur Die Brüder Karamasow als eine spezifische künstlerische Artikulation dieses Problems nicht möglich wären; dieser Roman ist nur in der christlichen Tradition möglich). Wenn schon die Spekulation dieser Art gefahrlich ist, kann Iwans Fall auch aus der Perspektive von Nietzsches Empfehlung, einige Sprossen zurückzusteigen, betrachtet werden: „Die eine, gewiß sehr hohe Stufe der Bildung ist erreicht", schreibt Nietzsche, „wenn der Mensch über abergläubische und religiöse Begriffe und Ängste hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die lieben Englein oder die Erbsünde glaubt, auch vom Heil der Seele zu reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er auch noch mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden. Dann aber ist eine rückläufige Bewegung
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nötig: er muß die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muß erkennen, wie die größte Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde." 4 Gerade bei Iwan besteht im Roman die Spur einer solchen „rückläufigen Bewegung". In der burlesken Atmosphäre, in der Fjodor Pawlowitsch „seiner ständigen Gewohntheit gemäß über Religion und Glauben" (178) spottet, sagt Iwan: „Dann gäbe es überhaupt keine Zivilisation, wenn man Gott nicht erdacht hätte" (187) und, was für Fjodor Pawlowitsch besonders wichtig ist: „Auch Kognak gäbe es nicht" (187). Dessen möchte Fjodor Pawlowitsch keineswegs beraubt werden; wenn es ohne Gott Kognak nicht gegeben hätte und gäbe, ist er gerne bereit „diese ganze Mystik" (186) in Kauf zu nehmen. Wenn das Beseitigen dieser „Mystik" aus Rußland und die atheistische Wahrheit ihn und seine Lebensweise bedrohen sollten, zeigt er eine albernbetrunkene, fast fröhliche Bereitschaft, sich mit der „Mystik" abzufinden: „Na, wenn es so ist, dann mag dein Klösterlein, Aljoschka, stehnbleiben. Und wir gescheiten Leute werden im Warmen sitzen und Kognak trinken" (186). — In Iwan zeigt sich, daß er nicht nur „die historische Berechtigung" der religiösen Vorstellungen begreift, indem er die Gesamtzivilisation (samt Kognak) mit ihnen in Verbindung setzt; seine Lage, nachdem er von Smerdjakow als Anstifter, ja als der „nach dem Gesetz . . . wahre Mörder" (830) bloßgestellt wurde, zeigt, daß er das Wirken der „siebentausend Jahre" langen Geschichte als eine Inertion anerkennen und auch in sich selbst als aktuell erkennen muß: Zusammen mit den Worten über die große neue Freiheit von den „gewohnten" Rücksichten, spricht der „Teufel" die Worte aus, die das alles als Lüge und Gaunerei (861) bezeichnen. Die Opposition gegen den atheistisch-immoralistischen Gedanken kommt nicht von „außen", er ist Gegenstand eines Dialogs, der in Iwan selbst stattfindet, und wird von ihm selbst und vom „Teufel" sowohl bejaht als auch bestritten. Nietzsche sagt, man solle „über die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen". 5 Aber selbst dieses Hinausschauen in eine Welt, in der die Metaphysik überwunden ist, bleibt nicht ohne praktische Folgen. Die Ideen sind nicht harmlos, die Spekulation ist nicht unschuldig, sobald sie einen Ausdruck findet. Jede Idee findet nämlich ihren Smerdjakow, der sie „realisiert" — das ist die Tragödie der Geschichte. Wie wir jeden Tag sehen können, gilt das für Hegel, wie für Marx, Freud und viele andere. 4 5
M A 20: K G W IV, 2, S. 37 f. Ebd., S. 38
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Die soziale Hierarchie ist ein wichtiges Element der Regulation der menschlichen Verhältnisse. Wie groß die Rolle ist, die sie spielt, zeigt das Verhältnis zwischen Iwan und Smerdjakow. Smerdjakow braucht unbedingt Iwans Bescheinigung zu seiner Tat oder wenigstens dessen stillschweigende Hinnahme des Verbrechens, was praktische Bejahung und Einverständnis auch nach dem Mord bedeuten würde. Iwan als der sozial viel höher stehende, gebildetere und im Zynismus seines atheistischen „Theoretisierens" gewagtere imponiert Smerdjakow. Aber gerade dieser Lakai ist jener, der am besten von den dargestellten Personen analysiert und ausgerechnet hat, wie die Logik dieser durch die bestehenden Regulationsmechanismen geordneten Welt funktioniert. So hat er auch alles Nötige vorhergesehen, um von den menschlichen Gesetzen unbedroht zu bleiben. Nur in einem Punkt hat er sich verrechnet: Iwan ist schwach und kann die immoralistische Wahrheit in der Praxis nicht ertragen. Ob wir diese Schwäche Gewissen nennen oder das Gewissen Schwäche, ist für Smerdjakow gleichgültig. Ohne Iwans Zustimmung kann aber auch Smerdjakow die Früchte seines Verbrechens nicht „genießen". In seiner immoralistischen Logik ganz konsequenter Vollstrecker des Mordes, ist er auf einmal für Iwan gerade durch diese Konsequentheit ungeheuerlich und unerträglich geworden. Iwan hat Smerdjakow enttäuscht. Smerdjakow hat Iwan überrascht. Daraus ergibt sich der mit einmaliger Meisterhaftigkeit gezeigte Prozeß ihrer Ausgleichung. Die bisherige soziale, aber auch die intellektuelle Hierarchie wird durch diesen Prozeß irrelevant. In ihren drei Gesprächen schwindet in einem besonderen Sinn ihr Unterschied im Rang, und im dritten dieser Gespräche wird Smerdjakow klar überlegen. In jener Phase dieses Gesprächs, in der Smerdjakow noch glaubt, Iwan täusche nur vor, daß er nicht weiß, wer der eigentliche Mörder ist, spricht er „mit einem geringschätzigen Lächeln" (824) mit ihm, er starrt ihn sogar „nicht mit Verachtung, sondern fast mit einer Art Ekel" (825) an, um dann, als er sich wirklich überzeugt hat, daß Iwan in der Tat nicht begriffen hatte, diesem in seiner immoralistischen Nüchternheit und Selbstbeherrschung vollkommen und klar überlegen zu werden: „Damals waren Sie so kühn und sagten:,Alles ist erlaubt'; jetzt aber, wie sind Sie da erschrocken!" stammelt Smerdjakow erstaunt. „Wollen Sie nicht Limonade? Ich werde gleich welche kommen lassen. Limonade kann sehr erfrischen" (827 f.) In diesem Augenblick steht er durch den Greuel der Wahrheit, die er mitteilt, souverän über seinem ohnmächtigen „Lehrer", der dieser Wahrheit nicht gewachsen ist. Der enttäuschte Vollstrecker, der auf die eigene Bereitschaft, den schmutzigen Teil des (wie er, nicht ganz mit Unrecht meinte: gemeinsamen) Plans zu übernehmen stolz war, bietet seinem durch die Wahrheit völlig zermalmten Anstifter Limonade, die „sehr erfrischen" kann — in
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solchen Details zeigt sich die Größe Dostojewskijs als Schriftsteller. Die betrübende Macht, die Grenze des Verbrechens zu überschreiten ist in Smerdjakow auf ihrem Höhepunkt, deshalb spricht er in der nächsten Phase des Gesprächs über Iwans Zustand sogar „ohne jeden Spott, ja sogar als ob er Mitleid gefühlt hätte" (837). Das Zusammentreffen von zwei Immoralisten, dem „Theoretiker" und dem „Praktiker", wird zu einem Prozeß der Verwischung aller Unterschiede, die sonst in der selbstverständlichen Rangordnung bestehen, aller Vorzüge Iwans und Nachteile Smerdjakows. Iwan hat gelogen und nur zynisch geprahlt (was übrigens auch der „Teufel", also auch er selbst einsieht); Smerdjakow hat ihm geglaubt und sieht jetzt den Betrug ein. Iwan ist nur noch ein vor ihm zitterndes Wesen, das, anstatt die Idee ,Alles-ist-erlaubt', die er vertrat, zu verkörpern, jetzt im Gegenteil ihre faktische Unmöglichkeit „vertritt". Die Brüder Karamasoiv werden falsch gelesen, wenn man in Smerdjakow nur einen epileptischen Idioten sieht. Bei aller Enge seines Horizontes, aller Niederträchtigkeit seiner Natur (er lehrt die Kinder, die Hunde zu quälen) und seiner Behinderung durch die Krankheit, seine Herkunft und soziale Lage hat er, wenn auch durch Iwan beeinflußt, schon selber gedacht: „wenn es keinen ewigen Gott gibt, so gibt es auch keine Tugend, und man braucht sie dann auch gar nicht" (837). 6 Im Unterschied zu Iwan war Smerdjakow auch konsequent genug, diese Idee auch zu verwirklichen, und er steht auch dann zu ihr, als er merkt, daß er bei seinem „Lehrer" und Anstifter keine Bescheinigung finden kann. Der Lehrer ist von seinem Postament gefallen und Smerdjakow verliert so die letzte irgendwie doch positive Verbindung mit einem Anderen. Für ihn war alles in der Welt beleidigend, und er erwidert der Welt mit gekränktem Stolz, Verachtung und Haß. In Iwans immoralistischen Ideen sah er einen Ausweg auch für sich. Als sich aber gerade durch Iwan die Unglaubwürdigkeit dieser Idee als leitendes praktisches Prinzip gezeigt hat, will und kann er nicht mehr leben, der letzte Weg in die Welt ist abgeschnitten. Er gibt — wie das auch Judas tat — das Geld zurück, aber nicht, weil er, wie Judas, das Verbrechen bereut (vgl. Matt., 27, 3 — 5). Er bereut es nicht und hat nicht angefangen zu glauben (838). Seine Verzweiflung, die ihn aus der Welt treibt, ist eine Verzweiflung ohne Reue, nicht die Verzweiflung wegen der Reue. In ihm ist nichts „Zentripetales" Übriggeblieben, was ihn noch auf der Erde halten könnte, nachdem er die immoralistische Idee geleugnet sah. Diese Idee hatte ihm noch eine gewisse Logik und „Sinnhaftigkeit" versichern und ausgestalten können, die ihm das Leben vielleicht nicht gerade liebenswert aber doch noch möglich machten. Es zeigt sich aber, 6
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daß diese Idee in ihrem Ursprung, in Iwan, zerbricht, indem sie ihren „Schöpfer" zum Zerbrechen führt. So bleibt Smerdjakow ohne den letzten Ausweg, ohne (häßliche, haßwürdige) Welt und ohne „Idee" — es kommt ihm nicht vor allem auf das geplünderte Geld an. In diesem Sinne ohne irgendetwas zu bleiben, heißt Verzweiflung und den gewollten Tod. Smerdjakow ist aufgrund der akzeptierten immoralistischen Idee bis zum Letzten „logisch". So erklärt er z. B. Iwan alle „Vorteile" dieser Situation, in der nicht nur keinem von beiden Gefahr vor Gericht droht, sondern alles sogar so eingerichtet ist, daß Dmitrij verurteilt wird, wodurch Iwans Teil der Erbschaft wesentlich größer wird, da sie in diesem Fall nur mit Aljoscha geteilt wird. „Und wenn Sie dann Ihr Erbteil erhielten, konnten Sie mich das ganze Leben lang auch später belohnen, denn diese Erbschaft erhielten Sie ja doch durch mich und hätten im Fall einer Verehelichung Fjodor Pawlowitschs mit Agrafena Alexandrowna überhaupt nichts bekommen" (831). Gerade dieses „logische" Räsonieren ist für Iwan schrecklich und unerträglich, obwohl es nicht nur in diesem Punkt zynisch ist. Smerdjakow ist eine der seltsamsten Figuren der Weltliteratur. Am Ende ganz ohne die „Zentripetalkraft", die zum Leben verführt oder, selbst im Bösen, selbst ohne den „Schimmer der Vornehmheit", ohne Schönheit, Lust oder wenigstens Ausschweifung, zu ihm zwingt, aber auch ganz ohne die „Zentrifugalkraft", die das Fliehen in die chimärischen Bereiche der jenseitigen Ordnung und Sinn, oder wenigstens Trost, ermöglicht. Wenn Smerdjakow endlich Iwan erzählt, wie das alles geschah, sagt er in einem Augenblick: „ . . . nur hatte mich diese Gier (nach Geld — D. S.) schon ganz erfaßt, daß mir der Atem wegblieb" (832), aber danach, als er Iwan „verliert", bleibt von der Gier nichts übrig, er verzichtet auf das Geld und alles andere; die Wahrheit und damit den Ausgleichungsprozeß zu Ende zu treiben, ist ihm wichtiger. Nachdem er die an Iwan übergebenen Banknoten noch zum letzten Mal „etwa zehn Sekunden lang" (839) betrachtet, entscheidet er sich endgültig und verabschiedet sich von Iwan und damit auch von der Welt. „Leben Sie wohl!" (839)7 Es gibt 7
Es ist interessant, daß Iwan am Ende, beim dritten Gespräch, auf dem Tisch bei Smerdjakow „ein dickes Buch in gelbem Umschlag" (823) bemerkt, das der Lakai jedoch, wenigstens in diesem Augenblick, nicht liest. Wenn etwas später Smerdjakow die Limonade kommen lassen will, die in dieser schweren Stunde Iwan erfrischen soll, erfahren wir, daß es sich um das Buch „Worte unseres heiligen Vaters Isaak des Syrers" handelt (828): Gerade mit diesem Buch verdeckt Iwans Gesprächspartner die geplünderten dreitausend Rubel, damit sie die Dienerin nicht sieht. Woher dieses Buch bei Smerdjakow? — In der „Welt" des Romans begegnet der Leser ihm schon viel früher. Bevor die arme „Närrin Gottes" Lisaweta Smerdjastschaja Smerdjakow auf die Welt bringt, bekommt Grigorij einen kleinen Sohn, der mit sechs Fingern geboren wird. Niedergeschlagen durch diesen Umstand meint Grigorij, das K i n d solle überhaupt nicht getauft werden, da es ein
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nichts mehr, was ihn vom Selbstmord abzuhalten imstande wäre. Er ist ganz allein geblieben und die verblendende Idee „Alles-ist-erlaubt!' ist nicht mehr das, was sie ihm schien. Anstatt in die neue Welt, in der dem so wäre, tritt er in das Nichts, womit er die Wahrheit über das Hauptereig-
„Drache" sei und „in der Natur ... eine Verwechslung geschehen" sei (134). Als, trotzdem getauft, das Kind bald danach stirbt, fangt Grigorij — so wird uns erzählt — an, die heiligen Schriften zu lesen, darunter auch eine Abschrift der Worte und Predigten „unseres von Gott erfüllten Vaters Isaak des Syrers" (134); er „las beharrlich jahrelang darin, verstand fast gar nichts, schätzte und liebte aber dieses Buch vielleicht gerade deshalb am meisten" (134). Smerdjakow ist in der Nacht nach dem Begräbnis von Grigorijs sechsfingrigem Sohn geboren. Das Weinen des Kindes hört zuerst Grigorijs Weib Marfa, wobei sie denkt, ihr gestorbenes Kind weine und rufe sie. Nachdem er sein Kind begraben hat, steht Grigorij, von Marfa geweckt, auf und findet in der Gartenbadstube die sterbende Lisaweta und ihr gerade geborenes Kind. Er, der sich auch um die anderen Brüder Karamasow gekümmert hatte, bis sie herangewachsen waren, versteht dieses Kind als Ersatz für seinen Sohn, und in der Stunde seiner Geburt spricht er ein wichtiges, weitreichendes Wort über es aus. Er sagt zu Marfa: „Das Kind kommt aus Gottes Hand — als Waise ist es mit allen verwandt, mit dir und mir erst recht. Unser verstorbenes Söhnchen hat es uns geschickt, und es stammt von einem Teufelssohn und einer Gerechten. Nähre es und weine künftig nicht mehr." (140) Es wird sich herausstellen, daß auch dieser Nachkömmling eines „Teufelssohnes und einer Gerechten" gezeichnet ist; zwar nicht durch den sechsten Finger, aber durch die Krankheit, die sein Leben lang dauern und im entscheidenden Augenblick, bei der Ermordung Fjodor Pawlowitschs, und in der späteren Untersuchung eine große Rolle spielen wird. Darüber, ob dieser „Adoptivsohn" Grigorijs, der, wie auch sein „Adoptivvater", sein Leben als Diener bei Fjodor Pawlowitsch verbrachte, nach dem Mord und nachdem er das Haus verlassen hatte, dasselbe Exemplar jener „Worte und Predigten" Isaak des Syrers, das Grigorij „beharrlich jahrelang" gelesen hat, ohne etwas zu verstehen, mitgenommen hat (was möglich und wahrscheinlich zu sein scheint), oder ob es sich um ein anderes Exemplar desselben Buches handelt, von dem wir nicht wissen, wie es zu Smerdjakow gekommen ist, ist nichts gesagt. — Isaak der Syrer war ein Heiliger aus dem siebten Jahrhundert, der durch das einsame Leben in der Wüste seine Seele zu erlösen trachtete und in seinen Reden die Botschaft hinterlassen hat, Reue sei die „Mutter des Lebens", bis zum Tode gäbe es keine Grenze für die Reue, sie sei eigentlich die zweite Geburt und das Selige im Seligsein. — Wolke Dostojewskij von Ferne andeuten, Smerdjakow habe gerade aus diesem Werk Anregungen für seine „theologischen" Spekulationen bekommen, mit welchen er Iwan gefallen wollte, deretwegen er aber auch eine kräftige Ohrfeige von Grigorij bekommt, der mit diesem „Argument" Smerdjakows atheistische Argumentation bekämpft? Wie immer man diese Frage beantworten möchte, symptomatisch ist es, daß der Autor es angebracht fand, Smerdjakow das Geld, das Iwan endgültig überzeugt, wer der Mörder ist, gerade mit Isaaks Predigten verdecken zu lassen. Ob Smerdjakow nur in der physischen Nähe dieses Buches war oder vielleicht auch eine geistige Einsicht in seinen Inhalt erworben hat; — Reue gibt es in ihm bis zum Letzten keine. Über Grigorij wissen wir, daß er diese Buch gelesen hat, ohne es zu verstehen. Was Smerdjakow betrifft, können wir nur vermuten, daß er es vielleicht einmal gelesen hat; sicher aber ist, daß er sich den Sinn des Buches nicht zu eigen gemacht hat, daß er vielmehr daraus gerade die dem Geist dessen, was in ihm vertreten wird, entgegengesetzten Schlüsse gezogen hat. Jenes Rettende in der Reue, dieser „Mutter des Lebens", umschließt nicht auch Smerdjakow — das ist das, was uns Dostojewskij erzählt. Smerdjakow nimmt das Buch von den gestohlenen Geldpäckchen herunter, legt es beiseite, gibt das Geld Iwan zurück. Damit verzichtet er nicht nur auf das Geld, sondern auch auf das Leben, und bringt sich um.
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nis im Roman unzugänglich macht. Das ist die einzig mögliche Folge des Zusammenwirkens von eindeutigem Atheismus und aus diesem abgeleitetem Immoralismus. Fjodor Pawlowitsch Karamasow ist ein richtiger Atheist, aber kein richtiger Immoralist. Über Gott und das ewige Leben macht er sich lustig, er scheut nicht davor zurück zu lästern. Seine Hauptmerkmale sind das Possenhafte und das Egoistische, Habsucht, Ausschweifung und Schamlosigkeit. Aber in seinem „Immoralismus" ist er nicht radikal. Zwar schämt er sich überhaupt nicht seiner unwürdigsten und unverschämtesten Taten und Gedanken, er potenziert sogar das Bild von ihm als einem Clown und Hanswurst. Aber gleich am Anfang des Romans erfahren wir von ihm, daß es Situationen gibt, in denen er sich nicht kontrolliert: „Er wußte noch nicht recht, was er tun werde, doch er wußte, daß er sich nicht mehr in der Gewalt hatte und beim geringsten Anstoß sofort bis zur äußersten Grenze, bis zu irgendeiner Abscheulichkeit gehen werde — übrigens nur bis zu einer Abscheulichkeit, keineswegs jedoch bis zu einem Verbrechen oder einer verrückten Tat, für die ihn das Gericht bestrafen könnte. Dicht vor dieser Grenze wußte er immer an sich zu halten, und das setzte manchmal sogar ihn selber in Erstaunen" (121). Fjodor Pawlowitsch ist total „zentripetal", aber ohne jede Spur des Wunsches nach dem „Schimmer der Vornehmheit" in Iwans Sinne. Damit spottet er auch und wird dadurch Iwan noch ekelhafter. Er will so lange wie möglich leben und sich so lange wie möglich am Leben, und vor allem sexuell, ergötzen. Gerade das findet Iwan „gemein". Auch Dmitrij haßt ihn heftig: Der „zentripetale" Wunsch des Vaters, dem Sohn die Geliebte abzuringen, erklärt diesen Haß. In einem gewissen Sinn ist Fjodor Pawlowitsch auch Smerdjakows „Lehrer", besonders was den Haß gegen Rußland betrifft. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht seine Aussage „bei einem Gläschen Kognak": „Rußland aber ist eine Schweinerei. Mein Freund, wenn du wüßtest, wie ich Rußland h a s s e . . . das heißt nicht Rußland, sondern all diese Laster... doch am Ende auch Rußland. Tout cela c'est de la cochonnerie." (185) Smerdjakow ist übrigens derjenige, der die tiefere, wesentliche Ähnlichkeit zwischen Fjodor Pawlowitsch und Iwan sieht und feststellt, was Iwan selber nicht bestreitet. Aus Smerdjakows Perspektive wird dem Leser dieses komplizierte Verhältnis zwischen dem gehaßten Vater und dem ihm am nähesten stehenden, vom Haß erfüllten Sohn gezeigt. Wenn nicht nur Iwan den „Teufel" in sich trägt, sondern auch Fjodor Pawlowitsch, dann so, daß er selber darüber spöttisch sagt, es stecke vielleicht ein unreiner Geist in ihm, „wenngleich keiner von großem Kaliber" (59), während das „Teuflische" in Iwan, durch seinen Stolz fest verriegelt, in ihm verborgen
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bleibt und sich erst im tragischen Ausbruch als Wahnsinn äußert. Nicht unwichtig ist natürlich der Umstand, daß der mißtrauische Fjodor Pawlowitsch nur Smerdjakow traute. Dieses Vertrauen ist jener Riß, der immer eher im emotionalen als im intellektuellen Bereich ist, durch welchen das Böse der Welt sich durchdringt und den Menschen trifft. Der Spötter und Lästerer sah die Gefahr in Dmitrij, nicht mit Unrecht, aber die Möglichkeiten Smerdjakows haben sowohl er als auch Iwan unterschätzt. Die Gierde nach Gruschenka machte ihn nur für einen Augenblick unvorsichtig, aber dieser genügte Smerdjakow, seinen Plan des „vollkommenen Verbrechens" zu „aktivieren" und mit Erfolg durchzuführen. Fjodor Pawlowitsch ist das natürliche Ziel des Hasses, der mörderischen Gedanken, der verbrecherischen Handlung — nicht nur oder vor allem als Besitzer des Geldes, das auch die anderen beanspruchen oder für sich erwarten, sondern auch als das verunstaltete Bild des Vaters, der mit der eigenen Niederträchtigkeit prahlt und selbst mit dem eigenen Sohn um ein Weib kämpft. Als Instanz „Vater" ist Fjodor Pawlowitsch geschützt, und Dmitrij muß verurteilt werden. Aber niemand bedauert Fjodor Pawlowitsch — selbst bei Aljoscha ist nur eine Traurigkeit zu sehen, die Dmitrij, Iwan und den für sie düsteren Perspektiven, die sich mit dem Tode von Fjodor Pawlowitsch ergeben, gilt. Dmitrij ist ungezügelt und wüst, übermütig und leidenschaftlich, aber er ist kein Atheist und seine Disposition zum Verbrechen ist nicht immoralistischer Art. Wichtiger aber als sein Gewissen und sein (wenn auch auf eine komische Weise) ausgesprochen starkes Ehrgefühl ist bei ihm seine große Liebe für das Leben. Er liebt das Leben wirklich ganz spontan vor seinem eventuellen Sinn, sich um den Sinn eigentlich überhaupt nicht kümmernd. „Du wirst es mir nicht glauben, Alexej, wie sehr es mich jetzt zu leben verlangt, welche Sehnsucht, zu existieren und bewußt zu sein, gerade zwischen diesen kahlen Wänden in mir geboren wurde! . . . und es scheint mir, als hätte ich jetzt so viel von dieser Kraft, daß ich alles niederkämpfen werde, alle Leiden, nur damit ich mir jeden Augenblick sagen und verkünden kann: Ich bin! In tausend Qualen bin ich; wenn ich mich in der Folter krümme, bin ich! Wenn ich auf einer Säule sitze, so existiere ich doch; ich sehe die Sonne, und wenn ich die Sonne nicht sehe, so weiß ich dennoch, daß es sie gibt. Und wissen, daß es die Sonne gibt — das ist schon das ganze Leben." (785 f.) Dmitrij s Exaltiertheit muß zusammen mit seinen Exzessen gesehen werden. Diese Exzesse stehen in krassem und dauerndem Widerspruch mit dem, was er unter Ehre versteht. Er vergeht sich gegen die anderen (Snegirjow, Grigorij), aber er ist auch bereit, sich zu „korrigieren". Er erklärt sich sogar bereit, sich auch für die eigenen mörderischen Absichten
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bestrafen zu lassen, obwohl sie keine Realisation gefunden haben. In diesem Sinn möchte er „aus dem Schoß der Erde die tragische Hymne an Gott singen, bei dem die Freude ist" (785). Darin besteht auch der Hauptunterschied zwischen Iwan und Dmitrij. Er formuliert das selber, indem er sagt: „Iwan hat keinen Gott. Er hat eine Idee." (786) und: „Auch Iwan versteht das von der Hymne; er versteht es, aber er antwortet nichts darauf, er schweigt. Er glaubt nicht in die Hymne." (790) Iwan ist viel gebildeter als Dmitrij, aber die Bildung bedeutet nicht sehr viel, wenn es um dieses Verhältnis zum Leben geht. Iwan will auch „leben", es verlangt ihn sogar sehr nach Dmitrij s Verlobter Katerina Iwanowna, aber seine Haltung dem Leben gegenüber ist im allgemeinen doch negativ, vor dem „Zentripetalem" ekelt er sich — während Dmitrij, ähnlich wie sein Vater leidenschaftlich das Sinnlich-Irdische begehrt. Sein Charakter erlaubt es ihm kaum, die „Hymne" wirklich zu „singen", sich durch die Strafe zu läutern und sie aus einem Gefühl der Schuld für alle und alles auf sich zu nehmen. Das bleiben wahrscheinlich nur seine Träumereien. Aber gerade dieser Charakter rettet ihn vor der Gefahr, die Iwan bedroht und Smerdjakow vernichtet. Man kann nicht leben, wenn das Dasein für einen nur die „kränkende Komik" darstellt und alles, was ist, als ungerecht und beleidigend empfunden wird. Durch seine Helden wollte aber Dostojewskij in diesem Roman zeigen, daß es auch gute Gründe für einen solchen Blick in das Dasein gibt und daß man mit den eventuellen Gegen-Gründen wenig an dieser Einsicht ändern kann. Die Allbejahung des Daseins kommt unabhängig von den Gründen und aller (noch so überzeugender) Begründung zustande. Aljoscha ist das Beispiel eines Menschen, den nichts beleidigen kann. „Eine Kränkung trug er nie nach. Es kam vor, daß er schon eine Stunde später dem, der ihn gekränkt hatte, mit so vertrauensvollem und klarem Blick antwortete oder selber mit ihm ein Gespräch begann, als wäre gar nichts zwischen ihnen vorgefallen. Und dabei sah er gar nicht so aus, als hätte er die Kränkung zufällig vergessen oder absichtlich verziehen, er hielt sie eben einfach nicht für eine Kränkung, und das bezauberte die Kinder geradezu und machte sie ihm unterwürfig". (30 f.) Aljoscha nimmt alles, was ist, hin und verurteilt und verachtet nichts und niemanden. Für Smerdjakow dagegen ist alles beleidigend und quälend, nicht nur seine Epilepsie, Herkunft und sozialer Status, sondern auch die nüchterne Abschätzung der Mitmenschen und das Sich-Vergleichen mit ihnen. Er kann nichts bejahen oder gar lieben in der Welt, er kann nur hassen und verachten. Sein einziges positives intimes Verhältnis zu einem Anderen in der Welt ist, wie gesagt, das zu Iwan. Als sich aber diese intime Investition des eigenen Selbst in die praktisch-mörderische Parallelisierung ihrer Wil-
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len als falsch erweist (weil ja Iwans Wille nicht über den nur theoretischen Satz ,Alles ist erlaubt' hinaus kann), bleibt für Smerdjakow kein Haltepunkt in der Welt, die Allverachtung überschwemmt auch den letzten Menschen, der als Lehrer und Führer gelten konnte. Diese Allverachtung schließt vielleicht nicht in einem Augenblick ein trübes Gefühl der Übermacht über Iwan aus, macht aber das Leben selbst unmöglich. Wer nichts bejahen kann, kann auch nicht leben. Das ist das „Geheimnis", das jede Logik und jede Rechnung (die bei Smerdjakow vollkommen „stimmte", was auch der Prozeß später zeigt) stört und wertlos macht, wenn sie es nicht in sich einbezieht. Vielleicht sind Atheismus und Immoralismus „logisch", aber wenn man leben will, sind sie unmöglich. Trotz aller Logik und allen Beweisens: der Mensch muß lieben, wenigstens etwas, wenn er leben will. In dieser Liebe ist „Gott" und das Gewissen, eigentlich die Möglichkeit des Gewissens. Das Gewissen macht das Leben wichtig und wertvoll, das Fehlen des Gewissens macht das Leben unwichtig und gegenstandslos. Das völlige Fehlen des Gewissens bedeutet also völlige und unerträgliche Einsamkeit. Dieser Roman ist eine monumentale erzählerische Elaboration der Idee, daß in dem Verhältnis von Liebe und Gewissen die Liebe das Primäre und das Ursprüngliche ist. Wenn ich als Subjekt das andere Subjekt nur mit jener Rücksicht behandle, die aus dem Bestehen und dem Wirken des Gewissens hervorgeht und es voraussetzt, dann ist die so konstituierte Gemeinsamkeit mit dem Anderen zwar ein Zeichen meiner Aufgeschlossenheit für die Welt und des Eingewurzeltseins in ihr, schließt aber nicht unbedingt auch die Verneinung dieser (gemeinsamen, so als „gemeinsam" konstituierten) Welt aus. Erst die Liebe als eine Art des Gemeinsam-Seins mit dem Anderen bedeutet die echte und konsequente Bejahung der Welt. Das Nichtsein des Gewissens droht mit dem Gefühl der Nichtigkeit der Welt, das Nichtsein der Liebe droht mit dem Nichts. Die Anerkennung des Anderen in der Liebe ist beglückend (mag sie auch quälend sein), die Anerkennung dank des Gewissens liegt meiner Würdigkeit und der Würdigkeit des Anderen zugrunde. Insofern zeigen die Leben der Brüder verschiedene Bezüge zwischen Liebe und Gewissen und die existenziellen Folgen ihrer verschiedenen „Kombinationen". Der „kleingläubigen Dame" Chochlakowa sagt noch ganz am Anfang des Romans Starez Sosima, in Sachen des Glaubens an Gott und das ewige Leben könne man nichts beweisen, man könne sich jedoch überzeugen und zwar „durch die Erfahrung der werktätigen Liebe" (79). Der Roman wäre nur eine blasse Konstruktion, wenn er Illustration bloß dieser These wäre. Sein künstlerischer Wert liegt darin, daß er zeigt, wohin es in der Welt führt, wenn in ihrem irreparablen Chaos dieser Gedanke zusammen mit den anderen, dieser Welt „logisch" angemessenen Gedanken und
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diesen gemäß ausgeführten Taten wirkt oder, besser gesagt, nicht wirkt und nur eine schöne Empfehlung bleibt. Das tatsächliche Handeln der Menschen kann nach all dem, was im Roman dargestellt wird, nicht ausschließlich oder überwiegend von dieser Empfehlung beeinflußt sein. Aljoscha, der eine solche Position repräsentiert, befindet sich unter Menschen mit ganz anderen Positionen, die eben das Chaos der Welt ausmachen, und er kann daran nichts ändern oder in dieser „Welt" etwas verhindern. Er liebt und versteht die Anderen, und wird auch von den Anderen geliebt — Smerdjakow allerdings verachtet ihn, was uns Fjodor Pawlowitsch mitteilt (184) — aber dadurch wird in der Welt wenig besser. Als Beispiel und „Pädagoge" (etwa für die Knaben um Iljuschka) hat er, ähnlich wie auch Sosima, eine wichtige Funktion in der Welt dieses Romans, eben dies zu zeigen, daß es Menschen wie ihn gibt. Die prinzipielle Unordnung der Welt bleibt trotzdem bestehen. Aber die Notwendigkeit in ihr zu lieben und sie zu lieben, wenn man überhaupt leben will, ist auch da und bleibt auch bestehen. Für die Frage der Metaphysik in dem Roman Die Brüder Karamasow ist das das Entscheidende. Je weniger man verachtet und je mehr man alles, was es gibt, liebt, desto weniger ist man als lebendiges Wesen bedroht. In voller Konkretheit der gegebenen Welt zeigt die Abstufung von Smerdjakow, über Iwan und Dmitrij bis Aljoscha die Richtigkeit dieses Satzes. Starez Sosima und sein Bruder Markel sind die Figuren des Romans, die das Register der Möglichkeiten vervollständigen. Die konkreten Resultate von Sosimas „Pädagogik" in Aljoschas Leben sollten in der versprochenen Fortsetzung des Romans dargestellt werden. Aber auch in Die Brüder Karamasow wird schon klar, daß das positive Verhältnis zum Anderen und zur Welt überhaupt die Enträtselung des Menschenproblems ist. Das zeigt sich nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen, nicht nur programmatisch, wie bei Sosima, sondern auch symbolisch-praktisch. Als Iwan zum dritten Mal zu Smerdjakow geht, und mit der schweren Ahnung über die eigene Rolle im Vatermord kämpft, empfindet er „einen furchtbaren Haß" (823) gegen einen ihm unbekannten betrunkenen Bauer, dem er begegnet, und läßt ihn bewußtlos auf dem Weg liegen und erfrieren. Als er aber mit dem Entschluß, alles, samt der eigenen Rolle, vor Gericht zu gestehen und zu klären, zurückkehrt, war „es ihm, als zöge eine Art Freude in seine Seele ein" (839). Selbst in dieser Situation, kurz vor dem Ausbruch des Wahnsinns in voller Klarheit, macht das Wirken des Gewissens so etwas wie Freude in seiner Seele möglich. Sein Verhältnis zum betrunkenen Bauern ändert sich ganz. Er empfindet nicht mehr „ein unabweisliches Verlangen, dem Bauern da mit der Faust auf den Schädel zu schlagen" (823), sondern bemüht sich, ihn aus dem Schnee zu retten, kümmert sich sogar „daß sogleich seine ärztliche Untersu-
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chung erfolge, wobei er wiederum und zwar sehr freigebig Geld ,für Spesen' auslegte." (839) Indem er aber das Eingeständnis auf morgen verschiebt, ist „fast all seine Freude, alle Zufriedenheit mit sich selbst . . . im Nu veschwunden" (840) und der „Teufel" tritt auf. Später, vor Gericht, erscheint in Iwans wahnsinniger Rede dieser Bauer als „besoffene Kanaille" (909), der Andere wird wieder nur noch verachtet und gehaßt, und nicht zufällig endet dieser Absatz mit Iwans Ruf: „Warum ist alles, was es nur gibt, so dumm?" (909) Iwan und Smerdjakow stehen ganz nah nebeneinander und nah dem Nichts. — Dieses kleine Nebenmotiv mit dem Bauern ist für den Verlauf der Geschichte im ganzen nicht notwendig. Sie ist symbolisch. In dem komplexen Netz von Motiven, durch das stark ambivalente Verhältnisse zwischen den Menschen dargestellt werden, besonders wenn es um Iwan, Dmitrij, Katerina Iwanowna und Gruschenka geht, dient sie als eine meisterhafte Explikation dessen, wie wichtig es ist, den Anderen als Menschen und nicht als „Kanaille" zu sehen und zu empfinden, woraus dann aber auch folgt, daß nicht alles erlaubt sein kann, selbst wenn dieser Immoralismus als logische Konsequenz erscheint. Ist die „Welt" im Roman Die Brüder Karamasow metaphysisch? Nein — das Ende der Metaphysik ist dort schon eingetreten, wenn Metaphysik Gott, Ordnung und Wahrheit bedeutet. Das ganze Geschehen zeugt davon. Nicht etwa Iwan oder der spottende Fjodor Pawlowitsch, sondern gerade Smerdjakow verkündet, daß man in dieser „Welt" nicht mehr glaubt: „Wenn man weiter bedenkt, daß heutzutage niemand, nicht nur Sie, sondern schlechthin niemand, von den höchstgestellten Personen bis zum letzten Bauern, einen Berg ins Meer hinabzustoßen vermag, es sei den ein einziger Mensch auf der ganzen Welt, und wenn es hoch kommt zwei, und auch die führen vielleicht irgendwo dort in der ägyptischen Wüste ein Büßerleben im Verborgenen, so daß sie überhaupt nicht zu finden sind — wenn es so ist, wenn alle übrigen sich als Ungläubige erweisen, wird denn Gott der Herr dann all diese übrigen, das heißt die Bevölkerung der ganzen Erde außer diesen zwei Einsiedlern in der Wüste, wirklich verfluchen und bei seiner so wohlbekannten Barmherzigkeit keinem von ihnen vergeben?" (182) Fjodor Pawlowitschs Aussage, wir alle hier seien nur aus Leichtfertigkeit ungläubig, weil wir keine Zeit hätten, da es an einem Tag von nur vierundzwanzig Stunden nicht mal Zeit gäbe sich einmal richtig auszuschlafen, geschweige denn zu bereuen (182 f.), ergänzt nur auf burleske Weise diese „Verkündigung". Aber wenn die Einsicht, auf welcher diese Verkündigung beruht, Hand in Hand mit der Verachtung der Anderen und der Welt geht, mag das auch logisch sein, wird das Leben vernichtet. Es muß ein Mehr geben, das über das bloße Dasein
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hinausgeht, um überhaupt leben zu können. „Alles was es nur gibt" muß nicht „dumm" sein, es kann einen „Sinn" haben, es kann sogar herrlich sein. Die lange Geschichte über den Justizirrtum will verschiedene existenzielle Entfernungen der einzelnen Personen von dem Punkt darstellen, an welchem die Begeisterung und die Dankbarkeit dafür, daß man ist und nicht unbedingt Glück und Lust möglich werden. Ein Sinn des Lebens kann nur aus einem „un-sinnigen" Mehr, das Liebe heißt, hervorgehen. Wenn man nur nach dem Sinn sucht, kann man eine „Idee" finden und haben, aber nur mit ihr leben, führt in das Nichts. Die Geschichte über die Brüder Karamasow ist ein Versuch, eine neue „Metaphysik" dieses Mehrs zu schildern. Sie ist paradoxal. Ohne Liebe kann man nicht leben, im Leben ist die Liebe kaum möglich. In dieser Paradoxie enthüllt sich im Roman die Fülle, der Reichtum der Welt.
II. Kritik der Metaphysik
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W e l t auf Zeit Nietzsches Denken in der Spannung zwischen der Absolutheit des Individuums und dem kategorialen Schema der Metaphysik
I Heidegger hat Nietzsches Philosophie mit der Frage nach dem Ursprung und dem Ende der Metaphysik verbunden. Er hat dadurch dieser Philosophie einen hohen Rang zuerkannt. Ob er sie darin erfaßt hat, ist eine andere Frage. Gewiß hat Nietzsche ihn aber zu einer Bestimmung der Metaphysik veranlaßt, die ihn an ihr Ende denken ließ. Damit ist das Thema einer nachmetaphysischen Philosophie gestellt, gleichgültig, ob nun Nietzsche oder Heidegger über die Metaphysik hinausgekommen ist. „Sein" heißt Heidegger zufolge in der Metaphysik, „daß Seiendes ist und nicht nicht ist" (Nietzsche II, 399). „Sein" ist hier verstanden als Sein des Seienden, wie und als was es ist. Es geht darin auf. Daß es darin aufgeht, ist nach Heidegger die Seinsvergessenheit der Metaphysik. Sie beginnt als das „Ereignis, das in einer Entscheidung über das Sein im Sinne des Hervorkommens der Unterscheidung in Was-sein und Daß-sein besteht" (401). Denn wenn das Sein in dem aufgeht, als „was" es anwesend ist, dann ist dieses „Was" (die Essenz, die Idee, die Intension oder wie es später auch immer begriffen wurde, auch als Möglichkeit) von dem „Daß" (der Existenz, dem Einzelseienden, der Extension oder der Wirklichkeit) unterschieden. Sein ist dann das Anwesendsein oder das „Daß" des „Was" und sonst nichts. Heidegger fragt nun, wie sich diese „Unterscheidung" ergebe (ebd.). Da die Metaphysik mit ihr beginne, könne sie „von ihr selbst aus nie ein Wissen dieser Unterscheidung aufbringen. Sie müßte von dem in diesen Unterschied eingegangenen Sein selbst zuvor eigens angegangen werden", d. h. es müßte, nach dem „Ereignis" ihres Anfangs, ein weiteres Ereignis dieser Art stattfinden, als das Ereignis ihres Endes. „Diesen Angang versagt" nach Heidegger „jedoch das Sein und ermöglicht so allein der Metaphysik ihren Wesensbeginn — in der Weise der Vorbereitung und Entfaltung dieser Unterscheidung" (402). „Das Sein" läßt die Metaphysik beginnen und andauern, indem es ihr ihr Ende versagt.
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So verweilt die Metaphysik und damit das Seiende in dem, „was" es ist. „Sein" „erscheint im Anwesen", als Dauer, in die sich „die Bewegung vollendet" hat (403). Als diese andauernde, in die Vollendung gekommene Anwesenheit heiße es ,,τό έσχατο ν". Es ist das Letzte, die Anwesenheit, „in der das Anwesen sein Äußerstes und Letztes innehält" (405). Davon unterschieden ist dann alle andere Weise der Anwesenheit, also alles Nichtletzte, Vorläufige, und damit ist der Unterschied zwischen dem möglichen „Was" der Anwesenheit überhaupt und ihrer Vollendung im „Daß" offenbar. Er muß sich damit, wie Heidegger sagt, „bekunden" (405). Heidegger zitiert die Aristotelische Kategorienschrift, nach der das Anwesende „im Sinne der überherrschend wesenden . . . (Anwesenheit) dasjenige" ist, „was weder im Hinblick auf ein irgend schon Vorliegendes ausgesagt wird, noch in einem schon irgendwie Vorliegenden (erst nur) vorkommt" (406). Das eigentlich Seiende ist das, in dem all das, was von ihm ausgesagt werden kann, verwirklicht ist, indem es da ist. All das ist in seinem Daßsein zusammen da, wie ζ. B. das Menschsein und das Lebewesensein an diesem singulären Menschen da. Das „Daß" macht das vollendete Zusammensein des „Was" aus. — So ist dann konsequenterweise die Metaphysik auch Lehre vom vollendet Seienden, in dem alles Was zum Daß geworden ist, d. h. vom Göttlichen. Von hier aus fragt Heidegger weiter, ob der Unterscheidung von „Daß" und „Was" nicht „noch eine ganz andere, weiter ausholende Unterscheidung zugrunde" liege, „nämlich diejenige von Anwesendem und Anwesen." Das Anwesen wese — und damit ist diese Frage positiv beantwortet — im Anwesenden, in diesem Unterschied von „Daß" und „Was" an. Vielleicht könne das metaphysische Denken „seinem Wesen nach für das Rätselvolle dieser ihm selbstverständlichen Unterschiede kein Verständnis aufbringen" (407). Daß sie ihm selbstverständlich seien, mache ihr Wesen aus. Aber Aristoteles habe doch, im Unterschied zu Piaton, wenn er das Seiende als „ενέργεια" und damit als das zu Ende gekommene Anwesende denke, die Notwendigkeit der Unterscheidung denken können, indem er dieses aktuale in sich Zuendekommen des Anwesenden in einem bestimmten Aussehen von allem, „was" es sonst noch sei, d. h. von allen Wesensbestimmungen unterschieden habe, während Piaton, im Ausgang vom „Was" oder der Idee, das Einzelseiende als ein irgendwie seiendes ,,μή όν" habe verstehen müssen (408). Aristoteles ist für Heidegger, obwohl er der spätere ist, näher am Ursprung des metaphysischen Seinsverständnisses als vollendete Anwesenheit als Piaton. Er ist für Heidegger darin „griechischer". Die weitere Entwicklung der Metaphysik sieht Heidegger aber mehr von Piaton her bestimmt. Das Wirkliche sei von seinen Möglichkeiten her
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verstanden. Die mittelalterliche „actualitas" sei schon christlich und damit römisch geprägt. „Wenn das Sein sich zur actualitas (Wirklichkeit) gewandelt" habe, sei „es bestimmt durch das Wirken im Sinne des verursachenden Machens" (414), als von Gott oder dem Menschen gemacht, und zwar nach der Idee, also aus dem primären Vorverständnis, als „was" es sein solle. Als das nach der Idee Gemachte sei es ,,άγαθόν", das Gute. Der Übergang zu Nietzsche und damit zur Frage nach dem Ende der Metaphysik geschieht nach Heidegger nun dadurch, daß in der actualitas der Wille „wesentlich" geworden sei, indem „das ens actu durch das agere als cogitare bestimmt" werde, „da dieses cogito me cogitare", „Selbstbewußtsein", sei und „Bewußtheit als Wissendheit doch wesentlich das sich-zuStellen" und „der Wille ... Grundzug der Wirklichkeit" (467). Der Wille ist für Heidegger hier nicht nur das Begehren von etwas im Gegensatz zum Erkennen, sondern auch Grundzug des Erkennens. Erkennen ist selbst ein Wille, der alles sich zustellen und im Grunde darin sich verwirklichen will. Er will, indem er erkennen will, sich selbst. Er „entringt sich in die Wahrheit als Gewißheit", ist „das sich-vor-nehmende Wirken nach Vor-gestelltem", nach Ideen, und dies ist er nach Heidegger „aus der Verkennung des Wesens der Wahrheit". Diese „Verkennung" sei „das tiefere Un-wissen" (ebd.). Der Wille habe „seinen Wesensursprung in der wesenhaften Unwissenheit des Wesens der Wahrheit als der Wahrheit des Seins". Deshalb bleibe „die Metaphysik die Wahrheit des Seins des Seienden im Sinne der Wirklichkeit als Wille", der „den Anfang nie zu eigen gehabt" habe. Er habe ihn „je schon verlassen durch das Vergessen" (468). Nach Kant sei Wille „Wirken nach Begriffen", nach dem, was zuvor für möglich gehalten und darüber hinaus noch zu verwirklichen, in die Wirklichkeit als das eigentliche, aber von der Differenz zur Möglichkeit her gedachte Seiende der Metaphysik zu bringen sei (ebd.). Am deutlichsten sei das in Kants Kritik am ontologischen Gottesbeweis, in der das Sein „bloß die Position" sei (469). Es sei dies „bloß", weil alles Prädizierbare schon in der Idee, schon im Begriff liege. Der Wille ist Beziehen von allem auf sich, so daß er im Grunde sich selbst will. Indem er Wille ist, soll er das Sein vergessen haben. Das vergessene Sein ist hier nicht das Sein, als „was" es in irgendeinem „Was", unter irgendeiner Vorstellung verstanden ist, sondern das, was in dem, „was" es ist, von ihm selbst her zu Ende gekommen ist, so daß es sich darin von aller möglichen Prädikation über es unterscheidet. Es unterscheidet sich selbst von allen „möglichen" Prädikationen über es, d. h. es geht von ihm selbst her in diese metaphysische Auffassung vom Sein ein. Der Wille dagegen fasse es als die Verwirklichung von Möglichkeiten,
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also von Washeiten auf und suche es von deren Vorstellung und damit im Grunde von seinen eigenen Möglichkeiten her zu erkennen, auf Begriffe zu bringen, sich anzueignen. In Nietzsches „Lehre", alles sei Wille zur Macht „und nichts außerdem", sieht Heidegger „die Vollendung der abendländischen Metaphysik" (7), „ihr letztes Wort" (9), aber nicht ihre „Überwindung", sondern „die in sich erblindete, äußerste Inanspruchnahme ihres Leitentwurfes" (12). Wenn alles „Wille zur Macht" ist und sonst nichts, dann kann auch anders nichts mehr geschehen. Es bedeutet den Abschluß gegen die Geschichte des Seins, das Verharrenwollen in dem, was der Wille will. Er will „alles" wissen, d. h. in die Gewißheit seiner selbst einbeziehen. Da aber doch noch Zeit ist, muß sie nun als „ewige Wiederkehr des Gleichen" begriffen sein, als Negation der Zeit, in oder mit der dem Willen selbst etwas geschehen und sein Seinsverständnis „überwunden" werden könnte. Er will allem Werden den Stempel des Seins aufdrücken. Es soll nichts anders werden. Es soll nichts werden als das, „was" er will, und er will die ewige Wiederkehr, als Negation des „außerdem".
II Wenn wir fragen, ob diese Heideggersche Nietzsche-Interpretation z u t r i f f t , setzen wir ein „richtiges" Nietzsche-Verständnis voraus. Wolfgang Müller-Lauter hat schon herausgestellt, daß bei Nietzsche eigentlich nicht von einem Willen zur Macht, sondern von vielen Willen zur Macht, die gegeneinander stünden, die Rede sei. 1 Aber auch so wird das Viele unter den Begriff des Willens gestellt, auch wenn damit nicht alles nur als ein Wille, sondern eben als viele Willen, die alle sich und damit verschiedenes wollen, gedeutet ist. Die Frage, ob Nietzsche so „richtiger" gedeutet sei als durch Heidegger, setzt eine „objektive Lehre" Nietzsches voraus, als das zu Deutende, also als etwas Seiendes, das erfaßt oder verfehlt werden kann. Hier scheint mir ein entscheidender Punkt zu liegen. Nietzsche selbst spricht ja davon, daß „die Welt" uns „noch einmal unendlich geworden" sei, „insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schließt" (FW 374). Wir kommen demzufolge mit dem Interpretieren an kein Ende von der Sache her. Wir gelangen nach Nietzsche gerade nicht zu Seiendem als solchem im Sinne der Metaphysik, wie Heidegger sie bestimmt. Die „Dinge" sind vielmehr 1
Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971
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in ihrer Unterscheidung von anderen Dingen Resultate einer bestimmten Interpretation, die jet^t befriedigt, die aber, wie „alles", „ihre Zeit" hat und ihrerseits interpretierbar bleibt, etwa indem man sich fragt, wie es zu dieser bestimmten Interpretation gekommen sei. Diese neue Unendlichkeit ist nicht eine Unendlichkeit der Welt in Raum und Zeit, sondern eine Unendlichkeit unendlich vieler Interpretationsdimensionen, und wenn „gelehrt" wird, alles sei Wille zur Macht und auch das Interpretieren sei „in Wahrheit" selbst ein Mittel, „um Herr über etwas werden" (Ν VIII 2 [148]), also „der Wille zur Macht" interpretiere (ebd.), dann ist auch das nach Nietzsche wiederum Interpretation, auch wenn es heißt, dies sei das Interpretieren selbst „in Wahrheit". 2 Die Kategorien der Metaphysik wie „Zweck und Mittel", „Ursache und Wirkung", „Subjekt und Objekt", „Tun und Leiden" usw. sind für Nietzsche Ausdeutungen, aber „vielleicht notwendige Ausdeutungen" (Ν VIII 2 [147]). Sie gehören zu dem „Schema", nach dem wir, wenn wir überhaupt denken, interpretieren, ohne es „abwerfen" zu können (Ν VIII 5 [22]). Der Wille zur Macht, der sich in diesem Interpretieren „nach einem Schema" betätigt, ist an dessen „sprachlichen Zwang" (ebd.) gebunden. Es ist nicht der Wille schlechthin, auch nicht ein individueller Wille, sondern ein überindividuell bestimmter Wille. Er hat Formen, die er selbst nicht überwinden, gegen die er nichts wollen kann, so daß sie ihn als Willen bestimmen und einschränken. Wenn das auch nur für eine bestimmte Zeit geschieht, so bestimmt uns das Schema doch für unsere Zeit. Wir sind also nicht die Subjekte der Interpretation. Unsere Zeit, in der wir leben, steht vielmehr unter der Möglichkeit, daß wir uns als „Subjekt" im Gegensatz zu „Objekten" interpretieren. Wir würden „aufhören" denken, wenn wir es nicht unter dem sprachlichen Zwange tun wollen" (ebd.), zu dem das Subjekt-Objekt-Schema gehört. Zu diesem „metaphysischen" Schema gehören auch die sogenannten philosophischen Grundbegriffe wie ζ. B. der Begriff des Willens. Nietzsche nennt, bezeichnenderweise an unveröffentlichter Stelle, die „Lehre", „alles" sei „Wille gegen Willen", exoterisch. Er setzt dem die esoterische Einsicht entgegen, daß es „gar keinen Willen" gebe (VIII 5 [9]). Das heißt also nicht nur: „es gibt keinen Willen: es gibt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren" (VIII 11 [73]), sondern auch, daß letzteres wieder „nur" Interpretation ist, ohne Ende. Es gibt keine „letzte", einer „Sache" adäquate Interpretation, sondern nur %ur Zeit befriedigende Interpretationen. Daß sie befriedigen und daß wir in dieser Zeit leben können, ist dasselbe. 2
Vgl. v. Vf., Der gewollte Schein. Zu Nietzsches Begriff der Interpretation, in: M. Djuric u. J. Simon (Hrg.), Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Würzburg 1986, S. 66 bzw. 69.
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Also gerade nach Nietzsche gibt es kein „letztes Wort". Wenn Heidegger von der Philosophie Nietzsches als vom „letzten Wort" der Metaphysik spricht (s. o.), partizipiert vielmehr er am Schema der Metaphysik, nach dem im Daß-Sein alles, was etwas ist, zusammen und Ende komme. Nichts ist der Metaphysik mehr verhaftet als die Rede von einem letzten Ende, einer Vollendung der Metaphysik. So spricht Heidegger ja auch beständig vom „Wesen der Metaphysik", d. h. er spricht über sie in deren eigener Sprache und kommt schon von daher nicht über sie hinaus. Sie ist für ihn das, als was er sie denkt, um über sie hinauszukommen. Man könnte sagen: sie ist für ihn das, als was sie in seinem Willen, sie zu überwinden, vorgestellt ist. Nietzsche „will" die Metaphysik nicht „überwinden", und wenn das Verständnis des Seins als Wille das „letzte Wort" der Metaphysik ist, dann war das zumindest nur das vorletzte Wort Nietzsches. Nietzsches letztes, esoterisches Wort hierzu lautet, daß es „gar keinen Willen" und nichts von dem gebe, was unter irgendeiner vorweg begriffenen Washeit daraufhin befragt wird, ob es sei, außer in zur Zeit befriedigenden Interpretationen, eben weil alle intensionalen Bestimmungen nur ein zeitlich begrenztes Stadium in einer Interpretationskette bedeuten. Solange wir im Schema der Metaphysik interpretieren, solange ist sie nicht überwunden. Man kann sie nicht überwinden wollen, denn auch von ihr haben wir nur eine zeitgemäße Interpretation, ja von „Metaphysik" zu reden, ist schon Interpretation. Wir denken nur, insofern wir es „unter dem sprachlichen Zwang" und nicht anders tun „wollen", und von daher ist Denken schon von seiner Form und seinen verfügbaren inhaltlichen Begriffen her, was auch immer sein „Gegenstand" sei, Interpretation. Daß wir selbst noch das Interpretieren interpretieren — und Nietzsche interpretiert es als „Wille zur Macht" —, geschieht in dem Schema der metaphysischen Vorstellung einer letztgültigen, zur Sache und damit zu Ende kommenden Interpretation. Es ist das Schema, das dem Interpretieren den Willen, Ende oder zur Sache selbst zu kommen, aufgibt. Die Metaphysik ist damit als die Illusion solch eines Endes und, wenn von ihrem eigenen Ende die Rede ist, selbst metaphysisch interpretiert.
III Das verdinglichende Schema ist das uns Mögliche. Nur ihm folgend können wir denken. In ihm können wir uns mögliche Welten im Unterschied zur wirklichen Welt vorstellen. In ihm können wir also die wirkliche Welt und sogar unseren Intellekt „kritisieren" und uns Besseres, also moralisch
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denken. Daß wir es „nicht abwerfen können", ist aber unsere Wirklichkeit als die Zeit, „in die wir geworfen sind" (VII 25 [9]). Insofern ist die Möglichkeit möglicher Welten wirklich. Sie ist wirklich, indem sie „ihre Zeit" hat. Nietzsche spricht nicht von „Ways of Worldmaking" (Goodman). Wege müßten Ziele haben. Interpretationen haben nach Nietzsche kein Ende, das in der Macht eines Willens stünde. Sie sind nicht auf gerichteten Wegen. Nietzsche denkt das Wirkliche gerade nicht als „bestimmt durch das Wirken im Sinne des verursachenden Machens" (Heidegger, a. a. O. 414). Was wir machen können, sind Vorstellungen nach dem Schema, dem wir folgen müssen, weil wir in unserer Zeit in der Welt sind. Wir folgen ihm, solange wir in der Welt sind und ertragen dieses Schicksal, das wir nach Nietzsche darin „überwinden". Wir ertragen, daß es keine „letzten Worte", keine letzten Wahrheiten über Sachen selbst, sondern immer wieder nur Interpretationen gibt. „Amor fati" ist eine andere Formulierung des „schwersten" Gedankens der ewigen Wiederkehr als der Bejahung des Nichtzuendekommens der Interpretation in einer wahren Sicht. Wir wollen in dieser Bejahung nichts anderes mehr denken als das, was jetzt ist, wie es ist, ohne eine sich dazwischenschiebende, zu Ende kommen wollende Interpretation. Zumindest „an guten Tagen" verlangt man nach Nietzsche „gar nicht mehr" eine Interpretation (VIII, 1 [182]). Man versteht dann individuell, ohne Interpretation, d. h. ohne zu fragen, was etwas sei. Man will dann keine letzten Zeichen, die einem die Bedeutung der vorhandenen Zeichen „erklären" sollen. Man will nichts anderes als Zeichen, weil man versteht, daß „die Welt selbst" „nichts als Kunst" ist, ohne den „unbedingten Willen zum Wissen", zum Erkennen-wollen, „wo der Schein eben die Erlösung ist" (VIII 2 [119]). Der Begriff „Wille" ist dann selbst schon als „falsche Verdinglichung" (VIII 1 [62]) durchschaut, wie Begriffe überhaupt, die als solche als letzte Deutungen von Zeichen, eben als Be-deutungen verstanden sind. Das Interpretieren findet sein Ende, indem es auf-hört, d. h., indem es nicht weiter nach der Bedeutung der Zeichen als nach Zeichen, die unmittelbar die Bedeutung angeben sollen, fragt. Es findet sein Ende nicht, indem es zu einer Sache selbst käme. Aber das ist nach Nietzsche „schwer". Es ist leichter, etwas als etwas zu verstehen und es dadurch auf das eigene Verstehenkönnen zu reduzieren, statt es unverstanden sein zu lassen. Der Begriff des Verstehens schwankt bei Nietzsche in eigentümlicher Weise, etwa wenn es einerseits heißt, es sei „schwer, verstanden zu werden" ( V I I I 1 [182]), und im gleichen Kontext andererseits, es sei „etwas Beleidigendes darin, verstanden zu werden" (ebd.). Es ist schwer, insofern man, wenn man sich mitteilt, auch verstanden werden will, und es ist etwas Beleidigendes darin, insofern man dabei auf „Möglichkeiten" des
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Verstehenden reduziert wird. So soll man „schon für den guten Willen (Hervorh. v. Vf.) zu einiger Feinheit der Interpretation . . . von Herzen dankbar sein". Aber „an guten Tagen verlangt man gar nicht mehr Interpretation. Man soll seinen Freunden einen reichlichen Spielraum zum Mißverständnis zugestehen" (ebd.), also ihnen ihr eigenes Verständnis einräumen. Das Verstehen ohne sich dazwischenschiebende Interpretation ist das Verstehen, das Individualität zugesteht und darin gerecht ist. Diese „Gerechtigkeit" gegenüber dem individuellen Verstehen tritt bei Nietzsche an die Stelle des Begriffs eines richtigen, angemessenen Verstehens oder des Erkennens als eines „letzten Wortes" zur Sache. — Das gerechte Verstehen kann von der Metaphysik nicht verstanden werden. Ihr „Schema" steht dawider, und so kommt es zu einer unüberwindlichen Zweideutigkeit im Verstehen des Verstehens. Nun wird es natürlich sehr „schwer", mit Nietzsche nach dem „Wesen" dieser Gerechtigkeit in der Absicht einer „letzten" Antwort zu fragen. Es geht Nietzsche eher um die Destruktion angeblich „letzter" Antworten, wie die Metaphysik sie anstrebt. Die Lösung philosophischer Fragen setzt die Auflösung gewisser Fraglosigkeiten voraus, z. B. die Auflösungen gewisser Grundeinteilungen, an deren Berechtigung einer bestimmten Zeit kein Zweifel besteht, weil ein „Glaube" an identische Dinge von der Art der Teile solch einer Einteilung herrscht. Insofern entspricht die Destruktion der Zeit, mit oder in der sich die Probleme lösen, die sich dem Verharren in einer bestimmten Interpretation als einem „letzten Wort" verdanken. Die „Gerechtigkeit" gegenüber abweichendem, anderem Verstehen ist schon die Destruktion eines vorherrschenden Verstehens. Das anerkannte Wort des anderen als anderes, weiteres Wort gegenüber einem beanspruchten „letzten", verstanden als „Wesensbestimmung", ist auch schon der Einbruch des Werdens in eine Welt des Seins. Philosophische Fragen lösen sich in diesem Sinne mit der anderen Interpretation, die man nicht wollen, sondern nur „in guten Tagen" anerkennen kann. „Anerkennen" bedeutet hier nicht mehr „verstehen können". Man kann selbst nichts für seine „guten Tage". Es sind „Festzeiten", und „selbst derselbe Mensch versteht sich falsch, wenn er in einem niederen Augenblick auf seine hohen Festzeiten zurückblickt" (VIII 1 [100]), an denen er nicht mehr interpretieren wollte, weil ihm deutlich war, daß jede Interpretation nur eine weitere Festlegung, keine aber die end-gültige, die wahre sei. In „niederen" Augenblicken wird wieder an Dinge „geglaubt", die in zu Ende gekommenen Interpretationen intensional „richtig" verstanden seien. Einen anderen Menschen „richtig" verstanden zu haben, etwa gemäß einer „Wesensbestimmung" des Menschen, wie
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sie z. B. unter dem Begriff „Wille" (s. o.) philosophisch geschieht, ist nach Nietzsche eine „falsche Verdinglichung". Philosophische Fragen lösen sich in diesem Sinne durch destruktive Auflösung vorherrschender Ansichten, deren Folgeprobleme sie sind, also dadurch, daß diese Auflösung mit der Zeit geschieht, und nicht dadurch, daß jemand sie in letzten Antworten auflöste. Nietzsche spricht von einer „Überwindung der Philosophen durch Vernichtung der Welt des Seienden" (VIII 9 [60]). Die Vorstellung eines Subjekts der Lösung wird abgelöst durch die Vorstellung einer „an guten Tagen" oder an „Festzeiten" sich ereignenden Fähigkeit, anders als bisher — nämlich ohne in letzten Worten zum Sein durchkommen zu wollen — verstehen zu können, und das entspricht einer „Vernichtung der Welt des Seienden" als der Welt der Objekte des Subjekts, die es sich in „richtigen" Begriffen, verstanden als „letzte" Übergänge von Zeichen in ihre Bedeutung, als Übergang von interpretationsbedürftigen in nicht weiter interpretationsbedürftige Zeichen „verdinglicht" hat. Die „Überwindung des Philosophen" ist die Überwindung der Vorstellung, ein sich selbst durchgängig verstehendes Subjekt von Gedanken zu sein, die sich „richtig" oder „falsch" auf Dinge ausrichteten oder doch wenigstens ein Subjekt zu sein, das die Methode dieser Ausrichtung als sein Vermögen reflektieren könnte. „Derselbe Mensch" versteht sich, wenn er es in „niedrigen" Augenblicken mit definitiv zu begreifenden Dingen und auch mit sich selbst als einem sich selbst verständlichen Subjekt zu tun zu haben glaubt, falsch, wenn er von hier aus „auf seine hohen Festzeiten zurückblickt", in denen er ohne Interpretation verstehen konnte, weil er nicht mehr interpretieren und damit nicht mehr zu Seiendem durchblicken wollte. Die Überwindung der Metaphysik geschieht nach Nietzsche in der Überwindung des Selbstverständnisses als „Philosoph", der das will und folglich voraussetzt, daß er es von sich aus kann. Also auch Nietzsche versteht die Metaphysik als Willensmetaphysik. Er sieht ihre Überwindung im Aufhören des Willens zur „wahren" Erkenntnis. Doch dies Aufhören hat kein Subjekt. Es gelingt unwillentlich in „hohen Festzeiten", die nicht von Dauer sind. Sie sind sogar der adäquaten Erinnerung an sich entzogen. Die Überwindung der Metaphysik geschieht im Zerfall der Vorstellung einer durchgehenden Zeit als der Form der Anschauung des Subjekts. Sie zerfällt in qualitativ verschiedene, hohe und niedrige Zeiten, die keine Bewußtseinseinheit zusammenbringt. Heidegger versucht dagegen, das Sein von der Zeit seiner Geschichte her zu denken. Das bleibt ein Denkversuch, auch wenn „Denken" von dem Begriff für eine subjektive Tätigkeit in den eines „Andenkens" übergeht. Heidegger will ohne Zweifel noch
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„Philosoph" sein, der indirekt nach dem Sein fragt, indem er direkt nach dem „Wesen" der Metaphysik fragt, und er erwartet eine Antwort, auch wenn der Akzent dabei auf dem Warten liegen mag. Nietzsches Satz, daß „die Welt selbst nichts als Kunst" sei, ist das Ende der Frage nach dem Sein, auch nach einem Sein vor oder hinter dem metaphysischen Seinsverständnis, das Heidegger als „das tiefere Unwissen" benennt. Der Nietzschesche Gegensatz zum Sein ist der Schein, aber nicht als „falscher Schein" gegenüber einem tieferen Sein, sondern als „die Erlösung". Nach dem Schein fragt man nicht. Man will ihn nicht. Der Wille will hinter den Schein kommen, er will sich als wahr behaupten. Der Schein stellt sich ein, und man kann ihn nur wollen, indem man nichts anderes will, kein (anderes) Zeichen, das als letzte Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des gegebenen Zeichens an seiner Stelle stehen sollte. Nietzsche will aber nicht nur den Philosophen überwinden als den, der sich dem wahren Sein im Gegensatz zum Schein zuwendet, sondern auch den Künstler, verstanden als das den Schein erzeugende seiende Subjekt des Scheins. Er fragt, ob es „abseits vom .Künstler' noch künstlerische Gewalten" gebe, und er antwortet mit „Ja" (VIII 2 [119]). Das kann nun nicht mehr Ausdruck einer Erkenntnis sein. Es kann sich nur um ein „Ja" handeln, das dem zustimmt. In diesem Zusammenhang spricht Nietzsche von einem „metaphysischen Grundwillen" und einem „Frevel" an ihm, der im „Willen zum Wissen" bestehe. „Die Spitze der Weisheit" wendet sich nach Nietzsche „gegen den Weisen", der wissen will (ebd.). Sie besteht in der „Gerechtigkeit" als „Liebe mit sehenden Augen", welche nicht nur alle Strafe, sondern auch „alle Schuld trägt" und die „jeden freispricht, ausgenommen den Richtenden" als den, der wissen will, wie es ist, und es vor allem besser als die anderen wissen will (Za, I, Vom Biss der Natter). Zarathustra fordert, daß man diese Gerechtigkeit und Liebe „erfinde". Sie ist nicht bzw. sie ist nur als Praxis ihrer Erzeugung und nicht schon als vorgegebene Idee oder Norm da, nicht als „Ver-wirklichung" von etwas, das sein sollte. Aber dieser Schein ohne Gegensatz zum Sein ist die Erlösung. Der „metaphysische Grundwille" ist der Wille zum Schein, das Aufhören des Weiter- und Zuendekommenwollens über den Schein, der leben läßt, hinaus zum Sein. Die Überwindung des „Künstlers" als des Subjekts der Kunst, in dem die Werke oder der Schein eine Seinsgrundlage hätten, muß noch gelingen, nachdem der Philosoph als das Subjekt definitiver Bestimmungen als der Bestimmungen von Seiendem überwunden ist. Dann erst ist „Ja" gesagt zum Schein als dem Letzten und damit zur Lebens-Zeit. Das ist das „Ja" zur Aufhebung des Gegensatzes von „ .falsch' und ,wahr' " in dem Gegensatz zwischen „Abkürzungen der Zeichen" und „den Zeichen selber" (VIII 1 [28]), mit dem man in der Welt der Zeichen bleibt, in der immer nur Zeichen für andere Zeichen stehen, ohne daß
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man in einer Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Zeichen „zuletzt" ein Zeichen als die Nennung der reinen, nicht mehr weiter interpretierbaren Bedeutung erhielte und damit über den unendlichen Zeichenprozeß hinauskommen könnte. Der „metaphysische Grundwille" läßt es bei dem Prozeß der Zeicheninterpretation ohne Ende. Er will sonst nichts. IV Interpretieren heißt nach Nietzsche: Wollen, daß es anders ist, als es da steht, „übersetzen" in die eigene Verstehensmöglichkeit. Die Rede von möglichen Welten, von denen die wirkliche eine verwirklichte sei, heißt schon, die wirkliche von der eigenen Verstehensmöglichkeit her zu verstehen und diese Möglichkeit als das „letzte Wort" über die Wirklichkeit zu beanspruchen. Das ist erst recht so, wenn man auch noch die Zukunft von dem her versteht, was man sich denken kann. So sagt Nietzsche von sich denn auch: „in mir fehlt der Begriff,Zukunft', ich sehe vorwärts wie über eine glatte Fläche: kein Wunsch, kein Wünschchen selbst, kein Plänemachen, kein Anders-haben-wollen" (VIII 16 [44]), also auch: kein Interpretieren-wollen, also: „einen Text als Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen". Das sei die „späteste Form der ,inneren Erfahrung', — vielleicht eine kaum mögliche . . . " (VIII 15 [90]). Dieser Interpretations- oder Aneignungsverzicht widerspricht keineswegs der Äußerung, daß es „gerade Tatsachen" nicht gebe, sondern „nur Interpretationen" (VIII 7 [60]). „Unsre Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen", in einer „Art Herrschsucht" (ebd.). Das Interpretieren gehört auf die Seite des Wünschens, des Anders-haben-wollens, der Ersetzung des gegebenen Zeichens durch ein anderes als Antwort auf die Frage nach seiner Bedeutung, das dann „dasselbe" besser als das erste bedeute. Der Interpretationsverzicht, der den Text stehen und selbst sprechen läßt, ist „Gerechtigkeit" gegenüber ihm, auch und gerade insofern man ihn so nicht verstehen kann, so daß er gegenüber dem eigenen Verstehen unübersetzbar bleibt. Daß es keine Tatsachen, sondern nur Interpretationen gebe, bedeutet, daß es keine auf Tatsachen bezogenen adäquaten, keine letzten Interpretationen gebe. Natürlich ist auch diese Feststellung, „was" der Text Nietzsches „bedeute", schon wieder eine Interpretation, die „etwas" besagen und damit zur „Sache" Nietzsches gekommen sein will. 3 Daß sich das Interpretieren 3
Sie steht ζ. B. in einem gewissen Gegensatz zu dem Versuch, in Nietzsche einen Ansatz zu einem „Interpretationismus" zu sehen. Vgl. Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1984.
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nicht vermeiden läßt, macht das Verstehen „schwer". Der Text wäre „als Text" gelesen, wenn nichts anderes da^u gesagt oder gedacht würde. Soweit dies nicht möglich ist, weil das Verstehen ihn von sich aus und in ihm sich verstehen will, sind wir noch in der Metaphysik, die wissen will, „was" etwas ist. Auch der Nominalismus verharrt in ihr. Wenn er nicht das „Wassein", sondern das Individuelle als das wahre Sein versteht, versteht er es als Fall des in diesem Verstehen zuerst vorausgesetzten und dann durchgestrichenen Allgemeinen, als „Einzelding" und damit doch als Ding, das im Unterschied seiner Art, der hier als Verwirklichung der Art gedacht ist, das Wahre sei. Gegenüber diesem Dilemma betont Nietzsche die Individualität des Textes in seiner Textur, die so nicht noch einmal vorkommt und insofern von keiner Art ist. Der Text ist nicht Individuum seiner Art. Er ist auch nicht dadurch etwas von einer Art, daß er mit anderen Texten denselben Autor oder „Künstler" gemeinsam hätte. Als „Machwerk" oder gar als „Machenschaft" (Heidegger) eines Autors wäre er mißverstanden, denn so, wie er ist, verdankt er sich einer „Festzeit" oder auch einem „niederen Augenblick" eines Menschen, der sich in anderer Zeit selbst nicht mehr als Subjekt dieses Textes und ihn damit nicht mehr ohne Interpretation verstehen kann. Er muß sich ihn in dann selbst mittels Interpretation verständlich, sich wieder „zu eigen" machen. Insofern ist die Welt als Kunst nicht die Verwirklichung einer möglichen Welt. Sie entstammt keinem „worldmaking", sie hat kein Subjekt. Das betrifft den metaphysischen Gottesbegriff. Es betrifft damit auch den Begriff vom Menschen, d. h. es ist die Negation des Verständnisses des Menschen vom Begriff des Menschen her, der als solcher beansprucht, die definitive Ersetzung von Zeichen durch andere Zeichen und damit der Durchbruch zur „Bedeutung" der Zeichen zu sein. Solche Überlegungen führen zu Nietzsches späten Werken Ecce Homo und Antichrist. Ecce Homo ist der Versuch, zu früheren Werken selbst wieder ein Verhältnis zu finden und überhaupt sich selbst zu verstehen. Die Schrift endet mit der Frage: „— Hat man mich verstanden? — Dionysos gegen den Gekreuzigten...". — Man kann auch sagen: sie bricht so ab. Das letzte sind drei Pünktchen. Es kommt zu keinem Begriff dieses Menschen. Es bleibt beim andeutenden „Ecce". — Der Antichrist ist die Auseinandersetzung mit dem Christentum, die als solche dessen Ende gekommene Interpretation voraussetzt und sich zugleich gegen alle seine Interpretationen absetzen, es und vor allem seinen Stifter, soweit es geht, in seiner Individualität ohne Interpretation belassen will. Insofern ist Nietzsches „Verhältnis" zum Christentum bezeichnend für sein „Verhältnis" zur Metaphysik. Beides gehört untrennbar zusammen, vor allem, wenn es darum geht, den metaphysischen „Willen
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zur Macht" des Interpretierenwollens gegen eine ihn überwindende „Gerechtigkeit" abzugrenzen. Nietzsche wendet sich gegen das metaphysische Verständnis des Christentums, d. h. gegen dessen Einverleibung in ein begriffliches Verständnis in dogmatisch ausdeutenden „letzten" Worten über es. Dadurch, also durch „Interpretation" sei es „etwas Grundverschiedenes von dem geworden, was sein Stifter tat und wollte". Die „große antiheidnische Bewegung des Altertums, formuliert mit Benutzung von Leben, Lehre und ,Worten' des Stifters des Christentums, aber in einer absolut willkürlichen Interpretation nach dem Schema grundverschiedener Bedürfnisse: übersetzt in die Sprache aller schon bestehenden unterirdischen Religionen" hätte sich seiner bemächtigt (VIII 11 [294]). In dieser Interpretation als einer Aneignung sei das Christentum „an die Religionen der niederen Masse, der Frauen, der Sklaven, der nicht-vornehmen Stände" angepaßt worden (VIII 11 [295]). Dadurch seien „der Judaism (Paulus) der Platonism (Augustin) die Mysterienkulte (Erlösungslehre, Sinnbild des ,Kreuzes') der Asketismus (— Feindschaft gegen die ,Natur', ,Vernunft', ,Sinne', — Orient . . . . ) " über das Christentum „Herr geworden" (VIII 11 [364]). Der Antichrist ist eindeutig eine polemische Schrift. Das geht schon aus der Änderung des Untertitels von „Versuch einer Kritik des Christentums" in „Fluch auf das Christentum" hervor. Sie sollte provozieren. Auf die zeitbedingte polemische Absicht des Autors soll es hier aber nicht ankommen, sondern nur auf die philosophischen Zusammenhänge. Auch in der veröffentlichten Schrift fällt, wie im Nachlaß, auf, daß die positive Sicht des „Typus Jesu" vor allem vom Christentum als Kirche unterschieden wird. „Man hat aus dem Gegensatz zum Evangelium die Kirche aufgebaut" (AC 36). „Das ,Evangelium' starb am Kreuz. Was von diesem Augenblick an , Evangelium' heißt, war bereits der Gegensatz dessen, was er gelebt: eine ,schlimme Botschaft' " (AC 39). „Die christliche Bewegung, als eine europäische Bewegung", war nach Nietzsche „von vornherein eine Gesamt-Bewegung der Ausschuß- und Abfalls-Elemente aller Art". Sie habe „mit dem Christentum zur Macht" gewollt (AC 51). So wird das Christentum als Wille zur Macht dieser „europäischen Bewegung" gedeutet, die sich die christliche Botschaft angeeignet, sie zum Mittel ihres Machtwillens gemacht habe. Nach den obigen Ausführungen über das Wesen der Interpretation liegt es nahe, nicht so sehr Nietzsches Ablehnung dieser bestimmten Interpretationen hervorzuheben, so als wolle er ihnen eine „wahre" entgegensetzen, um eine ursprüngliche „Sache" des Christentums selbst wieder zu entdecken. Wir haben gehört, daß es nach Nietzsche nur Interpretationen gibt und keine wahre Sicht des Interpretierten. Jede Zeit muß sich
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selbst in ihren Interpretationen zur Geltung bringen, denn Interpretation ist Wille zur Macht. Sie ist Übersetzen ins allgemein Verstehbare und damit ein Übergehen des Individuellen im Zeichen, seine Negation in einer allgemeinen Bedeutung. „Die ersten Jünger in Sonderheit übersetzten ein ganz in Symbolen und Unfaßlichkeiten schwimmendes Sein erst in die eigene Crudität, um überhaupt Etwas davon zu verstehn, — für sie war der Typus erst nach einer Einformung in bekanntere Formen vorhanden" (AC 31). Er wurde durch diese Übersetzung erst zum Seienden im metaphysischen Sinn: als erscheinende Erfüllung eines „im allgemeinen" schon bekannten Wesensgehalts. Die ersten Jünger mußten, wie alles Verstehen im metaphysischen Verständnis dieses Begriffs, von sich aus verstehen, und „mit jeder Ausbreitung des Christentums über noch breitere, noch rohere Massen . . . wurde es nötiger, das Christentum zu vulgarisieren" (AC 37). Wenn viele verstehen sollen, ist dies notwendig so. Der Gegensatz zum Ursprung ist unumgänglich, und die Polemik Nietzsches richtet sich demnach gegen Unvermeidliches. Sie kann sich also eigentlich ihm selbst zufolge nicht gegen eine bestimmte Interpretation als gegen die falsche wenden, sondern nur dagegen, daß überhaupt interpretiert wird mit dem Anspruch, darin zum Ende oder zur wahren, d. h. letztgültigen Version gekommen zu sein. Nietzsche wendet sich, wenn er sich gegen „absolut willkürliche" Interpretationen wendet, gegen den Dogmatismus aller sich als definitiv verstehenden Interpretationen überhaupt, und darin weiß er sich mit dem Ursprung des Christentums einig: „Hier ist jedes Wort Symbol; es gibt im Grunde keine Realität mehr. Die Gefahr ist außerordentlich, sich über diese Symbole zu vergreifen. Fast alle kirchlichen Begriffe und Wertungen führen irre", aber eben nicht, weil es die falschen Begriffe gegenüber richtigen wären, sondern weil es B e g r i f f e sind, die ausdeutend sagen wollen, „was" die Symbole bedeuteten. Das Falsche liegt nicht im falschen Begriff, sondern im Begriff als solchem, verstanden als letzte Interpretation, die nicht noch weiter zu interpretieren und damit nicht auch selbst wieder „Symbol" wäre. Es kommt Nietzsche darauf an, „das Buch als Buch (und nicht als Wahrheit) zu lesen" (VIII 11 [302]): „Man hüte sich", im Ursprung des Christentums „mehr als eine Zeichenrede, eine Semiotik, eine Gelegenheit zu Gleichnissen zu sehn. Gerade, daß kein Wort wörtlich genommen wird, ist diesem Anti-Realisten", als den Nietzsche Jesus bezeichnet, „die Vorbedingung, um überhaupt reden zu können". „Dieser Glaube formuliert sich auch nicht — er lebt" (AC 32). Die über die individuelle Praxis, die sich auf ihn verläßt, hinausweisende allgemeine Formulierung würde schon die Nivellierung und Vulgarisierung mit sich bringen. Deshalb muß der Leser der Evangelien behutsam sein. „Diese Evangelien kann man nicht behutsam genug lesen; sie haben
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ihre Schwierigkeiten hinter jedem Wort" (AC 44). Die „Schwierigkeiten" stehen hier gegen die Ubersetzung ins schon Geläufige (im Sinn erwarteter Erfüllungen) und daher leicht zu Verstehende. „Das Buch als Buch (und nicht als Wahrheit)" zu lesen, ist für Nietzsche „Philologie . . . in einem sehr allgemeinen Sinne", als „die Kunst, gut zu lesen", d. h. „Tatsachen ablesen können, ohne sie durch Interpretation zu fälschen, ohne im Verlangen nach Verständnis die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren" (AC 52). Also auch im Antichrist knüpft Nietzsche an systematisch zentraler Stelle an seine allgemeine Interpretationsphilosophie und -kritik an, von der einleitend die Rede war. „Philologie" als Liebe zum Wort „will" es nicht im Sinne der Metaphysik ungeduldig auf eine bestimmte Bedeutung als auf „seine" definitive hin auslegen. Wenn es nach Nietzsche auch „scheinen möchte, wir würden aufhören, denken zu können, wenn wir auf diese Metaphysik Verzicht leisteten" (VIII 6 [13]), deren „Grammatik" uns vorgibt, wir kämen zu letzten adäquaten Bestimmungen, was etwas sei, so ist für ihn das wirkliche Verstehen doch das Verstehen ohne Interpretation. Doch dabei handelt es sich um einen Grenzfall, um einen „Mangel an Philologie", wenn Philologie im engeren Sinn als die Kunst der Auslegung verstanden ist: „einen Text als Text ablesen zu können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen", ist, als die „späteste Form der ,inneren Erfahrung' ", d. h. der „Ubersetzung eines Zustandes in . . . bekanntere Zustände", — schwer und „vielleicht" kaum möglich (VIII 15 [90]). Sie ist jedenfalls nicht allgemein, sondern allenfalls nur an „guten Tagen" möglich, an denen „man gar nicht mehr Interpretation" „verlangt" (VIII 1 [182]), und als nicht allgemein Mögliches ist sie im Schema der Metaphysik nicht denkbar. Denn in ihr wird das Bekannte nicht mehr als allgemein Bekanntes (und deshalb ein allgemeines, „breiteres" Verstehen ermöglichendes Zeichen) vorausgesetzt. Mit solch einem interpretationslosen „Ablesen", „ohne im Verlangen nach Verständnis die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren", käme zwar keine Welt, kein Durchblick zu einer Welt von „realen" Tatsachen zustande. Solch eine Welt verdankt sich immer einer bestimmten, bestimmenden Interpretation. „Gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen" (VIII 7 [60]). Dafür erhielte aber das andere Individuum sein Recht, weil das „erkennende" sich ihm gegenüber nicht selbst als Subjekt eines Vermögens voraussetzte, Seiendes in letztgültigen Interpretationen erkennen zu können. Das andere bliebe für es in allen Äußerungen unausdeutbares Zeichen. Es bliebe offen, was es sei, und damit hätte auch das ihm gegenüber andere sich vom Festgelegtsein in einer („erkennenden") Perspektive mit ihrem Anspruch auf „Wahrheit" im metaphysischen Verständnis gelöst. Es wäre daraus erlöst. Das Sichverhalten zum „Text als Text", zum „Buch als Buch", zum Zeichen als nicht in einer
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Bedeutung aufgehenden Zeichen ist, als geduldiges Aushalten des anderen statt seiner Interpretation aus eigener Sicht, dasselbe wie das Sichlösenkönnen aus dem ontologisch deutenden Schema der Metaphysik. Diesem Können korrespondiert keine a priori reflektierbare „Bedingung der Möglichkeit" und kein apriorisches subjektives „Vermögen". In diesem Sinn versteht Nietzsche „Christus am Kreuze" als „das erhabenste Symbol immer noch" (VIII 2 [96]). Im Antichrist erscheint das als „Symbolik par excellence". „Die ganze Natur, die Sprache selbst" hat für Jesus nach Nietzsche „bloß den Wert eines Zeichens, eines Gleichnisses" als „Wort für das Innerste", Individuellste (AC 32). Auch sein Tod war an sich „durchaus nicht die Hauptsache" (VIII 11 [295]). Er ist „keine Brücke, kein Ubergang, er fehlt, weil einer ganz andern bloß scheinbaren, bloß zu Zeichen nützlichen Welt zugehörig" (AC 34). Auch er ist keine zur „Realität" ausgedeutete Wirklichkeit, sondern als Wirklichkeit „nur ein Zeichen mehr" (VIII 11 [295]). Für das Leben, das „als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluß, ohne Distanz" (AC 29) „nichts" will (VIII 11 [365]). Dieses Leben will auf nichts anderes, auf keine definitive Ausdeutung, keinen anderen Sinn hinaus. Es will auch nicht „Person" oder „Individuum" sein, denn davon hatte es, als Leben frei vom Schema der Metaphysik, „nie einen B e g r i f f . „Seine Schüler und er waren eins" (VIII 11 [388]). Das Paradies ist jet^t. — B e g r i f f e , auch die des „Einzelnen", „Individuellen" usw. tragen dagegen ihre vorgefaßten begrifflichen Einteilungen an bestehende Gemeinschaften und Verhältnisse zum „Nächsten" heran und lösen sie damit in dem, was sie in ihrem Zueinander und Füreinander hier und jetzt sind, auf. Begriffliche Zugehörigkeit ist nicht wirkliche Zugehörigkeit. Als Symbol, als Text, „nicht als Wahrheit" ist das Buch zu lesen —, das ist hier das Entscheidende, aber gerade das ist schwer ÎÇU verstehen. Es wird von Nietzsche deshalb auch nicht begrifflich gefaßt, sondern am Leben Jesu gezeigt. „Wahrheit" wäre als formulierte eine letzte Ausdeutung des Symbols, sein Verschwinden in „seiner" Bedeutung. „Man vergreift sich" — und damit nimmt Nietzsche seine Benennung des Mißverständnisses des Symbols in einer es ausdeutenden Deutung wieder auf — „wenn man sich ein fanatisches Element in Jesus hineindenkt" (vgl. AC 32). Es fehle an ihm „alle Tortur im Glauben" (VIII 11 [368]). Sein Glaube sei „kein erkämpfter Glaube" (AC 32). Er sei ohne Polemik, ohne Gegensatz, im Unterschied zu dem der Kirche, die nach Nietzsche in ihrem bestimmten Ausdeuten notwendig in den Gegensatz gerät und sogar zum „organisierten Krieg gegen das Christentum" wird (VIII 11 [276]). Das lieben Jesu ist für Nietzsche „eine gute Botschaft und der Zustand eines ,guten Botschafters' ". „Dieser ,frohe Botschafter' starb wie er lebte, wie er lehrte — nicht
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um ,die Menschen zu erlösen', sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat. Die Praktik ist es, welche er der Menschheit hinterließ" (AC 35). Sein Glaube sei selbst „jeden Augenblick sein Wunder, sein Lohn, sein Beweis, sein ,Reich Gottes'" (AC 32). Er „formuliert sich ... nicht, er lebt". „Mit einiger Toleranz im Ausdruck" möchte Nietzsche Jesus „einen ,freien Geist' nennen — er macht sich aus allem Festen nichts: das Wort tötet, alles was fest ist, tötet. Der Begriff, die Erfahrung ,Leben', wie er sie allein kennt, widerstrebt bei ihm jeder Art Wort, Formel, Gesetz, Glaube, Dogma" (AC 32). „Die Erfahrung ,Leben', wie er sie allein kennt", deutet wieder auf die unausdeutbare, gelebte Individualität. So bleibt die Hauptsache in Jesus, die man nicht verstand, weil man eine von anderen Lehren abgrenzbare, begrifflich gefaßte Lehre finden wollte, „Freiheit von allem Ressentiment" (VII 11 [378]), „die Überlegenheit über jedes Gefühl von ressentiment" (AC 40). „Heute noch ist ein solches Leben möglich, für gewisse Menschen sogar notwendig: das echte, das ursprüngliche Christentum wird zu allen Zeiten möglich sein" (AC 39). Nietzsches „Übermensch" ist vom gleichen „Typus". Im Bezug auf ihn heißt es, „die Menschheit" stelle „nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt" werde. „In einem andren Sinne" gebe es dagegen „ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle . . . , mit denen in der Tat sich ein höherer Typus" darstelle. Solche „Glücksfälle" seien „immer möglich" gewesen und vielleicht auch immer noch möglich (AC 4). Sie ereignen sich. Das „Vielleicht" soll sagen, daß man dies („innerlich") erfahren haben müsse und daß es nicht nach einem Begriff vom Übermenschen geschehen könne, nach dem man etwas dieser „Art" erwarte. So heißt es ganz entsprechend auch vom Christentum, es sei „jeden Augenblick noch möglich" (VIII 11 [365]). „Jeder ist das Kind Gottes — Jesus nimmt durchaus nichts für sich allein in Anspruch" —, er kennt ja keinen Gegensatz und kein Ressentiment. „Als Kind Gottes ist Jeder mit Jedem gleich" (AC 29), als „Kind Gottes" und nicht unter dem gleichen Begriff, was er sei. Als Kind ist er individuell geliebt, ohne Begriff, was er sei und wie er von daher von anderen unterschieden werde. „Alle" könnten „Gottes Sohn" werden (VIII 11 [389]), gegen den je möglichen Vorbegriff eines den Menschen von Gott unterscheidenden Begriffs. Es bleibt offen, wie diese Sicht mit anderen Stellen bei Nietzsche, ja mit der gesamten polemischen Intention des Antichrist zusammenzubringen ist. Bedenken wir aber, daß schon Nietzsche selbst Jesus und auch das Christentum nicht auf einen Begriff zu bringen versucht, um beiden gerade darin Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er will nicht Aus-deuten und sieht in Jesus eine gleiche Gerechtigkeit am Werk. Im Bezug auf ihn
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spricht Nietzsche sogar davon, daß ihm dies „jeden Augenblick" (VIII 11 [368]) und also nicht nur „an guten Tagen" gelungen sei. Jesus ist für Nietzsche „jeden Augenblick sein Wunder, sein Lohn, sein Beweis, sein ,Reich Gottes'" (AC 32), das „nicht von dieser Welt" ist (VIII 11 [385]), wie sie sich in metaphysischer Ausdeutung der Zeichen als Welt von Dingen, von Seiendem darstellt. Daraus, daß dies bei anderen nur an „guten Tagen" so ist, entsteht notwendig ein Ressentiment, ein polemisches „Anti-", nicht nur für die „Kirche", sondern für jedes „Verstehen" als ein Sagen, „was" etwas „in Wahrheit" bedeute. Dionysos, der Zerstückelte, steht gegen die begriffsarme, realitätslose (und insofern „idiotische") „innere" Einheit und Freiheit von allem Ressentiment in Jesus. Ihr gegenüber behält „alles Übrige . . . den Sinn eines Zeichens und eines Sprachmittels" (VIII 11 [368]). „Die ganze Realität, die ganze Natur, die Sprache selbst, hat für ihn bloß den Wert eines Zeichens, eines Gleichnisses." (AC 32) Nichts scheint für ihn Ende gedeutet zu sein, so daß ihm keine Realität gegenüber tritt. Der Antichrist ist, wie der Titel sagt, eine polemische Schrift gegen das Christentum, weil sonst niemand ganz ohne Willen zur Ausdeutung ist. Es ist eine Auseinandersetzung im wörtlichen Sinne und damit notwendig ungerecht, und Nietzsche sagt von sich, er sei „nicht eine Stunde" seines „Lebens Christ gewesen". Dieser Zusammenhang wird deutlicher, wenn man weiter liest: „Ich betrachte alles, was ich gesehen habe, als Christentum, als eine verächtliche Zweideutigkeit der Worte, eine wirkliche Feigheit vor allen Mächten, die sonst herrschen" (VIII 11 [251]). „Christentum" ist für Nietzsche an sich in Beziehung auf Jesus zweideutig. Es bleibt notwendig bei der metaphysischen Unterscheidung zwischen dem eigenen „subjektiven" letzten Wort und einer Sache; es kann „in niederen Augenblicken" weiter um „die Sache" herumgesprochen werden. Dieses Christentum ist eben der „Piatonismus fürs Volk", nach dem alle Worte in ihrer sinnlichen Präsenz hinter der Idee der Sache zurückbleiben, obwohl intendiert ist, den auslegenden Logos „in the long run" in der Sache Ende zu bringen, so daß sich jede Interpretation und damit jede Individualität gegenüber der Sache (anti-) „letzten Endes" in der Sache aufheben soll. So kann auch Nietzsches eigene Sicht des Christentums nicht nur eine Sicht aus „guten Tagen", nicht ohne Zweideutigkeit und Ressentiment sein. „Alles, was ich gesehen habe", ist das in der Sicht der Metaphysik verstandene Sein, von deren Schema auch Nietzsche seinem eigenen Verständnis nach nicht frei sein kann. Die Metaphysik ist die Verleugnung aller individuellen Sicht durch die Flucht ins Allgemeine, in dem man sich „zuletzt" keiner anderen Sicht mehr zu stellen und damit auch keiner anderen (als auch einer eigenen oder der eigenen als auch nur einer anderen) mehr „gerecht" zu werden braucht.
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Keine Sicht ist hier für sich etwas wert. Es kommt ohnehin alles in der „Wahrheit" Ende. Nach Nietzsches Antichrist kann man Jesus „mit einiger Toleranz im Ausdruck" einen „ ,freien Geist' " nennen (AC 32). Man kann ihn natürlich nicht auf den „Begriff" eines freien Geistes bringen. Was, um zu sein, gelingen muß und im Fall von Jesus als „Typus" nicht nur an „guten Tagen" gelingt, kann nicht von einem Begriff her bestimmt werden, den man schon hat. In der genannten „Toleranz im Ausdruck" drückt sich die Distan£ aus, in der „freie Geister" zueinander stehen. Sie lassen einander im Verstehen frei, ohne sich gegenseitig verstehen zu wollen. Sie wollen einander nicht ohne „Spielraum" verstehen, d. h. nicht interpretierend auf einen Begriff bringen. Interpretieren richtet sich auf ein Ende, auf eine letzte Interpretation. Es ist „Richten". „Freie Geister" richten nicht und sind darin an ihren „guten Tagen" einander verbunden. Wenn Nietzsche schreibt, „der Philosoph" habe, „wie Christus", zu sagen: „richtet nicht" (MA, Vermischte Meinungen und Sprüche, 33), dann ist ausdrücklich eine Parallele zwischen Christus und dem Philosophen gezogen, der nach der Überwindung des auf das Denken des Seins abzielenden Philosophen für Nietzsche der neue Philosoph ist. Nietzsche versteht damit Jesus als einen Menschen, der andere in ihrer Andersheit ertragen hat und in diesem Sinne „gerecht" war. Wer ist denn nun eigentlich der „Antichrist"? Eine eindeutige Antwort findet diese Frage bei Nietzsche nicht. Immerhin sagt er sogar: „Im Grunde erfüllen wir Gelehrten heute am besten die Lehre Christi", und als Begründung schickt er voraus: „Wir verstehen Alles, wir leben Alles, wir haben kein feindseliges Gefühl mehr zurück . . . Ob wir selbst dabei schlecht wegkommen, unsere entgegenkommende und beinahe liebevolle Neugierde geht ungescheut auf die gefährlichsten Dinge los . . . ,Alles ist gut' — es kostet uns Mühe, zu verneinen . . . Wir leiden, wenn wir einmal so unintelligent werden, Partei gegen etwas zu nehmen . . . " (VIII 11 [374]; vgl. AC 36). Die Lehre Christi erfüllt, wer alles versteht, weil er allem gegenüber gerecht sein kann, oder — soweit er das kann — wer nichts glaubt ausinterpretiert oder auf den Begriff gebracht zu haben, wer alles es selbst sein läßt. So könnte man sagen, der „Antichrist" sei der, der in diesem Sinne „Distanz" bestehen läßt zu allem anderen und damit auch gegenüber einer bestimmten Lehre, die in ihrer Bestimmtheit normativen Anspruch erhebt, der aber selbst „wie Christus" nicht richtet. Die griechische Präposition „Anti-" („angesichts" „gegenüber", aber auch: „gleich", „anstatt", „für", „gleichzuachten mit"; etymologisch verwandt mit „Antwort", „Antlitz") drückte dann das Verhältnis „freier Geister" zueinander aus, als ein Verhältnis, dessen Qualität in der Negation seiner Bestimmung
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durch Begriffe läge, als Bestimmung der individuellen Freiheit der Relata gegeneinander. — Nietzsche nennt sich „auf griechisch, und nicht nur auf griechisch" „der Antichrist " — (EH, Warum ich so gute Bücher schreibe, 2.)· Da das Individuum das einzige ist, das Nietzsche „etwas Absolutes" nennt (VII 24 [33]), ist es nicht abwegig, den „Tod Gottes" (den der tolle Mensch in der „Fröhlichen Wissenschaft" mit dem Anspruch, „wir" hätten ihn getötet, ausruft (FW 125), ohne zu wissen, daß er Gott „nicht los" wird, „weil" er mit diesem Ausruf „noch an die Grammatik" glaubt; vgl. GD, Die „Vernunft" in der Philosophie, 5) mit dem Tod Jesu am Kreuz zusammenzudenken, den Nietzsche den „höchsten Sieg über die ,Welt' ... über das Böse, über den Bösen" (VIII 11 [378]) nennt. Ein metaphysisch ausgedeuteter Gott wäre ein getöteter Gott, aber auch dann bliebe immer noch vor der Ausdeutung als dem Erreichen des Gedeuteten als Sein und nicht mehr als Leben die Grammatik 4 der Deutung. Für Jesus ist nach Nietzsche der eigene Tod kein Ende, sondern ein „weiteres Zeichen" des sich nicht äußernden, des nicht richtenden Individuums. Es „entnimmt die Werte für seine Handlungen . . . zuletzt doch sich selber" (VII 24 [33]). Das Absolute ist das die Schuld, d. h. das Sein-Müssen der urteilenden Deutung auf sich nehmende, in sich hineinnehmende und auch das Interpretieren der anderen als ein Müssen verstehende Individuum. Nietzsche ist mit Jesus nicht „fertig" geworden, nicht ^u Ende gekommen. Wenn er auch eine „Theorie vom Typus Jesu" (VIII 11 [378]) versucht hat, so bleibt „diese Figur" für ihn doch „nicht aus einem Guß" (VIII 11 [301]) und insoweit fern. Sie bleibt bzw. wird für ihn der Fernste par excellence, der absolut andere, also Individuum gegenüber allen Möglichkeiten der begrifflichen Aneignung durch die „Barbarei der Begriffe", in der „wir Europäer" nach Nietzsche „noch leben" (VIII 11 [302]). Jesus ist für Nietzsche, so könnte man sagen, das absolute „Anti-" als das absolute Individuum, und das Individuum ist das Absolute seiner Philosophie. Die Äußerungen Nietzsches zum Individuum erlauben eine eingehendere Interpretation seiner Äußerungen zu Jesus, vor allem des sonst mißverständlichen Begriffs des „Inneren", der in diesem Zusammenhang nichts mit einer romantischen „Innerlichkeit" zu tun hat. Er meint nichts anderes als das Nicht-Aufgehen in herrschenden Interpretationsschemata, so daß alle seine Äußerungen „ganz sein eigen" bleiben. So gesehen bleiben sie „innerlich". Aufschlußreich für Nietzsches Verständnis des Individuums in seiner Abhebung gegen den traditionellen Begriff des Individuellen ist 4
Vgl. v. Vf., Grammatik und Wahrheit. Über das Verhältnis Nietzsches zur spekulativen Satzgrammatik der metaphysischen Tradition, in: Nietzsche-Studien 1, I f f .
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ein Aufsatz von W. Hamacher 5 , vor allem für die Zusammengehörigkeit von Individuum und einem „innerlichen" Leben in uns (vgl. Hamacher, Disgregation, 310). Bei Leibniz, dem Philosophen der Individualität, ist z. B. ein Individuum „omnímodo determinatum". Hamacher weist darauf hin, daß das Individuum nach Nietzsche dagegen „die individuierende Kraft" „übersteigt" (316). Es ist mehr als „principium individuationis". Es ist vor allem kein Identisches im Sinne der Bestimmung durch solch ein Prinzip. Insofern „überlebt" es, wie Hamacher hervorhebt (vgl. J G B 262). Es „überlebt" jegliche Identifikation seiner selbst, auch die durch sich selbst. Es „überlebt" alle Tötung durch identifizierende Begriffe. „Individualität" ist so sehr als Inkommensurabilität bestimmt, daß kein Individuum seinem Begriff entspräche, das mit sich selber eins und gleich, das eine durchgängig bestimmte, ganze Form wäre. „,Menschliches, All^umenschliches' empfiehlt als Mittel zur Erkenntnis, sich selbst nicht durch eine beständige Haltung zu ,uniformieren' und sich ,selber nicht als starres beständiges eines Individuum' zu behandeln" (Hamacher, Disgregation, 310), sondern, wie es an der zitierten Stelle heißt, „auf die leise Stimme der verschiedenen Lebenslagen zu hören" (MA I, Aph. 618. Hervorh. vom Vf.). Wir erinnern uns, daß wir uns nach Nietzsche „in niederen Augenblikken" nicht mehr ohne Interpretation mit unseren „hohen Festzeiten" identifizieren. Die Individualität des Individuums besteht nicht in Identität. Identität ist immer die Identität unter einem interpretierenden Begriff, als Interpretation einer „Lebenslage" durch eine andere, unter Negation der Zeit dazwischen. Vom Begriff der Identität her gesehen ist das Individuum eigentlich das Dividuum als das Nichtidentische. Die Individuation ist die „Zerstückelung, das eigentlich dionysische Leiden" (GT 10). Das Individuum bringt sich selbst nicht auf einen Begriff, und es „will" es auch als solches nicht mehr. In seiner „Äußerung" im Begriff gegenüber dem Verstehen anderer oder auch schon durch sich selbst wäre es unwahr, es hätte sich bestenfalls, d. h. bestenfalls im Sinne der Wahrhaftigkeit, selbst auf einen Begriff gebracht und wäre darin nicht mehr „das gantée bisherige Leben in Einer Linie", sondern nur noch „dessen Resultat" (VIII 9 [84]), wie es von einem bestimmten Blickpunkt aus Ende gekommen zu sein scheint. Im Begriff scheint das Leben in einer bestimmten Weise, so wie es sich jet^t gerade selbst zuschauen, theoretisieren kann, zu Ende gekommen oder vollendet zu sein. In der Ablösung des Individuums vom Begriff — mag er nun als eigener Begriff, als „Selbstbewußtsein", oder als von einem anderen Standpunkt als dem Blickpunkt „des" Absoluten aus 5
W. Hamacher,
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des Wittens, in: Nietzsche-Studien 15, 306 ff.
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gedachter Begriff begriffen sein — denkt Nietzsche das gegenüber den tötenden Begriffen und ihren Scheidungen ungeschiedene Leben. Man müßte in der Lage sein, das, was Nietzsche zum Individuum sagt, nun ohne Interpretation zu verstehen. Man muß aber zunächst verstehen, daß dies keine Sache des Willens, sondern eine Sache der „Lebenslage" ist. Nietzsche weiß, daß wir nicht immer in einer solchen Lage sein können. „Sobald wir die Gerechtigkeit zu weit treiben und den Felsen unserer Individualität zerbröckeln, unsern festen ungerechten Ausgangspunkt ganz aufgeben, so geben wir die Möglichkeit der Erkenntnis auf . . . Es sei denn, daß wir alles nach einem anderen Individuum messen, und die Ungerechtigkeit auf diese Weise erneuern — auch wird sie größer sein (aber die Empfindung vielleicht reiner, weil wir sympathisch geworden sind und im Vergessen von uns schon freier)" (V 6 [416]). Und deshalb bleibt es auch für uns, wenn wir intellektuell redlich sind, beim — polemischen — „Anti-". Es stellt sich, wenn von einer solchen Sicht auf Jesus und das Christentum, das „immer noch möglich" sei, im Unterschied zu seinen „Interpretationen" die Rede ist, das Problem des gerechten Verstehens der anderen Individualität als des Absoluten, d. h. des Göttlichen. Zunächst ist festzuhalten, daß es sich bei einer „Theorie vom Typus Jesu" (VIII 11 [378], Hervorh. vom Vf.) natürlich auch um eine Interpretation und folglich um einen „Willen" handelt, der sich mit diesem Typus theoretisch auseinandersetzt. Insofern handelt es sich um einen A-theismus „aus ressentiment" (vgl. VIII 15 [30]), d. h. aus einer anderen Sicht, der es um die eigene Identität geht. Sie ist gegenüber einer Person, die „nichts will" und sich damit aller Entgegensetzung entzieht, notwendig inadäquat. Solch eine Sicht bezieht von sich aus Position. Sie „richtet", weil sie überhaupt urteilt, und kann insofern nicht „gerecht" sein. Es sind Hypothesen, deren „Wahrheit" in der „Kraft" (vgl. AC 50), in dem „sublimen Schwung' besteht, „welche sie ihrem Urheber" geben (VIII 14 [57]). Sie steigern in ihrer gefundenen Formulierung sein Selbstgefühl, und so ist es auch wohl zu verstehen, wenn Nietzsche sagt, der Atheismus verstehe sich bei ihm „aus Instinkt" (EH, Warum ich so klug bin, 1). Der metaphysisch vorgegebene Theismus ist für ihn eine zu „faustgrobe Antwort" (ebd.), und der Gegensatz zwischen Theismus und Atheismus erscheint als zu grober metz'çihysisch-begrifflicher Gegensatz. Nietzsche reflektiert die Schwierigkeit, sich gegenüber solchen vorgegebenen Schemata des Denkens und des Verstandenwerdens auszudrücken. „Alles, was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar einen Haß auf Bild und Gleichnis", die ver-gleichen und gleich machen. So fragt Nietzsche, ob „nicht erst der Gegensatz die rechte Verkleidung"
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sei, „in der die Scham eines Gottes einherginge". „Es wäre wunderlich, wenn nicht irgendein Mystiker schon dergleichen bei sich gewagt hätte", denn es gebe „Vorgänge so zarter Art, daß man gut" tue, „sie durch eine Grobheit zu verschütten und unkenntlich zu machen". Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von „Handlungen der Liebe" ( J G B 40), in denen das Verschütten des Eigenen das Mittel zur Bewahrung vor einem zu groben Verständnis ist. Das „Anti-" wäre damit die Maske, die ein inniges Verstehen vor der Grobheit begrifflicher Alternativen schützen soll. In einer Nachlaßstelle heißt es entsprechend: „ J e höherer Art, um so mehr bedarf der Mensch des incognito. Gott, wenn es einen gäbe, dürfte, schon aus Anstandsgründen, sich nur als Mensch in der Welt bezeigen" (VII 35 [76]). Er wäre nicht allgemein, von seinem metaphysischen Begriff des ens realissimum her, zu beweisen, sondern wäre nur da, indem einem die Augen für die Göttlichkeit solch eines Menschen, face en face, aufgingen. Jeder kann es sein. Die „Anstandsgründe" stehen hier für die „Scham", von der Nietzsche an anderer Stelle spricht (vgl. J G B 40). Es ist die Scham vor der Identifizierung und dem Identifiziertwerden im allgemeinen Begriff. V Es gibt nach Nietzsche nur vom Schema der Metaphysik her — in dem wir im allgemeinen denken müssen, wenn wir denken wollen — das Problem, das Wirkliche aus dem Möglichen und damit — wie im ontologischen Gotx&s-Beweis, der allgemein vollziehbar sein müßte — die Wirklichkeit vom Begriff her zu „verstehen". Das Wirkliche geschieht zu seiner Zeit, ohne zuvor einem gegebenen Begriff nach möglich gewesen zu sein. Es ist das Wunder. Aber es hat auch „seine" Zeit und ragt in keiner Weise über sie hinaus. Es „west" nichts anderes in ihm an. Es ist weder möglich gewesen, als es noch nicht geworden war, noch ist es in irgendeiner Weise etwas Vorläufiges, das sich in etwas anderem vollenden soll. Es ist und bleibt Zeichen, und es soll nichts anderes bedeuten. Die modalen Unterscheidungen gehören zur jeweiligen nachträglichen Interpretation von Welten, in denen man jeweils bei den Sachen selbst, bei der wahren Sicht von Dingen glaubt angekommen zu sein. Jeder Glaube dieser Art findet seine spätere „Erklärung", die sich dann selbst für die richtige hält, usw., ohne Ende und damit ohne Ausrichtung auf etwas hin, d. h. in ewiger Wiederkehr, die aber niemand so erlebt, als sei er ihr Subjekt als theoretischer Zuschauer seiner selbst. Niemand sieht „sich" wiederkommen, weil alles, was man „gesehen" hat, nur das ist, was man jetzt gerade sehen, woran man sich erinnern kann. Wenn alles ewig
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wiederkehrt, vergißt man auch immer wieder dasselbe und kehrt somit für sich als Subjekt-Objekt niemals wieder. Die Zeit der Wirklichkeit ist die ungerichtete und darin gerechte Zeit, die Zeit der nicht richtenden, ihr Denken auf kein Sein hinter dem Schein ausrichtenden „freien Geister". Dem Hauptgedanken Nietzsches fehlt somit das normative Hauptkennzeichen metaphysischen Denkens. Er läßt sich nicht fassen, und damit läßt er sich nicht zu Ende denken. Es gibt keine „letzte" Interpretation dieses Gedankens. Auch Nietzsches Selbstinterpretationen werden dadurch fragwürdig. Er sagt ja selbst, daß man aus der Sicht niederer Augenblicke seine hohen Festzeiten nicht verstehen könne. Ist es denn dann noch ein „möglicher" Gedanke? Mit dieser Frage wären wir wieder in dem Schema, alles als Seiendes und es als solches von seiner Möglichkeit her, von einem vorgefaßten Begriff oder dem uns je Faßlichen her zu denken, von dem ja auch Nietzsche sagt, daß wir es „nicht abwerfen" können. Diese Frage zeigt, daß wir nur das für möglich halten, was wir fassen, d. h. auf Bekanntes zurückführen können. Von da aus ist der Gedanke Nietzsches kein (möglicher) Gedanke. Als vorbehaltlose Affirmation £ergeht er in seiner Interpretation, wie immer sie lauten mag, indem sie sich — um des Handelns willen — als wenigstens jetzt „letzte" versteht, die uns sagen will, „was" „ewige Wiederkehr" bedeute oder in Wahrheit sei. Als solch eine Wahrheit gefaßt bedeutet sie nichts. Selbst der Tod ist, wie die „Theorie vom Typus Jesu" zeigt, so gesehen keine „Hauptsache" des Lebens, auf die es in allem ausgerichtet wäre, sondern nur „ein Zeichen mehr". Das Leben ist nicht wie bei Heidegger als „Sein zum Tode" gedeutet. Es ist nicht durch seine Ausrichtung auf den Tod als Leben aus-gedeutet. Kein Zeichen ist letztes Zeichen, keines ist letzte Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der anderen. Letzte Antworten will die Metaphysik geben, indem sie zu Begriffen als zu den Bedeutungen der Zeichen und damit über die sinnlichen Zeichen hinauskommen will. Der Wille zur Macht ist der Wille zum letzten, bestimmenden Wort, zur Ausdeutung anderer Deutung. Da dieser Wille der Grundzug des Schemas ist, das wir „nicht abwerfen können", sieht Nietzsche für seine Zukunft eine „Notwendigkeit" „am Werke", die gerade dem Drang nach einem Begriff für die Zukunft entspringt: „Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen", „für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt", eben weil sie auf letzte Worte aus sind. „Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein Strom, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen." (VIII 11 [411])
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In Nietzsches Jesusbild stehen sich Vormetaphysisches und Nachmetaphysisches individuell gegenüber. Diese „Spannung" drückt die griechische Vorsilbe anti- aus. Aber dazwischen stehen die Zeit und die Welt der Metaphysik, deren Schema den Späteren bestimmt und ihm die Sprache der Theorie gegenüber allem und damit das aller theoretischen Vermittlung notwendige Mißverstehen vorgibt, in der alle Individualität zum „Typus" wird und vor dem nur die Maske der polemischen Verschüttung hilft. Dem Gott der Metaphysik als der Vollendung des Begriffs im Sein stellt Nietzsche die unaufhebbare Differenz der Individuen gegeneinander entgegen. So steht, wenn der Gekreuzigte Gott sein soll, Dionysos als Gott des Leidens gegen den Gekreuzigten, gegen dessen Gottsein im metaphysischen Sinn. Dieses Gegen ist für keine Seite wegzudenken. Das „Gegen" bedeutet auch Zugehörigkeit zueinander, aber als unendliche Differenz, und so ist auch Gott als solcher leidend, das Leiden göttlich. Die Metaphysik hat das Individuelle nicht bewältigt und damit auch nicht den leiblichen Gegensatz von Mensch zu Mensch in einem Begriff von Gott.
FRIEDRICH
KAULBACH
Kritik der Vernunft und Vernunft der Sinnwahrheit bei Nietzsche* Kritik der reinen Vernunft, der Titel des kantischen Werkes, ist für einen wesentlichen Z u g auch dessen kennzeichnend, was Nietzsche unter Vernunft versteht und selbst in seinem philosophischen Denk-handeln praktiziert. Dabei kommen seine Aussagen über Vernunft wie auch sein Gebrauch der Vernunft des Philosophierens in Betracht. Das Drama der Vernunft, welches sich in Kants Denken abgespielt hat, ist dem Nietzsche der Geburt der Tragödie bereits vor Augen: Kants Bild von der Vernunft zeigte sich dabei als das einer Geschichte von Übergängen über sich selbst hinaus. Kant hat sich selbst zum Wortführer und zum Vollzieher dieser Übergänge gemacht, wenn er z. B. philosophische Vernunft den Stand einer Gesetzgeberin und Richterin zugleich einnehmen läßt, von dem aus sie Ansprüche eigener Gestalten, in denen sie auftritt, rechtlich normiert. Es ist die Gestalt der theoretisch-wissenschaftlichen Vernunft, die Nietzsche in der Geburt der Tragödie, in der Richtung der kantischen Kritik weitergehend, in ihre Rechtsgrenzen zurückweisen will, die diese bei weitem überschritten hatte. Bei Nietzsche ist es die künstlerische Vernunft, welche die legislative und zugleich judikative Rolle übernimmt. Im Einklang mit Wagner sieht er in der Ausübung dieses Amtes eine für die Kultur im allgemeinen bedeutsame Leistung. Man vernimmt aus seinem Munde das auch von Kant in demselben kritischen Zusammenhang gebrauchte Wort „Bändigung", mit dem er die Disziplinierung des anarchisch gewordenen Erkenntnistriebes bezeichnet. Dessen theoretischer Vernunft kann der philosophische Richter, der sich zugleich als Künstler erweist, vom Stand seiner Vernunft aus den Anspruch nicht zubilligen, das Dasein zu „rechtfertigen", oder, in der späteren Sprache Nietzsches gesagt, die Sinnfrage zu stellen und sie zu beantworten. Nietzsche bekennt in einem nachgelassenen Fragment 1 , daß es die Einsicht in die letzten Grenzen der theoretischen Vernunft gewesen sei, die ihn damals für Kant und Schopenhauer begeistert habe. E s ist im * Erweiterte F a s s u n g eines im April 1988 bei einem Nietzsche-Kurs in Dubrownik gehaltenen Vortrags. 1 1883, K S A , 10, S. 239
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Blick darauf in der Geburt der Tragödie die Rede von der „tragischen Erkenntnis". 2 Deren Augenblick sieht er in dem Ereignis des Untergangs der metaphysischen Vernunft gekommen. Sie ist kritische Erkenntnis der Tragödie der Metaphysik, die der Europäische Mensch bis zu Kant mit der Mission betraut hatte, in dogmatischer Denkart das Dasein zu rechtfertigen sowie eine ihm Sinn verleihende Weltdeutung rational zu begründen. Da dabei die Grenzen der theoretischen Vernunft unbeachtet geblieben sind, mußte die Hoffnung, die auf sie gesetzt war, enttäuscht werden. Es ist die Intention Nietzsches in der Geburt der Tragödie, die von Kant und seinen idealistischen Nachfolgern gegebene Antwort auf diese tragische Situation, in welcher der Held des dort gespielten Dramas, die metaphysische Vernunft, untergegangen war, durch eine überlegene Form von Vernunft zu überbieten, die allein der Aufgabe der Rechtfertigung des Daseins gewachsen sein sollte: das sollte die Vernunft der dionysischen Kunst sein. In der frühen Zeit übernimmt Nietzsche die Rolle des Wortführers der dionysisch-apollinischen Vernunft und ihrer Welterkenntnis, von deren Stand aus er kritisch beschränkend die wissenschaftlich theoretische Vernunft zu bändigen sucht. Später wird sich dieser überlegene, gesetzgebende und richterliche Stand als derjenige der Vernunft des Leibes darstellen. Wenn Nietzsche von „Vernunft" und über sie spricht, dann wird man nur dann seine Aussagen angemessen zu deuten vermögen, wenn man jeweils bedenkt, welche Gestalt von Vernunft im einzelnen Fall vor Augen steht, der Nietzsche von dem von ihm eingenommenen Vernunftstande aus sein kritisches, Recht und Unrecht unterscheidendes Auge zuwendet. Wenn Nietzsche ζ. B. gegen die Programmatik der reinen, neutralen und blassen Vernunft in Natur- und Geisteswissenschaften das Prinzip des Affekts als an der Erkenntnis beteiligt erklärt, und ihm ein kognitives Recht zuspricht, so redet er von seinem Vemunftstande aus über eine untergeordnete Form der Vernunft, der er als reiner Vernunft die Allherrschaft streitig macht. „Seine" eigene Vernunft ist über den Gegensatz zum Affektprinzip hinaus. Auch gegen diejenigen nämlich, die den Reichtum der Irrationalität gegen Vernunft ausspielen, wendet er sich mit dem Gedanken, daß sich deren abschätzige Rede von Vernunft auf ein verengtes Bild von dieser bezieht. Aufschlußreich hierfür ist ein Aphorismus aus der Morgenrote, in welchem er sich gegen Apostel der Vernunftfeindschaft, gegen gutartige und sogar edle Schwärmer ausspricht, die sich für Gefühl, Schau, Intuition
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Hierzu die Ausführungen zur dionysischen Gestalt der Vernunft in meinem Buch
sches Idee einer Experimentalpbilosophie, Erkenntnis vgl. meine Skizze Das Wissensmoral,
Nietz-
Köln —Wien 1980; zum Begriff der tragischen Drama in der Auseinandersetzung ^wischen Kunst und
aus: Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Würzburg 1986.
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auch auf dem Felde philosophischen Erkennens gegen den Anspruch der Vernunft einsetzen. „Bis zum Hass gegen die Kritik, die Wissenschaft, die Vernunft treibt ihr e s . . . Farbige Bilder, wo Vernunftgründe not täten! Glut und Macht der Ausdrücke! Silberne Nebel! Ambrosische Nächte!" 3 Diese Vernunftfeinschaft — Kant hat von Misologie gesprochen — beurteilt Nietzsche als „Lasterhaftigkeit des Intellekts". Nietzsche spricht in einem gleich darauf folgenden Abschnitt im Blick darauf, „wie man jetzt Philosophie treibt", von den „Lüsternen und Dünkelhaften", die sich über das von Sokrates zum Maßstab des Philosophierens erhobene Vernunftprinzip unter Berufung auf Schau, Gefühl und Intuition hinwegsetzen. Sie haben keine Ahnung von dem Jauchzen über die Erfindung des vernünftigen Denkens, das in den platonischen Dialogen spürbar sei: also vom dionysischen Einschlag der Vernunftphilosophie. „Damals füllten sich die Seelen mit Trunkenheit, wenn das strenge und nüchterne Spiel der Begriffe der Verallgemeinerung, Widerlegung, Engführung betrieben wurde, mit jener Trunkenheit, welche vielleicht auch die alten grossen strengen und nüchternen Contrapunktiker der Musik gekannt haben." 4 Der „feinere Ehrgeiz" der heutigen Irrationalisten möchte „gar zu gerne sich glauben machen, dass ihre Seelen Ausnahmen seien, nicht dialektische und vernünftige Wesen, sondern — nun zum Beispiel „intuitive Wesen", begabt mit dem „inneren Sinn" oder mit der „intellektuellen Anschauung". Vor allem aber wollen sie „künstlerische Naturen" sein, mit einem Genius im Kopfe und einem Dämon im Leibe und folglich auch mit Sonderrechten für diese und jene Welt, namentlich mit dem Götter-Vorrecht, unbegreiflich zu sein. — Das treibt nun auch Philosophie. Ich fürchte, sie merken eines Tages, dass sie sich vergriffen haben, — das, was sie wollen, ist Religion!" 5 Diese Apologie der Vernunft aus Nietzsches Munde ist bemerkenswert, vor allem auch, wenn man auf die Parallele des späten Aufsatzes Kants Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie von 1796 achtet. Auch hier wird der Dünkel des Vornehmen ironisch bloßgestellt, der sich aus der Vernunftgesetzgebung der quasibürgerlichen Gesellschaft der Philosophierenden ausnimmt. Nietzsche ist wahrhaft nicht der Letzte von denen, die für die Bedeutung der Anschauung, des Instinktes, der individuellen Wahrheit plädieren, aber er will sein Eintreten für die kognitive Bedeutung dessen, was nach gewöhnlichen Maßstäben als das Außervernünftige, das Irrationale bezeichnet wird, nicht als Polemik gegen die Vernunft überhaupt verstan3 4 5
M, 543 M, 544 M, 544
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den wissen. Er nimmt vielmehr, um diesen Lebensbereich zu decken, sogar höhere Standpunkte der Vernunft in Anspruch: von der Leibvernunft wird noch die Rede sein. Anders gesagt: Nietzsche will Gerechtigkeit. Diese wird, das ist auch für ihn ausgemachte Sache, vom Richterstuhl einer überlegenen Vernunft aus verwirklicht. Nietzsche stellt sich auf den überlegenen Stand richterlicher Vernunft, von dem aus diese Vernunft Rechtsgrenzen der Ansprüche und Kompetenzbereiche ihrer eigenen untergeordneten Gestalten festlegt: er selbst spricht gelegentlich vom „Herabsehen" auf sich selbst. Für ihn besteht analog wie für Philosophen der Vernunft vor ihm der Gesamtbau der Vernunft in einer Hierarchie von Aufgabenfeldern, für deren jedes eine Gestalt der Vernunft verantwortlich, und auf welches sie rechtlich beschränkt ist. Aber Nietzsche geht über die Tradition der Vernunftphilosophie insofern in entscheidender Weise hinaus, als es die Vernunft des Leibes ist, der er den Platz auf dem Stuhl des Gesetzgebers und des Richters anweist. Unter dieser Voraussetzung der Situation des Beurteilens und Verwaltens der Vernunft durch sich selbst ist ζ. B. das berühmte Urteil Nietzsches über den Werkzeugcharakter der Vernunft zu deuten. Wenn sich Vernunft als Organon versteht, dann meint sie eine besondere Gestalt, in der sie sich ihrem eigenen Urteil stellt. So etwa ist es der Fall an der Stelle, an welcher er drei Phasen der bisherigen Moralität unterscheidet: 6 er könnte sie als drei Phasen des Gebrauches der Vernunft als Mittel und Werkzeug für die Verwirklichung von Handlungszwecken nennen. Moralität und Vernunft treten in der ersten Phase als Verbündete auf, von der es heißt, daß in ihr der Mensch „nützlich" und „zweckmäßig" werde und daß in ihr zuerst die „freie Herrschaft der Vernunft" herausbreche. Eine analoge Rolle des Mittels spielt Vernunft in den beiden anderen Phasen: es sind diejenige der „Ehre" und die des Eingestelltseins auf den allgemeinen Nutzen. In der Sprache der herkömmlichen Moral und gemäß ihrer Perspektive, deren sich Nietzsche als Artist des Umgangs mit Perspektiven vom Stand s e i n e s Denkens und Sprechens aus ironisch bedient, kann „nützlich" und „zweckmäßig" als gleichbedeutend mit „vernünftig" verstanden werden, wobei dann eine untergeordnete Gestalt der Vernunft im Blick ist. Das heißt, daß hier nicht endgültige, wesentliche Aussagen über „die" Vernunft gemacht werden wollen: es bedeutet nur, daß Nietzsche eine Vernunftgestalt, nämlich diejenige betrachtet, die sich in der menschlichen Geschichte als Werkzeug in der Hand moralischer Weltstellung erwiesen hat.
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So ist der Doppelsinn in der Stelle in Jenseits von Gut und Böse zu verstehen, in welcher gegen das Cartesische Plädoyer für Vernunft als der alleinigen Autorität von Nietzsche gesagt wird: „aber die Vernunft ist ein Werkzeug und Descartes war oberflächlich". 7 Das ist in diesem Zusammenhang und auf dieser Stufe der Reflexion vor allem auf das Verhältnis zwischen Vernunft und Instinkt in der Moral gemünzt. In Dingen der Moral habe „bisher der Instinkt oder wie es die Christen nennen, der Glaube, oder wie ich es nenne, die Herde" gesiegt. Descartes, der „Vater des Rationalismus und damit der Grossvater der Revolution", habe die Rolle, welche Vernunft in Wahrheit in der Moral gespielt hat, nicht in ihrem Werkzeugcharakter erkannt. Er hat nicht gesehen, so könnte man ergänzend sagen, daß die Vernunft der Moral als Werkzeug derjenigen eines besonderen Instinktes zu Diensten ist, welche in diesem Falle der Instinkt der Verleumdung des Lebens ist. Vernunft der Wissenschaft oder der Moral dient jeweils einem Lebensinstinkt bestimmten Charakters, auch wenn sie sich selbst von i h r e m Standpunkt aus und in ihrer Perspektive etwa in der Wissenschaft als interessefrei oder in der Moral als der reinen Gutheit verpflichtet verstehen oder auch tarnen sollte. In Aussagen der Vernunft über sich selbst macht sie jeweils eine besondere Gestalt ihrer selbst zu ihrem Gegenstand: diese Aussagen dürfen nicht als dogmatisch gedeutet werden. Sie sind als die Vernunft in je einer bestimmten Hinsicht betreffend zu verstehen. Wer von „der" Vernunft überhaupt aussagen wollte, sie sei Werkzeug und Mittel, würde Nietzsche nicht auf seiner Seite finden, denn dieser reflektiert die eigene Vernunft, von deren Stand aus und in deren Perspektive solche Aussagen gemacht werden. Diese Vernunft selbst versteht sich und ihren über-legenen Stand des Urteilens und Beurteilens selbst nicht als Werkzeug für die Verwirklichung von Zwecken einer höheren Vernunft des Lebensinstinktes, sondern als die Vernunft, die dem Lebenswillen selbst ein Ziel, einen Wert, einen Sinn gibt. Nietzsche steht daher auf der Seite Kants, wenn dieser bemerkt, daß die Natur selbst unvernünftig gehandelt hätte, wenn sie mit ihrer Gabe der Vernunft beabsichtigt hätte, dem Menschen ein Werkzeug und Mittel zur Lebenserhaltung zu geben, statt mit dieser Vernunft eine ganz andere, unendlich über ihre Mittelrolle hinausgehende Absicht zu verbinden. Vernunft als lebensbeförderndes Mittel allein angesehen müßte als ungeeignetes und zweischneidiges Werkzeug betrachtet werden: besser wäre, so Kant, in dieser Hinsicht die Ausstattung mit geschickteren Instinkten. Wenn schon Vernunft, dann muß sie die weit über ihre pragmatische, utilitarische, biologische Nützlichkeit hinausgehende Mission erfüllen, dem 7
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Menschen seine ausgezeichnete Stellung im Kosmos zu geben. Auf ihrem Boden standnehmend soll sich der Mensch seinen absoluten Wert, seine Würde verschaffen: so Kant. Der Mensch soll eine Gestalt der Vernunft verwirklichen, die ihn in den Stand setzt, sein Dasein zu rechtfertigen und ihm einen Sinn zu geben: so Nietzsche. Besondere Aufmerksamkeit der Kritik zieht die Vernunft des wissenschaftlichen Begründens und Beweisens auf sich: es geht um diejenige Gestalt der Vernunft, die in der philosophischen Tradition seit Kant den Namen „Verstand" trägt. Sie dient als theoretische Vernunft dem Willen zum wissenschaftlichen Systematisieren als Werkzeug (Organon), mit Hilfe dessen er einzelne Erkenntnisse in ein überzeugendes Wissensgebäude einzubauen vermag. Die Grenzüberschreitung dieser Vernunft, welche Richterin Vernunft unter der Federführung Kants als unrechtmäßig beurteilt hat, kann so gekennzeichnet werden: sie besteht in dem anmaßenden Anspruch des theoretischen, auf Begründung und Beweis abzielenden Verstandes, nicht nur die Natur oder auch die geistige Welt auf Begriffe zu bringen und in die Hand zu bekommen, sondern als dogmatische Metaphysik auch die Frage nach dem Wozu?, dem Sinn zu stellen und zu beantworten. Durch ihr Scheitern in dieser Hinsicht hat dogmatischmetaphysische Vernunft die Gesetzgeberin und Richterin Vernunft auf den Plan gerufen, die ihren Sprecher in Kant gefunden hat. Dogmatische Metaphysik hat, um es in der Sprache Nietzsches zu sagen, durch ihr Bestehen auf dem Verfahren des Begründens und Beweisens die tragische Situation bewirkt, sofern sie die Erwartungen auf Sinn-leistung enttäuscht hat. Das Urteil, welches Kant die Richterin Vernunft über die Angeklagte: Metaphysik sprechen läßt, mag so formuliert werden: Philosophische Aussagen können und dürfen nicht, wie dogmatische Metaphysik es will, darauf ausgehen, Wahrheit über Objekte auszusprechen: sie gehören nicht dem Bereich der Objektwahrheit an. Philosophisches Denken macht sich vielmehr die „Denkart", wie Kant sagt, also die „Perspektive" zu seinem „Gegenstand", in welcher die Welt der Objekte gedeutet wird. Daher kann und darf philosophische Vernunft nicht darauf ausgehen, dogmatische, d. h. lehrhaft mitteilbare Aussagen über die Welt zu machen; vielmehr soll die Sprache der Philosophie diejenige sein, in welcher mögliche Perspektiven der Weltdeutung erörtert und die Entscheidung für die „wahre" motiviert werden. In der transzendentalen Dialektik will Kant eine Gesetzgebung für den der „Wahrheit" gemäßen Gebrauch von Perspektiven geben. Wenn demgemäß die Intention philosophischen Denkens und Sprechens nicht auf Objektwahrheit gehen darf, dann muß sie auf die Bedeutsamkeit von Perspektiven für den Denkenden und Sprechenden achten: diese
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Bedeutsamkeit nenne ich Sinnwahrheit. Im Denken Kants z. B. motiviert die von ihm als metaphysisch deklarierte Vernunft die Behauptung des Sinnes menschlichen Handelns in der Weise, daß er dem guten Willen die Hoffnung auf end-gültigen Erfolg seines Einsatzes durch die Perspektive des höchsten Gutes rechtfertigt. Diese Perspektive erweist ihre „Wahrheit" dadurch, daß sie der Handelnde „voraussetzen" bzw. „annehmen" muß, wenn er zur Entscheidung zum Handeln fähig sein soll, statt wie Hamlet am Handeln zu verzweifeln. Dieses „muß" gehorcht einer Notwendigkeit, die ich als Sinnotwendigkeit bezeichne: sie ist Notwendigkeit der Sinnvernunft. Kant trägt ausdrücklich dem perspektivischen Charakter der Aussage über die Welt dieser moralischen Qualität in der Weise Rechnung, daß er sie nicht als Aussage über das objektive Sein dieser Welt etwa in der Bedeutung der Leibnizschen Metaphysik der besten aller möglichen Welten gelten läßt, sondern daß er ihr „nur" die Rolle eines Postulats zubilligt. Sie kann demgemäß nicht auf Objekte bezogene, also „Objektwahrheit" beanspruchen: ihre Bedeutung richtet sich nicht auf das Sein eines Objekts, sondern auf dessen Gefordertsein, sie erfüllt sich in der Bedeutsamkeit für den Handelnden. Sinnwahrheit wird sich auch bei Nietzsche als Wahrheit der philosophischen Aussagen erweisen, welche als Ausdruck von Weltperspektiven und Entscheidungen für sie nicht Bedeutung auf das Objekt hin, sondern Bedeutsamkeit für das Subjekt nach Maßgabe der Sinnotwendigkeit zeigen. In solchen Wendungen wie der, nicht Wahrheit von Aussagen im herkömmlichen Verstände — es ist Objektwahrheit gemeint — sondern der Wert für das Leben entscheide, zeigt Nietzsche in diese Richtung. An dieser Stelle des Gedankenganges wird erkennbar, wie eng die Frage nach der Vernunft mit derjenigen nach der Rolle verbunden ist, die man der Metaphysik zubilligt. Das ist darauf zurückzuführen, daß Metaphysik in der Tradition als die philosophische Domäne aufgetreten ist, in welcher die Sinn-vernunft ihre Frage gestellt und beantwortet hat. Die vorkantische Metaphysik ist, in der Sprache der Kritik beurteilt, daran gescheitert und mußte scheitern, weil sie dogmatische, statt perspektivistische Deutung ihrer Sätze intendiert hat; weil sie weiterhin auf wissenschaftliche Objektwahrheit, statt auf Sinnwahrheit ausgegangen ist: genauer gesagt, weil sie zu Unrecht die Sinnfrage mit der Intention auf Objektwahrheit beantwortet hat. Schließlich ist sie mit ihrem Anspruch auf Begründung und dem von Kant so genannten „ostentativen" Beweis, auf dem falschen Wege, statt sich damit zu bescheiden, die Entscheidung für eine jeweils als sinnwahr erkannte Perspektive der Weltdeutung zu motivieren. Wenn man die auf Sinnwahrheit abzielende Aufgabe unter perspektivistischem Gesichtspunkt übernimmt und erfüllt, dann mag man das als
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berechtigte, weil kritische Metaphysik bezeichnen. Es kann unter dieser Voraussetzung nicht als Beschuldigung gewertet werden, wenn ζ. B. Heidegger Nietzsche gegen dessen Selbstverständnis als „Metaphysiker" ausgibt. Gegenwärtige Debatten über Recht oder Unrecht der Metaphysik kranken oft daran, daß man von Kant nicht gelernt hat, den eigentümlichen Charakter der Bedeutung, die eine metaphysische Aussage hat, von dem wissenschaftlicher Aussagen zu unterscheiden. So machen es sich Widersacher leicht, wenn sie ihre Ablehnung der Metaphysik auf die Vorstellung gründen, sie erhebe den illegitimen Anspruch einer Art Über-Wissenschaft, bei der es um maßgebende Objektwahrheit gehe. Auch wenn Nietzsche in einem abschätzigen Tone von Metaphysik spricht, hat er das einseitige Bild von ihr als einem Unternehmen mit dem Anspruch auf Wissen von der „wahren Welt" vor Augen. Aber er selbst spricht eine metaphysische Sprache, wenn er die Perspektive der Wiederkehr als die unserer Gegenwart angemessenen Weltdeutung wählt. In dieser Sprache zeichnet er auch ein Bild des Denkenden und Wollenden, in welchem sich dieser als ein System von Monaden darstellt, von denen jede eine eigene Perspektive vertritt. Sie behauptet diese mit Durchsetzungswillen im Kampf mit den anderen und tritt mit diesen in Herrschaftsverhältnisse ein. Diese sind in Fluktuation begriffen, da in jeder Lebensgegenwart jeweils eine andere Perspektive die Herrschaft über die anderen ausübt.8 Daß Nietzsche schon im Bereich des physiologischen Lebenkönnens des Menschen der Sinnwahrheit ihren Platz einräumt, ist aus seiner oft wiederholten und variierten These zu ersehen, daß das Leben nur in bedingter Weise Wahrheit, verstanden in der Bedeutung der Objektwahrheit, vertrage, und daß demjenigen Geltung für das Leben zukommt, was am Maßstab jener Wahrheit gemessen als Irrtum, ja auch als Lüge zu bezeichnen ist. An die Überlegungen der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung ist in diesem Zusammenhang zu erinnern. Vom Stand perspektivistischer und zugleich kritischer Philosophie aus ernennt Nietzsche die philosophische Vernunft zum Richter über das Programm der „wahren Welt". In einem Abschnitt über die Vernunft in der Philosophie9 spricht er von „Idiosynkrasieen der Philosophen", unter denen auch die als selbstverständlich geltende These genannt wird, daß solche ganz abstrakten Begriffe wie das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommene in der Bedeutung des Ansichseins zu
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E s ist ein bedeutendes Verdienst Müller-Lauters, die hierauf bezogenen Gedanken Nietzsches scharf herausgebildet zu haben. G D , D i e „Vernunft" in der Philosophie, 4 1 5
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verstehen seien. „Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt als Ursache an sich, als ens realissimum". Nietzsche trifft in Wahrheit nur die vorkantisch dogmatische Metaphysik und spielt gegen sie den kritischen Perspektivismus aus, wenn er es als symptomatisch für die Idiosynkrasie der Metaphysiker bezeichnet, daß sie über das Ding, das Subjekt, die Ursache-Wirkungbeziehung, über Einheit, Identität, Substanz usw. mit dem Anspruch auf Objekt-Wahrheit aussagen. Dagegen wehrt sich die perspektivistisch-kritische Vernunft: „ In der Tat, nichts hat bisher eine naivere Überzeugungskraft gehabt als der Irrtum vom Sein, wie er z. B. von den Eleaten formuliert wurde: er hat ja jedes Wort für sich, jeden Satz für sich, den wir sprechen! . . . Die „Vernunft" in der Sprache! ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben..." 1 0 Die in Anführungszeichen gesetzte Vernunft in der Philosophie hat sich durch die falsche dogmatische Vernunft, in deren Bann wir die Sprache des Alltags sprechen, zur falschen Metaphysik der wahren Welt mit ihrem Anspruch auf Objektwahrheit verleiten lassen: sie wurde durch diese gerade dazu „nezessitiert", in dieser Stellung des dogmatischen Sprechens von den genannten Kategorien als Ansichbeständen zu reden. Gibt es vielleicht ein noch zu rechtfertigendes Denken und Reden von Gott in nicht-objektiver Bedeutung? Wir „kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der Vernunft, zum Bewusstsein bringen..." 1 1 Damit wird zugleich der hinter dieser Metaphysik stehende Wille zur Objektwahrheit aufgedeckt. Die Entlarvung des sich als reinen Erkenntniswillen ausgebenden Willens zur dogmatischen Metaphysik läßt erkennen, daß die objektwahre Welt nur „hinzugelogen" ist: sie ist gelogen, da der sie behauptende Philosoph ihren bloß perspektivischen Charakter nicht zugeben will. Der kritische Philosoph wird nicht abstreiten, daß die philosophische Sinnvernunft von einer als objektiv vorgestellten Welt sprechen muß, aber er verlangt von ihr, daß dieses mit perspektivistischem Bewußtsein geschieht. Er will die Gegenstände, von denen er spricht, nur in der Bedeutung der „Als-ob-Gegenständlichkeit" verstanden wissen. Durch Überwindung der Befangenheit des philosophischen Denkens aus den Fesseln der Objektwahrheit stellt Kritik an dogmatischer Anmaßung der Sprache ebenso wie der ihr hörigen Metaphysik für die Vernunft, welche Sinnperspektiven entwerfen will, den Zustand der Freiheit her: 10 11
G D , Die „Vernunft" in der Philosophie, 5 G D , Die „Vernunft" in der Philosophie, 2. Eigentlich wäre auch an dieser Stelle das Wort: Vernunft zu apostrophieren.
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diese wird dazu befreit, perspektivische Entwürfe allein im Blick auf das Sinnbedürfnis eines Lebens, ohne Rücksicht auf objektive, wissenschaftliche Genauigkeit zu leisten: ebenso wie die Kunst nicht naturalistische Forderungen zu erfüllen hat. Diesen Zug der Freiheit läßt auch die Sprache der vom dogmatischen Denken emanzipierten Philosophie erkennen. Dogmatisches Sprechen ist demjenigen nachzusagen, der objektwahre, lehrbare und begründbare Aussagen über das Sein in der Weise des „Ist"-sagens zu machen beansprucht. Kant besteht als kritischer Anwalt der Sinnvernunft darauf, daß sich philosophisches Sprechen auf das „als ob" sagen versteht, und daß es seine Sätze nicht als Feststellungen über Seiendes, sondern als Postulate gedeutet wissen will. In der Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse, welches auch als ein Jenseits von Objektwahrheit und Objektfalschheit gelten kann, benennt Nietzsche, übrigens einstimmig mit Kant, Plato mit der Philosophie der „wahren Welt" als den Vater des Dogmatismus. Die Überwindung dieser „wahren Welt" und der Erfindung vom „reinen Geiste" und vom „Guten an sich" kennzeichnet er auch in der Göt^endämmerung als Geschichte, die aus charakteristischen Schritten der Befreiung zu perspektivistischem Denken besteht. Entsprechend heißt es in der Vorrede zum Jenseits , Europa atme „von diesem Alpdrucke auf." Die dogmatische Rede von der wahren Welt habe bedeutet, „die Wahrheit auf den Kopf zu stellen" und „das Perspektivische, die Grundbedingung alles Lebens, selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden, wie Plato es getan" 12 . Der sorgsame Leser wird bemerken, daß nicht das Reden vom Geist und vom Guten überhaupt hier für Nietzsche unerträglich ist, sondern die dogmatische Art, in der es bei Plato geschieht, wird von ihm zurückgewiesen. Als Maßstab für Deutung und Bewertung dieser Begriffe wählt Nietzsche das Leben und seinen Anspruch auf Sinnwahrheit. Er versteht das Standnehmen auf diesem Boden als Befreiung: „ . . . wir guten Europäer und freien, sehr freien Geister — wir haben sie noch, die ganze Not des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Ziel.. ," 13 Das Ziel, die für uns geltende Sinnwahrheit nämlich, steht unter dem Vorzeichen des: Vielleicht. Die Ungewißheit des Vielleicht ergibt sich aus der von der kritisch-perspektivistischen Vernunft geschaffenen Denksituation des Experimentierens. Perspektivistische Philosophie eröffnet einen Freiheitsraum für das Experiment des individuellen Lebens mit seinen eigenen Möglichkeiten des Entwerfens von Sinnperspektiven, um sich JGB, Vorrede » JGB, Vorrede 12
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schließlich für die dem Leben genügende entscheiden zu können. 14 Nietzsche fordert in der Fröhlichen Wissenschaft erst zum Experiment mit der Perspektive der Ewigen Wiederkehr auf, bevor er später in der Rolle des Zarathustras eine Entscheidung für sie trifft und sogar auch noch als „Lehrer und Fürsprecher" dieser Perspektive auftritt. Dadurch, daß er sich in eigner Person als deren Repräsentant darstellt, der sich selbst zu ihrem Sprecher macht, statt ü b e r sie zu reden, verwandelt er ihren Zustand des Möglichseins in den des Wirklichseins. Der freie Geist sagt vom Stand perspektivistischer Vernunft aus: „Wir sind Experimente und wollen es auch sein! 15 Nietzsche versteht sich als Lehrer der experimentellen Methode des Suchens der je für ein Leben sinnwahren Weltperspektive: „Ich will allen, welche ihr Muster suchen, helfen, indem ich zeige, wie man ein Muster sucht." 16 Damit ist ausgesagt, daß der Philosoph nicht nur die Rolle des Wissenden oder des Theoretikers annimmt, sondern in der Weise antiker Denker auch als Lehrer der Meisterung des Lebens auftritt. Dem entspricht, daß perspektivistische Philosophie zwei Aufgaben übernimmt: sie ist „Theorie" über die Freiheit des Geistes zum Entwurf sinnwahrer Weltperspektiven und zugleich auch „praktische" Anweisung für die individuelle Vernunft, durch Experiment ihre Sinnwahrheit zu finden und sich für sie zu entscheiden. Es ist schon ein Handeln intellektueller Art, wenn Nietzsche den Stand der Vernunft des Lebens einnimmt. Von diesem Stand aus geht sein philosophisches Interesse dahin, dem individuellen Leben Freiheit zum Entwurf perspektivischer Möglichkeiten einzuräumen und dessen Vernunft in den Stand zu setzen, die für sie sinnwahre Perspektive zu finden und sich für sie zu entscheiden. So wird der am Leben Teilnehmende vom perspektivistischen Philosophen dazu aufgefordert, sich in eine Situation zu versetzen, für welche Freiheit zum Entwurf von Perspektiven, Experimentieren mit Möglichkeiten, Entscheidung für je meine Sinn Wahrheit maßgebend sind. Wenn das Leben als auf Sinn-rechtfertigung ausgehend zu verstehen ist, dann wird einsichtig, daß sich Folgen daraus für die Sprache ergeben: gewöhnliche Bedeutungen von Wörtern wie wahr und falsch, gut und böse verlieren ihre absolute Geltung. Die „Falschheit" z. B. — gemeint ist das Gegenteil von Objektwahrheit, die Objektfalschheit — eines Urteils kann, vom Stand der Lebensvernunft aus beurteilt,
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15 16
FW, 341; vgl. mein Buch Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie; auch meine Schrift: Sprachen der Ewigen Wiederkunft, Würzburg 1985. M, 453 K S A , 10, S. 206
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nicht als Einwand gegen dieses Urteil angesehen werden. 1 7 Entscheidend vom Stand der Vernunft des Lebens aus sei die Frage, wieweit das Urteil „lebenfördernd, lebenerhaltend,, arterhaltend, vielleicht sogar artzüchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urteile . . . uns die unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben k ö n n t e . . . " Damit ist auch gesagt, daß wissenschaftliche Objektkategorien wie Substanz, Kausalität, Zahl gerade durch ihre einseitig die Dinge verfälschenden Begriffe auch bedeutsam für das Leben, nicht nur hindeutend auf das Objekt sein können: darin ist auch der Beitrag der objektwahren Kategorien für die Sinnwahrheit zu sehen. Es wird sogar der Schluß nicht von der Hand gewiesen, daß es Urteile gibt, die sinnwahr sind, weil sie objektfalsch sind: credo quia absurdum. Da die höchste Form der Lebensförderung für den Menschen in den perspektivischen Entwürfen seiner sinnschaffenden Vernunft besteht, kann der zitierte Text auch als Begrenzung der Objektwahrheit im Interesse des Gewinns an Sinnwahrheit ausgelegt werden. Man kann damit den Tenor der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung in Zusammenhang bringen, in welcher die „plastische Kraft" der Lebensgestaltung durch Weltdeutung als sinnschaffende Kraft zum Maßstab der Bewertung der Objekt-feststellungen des Historikers gemacht wird. Wenn Nietzsche vor allem in späteren Jahren von der physiologischen Bedeutsamkeit etwa der Kunst spricht, dann ist der Gedanke der für das Leben sinnschaffenden Kraft im Spiele. 17a Objektivistische Wissenschaft auch in der Gestalt der Historie oder der Philologie läßt die sinnschaffende Kraft verkümmern, die sich aus der Vernunft der Instinkte, Affekte oder auch der Leidenschaft entfaltet: so zeigt sie sich als dem Leben feindlich und der Vernunft dieses Lebens, welche mit der Leibvernunft eines ist, nicht gewachsen. Es ist die Erkenntnis höherer, perspektivistischer Vernunft, daß „hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung . . . Wertschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben" stehen. 18 Nicht objektivistische Selbstausle-
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J G B , 4. D a ß die W i d e r s p r ü c h l i c h k e i t v o n Sätzen in der N a t u r w i s s e n s c h a f t nicht u n b e d i n g t ihre U n g ü l t i g k e i t bedeutet, ist eine parallele Feststellung der g e g e n w ä r t i g e n Wissenschaftstheorie.
,7a
Vgl. V. G e r h a r d t , V o n der ästhetischen Metaphysik zur P h y s i o l o g i e der K u n s t , NietzscheStudien 13 ( 1 9 8 4 ) , S. 3 7 4 f. J G B , 3. W e i t e r f ü h r e n d e Ü b e r l e g u n g e n w i r d mein k ü n f t i g e s Buch: P e r s p e k t i v e und W a h r h e i t mitteilen.
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gung hat Recht, die den Standpunkt reiner Ich-vernunft vertritt und die den Gegenstand in seinem Ansich erkennen will. Vielmehr befreit sich der Erkennende von der Befangenheit der Gegenständlichkeit gegenüber und entwirft für sein Leben perspektivische Sinnmöglichkeiten, um sich für eine davon zu entscheiden. Freiheit der Vernunft zu möglichen Sinnwahrheiten, nicht interesseloses objektives Anschauen und Erkennen ist für philosophisches Denken und Sprechen maßgebend. Perspektivismus steht für die Befreiung der perspektivenbildenden Kraft der Instinkte und Affekte ein. „Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches .Erkennen'; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissert, umso vollständiger wird unser ,Begriff dieser Sache, unsere Objektivität" sein. 19 Die hier bezeichnenderweise in Anführungszeichen gesetzte Objektivität ist nicht diejenige des allgemeinen wissenschaftlichen Sprachgebrauchs: sie bedeutet die Weite und Überlegenheit perspektivischer Deutungen der „Sache" über einseitigen und engen „subjektiven" Urteilen über sie. Freiheit des Denkens zu umfänglichen perspektivischen Möglichkeiten ist zugleich das „Vermögen, sein Für und Wider in der Gewalt haben und ein- und auszuhängen: so dass man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und Affektinterpretationen nutzbar zu machen weiss." 20 Perspektivische Vernunft, die sich von gegenstandsbefangenem Denken befreit und sich darüber erhebt, ist zugleich als die grosse Vernunft des weiten Horizontes des offenen Meeres der Möglichkeiten perspektivischer Weltdeutungen zu verstehen. Sie geht aber auch den Weg von der Möglichkeit zur Wirklichkeit der Entscheidung für die jeweils sinnwahre Perspektive. Auf die Individualität der Sinnwahrheit und der Entscheidung für sie sei hier noch eingegangen. Angesprochen wird dabei der Gedanke der der Sinnwahrheit zugehörigen Vernunft und ihrer Argumentation. Es wurde angedeutet, daß Jeder zur Überzeugung von der Wahrheit seiner Weltperspektive auf dem Wege des in eigener Person ausgeführten Experimentes zu kommen hat. Perspektivistische Philosophie unterscheidet sich auch dadurch von der dogmatischen, daß sie nicht wie diese ihren Aussagen durch allgemeine Begründung und Beweis Gewißheit und Überzeugungskraft geben will. Es ist an den wichtigen Satz der kantischen Kritik zu erinnern, daß es in der Philosophie nicht angehe, es z. B. der Mathematik gleichzutun, und ihre Aussagen „ostentativ", d. h. auf die objektive Sache hinweisend beweisen zu wollen. Der philosophische Beweis sei dagegen " G M , Was bedeuten asketische Ideale?, 12 Ebd.
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als „akroamatisch" zu bezeichnen. Bei diesem spielt keine der objektiven Wahrheit dienende Anschauung mit, sondern die Bedeutung der in ihm enthaltenen Aussagen beruht auf bloßen Begriffen und den sie aussprechenden Worten. Die spärlichen Andeutungen Kants hierzu lege ich so aus: mit ihnen sei gemeint, daß die philosophische Sprache nicht die Aufgabe habe, gegenstandsrelevante Inhalte mitzuteilen; vielmehr soll es dem Sprechenden darum gehen, den Hörenden in den Stand zu setzen, von derselben Perspektive des Deutens der Welt Gebrauch zu machen, zu der er, der Sprechende, sich entschieden hat. Philosophisches Sprechen ist danach ein Ansprechen des Hörenden, nicht Information über dogmatische Bedeutungsinhalte. Das Gewißmachen philosophischer Wahrheit im Bereich akroamatischen „Beweisens" hat die Bedeutung des Motivierens: der Angesprochene soll zur Annahme der in Frage stehenden Sinn-perspektive motiviert werden. Damit erweist sich die Handlung des Stellungnehmens als für die philosophische Sprache bedeutungsbildend: der Philosophierende kann sich als sprechende Person nicht von der Bedeutung des Gesagten zurückziehen und dieses nicht als „objektiv" Gemeintes mitteilen, wie man eine Sache übergibt. E r teilt vielmehr sich selbst, sein eigenes Stellungnehmen und Entscheiden für eine Weltperspektive mit, um andere zum gleichen, gemeinsamen Stellungnehmen zu motivieren. Nietzsche weitet diesen Gedanken zu demjenigen dionysischen Redens, welches zugleich ein Singen ist, aus. 21 Der Fürsprecher der Ewigen Wiederkunft, Zarathustra, gibt für diese nicht einen vielleicht sogar naturwissenschaftlich argumentierenden „Beweis" in objektiver Sprache, — Nietzsche war eine Zeit lang nicht frei von dieser unkritischen Absicht, die er aber fallen ließ — sondern er will den Hörer zu einem Stand des Denkens hinführen, auf dem er sich für diese Perspektive zu entscheiden vermag, weil er sie als seine Sinnwahrheit erkennt. Wie gesagt, führt der Weg zu diesem Stand über das Denken und Sprechen des Experimentes, des „Vielleicht"-sagens. Experimentelle Vernunft ist die der Versuche des Denkend-Lebenden mit seinen eigenen perspektivischen Möglichkeiten. E r geht darauf aus, die für ihn sinnwahre Perspektive zu finden. Der Für-sprecher für eine bestimmte Perspektive will die Vernunft des Angesprochenen zu Versuchen des Denkens anleiten und auffordern, in denen dieser selbst seine für ihn sinnwahre Perspektive findet. Das Kriterium für die Entscheidung für diese Perspektive ist allgemeingültig nur in der Bedeutung, daß jeder seinen experimentellen 21
Z u m Begriff der dionysischen Sprache vgl. meine Schrift: Sprachen der E w i g e n Wiederkunft.
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Friedrich Kaulbach
Weg zu seiner ihm angemessenen Perspektive zu gehen hat: jeder hat in eigner Handlung des Stellungnehmens über das Gelingen seines Experimentes zu entscheiden. Die Logik dieses Experimentierens ist der Sinnnotwendigkeit unterworfen. Für diese gilt: Mit der „Notwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus uns unsere Gedanken, unsre Werte, unsre Jas und Neins und Wenns und Obs — verwandt und bezüglich allesamt untereinander und Zeugnisse Eines Willens, Einer Gesundheit, Eines Erdreichs, Einer Sonne." 22 Nietzsche zeichnet den Typus des künftigen Philosophen als den der Vergegenwärtigung des freien Geistes. Er stellt sich als frei in der Bedeutung dar, daß er über die Souveränität des Umgangs mit Perspektiven verfügt: dabei sind nicht Laune und Willkür für die jeweilige Entscheidung zu einer Perspektive maßgebend, vielmehr gehorcht der frei über sie Verfügende der Sinn-notwendigkeit. Die „kommenden Philosophen möchten ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als Versucher bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung" 23 Wahrscheinlich sei es, daß es „neue Freunde der ,Wahrheit' seien. Dieses apostrophierte Wort kann nur Sinnwahrheit bedeuten, da es in einem perspektivistischen Kontext gebraucht wird." Sicherlich aber werden es keine Dogmatiker sein. Es muß ihnen wider den Stolz gehen, auch wider den Geschmack, wenn ihre Wahrheit gar noch eine Wahrheit für jedermann sein soll: was bisher der geheime Wunsch aller dogmatischen Bestrebungen war. „Mein Urteil ist mein Urteil: dazu hat nicht leicht auch ein anderer das Recht — sagt vielleicht solch ein Philosoph der Zukunft." 24 Dieser Philosoph nimmt sich die Freiheit des Entwurfes perspektivischer Möglichkeiten, um dann zu einer Entscheidung für eine bestimmte unter ihnen zu kommen. Er wird zum Lehrer und Fürsprecher sinnwahrer Perspektive; diese hat keine „allgemeine Geltung", weil sie nicht Thema objektiven Redens ist. Aber ihr Fürsprecher setzt eine gemeinsame Bewegung des denkenden Mit-gehens in Gang. Sie ist die Bewegung einer den Sprechenden und den Hörenden einigenden Vernunft, die als dionysische zu bezeichnen ist. Ihre Sprache ist ebenso dionysisch, da sie mit dieser Vernunft identisch ist. Für diese Sprache gilt das von Zarathustra Gesagte, daß sie über alles Gegenständliche, Objektive hinweg-tanzt. Ihre Sache ist es nicht Objektwahrheit auszusprechen: sie ist der Sinnwahrheit verbunden. „Es ist eine schöne Narretei das Sprechen: damit tanzt der Mensch 22 23 24
GM, Vorrede, 2 JGB, 42 JGB, 43
Kritik der Vernunft
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über alle Dinge". 25 Nietzsche beendet den letzten Teil des Zarathustra in dithyrambisch-dionysischer Sprache, die er nicht nur selbst „spricht", er fordert sie auch ausdrücklich als der Stellung der Vernunft des freien Geistes angemessen. Zarathustra, der in sich der Liebe zum Fatum und dem Willen zu Ewigen Wiederkehr Raum gegeben hat, sucht dieser durch dionysische Sprache Überzeugungsmacht zu geben: er fordert die höheren Menschen, die er anspricht, zum „Rundgesang" auf mit dem Text, der beginnt: „O Mensch gib a c h t . . . " Der freie Geist verdankt seine Freiheit der Emanzipation des Vermögens, sinngebende Weltperspektiven zu entwerfen und sich für die wahre zu entscheiden. Eine Erforschung der Ursprünge dieses Vermögens führt zu der Form der Vernunft, welche Nietzsche als die des Leibes bezeichnet. Freiheit, gesehen im Lichte des dionysischen Gedankens, ist an die Vernunft des Leibes gebunden. Dieser Zusammenhang mag noch eingehender betrachtet werden. Zu ihm gehört der Gedanke, daß das Vermögen des Entwerfens der dem Leben sinngebenden Perspektiven nicht in der „reinen" Vernunft, sondern in derjenigen dieses Lebens selbst seine Wurzel hat. Diese hat sich jetzt als dionysische Vernunft gezeigt, sofern ihre Sprache nicht nur vorgestellte Begriffe mitteilt, sondern die Bewegung des gemeinsamen Vollzugs der Stellungnahme für eine Perspektive ist: der Sprechende setzt diese Bewegung beim Hörenden in Gang. Das Bild, welches diese Vernunft des Lebens und für das Leben mit ihrem dionysischen Charakter bietet, wird durch die Wendung des Zarathustra von dem „Tanzen" der Sprache über die Dinge hinweg ergänzt, und es nimmt die Züge der Vernunft des Leibes an. Die gedankliche Linie der vorliegenden Überlegungen, die von der kritisch-perspektivistischen Vernunft ausgegangen ist und zum Begriff des Experimentes und der Freiheit je zu meiner Sinnwahrheit geführt hat, erstreckt sich weiter zum Begriff der dionysischen Vernunft, die sich am Ende als Leibvernunft darstellt. Nicht reine Vernunft, sondern Leibvernunft ist der Stand, den Nietzsche als Lebender und Philosophierender einnimmt. Von ihm aus übt er das Richteramt über untergeordnete Gestalten der Vernunft, wie etwa über die theoretische Vernunft der Wissenschaft aus. Zwischen dem Freiheitsbegriff der Vernunftphilosophie etwa Kants und demjenigen Nietzsches liegt die nihilistische Erfahrung. Das Pathos des freien Geistes ergibt sich aus dem Bewußtsein der Befreiung von der Befangenheit in dem selbstgezimmerten Käfig der „wahren Welt". In der Konsequenz dieser Befreiung liegt es, daß sich der Denkende nicht mehr als an die in dieser Perspektive vorgesehene Weltteleologie gebunden 25
Za, III, Der Genesende
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Friedrich Kaulbach
versteht. Ebenso hat sich auf diesem Stande der Geschichte der Freiheit die Vernunft des Lebens auch von der Autonomie der reinen praktischen Vernunft befreit, auf die sich der kantische Freiheitsbegriff beruft. Die nihilistische Bewegung hat seitdem auch von der Befangenheit des Verpflichtetseins gegenüber dem Vernunftgesetz und des Gebundenseins an das Postulat der reinen Vernunft sowie an den von ihm aufgedrungenen Weltsinn des höchsten Gutes befreit. Die Entmachtung des von der reinen Vernunft gebotenen Sinnes durch die nihilistische Bewegung bewirkt ein Sinnvakuum. Der Vernunft des Lebens kommt nach Nietzsche die Aufgabe und das Vermögen zu, dieses durch eigenes Sinnschaffen auszufüllen: sie muß sich auf ihre Sinnautarkie besinnen. Sinnautarke Vernunft ist die, welche vor dem Hintergrund des Nihilismus ihre eigene sinnwahre Perspektive schafft und behauptet, um die Situation des Sinninterregnums zu überwinden. Sie bedarf keiner Sinnbevormundung durch reine teleologische Weltvernunft: der sich auf Sinnautarkie besinnende Mensch ist ein „aus sich rollendes R a d " . 2 6 Von da aus gesehen ist das Individuum „eine neue Kraft, eine erste Bewegung: ein aus sich rollendes Rad; wäre er stark genug, er würde die Sterne um sich herumrollen machen". 2 7 Die Freiheit des freien Geistes beruht auf seiner sinnautarken Vernunft, die dazu vermögend ist, sich im Horizont des Meeres perspektivischer Möglichkeiten für die zu entscheiden, die für ein individuelles Leben die sinnwahre ist. Leben und Erleben geschehen nicht unmittelbar, sondern vollziehen sich als Entfaltung sinnschaffender, sinnautarker Vernunft, welche sich als diejenige des Leibes darstellt. Die jeweils für eine bestimmte Perspektive, eine sinnwahre Weltdeutung getroffene Entscheidung darf vom philosophischen „Psychologen", als den sich Nietzsche versteht, für Lebensverfassung, Triebstruktur und Seins-stellung dessen als symptomatisch gedeutet werden, der sich entschieden hat. 2 8 Vernunft in der Verfassung der Sinnautarkie will Sinnerfüllung in der jeweiligen Gegenwart. Sie gibt sich nicht mit der metaphysischen Auskunft zufrieden, daß der Handelnde das Wozu? seines Handelns erst in einer fernen Zukunft, vielleicht sogar jenseits des leiblichen Lebens erreicht und verwirklicht sehen darf. Der von dieser Vernunft gewollte Sinn, den sie dem Nichts entgegensetzt, geht auf jeweilige Gegenwärtigkeit aus: auf den Sinn des gegenwärtigen Augenblicks. Der im Hier und Jetzt zur Welt Stellung nehmende Wille entscheidet sich für eine Perspektive der Weltdeutung, die von ihm als f ü r ihn sinnwahre erfahren wird. Diese
26 27 28
Za, I, Von den drei Verwandlungen K S A , 10, S. 207, 5 [1] 178 M, 119
K r i t i k der Vernunft
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Intention auf die gegenwärtige Sinnerfüllung zeigt den Charakter einer durch Leibvernunft eingenommenen Weltstellung, der es auf das Jasagen zum jeweiligen Jetzt und Hier ankommt. Diese Gestalt der Sinnvernunft ist von derjenigen der reinen Vernunft unterschieden, die es auf Orientierung an allgemeinen überzeitlichen Normen abgesehen hat. Sie versteht sich nicht als eine über dem Lebens- und Leibgeschehen thronende Vernunft. Als Vernunft des Leibes selbst entwirft sie Weltperspektiven, die für die geschichtliche Gegenwart notwendig sind, und entscheidet sich für sie. Leibvernunft ist hierzu aufgerufen, weil sie Vernunft der Gegenwartsgeltung ist: sie ist „mittägliche" Vernunft. Diese Geltung trägt auf der höheren Stufe der Bedeutung und des Wahrseins den Zug des hier und jetzt Gewisseins, den auch Wahrnehmung der Sinne aufweist. Die Perspektive der Ewigen Wiederkehr ordnet Nietzsche nicht der Metaphysik zu, die in seinen Augen Metaphysik der reinen Vernunft ist. Diese Perspektive ist der Leibvernunft zugehörig, weil sie Sinn, Zweck und Ziel des Lebens jeweils als gegenwärtig versteht: denn jedes Jetzt wird von dem sich für sie entscheidenden Willen als ewig wiederkehrend gewollt. Schon in der Geburt der Tragödie ist dieser Gedanke angelegt: Hier begegnet die These: wenn das Dasein als der jeweils lebendige Augenblick überhaupt zu rechtfertigen ist, dann kann das nur durch dionysische Kunst geschehen. Der Augenblick des künstlerischen Erlebnisses nämlich wird als vollkommen, als keines Ausblickes auf Künftiges bedürftig, als sinnautark erlebt. Er erfüllt das Bedürfnis nach Sinn in einer dem leiblichen Wesen Mensch angemessenen Weise. Demgemäß erfüllt sich der Sinn der von der Leibvernunft propagierten Weltperspektive in der Gegenwart. Ihre Sinnwahrheit gilt für den gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick, wie sie auch dem Individuum in seiner Lebensgegenwart zugehört. Leibvernunft ist geschichtliche Vernunft: die von ihr behauptete Sinnwahrheit hat den Charakter relativer Absolutheit. Das Adjektiv: „relativ" in dieser paradox klingenden Wendung deutet auf die Bezüglichkeit der sinnwahren Perspektive auf das sich für sie entscheidende Individuum hin. Für dieses gibt es keinen allgemeingültigen Weg zur Wahrheit. Diese s e i n e Wahrheit muß es in der Weise des Experimentierens finden. Jeder ist darauf verwiesen, gleichsam auf eigene Faust Versuche mit Weltperspektiven zu wagen. Vernunft des Leibes ist daher nach den Worten Zarathustras diejenige des Selbst, welches nicht „Ich" sagt, sondern „Ich" tut. Es gibt, von hier aus gesehen nicht ein Ich, welches Vernunft „hat", sondern ich bin mein Leib und meine Leibvernunft. Absolutheit aber erreicht die Leibvernunft mit ihrer Sinnwahrheit, weil diese nicht durch die Logik des Begründens, Beweisens oder Abzulei-
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Friedrich Kaulbach
tens gewiß zu machen ist; sie hängt nicht logisch von Anderem ab, sondern meine Entscheidung für sie bedeutet ihre Geltung für mich. Weitere Züge der Vernunft des Leibes, der es obliegt, Sinnwahrheit der für die Gegenwart gültigen Perspektive aufzuschließen, zeigen sich im Blick auf das Selbstsein und sein Ich: „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen steht dein Leib und dein Selbst im Leibe: die terra incognita. Wo^u hast du diese Gedanken und Gefühle? Dein Selbst im Leibe will etwas damit." 29 Dieser Wille des Selbst will eine dem „leibenden Leben" (Heidegger) sinngebende Perspektive zur Geltung bringen. Das Selbst als Leibvernunft gibt sich den Stand perspektivenschaffender, sinnproduzierender Vernunft: es steht auch als die Sinnwahrheit verwaltende Instanz „hinter" dem Bewußtsein, wenn dieses die Welt einer Sinnperspektive „gegenständlich" durchzeichnet. Denn: „Alles Bewusste ist nur das ZweitWichtige: dass es uns näher und intimer ist, wäre kein Grund, wenigstens kein moralischer Grund, es anders zu taxieren. Dass wir das Nächste für das Wichtigste nehmen, ist eben das alte Vorurteil — Also umlernen! In der Hauptschätzung! Das Geistige ist als Zeichensprache des Leibes festzuhalten!" 30 Leibvernunft ist ein Innesein der unendlichen Verflechtungen des kosmischen Systems und ein Sich-einfügen in seine Verhältnisse. Daher wird auch die Weite der irdischen Natur im Ganzen vom Horizont der Leibvernunft umfaßt. Daher heißt sie im Zarathustra die „grosse Vernunft". Im Bereich der großen Vernunft des Leibes eröffnet sich der Mensch Horizont und Perspektive der Notwendigkeit der kosmischen Vorgänge, und er entscheidet sich für diese Perspektive des in sich verlaufenden ewigen Wiederkehrens. Er gibt seinem Verwobensein in diesem Geschehen dadurch Sinn, daß er dieser Perspektive gegenüber die Stellung des „Ich will es so" einnimmt. 31 Die Größe der großen Vernunft aber hat auch die Bedeutung, daß sie die Ewige Wiederkehr als eine von vielen Weltperspektiven versteht, aus deren Meer von Möglichkeiten sie diese ausgezeichnet und sich für sie als ihre sinnwahre entschieden hat. Diese Entscheidung trifft die große Vernunft im umfänglichen Horizont des Meeres von Möglichkeiten. Der perspektivistische Philosoph ist ein Odysseus des Geistes, ein „Polytropos", der die Meere befahren hat. Zugleich gilt für ihn der Vergleich mit dem „Freund der grossen Jagd" in dem Felde des ganzen bisher erreichten Umfangs „menschlicher innerer Erfahrungen", der „ganzen bisherigen 25 30 31
K S A , 10, S. 225 K S A , 10, S. 284, 7 [126]; S. 225, 5 [30] K S A , 10, S. 284, 7 [126]
Kritik der Vernunft
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Geschichte der Seele und ihrer noch unausgetrunkenen Möglichkeiten". 3 2 Der freie Geist ist „in vielen Ländern des Geistes zu Hause, mindestens Gast gewesen; den dumpfen angenehmen Winkeln immer wieder entschlüpft, in die uns Vorliebe und Vorhass, Jugend, Abkunft, der Zufall von Menschen und Büchern, oder selbst die Ermüdungen der Wanderschaft zu bannen schienen . . ." 33 Ein Resüme zeigt folgendes Bild des durchlaufenen Weges. Zunächst wurde der Weg verfolgt, der vom dogmatischen Denken und Sprechen zum Programm des kritischen Perspektivismus führt. Dieser bedeutet Befreiung der Vernunft zu ihrer Möglichkeit des Entwurfes lebensbedeutsamer Perspektiven, aus deren Meer der Möglichkeiten sich der Lebenddenkende die für seine geschichtliche Gegenwart angemessene, ihm Sinn gebende und daher sinn-wahre herauszieht. Die Entscheidung dafür trifft die Sinnvernunft auf dem Wege der Experimente mit ihren eigenen perspektivischen Entwürfen. Vor dem Hintergrund des Nihilismus versteht sich nicht die reine, aber die dionysische, leibliche Vernunft dazu aufgerufen, den Richterstuhl des Urteils über die Sinnwahrheit einer Perspektive einzunehmen. Diese Vernunft ist als das „Selbst" sinnschaffend, ihr eignet das Bewußtsein ihrer Sinnautarkie. Der Leiblichen Vernunft, die zugleich dionysische Züge trägt, geht es um Sinnerfüllung in der Gegenwart, wo wie Gesang, Musizieren, Tanz, miteinander Sprechen ihr „Wozu?" in sich selbst tragen. Autarkie des Sinnschaffens bedeutet auch den Überschuß des Lebenden an Möglichkeiten des Jasagens. Im amor fati ζ. Β. kommt der Sinnüberschuß der autarken, perspektivenschaffenden Vernunft zum Ausdruck. Die Liebe zum Fatum vermag dieses auch in seiner Sinnlosigkeit und im Blick auf Leiden und Schmerzen zu bejahen, die es dem Lebenden zufügt.
32 33
J G B , 45 J G B , 44
JOHANN FIGL
Nietzsches Verständnis der „ K u n s t des Lesens" Skripturalität als hermeneutische Aufgabe im Kontext der Metaphysikdiskussion Der Problemhori^ont: Nietzsches Stellung %ur Metaphysik in der Diskussion ^wischen H.-G. Gadamer und J. Derrida Eine Anfang der achtziger Jahre zwischen Hans-Georg Gadamer und Jacques Derrida sowie anderen jüngeren (Post-)Strukturalisten geführte Debatte über „Text und Interpretation" war wesentlich mitbestimmt von Heideggers Beurteilung und Einordnung Nietzsches in den Gang der abendländischen Metaphysik. 1 Diese wird von Derrida zusammengefaßt mit der Formulierung Heideggers, Nietzsche sei der „Denker der Vollendung der Metaphysik". 2 Derrida wendet sich nun nicht eigentlich gegen den Gehalt dieser Deutung schlechthin, sondern er setzt mit seiner Kritik an deren Voraussetzung — und somit radikaler — an: er verdächtigt die Axiomatik, die dem Heideggerschen Urteil über Nietzsches Denken zugrunde liegt und gibt zu bedenken, daß deren Ursprung „womöglich die Axiomatik der Metaphysik (selber ist), sofern die Metaphysik als solche ihre eigene Einheit begehrt oder träumt oder sich vorstellt". 3 Am Motiv der Ganzheit — Metaphysik ist nach Heidegger Denken des Seienden im Ganzen — expliziert Derrida das Unzutreffende der Auffassung, aus Nietzsche den letzten Metaphysiker zu machen: denn dieser „(traut) keinerlei Ganzheitsdenken"; 4 Nietzsche sei daher „womöglich gar kein Denker des Seienden mehr". 5 Noch detaillierter und für die hier zu behandelnde Thematik des Interpretationsverständnisses einschlägiger formulierte Der-
' Philippe Forget (Hg.), Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte mit Beiträgen von J. Derrida u. a., München 1984 2 Jacques Derrida, Guter Wille %ur Macht (II). Die Unterschriften interpretieren (Nietzsche/ Heidegger), in: Ph. Forget (Hg.), Text und Interpretation, 70; vgl. die Originalstelle bei Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, Pfullingen 1961, 473. 3 Derrida, Guter Wille, 72 4 Vgl. Derrida, Guter Wille, 75. 5 Derrida, Guter Wille, 76
155
Nietzsches Verständnis der „Kunst des Lesens"
rida seinen Standpunkt in den früheren Werken De la grammatologie^ LI écriture
und
et la d i f f é r e n c e , 1 Nietzsche habe in seiner Kritik an der Metaphysik
die Begriffe des Seins und der Wahrheit „durch die Begriffe des Spiels, der Interpretation und des Zeichens (des jeglicher präsenten Wahrheit baren Zeichens) ersetzt". 8 Von diesem Ansatz her wurde nicht nur Heideggers Deutung tendenziell zurückgewiesen, sondern zugleich Nietzsches Textverständnis in seiner Radikalität hervorgehoben, denn „mit der Radikalisierung der Begriffe der Interpretation, Differenz
der Perspektive,
der Wertung,
und aller ,empiristischen' oder nicht-philosophischen
( . . . ) sollte Nietzsche, ohne einfach môchtè) innerhalb
der
Motive
(mit Hegel und wie Heidegger es
der Metaphysik zu bleiben, entscheidend zur Befreiung
des Signifikanten aus seiner Abhängigkeit, seiner Derivation gegenüber dem L o g o s ( . . . ) beigetragen h a b e n " ; 9 Schrift und Text seien daher ursprüngliche Operationen gegenüber einer logoszentrierten Wahrheit. 1 0 Während Derrida die Neuheit und Eigenständigkeit des Text- und Interpretationsbegriffes Nietzsches im Verhältnis zum K o n n e x von Sinn (Wahrheit) und Deutung (Verstehen) der sogenannten Metaphysik betont und darum „Nietzsche vor einer Lektüre wie der Heideggerschen bewahren (will)" 1 1 , betont demgegenüber Gadamer,
daß Heideggers Versuch, das
Sein zu denken „wohl nicht hinter Nietzsche zurückfallt, sondern über ihn hinausgeht" 1 2 , und er weist darum Derridas Beurteilung des Verhältnisses von Nietzsche und Heidegger, in der der Begriff der Interpretation — wie aufgezeigt — eine tragende Rolle spielt, zurück. 1 3 In diesem Diskussionskontext formuliert Gadamer seine eigene hermeneutische Position in Parallelisierung und Differenz zu Heidegger: wie Heideggers spätes Denken von der Einsicht geleitet sei, „daß das Sein nicht in seinem SichZeigen aufgeht, sondern mit derselben Ursprünglichkeit, in der es sich zeigt, sich auch zurückhält und entzieht", so sei Gadamer
seinerseits
bemüht, „die Grenze nicht zu vergessen, die in aller hermeneutischen Erfahrung v o m Sinn impliziert ist"; sie zeige sich im Anerkennen der Gegebenheit, „daß das, was ist, nie ganz verstanden werden k a n n " . 1 4 6 7
8 9 10
11
12
13 14
Paris 1967; dt. Grammatologie, Frankfurt a. M. 1974 Paris 1967; dt. Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1972; zitiert wird nach der Ausgabe von 1976 ( = suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1977, 177).
Jacques Derrida, Jacques Derrida,
Die Schrift und die Differenz Grammatologie, 36
425
Derrida, Grammatologie, 36
Derrida, Grammatologie, 37; vgl. Philippe Forget, Leitfäden
einer unwahrscheinlichen
Debatte,
in: ders. (Hg.), Text und Interpretation, 20 Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation, in: Ph. Forget (Hg.), Text und Interpretation, 27 Vgl. Gadamer, Text, 26 Gadamer, Text, 28 f.
156
Johann Figi
In der hier skizzierten jüngsten Diskussion stehen sich zwei entgegengesetzte nachheideggerianische Positionen hinsichtlich von Nietzsches Stellung zur Metaphysik im Zusammenhang des Interpretationsproblems gegenüber. Gadamer meint — in Fortführung des Anliegen Heideggers — die Entzogenheit des Seins im hermeneutischen Geschehen dadurch zu wahren, daß ein unaufhebbarer „Rest" des Verstehens permanent bleibt; näherhin heißt dies, daß das Verstehen selbst ein unabschließbarer, wesenhaft offener Prozeß ist. 15 Zugleich aber glaubt er, daß im späten Denken Heideggers Nietzsches Position überboten sei, da ersteres die Verborgenheit des Seins bedenke. Demgegenüber erblickt Derrida in Nietzsches Denken den ernstzunehmenden Ansatz, die Struktur einer logos- und wahrheitszentrierten Metaphysik aufzubrechen, wobei der entscheidende Neuansatz in seinem Interpretationsbegriff zu erblicken sei, der keinen Bezug mehr zu einer außerhalb des Auslegungsgeschehens (das als Spiel, als Zeichen beschrieben wird) liegenden wahrheitsfundierenden Gegenstand habe; bei ihm sei Interpretation zu einem die Metaphysik überwindenden Ansatz, gewissermaßen zu einem postmetaphysischen Prinzip geworden. Angesichts dieser beiden Deutungsansätze stellt sich die Frage, ob Nietzsches Verhältnis zum abendländischen Denken im ganzen überhaupt in der genannten Alternative zwischen Vollendung und Uberwindung der Metaphysik als eines „feststellenden", fixierenden und begriffsorientierten Denkens erfaßt werden kann. Diese generelle Problematik soll hier nach einem speziellen Aspekt hin verfolgt werden; die Frage lautet, welche Bedeutung Nietzsche der Fixierung des B e g r i f f s und näherhin der schriftlich fixierten Sprachform im Interpretationsprozeß zuerkennt, welcher Stellenwert also solchen „Festsetzungen", insbesondere in ihrer skripturalen Gestalt, zukommt. Darum konzentrieren sich die folgenden Ausführungen vor allem auf das Verstehen von Schriftwerken, auf das Problem der Lektüre; in traditioneller Terminologie, die sich auch Nietzsche zu eigen gemacht hat: auf die „Kunst des Lesens". In zwei Schritten soll der aufgeworfenen Problematik nachgegangen werden: zuerst ist Nietzsches Theorie des (metaphysischen) Begriffs im Verhältnis zum (gesprochenen) Wort in seiner Bedeutung für das Verstehen zu umreißen, um vor diesem Hintergrund den spezifischen Bereich der Interpretation von Schriften als fixierten Aussagen weiterzuverfolgen. Insgesamt soll damit gezeigt werden, daß die aus der nachheideggerianischen Einordnung Nietzsches als des Vollenders bzw. Kritikers der Metaphysik abgeleitete gegensätzliche Beurteilung des Interpretationsverständnisses Nietzsches zu überwinden ist: nämlich einerseits der Vorwurf, 15
Hans-Georg Gadamer,
Wahrheit und Methode,
Tübingen 2 1965, bes. 344 ff.
Nietzsches Verständnis der „Kunst des Lesens"
157
Nietzsche würde nicht radikal genug die Verborgenheit des Seins im Verstehensprozeß wahren (Gadamer), und andererseits die These, sein Text- und Auslegungsbegriff sei als reines Spiel einer Zeichenwelt, ohne jegliche Logos- und Wahrheitsorientierung, zu beschreiben (Derrida).
7. „Eindeutigkeit"
von Begriffen
1.1. „Metaphysische" Begriffsfestlegung in der Philosophie Piatons Beim Aufweis des genetischen Zusammenhanges zwischen Bild, Wort und Begriff im Verständnis Nietzsches läßt sich zeigen, daß der Begriff auf das Wort bezogen ist, das seinerseits eine Vielzahl von Bildern zusammenfaßt. 1 6 Dadurch kommt eine gewisse Ungenauigkeit in den Begriff hinein: „Ein Begriff ist eine Erfindung, der nichts gan¡ζ entspricht, aber Vieles ein wenig." 1 7 Die Unsicherheit wird durch die Rückbindung der Begriffe an den Fortgang des Lebens sowie im besonderen durch die damit gegebene Geschichtlichkeit noch vergrößert. Die Problematik der Eindeutigkeit der Begriffe drängt sich umso stärker auf. Läßt sich angesichts der entstehungsbedingten Varianz noch eine Klarheit und Bestimmtheit erreichen? Es gibt verschiedene Wege in den Augen Nietzsches, Eindeutigkeit zu erreichen. Eine Art, die als metaphysische bezeichnet werden kann, läßt sich an den historischen Beispielen solcher Begriffsfestsetzung ablesen. Es sind die Philosophie Piatons und der Nachsokratiker einerseits und die religiöskirchliche Fixierung von Begriffen andererseits. „Was Plato und im Grunde alle Nach-Sokratiker thaten: das war eine gewisse Gesetzgebung der Begriffe"K\ und in ähnlicher Weise heißt es vom intellektuellen Druck, den die Kirche ausübte, daß er „wesentlich die unbeugsame Strenge (ist), vermöge deren die Begriffe und Werthschätzungen als festgestellt, als aeternae behandelt werden". 1 9 Zwei Aspekte sind es, die Nietzsche als wünschenswerte Tatbestände bzw. Auswirkungen bei den genannten philosophischen bzw. religiösen Intentionen konstatiert: das gesetzgeberische, das willentliche Tun soll zur 16
17
18 19
Vgl. Johann Figi, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, Berlin/New York 1982 ( = M T N F , 7), 151 ff. Es wird im Text zitiert nach Friedrich Nietzsche, Kritischen Gesamtausgabe. Werke, hg. v. G . Colli und M. Montinari, Berlin/New York 1967 ff., und zwar durch Angabe des Bandes, der Abteilung und der Seite; bei einem Fragment auch dessen Nummer. V I I 3, 184: 34 [131]. V I I 3, 166: 34 [84] V I I 3, 170: 34 [92]; vgl. auch V I I I 3, 412 f.: 23 [3]
158
Johann Figi
Distanzierung von der Sprache der Vielen führen sowie das Weiterwirken über lange Zeiträume hinweg ermöglichen. So stellten die Philosophen seit Piaton „für sich und ihre Jünger fest ,das und das soll unter uns bei diesem Worte gedacht und gefühlt werden' ". 20 Dahinter steht ein entschiedenes Befehlen, wie es Nietzsche übrigens von den „neuen" Philosophen verlangt. Denn „jene gesetzgeberischen und tyrannischen Geister, welche im Stande sind, einen B e g r i f f f e s t zu setzen, fest halten, Menschen mit dieser geistigen Willenskraft, welche das Flüssigste, den Geist, für lange Zeit zu versteinern und beinahe zu verewigen wissen, sind befehlende Menschen im höchsten Sinne". 21 Solche Gesetzgebung der Begriffe vermag nicht nur über die eigene Zeit weiterzuwirken, sondern sie trennt zugleich von der gewöhnlichen Sprache der Gegenwart. Denn in der Loslösung von der Zeit und Umgebung drückt sich eine Art von feinem Ekel aus, „mit dem sich höhere, anspruchsvollere Naturen gegen die unklare Menge und ihren Begriffs-Wirrwarr empören". 22 Es kann kein Zweifel sein, daß Nietzsche die beschriebene Art der Begriffsfestsetzung nicht für sich selbst zu übernehmen vermag, sondern vielmehr in seiner Analyse aufdeckt, daß dieser Vorgangsweise ein voluntatives Tun zugrunde liegt, und nicht die Überzeugung, die Begriffe seien an sich feststehende Größen. 23 Nietzsche billigt sogar Piaton zu, diesen Sachverhalt erkannt zu haben: „Piaton war gewiß nicht so beschränkt, als er die Begriffe als fest und ewig lehrte: aber er wollte, daß dies geglaubt werde". 24 Nietzsche jedoch steht diesem Vorgehen distanziert gegenüber und schlägt diesen Weg nicht ein. Kennt er eine Alternative, die ebenfalls zu einer Art Begriffsfestsetzung führt? Oder gerät Nietzsche in einen aussichtslosen Skeptizismus hinsichtlich der klaren Bedeutung der Begriffe? 1.2. Eindeutigkeit anstatt Beliebigkeit: Der systematische Zusammenhang zwischen Wort und Begriff im literarischen Schaffen Die letztere Frage kann mit seinen eigenen Worten verneint werden: „Freigeworden von der Tyrannei der .ewigen' Begriffe, bin ich andererseits fern davon, mich deshalb in den Abgrund einer skeptischen Beliebigkeit 20 21 22 23
24
VII 3, 166: 34 [84] VII 3, 169: 34 [88] VII 3, 166: 34 [84] Vgl. auch VIII 1, 30: 1 [98]: „Die Worte bleiben: die Menschen glauben, auch die damit bezeichneten Begriffe!" VII 3, 201: 34 [179]
Nietzsches Verständnis der „Kunst des Lesens"
159
zu stürzen." 25 Sondern er zielt auf einen Ansatz, der die erstere Frage, die nach der Bestimmtheit, in eigentümlicher Weise zustimmend beantwortet. Er möchte nämlich die Eindeutigkeit der Begriffe erreichen. Doch wodurch? Durch eine klare Bestimmung des Bezugs zwischen Wort und Begriff. Auf diesen Zusammenhang, der einen klaren Unterschied zwischen beiden voraussetzt, kommt es in systematischer Hinsicht an! Gerade diese Unterscheidung ist ihm ein Mittel, um dasjenige, was er unter Eindeutigkeit des Begriffs versteht, zu präzisieren. Jener Schriftsteller steht ihm als Ideal vor Augen, der „sich beständig zwingt und übt, vorerst seine Begriffe auf strenge Weise festzustellen und fester zu machen, also mit seinen Worten eindeutige B e g r i f f e zu verbinden". 2 6 Zunächst müßte also die begriffliche Klärung erfolgt sein, gleichsam noch in einem Bereich, der in Hinsicht auf die Wahl des treffenden Wortes noch Disponibilität gewährleistet. Erst wenn die Eindeutigkeit des Begriffs erreicht ist, wird er mit dem ihm angemessenen Wort verbunden. Und dort, wo wir „keine Worte (haben), um das wirklich Vorhandene ( . . . ) zu bezeichnen", dort sind auch die verwendeten Begriffe (wie ζ. B. „Individuum", „Person") eine Fiktion. 2 7 Der beschriebene Sachverhalt tritt noch anschaulicher zutage, wenn man das Mißlingen eines solchen Vorgangs betrachtet. Für Nietzsche ist „das Lästigste, was die Schriften unklarer, schlecht geschulter und unphilosophischer Geister an sich haben . . . die Unfestigkeit der Begriffe selber, für welche sie sich der Worte bedienen". 2 8 Solche Schriftsteller vermögen nicht, bevor sie zu schreiben beginnen, die klare begriffliche Durchbildung zu erreichen; „diese Menschen haben nur ungestaltete schwimmende Kleckse von Begriffen im Kopfe" 2 9 ; und deshalb ist auch keine stringente Verbindung zwischen Begriff und Wort gegeben, wie sie beim guten Autor anzutreffen ist. Die Eindeutigkeit des Begriffs wird also durch eine feste Zuordnung zum Wort, besser: des Wortes zu ihm, erreicht. Die anfängliche Differenz wird schließlich überwunden; jedoch so, daß sie sachlich nicht irrelevant wird, sondern den fraglichen Bezug in klarer Weise bestimmt.
1.3. Folgerungen für die Interpretation von Schriften Die Funktionen, die die Begriffsfestlegung hinsichtlich der Mitwelt und der Möglichkeit des Weiterwirkens erfüllt, sind für das Verstehen von 25 26 27 28 29
VII VII VII VII VII
3, 3, 3, 3, 3,
248: 166: 363: 165: 165:
35 34 40 34 34
[36] [83] [8] [83] [83]
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Johann Figi
größter Bedeutung, und zwar vor allem für das Verstehen von schriftlich fixierten Aussagen. Nietzsche beobachtet die erwähnten Tatbestände der Begriffsbildung stets in der Schriftlektüre. Dieser Aspekt soll nun weiterverfolgt werden. Eine innere Nähe zwischen Schriftlichkeit und der Festlegung eines Begriffs ergibt sich allein schon phänomenologisch, insofern in der skripturalen Fixierung ebenfalls eine Festlegung, wenn auch eigener Art, erfolgt. Aus diesen Gründen mag die Schriftlichkeit ein besonders angemessenes Medium des begrifflich eindeutigen Ausdrucks sein, sowie sie auch umgekehrt einen solchen fordert. Denn im Unterschied zum mündlichen Gespräch und dem dort waltenden Verstehen kann in der Schrift nicht so leicht auf zusätzliche Verständigungsmittel zurückgegriffen werden, wie sie bei der Rede praktisch immer gegeben sind (z. B. Tonfall; Akzentuierung; Umstände). Auch ist die nachträgliche Korrektur und Präzisierung, die im Gespräch durch die Reaktion des Hörers veranlaßt sein mag, nicht möglich. Die genannten Aspekte können gleichsam aus der „Mangelsituation" der Schriftlichkeit heraus veranschaulichen, warum beim Schreiben die Präzisierung der verwendeten Begriffe ein wesentliches Erfordernis des Verstehens bildet. Die Prägung eindeutiger Begriffe korreliert der Skripturalität noch in weiteren Aspekten, wie Autonomisierung, Eigengesetzlichkeit auch gegenüber dem Autor und eine gewisse Zeitenthobenheit. 30 Anerkennt man diese Struktur der Schriften, so kann gefolgert werden, daß die geforderte Eindeutigkeit im Interesse des Verstehens postuliert werden kann; umgekehrt muß die Art des Verstehens so konzipiert werden, daß es ihr gelingt, den Sinngehalt, den der Autor mit seinen Begriffen intendiert, zu erfassen; es muß eine Hermeneutik möglichst „angemessenen" Verstehens sein. Freilich kann es dabei nicht um eine Ubereinstimmung im Sinne moderner Verifikationsprinzipien gehen, da eine „Überprüfung" am Objekt nicht möglich ist; aber es handelt sich dennoch nicht um eine beliebige Relation zwischen Schrift und Leser, sondern um einen Bezug, dessen Charakter Nietzsche nach mehreren Dimensionen hin beschreibt und somit eingrenzt.
30
Vgl. Paul Ricoeur, Der Text als Modell: hermeneutiscbes Verstehen, in: L. Bühl (Hg.), Verstehende Soziologie, München 1972, 252 — 383; dazu Johann Figi, Text, Tradition und Interpretation. Schriftliche Objektivierung als hermeneutisches Problem in Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode", in: Kairos. Zeitschrift für Religionswissenschaft und Theologie 20 (1978), 2 8 1 - 2 9 2 , bes. 291 f.
Nietzsches Verständnis der „ K u n s t des Lesens"
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2. Dimensionen und Ziel der Lektüre 2.1. Die „Kunst" des Lesens vor dem Anspruch der wissenschaftlichen Philologie Die Problematik der angemessenen Interpretation schriftlich fixierter Aussagen führt unumgänglich zur Frage, welcher Stellenwert dabei der Philologie als der klassischen Disziplin exakter Textinterpretation zukommt. Das Urteil über Nietzsches Stellung dazu ist von seltsamer Einmütigkeit: er habe eine wesenhaft kritisch-ablehnende Position spätestens seit der Zeit der Geburt der Tragödie bezogen; selbst wohlwollende NietzscheInterpreten, die nicht nur dessen Polemik gegen die Philologie, sondern zugleich auch seine Aufgeschlossenheit den Postulaten einer historischkritischen Wissenschaft gegenüber betonen, wie es C. A. Bernoulli tut, meinen feststellen zu müssen, daß Nietzsche in seinem Werdegang „immer weniger zum Gelehrten wurde". 31 Sie vermögen darum Nietzsches Lob der Philologie, das immerhin an zahlreichen Stellen des späten philosophischen Werkes unzweideutig ausgesprochen wird, nur als eine Rückkehr zu den vorher als falsch anerkannten Zielen zu deuten, wofür zwei, in ihren Intentionen sehr unterschiedliche Autoren wie Howald und Bernoulli ein beredtes Zeugnis ablegen. Bernoulli meint, daß Nietzsche „in seiner letzten Schaffensperiode alles, was er einst erst besessen und dann von sich gestoßen hatte, in dem Sinne wieder für sich in Anspruch zu nehmen pflegte, daß die andern und mit ihnen früher er selber von einer Sache den falschen Gebrauch gemacht hätten, von der er nun den richtigen übe — so wollte er auch nicht die Philologie dahinten lassen", und so habe er „(sich) von seinem ehemaligen Berufe eine großartige Umdeutung zurechtgelegt", und als Zeugnis hierfür führt Bernoulli die Vorrede zur zweiten Ausgabe der Morgenröthe aus dem Jahre 1886 an. 32 In der Annahme einer Rückwendung zu den Idealen der Jugend trifft er sich mit Howald, der meint, Nietzsche wurde in seinen späten Jahren „auch den Philologen gegenüber ruhig und kehrt recht eigentlich, wenn er von ihnen spricht, zu den Phrasen zurück, die innerhalb und außerhalb der Zunft zu ihrer stereotypen Charakterisierung verwendet werden und die er früher durchschaute, wenn er 1876 über die Sorgfalt der Philologen spöttelt: ,Philologie ist die Kunst, in einer Zeit, welche zu viel liest, lesen zu lernen und zu
31
32
Carl August Bernoulli, 1908, 225 Ebd.
Fran£
Overbeck
und Friedrich
Nietzsche.
Eine Freundschaft, Jena
162
Johann Fig]
lehren. Allein der Philologe liest langsam und denkt über sechs Zeilen eine halbe Stunde nach. Nicht sein Resultat, sondern diese seine Gewöhnung ist sein Verdienst.' " 3 3 Es ist zwar kaum ein Anhaltspunkt für Howalds Annahme in der zitierten Anmerkung gegeben, in ihr Spott über die Philologie zu sehen, außer man sieht schon allein in der Tatsache, daß es bei ihr nicht auf das Resultat, sondern auf die Gewöhnung ankomme, eine beißende Ironie. Doch Nietzsche meint es ernst mit diesem letzten Satz, sowie ihm auch die Philologie als Kunst des Lesen-Lernens gegenüber dem Viellesen vorbildhaft ist. Eine solche irreführende Interpretation, wie sie Howald gibt, verdankt ihren Ursprung der fraglos vorausgesetzten Behauptung, Nietzsche habe nach einer Phase der kritischen Polemik gegen die Philologie sich erst im Alter wieder auf deren Vorzüge besonnen, wenn er sie sich dann auch in der Gestalt einer Uminterpretation neu aneignet, wie Bernoulli meint. Diese problematische These aber bedarf der Überprüfung, um zu einer sachgerechten Beurteilung von Nietzsches Verhältnis zur Philologie als Lese-Kunst zu gelangen. Das pauschale Urteil von einer prinzipiell gewandelten Sicht der Vorzüge des bedachtsamen und überlegenden Lesers wird allein durch die Tatsache widerlegt, daß sich die Postulate einer solchen, am Modell der Philologie orientierten Art der Lektüre schon in einer früheren Periode von Nietzsches Denken finden. Anfang des Jahres 1872 schreibt er zu den Vorträgen ,Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten' eine „Vorrede", von der er sagt, sie sei „zu lesen vor den Vorträgen, obwohl sie sich eigentlich nicht auf sie bezieht". 34 In diesen allgemeineren theoretischen Erwägungen finden wir genau jene Postulate, die die vorhin erwähnten Nietzsche-Interpreten erst in der Spätzeit anzutreffen meinen, insbesondere auch das Postulat des Langsam-Lesens. Denn diese Eigenschaft erwartet Nietzsche vom Leser: „er muß ruhig sein und ohne Hast lesen, er muß nicht immer sich selbst und seine ,Bildung' dazwischen bringen, er darf endlich nicht, am Schlüsse, etwa als Resultat, Tabellen erwarten". 35 Aus dem Tatbestand, daß Nietzsche als Philologe allgemeine Leseanweisungen aufstellt, ergibt sich für die Nietzsche-Forschung, die wechselseitige Bezogenheit von fachphilologischem und „gewöhnlichem", aber dennoch genauem Lesen neu zu bedenken.
33
34 35
Ernst Hoivald, Friedrich Nietzsche K G W IV 2, 428: 19 [1] III 2, 140 III 2, 140
und die klassische Philologie,
Gotha 1920, 36; Originalzitat:
Nietzsches Verständnis der „Kunst des Lesens"
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2.2. Kriterien des rechten Lesens Nietzsche spricht in Fortführung des Sprachgebrauchs traditioneller hermeneutischer Theorie als Kunst des Verstehens 36 von der „Kunst" des Lesens. Allein diese Kennzeichnung, die sich organisch in seine eigene Theorie des Verstehens einfügt, nach der dieses immer auf ästhetischen Prämissen beruht 37 , vermag zu dem Irrtum zu verleiten, er wende sich darin von den Forderungen einer kritischen Philologie ab. Eine Analyse der einschlägigen Aussagen über die Lesekunst zeigt jedoch den entgegengesetzten Sachverhalt: er nimmt die methodischen Forderungen der philologischen Kritik positiv auf, verallgemeinert sie allerdings so sehr, daß der Anschein einer nur mehr metaphorischen Redeweise entstehen mag. Zwar kennt Nitzsche den übertragenen Sinn von „Schrift" und entsprechender „Lektüre" derselben sehr wohl 3 8 , doch ist seine Redeweise von der „Kunst des Lesens" davon zu unterscheiden. Sie ist gewissermaßen zwischen den Aussagen über die Philologie als Wissenschaft und der Philologie im metaphorischen Sinn anzusiedeln. Als solcherart definierte Sprechweise kommt ihr eine eigene Bedeutung zu, die es im einzelnen zu erschließen gilt. Dabei sollen zuerst jene Aspekte herausgearbeitet werden, die den philologisch-wissenschaftlichen Postulaten direkt zu entsprechen versuchen (Methodik, Objektivität, hypothetisches Hinterfragen), und sodann jene Züge, die über das anscheinend wertfreie Methodenideal durch spezifische Interessen hinausgehen, ohne jedoch dessen kritische Potenzen brechen zu wollen; es ist dies vor allem der Anspruch auf das totale Engagement. Nur in ihrer Gesamtheit vermögen diese Aspekte zum eigentlichen Ziel des Lesens vorzudringen, das im Erkennen der nicht verbalisierten Realität zu sehen ist.
2.2.1. Methodik — anstelle des „gewöhnlichen" Lesens Das Hinausgehen Nietzsches über eine bloß faktenfeststellende und -sammelnde Philologie bedeutete keineswegs einen Rückfall in eine unreflektierte Form der Lektüre. Auch wenn Nietzsche annimmt, daß bisweilen
36
37
58
Vgl. ζ. B. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1977, 75 ff. und 80: „Das Auslegen ist Kunst". Ys'· Johann Figi, Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie. Mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte, Düsseldorf 1984 ( = Beiträge zur Theologie und Religionswissenschaft), 159 ff. Vgl. Figi, Dialektik, 244 ff.
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Johann Figi
ein antiker Autor ohne wissenschaftliche Kenntnisse besser verstanden wird als mit aller philologischen Akribie, so ist dies keine Aufforderung zu einem „naiven" Umgang mit dem Text; er warnt „vor dem g e w ö h n l i chen) Lesen". 39 Gegenüber einem unsystematischen Vorgehen, in dem der Sinn des Textes oft nur „erraten" wird 40 , lobt er die bewußte Einseitigkeit des Philologen, die erst die Aufstellung von philologischen Regeln ermöglichte: „Jede starke Richtung ist einseitig; sie nähert sich der Richtung der geraden Linie und ist wie diese ausschliessend, das heisst sie berührt nicht viele andere Richtungen, wie diess schwache Parteien und Naturen in ihrem wellenhaften Hin- und Hergehen thun: das muss man also auch den Philologen nachsehen, dass sie einseitig sind." 41 Warum Nietzsche in dem hier zitierten Aphorismus mit dem Titel „Die Kunst, !(u lesen" das einseitige wissenschaftliche Vorgehen im Grunde gutheißt, dies wird rasch verstehbar nach Kenntnis der Gründe, die ihn zu dieser Auffassung geführt haben, nämlich das Interesse an der Aufklärung über den Sachgehalt des Textes gegenüber den subjektiven und weltanschaulichen Vorentscheidungen.
2.2.2. Objektivität und Interesse an der Aussage des Autors Das aufklärerische Potential der Philologie tritt für Nietzsche am anschaulichsten im Vergleich mit mittelalterlichen Interpretationsmethoden hervor, die er global als unwissenschaftliche qualifiziert, wobei das Methodenideal des 19. Jahrhunderts den Maßstab der Beurteilung bildet: „Herstellung und Reinhaltung der Texte, nebst der Erklärung derselben, in einer Zunft jahrhundertelang fortgetrieben, hat endlich jetzt die richtigen Methoden finden lassen; das ganze Mittelalter war tief unfähig zu einer streng philologischen Erklärung, das heisst zum einfachen Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt, — es war Etwas, diese Methoden zu finden, man unterschätze es nicht!" 42 Die Gefahr, sich durch zeitbedingte Vorurteile das Gelesene zu verstellen, bedroht aber gerade auch den Bildungsmenschen jenes Jahrhunderts, in dem die perfekte Handhabung der philologischen Methoden sich durchsetzte. An den Leser stellt er als „wichtigste Forderung (...), daß er auf
39 40 41 42
IV 3, 416: Vgl. VI 2, IV 2, 227: IV 2, 227:
31 [5] 115: J G B 192; VI 2 197: J G B 246 MA I 270 MA I 270
Nietzsches Verständnis der „Kunst des Lesens"
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keinen Fall, nach Art des modernen Menschen, sich selbst und seine Bildung unausgesetzt dazwischen bringen darf, gleichsam als ein sicheres Maaß und Kriterium aller Dinge". 4 3 Dies spricht Nietzsche zu eben der Zeit (1872), in der er sich für ein engagiertes, den ganzen Menschen und seine Geschichtlichkeit ins Spiel bringendes Verstehen der antiken Texte einsetzt. Doch bedeuten diese beiden scheinbar entgegengesetzten Aussageintentionen im Grunde keinen Widerspruch, da sowohl die Forderung des engagierten Totalexperimentes als auch jene der starken Distanzierung von zeitbedingten und weltanschaulichen Vorentscheidungen auf eine möglichst objektive Erfassung des Gegenstandes zielen. Die Abkehr vom neutralistischen Standpunkt des wissenschaftlichen Philologen ist keine Verurteilung dieser Haltung an sich, sondern zielt auf eine umfassendere Gestalt der Objektivität als es die bloß wissenschaftliche ist, insofern auch die auf wissenschaftlichem Boden nicht mehr reflektierten Vorurteile problematisiert werden. Die Einsicht in die Aussage eines Textes kann aber nicht nur durch den Mangel an weltanschauungsfreien Methoden gehindert werden, sondern in ähnlich gravierender Weise durch affektive Beziehungen zum Autor desselben. Nietzsche meint, daß wir die „Schriften von Bekannten (Freunden und Feinden) doppelt (lesen), insofern fortwährend unsere Erkenntniss daneben flüstert: ,das ist von ihm, ein Merkmal seines inneren Wesens, seiner Erlebnisse, seiner Begabung', und wiederum eine andere Art Erkenntniss dabei festzustellen sucht, was der Ertrag jenes Werkes an sich ist." 4 4 Um die gegenseitige Störung dieser beiden Arten der Lektüre zu vermeiden, müßte der Rat befolgt werden, den Nietzsche für das Gespräch unter Freunden gibt, nämlich „nur noch an die Sache denken, und vergessen, dass sie Freunde sind". 4 5 Im Interesse eines objektiven, an der Sachaussage eines Textes orientierten Verstehens fordert Nietzsche also das Absehen von individuellen Anschauungen und emotionalen Bindungen. Die affektiven Strebungen gelte es unter Kontrolle zu halten, um sich den Zugang zum Gehalt eines Textes nicht zu verstellen, doch auch eine innerliche, „meditative" Einstellung, die Möglichkeitsbedingung für solche Distanznahme ist, sieht Nietzsche in der wissenschaftlichen Philologie am überzeugendsten realisiert: nämlich in ihrem Sich-Zeit-Lassen bei der Textlektüre.
43 44 45
III 2, 141 f. IV 2, 168: MA I 197 IV 2, 168 f.: MA I 197
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2.2.3. Muße — die meditative Dimension des Lesens Die Einsicht in den Gehalt einer textlichen Aussage wird durch eine neutral-distanzierte Haltung gegenüber den eigenen Vormeinungen und Gefühlsbedingungen erreicht. Die Voraussetzung, um diese innere Freiheit zu erlangen, ist ein neues Verhältnis zur Zeit, das sich streng von der Hast und Arbeitsamkeit des 19. Jahrhunderts unterscheidet: es ist ein meditatives Verhalten gefordert, das vom unermüdlich wiederholten Lesen des Philologen gelernt werden könne. Dies ist ein Grundgedanke Nietzsches, und er findet sich, wie oben erwähnt wurde 46 , schon in methodologischen Forderungen von 1872, und auch noch 1886, in der Vorrede zur neuen Ausgabe der Morgenröthe·. Ein solches Buch, ein solches Problem hat keine Eile; überdies sind wir Beide Freunde des lento, ich ebensowohl als mein Buch. Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens (...). Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden — (.. ,). 47
Nietzsche wendet sich gegen eine Lektüre unter dem Diktat der Zeit, ein Lesen, das sich wie die mechanische Arbeit dem Gleichmaß der geregelten Zeit unterwirft, ist für ihn Gegenstand beißender Ironie: Beachten Sie wie schnell er liest, wie er die Seiten umschlägt — genau nach der gleichen Sekundenzahl Seite für Seite. Nehmen Sie die Uhr zur Hand. 48
Diesem arbeitsamen und „fleißigen" Zur-Kenntnis-Nehmen eines Buches fehlt die Fähigkeit zur Meditation des Textes, die Nietzsche als ein unabdingbares Erfordernis im Textverstehen erachtet. Das „viele Lesen" sei schuld an der „Armut von originellen Gedanken", wie er schon als Student 49 sowie im Rückblick auf sein Leben (1888) 50 kritisch gegenüber den Philologen bemerkt. Auf der anderen Seite darf das Verweilen und wiederholte Durchdenken der einzelnen Abschnitte nicht mit dem willkürlichen Auswählen des „gewöhnlichen Lesens" unmethodischer Art verwechselt werden; Muße ist nicht Müßiggang: „ich hasse die lesenden Müssiggänger", sagt Nietzsche in Also sprach Zarathustra.51 Die hypothetische Vorgangsweise des Erwägens von Möglichkeiten ist erfordert; das vorsichtige Umsehen und Ausspähen von Sinntiefen, die bei 46 47 48 49 50 51
Siehe oben 2.1. V 1,9 IV 3, 477: 47 [7] Vgl. BAW. 5, 269 Vgl. V I 3, 290 f. VI 1, 44: Za I Vom Lesen und Schreiben
Nietzsches Verständnis der „Kunst des Lesens"
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der ersten Begegnung nicht zutagetreten. Es ist jenes ,£ut lesen" gefordert, das die Philologie lehrt, „das heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen . . .'2 Man hat die Kunst, die in einem Satze steckt, zu „errathen ( . . . ) , sofern der Satz verstanden sein will". 5 3 Es geht daher zugleich um eine Hinterfragung des faktischen Textes, die zu der Forderung führt, man möchte die Hintergedanken eines Denkers „so deutlich ablesen wie seine Worte", wie Nietzsche im Hinblick auf Thukydides sagt. 5 4 Dieser spielerische Umgang wird in mannigfachen poetischen Formulierungen im Zarathustra-Abschnitt
„Vom Lesen und Schreiben" geschil-
dert: in dem Bild leichtfüßigen Schreitens „von Gipfel zu Gipfel" 3 3 , überhaupt durch die Gebirgsmetapher und das Erhobensein „über alle Trauer-Spiele und Trauer-Ernste"; im Bild des Glückes, das durch Schmetterlinge und Seifenblasen symbolisiert ist: „Diese leichten thörichten zierlichen beweglichen Seelchen flattern zu sehen — das verführt Zarathustra zu Thränen und Liedern." 5 6 Das Lachen und das Fliegen bezeichnen ebenfalls diese tastende, hypothetische Annäherung an den Text. Ihren Höhepunkt finden die Verse aus diesem für die Hermeneutik relevanten Zarathustra-Abschnitt
in dem bekannten Ausspruch: „Ich würde nur an
einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde." Dieser bereitet den paradox klingenden Schluß-Satz vor: J e t z t bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein G o t t durch m i c h . 5 7
2.3.4. Das existenzielle Totalengagement Die Metaphorologie für das Erhobensein und Fliegen darf aber nicht den anderen von Nietzsche zugleich geforderten Aspekt im Prozeß des Text-Verstehens übersehen lassen, nämlich das totale Engagement; dieses ist ebenso nötig um die Tiefe und innere Mitte eines Textes auszuloten. Die Einleitungssätze des mehrfach zitierten Zarathustra-Gleichnisses
weisen auf
die Schwierigkeiten des Verstehens von fremden Texten hin: „Von allem
52 53 54 55 56 57
V 1, 9 VI 2, 197: J G B 246 VI 3, 150 VI 1, 44 VI 1, 45 VI 1, 46
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Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist." 58 Das Problem liegt im „Gehalt" der Schrift, in seiner dem Leben entstammenden Realität begründet. Um sie zu erfassen, um diese „Weisheit" zu verstehen, bedarf es einer denkerischen Anstrengung, die Nietzsche im Bild des Kriegers 59 oder Abenteurers und Entdeckers 60 beschreibt, der jedoch das Gegenteil von einem plündernden Soldaten 61 ist: „Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig — so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann." 62 Dieser, von Nietzsche auch als Motto für den dritten Teil der Genealogie der Moral verwendete Satz 63 , symbolisiert das erforderte Gesamtengagement des Menschen, in dem er nicht mehr unverändert, gleichsam starr dem Textgeschehen gegenübertritt, sondern sich in diesen Prozeß einfügt und sich dadurch ändert. Einem solchen Leser gilt Nietzsches Ausruf in seinem geplanten ,Gespräch über das Lesen': „Da ist er. Er ist ganz verwandelt." 64 In die Bewegung des Textes soll der Leser sich einlassen. Der Forderung an den Autor, „seinen Worten Bewegung mitzutheilen" 65 , korrespendiert jene an den Leser, der „seinen Körper dazu geben und zeigen (sollte), daß das Bewegende auch bewegt". 66 Einzig die psychophysische Gesamtheit des Menschen, ein ausdrücklich seine Leiblichkeit umgreifender Existenzvollzug vermag die Bedingung für Verstehen zu sein. Die einleitend zum einschlägigen Zarathustra-Abschnitt verwendete Metapher des „Blutes", mit dem man schreibt und das es zu „lesen" gelte, ist nun nicht mehr eine für das Textphänomen unzutreffende; sie ist im Gegenteil ein Sinnbild für das Innerste eines Menschen, das im Schreiben und Lesen realisiert wird, und das Bild darf darum nicht mißverstanden werden als abstrakte Chiffre für einen toten Text. Vielmehr gilt es, das lebendige Zentrum des Textes zu erkennen, von dem her allein die Buchstaben ihren Sinn und ihre Dynamik erhalten können. Das Vordringen zu dieser verborgenen Dimension des Schriftwerkes erfordert eine angemessene Strategie des Lesens, zu der die schon aufgezählte
58
60 61 62 63 64 65 66
VI 1, 44 Ein verwandtes Bild ist jenes des Jagens: zierlicher Rehe gewiss." (IV 2, 483: 22 [50]) Vgl. V I 3, 301 Vgl. IV 3, 72 V I 1, 45 Siehe V I 2, 355 IV 3, 477 IV 3, 476 IV 3, 477
,Jagd
im Buche./Kräftiger
Eber und auch
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Einstellung, insbesondere das Sich-Zeitlassen gehört, und ebenso das „Hinterfragen" — nämlich der Oberfläche des schriftlich Fixierten — sowie das entschiedene „Engagement".
2.3. Leben — die nicht-verbalisierte Dimension des Textes (Zur Intention des Lesens) Die Möglichkeit, in die Bewegung des Textes durch die Lektüre hineingenommen zu werden, eröffnet eine neue Dimension der schriftlich fixierten Aussage, da sich in der Dynamik die potenzielle Lebendigkeit derselben verrät. Es ist jene Ebene, in der die Rückverwiesenheit auf vorund außertextliche Gegebenheiten noch am unverstelltesten antreffbar ist. Sicherlich ist in ihr nicht der Lebenszusammenhang als solcher, aus dem der Text entstammt, antreffbar, da die Schriftlichkeit durch eine unauslöschbare und bleibende Gebrochenheit im Verhältnis zu präskripturalen Phänomenen gekennzeichnet ist; doch in dieser postulierten innersten Mitte ist gleichsam die Bewegung des Ursprungsortes eines Textes so lebendig, daß er die in ihm geronnene Dynamik im Leser wieder zur existenziellen Erfahrung werden lassen kann; der Autor wird gleichsam lebendig. So ist es Nietzsches eigene Lesererfahrung: Lesen hieße ja „Hören-Müssen auf andre Selbste". 67 Analoges wie vom Autor gilt von der im Buch repräsentierten Vergangenheit; sie erwacht im Leser zu aktuellem Sein. Von jedem Buch darf, wenn auch mit verschieden großer Berechtigung, das Selbst-Bekenntnis über Die fröhliche Wissenschaft gelten: Dies ist kein Buch: was liegt an Büchern! An diesen Särgen und Leichentüchern! Vergangnes ist der Bücher Beute: Doch hierin lebt ein ewig Heute.6è
In diesem Gedicht aus dem Jahre 1882 spiegelt sich noch das klassische Ideal des jungen Philologen wider, mit dem er angetreten ist, und das seine frühen Publikationen durchdringt, nämlich aus dem Schrifttum der Antike das Zeitlose herauszulesen. Das „ewig Heute" — eine Kurzformel für die Uberzeugung von dem bleibenden humanen Wert des griechischen Menschentums — wird hier zur letzten Definition der gelungenen Lektüre. Und so wie auch das klassische Altertum nach dem Selbstverständnis Nietzsches nie angemessen verstanden wird, wenn es nicht realisiert ist,
67 68
VI 3, 324; Vgl. auch VI 3, 282 V I I 1, 31: 1 [104]
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so kann kein Buch sachgerecht gelesen werden, wenn sein Inhalt nicht gelebt wird; zum Leben, zum Tun, möchte solche Lektüre hinführen. In eindrucksvoller Weise hat Nietzsche diese seine Grundüberzeugung am Schluß der Vorrede zu den Basler Bildungsvorträgen von Anfang 1872, in der er drei Postulate des Lesens aufstellt, ausgesprochen. Dort ruft er jene Selbstlosen, „deren Auge nicht etwa mit hastigem Spähen an dem Äußeren der Dinge herumtastet, sondern den Zugang zum Kern ihres Wesens zu finden weiß," auf: Seid wenigstens Leser dieses Buchs, um es nachher, durch eure That, zu vernichten und vergessen zu machen! 6 9
Das Ziel ist also die Überwindung des Textes durch Realisierung seines Inhalts. Der schriftlichen Fixierung kommt darum im Prozeß der Sinnübermittlung nur ein transitorischer Wert zu, und sie hat ihre Aufgabe erfüllt, sobald der Adressat den ausgesprochenen Appell in die Tat umgesetzt hat. Dann ist die nicht-verbalisierte — weil nicht verbalisierbare — Dimension des Textes durch das Lesen verstanden, nämlich das Leben, dem er entstammt, wird erfahren und zum Ansporn eigener Lebensveränderung. Freilich bleibt zum Schluß der Darstellung von Nietzsches Theorie des Lesens die Frage, ob sie nicht fast ausschließlich auf appellative Texte zutrifft, und rein informativen Schriftwerken (etwa mathematischer oder naturwissenschaftlicher Art) nicht gerecht wird. Darauf ist zunächst zu antworten, daß Nietzsche eine Theorie des geisteswissenschaftlichen Verstehens (philologisch, historisch) anzielte, und die methodischen Probleme naturwissenschaftlicher Disziplinen von einem vergleichbaren Horizont aus in Angriff nahm, indem er den Seinszusammenhang unter der Kategorie des Lebens und später lebensanaloger Phänomene, insbesondere des Machtgeschehens, deutete. 70 Für die Philologie und andere textbezogene Wissenschaften selbst bleiben seine Einsichten in den Prozeß des Lebens von unleugbarem Wert. Nietzsche bereitet mit der Auffassung, daß das Ziel einer gelungenen Lektüre das nicht zur Schrift gewordene Lebendige sei, eine Überwindung jeglicher textpositivistischen Interpretation vor. Geleitet ist er dabei von der Absicht, die Hintergedanken eines Denkers, das, was „zwischen den Zeilen steht", zu lesen. 71 Damit scheint er am weitesten von der philologischen Treue zur vorliegenden Textgestalt abzuweichen. Doch selbst in dieser Form der Auslegung verallgemeinert er nur eine Einsicht, die er 69 70 71
III 2, 142 Vgl. Johann Figi, Interpretation als philosophisches Prinzip, 45 f. Siehe oben 2.2.3
Nietzsches Verständnis der „Kunst des Lesens"
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aus dem streng philologischen Umgang mit dem Text gewonnen hat: nämlich aus seiner Quellen- und Überlieferungsforschung einerseits und den Versuchen zur Textrestitution andererseits. 72 In beiden Fällen wird ja der überlieferte Text nicht als das Endgültige betrachtet, sondern auf einen erschlossenen Urtext hin relativiert, der uns in entstellter Form in der vorliegenden Gestalt noch erkennbar sei. Wird eine solche Unterscheidung verallgemeinert, so wird die Forderung, das Nichtgeschriebene eines Textes zu verstehen, nicht als ganz und gar „unphilologisch" abqualifiziert werden können. Vielmehr ist auch hier noch das Postulat festgehalten, die Möglichkeiten philologischer Auslegung bis an ihre Grenzen durchzuexerzieren. Wenn nun abschließend zu den alternativen Positionen der jüngst stattgefundenen Diskussion zwischen Derrida und Gadamer vor dem Hintergrund von Nietzsches Theorie der „Kunst des Lesens" Stellung genommen werden soll, so läßt sich ein Resümee dahingehend zusammenfassen, daß Nietzsche die beschriebene Entgegensetzung überwindet: weder kann gesagt werden, daß er den Prozeß des Auslegens als ein „richtungsloses" Spiel ohne jeglichen texttranszendierenden Bezug versteht, wie Derrida meint, noch darf die Betonung der Verborgenheit des zu Verstehenden (des Seins) bei Nietzsche als zu wenig radikal beurteilt werden. Vielmehr zeigt sich, daß Nietzsche sehr „gezielt" — und gleichsam mit Leseanweisungen versehen — Textlektüre versteht. Als „Ziel" des Text-Verstehens wird eine Dimension intendiert, die nicht mehr von skripturaler Gestalt ist, diese zeige sich im Text selbst schon, nämlich als dynamische Struktur des „Lebens", der er entstammt und auf die hin er verstanden sein soll. Damit aber wird nicht der Text „aufgelöst" oder bloß auf die nichttextliche „Realität" hin relativiert, sondern vielmehr herrschen in beiden Phänomenen — Schrift und Nicht-Schrift — Strukturen vor, die beides umfassen, weil sie in den Augen Nietzsches von universalontologischer Relevanz sind. 73 Diese jedoch sind letztlich in einer radikalen Weise verborgen·, ja, sie sind „an sich" nach Nietzsche überhaupt nicht erkennbar; Aussagen über sie sind „bloße" Interpretationen, und das ontologische Geschehen selbst wird als ein interprétatives Geschehen gedeutet. 74 Gleichwohl aber legt Nietzsche eine eigene Auslegung vor, nämlich mit seiner Theorie pluraler Machtzentren und -willen 75 , und versteht sie keinesfalls 72
73 74 73
Vgl. Johann J'igl, Hermeneutische Voraussetzungen der philologischen Kritik. Zur wissenschaftsphilosophischen Grundproblematik im Denken des jungen Nietzsche, in: B. Hillebrand und M. Montinari (Hg.), Grundfragen der Nietzsche-Forschung, Berlin/New York 1984 ( = Nietzsche-Studien 13), 1 1 1 - 1 2 8 , bes. 119 ff. Vgl. mein in Anm. 16 genanntes Buch. Vgl. Figi, Interpretation als philosophisches Prinzip, 71 ff. (2. Teil) Am eindringlichsten und für die Nietzsche-Forschung wegweisend wurde diese von Wolfgang Müller-Lauter herausgestellt: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971
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Johann Figi
als eine beliebige, sondern als eine — nach seiner Auffassung — angemessene. In analoger Weise dürfte auch das Auslegen von Texten von ihm verstanden worden sein: nicht définit, jedoch auch nicht beliebig, vielmehr partizipierend an der „gerichteten" Dynamik universaler ontologischer Prozesse.
MIHAILO
DJURIC
Nietzsches tragischer Gedanke Der tragische Gedanke war nicht der einzige, nicht einmal der allumfassende Gedanke des jungen Nietzsche. Weder entspringen seine übrigen Gedanken direkt aus diesem, noch gründen sie indirekt auf ihm. Die tragische Einsicht, daß das Leben „unzerstörbar mächtig und lustvoll" sei, trotz allem „Entsetzliche(n) oder Absurde(m)" 1 , welches es zerrüttet, und daß „der Wille zum Leben" gerade „im Opfer seiner höchsten Typen der eigenen Unerschöpflichkeit froh (wird)" 2 , ist keine Zauberformel durch welche der junge Nietzsche alles mögliche erklärte; obwohl mit diesem Gedanken (und dessen dionysischem mythischen Hintergrund) sein Auftreten auf der philosophischen Szene zunächst und am häufigsten verbunden wird. Aber auch der Gedanke der ästhetischen Rechtfertigung von Welt und Leben (wenn dies überhaupt ein gesonderter Gedanke, und nicht ein wesentlicher Bestandteil, die Kehrseite oder Fortsetzung des tragischen Gedankens war, in dem das moralistische Pathos der metaphysischen Tradition nur noch stärker betont wurde) beherrschte nicht unbeschränkt die Gedankenwelt des jungen Verehrers der griechischen Tragödie, noch prägte er allein dessen Philosophie. Obwohl das tragische Weltverständnis wahrhaftig Nietzsches jugendliches philosophisches Streben in höchstem Maße bezeichnete, gab es da freilich auch andere Gedankenmotive. Weder dachte der junge Nietzsche die tragische bzw. dionysische Erfahrung ausschließlich vermittels der überlieferten metaphysischen Kategorien, noch erschöpfte sich seine ganze frühe denkerische Bemühung im Versuch einer ästhetischen Rechtfertigung von Welt und Leben. Zumindest bestehen noch wenigstens zwei für Nietzsches jugendliches Philosophieren charakteristische wichtige Gedankengänge, die gleichsam nebeneinander verlaufen und nichts Gemeinsames miteinander haben, und deren Verschränkung und Verflechtung mit dem tragischen Gedanken, besonders für den Abseitsstehenden, äußerst fragwürdig, um nicht zu sagen ganz unfaßbar ist. Auf der einen Seite steht Nietzsches pragmatistisch-
' G T 7: K G W III 1, S. 52, 53. (Alle Nietzsche-Zitate nach der Ausgabe: Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von G i o r g i o Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967 ff.) 2 G D Was ich den Alten verdanke 4: K G W VI 3, S. 154
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Mihailo Djuric
perspektivische Relativierung der Erkenntnis, eigentlich die rücksichtslose Brandmarkung der Wahrheit als Lüge (freilich „im außermoralischen Sinn"), auf der anderen seine existenzial-ontologische Auslegung der Zeitlichkeit bzw. Geschichtlichkeit des Menschen, eigentlich die nachdrückliche Hervorhebung der Vorzüge des „überhistorischen" Standpunktes gegenüber den Ausschreitungen der historischen und unhistorischen Betrachtungsweise. Das erstere ist zu erwähnen, weil Nietzsche dort zum ersten Mal offen mit der Metaphysik gebrochen und entschieden den Durchbruch des nihilistischen Geistes angenommen hat, und das letztere, weil er hier zum ersten Mal die Sprache der ewigen Wiederkehr gesprochen hat: nicht nur, daß er die große Bedeutung des Wiederkunftsgedankens für das menschliche Leben richtig erahnt hat, vielmehr hat er auch deutlich angekündigt, daß allein auf der Spur dieses Gedankens, unter seinem Schirm und in seinem Horizont die höchste Bejahung des Lebens in all seinen Formen und Äußerungen möglich sei, ohne irgendeine Einschränkung und Ausnahme. Aber obwohl der tragische Gedanke weder der einzige noch der allumfassende Gedanke des jungen Nietzsche war, hebt er sich doch auffallend von allen seinen übrigen Gedanken ab. Nicht nur dadurch, daß er gewiß sein erster Gedanke war. Durch seine Tragfähigkeit, Fruchtbarkeit und wundersame Umwandlungsfähigkeit stellt er alle anderen Gedanken in den Schatten. Dieser Gedanke hat eine außerordentlich wichtige Rolle in der philosophischen Entwicklung Nietzsches gespielt, da er ihn zu einer ernsten Denkanstrengung veranlaßte. 3 Seine Geisteskräfte hat er nicht gefesselt, er hat sie im Gegenteil befreit. Er hat nicht nur seine Einbildungskraft angeregt, sondern auch eine fruchtbare Wirkung in seinem Schaffen ausgeübt. Vorbehaltlos kann man sagen, daß der ganze Denkweg Nietzsches, seitdem er auf der Spur des tragischen Gedankens begonnen hat, in dessen Zeichen gewesen und geblieben ist. Dieser Gedanke ist der Knotenpunkt des Nietzscheschen Selbstverständnisses, seine stärkste und beständigste Inspiration, auf seinem Boden sind alle anderen seiner Gedanken erwachsen. Nietzsches Philosophie insgesamt ist im tragischen Gedanken am tiefsten verwurzelt. Sie ist nichts anderes als ein Geflecht von mehr oder minder gelungenen schöpferischen Umbildungen dieses ersten 3
Vgl. Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 3 1973, S. 17, 32. Auf die Möglichkeit, den Begriff des Tragischen als „Zentralbegriff' der Nietzscheschen Philosophie aufzufassen und aufgrund dessen die „systematische Einheit" seiner Philosophie herzustellen, macht aufmerksam Rose P f e f f e r , Nietzsche: Disciple of Dionysus, Lewisburg 1972, S. 16 — 17, 33, 37, 220 — 223. Bescheidenere Ansprüche erhebt Holger Schmid in der neuerdings erschienenen Schrift: Nietzsches Gedanke der tragischen Erkenntnis, Würzburg 1984.
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Gedankens, sie stellt eine Folge experimenteller Konkretisierungen seiner verborgenen inneren Möglichkeiten dar, sie besteht aus einer Reihe aufeinanderfolgender Versuche, jeden gewagten Gedankenschritt durch einen noch tieferen, umfassenderen Schritt zu überbieten. Im Blick darauf, daß Nietzsches Philosophie mit der Zeit heranreifte, indem sie sich von den anfanglichen Schwächen und Mängeln befreite, ist es leicht begreiflich, daß der tragische Gedanke rasch vor anderen Gedanken zurückgewichen und hauptsächlich unter anderen Namen erhalten geblieben ist. Freilich ist Vorsicht vor solchen Abschätzungen geboten. Es kann nicht sein, daß Nietzsche mit seinem philosophischen Anfang je völlig gebrochen hat. Zumal er sich am Ende der Abhängigkeit von diesen Gedanken vollkommen bewußt war. Darüber ist eine unzweideutige Äußerung erhalten. Unmittelbar vor dem verhängnisvollen Zusammenbruch, noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, im Rahmen einer breiteren kritischen Rückbesinnung auf den zurückgelegten Weg aus der Perspektive der späteren Denkerfahrung, befand es Nietzsche für nötig, dem tragischen Gedanken seine Treue ausdrücklich zu bestätigen. An einer wohlbekannten und oft zitierten Stelle, wo er an seine Auslegung der griechischen Tragödie erinnert, und bevor er Heraklit als den einzig möglichen Vorläufer der Lehre Zarathustras von der ewigen Wiederkehr bezeichnete, sagt Nietzsche von sich selbst, er sei ein „tragische(r) Philosoph"4. Einfach so: „tragischer Philosoph", nichts anderes und nichts weniger als dies. Und an einer anderen, selten zitierten Stelle (die in untrennbarem Zusammenhang mit jener ersteren steht), wo er geradezu sein philosophisches Vermächtnis hinterlassen hat, versäumt es Nietzsche nicht hervorzuheben, daß er deshalb beansprucht als „tragischer Philosoph" verstanden zu werden, weil er „der letzte Jünger des Philosophen Dionysos" und „der Lehrer der ewigen Wiederkunft" sei. 5 Er läßt keinen Platz zum Zweifel übrig, daß er gerade durch seinen letzten Gedanken, durch den Wiederkunftsgedanken „wieder die Stelle" berührt, von der er einstmals „ausgieng", ja daß er sich erst damit „wieder auf den Boden" zurückstellt, aus dem sein Wollen, sein Können „wächst" 6 , und das ist der tragische Gedanke, der früheste Gedanke seiner Philosophie. Es gibt wirklich in der ganzen Geschichte der Philosophie kein Beispiel dafür, daß irgend jemand so großen Wert auf seinen ersten Gedanken legte, und zwar in vollem Bewußtsein, daß er durch seine anderen Gedanken, ganz besonders dem letzten, dessen Inhalt bedeutend erweitert und bereichert habe.
4 5 6
E H Die Geburt der Tragödie 3: K G W VI 3, S. 312 G D Was ich den Alten verdanke 4: K G W VI 3, S. 154 Ebd., S. 154
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Die erwähnte Nietzschesche pragmatistisch-perspektivische Relativierung der Erkenntnis verwundert und verwirrt durch ihre Radikalität. Anscheinend ist diese Relativierung vom Geist und Sinn des tragischen Gedankens so weit entfernt, daß man sich eine größere Distanz kaum vorstellen kann. Als handelte es sich um einen selbständigen neuen Anfang, und nicht um etwas, das in irgendeiner Hinsicht die begonnene Denkbemühung fortsetzt oder wenigstens berührt. Nicht nur, daß die Darlegung hier bedeutend kritischer intoniert ist, vielmehr ist sie auch in eine andere Richtung gelenkt, betrifft andere Fragen. Welch heftige Bestreitung der autonomen Kraft der Vernunft, welch sarkastische Erklärung des Triebes nach Wahrheit durch den Trieb nach Verstellung und Fälschung! Es ist nicht klar, was den jungen Nietzsche dazu veranlaßte, so jählings einen solchen Seitensprung zu machen, plötzlich so radikal mit jeder Metaphysik zu brechen. Fraglich ist, wie sich überhaupt derjenige gegen die überlieferten Denkschemata und -gewohnheiten auflehnen und deren radikale Änderung fordern konnte, der zugleich so leidenschaftlich die tragische Einsicht bejahte, daß alle Lebensformen (also sowohl die gelungenen als auch die mißlungenen) gleich nötig und gerechtfertigt seien, so daß nichts anders sein kann und sein soll, als es ist. Denn die Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, die schon die nihilistische Katastrophe erahnt, stammt ebenso aus der frühen Schaffensperiode Nietzsches, wie auch die Tragödienschrift, die noch in hohem Maße der philosophischen Tradition huldigt. Der Abstand zwischen ihrer Entstehungszeit beträgt höchstens ein oder zwei Jahre. Der junge Nietzsche hat vielleicht gut gespürt, daß er durch seine radikale Erkenntniskritik seine Zeitgenossen noch mehr beunruhigen und empören würde, als er es durch seinen Hinweis auf den dionysischen Grund der griechischen Tragödie getan hatte, so daß er mit gutem Grund auf die Veröffentlichung der Schrift, in der er diese Kritik dargelegt hat, verzichtete. Jedenfalls zeigt Nietzsches nachträgliche Erklärung, er habe diese Schrift für seinen persönlichen Gebrauch verfaßt, als eine Art Erinnerungsbuch („pro memoria") 7 für seine späteren Untersuchungen, deutlich, daß sich der künftige „erste vollkommene Nihilist Europas" 8 der Unumgänglichkeit eines solchen Schrittes tief bewußt war. Aber die nihilistische „Wahrheit" über die Wahrheit ist vom tragischen Gedanken nicht gänzlich getrennt, zwischen ihnen klafft keine unüberbrückbare Kluft. So scheint es nur auf den ersten Blick. Wenn man ein bißchen näher zuschaut, wird man gleich einsehen, daß es hier viele 7
8
Nachlaß 1884: K G W VII 2, 26 [372], S. 247; vgl. Nachlaß 1885/87: K G W VIII 1, 6 [4], S. 239; ebenso MA Vorrede 1: K G W IV 3, S. 4 Nachlaß 1887/88: K G W VIII 2, 11 [411], S. 432
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Berührungspunkte gibt. Und zwar sowohl in allgemeinen Zügen, als auch in Einzelheiten. Die Erkenntniskritik fangt nicht von nichts an, sondern bearbeitet und entwickelt das Vorgefundene weiter. Eigentlich wußte der junge Nietzsche die Frage nach dem Ursprung und den Grenzen der menschlichen Erkenntnis nicht einmal befriedigend zu stellen, geschweige denn endgültig zu beantworten. Mit dieser Frage wird er erst in seiner reifen und späten Philosophie wirklich zu ringen beginnen. 9 Aber es wäre verfehlt zu sagen, der junge Nietzsche sei erst nachträglich und unerwartet auf sie gestoßen. Diese Frage drängte sich ihm schon in der Geburt der Tragödie auf, und nicht erst in der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. Sie war sogar kein nebensächliches Thema der Tragödienschrift, sondern ein wichtiges Glied des Hauptgedankenganges. Der junge Nietzsche ist also leicht von der ästhetischen Betrachtung zur radikalen Erkenntniskritik übergegangen, da er sich schon in der Geburt der Tragödie weit über die festgesetzte Grenze begeben und in viele logische und erkenntnistheoretische Fragen verstrickt hat. Wichtig ist, sich die Eigentümlichkeit des Nietzscheschen tragischen Gedankens vor Augen zu halten. Er ist gar nicht so selbstverständlich wie man es gewöhnlich leichthin vermutet. 10 Weder kann er durch eine simple allgemeine Formel festgestellt werden (wie jene die am Anfang unserer Darlegung angeführt ist), noch kann er durch spezifische besondere Bestimmungen umfaßt und erschöpft werden (wie jene, die gleich anzuführen sind). In der Tat gebrauchte Nietzsche den Begriff des Tragischen sehr frei, fast rücksichtslos, indem er seinen Inhalt bald bedeutend erweiterte, bald bedeutend einschränkte. Er sorgte nur dafür, der gewohnten und üblichen Auffassung scharf entgegenzutreten, welche das Tragische mit dem Pessimismus identifizierte und als rein menschliche Angelegenheit verstand, da sie darin nur den jämmerlichen Aspekt unabwendbarer menschlicher Not und Mühe erblickte. Bei Nietzsche hat das Tragische einen entschieden kosmischen Sinn, bezeichnet vor allem eine ursprüngliche Spannung, welche über alles Seiende sich erstreckt. 11 Das Scheitern 9
10
11
Eine gründliche kritische Betrachtung der frühen Auffassung Nietzsches im Blick auf seine späteren Einsichten ist noch immer ein Desiderat. Über die Mängel und Schwierigkeiten der streng nominalistischen Sprachauffassung des jungen Nietzsche vgl. Ruediger Hermann Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge, Berlin/ New York 1977, S. 94 — 98. Daß das Tragische bei Nietzsche einen vornehmlich ontologischen Sinn hat, daß dies „Nietzsches erste Grundformel für seine Seinserfahrung" ist, betont Fink, Nietzsches Philosophie, S. 17. Darüber, daß „das Tragische" bei Nietzsche „die ästhetische Form der Freude" bezeichnet, und daß „das Wesen des Tragischen" in der „vielfaltigen pluralistischen Bejahung" oder „dynamischen Heiterkeit" besteht, vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris 1962 (dt. Übersetzung: Nietzsche und die Philosophie, München 1976), S. 22, 42. Nachlaß 1869/72: K G W III 3, 8 [2], S. 229; 9 [125], S. 332
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und Mißlingen der menschlichen Pläne und Handlungen ist nicht an und für sich tragisch, weil das Menschliche besondere Bedeutung und Wert hätte, sondern in erster Linie angesichts des widersprüchlichen Charakters der Welt selbst. Ohne bewußte Beziehung des Menschen zu den kosmischen Mächten von Licht und Dunkel, ohne seine mutige Ausdauer im schonungslosen Krieg, der die Welt beherrscht, gibt es keine tragische Erfahrung, kann nichts als tragisch erfahren werden. Der Horizont jedoch, in dem Nietzsche vom Tragischen spricht, ist nicht ausschließlich das Kunstwerk der griechischen Tragödie. Es ist ebenso das theoretische Programm des Sokrates, eigentlich die durch seine Entdeckung der Logik geschaffene philosophische Situation. 12 Vielleicht ist dieser letztere Horizont wichtiger, tiefer, grundlegender als jener erstere. Daher sind in der Geburt der Tragödie wenigstens zwei Richtungen, Stufen oder Formen des tragischen Gedankens zu unterscheiden. Einmal befindet sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit das Drama des „tragischen Helden" 13 (der immer als „Stellvertreter des Dionysos" auftritt 14 ), ein anderes Mal das Drama des „theoretischen Menschen" 15 (der zunächst in Gestalt des Sokrates 16 verkörpert wurde). Nietzsche interessiert sich nicht nur für das Leiden des ersteren (was den Angelpunkt des ästhetischen Effekts der dramatischen Handlung bildet), sondern ebenso, wenn nicht noch mehr für das Scheitern des letzteren an dem Versuch, auf der Vernunft die gesamte menschliche Kultur zu gründen. Er stellt den Sokratischen unerschütterlichen Glauben in Zweifel, daß die theoretische Erkenntnis möglich sei, daß der theoretische Mensch nicht nur die Welt erkennen, sondern auch aufgrund von Wissen alle ihre Fehler und Unzulänglichkeiten „corrigiren" 17 könne. Im ersteren Fall bringt Nietzsche den tragischen Gedanken in Verbindung mit den in den Tragödien von Aschylus und Sophokles dargestellten menschlichen Schicksalen. Oder richtiger: er kommt zur gesuchten Bestimmung, indem er die Erfahrung des einstigen „idealischen Zuschauers" 18 dieser Tragödien vor Augen hat. Hier ist sein Zugang hauptsächlich ästhetisch. In Bezug auf die dramatische Handlung erscheint das Tragische 12
13 14 15 16 17 18
So auch Friedrich Kaulbach, Ästhetische und philosophische Erkenntnis heim frühen Nietzsche, in: Mihailo Djuric/Josef Simon (Hrsg.), Zur Aktualität Nietzsches I, Würzburg 1985, S. 6 9 - 7 0 . G T 8: K G W III 1, S. 59 Nachlaß 1869/72: K G W III 3, 7 [127], S. 200 G T 15: K G W III 1, S. 94 Ebd., S. 95 Ebd., S. 95, vgl. G T 13: K G W III 1, S. 85 G T 7, ebd., S. 49. Der Ausdruck stammt von Schlegel, dessen Gebrauchsweise Nietzsche kritisiert. Hier wäre der Ausdruck „ästhetischer Zuschauer" eher angebracht.
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als „apollinische Verdeutlichung des Dionysischen" 19 , und hinsichtlich des Zuschauers als „Genuß am Widerspruch".20 Von diesem Genuß sagt Nietzsche er komme daher, daß sich in der dramatischen Handlung der dem „Wesen der Dinge" 21 eigentümliche Widerspruch „widerspiegelt". Das Schicksal des tragischen Helden ist ein „Mittel" 22 der kosmischen Tendenz, sogar die „Bürgschaft" 23 für deren Vollzug. Der tragische Held geht zugrunde um zu siegen, und sein Sieg ist gerade sein Zusammenbruch. 24 Darin zeigt sich der grobe Widerstreit und die unabwendbare Zerrissenheit der Welt. Deshalb erweckt die Tragödie nicht das Gefühl der „Trostlosigkeit" 25 , sondern fördert die „höchste Lustspiegelung". 26 Als Teilnehmer am dramatischen Geschehen bejaht der Zuschauer den tragischen Ausgang, er ist vom dionysischen Rausch ergriffen, er nimmt das Leiden des Helden als eigene Wahl, als eigenes Schicksal auf. Im letzteren Fall beschränkt Nietzsche den tragischen Gedanken auf ein engeres Gebiet, versucht dessen Bestimmung aus einem andersartigen Blickwinkel. Als Ausgangspunkt gilt nicht mehr die Spiegelung des Weltzwistes in menschlichen Schicksalen, bzw. die Erfahrung, welche der Zuschauer macht, indem er sich in das Bühnengeschehen hineinlebt, sondern die Einbildung der philosophischen Vernunft, sie könne die Welt beherrschen, eigentlich die Einsicht in die Gefahr und Fragwürdigkeit, ja sogar Verdrehtheit und Monstrosität dieser ihrer Bemühung. Anstatt um das menschliche Leben überhaupt, mit all seinen Aufstiegen und Niedergängen, deren künstlerische Darstellung ihre Größe und Bedeutung entdeckt und hervorhebt, handelt es sich hier um den Erkenntnistrieb, welcher das Leben untergräbt, insofern er wähnt allmächtig zu sein, alle Grenzen überschreiten zu können und sich dem ganzen Dasein als sein Richter aufzudrängen. Am Beispiel der logischen Besessenheit des Sokrates, seines „theoretischen Optimismus" 27 , seines „Glauben(s) an die Ergründlichkeit der Natur und die Universalheilkraft des Wissens" 28 , zeigt der junge Nietzsche, welch ungeheure Verwüstung das Streben nach unbegrenzter Erkenntnis herbeiführt. Seinen Worten zufolge schwächt die „Gier der
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Nachlaß 1869/72: K G W III 3, Ebd., 8 [2], S. 229 Ebd., S. 229 G T 15: K G W III 1, S. 96 Nachlaß 1869/72: K G W III 3, Ebd., 7 [128], S. 200; 8 [2], S. Vgl. G T 7: K G W III 1, S. 52. Nachlaß 1869/72: K G W III 3, G T 15: K G W III 1, S. 96 G T 17: ebd., S. 107
7 [128], S. 200
8 [2], S. 229 229 8 [2], S. 229
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unersättlichen optimistischen Erkenntniss" 29 notwendig „die instinctive Lust zum Leben" 30 , sie ruft eine „tragische Resignation" 31 hervor und führt letzten Endes zum „praktische(n) Pessimismus" 32 , dessen unvermeidliche Konsequenz die gegenseitige Selbstvernichtung ist. In einer solchen Situation, angesichts der Gefahr eines völligen Zusammenbruchs, erwacht das Bewußtsein davon, daß auch die Wissenschaft ihre „Grenze" 33 hat: es erweist sich nämlich, daß das Wissen zum Leben nicht ausreicht, daß das Leben nicht nach Vernunftprinzipien umgestaltet werden kann, so daß „Schutz und Heilmittel" 34 irgendwo anders gesucht werden müssen, außerhalb der theoretischen Einstellung. Allerdings war sich der junge Nietzsche im klaren darüber, daß dies nur die Kunst sein könne. Und er unterließ es nicht, sogleich ausdrücklich zu betonen: „nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt". 35 Diese Einsicht, daß das Wissen nicht allmächtig sei, daß das Leben nicht durch das Wissen erlöst werden könne, daß vielmehr die Kunst als „Correlativum und Supplement der Wissenschaft" 30 unumgänglich sei, nennt Nietzsche die „tragische Erkenntniss". 37 Dieser Hinweis muß richtig verstanden werden. Es handelt sich um keine Geringschätzung oder sogar gänzliche Ablehnung der Vernunft, sondern um die Bekämpfung übertriebener Hoffnungen und Erwartungen in Bezug auf diese. Hier ist also unter dem Schirm des tragischen Gedankens schon der Weg zur Erkenntniskritik gebahnt, wenn nicht gar der erste entscheidende Schritt in Richtung auf deren Entwicklung getan. So erweist sich, daß der junge Nietzsche nicht von neuem anfangen mußte, als er ernstlich „ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" nachzudenken begann. Umso eher als er sich nicht nachträglich von den Ergebnissen, zu denen er schon in seinem frühen Versuch gekommen war, zu distanzieren brauchte. Es genügte ihm, nur ein Motiv aus dem verwickelten Denkgefüge der Geburt der Tragödie zu sondern, und kühn seine Konsequenzen zu ziehen, unabhängig vom ursprünglichen
29 30 31 32 33 34 35
36 37
G T 15: K G W III 1, S. 98 Ebd., S. 96 Ebd., S. 98 Ebd., S. 96 Ebd., S. 97 Ebd., S. 97 G T 5: K G W III 1, S. 43. Auf die praktische Wurzel und Funktion von Nietzsches ästhetischer Einstellung verweist Volker Gerhardt, Artisten-Metaphysik. Zu Nietzsches frühem Programm einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt, in: Mihailo Djuric/Josef Simon (Hrsg.), Zur Aktualität Nietzsches I, Würzburg 1984, S. 8 1 - 9 8 , bes. S. 87, 96. G T 14: K G W III 1, S. 92 G T 15: ebd., S. 97
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Zusammenhang. Man wird nicht fehlgehen wenn man sagt, daß der junge Nietzsche seine Gedanken fest versammelt hielt. Viel fester als diejenigen, die ihn ungenügend kennen, geneigt sind anzuerkennen. Sein frühes Denkgebäude bestand nicht aus zerstreuten Bruchstücken. Es ist gebundener, wenn nicht gar einheitlicher als es auf den ersten Blick scheinen mag. Es gibt keine Sprünge aufs Geratewohl, keine plötzlichen Übergänge von einem Thema zum anderen. Die radikale Erkenntniskritik, durch welche Nietzsche in seiner unveröffentlichten Schrift einige verwurzelte Vorurteile so heftig angriff, ist in hohem Maße in der Tragödienschrift vorbereitet und angelegt. Der junge Nietzsche hätte wohl kaum die Kraft zu diesem Gedanken gehabt (und dieser wäre ihm auch nicht eingefallen), wäre er nicht vorher bereits auf die Sokratische Entfesselung des Erkenntnistriebes gestoßen und hätte sich über die unersättliche Anmaßung des theoretischen Menschen, „die ganze Welt der Erscheinungen" 3 8 zu umfassen entsetzt. Erst recht wäre ihm dies unmöglich gewesen, hätte er nicht schon früher eingesehen, daß der Trieb nach Verstellung und Fälschung ursprünglich ein künstlerischer Trieb sei, und daß „unter der Optik des Lebens"39 die Kunst mehr als die Wissenschaft gelte, da alles Leben auf Schein, Täuschung und Irrtum beruhe. Selbstverständlich darf dabei die Abhängigkeit des späteren Denkschrittes vom früheren nicht überschätzt werden. Es handelt sich um die Verwandtschaft des thematischen Rahmens und nicht um die Gleichartigkeit der Ausgangsvoraussetzungen und der Schlußfolgerungen. Es kann keine Rede davon sein, daß die unveröffentlichte Schrift das schon früher in der veröffentlichten Gesagte wiederholt, geschweige denn treu abbildet. Warum sollte übrigens jemand nachträglich vor der Öffentlichkeit etwas verbergen, das er ihr vorher vorbehaltlos zur Kenntnis gab? Eigentlich hat sich hier Nietzsche weit voraus begeben, ins Unbekannte und Ungewisse. E r wähnte nicht, alles schon erreicht zu haben, indem er die Grenze der Wissenschaft entdeckte, vielmehr begann er erst jetzt tief über diese seine Entdeckung nachzudenken. Er hat den tragischen Gedanken nicht einfach bestätigt, sondern bediente sich seiner frei, er versuchte auf seiner Spur weiter zu denken. Dies hat ihn freilich von der ursprünglichen Absicht entfernt, so daß er das Verständnis für Maßvolles und Heiteres fast völlig verlor. In seiner unveröffentlichten Schrift ließ sich Nietzsche auf ein äußerst gefährliches Denkabenteuer ein. E r fand sich vor dem Abgrund des Irrationalen, er wagte es, über die Wahrheit ohne jede Scheu zu denken, er begann das Verhältnis zwischen Erkennen und Leben äußerst 38 39
E b d . , S. 97, vgl. Nachlaß 1873/74: K G W I I I 4, 19 [27], S. 1 2 - 1 3 ; 19 [35], S. 1 5 - 1 6 G T Versuch einer Selbstkritik 4: K G W III 1, S. 11
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skeptisch zu betrachten, von einem rein instrumentalen Standpunkt. 40 Unzweifelhaft hat sich ihm hier der Nihilismus schon gewaltig als legitimer Gesprächspartner aufgedrängt. In stillschweigendem Einvernehmen mit ihm hat Nietzsche die Erkenntniskritik bis auf die Spitze getrieben, dem tragischen Gedanken eine neue, früher ungeahnte Dimension beigelegt. Dadurch sind einige der früheren Einschränkungen entfallen, aber auch neue unüberwindliche Schwierigkeiten erwachsen. Belanglos ist, inwiefern der junge Nietzsche mit seiner pragmatistischperspektivischen Relativierung der Erkenntnis 41 an der „tragischen Einsicht" wirklich festgehalten, und inwiefern er sie wahrhaftig übertroffen hat. Im allgemeinen wäre dies vielleicht interessant zu untersuchen, in Einzelheiten jedenfalls aber ganz überflüssig. Eigentlich ist der tragische Gedanke der Geburtsboden seiner Kritik, sogar deren unmittelbares Schwungrad. Daß in der späteren Schrift eine eingehendere Ausarbeitung der vorherigen Ergebnisse fehlt, daß der tragische Gedanke hier weder überhaupt erwähnt, noch in Verbindung mit der Betrachtung über Wahrheit und Lüge gebracht wird, darf uns nicht verwirren und auf einen falschen Weg führen. Häufig zeigt ein Verschweigen mehr als eine unmittelbare Nennung. Die radikale Erkenntniskritik ist wahrhaftig in hohem Maße nur ein neuer Angriff auf Sokrates, nur eine neue Beleuchtung seiner Verbissenheit, nur eine neue Bestreitung seines „erhabene(n) metaphysische^) Wahn(s)". 42 Ihr Grundgedanke ist in vielem nur eine neue Fassung der ästhetischen Rechtfertigung von Welt und Leben, nur eine neue Verherrlichung der Kunst wider den Geist der Wissenschaft und der Wissenschaftlichkeit. Freilich ist sie dies auf eine genialisch vereinfachte Weise und in unglaublich drastischer Form. Anders steht es mit Nietzsches existenzial-ontologischer Auslegung der Zeitlichkeit bzw. Geschichtlichkeit des Menschen, die in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung unter dem Titel „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" dargelegt ist. Hier ist die Beziehung zum tragischen Gedanken viel komplizierter, indirekter, verwickelter. Man kann ihn nicht leicht bemerken, vielmehr muß man nach ihm ernstlich suchen. Seine Anwesenheit ist kaum spürbar, sowohl hinsichtlich des formalen Charakters, als auch hinsichtlich der materialen Struktur dieser Auslegung. Jedenfalls ist der tragische Gedanke auch hier, wie im Rahmen der radikalen 40 41
42
Vgl. Arthur C. Danto, Nietzsche as Philosopher, New York: 1965, S. 38, 41. Der junge Nietzsche gebraucht nicht den Terminus „Perspektive", aber er sagt oft „Illusion", „Verstellung", „Schein" (und natürlich „Lüge"), was hinreichend den Zusammenhang mit der späten Auffassung verdeutlicht. Die Termini „Pragmatismus" und „Relativismus" gehören ja nicht zu Nietzsches Vokabular. G T 15: K G W III 1, S. 95
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Erkenntniskritik, nirgends beim Namen genannt, sondern dessen Erhaltung kann nur dem Sinn nach vermutet werden. Es ist ein wahres Wunder, wie es dem jungen Nietzsche überhaupt gelungen ist, seinen ersten Gedanken so gut zu verstecken, seine Spur schon am Anfang selbst völlig zu verwischen, sogar jede terminologische Erinnerung daran zu vermeiden. Dazu hat vielleicht am meisten seine tiefe Unzufriedenheit mit dem Erstlingswerk beigetragen (die offenbar andere Gründe hatte, als bloß die ungünstige Aufnahme des Buches in den philologischen Fachkreisen), eine Unzufriedenheit, die er später in der Vorrede zur zweiten Auflage deutlich formuliert hat. 43 Vielleicht ist sich der junge Nietzsche schon im Laufe der Ausarbeitung, und nicht erst nach dem Abschluß der Geburt der Tragödie der großen Mängel und Unzulänglichkeiten seines ersten Versuches bewußt geworden, so daß er einfach den Ausdruck „das Tragische" zu vermeiden begann, auf den es ihm zunächst sehr ankam, und unter den er die ganze Philosophie der Zukunft, nicht nur die Hermeneutik der griechischen Lebenserfahrung bringen wollte. 44 Wie dem auch sei, gewiß ist, daß der tragische Gedanke weder in der Historienschrift noch in der unveröffentlichten Schrift ausdrücklich erwähnt wird. Im Unterschied aber zu der radikalen Erkenntniskritik, die sozusagen unmittelbar dem tragischen Gedanken entsprungen ist, und derart, trotz aller Verschiebung des Nachdrucks auf die andere Seite, die Kontinuität des Nietzscheschen Denkens erhalten hat, fehlen in diesem zweiten Fall die Verbindungsglieder. Hier folgt nichts aus dem früher Gedachten. Die existenzial-ontologische Auslegung der Zeitlichkeit bzw. Geschichtlichkeit des Menschen hat keinen Anhaltspunkt in der vorherigen Denkerfahrung, sie geht nicht vom Erreichten aus, baut nicht darauf weiter. Das Thema selbst der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung liegt schlechthin außerhalb des Gesichtskreises der Tragödienschrift. Es handelt sich mehr um einen neuen Durchbruch, um eine neue denkerische Entdeckung, als um die Radikalisierung des ursprünglichen Standpunkts. Es wäre ungenügend zu sagen, Nietzsche habe durch diese Auslegung nur seinen philosophischen Ansatz bedeutend erweitert und vertieft. Durch sie hat er eigentlich den Schwerpunkt seiner Philosophie auf einen neuen Boden übertragen, ist in eine neue Dimension des Denkens durchgedrungen, hat einen neuen, bis dahin unzugänglichen Denkhorizont eröffnet. Daher ist die Beziehung zum tragischen Gedanken hier bedeutend schwieriger zu fassen. 45 Und 43 44 45
G T Versuch einer Selbstkritik 2, 3; ebd., S. 7 - 9 Vgl. ζ. B. Nachlaß 1873/74: K G W III 4, 19 [35], S. 1 5 - 1 6 ; 19 [36], S. 1 6 - 1 7 . Das Bestehen dieser Beziehung, jedoch ohne nähere Erklärung, unterstreicht Volker Gerhardt, Leben und Geschichte. Menschliches Handeln und historischer Sinn in Nietzsches 2. „Unzeitgemäßen Betrachtung", in: Volker Gerhardt/Norbert Herold (Hrsg.), Wahrheit und Begründung, Würzburg 1985, S. 159, Anm. 16.
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zwar nicht nur auf den ersten Blick. Auch nach einem näheren Zusehen ändert sich die Situation nicht wesentlich. Hier kann die Vertiefung in die Tragödienschrift kaum helfen. Eher müßte man an einige andere Nietzschesche Begriffe denken, zumal an jene aus der letzten Schaffensperiode. Allein davon ausgehend kann man auf die Spur des tragischen Gedankens in der Historienschrift kommen. Hier hilft keine Interpretationskunst, wenn man die Denkentwicklung Nietzsches unterschätzt, wenn man seine spätere Denkbemühung vernachlässigt, wenn man dasjenige, was er später dachte, aus den Augen verliert. Auf welche Art und Weise und in welchem Maße die erwähnte Auslegung der Zeitlichkeit bzw. Geschichtlichkeit des Menschen die Verbindung mit dem tragischen Gedanken bewahrt, kann also nicht festgestellt werden, indem man sich an die jugendlichen Versuche Nietzsches hält, sondern vor allem und in erster Linie aus der Perspektive seiner späten Philosophie. Selbstverständlich ist der Wiederkunftsgedanke in dieser Hinsicht von höchster Bedeutung. Allein wenn man ihn im Sinne hat, kann man an die Historienschrift angemessen herantreten. Man muß sich darüber im klaren sein, daß dieser Gedanke der eigentliche Schlüssel für deren Verständnis ist. Alles in dieser Schrift ist durch tausende von Fäden mit ihm verflochten, alles geht von ihm aus, erinnert an ihn, — obwohl mehr stillschweigend als ausdrücklich. Der junge Nietzsche war seinem höchsten Gedanken noch nicht gewachsen, seinen Forderungen wußte er noch nicht zu entsprechen. Seine Kraft hat er indessen schon erahnt, ihm den Weg bahnend. Wenn dieser Gedanke nicht schon selbst heimlich auf ihn lauerte. 46 Insofern besteht kein Zweifel, daß der Wiederkunftsgedanke wirklich den Anfang des Nietzscheschen Denkens mit dessen Ende vermittelt. In ihm hat der späte Nietzsche den tragischen Gedanken bis zu Ende gedacht, seine frühe Vermutung vom tragischen Charakter der Welt zu vollem Bewußtsein gebracht. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr ist nicht nur der einprägsamste Ausdruck der späten Philosophie Nietzsches, sondern auch die höchste Möglichkeit seines ganzen denkerischen Unterfangens. Sagen wir es so: nach diesem Gedanken strebte Nietzsche von Anfang an, nach ihm richtete er unaufhörlich seinen Blick, er ist das von ihm von jeher „Gesuchte". Die Historienschrift bezeugt unzweideutig, daß der junge 46
Nicht zufállig sagt Nietzsche an einer Stelle, wo er seine „Erfahrung von Inspiration" schildert, daß hier alles so sei „als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnisse anböten", daß ein Gedanke „wie ein Blitz (aufleuchtet, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne zögern", ja daß „alles im höchsten Grade unfreiwillig (geschieht), aber wie in einem Sturm von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit" (EH Also sprach Zarathustra 3: K G W VI 3, S. 3 3 7 - 3 3 8 ) . Vgl. Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, S. 63.
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Nietzsche schon angefangen hatte, im Geiste der ewigen Wiederkehr zu denken, daß er sich schon auf dem Standpunkt befand, welcher die wesentliche Zusammengehörigkeit von Vergangenem und Zukünftigem im Gegenwärtigen verkündet. Aber obwohl der Wiederkunftsgedanke alle Achtung als Hilfsmittel für die Erklärung der Nietzscheschen Denkentwicklung verdient (und er selbst freilich der Höhepunkt dieser Entwicklung ist), so verdient doch die frühe erste Gestalt dieses Gedankens nicht weniger Achtung. Wenn es richtig ist, daß erst die spätere reife Ausarbeitung des Wiederkunftsgedankens die wirklichen Motive und Ziele der Nietzscheschen ersten Erprobung seiner Tragweite offenbart, insofern erst hier seine Aufgabe völlig bewältigt ist, dann muß es auch richtig sein, daß schon die frühe unentwikkelte Gestalt dieses Gedankens ein neues Licht auf seine reife Prägung wirft, da der Wiederkunftsgedanke schon im Keime gewaltig darauf verweist, was aus ihm einmal werden wird. Und doch, im Vergleich mit dem üppigen Reichtum der späten Version des Wiederkunftsgedankens muß seine frühe Form als „die Armut seines vorläufigen Wesens" 47 bezeichnet werden. Als erster Schritt zur Reife ist diese Gestalt nur ein Versprechen und nicht auch die Erfüllung des „Gesuchten". Jedenfalls ist es einleuchtend, daß man hier nicht vorwärtskommen kann ohne den Wiederkunftsgedanken. Allein durch ihn kann eine Brücke zum tragischen Gedanken geschlagen werden, allein durch ihn kann aufgezeigt werden, auf welche Art und Weise der tragische Gedanke in der erwähnten Auslegung der Zeitlichkeit bzw. Geschichtlichkeit des Menschen weiter lebt. Zwar ist dies weder leicht noch einfach. Denn der junge Nietzsche hat den Wiederkunftsgedanken kaum erst beiläufig berührt, jedoch noch nicht wirklich thematisiert. Dessen tief philosophisches Potential entzog sich noch seinem Verständnis. In seiner ersten Version scheint dieser Gedanke mehr im Entstehen begriffen, als ein fertiges Denkgebilde zu sein. Die Art und Weise auf welche der junge Nietzsche zunächst die Sprache der ewigen Wiederkehr zu sprechen begann, bereitet große Schwierigkeiten. Die Stellung dieses Gedankens im Rahmen seiner Darlegung ist sonderbar. Darüber wird zweimal gesprochen, beide Male ganz kurz, fast im Telegrammstil, jedoch völlig unterschiedlich, sogar mit entgegengesetzten Wertschätzungen. Einmal ist dieser Gedanke beim Namen genannt 4 8 , das andere Mal kann man nur folgern, daß darauf gezielt
47
48
Um eine Heideggersche Formulierung, gebraucht in einem anderen Zusammenhang, frei zu verwerten. Vgl. Martin Heidegger, Brief über den ,Humanismus', in: Ders., Wegmarken, Frankfurt/M. 1967, S. 194. HL 2: K G W III 1, S. 257
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wird. 49 An der ersten Stelle spottet Nietzsche über diesen Gedanken, um ihn dann sogleich ausdrücklich zu verwerfen; an der zweiten legt er ihm größte Bedeutung bei, identifiziert ihn jedoch falsch mit dem „übergeschichtlichen" Standpunkt. Offenkundig muß hier Vieles geklärt werden, wenn man überhaupt wünscht, daß die Beziehung zum tragischen Gedanken zum vollen Ausdruck komme. Zunächst einiges vom weiteren Rahmen, in dem der junge Nietzsche im Geiste der ewigen Wiederkehr zu denken begonnen hat, oder genauer: in dem sich ihm dieser Gedanke als Wegweiser aufgedrängt hat (freilich noch nicht unter diesem Namen). Dies ist seine Historienschrift, welche im Ganzen von diesem Gedanken durchdrungen ist. Er tritt hier nicht nur als Ausgangsvoraussetzung auf, sondern auch als letzte Konsequenz der Kritik der modernen Geschichtswissenschaft und des historischen Bewußtseins überhaupt. So scheint wenigstens dessen Ort und Funktion zunächst aufzufassen zu sein. Einige der hier gebrachten Formulierungen gehören vielleicht zu den angemessensten und eindrucksvollsten Formulierungen des Wiederkunftsgedankens überhaupt. Freilich gebrauchte der junge Nietzsche weder die Ausdrücke „Zeitlichkeit" und „Geschichtlichkeit", noch bezeichnete er seine Betrachtung als „existenzial-ontologisch". Dies wurde hier im Blick auf die spätere Aneignung der Nietzscheschen Konzeption in der Philosophie des 20. Jahrhunderts (vor allem beim frühen Heidegger) getan. 50 Nietzsche spricht von der historischen „Bildung", eigentlich von den Formen des historischen Wissens oder den Betrachtungsarten der Geschichte. Er unterscheidet drei Formen oder Weisen der Historie: die monumentalische, antiquarische und kritische. 51 Er widmet dieser Einteilung große Aufmerksamkeit, befaßt sich jedoch nicht systematisch mit ihr. Er fragt weder nach dem Ursprung dieser Dreiheit, noch zeigt er ausdrücklich den Grund ihrer Einheit. Nur beiläufig erwähnt er, diese Einteilung stehe im Zusammenhang damit, daß die Geschichte dem Leben auf dreifache Weise „angehört", daß der Mensch sich dreifach zur Geschichte verhalten kann: als der „Thätige und Strebende", als der „Bewahrende und Verehrende" und als der „Leidende und der Befreiung Bedürftige". 52 Es besteht jedoch kein Zweifel, daß der junge Nietzsche weiter und tiefer gesehen hat, als er durch diese beiläufige Anmerkung 49 50
51 52
HL 1: ebd., S. 251 Daß Nietzsche gerade „das Wesentliche über ,Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben' in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung (1874) erkannt und eindeutigeindringlich gesagt" hat, unterstrich Heidegger selbst in seinem frühen Hauptwerk: Sein und Zeit, Tübingen 12 1972, S. 396. HL 2: K G W III 1, S. 254 Ebd., S. 254
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offenbarte. Seine Einteilung war offensichtlich nicht zufallig. Der erste Abschnitt der Historienschrift zeigt besonders deutlich, daß Nietzsche die gemeinsame Wurzel dieser Betrachtungsweisen der Geschichte in der zeitlichen Struktur des menschlichen Daseins erblickte, daß er die Notwendigkeit derer Einheit durch die Zeitlichkeit bzw. Geschichtlichkeit des Menschen erklärte. 5 3 Nietzsches Deutung des menschlichen Daseins hinsichtlich der zeitlichen Strukturen bzw. Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ist in jeder Hinsicht wertvoll und bedeutsam. Es wundert keineswegs, daß sie so stark die späteren philosophischen Betrachtungen beeinflußte und eine so tiefe Spur in ihnen hinterließ. Nietzsche findet, daß die Zeitlichkeit bzw. Geschichtlichkeit einzigartig die Weltstellung des Menschen bestimmt. Zum Unterschied von allen anderen Lebewesen, die sonst auch zeitlich bestimmt sind, da alles Seiende in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft vorkommt, ist der Mensch nicht nur in der Zeit, sondern verhält sich auch zu ihr, nimmt eine bewußte Stellung zu ihrem Verlauf. Das bedeutet, daß für den Menschen das Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige offene Horizonte sind, oder genauer, Horizonte, welche er selbst irgendwie öffnet und offen hält. 5 4 In dieser Hinsicht besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Mensch und Tier. Darauf gründen alle anderen Unterschiede zwischen ihnen. Nur dank der Tatsache, daß er der Zeit bewußt ist, daß er sich bewußt zu ihr verhält, schafft der Mensch die Kultur, vor allem die Sprache, in der er sein Selbstverständnis ausspricht und sinnhaften Umgang mit anderen pflegt. Nietzsche macht keinen strengen Unterschied zwischen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit (und bestimmt demnach nicht eindeutig deren gegenseitiges Verhältnis). 55 Dies ist leicht zu verstehen, da dies auch vielen anderen, die nach ihm so sehr darum bemüht waren, nicht gelungen ist. Nietzsche dachte offenbar nicht, daß die Zeitlichkeit als Bedingung der Möglichkeit der Geschichtlichkeit aufgefaßt werden solle, und noch weniger, daß die Geschichtlichkeit eine Voraussetzung der Zeitlichkeit sei. Sein 53
Vgl. hierzu Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 396. Die Richtigkeit dieser Heideggerschen Einsicht bestreitet: Catherine Zuckert, „Nature, History and the Self: Friedrich Nietzsche's Untimely Considerations", in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 64 Anm. 26. Als wäre die Nietzschesche Einteilung der Hegeischen Einteilung in die ursprüngliche, reflektierte und philosophische Geschichte „mehr ähnlich", wo nur die dritte Geschichte die beiden ersten „umfaßt und vereinigt", aber keine „breitere Einheit" zwischen den drei Geschichten waltet.
54
H L 1: K G W III 1, S. 247 f. Vgl. Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, S. 37. Vielleicht ist deshalb sogar das Vorhandensein dieses Unterschieds völlig verschwiegen in der sonst wertvollen Arbeit: Margot Fleischer, Die Zeitlichkeit des Menschen. Nietzsches Analyse in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, in: Werner Beierwaltes/Wiebcke Schräder (Hrsg.), Weltaspekte der Philosophie. Festschrift für Rudolph Berlinger, Amsterdam 1972, S. 6 7 - 8 1 .
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Text gibt kein Recht, darauf zu schließen, die Zeitlichkeit sei eine weitere und umfassendere Kategorie, die sich sowohl auf den Menschen als auch auf alle anderen Lebewesen (oder sogar auf das Seiende im Ganzen) bezieht, während die Geschichtlichkeit die innere Struktur des Geschehens eines bestimmten Wesens, nämlich des Menschen, bezeichnet. Auch kann durch diesen Text nicht die Folgerung bekräftigt werden, die Zeitlichkeit sei nur jenen Lebewesen eigentümlich, die sich zur Zeit bewußt verhalten, d. h. die in ihrem Grund durch die Geschichtlichkeit bestimmt sind. Bei Nietzsche beziehen sich beide Titel gleichmäßig auf ein und dasselbe Lebewesen, in beiden Fällen handelt es sich um die Seinsweise des Menschen. Daß der Mensch zeitlich und geschichtlich besteht, bedeutet zunächst folgendes: daß der Mensch nicht in der bloßen Gegenwart lebt, sondern daß für ihn auch Zukunft und Vergangenheit ein bestimmtes Gewicht haben. In gewissem Sinn sogar ein viel größeres als die Gegenwart, denn davon, ob der Mensch den Vorrang der Zukunft oder der Vergangenheit gibt, hängt wesentlich sein gegenwärtiges Leben ab. Und doch ist bei Nietzsche nichts verwirrt, vermischt oder ungeordnet. Trotz der terminologischen Unsicherheit ist sein Gedanke inhaltlich und begrifflich präzis und bestimmt, und kann leicht verfolgt und rekonstruiert werden. Mit fast unfehlbarem Instinkt sind hier alle unumgänglichen Unterscheidungen ausgeführt, sei es auch in allgemeinsten Zügen. Nachträglich erweist sich sogar, daß der Unterschied zwischen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit seine völlige Rechtfertigung hat. Es handelt sich nicht um den Unterschied zwischen dem bloßen Vorhandensein in der Zeit und dem bewußten Verhalten zu ihrem Verlauf (wie man zunächst zu denken geneigt ist), sondern um den Unterschied hinsichtlich des Charakters dieses Verhaltens selbst. Wenn es überhaupt unumgänglich ist, den Unterschied zwischen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit beizubehalten, wenn dieser Unterschied wirklich zur Klärung der Nietzscheschen Auffassung der tragischen Weltstellung des Menschen dienen soll, dann wäre hier anscheinend von entschiedener Bedeutung, die Akzentverschiebung von einer Dimension der Zeit auf eine andere im Auge zu behalten: bei der Zeitlichkeit stünde der Akzent auf der Zukunft, bei der Geschichtlichkeit auf der Vergangenheit. Aus dem Nietzscheschen Blickwinkel würde sich ergeben, daß der Mensch zeitlich existiert, insofern er als freies tätiges Wesen hauptsächlich der Zukunft zugewendet ist, und geschichtlich, insofern er als traditionsgebundenes und -ergebenes Wesen vor allem der Vergangenheit angehört. Der junge Nietzsche verweist besonders auf den Wert und die Bedeutung der einstigen Lebensformen (jenes „es war" 56 , das nur das spielende 56
HL 1: K G W III 1, S. 245
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Kind nicht kennt). Das ist für ihn „das Historische" 5 7 im vollen Sinn. Er sagt, daß das Vergangenheitsbewußtsein eine große und entscheidende Macht des menschlichen Daseins ist. Gleich jedoch fügt er hinzu, dieses Bewußtsein sei eine verführerische und gefährliche Macht. Ohne sie kann der Mensch nicht als Mensch leben, denn sie verbürgt die Möglichkeit seines Wesens, aber unter ihrem Druck (wenn nämlich „der historische Sinn ... ungebändigt waltet" 5 8 ) verfehlt der Mensch seine wesentlich menschliche Aufgabe. Nietzsches Worten zufolge ist das menschliche Leben ein „ununterbrochenes Gewesensein", „ein nie zu vollendendes Imperfektum". 3 9 Das Vergangene ist nicht verloren, ist nicht unwiederbringlich zugrunde gegangen, es lebt vielmehr im Gegenwärtigen weiter. In gewissem Sinne ist es sogar ein Bild des Zukünftigen, sein vorläufiger Entwurf, wenn nicht gar ein Pfand seiner Möglichkeit. Der Mensch kann dem Vergangenen nicht entfliehen, es nicht hinter sich lassen. Das Vergangene bleibt dem Menschen immer auf den Fersen, ungeachtet, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht. Und doch ist das Vergangenheitsbewußtsein meistens da, was die Unannehmlichkeiten nur vergrößert. Der Mensch kann einfach nicht das einst Geschehene vergessen, er ist verurteilt, seiner gewesenen Möglichkeiten zu gedenken. Die Erinnerung ist sein Fluch. 6 0 Die Vergangenheit ist eine Last für den Menschen, sie bedrückt ihn, treibt ihn zur Verzweiflung. Sie erscheint ihm wie ein Gespenst, das sein gegenwärtiges Dasein beeinflußt. Nur der Tod kann den Menschen von seiner Versklavung durch die Vergangenheit befreien. Zeit seines Lebens kann er sich nur teilweise durch Einschränkung des historischen Wissens retten, durch dessen schöpferische Verwandlung und Einverleibung 6 1 , durch die Aus-
57 58 59 60 61
Ebd., S. 248 HL 7: K G W III 1, S. 291 HL 1, ebd., S. 245 Vgl. Nachlaß 1872/73: K G W III 4, 29 [98], S. 286. Die Kraft, durch welche sich der Einzelne, das Volk oder die Kultur ein selbsteigenes Wachstum sichern, indem sie dem anscheinend Toten und Fremden neues Leben einhauchen, nennt Nietzsche „die plastische Kraft" (HL 1, K G W III 1, S. 247), deren Ort und Funktion in der Verteidigung des Lebens vor „Uebermass von Historie" (ebd., S. 249) wird von ihm aber mehr beiläufig bezeichnet, als systematisch erklärt. Vgl. hierzu Margot Fleischer, Die Zeitlichkeit des Menschen, S. 71—74. An einer späteren Stelle sagt Nietzsche sogar, daß das „Uebermass von Historie" die „plastische Kraft des Lebens" gefährden kann, so daß dieses „sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen" nicht mehr vermag (HL 10, K G W III 1, S. 325), was lediglich beweist, wie weit der junge Nietzsche noch von der späteren richtigen Einsicht entfernt war, daß die „historische Krankheit" (ebd., S. 325) nicht die Ursache der Schwächung der plastischen Kraft sei, sondern vielmehr diese Kraft selbst schon in hohem Maße geschwächt sein mußte, damit die „historische Krankheit" überhaupt ausbrechen konnte. Näheres darüber bei Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971, S. 53.
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wertung dieses Wissens zugunsten des Lebens. Kurz: das historische Bewußtsein ermutigt und erhebt den Menschen, soweit er es in Grenzen hält, schwächt und gefährdet ihn aber, wenn es allzusehr anwächst. Indem der Mensch seiner Vergangenheit bewußt ist, zumal seiner verwirklichten Möglichkeiten, gewinnt er Vertrauen in die Zukunft, hegt die Hoffnung, daß er wieder einmal werden könnte, was er schon war 6 2 , wenn nicht etwas noch Höheres 6 3 , oder aber er wird ironisch 64 und zynisch 65 der Gegenwart gegenüber, es scheint ihm, daß nur noch die langweilige Wiederholung des ewig Gleichen übrigbleibt. So ist das Vergangene nicht für immer verloren, es kehrt vielmehr als Antrieb oder Bedrohung immer wieder zurück. Mag aber der junge Nietzsche den Wert und die Bedeutung der einstigen Lebensformen noch so sehr unterstrichen haben, so war ihm doch mehr an deren künftiger Gestaltung gelegen. Und dabei meinte er nicht, daß das Uberlieferte nur umgewandelt und angeeignet werden solle. Er wußte wohl, daß das Vergangene eingedämmt, seiner unbegrenzten Herrschaft der Weg gesperrt werden müsse. Sonst sind alle Aussichten zu überleben verbaut, das Vergangene wird zum „Todtengräber des Gegenwärtigen". 6 6 In diesem Sinne behauptete Nietzsche, das Vergessen sei eine unumgängliche Bedingung des Lebens, eine wesentliche Voraussetzung seiner Erhaltung, sogar noch mehr als die Erinnerung. Denn ohne Erinnerung kann man doch irgendwie leben (dies bezeugen die Tiere), aber ohne Vergessen wäre das Leben überhaupt nicht möglich. 6 7 Ein Mensch, der keine Kraft hat, „auf der Schwelle des Augenblicks" stehenzubleiben, und wenigstens für einen Zeitpunkt „alle Vergangenheiten" 6 8 zu vergessen, der nicht imstande ist, aus dem Kreis „fremder Worte, fremder Meinungen",
62
Vgl. H L 2, K G W III 1, S. 256: „Wodurch also nützt dem gegenwärtigen Menschen die monumentalische Betrachtung der Vergangenheit, die Beschäftigung mit dem Classischen und Seltenen früherer Zeiten? Er entnimmt daraus, dass das Grosse, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird; er geht muthiger seinen G a n g , denn jetzt ist der Zweifel, der ihn in schwächeren Stunden anfällt, ob er nicht vielleicht das Unmögliche wolle, aus dem Felde geschlagen."
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Vgl. H L 6, K G W III 1, S. 291: „Zieht um euch den Zaun einer grossen und umfänglichen H o f f n u n g , eines hoffenden Strebens. Formt in euch ein Bild, dem die Zukunft entsprechen soll, und vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein. Ihr habt genug zu ersinnen und zu erfinden, indem ihr auf jenes zukünftige Leben sinnt; aber fragt nicht bei der Geschichte an, dass sie euch das Wie? das Womit? zeige ( . . . ) Sättigt eure Seelen an Plutarch und wagt es an euch selbst zu glauben, indem ihr an seine Helden glaubt." H L 8: K G W III 1, S. 298 H L 9: ebd., S. 308 H L 1: ebd., S. 247 Vgl. H L 1, K G W III 1, S. 246. Ebd., S. 246
64 65 66 67 68
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in denen sich „sein Gedächtnis unermüdlich . . . dreht" 6 9 hinauszutreten, setzt sich der Gefahr aus, sich im „Strom des Werdens" 7 0 zu verlieren. Ein solcher Mensch kann nicht nur nicht glücklich sein, er kann vielmehr auch nichts Wichtiges und Großes tun, das die anderen glücklich machen würde. Für die Macht des Vergessens, durch die sich das Leben gegen übermäßiges historisches Bewußtsein wehrt, gebraucht Nietzsche die Ausdrücke „unhistorische Macht" 7 1 und „unhistorischer Sinn" 7 2 , oder sagt schlechthin „das Unhistorische". 7 3 Hätte er über den terminologischen Unterschied zwischen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit im Sinne der obigen Erläuterung verfügt, hätte er dies „Zeitlichkeit" nennen können, denn dieser Begriff meint genau das, was ihm vorschwebte. Es ist wohl zu bemerken, daß das Vergessen nicht nur eine Verurteilung des Vergangenen, sondern auch ein Versprechen des Zukünftigen bedeutet. Im Vergessen wird nicht nur das Bewußtsein davon, was schon geschehen ist, verwischt, sondern auch der Boden für das erst neu zu schaffende vorbereitet. Schon dadurch daß es den Bereich des Wissens einschränkt, öffnet das Vergessen Raum für das Handeln. Denn unter der Last des Wissens kann der Mensch nur in der Unentschlossenheit ausharren, sich dem Notwendigen fügend, eine Tat jedoch kann er nicht wagen. „Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört", sagt Nietzsche. 7 4 Die Verurteilung des Vergangenen ist unvermeidlich, gerade vom praktischen Standpunkt aus. Erst daraus wird klar, daß die Gegenwart nicht notwendig an der Vergangenheit (die freilich auch einmal ebenso Zukunft war) orientiert sein muß, sondern daß ein gegenwärtiges Geschehen aus der Zukunft, die nie Vergangenheit war (oder von der man dies wenigstens fest glaubt) möglich sei. Nietzsches Meinung zufolge muß der Mensch „das Meiste" seiner Vergangenheit vergessen, „um Eins zu thun", er muß „ungerecht gegen das, was hinter ihm liegt" sein, um der Zukunft gerecht zu werden, um „das Recht de(m) was jetzt werden soll" 7 5 zu geben. Hier ist das Mißverhältnis zwischen dem Verlust und dem Gewinn offenbar ungeheuer: für einen kleinen Schritt der Freiheit muß fast die ganze Tradition verwor69 70 71 72 73 74
75
E b d . , S. 249 E b d . , S. 2 4 6 E b d . , S. 2 5 3 H L 4: K G W III 1, S. 2 6 9 H L 1: K G W I I I 1, S. 2 4 8 E b d . , S. 246. Unter dem Namen „Hamletlehre" hat Nietzsche schon in der „Geburt der Tragödie" die Behauptung vorgebracht, daß „die Erkenntnis das Handeln (tödtet)", und daß das Handeln „das Umschleiertsein durch die Illusion" benötigt ( G T 7: K G W III 1, S. 53). H L 1: K G W I I I 1, S. 250
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fen werden. Das Leben jedoch hat keine andere Wahl. Nur ein Mensch starker Triebe, ja ungeheuren Willens und heftiger Leidenschaft, der sich berufen fühlt, durch seine Kraft die Zukunft zu gestalten, hat ein Recht, „die Vergangenheit zu richten" 76 , ein Recht, sie wenigstens einstweilen zu vertilgen und zu vernichten. Denn nur ein solcher Mensch kann sich selbst auf das Kommende verlassen, nur ihm ziemt es zu hoffen, daß die Zukunft anders, sogar besser, glücklicher und heller als die Vergangenheit sein kann. Hier sieht man deutlich, daß der junge Nietzsche dazu neigte, Wert und Bedeutung der Geschichte für das menschliche Leben eher zu unterals zu überschätzen. (Dieser Gefahr ist er, wie wir gleich sehen werden, nur dank des Wiederkunftsgedankens, der ihn freilich auch vor jener anderen Gefahr rettete, entronnen.) Obwohl er so sehr die historische Ausrichtung des Lebens betonte, seine Gebundenheit an die Historie, sogar seine unvermeidliche Bestimmung durch sie, begriff Nietzsche nämlich dieses Leben selbst als vornehmlich natürliche Macht, als etwas im Grunde Nichthistorisches. Oder zumindest als etwas, dessen tiefste Quelle im Unhistorischen liegt, dessen Haupttriebkraft unhistorischen Ursprungs ist. Dies ist besonders gut am Beispiel des menschlichen Handelns zu sehen. 77 Als eigenartiger Spiegel des Lebens, sein Grundelement und einzig geltende Legitimation, stammt die praktische Tätigkeit aus der Tiefe des menschlichen Daseins, sie ist völlig unfaßbar und unvorhersehbar. Der erste Antrieb zum Handeln kommt weder aus der Vergangenheit, noch kann er aus irgendeinem Wissen von ihr abgeleitet werden. Seine Entstehung ist rein triebhaft bedingt, er entspringt der Fülle angehäufter Kraft, darin bricht der schöpferische Wille durch, sein Reichtum wird spontan geäußert. Die Hinwendung zur Historie kommt erst im Nachhinein in Betracht, die vergangene Erfahrung kann erst Hilfe leisten, wenn dieser Antrieb da ist. Mit auffallender Einschränkung auf das menschliche Geschehen (obwohl auch die Möglichkeit einer breiteren Verallgemeinerung offen lassend) betont Nietzsche, daß das Leben triebhaften Charakter habe, daß es unmittelbar schöpferisch bewegt sei, daß ihm eine unerschöpfliche Spontaneität eignet. An einer Stelle, die schon beträchtlich seine Spätphilosophie antizipiert, bezeichnet Nietzsche das Leben sogar eindrucksvoll als „jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht". 78
76 77 78
HL 6: ebd., S. 290 Vgl. Volker Gerhardt, Leben und Geschichte, S. 162 f. HL 3: K G W III 1, S. 265. Vgl. hierzu: Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Leben und Interpretationen zur Philosophie Nietzsches, Frankfurt/M 1968, S. 18 — 19
Denken.
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Dieses unstillbare Begehren ist ja immer Begehren nach dem Fehlenden, nach dem was mangelt. Daher ist für den Menschen, der einen mächtigen Lebensantrieb fühlt, bei dem das Leben angewachsen und voll geworden ist, das Verhältnis zum „Neue(n) und Werdende(n)" entscheidend, und nicht zum „Alte(n) und Vergangene(n)". 79 Nietzsche spricht vom „Unhistorischen" als einer geheimnisvollen „Dunstschicht" 80 , als einer rätselhaften „Atmosphäre", welche das Leben umhüllt, er findet, daß darin das Leben „allein erzeugt" 81 wird, er behauptet sogar, daß die Erhaltung dieser Atmosphäre eine wesentliche Bedingung seiner Stärke sei. Das Leben erhält Frische und atmet Heiterkeit nur insofern es das Historische durch das Unhistorische einschränkt, und nur solange es dieses tut. Am Anfang also gibt es keine Historie, sondern die Natur entscheidet über alles. Das Leben selbst lenkt den Menschen vom Historischen ab, verführt zur Undankbarkeit gegen die Geschichte, da es von ihm Entschlossenheit für das Kommende verlangt. (Nietzsches Ausdruck dafür ist „kräftige(r) Entschluss zum Neuen". 82 ) Und der Mensch kann dieser Aufgabe nur entsprechen und wirklich die Verantwortung für das eigene Leben übernehmen, insofern er Kraft aus einer anderen Quelle schöpft, als es die Erinnerung ist. Nietzsche strebte offenkundig nach einer mittleren, einfachen und abgewogenen Lösung. Ihm war es weder an der Verteidigung des Historischen gegen die Gefahrdung durch das Unhistorische gelegen, noch wollte er das Unhistorische auf Kosten des Historischen überlisten. Er meinte, daß beide gleichmäßig unentbehrlich seien, daß ohne ihre Vereinigung weder der Einzelne, noch das Volk, noch die Kultur gesund sein könnten. 83 Ebenso wertvoll wie die Einsicht, daß der Mensch aus der Vergangenheit lebt, daß die Vergangenheit seine Gegenwart ist, ist die Entdeckung, daß der Mensch aus der Zukunft lebt, daß die Zukunft seine Gegenwart bestimmt. 84 Freilich sind die historische und die unhistorische Betrach79 80 81 82 83
84
HL 3: K G W III 1, S. 263 HL 1: K G W III 1, S. 249 Ebd., S. 248 HL 3: K G W III 1, S. 264 HL 1: ebd., S. 248. A n derselben Stelle läßt Nietzsche keinen Platz zum Zweifel übrig, daß er diesen Satz als den tragenden Satz seiner Abhandlung betrachte. In den Aufzeichnungen aus der Zeit des „Zarathustra" hat Nietzsche diese Einsicht ausdrücklich bestätigt. Die wichtigsten Stellen: „Fürchtet euch nicht v o r dem Fluß der Dinge: dieser Fluß kehrt in sich selber zurück: er flieht sich selber nicht nur zweimal. Alles ,es war' wird wieder ein ,es ist'. Allem Zukünftigen beißt das Vergangene in den Schwanz" (Nachlaß 1 8 8 2 / 1 8 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 4 [85], S. 141). „Das Zukünftige ist ebenso eine Bedingung des Gegenwärtigen wie das Vergangene. ,Was werden soll und werden muß, ist der Grund dessen was ist'" (ebd., 5 [1] 241, S. 219). „Die Vergangenheit befruchten und die Zukunft zeugen — das ist mir Gegenwart!" (ebd., 16 [88], S. 557)
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tungsweise nur unter der Bedingung unumgänglich, daß ihre Absolutheitsansprüche bekämpft werden, was durch ihre gegenseitige Selbstbeschränkung erreicht wird. Dem Historischen droht die Gefahr der Erstarrung im Traditionalismus, der jede Zukunft verneint, der das Alte glorifiziert und das Neue als überflüssig erklärt. Die beste Art, dieser Abschweifung vorzubeugen, ist die Konfrontierung mit den Bedürfnissen der eigenen historischen Situation und die Erinnerung an die Naturbedingungen des menschlichen Handelns. Das Unhistorische hingegen droht in platten Radikalismus auszuarten, der jede Vergangenheit wegwirft, der sich einbildet, es sei möglich, vom Anfang an zu beginnen, als hätte man bisher überhaupt nicht gelebt. Gegen diese andere Gefahr wirkt die ernüchternde Warnung, alles menschliche Verfahren und Einsetzen sei zerbrechlich und vergeblich, sowie der Hinweis auf die Kontinuität des historischen Geschehens. Zwischen den Extrempositionen der historischen und unhistorischen Betrachtungsweise fand der junge Nietzsche einen Ausweg in dem „Überhistorischen". 85 Richtiger wäre zu sagen, er habe eine solche Möglichkeit nur angedeutet, da ihm der wahre Sinn dieses seines Schrittes verborgen geblieben ist. Und zwar sowohl hinsichtlich des ausdrücklichen Inhalts, als auch, und noch mehr, hinsichtlich dessen, worin dieser Schritt verwickelt. Nirgends hat Nietzsche das Überhistorische und die ewige Wiederkehr ausdrücklich in Zusammenhang gebracht, geschweige denn grundsätzlich identifiziert, ja auch beiläufig hat er nichts Ähnliches erwähnt, aber dieser Zusammenhang ergibt sich aus dem Ganzen seiner Darlegung. Deshalb ist seine Historienschrift, trotz all ihrer Unfertigkeit sowohl im Gesagten als auch im Gedachten, die wichtigste, weittragendste von allen seinen frühen Schriften. Die Folgerung, der junge Nietzsche habe den Weg zwischen der historischen und unhistorischen Betrachtungsweise in der überhistorischen Perspektive gefunden, ist für sich allein weder verständlich, noch verspricht sie beim ersten Anblick irgendetwas; sie bedarf einer eingehenderen Erläuterung. Nietzsches Ausführungen haben Sinn und Rechtfertigung nur, wenn die Voraussetzung richtig ist, daß sich hinter der Bezeichnung „das Überhistorische" wirklich der Gedanke der ewigen Wiederkehr verbirgt. Und das kann wiederum nicht unwiderlegbar bewiesen, sondern nur mehr oder minder plausibel gemacht werden, und zwar nicht so sehr unter Berufung auf den Buchstaben als auf den Geist der Nietzscheschen Lösung. Denn der Ausdruck „das Überhistorische" ist tatsächlich nicht glücklich gewählt. Er erweckt den falschen Eindruck, daß man hier vor 85
HL 1: K G W III 1, S. 250. Dabei berief er sich (in Ermangelung philosophischer Argumente) auf den Historiker Niebuhr als Kronzeugen für diese seine Lösung.
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der Geschichte flieht, daß man hinter die Grenze der Zeit tritt, den Nachdruck auf irgendeine Zeitlosigkeit legt. 8 6 Z u diesem hat auch Nietzsche selbst bedeutend beigetragen, da er an einer Stelle erklärte, er verstehe unter dem „Überhistorischen" die Mächte, „die den Blick v o n dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des E w i g e n und Gleichbedeutenden g i e b t " . 8 7 Ein flüchtiges Lesen dieses Nietzscheschen Textes, zumal isoliert von anderen damit zusammenhängenden Stellen, vertieft noch mehr das Mißtrauen, hier würde die Ewigkeit irgendwo außerhalb der Zeit, oder ihr entgegen, gesucht, dem Dauernden und Unbewegten vor dem Veränderlichen und Bewegten der Vorrang gegeben, anstatt S p a n n u n g und Unsicherheit des Werdens Ruhe und Sicherheit des Seins geboten! E s scheint, daß ein solches Lesen nur jenen falschen Eindruck bestätigt, Nietzsche habe hier den Boden der Geschichte verlassen und den Weg der Ewigkeit begangen, er habe beide entgegengesetzten Standpunkte verworfen, im N a m e n eines dritten, der jede Beziehung zu ihnen löst. E s ist nicht klar, warum der junge Nietzsche seine originelle L ö s u n g so kärglich und unvollständig dargestellt hat, w a r u m er zögerte, den gewonnenen Standpunkt näher zu bestimmen, und besonders warum er es unterließ, das Überhistorische ausdrücklich mit der ewigen Wiederkehr in Verbindung zu bringen. Vielleicht war das Problem der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit ein zu großer Bissen für ihn, vielleicht überstiegen die systematischen A u f g a b e n , die sich ihm im Z u s a m m e n h a n g mit der Kritik des historischen Bewußtseins aufdrängten, bedeutend seine damaligen K r ä f t e und Fähigkeiten. E s ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß der junge Nietzsche bewußt manches, das er nur zu gut kannte, verschwiegen hat, weil er tiefes Mißtrauen gegen die überlieferte philosophische Sprache hegte, da er deren Grenze schon nachdrücklich erfahren hatte. In der Historienschrift ist jedenfalls vieles in der Schwebe geblieben. Der junge Nietzsche schwankte dort sogar in B e z u g auf das Wichtigste. E r wußte noch nicht recht, was der Wiederkunftsgedanke wirklich bedeutet, worin sein Wesen besteht, und welche Möglichkeiten er in sich birgt. Seine damalige Vorstellung darüber war in jeder Hinsicht blaß und mangelhaft. Deshalb mußte er auf halbem Wege stehenbleiben, dabei auch viele Fehler machen und in allerlei Schwierigkeiten geraten. 86
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Sei es auch nur im Sinne „ u m g e w a n d e l t e ( n ) P i a t o n i s m u s " , eines P i a t o n i s m u s zu praktischen Z w e c k e n , wie es H e i n z Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung, Berlin/ N e w Y o r k 1972, S. 44 — 45 a n g e d e u t e t . Vgl. e b e n s o H a r t m u t Schröter, Historische Theorie und geschichtliches Handeln. Z u r Wissenschaftskritik N i e t z s c h e s , M i t t e n w a l d 1982, S. 2 8 0 - 2 8 2 , 2 8 8 - 2 9 1 . H L 10: K G W III 1, S. 326. U m s o eher als er dabei b e t o n t e , er n e h m e das Ü b e r h i s t o r i s c h e z u s a m m e n mit d e m U n h i s t o r i s c h e n als „ G e g e n m i t t e l " z u m Historischen.
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In der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung ist der Wiederkunftsgedanke in einem spezifischen Zusammenhang erwähnt — im Rahmen einer der „monumentalischen" Geschichte gewidmeten Betrachtung. 88 Schon die Art und Weise wie er erwähnt wird, zeigt, daß mit diesem nicht ernstlich gerechnet wurde. Dort wird nur eine alte Version des Wiederkunftgedankens in Betracht gezogen, jene vom kosmischen Kreisen, derzufolge alles Seiende dem ehernen Gesetz unaufhörlicher Wiederholung unterliegt. Damit ist der Wiederkunftsgedanke nur beiläufig berührt, aber nicht wirklich ausgewertet. Die Erinnerung an ihn ist völlig einer anderen Aufgabe untergeordnet. Im Vordergrund steht die monumentalische Historie. Diese ist ein äußerst selektiver Zugang zur Geschichte, der die einstige Größe, jenes „klassische und seltene früherer Zeiten" 89 preist. Den unzweifelhaften Nutzen dieser Historie für das Leben sieht Nietzsche darin, daß sie den Menschen zu neuen großen Taten ermutigt, daß sie ihn in der Überzeugung festigt, nicht nach etwas Unmöglichem zu greifen, wenn er daran denkt, etwas Großes zu schaffen. Denn wenn das Große einmal möglich war, so kann es wieder möglich sein, die einstige Größe kann sogar in vollem Glanz wieder aufleuchten. Der junge Nietzsche erwähnte den Wiederkunftsgedanken nicht mehr um die Angemessenheit dieser Erwartung zu bestätigen, sondern um ihre Fragwürdigkeit aufzuzeigen. Seine Erinnerung an die ewige Wiederkehr hat eine ausdrücklich negative Funktion. Hier wird offen gesagt, daß das Große, das „einmal möglich war", nur dann auch „zum zweiten Male" entstehen könnte, wenn die Pythagoreer Recht hätten, „dass bei gleicher Constellation der himmlischen Körper auch auf Erden das Gleiche, und zwar bis a u f s Einzelne und Kleine sich wiederholen müsse" 90 , d. h. nur wenn es richtig wäre, daß die Erde „ihr Theaterstück" jedesmal „nach dem fünften Akt von neuem anfienge". 91 Die Pythagoreer täuschten sich aber gründlich in diesem ihren Glauben. Es gibt keine Gleichförmigkeit, weder im Himmel noch auf Erden. Alles ist einmalig und verschiedenartig. Nietzsche spottet unverhüllt über die pythagoreische Auffassung, er betont, daß sich nichts buchstäblich wiederhole, daß „bei dem Würfelspiele der Zukunft und des Zufalls" das Resultat nie dasselbe sei, daß sich nie „etwas durchaus Gleiches" ergeben könne. 92 An der Stelle also, wo der Wiederkunftsgedanke zum erstenmal beim Namen genannt wurde, wird er als unmöglicher Gedanke weggeworfen! 88 89 90 91 92
HL 2: K G W III 1, S. 2 5 6 - 2 5 8 Ebd., S. 256 Ebd., S. 257 Ebd., S. 257 Ebd., S. 258
Nietzsches tragischer Gedanke
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Es sei bemerkt, daß diese frühe Erwähnung (und Verwerfung) des Wiederkunftsgedankens durch Nietzsche nicht zufallig war, daß es dazu nicht infolge einer Kurzsichtigkeit Nietzsches gekommen ist, daß es nicht die Frucht eines seiner Selbstmißverständnisse war. Als könnte sich das Denken, das schon gewaltig von der Sache selbst ergriffen war, überhaupt gegen sich selbst wenden! In der Tat legte Nietzsche nie viel Wert auf jene Version der ewigen Wiederkehr, die er in der Historienschrift erwähnt (und verworfen) hat, bei ihm gewann sie nie das Übergewicht; obwohl diese Version ihm einen Augenblick lang als unvermeidlich und unumgänglich erschienen ist, zeigte er gegen sie weit häufiger eine große Abneigung. Dies bezeugt unzweifelhaft seine spätere Beschäftigung mit diesem Gedanken. 9 3 Hier zeigt sich keine Spur von der Bestrebung, die ewige Wiederkehr auf die Lehre vom Kreislauf der Dinge (gleich ob im Sinne der alten griechischen Kosmologie oder im Sinne der modernen mechanistischen Naturwissenschaft) zu reduzieren. Eher könnte man sagen, daß Spuren eines gesteigerten Mißtrauens gegen eine solche Auffassung ersichtlich sind. Obwohl das Bild des Kreislaufs im Sinne des objektiven Weltgesetzes Nietzsches Nachdenken über die ewige Wiederkehr irgendwie immer begleitete (und gefährdete), hat es doch seinen Horizont nie völlig verdunkelt. Nicht nur daß Nietzsche dem astrologischkosmologischen Aberglauben nie unterlag, vielmehr verlor dieses Bild bei ihm mit der Zeit immer mehr an Bedeutung und Wert. Nietzsche hat sich sogar nachträglich mehrmals noch schärfer von dieser Version der ewigen Wiederkehr distanziert, als er es am Anfang getan hat. Offenbar hielt er diese Bedeutung für unwesentlich, er erblickte in ihr eine drohende und erschreckende, wenn nicht eine unechte und uneigentliche Form der ewigen Wiederkehr. Davon zeugt beredt Zarathustra mit seinen zahlreichen Bildern und Metaphern. Mit höchstmöglicher Entschlossenheit lehnte sich Nietzsche hier gegen jedes vereinfachte Verständnis der ewigen Wiederkehr auf. Deutlich gab er zur Kenntnis, daß die natürliche, unmittelbare Gewißheit, mit der Zarathustras Tiere über den Kreislauf der Dinge sprechen, diesem Gedanken ganz unangemessen ist, daß sich dieser Gedanke keineswegs in der verrückten Vorstellung „alles dreht im Kreis" erschöpft, daß die „Drehorgel" des Adlers und der Schlange fehlgeht, daß darin das für diesen Gedanken Wesentliche völlig verfehlt wird. 94 Belanglos ist, daß 93
94
Vgl. hierzu Friedrich Kaulbach, Sprachen der ewigen Wiederkunft. Die Denksituationen des Philosophen Nietzsche und ihre Sprachstile, Würzburg 1985, bes. S. 40—42, 56 — 58. Za III der Genesende 9: K G W VI 1, S. 268 f. Vgl. Za III vom Gesicht und Räthsel 2, S. 196. Die Formel „alles dreht im Kreis" ist nicht Nietzsches sondern Goethes Schöpfung, es scheint jedoch, daß sie hier ganz gut paßt. Heidegger zitiert sie in seinen NietzschcVorlesungen der dreißiger Jahre {Nietzsche I, Pfullingen 1961, S. 295) mit der treffenden
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Nietzsche dabei jene zweite, tiefere oder ursprünglichere Bedeutung der ewigen Wiederkehr nur beiläufig angedeutet und damit viel Raum für Vermutungen aller Art freigelassen hat. Die ablehnende Stellungnahme Nietzsches gegen die pythagoreische Lehre bezeugt also nichts Besonderes. Sogar auch nicht die Unhaltbarkeit der monumentalischen Geschichte (um deren Rechtfertigung willen diese Lehre überhaupt in Betracht gezogen wurde), geschweige denn etwas anderes. Keinesfalls bezeugt sie, daß der junge Nietzsche den Wiederkunftsgedanken in jeder Form zurückgewiesen hat. Für eine solche Verallgemeinerung gibt es wahrhaftig keinen Grund. Nicht nur im Blick darauf, was anderwärts in der Historienschrift indirekt angedeutet ist, sondern auch hinsichtlich dessen, was an der angeführten Stelle ausdrücklich festgestellt ist. Daraus könnte nur geschlossen werden, daß der junge Nietzsche, soweit er den Wiederkunftsgedanken mit der pythagoreischen Lehre identifizierte, den falschen Weg einschlug, daß er eine falsche, unvollständige, mangelhafte Vorstellung von diesem Gedanken hatte. Denn sein Inhalt ist wahrhaftig bedeutend reicher als die Lehre vom kosmischen Kreislauf aufweist. Aber auch ein solcher Schluß wäre verfrüht, um nicht zu sagen fragwürdig, da der junge Nietzsche offenbar eine andere, tiefer verborgene Bedeutung der ewigen Wiederkehr vermutete, und da auch der späte Nietzsche, der den Wiederkunftsgedanken in den Mittelpunkt seiner Philosophie gestellt hat, äußerst mißtrauisch gegen alle Versuche war, diesen Gedanken ausschließlich auf eine szientistisch-objektivistische Weise zu interpretieren, d. h. ihn als eine gebräuchliche wissenschaftliche Theorie aufzufassen. 9 5 Seine Ahnung der ewigen Wiederkehr hat der junge Nietzsche nicht unterdrückt, sondern kühn bekanntgegeben. Und zwar sehr eindrucksvoll.
B e m e r k u n g , daß dies „ g e n a u der G e d a n k e d e s K r e i s e n s " ist, daß aber d a m i t der „ r i e s e n h a f t e G e d a n k e N i e t z s c h e s " ü b e r h a u p t nicht berührt, g e s c h w e i g e denn zu E n d e g e d a c h t w i r d . U m s o m e h r v e r w u n d e r t es, daß H e i d e g g e r in einer N a c h k r i e g s v o r l e s u n g zu einer äußerst einseitigen L ö s u n g griff. E r f a n d nämlich, d a ß das R o t i e r e n der M a s c h i n e „ d i e A u s f o r m u n g " der e w i g e n Wiederkehr d e s G l e i c h e n ist, u n d e r h o b die F o r d e r u n g , den W i e d e r k u n f t s g e d a n k e n mit R ü c k s i c h t a u f d a s „Wesen der m o d e r n e n T e c h n i k " durchz u d e n k e n (Martin Heidegger, Was heisst Denken?, T ü b i n g e n 3 1 9 7 1 , S. 47; v g l . ders., Wer ist Nietzsches Zarathustra, in: D e r s . , V o r t r ä g e u n d A u f s ä t z e I, P f u l l i n g e n 3 1 9 6 7 , S. 117 f.) V o r der F r a g w ü r d i g k e i t dieses H e i d e g g e r s c h e n Schrittes w a r n t W o l f g a n g Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Übermensch. E i n B e i t r a g zu H e i d e g g e r s N i e t z s c h e - I n t e r p r e t a t i o n e n , in: N i e t z s c h e - S t u d i e n 10/11 (1981/82), S. 172, 1 8 8 - 1 8 9 . 95
Vgl. N a c h l a ß 1888/89: K G W V I I I 3, 14 [188], S. 168: „ D i e s e C o n c e p t i o n ist nicht o h n e weiteres eine mechanistische: denn w ä r e sie d a s , so w ü r d e sie nicht eine unendliche Wiederkehr identischer Fälle b e d i n g e n , s o n d e r n einen F i n a l z u s t a n d . Weil die ihn nicht erreicht hat, m u ß der M e c h a n i s m u s uns als u n v o l l k o m m e n e u n d nur v o r l ä u f i g e H y p o t h e s e gelten."
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A u s dem Dunkel hat er sie mit folgenden Worten herausgezogen: „ D i e Welt (ist) in jedem einzelnen Augenblick fertig und ihr E n d e erreicht." 9 6 Man bewundert die Prägnanz dieser Formulierung. Nichts ist überflüssig und nichts fehlt. E s ist fast unglaublich, wie alles vorbildlich gesammelt ist. Hier wird eigentlich nicht mehr und nicht weniger behauptet, als daß es keine strenge Grenze zwischen den zeitlichen Dimensionen gebe, daß Vergangenheit und Z u k u n f t in der G e g e n w a r t untrennbar verbunden seien, daß die G e g e n w a r t an der Vergangenheit gesättigt, wie auch an der Z u k u n f t schwanger sei. M a n muß nur verstehen, den angeführten Satz mit Rücksicht auf die innere Struktur der ganzen zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung zu lesen. Z w a r war der junge Nietzsche nicht ganz sicher, o b er die sich selbst gestellte A u f g a b e gelöst habe, o b ihm das, wonach er strebte, gelungen sei. E r sah nicht hinreichend ein, daß er durch die Vergegenwärtigung der Kontinuität des Weltgeschehens bzw. durch die H e r v o r h e b u n g der absoluten Bedeutung aller seiner vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen M o m e n t e die Einseitigkeiten und Einschränkungen der historischen und unhistorischen Betrachtungsweise wirklich überwunden hatte. E r hat sich gründlich getäuscht, als er dies den „überhistorischen" Standpunkt nannte. In der Tat bedeuten seine angeführten Worte etwas ganz anderes, sie greifen weiter und tiefer, deren Gewicht und Tragweite ist viel größer. Dies ist eben nicht nur ein erstes schüchternes Auftauchen des Wiederkunftsgedankens, eine seiner zeitweiligen Vorgestalten, sondern gleichsam ein zügelloser Durchbruch dieses Gedankens, seine potential möglichst eigentliche Formel. Diese wenigen einfachen Worte sagen das Wichtigste aus, beschreiben den inneren K e r n des Wiederkunftsgedankens, seine höchste Möglichkeit. Freilich sind nicht alle ergänzenden Erläuterungen Nietzsches im Zusammenhang mit dem „überhistorischen" Standpunkt so glücklich wie die angeführte Formulierung. Einige d a v o n sind sogar offenkundig bedenklich und unangebracht, so daß sie unaufhaltbar in die Irre führen. Vielleicht ist gerade deswegen ein Schatten über diesen ganzen Ansatz gefallen, so daß die Beziehung zur ewigen Wiederkehr nicht nur unterschätzt, sondern auch getrübt wurde. S o erinnert Nietzsche zum Beispiel an einer Stelle, die unmittelbar auf die eben erwähnte folgt, nur an die Identität ( „ E i n e s und d a s s e l b e " 9 7 ) v o n Vergangenheit und G e g e n w a r t , und versäumt hinzuzufügen, daß dies auch für Z u k u n f t und G e g e n w a r t gilt. E r sieht nicht, daß seine L ö s u n g die symmetrische Einheit der zeitlichen Dimensionen impliziert. N o c h ärger ist, daß er dabei dasjenige, worin diese Identität H L 1: K G W III 1, S. 251 " Ebd., S. 252
% 9
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bestehen soll, „ein stillstehendes Gebilde von unverändertem Werthe und ewig gleicher Bedeutung" 98 nennt. Der auffallend zeitlose Zug dieses Bildes stört ihn nicht im geringsten. Als wäre die Unbeweglichkeit eine Bedingung der Unvergänglichkeit, als könnte nichts in der Zeit dauerhaft sein, sondern nur außerhalb ihrer und ihr entgegen! Diesen unbehaglichen Eindruck verstärkt eine Erklärung Nietzsches an einer anderen Stelle (die wir oben schon angeführt haben), wo Kunst und Religion als Mächte bezeichnet werden, „die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt". 99 Hier sind die eternisierenden Kulturtätigkeiten allzusehr einander angenähert. Als gäbe es zwischen ihnen keinen Unterschied, als vermittelten ihre Werke eine in jeder Hinsicht gleichwertige Erfahrung! Auch ist das Werden allzuleicht geringgeschätzt. Als müßte das Wertvolle notwendig zeitlos sein, als könnte die Ewigkeit nicht gerade als die höchste Potenz der Zeit aufgefaßt werden! Es ist nicht verwunderlich, daß auch jene wenigen Interpreten des Nietzscheschen Werkes, die richtig erfaßt haben, daß der „überhistorische" Standpunkt der Geburtsschoß des Wiederkunftsgedankens, ja daß dieser Gedanke sogar unmittelbar aus jenem hervorgegangen ist100, diese Einsicht nicht besser auszuwerten verstanden: da sie in Bezug auf die erste Formel der ewigen Wiederkehr noch nicht ins klare gekommen sind, konnten sie deren wirkliche Bedeutung für die Nietzschesche Philosophie im Ganzen nicht einschätzen. Ihr Versäumnis erklärt sich zum guten Teil dadurch, daß sie vorschnell die Vorstellung des „Überhistorischen" vom weiteren Zusammenhang der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung trennten, jedoch noch mehr dadurch, daß sie leichtfertig die spätere entwickelte Form des Wiederkunftsgedankens außer Acht gelassen haben.101 Und erst aus der Perspektive der Spätphilosophie Nietzsches wird wirklich einleuchtend, daß der junge Nietzsche unter dem Namen „das Überhistorische" das Wesen der ewigen Wiederkehr dachte. Dieser Gedanke setzt und postuliert die Vollendung und Erfüllung des Lebens in jedem Augenblick, sein tiefster Sinn ist die wesentliche Durchdringung von Vergangenheit und 98 99 100
101
Ebd., S. 252 HL 10: K G W III 1, S. 326 Walter Kaufmann, Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist, Princeton 4 1974, S. 319, 321; Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1984, S. 3 5 4 - 3 5 5 Es ist fast unglaublich, daß Abel, der sonst wohl wußte, daß die „Symmetrie von Vergangenem und Zukünftigen in bezug auf jede Bestimmung von Gegenwärtigem" (Abel, Nietzsche, S. 355) den Wiederkunftsgedanken auszeichnet, nicht bemerkt hat, daß der junge Nietzsche gerade diese Symmetrie unter dem Namen des „Überhistorischen" dachte.
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Zukunft in der Gegenwart. Wer dies nicht begriffen hat, der wird sich schwerlich zurechtfinden in dem, was allein wichtig ist. Es sei nur flüchtig erwähnt, daß der späte Nietzsche dem Zarathustra folgende Worte in den Mund gelegt hat: „Oh meine Seele, ich lehrte dich ,Heute' sagen wie ,Einst' und ,Einst' wie ,Ehemals' und über alles Da und Dort deinen Reigen hinweg tanzen" 102 , während er in Jenseits von Gut und Böse den Menschen, der den Pessimismus besiegte, als einen Menschen, „der sich nicht nur mit dem, was war und was ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es so wie es war und ist wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele..." 1 0 3 schilderte. Und in einer seiner letzten Aufzeichnungen schrieb Nietzsche: „Das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick (oder unabwertbar. was auf Eins hinausläuft); es darf absolut nicht das Gegenwärtige um eines Zukünftigen wegen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden." 104 Deutlicher konnte wahrhaftig nicht gesagt werden, daß die ewige Wiederkehr weder mit der Zahlenmystik noch mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung (im Sinne verschiedener antiker und neuzeitlicher Versuche) etwas gemeinsames hat, sondern eine früher unbekannte und unentdeckte Perspektive der philosophischen Interpretation von Mensch und Welt bezeichnet: die Wiederkehr ist keine simple Wiederholung in bestimmten Zeiträumen, gleichgültig ob annähernd gleicher oder ganz identischer Ereignisse, sondern ein wunderbares Sammeln von Vergangenem und Zukünftigem im Gegenwärtigen, und zwar immer von neuem, unzählig viele Male, ohne Ausnahme und restlos. Die Wiederkehr geschieht unaufhörlich, in jedem Augenblick, jedes einzelne Ereignis ist „ewig" in dem Sinne, daß es dem Ganzen der Zeitstruktur angehört, daß es die Wurzel in allem Vergangenen hat und die Bedingung von allem Zukünftigen ist. 105 Wenn es bei der ersten Erwähnung des Wiederkunftsgedankens noch einige Bedenken in dieser Hinsicht geben konnte (insofern das Gewicht auf dem kosmischen Kreislauf lag), ist in der späteren Bearbeitung unzweideutig ans Licht getreten, daß dieser Gedanke vor allem und in erster 102 103 104 105
Za III Von der grossen Sehnsucht: K G W VI 1, S. 274 J G B 56: K G W VI 2, S. 73 Nachlaß 1887/88: K G W VIII 2, 11 [72], S. 276 Daß alle Eigentümlichkeit aber auch Fragwürdigkeit des Wiederkunftsgedankens darin liegt, daß er die Ewigkeit im Augenblick entdeckt, wobei der Augenblick nicht als „das flüchtige Jetzt", sondern als „Zusammenstoß von Zukunft und Vergangenheit" aufgefaßt wird, hat Heidegger richtig eingesehen (Nietzsche I, S. 312). Für näheres darüber, mit kritischem Rückblick auf Heideggers Interpretation, vgl. Günter Wohlfahrt, Der Augenblick Freiburg/München 1982, S. 9 4 - 1 1 2 .
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Linie existenzial-ontologisch ausgerichtet ist, daß er sich vorzugsweise mit der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Menschen befaßt, daß die Bedürfnisse und Interessen des menschlichen Handelns sein Grundthema und allererste Aufgabe sind. Oder wenigstens, daß dieser Aspekt betonter, vorgerückter, sogar ursprünglicher als jener andere ist, der sich in streng ontologischem Rahmen bewegt und sich in kosmologische Antinomien verstrickt. Es erwies sich nämlich unverkennbar, daß die ewige Wiederkehr nicht sosehr ein Bild des objektiven Weltzustandes, als einer vom Menschen getrennten Totalität ist, als vielmehr eine Beschreibung des inneren Zustands des menschlichen Willens, der seinen „Widerwille(n) gegen die Zeit" überwunden hat. 106 Dabei haben freilich nicht die voluntaristischen Motive das Übergewicht über die naturwissenschaftliche Notwendigkeit bekommen, sondern es wurde die wesentliche Einheit von Mensch und Welt bewahrt. 107 Anders konnte es auch nicht sein, da sonst der Wiederkunftsgedanke den tragischen Charakter verloren hätte. Ohne Verschränkung der menschlichen Handlungen mit dem Weltgeschehen würde die Forderung, daß alles zurückkomme, weder das Gewicht der tragischen Erfahrung haben, noch könnte sie überhaupt den Willen zum Handeln anregen. Diese charakteristische Doppelgesichtigkeit und -sinnigkeit des Wiederkunftsgedankens, diesen seinen ausdrücklich existenzial-ontologischen Sinn, hat Nietzsche vielleicht am deutlichsten durch folgende bekannte Verse des Zarathustra ausgedrückt: „Sagtet ihr jemals Ja zu Einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet ihr Ja auch zu allem Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfadelt, verliebt, — — wolltet ihr jemals Ein Mal Zwei Mal, spracht ihr jemals ,du gefällst mir, Glück! Husch! Augenblick!' so wolltet ihr Alles zurück! — Alles von neuem, Alles ewig, Alles verkettet, verfädelt, verliebt, oh so liebtet ihr die Welt, — — ihr Ewigen, liebt sie ewig und allezeit: und auch zum Weh sprecht ihr: vergeh, aber komm zurück! Denn alle Lust will — Ewigkeit Nicht 106 107
Za II Von der Erlösung: K G W VI 1, S. 176 Vgl. Nachlaß 1884/85: K G W VII 3, 29 [13], S. 50: „Wenn alle Dinge ein fatum sind, so bin ich auch allen Dingen fatum." Za IV Das Nachtwandler-Lied 10: K G W VI 1, S. 398. Vgl. Nachlaß 1885/87: K G W VIII 1, 7 [38], S. 315 f.: „Gesetzt, wir sagen Ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein Ja gesagt. Denn es steht nichts für sich, weder in uns selbst, noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsre Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nöthig, um dies Eine Geschehen zu bedingen — und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht." Ähnliches etwas weiter, ebd., 7 [62], S. 324: „Die Wenigsten machen sich klar, was der Standpunkt der Wiinschbarkeit, jedes ,so sollte es sein, aber es ist nicht', oder gar ,so hätte es sollen gewesen sein' in sich schließt: eine Verurtheilung des gesamten Gangs der Dinge. Denn
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wichtig ist die dichterische Kraft dieser Verse (wenn sie diese überhaupt haben, getrennt von dem Denkinhalt, den sie mitteilen). Aber sie sind unzweifelhaft instruktiv in höchstem Maße, da sie alle Schlüsselworte des Wiederkunftsgedankens enthalten. Gerade durch diesen Hinweis auf die ekstatische Offenheit des Menschen für die Welt, hat Nietzsche die tiefe Verwurzeltheit dieses Gedankens in dem tragischen Gedanken entschieden hervorgehoben. 1 0 9 Denn die tragische Erkenntnis bedrückt und erstickt den Willen nicht, im Gegenteil, sie bestärkt, erhebt und fördert ihn. Sie besteht nicht im bloßen Annehmen des bestehenden Zustands, im resignierten Abfinden mit dem unvermeidlichen und unabwendbaren Schicksal, sondern in mutigem Aushalten aller Versuchungen, sogar in freudiger Bejahung alles Seienden. Der tragische Gedanke schließt unmittelbar in sich die Forderung, daß alles zurückkehre. Er verkündet, daß alles, was war und was ist, gerechtfertigt, daß alles gleich wichtig und notwendig sei, daß nichts anders sein kann noch sein soll. Daher hatte Nietzsche völlig Recht, als er sich in seiner späten autobiographischen Schrift einen „tragischen Philosophen" nannte 110 , und den Wiederkunftsgedanken zur „höchste(n) Formel der Bejahung" von Welt und Leben hervorhob. 1 1 1 Offensichtlich ist der junge Nietzsche nicht zufallig auf den Wiederkunftsgedanken gestoßen. Obwohl er noch nicht auf dessen Ruf hinreichend zu horchen, geschweige denn ihn in Tiefe und Breite zu entwickeln verstand (wie es einem solchen Gedanken gebührt), konnte er ihn doch nicht vermeiden, überspringen, umgehen. Die Art und Weise, wie auch die Umstände unter welchen der junge Nietzsche diesem Gedanken zum ersten Mal begegnete, verweisen eindeutig auf dessen Ursprung. Es ergibt sich, daß Nietzsche nach der ewigen Wiederkehr unter dem starken Eindruck des tragischen Gedankens griff, tief in die schreckliche und grausame Wirklichkeit des menschlichen Lebens blickend, fest überzeugt, daß alle Lebensformen unabwertbar sind, da jede von ihnen „verheissen und geweiht" 1 1 2 in allen anderen ist. Insofern ist der Wiederkunftsgedanke dem tragischen Gedanken weder nahe noch verwandt, er berührt und verschränkt sich nicht einmal mit ihm. Er ist weder aus dem tragischen Gedanken abgeleitet, noch umfaßt er ihn nachträglich, weder folgt er ihm,
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in ihm giebt es nichts Isolirtes: das Kleinste trägt das Ganze, auf deinem kleinen Unrechte steht der ganze Bau der Zukunft, das Ganze wird bei jeder Kritik, die das Kleinste trifft, mit verurtheilt." Vgl. ζ. B. Nachlaß 1888/89: K G W VIII 3, 14 [31], S. 26. EH Die Geburt der Tragödie 3: K G W VI 3, S. 310 EH Also sprach Zarathustra 1: K G W VI 3, S. 333 GD Was ich den Alten verdanke 4: K G W VI 3, S. 153
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noch steht er ihm zur Seite. Der Wiederkunftsgedanke ist überhaupt kein anderer Gedanke, neben und unabhängig von dem tragischen, er ist vielmehr derselbe Gedanke, derselbe tragische Gedanke, innerster Kern und höchste Möglichkeit zugleich. Der Wiederkunftsgedanke sagt dasselbe wie der tragische Gedanke, nur auf eine andere Weise, mit anderen Worten, in anderer Tonart.
E R I C BLONDEL
„UND DOCH" Zur Philosophie „des goldnen Gelächters" „UND DOCH, was wäre nötiger als Heiterkeit?" Nietzsche „Inmitten einer düstern und über die Maßen verantwortlichen Sache seine Heiterkeit aufrechterhalten ist nichts Kleines von Kunststück: und doch, was wäre nötiger als Heiterkeit? Kein Ding gerät, an den nicht der Übermut seinen Teil hat. Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft. Eine Umwertung aller Werte, dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, daß es Schatten auf den wirft, der es setzt, — ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzu schwer gewordnen Ernst von sich zu schütteln. Jedes Mittel ist dazu recht, jeder „Fall" ein Glücksfall". Dans la préface de Crépuscule des idoles dont ces phrases sont extraites, Nietzsche entend redonner un but, une méthode, des moyens et un style à sa „philosophie au marteau" (bien que le mot de „philosophie" soit absent du texte et remplacé par celui de „psychologie"). Le but, c'est la Heiterkeit et la Genesung. La méthode (généalogique/„psychologique"), c'est l'auscultation des idoles. Les moyens, c'est, dans l'ordre, la guerre et le marteau. Le marteau sert à sonder, ausculter, faire résonner, tester, écouter, éventuellement à détruire, casser, démolir ce qui se donne comme creux, ou fêlé ou branlant à l'oreille. Quant à la „guerre" elle signifie libération des affects refoulés de l'agressivité et de la concurrence dans l'exploit de la lutte, du Wettkampf ou du tournoi, moyen de Selbstüberwindung dans un affrontement visant le dressage et le dépassement-surmontement. Elle est aussi (on le voit ici, alors qu'on l'oublie trop souvent) pratiquée et recommandée par Nietzsche sous la forme de la polémique, du pamphlet, c'est-à-dire d'une rhétorique, d'une sophistique, d'une éristique même fondées sur l'ironie, la moquerie, le sarcasme, le quolibet, le point d'exclamation — bref, le rire. Il se trouve ainsi que Nietzsche est un des rares ou probablement le seul philosophe à intégrer le rire dans l'arsenal de ses moyens et à le revendiquer comme tel, non seulement comme arme mais peut-être comme
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cible, au moins en tout cas comme point de mire permettant de viser ce qui, ici, comme ailleurs dans son oeuvre, apparaît une fin absolue ou suprême: la Heiterkeit. Comparons brièvement avec d'autres modes de la philosophie. Epictète: „Ris avec modération: ne ris pas de tout, ni sans retenue" (Manuel, xxxiii, 4). Spinoza: „J'ai mis tous mes soins à ne pas rire des actions des hommes, ni à les déplorer, ni à les maudire, mais à les comprendre" (Traité de l'autorité politique, I, § 4; cf. Ethique, III, Préface): précepte que le spinoziste Schopenhauer a systématiquement enfreint! ou encore: „le rire bienveillant a une valeur sociale [...]. Le rire sarcastique (ricanement) a valeur de haine" (Kant, Anthropologie, § 79). Passons sur les condamnations de Platon, dans les Lois (816 d —e; 935 b —936 a), même s'il se pique du luxe de donner libre cours au rire et au hoquet d'Aristophane dans le Banquet, sur le sérieux d'Aristote (Parties des animaux), sur la gravité de médicastre qu'affiche Descartes (Traité des passions, § 124—126: on songe au Diafoirus de Molière!), sur le peu de rapport entre l'humour et le Sollen chez Kant, voire sur le fait que le rire ne semble pas faire partie du „souci" principal de Heidegger 1 quant aux données fondamentales de l'analytique existentiale: Lévinas, qui fait pertinemment remarquer que, chez Heidegger, „le Dasein n'a jamais faim", aurait pu ajouter qu'il est en effet tellement accablé par le „souci" qu'il en oublie également . . . de rire! Ainsi Nietzsche, encore une fois, apparaît comme original, marginal ou fait cavalier seul. Mais ne serait-ce pas notamment pour les mêmes raisons qui l'ont fait longtemps, et même encore, exclure de la philosophie: parce que le rire est a-philosophie, absence de philosophie, comme la folie est „absence d'oeuvre" (Foucault), incompatible avec elle, dans la mesure où la philosophie est sérieux, le sérieux par excellence de la gravité: „ernst" und „schwer"} L'objection est de taille contre le rire, et l'on pourrait résumer le problème en parlant de . . . l'abjection du rire. Rire est vil, vulgaire, banal, abject, donc, et parler de rire d'or, comme Nietzsche (JGB 294) relève en ce cas de la provocation. Et, d'autre part, le rire, léger, superficiel, trop libre, fou, infantile ou ne serait-ce qu'enfantin, manque du sérieux requis pour une activité réfléchie comme celle qui s'impose au discours philosophique. Ainsi, l'incompatibilité de la philosophie et du rire peut se situer sur deux plans: l'objet rire est indigne de la philosophie et la philosophie ne peut elle-même rire sous peine d'oublier son essence, à savoir, en 1
Un autre Heidegger, simple homonyme hélas!, fait les frais d'une hilarité générale dans une anecdote que raconte plaisamment Kant dans l ' A n t h r o p o l o g i e (2ème partie, Caractéristique, Physiognomonie, B, note 3).
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principe, le sérieux par excellence. Le sérieux du vrai exige le vrai sérieux: l'opposition est inconciliable entre le rire et la philosophie, de sorte qu'on butte sur un dilemme insoluble (rire ou philosopher, vivre ou penser) ou qu'il faut se contenter de la demi-mesure de l'alternance (primum RIDERE, deinde philosophari). A vrai dire, on pourrait sans doute atténuer le conflit en édulcorant la causticité du rire et en allégeant le poids du sérieux du philosopher. On peut en effet exploiter la ressource d'une ironie qui a, d'emblée, ses lettres de noblesse en philosophie, depuis Platon; Socrate se moque de tel ou tel βουλόμενος, Euthyphron, Hippias, Lâchés, Pôlos, voire Calliclès — imbéciles, naïfs, obstinés, galopins ou fanatiques — tandis qu'en revanche Calliclès multiplie les sarcasmes à l'égard de Socrate et de la philosophie comme la servante thrace raillait Thalès, comme Aristophane raille Pausanias dans le Banquet (185 c et 189 c), après avoir moqué cruellement les „proctosophes" socratiques dans les Nuées. Et si l'on songe que, par exemple, Descartes, Kant, Schopenhauer, Kierkegaard et Nietzsche n'ont pas dédaigné de pratiquer et même d'étudier le rire, on pourra penser que l'incompatibilité avec la philosophie n'est pas aussi irréductible. Mais n'est-ce pas encore un secours bien faible, une issue de second ordre qui pourrait se révéler une aporie? Rire philosophiquement d'autrui, ou rire de la philosophie et des philosophes, c'est encore, peut-être, recourir à un rire mitigé, moyen, mesuré. Rire des philosophes, ou des nonphilosophes, c'est encore rire de ce qui est, définitivement ou provisoirement, en dehors de la philosophie: la non-philosophie, une fausse ou mauvaise philosophie. Socrate contre Calliclès, Nietzsche contre Socrate, Kierkegaard contre Hegel: ce n'est qu'une question de temps, de dialectique, de médiation, de méthode et de philosophie, on finira bien par retrouver la „vraie" philosophie après ce détour par le négatif, l'adversaire, le faux, comme on finit ou doit finir par faire entrevoir l'essence aux prisonniers de la doxa comme Ménon, Nicias, Lysis, voire Socrate lui-même face à Parménide! En d'autres termes: dans l'ironie philosophique ou antiphilosophique, le rire est un moyen de la philosophie, un moyen destiné à l'exclure de son antithèse ou de son extérieur ou un moyen visant à intégrer le dehors, l'étranger au discours philosophique. Alors, moyen, le rire n'est jamais une fin de la philosophie: il se pourrait comparer, en termes platoniciens, aux remèdes, qui ne sont pas aimés pour eux-mêmes, pour quelque raison (le διά τι dont parle le Lysis, 218 d), mais qui sont utilisés en vue de quelque chose (ενεκά τ ο υ ) de tout autre: la santé. En philosophie, la santé, c'est ce qu'on atteint comme fin en soi, le vrai désirable, ce en vue de quoi on se sert même parfois du rire: le sérieux. De sorte qu'essentiellement et téléologiquement le rire est extérieur à la philosophie.
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Y aurait-il une philosophie définitivement rieuse? Ou n'est-elle pas décidément, par définition et en définitive sérieuse, le sérieux constituant son entéléchie? Mais qu'est-ce, philosophiquement parlant que le sérieux? En quoi le rire est-il (ou non) l'antithèse du sérieux? Et n'y aurait-il pas une philosophie qui, par définition, rirait et conduirait à la découverte et à la mise en évidence du non-sérieux? En d'autres termes, qu'est-ce qui fonde, métaphysiquement parlant, l'équation postulée jusqu'ici entre sérieux et philosophie? Lorsque Nietzsche, dans la 3e Un^eitgemässe Betrachtung (4), parle sur un ton désobligeant de la position politique des problèmes philosophiques, il utilise par dérision le mot de „Spaaß- und Afterphilosophie", il ne confond évidemment pas cette pseudo-philosophie pour plaisantins avec une philosophie qui rirait. Le premier degré du rire est celui où l'on tient son objet pour médiocre. Peut-être le second degré est-il celui de la joie prise aux choses telles qu'elles sont, indépendamment d'un jugement de valeur morale, d'une décision axiologique, de la position d'une supériorité ou d'une transcendance. Le sérieux et le rire ne dépendent donc pas toujours de la nature ou de la position ontologique de leur objet. On peut rire, comme Nietzsche, de la philosophie de Spinoza, ou de Socrate, mais on peut rire aussi d'une sottise, d'un calembour, d'une situation scatologique. Alors, qu'en est-il du sérieux (et du rire qui le supplanterait, ou s'y joindrait, car il se peut qu'on puisse rire très sérieusement?). Proprement, le sérieux ne désigne pas seulement celui qui ne rit pas ou ce dont on ne rit pas (de facto), mais ce dont on ne peut pas rire. On ne rit pas de son malheur, du danger où l'on se trouve, ni quand on mange, dort ou fait l'amour: on ne peut pas. Mais on ne doit (μή δέον) pas rire de la mort, de la torture, de l'infirmité, du temps qu'il fait, de la faim dans le monde ou de l'injustice. Et pourquoi pas, justement? demanderont l'humoriste, le caricaturiste, le plaisantin et le philosophe. Parce que, dans le premier cas (impossibilité), on ne peut qu'adhérer à ce qu'on fait (le pompier qui rit risque encore plus la mort ou n'a pas le temps de rire) — et, dans le deuxième cas, celui du devoir, c'est que les choses dignes de sérieux risquent de peser assez pour que le rire soit exclu. En français, on utilise le mot „grave" comme synonyme complet de „sérieux": un „air grave", une „chose grave", un „homme grave", une „blessure grave", un „grave accident". Grave, venu de gravis, signifie „lourd". On dit sérieux et grave ce qui a du poids, de l'importance, qui en impose, ce qui est lourd de conséquences. Au premier chef, est sérieux (et grave) le réel, et tout ce que la philosophie a pour tâche de révéler comme réel, c'est-à-dire indépassable, transcendant, absolu, vraiment réel ou absolument vrai: le
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Bien, le Devoir, l'Homme, la Vie, la Santé, les Vertus... On ne rit pas de ces choses-là, parce qu'elles délimitent le réel hors duquel la mort ou le néant guettent le rieur ou le frivole ou le dilettante. Le réel limite la liberté qui définit le rire, parce qu'il est gros de conséquences, constitue un réseau de causes et d'effets, s'impose comme un ensemble de nécessités, donc pèse et enferme — ce qui définit d'ailleurs, à l'extrême, le tragique (ce poids et ces contradictions dont on ne peut se libérer: libres ou désimpliqués, Oedipe et Phèdre feraient rire, car on les jugerait prisonniers par aveuglement ou sottise). Le réel est donc compact, on ne peut s'en dégager (c'est le sens de la „désinvolture": désinvolte) ni choisir librement de s'y promener à son gré (c'est l'attitude du dilettante). Au contraire, on dit frivole le rire, parce que léger, parce qu'il laisse aller et couler futilement (futilis = qui fuit) les choses, parce qu'il ignore la compacité, la consistance, la logique, la nécessité des choses. Ecrasezvous les doigts avec un marteau: ne rira que celui qui n'en supporte pas les conséquences. Et si le ridicule tue, c'est précisément dans la mesure où le rire a pris la liberté (sans conséquence, immatérielle, théorique, abstraite, indolore) de jouer avec la réalité et la vie de celui qu'il humilie, insulte, calomnie ou offense. Le sérieux, c'est donc la réalité des choses, comme consistance, logique, permanence, causalité, relations d'ordre: en un mot, l'Etre. Est dérisoire ce qui n'est pas, ou est „inexistant", infime, ou pourrait ne pas être ou „mériterait de périr" (Schopenhauer). Le rire est lié à la liberté du non-être, il est sans doute le non-être comme liberté, comme négation (du réel ou d'une réalité). Le sérieux pose l'Etre comme ce dont on ne sort pas. Le sérieux affirme, le rire est le „Geist, der stets verneint". Pour l'homme sérieux, donc, le monde est, l'être est — il est parménidien jusqu'à la limite extrême qui est la stupidité, la Geistlosigkeit, la Wit^losigkeit — et surtout, pour ce sérieux-là, l'être est ce qu'il est. Etant ce qu'il est, le monde est ce à quoi il faut porter attention et respect, vigilance et considération, comme à la nécessité, à l'ordre établi, à la force, à l'Etat, à l'autorité, aux institutions, à la loi. L'homme du sérieux est l'homme de la Loi; le rieur est frondeur, il désobéit et, ignorant la Loi, il brave toutes les règles, il transgresse et, d'une manière générale, ignore ou bouscule le sacré. Le sérieux est respect, le rire se donne comme transgression: l'un a peur, veille, se sent menacé, s'en remet, car il veut vaincre, au sérieux de la technique et de l'action, l'autre défie, blasphème, ne „se met pas en souci", n'est nulle part, ne se charge de rien, n'espère rien, ignore le succès, joue avec le possible et, étant sans foi ni loi, n'a cure du réel, n'est qu'un être potentiel, un être possible, et donc ne se prend pas „au sérieux".
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On conçoit ici fort bien qu'en faisant, dans sa pensée philosophique, le vide métaphysique, Nietzsche puisse entrer dans ce cadre du possible, du non-être, du „vivre dangereusement", du „dangereux peut-être" qui caractérisent la négation du sujet, de la substance, de la métaphysique, de l'être métaphysique, de la vertu, de la loi, du sacré, du divin et même de la philosophie. A l'inverse du „dogmatique" systématique et métaphysicien, Nietzsche refuse l'absolu qui obsède l'homme sérieux, comme divin, réel, morale, vérité, homme, sens, fins, ordre . . . Nietzsche refuse le chameau, le poids du réel, les charges . . . On pourrait même aller jusqu'à penser qu'il se déprend de la philosophie comme passion triste, comme patience souffrante à l'égard du réel et de l'Absolu, comme effort pénible et mélancolique vers le vrai {„this philosophical melancholy and delirium [...] my spleen and indolence": Hume, Λ Treatise of Human Nature, Book I, Part IV, Section VII). Mais on pourrait dire aussi qu'il prend très au sérieux non seulement son „Fragezeichen" sa „düstere und über die Maßen verantwortliche Sache", mais encore . . . la Heiterkeit elle-même. Paradoxe ou sophisme? Il est vrai que le non-sérieux nietzschéen n'est pas universel: il épargne, et Nietzsche (totalement dépourvu d'humour, c'est-à-dire de recul par rapport à lui-même!), et certains de ses objectifs. Mais le vrai sérieux, lui, adhère au réel et se projette vers des fins qu'il tient à réaliser. Or c'est là peut-être qu'il faut chercher la vraie nature du „rire d'or", du rire que recommande Nietzsche et au bout duquel, peut-être, on „risque" de trouver, en dépit du réel, du destin et de la souffrance, la Heiterkeit, sereine allégresse de Γamor fati. Au premier degré, avons-nous dit, le rire prend ses distances par rapport au médiocre, qu'il déclare, au sens plein et multiple du mot, dérisoire (risible et mesquin). En ce sens Nietzsche n'est que métaphysicien quand il moque ce qu'il critique, considérant d'un oeil méprisant et supérieur les autres philosophies de la même manière que les métaphysiciens regardent de haut, avec dérision, le sensible qu'ils méprisent. Le rire est métaphysique comme transcendance, comme Schadenfreude·. de même que les dieux d'Epicure goûtent le „suave mari magno" {De Rerum Natura, II, 1), de même Nietzsche rit des métaphysiciens comme le Dieu de Platon pourrait rire des prisonniers de la Caverne, pauvres idiots esclaves et ignorants...! Ce rire (si nietzschéen qu'il soit) est d'ailleurs encore métaphysique pour autant qu'il méprise, refuse, condamne, rejette et croit encore à la transcendance, frôle de justesse le ressentiment, et s'installe implicitement dans le sérieux. „Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist —, wie? ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden? dass der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten,
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ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen? Gewiss ist, dass sie sich nicht hat einnehmen lassen: — und jede Art Dogmatik steht heute mit betrübter und muthloser Haltung da. Wenn sie überhaupt noch steht! Denn es giebt Spötter, welche behaupten, sie sei gefallen, alle Dogmatik liege zu Boden, mehr noch, alle Dogmatik liege in den letzten Zügen. Ernstlich g e r e d e t . . . " (JGB, Vorrede) Si les philosophes systématiques sont ridicules, Nietzsche parle-t-il sérieusement? Oui, sans doute. Mais ne tourne-t-il pas dans cette mesure au métaphysicien? N'y a-t-il donc pas un rire non métaphysique? S'il n'est pas lié au réel et à une fin, y a-t-il un rire qui ne soit pas purement et simplement métaphysicien, et qui soit sérieux sur un autre mode, ou un vrai rire non métaphysique? Si le rire n'est pas seulement mépris (Platon, Hobbes, Spinoza, Kant, Nietzsche lui-même), condescendance du contempteur des choses sans importance d'ici-bas, si le sérieux n'est pas seulement l'adhésion au réel nécessaire et pesant et aux fins à réaliser par l'action et la technique, alors n'y aurait-il pas à rechercher la possibilité d'un rire lié à la contingence et libéré des échelles morales et métaphysiques de valeur? Peut-être faut-il soupçonner avec Nietzsche qu'il faut rire du monde, non parce qu'il serait méprisable et insignifiant, mais parce qu'il est contingent, dépourvu de fins, sans buts, sans signification, particulier, hasardeux, aussi beau que hideux? Si Schopenhauer souffrait de voir ainsi le monde comme volonté, souffrance et absurdité, Nietzsche, lui, s'en réjouit, il rit de joie, il prend joie à ce monde illusoire (et non réel), insignifiant et contingent. Ce monde est risible, non parce qu'il est vil, comique, insupportable, absurde, effroyable, mais parce qu'il est drôle, saugrenu: il est sans être, il existe et évolue sans fin, il n'est jamais pareil et nécessaire ou attendu, mais hasard ou nécessité, il „revient toujours au même" (Eternel Retour). Nietzsche se réjouit donc, en riant, de ce que le monde comporte (au sens qu'il donne à ce mot) de „non-mêtaphysique". Et c'est en ce sens que nous pouvons analyser un rire non transcendant, non contempteur: un rire pris au non-sens, à l'abjection, au „terrible" et au „suspect" („schreckliches und fragwürdiges") et au corps. Si l'on ne rit pas en métaphysicien sérieux, en effet, de quoi rit-on? Si l'on passe en revue les grands classiques du rire, ceux qui font rire en tous temps, en tous lieux depuis des siècles (Aristophane, Plaute, Térence, Marguerite de Navarre, Boccace, Chaucer, Rabelais, Cervantès, Shakespeare, Molière, Swift, Courteline, etc., pour ne parler que de littérature), sans oublier leurs émules contemporains, on constate que le „rire propre à l'homme" (Aristote, De Partibus animalium, III et Rabelais, Gargantua,
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Aux lecteurs) résulte de quelques grandes ressources ou recettes éprouvées (bien que parfois inopérantes sur certains particuliers réfractaires): I o la scatologie et l'obscénité; 2° les jeux de langage, du calembour au mot d'esprit; 3° les situations humaines (ou para-humaines) caractérisées par le contraste, l'absurdité, le quiproquo, la surprise, l'opposition ou la combinaison du mécanique et du vivant, la liberté à l'égard des lois et de la censure (on peut, pour simplifier, laisser de côté l'humour et l'ironie qui sont des attitudes spécifiques visant à faire rire et utilisent généralement les dites ressources). Si l'on examine les remarques célèbres d'Aristote et Rabelais autrement que comme des banalités zoologiques ou des lieux communs anthropologiques, il conviendra de noter que le rire partage son privilège spécifique avec la pensée et la raison. Penser sur l'homme, alors, c'est aussi devoir penser sur le rire dans l'existence de l'homme. Sans doute est-il exagéré d'affirmer que tous les hommes rient (ou pensent — Descartes a l'air de se figurer qu'il est le premier! — ou raisonnent — Kant substitue „être raisonnable", plus restrictif, à „homme") — mais tous le pourraient. Le rire est donc lié à l'existence humaine dans ses caractéristiques fondamentales. Il me semble percevoir ici une unité: le rire naît toujours d'une confrontation et d'un jeu. Dans la scatologie, l'être humain sensible, corporel, né „inter faeces et urinam", vivant organique, s'affronte à la transcendance spirituelle et joue avec le vivant comme s'il s'amusait à en imaginer la raideur cadavérique. Comment expliquer autrement que les médecins, les croque-morts et les soldats se complaisent à chanter les mérites répugnants d'organes en sursis, et de tout ce qui, comme dit Th. Mann, se rapporte à „das rührend wollüstige Umfangen des %ur Verwesung Bestimmten" (Der Zauberberg,, Ges. W. III, 832). Rire de cela est jouer avec la mort: le vif saisit le mort! Ajoutons que le jeu de langage, le jeu de mots jongle ludiquement avec les règles de la morphologie, de la syntaxe et de la logique, le jeu se situant entre l'absurdité du dérèglement et le sens nouveau esquissé, entrevu ou suggéré entre les phonèmes. Entre le charabia infantile et le sens reçu (le sens rassis), entre l'insignifiant et le sensé, le jeu de mots est bien passage entre des extrêmes opposés, et jeu avec la règle et l'absence de règle. On en dirait autant de la situation comique qui, pour reprendre la formulation de Bergson, „plaque du mécanique sur du vivant", c'est-àdire oblige à s'affronter deux termes opposés, la liberté spontanée de la vie et la nécessité mécanique inerte de l'inorganique, du minéral ou du corps inintelligent. Le rire est donc la liberté (non pas atteinte mais donnée, par grâce semble-t-il) qui joue avec les données de la condition humaine: le corps, la mort, la nécessité, la logique, le sens. Or, cette liberté, proche de
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l'absurdité, de l'abjection, de la frivolité, de l'insouciance, de la mort et même de la désinvolture, de la transgression, de l'illégalité et du nihilisme, peut présenter, comme mort de Dieu, le visage de Y innocence, à l'intersection de l'ignorance, de la puérilité, de la liberté, de l'absurdité. L''innocent rieur perçoit le monde comme léger, facile, sans but ni loi, hasardeux et insensé. A la vérité, ce monde est, comme Nietzsche le montre, tragique·, mais il est, à l'envers, innocent, c'est-à-dire contingent, absurde, délié du sens, des fins, des lois, donc saugrenu et drôle, comme un jeu de mots, une allusion grivoise, une situation de quiproquo, un mot d'esprit. Le rire est sans doute ainsi comme l'oeuvre d'art, la prise de conscience d'un monde innocent, de „l'innocence du devenir", il libère d'un monde sérieux, c'està-dire métaphysiquement nécessaire, pour prendre joie au contingent. Sans doute comprend-on ainsi pourquoi les grands comiques (et les comédiens) sont aussi tristes que drôles, puisque le rire fait apercevoir, à son envers, l'atrocité tragique d'un monde „told by an idiot and signifying nothing'. La marge est infime, en effet, entre l'innocence et l'absurdité, le comique et le tragique de l'insensé: qui peut s'en libérer dans le rire pour ne pas se laisser écraser et accabler par le poids des oppositions tragiques — à la frange du comique — protégées, par l'impalpable aura du sacré, contre le blasphème ou le cynisme? Le rire est surprise (Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Kap. 13), émancipation de la censure (Freud), heurt du vivant et du mécanique (Bergson). Peut-être le monde lui aussi n'est-il qu'une plaisanterie, n'est-il qu'un jeu de mots, une absurdité, un malentendu. Le rire, de même, crée et détruit le sens — comme le jeu où, Nietzsche le souligne, l'enfant donne une leçon de sérieux innocent à l'adulte pour qu'il devienne mûr: J G B 94). Le rire est surprise, comme vie, contingente et déconcertante, non morale. Il est jeu. Mais peut-on jouer avec tout et peut-on rire absolument du monde, c'est-à-dire le réputer seulement innocent? Quelle distance y a-t-il entre la liberté de compensation et l'échappatoire métaphysique vers la transcendance religieuse, entre Freud, Schopenhauer, Nietzsche et Kierkegaard, entre l'enfantin et l'infantile, entre un monde comique et un monde tragique, entre l'innocence joyeuse et la méchanceté ricanante? Disons, en bref, entre le Voltaire de Candide et le Nietzsche d , Ecce Homo? Le rire que Nietzsche recommande (et il ne pratique pas toujours ni seulement ce qu'il recommande) est un rire dépourvu de hauteur, de transcendance morale et métaphysique, et qui n'a pas le relent inévitable de méchanceté et de mépris métaphysiques et religieux propres à l'ironie, à la dérision, même à tout rire comme Schadenfreude (FW 200). Mais ce rire de la Heiterkeit mozartienne, qui pourra dire s'il ne manque pas justement son but, s'il ne
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se confond pas avec la méchanceté du prêtre, le ressentiment et la volonté de vengeance platonicienne-chrétienne en s'évadant illusoirement d'un monde qu'on méprise ou dédaigne? Le rire n'est-il pas fondamentalement méchant par désinvolture ou indifférence irresponsable envers le mal qu'on tourne au jeu? Amor fati ou illusion méta-physique, le rire est-il vraiment innocent ou tout simplement cynique? Encore une contradiction (Gegensatz) dans la philosophie de Nietzsche qui, nous le savons en particulier grâce au dédicataire de cet article d'hommage (W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, 1971), ne fonctionne que par leur mouvement: s'il est vrai que „der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll" (Za, Zarathustra's Vorrede, 3), si le rire est une Uberwindung du tragique parce que „Alles Entscheidende trotzdem entsteht" (EH, Also sprach Zarathustra, 2), la philosophie nietzschéenne de l'innocence du devenir est un dépassement. Ce dépassement n'est-il pas métaphysique? Ou sinon, peut-on séparer et distinguer la volte religieuse et métaphysique du cynisme méprisant le monde et l'acceptation joyeuse de l'innocence de l'enfant? Le rire est-il, encore une fois, innocente acceptation de l'immanence ou transcendance illusoire du cynisme? Nietzsche en tout cas ne répond pas et les associe, quand il écrit: „Große Dinge verlangen, daß man von ihnen schweigt oder groß redet: groß, das heißt cynisch und mit Unschuld" (KGW VIII, 11 [411]). Quel est le sens du „und doch" quand Nietzsche parle de Heiterkeit? Un rire cynique ou innocent? Hors du monde ou dans ce monde? Ou seraitce que le rire est, au-delà des paroles, cyniques ou innocentes, une certaine forme de silence et la philosophie une sorte de rire silencieux, plus sérieux et grave que les transcendances métaphysiques du rire? „Que faut-il donc faire? demanda Candide: — Te taire, dit le derviche" {Candide, XXX). Le „rire d'or" est sans doute silencieux et d'or comme le silence. Nietzsche le cynique est,.peut-être redevenu innocent le 3 janvier 1889. Mais s'il avait cessé de parler et d'écrire, n'avait-il pas commencé à rire — en innocent?
GERD-GÜNTHER
GRAU
Wille zur Macht oder Wille zur Wahrheit? Nietzsche und Kant „Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?" „Ein Unbekanntes ist um mich und blickt nachdenklich. Was! Du lebst noch, Zarathustra? Warum? W o f ü r ? Wodurch? Wohin? Wo? Wie? Ist es nicht Thorheit, noch zu leben?"'
Wer über das Verhältnis Nietzsches zu Kant nachsinnt, scheint auf den ersten Blick ein leichtes Spiel zu haben und rasch zu einem klaren Ergebnis gelangen zu können; einem Ergebnis überdies, das so etwas wie eine Synthese oder wenigstens eine wechselseitige Ergänzung der Denkbemühungen beider Philosophen a limine ausschließt: Zu eindeutig sind die betreffenden Passagen in den Texten Nietzsches gegen die kritische Philosophie gerichtet, zu vehement sind die Attacken, zu heftig die Angriffe, die, vor persönlicher Beschimpfung und sachlicher Entstellung nicht zurückschreckend, gegen ihren Begründer geführt werden, als daß man ein ausgewogenes, womöglich für die Philosophie insgesamt ertragreiches Urteil erwarten dürfte. Man erinnert sich sogleich an die abfalligen Bemerkungen über die „plumpe Pedanterie und Kleinstädterei des alten Kant, die groteske Geschmacklosigkeit dieses Chinesen von Königsberg", der, „irgendwann einmal", wenn die Zeit der neuen, den „Barbaren" in uns bejahenden Philosophen gekommen sei, nur als eine „Vogelscheuche" angesehen werden könne. 2 Unter dem Stichwort „Was den Deutschen abgeht" stellt Nietzsche mit Verwunderung fest, daß diese „ihre Philosophen auch nur ausgehalten haben, vor allem jenen verwachsensten aller Begriffs-Krüppel, den es je gegeben hat, den grossen Kant", welcher von der Idee eines aus dem leichtfüßigen „Tanten" geborenen Philosophierens 1 2
Kant, KrV, Β 833 f.; Nietzsche, Za II, Das Tanzlied KGW VII 26 [96], 26 [417]
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keine Ahnung gehabt habe; und ein Aphorismus „Von der Geschwätzigkeit der Schriftsteller" findet bei Kant eine „Geschwätzigkeit aus einem zu großen Vorrat von Begriffsformeln", der freilich andere Versionen dieser Untugend bei Luther und Goethe, sogar bei Schopenhauer und Montaigne eingereiht werden. 3 Weitere Verdikte prangern die „ebenso steife wie sittsame Tartüfferie des alten Kant" an, „mit der er uns auf die dialektischen Schleichwege lockt, welche zu seinem ,kategorischen Imperativ' führen", tun die „Philosophie der Hinterthüren" immer wieder verächtlich als das Werk eines „hinterlistigen Christen zu guterletzt" ab, um schließlich geradezu einen „Idiotismus" bei dem Philosophen festzustellen — „Kant wurde Idiot" —, mit dem sich der „fehlgreifende Instinkt in Allem und Jedem, die Widernatur als Instinkt, die deutsche décadence als Philosophie" vollends etabliert habe. 4 „Haben die Deutschen auch nur Ein Buch herausgebracht, das Tiefe hätte? Selbst der Begriff dafür, was tief an einem Buch ist, geht ihnen ab. Ich habe Gelehrte kennen gelernt, die K a n t f ü r tief h i e l t e n . . ," 5
Insgesamt sieht Nietzsche so, sachlicher werdend, „Kant's R u h m . . . heute ins Unbillige hinaufgetrieben, weil die vielen Kritiker eines kritischen Zeitalters ihre Cardinal-Tugend an ihm wiederfanden; sie loben sich, wenn sie vor Kant huldigen. Aber alle bloß kritischen Naturen sind weiten Ranges, gehalten gegen die großen Synthetiker..." Immerhin hatte das veröffentlichte Werk die angeführte Nachlaßbeschimpfung schon dahingehend mildernd präzisiert, daß auch „der grosse Chinese von Königsberg . . . nur", aber doch gewiß „ein grosser Kritiker" gewesen sei; Kritiker aber könnten, wie „jene philosophischen Arbeiter nach dem edlen Muster Kant's und Hegel's" — welche lediglich eine Bestandsaufnahme von tradierten Wahrheiten und Werten geliefert hätten — allenfalls „Werkzeuge der Philosophen und eben darum, als Werkzeuge, noch lange nicht selbst Philosophen" sein, — die es ebensowenig bei der Kritik wie bei der Skepsis bewenden lassen dürften. Deshalb unterstellt Nietzsche dann allerdings auch sogleich, daß „die eigentlichen Philosophen ... Befehlende und 3 4
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GD, Was den Deutschen abgeht 7; FW 97, vgl. K G W VIII 15 [50]. JGB 5; GD, Die „Vernunft" in der Philosophie 6, Streifzüge eines Unzeitgemässen 16; AC 11 EH, Warum ich so gute Bücher schreibe, Der Fall Wagner 3. Gleichsam als Gegenzitat könnte man ein hartes Wort des Psychiaters Möbius anführen, dessen verzerrende, das Pathologische überziehende Darstellung nicht verteidigt werden soll, dessen Bemerkung zur Wiederkunftslehre aber doch bedenkenswert erscheint: „wenn ein solcher Einfall, der zu des Pythagoras' Zeiten nicht übel war, einen Mann, der Kant gelesen hat, aus den Fugen bringt, dann ist etwas nicht richtig." P. J. Möbius, Nietzsche, Leipzig 3 1909, 103. Schließlich hatte Nietzsche selbst (UB II, HL 2) diese Lehre bei den Pythagoräern früher als „Astrologie" abgetan.
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Gesetzgeber" sein müssen, welche die Wahrheiten ebenso wie die Werte „schaffen", die sich weder er- noch begründen lassen, denen also ihr Wille zur Wahrheit in den Willen zur Macht übergegangen ist: „Ihr ,Erkennen' ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist — Wille %ur Macht." „ K r i t i k e r sind W e r k z e u g e d e r P h i l o s o p h e n u n d e b e n d a r u m , als W e r k z e u g e , n o c h l a n g e n i c h t selbst P h i l o s o p h e n ! A u c h d e r g r o s s e C h i n e s e v o n K ö n i g s b e r g w a r n u r ein g r o s s e r K r i t i k e r . " 6
Man sollte jedoch nicht übersehen, daß hinter dem persönlichen Zorn und den diffamierenden Invektiven Nietzsches ein durchaus ernstes, auch philosophisch ernst zu nehmendes Anliegen steht, dessen Bedenken das kritische Werk fortsetzen, auf das sie, bis hinein in die spätere Konzeption des eigenen Entwurfs, aufbauen; Bedenken, welche sich gleichermaßen gegen die fraglose Hinnahme einer moralisch unbedingten Forderung wie gegen die theoretische Rechtfertigung eines möglichen Wahrheitsanspruchs religiöser Aussagen durch die Transzendentalphilosophie wenden. Schon früh reiht Nietzsche Kant unter jene „philosophischen Baumeister" ein, die „von Plato a b . . . in Europa umsonst", weil „unter der Verführung der Moral gebaut haben"; auch Kant, mit seiner „schwärmerischen Absicht eben der rechte Sohn seines Jahrhunderts, . . . hatte die Moral-Tarantel Rousseau gebissen", — wobei ihn „der Gedanke des moralischen Fanatismus" sogar in die Nähe eines anderen revolutionären „Vollstreckers" dieses Gedankens, nämlich Robespierre geführt haben soll. Indes habe es Kant insofern weit „deutscher" getrieben, als er sich sogleich um eine philosophische Grundlegung für sein „moralisches Reich" bemüht habe und dabei gezwungen gewesen sei, auch theoretisch „eine unbeweisbare Welt, ein logisches Jenseits' " einzusetzen: „dazu eben hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nöthig!" Mit dieser widerspruchsvollen, im Ding an sich zentrierten und eine intelligible Welt eröffnenden Begründung — welche ebensowohl Freiheit ermöglichen wie unbedingten Gehorsam erzwingen soll — wird Kant jedoch zugleich als Vertreter jenes „Credo quia absurdum" entlarvt, mit dem, nach Luthers Vorgriff, die „deutsche Logik" — unerwünschte Sachverhalte durch moralische Forderungen überwinden zu
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K G W VII 26 [412]; J G B 210, 2 1 1 . Auch Kant bezeichnet an einer Stelle (KrV, Β 867) den Philosophen als „Gesetzgeber der menschlichen Vernunft", aber gerade an der verborgenen Differenz der Bezeichnung wird der Unterschied beider Denker deutlich; ähnlich gegensätzlich sind die Resultate der geistigen „Chemie", die von beiden Philosophen zur kritischen Sichtung „der Begriffe und Empfindungen" (MA I, 1) bzw. zur „Scheidung" der Elemente der Erkenntnis ( K r V X X I , Anm.) sowie „des Empirischen und des Rationalen" in der Moral ( K r V 291, 165) empfohlen wird.
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wollen — „zuerst in der Geschichte des christlichen Dogma's" aufgetreten sei. „Denn Angesichts... der gründlichen Unmoralität von Natur und Geschichte war Kant, wie jeder gute Deutsche von Alters her, Pessimist; er glaubte an die Moral, nicht weil sie durch Natur und Geschichte bewiesen wird, sondern trotzdem dass ihr durch Natur und Geschichte beständig widersprochen wird. Man darf sich vielleicht . . . an etwas Verwandtes bei Luther erinnern.. ,"7
Doch nicht genug, daß die so ausgewiesene „Philosophie der Hinterthüren" ihre im Grunde pessimistische Erneuerung der moralischen Forderung buchstäblich wider besseres Erkennen eines durchgängig bestimmten Geschehens betrieb; ja sogar die Frage unterließ, ob nicht nach dem Wegfall der religiösen Legitimierung der absolute Anspruch hinfällig geworden sein, die Emanzipierung von der Theologie auch den Anspruch der Moral ermäßigt haben könne: „je mehr emancipirt von der Theologie, um so imperativischer wird die Moral." Darüber hinaus erweist sich die kritische Philosophie für Nietzsche aber auch erkenntnistheoretisch als das Werk „eines hinterlistigen Christen", der Erfolg Kants als „bloss ein Theologen-Erfolg", insofern seine Erneuerung des asketischen Ideals wieder jenen „Schleichweg zum alten Ideal" der religiösen Interpretation eröffnete, welche mit der Kritik endgültig verbaut schien; wird diese Interpretation auch jetzt als nicht mehr „beweisbar" verstanden, so wird sie doch zugleich „dank einer verschmitzt-klugen Skepsis" als „nicht mehr widerlegbar" erkannt. So habe „Kant's Sieg über die theologische BegriffsDogmatik" nicht nur jenem Ideal praktisch keinerlei „Abbruch gethan", vielmehr sei er auch theoretisch ohne Folgen geblieben; derart, daß ihre Reduzierung auf säkularisierte Ideen der Vernunft offensichtlich keineswegs die allseits befürchtete Abwertung jener Begriffswelt und des mit ihr verbundenen Ideals herbeigeführt habe. „Wird damit dem asketischen Ideale eigentlich entgegengearbeitet? Meint man wirklich allen Ernstes noch (wie es die Theologen eine Zeit lang sich einbildeten), daß etwa Kant's Sieg über die theologische Begriffs-Dogmatik . . . jenem Ideale Abbruch gethan habe?"8
Uber den systematischen und geschichtsphilosophischen Aspekt dieser Einordnung der Transzendentalphilosophie in die „Verzögerung" der „Selbstaufhebung" des christlichen Glaubens im Protestantismus und, vor allem, in der deutschen protestantischen Philosophie, wird noch zu reden sein; vorerst sei aber festgehalten, daß Nietzsche — in Verfolg eben dieser Idee — ihre kritische Funktion stets erkannt und anerkannt, die kritische 7 8
M, Vorrede 3 K G W VIII 9 [43], vgl. Í [3], A C 10; GM III 25.
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Philosophie durchaus als Bundesgenossen nicht nur gegen jeden Anspruch auf religiöse Wahrheit, sondern gegen jegliche Behauptung der Möglichkeit adäquater Wahrheit überhaupt angesehen hat. Schon der junge Student sieht die von Kant aufgedeckte und analysierte Gebundenheit der Erkenntnis an die „menschliche Organisation" und die damit gegebene Verborgenheit, ja Widersinnigkeit eines das „wahre Wesen der Dinge" bedeutenden „An sich" als das gleichermaßen wichtige und endgültig richtige Resultat der Kantischen Philosophie an und berichtet seinen Freunden triumphierend von dieser Einsicht, nachdem ihm die Lektüre von F. A. Langes Geschichte des Materialismus (Ί866) die erste — freilich schon durch Schopenhauer vorbereitete — eingehende Interpretation des kritischen Hauptwerks vermittelt hatte. Triumphierend aber wurde diese biologistische Auslegung des Kritizismus vor allem deshalb aufgenommen, weil damit der Zugang zu einem „Reich des Ideals" für die Philosophie ein für allemal gesichert schien, das einer rationalen Begründung ebensowenig bedürftig war, wie es einer rationalen Kritik ausgesetzt werden konnte oder gar mußte. „ A l s o das wahre Wesen der Dinge, das Ding an sich, ist uns nicht nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines v o n unserer Organisation behaupteten Gegensatzes, v o n dem w i r nicht wissen, ob er außerhalb unserer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat. Folglich, meint Lange, lasse man die Philosophen frei, vorausgesetzt, daß sie uns h i n f ü r o erbauen. Die K u n s t ist frei, auch auf dem Gebiet der Begriffe. Wer will einen Satz v o n Beethoven widerlegen, und wer will Raphaels Madonna eines Irrthums zeihen?" 9
Mag diese Auslegung auch das eigentliche Anliegen der Transzendentalphilosophie schon insofern verfehlen, als sie nicht hinnehmen will, daß Wahrheit allerdings nur und erst unter den menschlichen Bedingungen der Erkenntnis möglich ist und sinnvoll behauptet werden kann, — ganz zu schweigen von der damit angeblich eröffneten Beliebigkeit eines unkritisierbaren, letztlich bloß, positiv oder negativ, erbaulichen Philosophierens. Mag Nietzsche selbst alsbald die Reduktion der Philosophie auf die Erbaulichkeit der Kunst zurückweisen, dem Ideal der Kunst ebenso die Anerkennung verweigern wie den Ideen von Religion und Moral, deren Desiderat und Wirkungsmacht sich noch die „tragische Erkenntnis" 9
Brief an v. Gersdorff, Ende August 1866, KGB I 2, 156 ff. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Leipzig 1866, 8 1902, Frankfurt/Main 1974; Nietzsche zitiert wörtlich aus Langes Werk. Zu Nietzsche und Lange s. Jörg Salaquarda, Nietzsche und Lange, in: Nietzsche-Studien 7 (1978) 236 ff., sowie George J. Stack, Lange and Nietzsche, Berlin —New York 1983. Man beachte auch, daß Nietzsches spätere Absage an Lange nur dessen Idealismus der Schwäche gilt, aber die kritische Basis unberührt läßt.
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vollauf bewußt ist; mag er am Ende sogar jede Möglichkeit von Wahrheit ausschließen, sofern und soweit sie eben jene Adäquatheit nicht erfüllt, welche ihm unverzichtbar erscheint: gerade einem Wahrheits&ns^>twc\\ für ideelle Gebilde oder ideologische Entwürfe gegenüber bleibt Nietzsche nicht nur dem Anliegen, sondern durchaus dem Ansatz Kants insoweit wenigstens intuitiv verbunden, als er grundsätzlich an den transzendentalen Bedingungen festhält. 10 Wie er einer Aufklärung verpflichtet bleibt, welche mühsam genug und gegen alles Interesse des Menschen sowie gegen die herrschenden Mächte, welche dieses Interesse zu vertreten vorgeben, das Recht der Rationalität behauptet und durchgesetzt hat, so wird er stets das „ Veto gegen die Wissenschaft" ebenso als Kriterium eines verfehlten, zumindest unbegründbaren Wahrheitsanspruchs ansehen wie die Behauptung einer exklusiven Wahrheit als Hinweis auf ihren absoluten Anspruch, — „Die Wahrheit ist Nichts, was Einer hätte und ein Andrer nicht hätte.. , " n Ist ihm der „Dienst an der Wahrheit" ohnehin unverzichtbar, auch wenn er sich immer wieder als „der härteste Dienst" erweist, so werden die „neuen Philosophen" gewiß „Freunde der Wahrheit" sein, bereit, lieber den Menschen, notfalls die Menschheit der Wahrheit zu opfern, als auf eine kritische Prüfung der Behauptungen und Forderungen zu verzichten, welche das Leben erträglich machen und seine sinnvolle Gestaltung ermöglichen sollen, aber eben deshalb der Gefahr der Selbsttäuschung ausgesetzt sind. „Man hat jeden Schritt breit Wahrheit sich abringen müssen, man hat fast Alles dagegen preisgeben müssen, woran sonst das Herz, woran unsre Liebe, unser Vertrauen zum Leben hängt. Es bedarf Grösse der Seele dazu: der Dienst an der Wahrheit ist der härteste Dienst.. ,"12 Sowenig man sich daher bei einer Betrachtung des Verhältnisses von Nietzsche und bzw. zu Kant von den Invektiven des Späteren zu einem eindeutigen Urteil verleiten lassen darf, sowenig sollte man von vornherein 10
Man weiß, daß Nietzsche die kritischen Hauptwerke Kants nie im Original gelesen hat; gleichwohl wird man ihm — bei allen gewollten oder ungewollten Mißverständnissen und Fehldeutungen — ein im Kern durchaus zutreffendes Erfassen des kritischen Standpunktes nicht absprechen können. Schon Karl Jaspers, Nietzsche, Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin —New York 4 1974, 36 erkannte: „Nietzsche, der die großen Philosophen fast nie gründlich studiert hat, das meiste nur aus zweiter Hand kennt, vermag doch durch die überlieferten Gedankenhülsen hindurchzublicken auf die Ursprünge." Manuskripte aus der Gymnasialzeit zitieren allerdings unmittelbar die K r V : Johann Figi, Dialektik der Gewalt, Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte, Düsseldorf 1984, 68, 116.
11
A C 47, s.u.; 53. Vgl. auch die — im Prinzip jede psychologistische Interpretation des Philosophen zurückweisende — Äußerung FW, Vorrede 2: „Aber lassen wir Herrn Nietzsche: was geht es uns an, daß Herr Nietzsche wieder gesund wurde?" AC 50
12
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von einem unüberbrückbaren Gegensatz beider Denker ausgehen; vielmehr wird es für den philosophischen Ertrag gerade darauf ankommen, dieses Verhältnis zur wechselseitigen Kritik ihrer Reflexionen über die maßgebenden Probleme der theoretischen und praktischen Philosophie zu erörtern. Für die anzustrebende Synthese darf dabei jedenfalls der Versuch unternommen werden, Denkansatz und Resultat des einen als notwendige und hilfreiche Korrektur von Methode und Ergebnis des anderen zu verstehen, beider Versäumnisse zum besseren Verständnis der gleichermaßen vom Zweifel an der Rationalität getragenen wie vom Desiderat einer kontrollierten Verzweiflung bewegten geistigen Situation unserer Zeit zu kompensieren.13 Und wollte nicht auch Nietzsche jedenfalls einen, den „weisesten" Typus des Übermenschen dadurch ausgezeichnet wissen, daß er, übrigens „nothwendig Skeptiker", die größten Gegensätze in sich vereint? „Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegensätze und aus deren Gefühle gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung, entsteht".14 Wer eine derart abwägende und ausgleichende Erörterung für überflüssig oder gar undurchführbar hält, sollte sich daran erinnern lassen, daß die
13
Auch die bisher vorliegenden Darstellungen sind, durchweg mit Erfolg und Scharfsinn, um den Nachweis bemüht, daß Nietzsches vordergründig die Texte beherrschende Attakken auf Kant ein im Grunde positives Verhältnis zu seiner Kritik keineswegs ausschließen; eine detaillierte Untersuchung von Übereinstimmung und Diskrepanz — wie sie hier angestrebt wird — liegt allerdings noch nicht vor. Besonders sind zu nennen: Otto Ackermann, Kant im Urteil Nietzsches, Tübingen 1939; J ö r g Salaquarda, Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie, in: M. Lutz-Bachmann (Hg.), Über Friedrich Nietzsche. Eine Einführung in seine Philosophie, Frankfurt/M. 1985, 27 ff. Auch John T. Wilcox, Truth and Value in Nietzsche, Michigan 1974, sieht das Verhältnis positiv; ähnlich Ruediger H. Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge, Berlin — New York 1977. Sogar die vergleichenden Untersuchungen zur Ethik sehen bei aller Gegensätzlichkeit durchaus Entsprechungen: Walter Etterich, Die Ethik Friedrich Nietzsches im Crundriß im Verhältnis zur Kantischen Ethik. Diss. Bonn 1914; Siegfried Kittmann, Kant und Nietzsche. Darstellung und Vergleich ihrer Ethik und Moral, Frankfurt/M. 1984. Vgl. auch Anm. 15. Mehr den schon persönlich bedingten Gegensatz, aus dem Nietzsche freilich seine Position entwickelt, betont Olivier Reboul, Nietzsche critique de Kant, Paris 1974. Neuerdings beleuchtet eine Vortragsreihe das Verhältnis von Nietzsche und Kant unter der Fragestellung, ob und wieweit die — sei es gegensätzlichen, sei es vom Späteren fortentwickelten — Ansätze beider Denker als „Vorspiel einer künftigen Weltauslegung" angesehen und herangezogen werden können: Jörg Albertz, Kant und Nietzsche — Vorspiel einer künftigen Weltauslegung? Schriftenreihe der freien Akademie, Band 8, Wiesbaden 1988. Zuletzt hat noch einmal J . Simon eine Annäherung beider Denker aus der Sicht einer „Krise des Wahrheitsbegriffs" versucht, auf welche die „Krise der Metaphysik" zurückgeführt wird: Josef Simon, Die Krise des Wahrheitshegriffs als Krise der Metaphysik, Nietzsches Alethiologie auf dem Hintergrunde der Kantischen Kritik, in: Nietzsche-Studien 18 (1989) 242 ff.
14
K G W VII 35 [18], VIII 11 [48], Zum Doppelaspekt in der Idee des Übermenschen s. bes. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin —New York 1971, 116 ff.
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erste öffentliche Anerkennung, die Nietzsche im Kreise der akademischen Philosophie fand, ihm gerade von führenden Vertretern der Bewegung „Zurück zu Kant" zuteil wurde, welche eine Erneuerung der originären kritischen Philosophie anstrebte. Eine Anerkennung, die nicht nur Nietzsches auf den ersten Blick eher destruktiven als konstruktiven, gelegentlich sogar konfus erscheinenden Reflexionen zum Erkenntnisproblem galt, sondern diese ausdrücklich als legitime, wenn auch hier und da überzogene Fortsetzung und Verfeinerung der kritischen Philosophie verstand. Schon A. Riehl, der — Verfasser einer umfangreichen Darstellung des philosophischen Kritizismus — früh eine knappe Würdigung Nietzsches als „Künstler und Denker" (1897, 5 1923) vorlegte, ist diesem Kreis zuzurechnen, dem auch R. Richter nahestand, der wenig später Nietzsches biologisch-skeptische Erkenntnistheorie als Grundlage seiner Ethik ansah. Vor allem aber ist an R. Eisler, den späteren Herausgeber des klassischen Kant-Lexikons, sowie an H. Vaihinger, den angesehenen Kant-Forscher, Begründer der Kant-Studien und der Kant-Gesellschaft zu denken; untersuchte jener Nietzsches Erkenntnistheorie und Metaphysik, wobei er explizit von der Feststellung ausging, daß „Nietzsches Methode . . . im Grunde die des Kritizismus" sei, so konnte Vaihinger bei seiner Deutung des transzendentalen Ansatzes als einer Philosophie des Als Ob im Anhang ausführlich auf (Lange und) Nietzsche verweisen, um den „Willen zum Schein" als nicht sowohl unvermeidbares denn brauchbares Vehikel des Philosophierens weiter zu belegen. 15 Alle diese Bemühungen sind keineswegs blind gegen Übertreibungen und Einseitigkeiten, Schwächen und Entgleisungen Nietzsches, in dessen Lehre Eisler „Wahrheit und Irrtum gemischt" findet, aber sie sind nicht nur bereit, ihn philosophisch ernst und beim Wort zu nehmen, sehen vielmehr seine Kritik durchaus als Vertiefung derjenigen Kants an, dessen Intentionen ebenso der Erweiterung zu einem „idealistischen Positivismus" (Vaihinger) wie einer Verfeinerung durch die „psychologische Methode" (Eisler) fähig und bedürftig seien. Es gilt daher — gerade in der gegenwärtigen Ratlosigkeit eines Schwankens zwischen postmoderner Verzweiflung und verzweifeltem Modernismus, Verzweiflung an der einsehbaren Wahrheit und dem verzweifelten Bemühen um eine neue Metaphysik, das aber eher vom Willen zur Macht gefährdet wird als vom Willen zur Wahrheit getragen scheint — ebenso Nietzsche durch Kant zu disziplinieren, um den systematischen Ertrag seines Ringens zu gewinnen und zu salvieren,
15
Alois Riehl, Friedrieb Nietzsche, Der Künstler und der Denker, Stuttgart 1897, =1923. Raoul Richter, Friedrich Nietzsche. Sein Leben und sein Werk, Leipzig 1971 (280). Rudolf Eisler, Nietzsches Erkenntnistheorie und Metaphysik, Leipzig 1902 (3 f.). Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als-Ob, Leipzig 1911, 101927, vgl. dazu den Schluß dieser Arbeit.
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wie andererseits Kants kritische Philosophie mit jenem von Nietzsche eingebrachten „Leben" zu erfüllen, das immer wieder in ihren Formalismen und Rigorismen verloren zu gehen droht. Unter dem Gesichtspunkt dieser Zielsetzung der Betrachtung gewinnen dann die bekannten Äußerungen Nietzsches aus seiner Frühzeit eine weit tiefere, allgemeine und nicht so leicht aufzugebende Bedeutung, als man gemeinhin, nicht zuletzt aufgrund der späteren ausdrücklichen Zurücknahme durch den Philosophen selbst, annimmt. So rühmt Nietzsche in der Geburt der Tragödie (1872), also kurze Zeit nach seiner ersichtlich unkritischen Aneignung des Kritizismus, aber schon in Verfolg seines lebenslangen Kampfes gegen den „Sokratismus" und den im Dienste der Wissenschaft stehenden „theoretischen Menschen", daß der „ungeheuren Tapferkeit und Weisheit Kant's und Schopenhauer's... der schwerste Sieg gelungen" sei, „der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist"; gründet dieser Optimismus seinen Glauben „an die Erkennbarkeit und Ergründlichkeit aller Welträthsel", womöglich „an eine Correctur der Welt durch das Wissen", wohl gar auf „Raum, Zeit und Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster Gültigkeit", so habe gerade Kant gezeigt, „wie diese eigentlich nur dazu dienten, die blosse Erscheinung .. . zur einzigen und höchsten Realität zu erheben und sie an die Stelle des innersten und wahren Wesens der Dinge zu setzen und die wirkliche Erkenntniss von diesem dadurch unmöglich zu machen". Es überrascht zwar, daß Kant hier unversehens zum Wegbereiter einer — jedenfalls auf seiner Position aufbauenden — „tragischen Kultur" stilisiert wird, „deren wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird", welche sich „durch die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaft" nicht länger über die Undurchschaubarkeit von Leben und Welt wie über die Unbehebbarkeit des Leidens hinwegtäuschen läßt. Aber man kann doch unbedenklich zustimmen, wenn Kant dadurch zum wichtigsten Zeugen dafür wird, daß und wie „grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benutzen gewusst" haben, „um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen". Und wenn Nietzsche aufgrund dieser Restriktion wiederum einer ästhetischen Betrachtung der Welt, welche immer noch deren Rechtfertigung betreiben soll — „denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein der Welt ewig gerechtfertigt" —, den Vorrang vor einer moralischen Bewertung des Lebens geben möchte, so bleibt festzuhalten, daß erst die „geradezu . . . in Begriffe gefaßte dionj/sische
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Weisheit", mit ihrem Nachweis der Grenzen wissenschaftlicher Sokratik, ihrerseits jene „unendlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragen und der Kunst" ermöglicht hat. „Erinnern wir uns sodann, wie dem aus den gleichen Quellen strömenden Geiste der deutschen Philosophie, durch Kant und Schopenhauer, es ermöglicht ward, die zufriedne Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen, zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die in Begriffe gefasste dionysische Weisheit bezeichnen können.. ," 16
Wie man weiß, hat Nietzsche später die auf diese Weisheit gegründete „Artisten-Metaphysik" ausdrücklich zurückgenommen, — nicht zuletzt deshalb, weil er erkannte, daß er in ihr nur „mühselig mit Schopenhauerschen und Kantischen Formeln fremde und neue Werthschätzungen auszusprechen suchte, welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen giengen." Aber diese Zurücknahme gilt offensichtlich mehr dem Schopenhauerschen „Resignationismus", gerade in seiner über Kant hinausgehenden pessimistischen Metaphysik, als der Grundlegung durch einen Kritizismus, dessen Grenzsetzung der Erkenntnis Nietzsche mit der Einsicht, daß „alles Leben . . . auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit des Perspektivischen und des Irrthums" beruhe, noch unterbieten möchte; allerdings verbietet die so gewonnene Optik eines „essentiell unmoralischen", rational nicht festlegbaren Lebens dann ebenso jede moralische Reglementierung wie die Flucht in eine lebensfeindliche Religion. Übrigens irrt der Philosoph selbst, wenn er „die Tiefe dieses widermoralischen Hanges" der Frühschrift „am besten aus dem bedeutsamen und feindseligen Schweigen ermessen" will, „mit dem in dem ganzen Buche das Christenthum behandelt ist"; zeigt er doch dort durchaus Verständnis dafür, daß der falsch verstandene „Schein der .griechischen Heiterkeit' . . . die tiefsinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christenthums so empörte". Gewiß „verdarb" sich Nietzsche „das grandiose griechische Problem . . . durch die Einmischung der modernsten Dinge", setzte er vor allem die Wiedergewinnung einer tragischen Sicht in der Romantik der eher als „benebelndes Narkotikum" denn als dionysische Befreiung wirksamen Musik Richard Wagners zu früh an; aber in seinem Suchen nach letzter Wahrheit bleibt er durchaus auf der kritischen Linie — bis hinein in die hochmoderne Aufdeckung von Problem und Problematik der Wissenschaft, deren überhöhter Anspruch in der Tat nicht nur „Furcht und Ausflucht vor dem 16 GT 17-19, 5, 24
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Pessimismus", sondern ebenso eine „feine Nothwehr gegen — die Wahrheit" sein könnte. 17 Schließlich ist Nietzsche die Problematik eines strengen Philosophierens, das den Menschen auf die begrenzte Erkenntnis festlegt, dieser aber gleichwohl die endgültige Entscheidung über die „ersten und letzten Dinge" zutraut, für die sie gar nicht zuständig ist, vollauf bewußt; soll „unsere Philosophie nicht zur Tragödie" werden, weil sie alle Wünschbarkeiten abschneidet, wird sich das Desiderat einer Verdrängung ihrer Resultate so wenig abweisen lassen wie das Postulat einer ideellen Entfaltung über sie hinaus. 18 Daher wird zwar vom „Philosophen der tragischen Erkenntniß" — dessen Tragik in der Einsicht gründet, daß man „selbst die Illusion wollen ... muß" — vornehmlich eine „Bändigung des Erkenntnißtriebes", quantitativ wie qualitativ, erwartet, aber im Prinzip offen gelassen, ob dies „χμ Gunsten einer Religioni Oder einer künstlerischen Kultur" geschehen soll, wenn auch Nietzsche persönlich zur zweiten Lösung tendiert. In diesem Zusammenhang wird Kant dann sogar vorgehalten, daß er „in gewissem Sinne mit schädlich eingewirkt" habe, insofern durch seine Kritik „der Glaube an die Metaphysik . . . verloren gegangen" sei: „Ich spreche vom größten Unglück der neueren Philosophie — von Kant"; diesen treibt jedoch geradezu „eine Kulturnoth", das Gebiet der freien Entfaltung des Geistes „vor dem Wissen retten" zu wollen, weshalb er — nach dem bekannten, von Nietzsche häufig zitierten Wort aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik (Β X X X ) — es „aufheben" mußte, „um %um Glauben Plat% bekommen". Für Nietzsche ist das ein „sonderbarer Gegensatz", der den Griechen fremd gewesen sei und einem Modernen — der zu wenig an das Wissen glaubt, um sich von ihm den Glauben ausreden zu lassen — „Kant merkwürdig" erscheinen läßt; weil dieser die „Uberwindung des Wissens durch mythenbildende Kräfte" nicht akzeptieren mag, kann er auch die „innerste Verwandtschaft der Philosophen und Religionsstifter" nicht erkennen, muß er sogar, wie immer eingewandt wird, die Kunst der Wahrheitsbedingung der Interesselosigkeit unterwerfen. 19 Andererseits weiß Nietzsche — stets schwankend, Wissenschaft nur „unter der Optik des Lebens" treiben, dieses jedoch nur als „Mittel der Erkenntniss" ertragen zu können — jedoch sehr genau, daß der Mensch kaum „bewußt in der Unwahrheit bleiben", weshalb es letztlich „keine aparte Philosophie, getrennt von der Wissenschaft" geben könne. Während aber
17 18
19
GT, Versuch einer Selbstkritik 1, 5 - 7 , G T 11 M A I, Titel des Ersten Hauptstücks, dessen letzter Aphorismus 34 f ü r Nietzsches zwiespältige Einstellung zur Erkenntnis bezeichnend ist (Anm. 71). K G W III 19 [34], [35], [28], [62]; G M III 6 u. ö.
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die Wahrheit des „unbeweisbaren Philosophierens" in ihrem Wert — in der Tragfähigkeit ihrer Sinngebung — liegt, liegt der Wert der Wissenschaft in der Tatsache, daß sie so etwas wie beweisbare Wahrheit ermöglicht, — eine Wahrheit, auf die, wie sich zeigen wird, auch und gerade der Mensch bei der „Schöpfung neuer eigener Gütertafeln" nicht verzichten kann. 20 Und im Zuge dieser Argumentation wird es dem Philosophen dann sogar fraglich, ob und wie weit es sich beweisen läßt, „daß alle Weltconstruktionen Anthropomorphismen sind", woraus sich ein Zirkelschluß konstruieren ließe: „haben die Wissenschaften Recht, so stehen wir nicht auf Kant's Grundlage: hat Kant Recht, so haben die Wissenschaften Unrecht"; schließlich sei, „gegen K a n t . . . dann immer noch einzuwenden, daß, alle seine Sätze zugegeben, doch noch die volle Möglichkeit bestehen bleibt, daß die Welt so ist, wie sie uns erscheint". Immerhin habe der Mensch „auch die Kantische Erkenntnißtheorie . . . sofort zu einer Glorifikation des Menschen benutzt", wenn er feststellen durfte, daß „die W e l t . . . nur in ihm Realität hat"; dann aber sei er an die materiale Herkunft der „Formen des Intellekts" zu erinnern, die es wahrscheinlich mache, „daß sie streng der Wahrheit adäquat sind". So bleibt „das tragische Problem Kants" bestehen, — einerseits im Schwanken zwischen dem berechtigten Anspruch der Wissenschaft und dem Recht der Philosophie, ihren „Werth zu bestimmen", will sagen: ihre Grenzen, auch diejenigen ihres „Wachsthums" festzulegen; andererseits aber auch in der UnUnterscheidbarkeit zwischen der unbewußten „Lüge" der Erkenntnis und der unabweisbaren Nötigung, über sie noch bewußt im künstlerischen Entwurf hinauszugehen. „Ganz wahrhaftig zu sein — lügenhaften Natur! Aber nur tragische Problem Kants! Jetzt Wissenschaften dagegen sind
herrliche heroische Lust des Menschen, in einer sehr relativ möglich! Das ist tragisch. Das ist das bekommt die Kunst eine ganz neue Würde. Die einen Grad degradirt."21
Schon diese wenigen, gewiß flüchtigen und unzusammenhängenden, obschon keineswegs inkohärenten Bemerkungen lassen erkennen, daß Nietzsche nicht nur mit dem genuinen Anliegen Kants und der Idee seines Ansatzes zutiefst vertraut ist, sondern auch die eigenen Reflexionen durchaus als Weiterentwicklung und Vertiefung dieser Kritik, keineswegs aber als deren Widerlegung oder gar Gegenentwurf zu ihr versteht. Dieses Verständnis entspringt, auf den ersten Blick etwas befremdlich, wiederum dem Kampf des Philosophen gegen den „wissenschaftlichen Menschen" und dessen „Optimismus", sofern dieser, auch im Gewände eines rationalen Humanismus, theoretisch eine intellektuelle Aufklärung über das Dasein 20 21
GT, Versuch einer Selbstkritik 2; F W 324; M A I 34. K G W III 19 [76]; F W 335, s. u. K G W III 19 [125], [153], [24], [104]
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erwartet, sich notfalls mit deren Grenzen abfindet, und praktisch eine Veränderung von Leben und Welt nach dem Wunschdenken des Menschen anstrebt, wenigstens die Behebbarkeit des Leidens für erwünscht und möglich hält; 22 in dieser wie in jener Hinsicht weiß sich Nietzsche, noch einmal seltsam genug, zugleich dem „ E r n s t " des urchristlichen Ringens, der beides leugnet, wie der kritischen Philosophie verbunden, deren Skeptizismus beide Auswege wissenschaftlich unterbindet: So hält die kurze Zeit nach der Frühschrift entstandene erste Unzeitgemäße dem dort als „Bekenner und Schriftsteller" angegriffenen D. F. Strauss einerseits vor, er habe bei seinem, übrigens aus dem „Hegeischen Schlamm" entwickelten „BierbankEvangelium" des wissenschaftlichen Fortschritts „den ganzen furchtbar ernsten Trieb der Verneinung und die Richtung auf asketische Heiligung in den ersten Jahrhunderten des Christenthums" überhaupt nicht zu würdigen gewußt; andererseits wird „die rein unglaubliche Thatsache" vermerkt, „dass Strauss von der Kantischen Vernunftkritik für sein Testament der modernen Ideen gar nichts zu gewinnen wußte", weil er auch „nichts von der fundamentalen Antinomie des Idealismus und dem höchst relativen Sinne aller Wissenschaft und Vernunft" geahnt habe. Wie auf alle Gelehrten in der unbefangenen Emsigkeit ihrer wissenschaftlichen Arbeit, trifft auch auf Strauss jenes Wort eines Pascal zu, „dass die Menschen so angelegentlich ihre Geschäfte und Wissenschaften betrieben, um nur damit den wichtigsten Fragen zu entfliehen, . . . eben jenen Fragen nach dem Warum, Woher, Wohin"; gleichwohl habe Strauss im Grunde „nie aufgehört. .., christlicher Theologe zu sein und deshalb nie g e l e r n t . . . , Philosoph zu werden", — was bei einem Schriftsteller nicht verwundern dürfe, welcher „Kant als Kaltwasseranstalt" bezeichne. 23 Eindrucksvoll bestätigt wird dieser Doppelaspekt — einer koinzidierenden Bewältigung der Aufklärung durch künstlerische Verklärung oder philosophische Erklärung, aber auch religiös-existentielle Bewährung, und einer „Verzweiflung an der Wahrheit", welche, durch die Kantische Philosophie hervorgerufen oder begreiflich gemacht, diese Auswege nicht sowohl gestatte als fordere — in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung. Diese sieht als eine der großen Gefahren, von der, neben der Einsamkeit und der „Sehnsucht nach dem Heiligen", Schopenhauer bedroht war, diejenige an, die noch „jeden Denker . . . begleitet" habe, „welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt", sofern und soweit er sich
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Vgl. G T 15: „dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern zu corrigiren im Stande sei." L'B I, D S 12, dazu E H , Warum ich so gute Bücher schreibe, Die Unzeitgemässen 2; D S 6, 8, 9, 11
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ihrem „zernagenden und zerbröckelnden Skepticismus und Relativismus" ausgesetzt habe. Die Abhandlung verweist auf Heinrich von Kleist als einen der wenigen, welche diese „populäre Wirkung" der Kantischen Philosophie persönlich erfahren und ernst genommen haben, — im Gegensatz zu der weitgehend trivialisierten Akzeptierung der „Revolution" durch die „That dieses stillen Gelehrten" bei den Gebildeten seiner Zeit; „ja es scheint mir, als ob überhaupt nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig eingegriffen und Blut und Säfte umgestaltet habe". Doch diese Verzweiflung sei nötig, „um abzuschätzen, was uns, nach Kant, gerade Schopenhauer sein kann — der Führer nämlich, welcher aus der Höhle des skeptischen Unmuts oder der kritisirenden Entsagung hinauf zur Höhe der tragischen Betrachtung leitet, den nächtlichen Himmel mit seinen Sternen endlos über uns", — womit Nietzsches Hymnus unversehens, allerdings die tragische Betrachtung an die Stelle des moralischen Gesetzes setzend, in die Schlußworte der Kritik der praktischen Vernunft einmündet. Festzuhalten bleibt aber, daß die theoretische Gültigkeit des Kritizismus vollauf akzeptiert wird, um darauf das Desiderat einer neuen metaphysischen Konstruktion zu gründen, welche für die ästhetische Erbauung durch die Kunst ebenso Raum läßt, wie für die religiöse Erhebung, soweit diese jedenfalls in der mystischen Einheitserfahrung des Heiligen gewonnen wird. Mag auch Kant, eben weil er von solcher Befriedigung des metaphysischen Bedürfnisses nichts wissen wollte, nun doch wieder der Titel eines genuinen Philosophen abgesprochen werden, sofern eben ein „Gelehrter . . . nie ein Philosoph werden" könne, der dann „nicht nur ein grosser Denker, sondern auch ein wirklicher Mensch" sein müsse, so ist doch seine Kritik die unerläßliche Voraussetzung und der maßgebliche Wegbereiter für die Bewältigung der philosophischen Aufgabe, vor die sich Nietzsche gestellt sieht. 24 Eine Kritik, welche fortan nicht nur jede idealistische Metaphysik als „kecke Ignoranz" erscheinen läßt, sondern schon alle Ontologie im vorhinein verbietet, auf der seit Parmenides alle adäquate Erkenntnis aufbaut; derart, daß es, „wie Kant l e h r t , . . . unbedingt für das Subjekt unmöglich" sei, „über sich selbst hinaus etwas sehen und erkennen zu wollen". Und diese „Selbstvernichtung der Erkenntniß" bleibt davon unberührt, daß Nietzsche schließlich doch über sie hinaus zu neuen, freilich auf deren perspektivische Sicht begrenzten „Wahrheiten" fortschreitet; ja, sie ermöglicht allererst die Reflexion gegensätzlicher Entscheidungen, zu der sich der Philosoph gedrängt fühlt. „Die Selbstvernichtung der Erkenntniß und die Einsicht in ihre letzten Grenzen w a r das, was mich an K a n t und Schopenhauer begeisterte." 24
UB III, SE 5, 3, 7, vgl. M 481
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„Ich wäre nicht möglich ohne eine Gegensatz-Art von Rasse, ohne Deutsche, ohne diese Deutschen, ohne Bismarck, ohne 1848, ohne .Freiheitskriege', ohne Kant, ohne Luther selbst.. ,"25
Im Lichte dieser Erwägungen wird die Problematik der vielberedeten positivistischen Wende des Philosophen — von den einen als Gewinn eines kritischen Ansatzes begrüßt, von den anderen als Verlust metaphysischer Bemühungen bedauert — besonders durchsichtig: Zum einen geht sie mit ihrem Vorhaben, durch historisch-psychologische Analysen die „endgültige Widerlegung" der Metaphysik zu leisten, offensichtlich weit über Kants Kritik hinaus; vielleicht hätte hier eine Beachtung von Kants vorsichtigen Reflexionen über die Möglichkeiten einer Geschichtsphilosophie überhaupt wie auch seiner Bedenken gegen eine rationale Psychologie Nietzsche davon abgehalten, die Übertragbarkeit der naturwissenschaftlichen Methode auf die Geschichte für trivial zu halten. Zum anderen fällt diese ideologiekritische Aufklärung wiederum hinter die Kantische Kritik zurück, wenn sie nicht akzeptieren will, daß Wahrheit für den Menschen eben nur unter den Bedingungen seiner Erkenntnis und der Bedingtheit durch ihren Apparat möglich ist; so bereitet die Anerkennung Kants hier schon, entgegen dessen Warnung, Erscheinung als Schein bzw. Irrtum mißzuverstehen, die spätere destruktive Erörterung des Wahrheitsproblems vor: „Wenn Kant sagt, ,der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor', so ist diess im Hinblick auf den Begriff der Natur völlig wahr, welche wir genöthigt sind, mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als Vorstellung, das heisst als Irrthum), welcher aber die Aufsummirung einer Menge von Irrthümern des Verstandes ist."26.
Bei dieser überzogenen, im Grunde von einem überhöhten Wahrheitsanspruch ausgehenden Kritik entgeht dann allerdings dem Philosophen — und vielen seiner Anhänger — die eigene Tendenz zu einer neuen, wieder von einem naiven Realismus getragenen Dogmatik, die ihn nicht nur hinter Kant zurückfallen, sondern auch eine auffällig unkritische Tendenz in die eigene Lehre einfließen läßt. Das zeigt sich besonders bei der Erörterung des FreiheitsY>rob\cms, welche die strenge Gültigkeit der Kausalität ohne weiteres voraussetzt und mit der endgültigen Abweisung jeder Möglichkeit von Freiheit weit hinter Kants sorgsamer Untersuchung zurückbleibt; dies auch dann, wenn man mit ihm — der den kategorischen Imperativ utilitaristisch mißversteht — die eindeutige Lösung zugunsten eines unbedingten moralischen Gesetzes bezweifeln mag. Immerhin ist es 25 26
Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 11; K G W VII 7 [7], VIII 25 [7] M A I 19, 25; M A II 1 27; K G W III 19 [34]
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Nietzsche hier noch durchaus fraglich, ob man Kants Kritik ohne weiteres in den Dienst eines „feineren Obscurantismus" stellen kann, dessen Strategie spitzfindiger „Metaphysiker, welche die Skepsis vorbereiten und durch ihren übermäßigen Scharfsinn zum Misstrauen gegen den Scharfsinn auffordern", dem Philosophen selbst ja keineswegs fremd ist: „Ist es möglich, dass selbst Kant in dieser Absicht verwendet werden kann?" Noch einmal geht Nietzsche dabei der „berüchtigten Erklärung" aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Vernunftkritik nach, derzufolge diese „dem Glauben Bahn machen" wollte, dadurch, daß sie „dem Wissen seine Schranken wies"; ein Gegensatz, den er, wie gesagt, zwar schon früher als „sonderbar" empfunden, aber dahingehend verstanden hatte, daß Kant die „Kulturnoth" trieb, „ein Gebiet vor dem Wissen ... retten" zu müssen, — doch wohl, um die metaphysischen Entwürfe vor der Zerstörung durch eine Rationalität zu bewahren, deren Kritik sich aus der Einsicht in ihre Grenzen konstituiert. 26 Wird dort noch der metaphysische Ansatz, vorab derjenige Schopenhauers, als positives Korrelat zur transzendentalen Kritik verstanden, so gerät diese nun zunehmend in Verdacht, nicht nur einem idealistischen Überbau den Weg gebahnt zu haben, sondern der dezidierten Absicht, „den Intellekt zu entthronen, das Wissen zu köpfen — zu Gunsten des christlichen Glaubens". Allerdings bezahlt der Glaube seine höhere Wahrheit, mag er sie jenseits der Grenzen der Rationalität oder durch eine idealistische Einvernahme anstreben, mit einem vertieften Bewußtsein seiner Ungewißheit, ja einer möglichen Täuschung. Eine Theologie, welche sich so oder so auf die Aufklärung endlichen, aber verfügbaren Wissens stütze, könnte übersehen, „dass es keine geringe allgemeine Gefahr war, unter dem Anscheine der voll- und endgültigsten Erkenntniss des Vergangenen die Erkenntniss überhaupt unter das Gefühl hinabzudrücken." Soweit daher Kant — der ja eher um eine rationale Legitimierung des wenigstens regulativ begreiflichen Glaubens bemüht war — dieser Entwicklung, sei es als Wegbereiter für die Tübinger Stiftler, sei es zur philosophischen Begründung eines letztlich irrationalen Glaubens Vorschub geleistet hat, könnte er zu den „Geistern" der Deutschen gehören, welche, die Restauration nur als vertiefte Destruktion betreibend, die Aufhebung weiter getrieben haben, als es ihre Absicht gewesen ist. „Und seltsam: gerade die Geister, welche v o n den Deutschen so beredt beschworen wurden, sind auf die Dauer den Absichten ihrer Beschwörer am schädlichsten g e w o r d e n . . ," 27
Noch einmal scheint die Fröhliche Wissenschaft — fröhlich durch die „Genesung" von einem unbedingten Wahrheitsstreben, aber immer noch 27
K G W V 7 [34]; M 197 (wieder mit Erwähnung der Vorrede zur 2. Aufl. KrV)
Wille zur Macht oder Wille zur Wahrheit?
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einer Wissenschaft in den Bereichen verpflichtet, wo sie gültiges Wissen schafft — um einen Ausgleich zwischen strenger Erkenntnis und unverzichtbarem Dezisionismus bemüht: „Hoch die Physik!" heißt es am Ende des vierten Buches, und die Glorifizierung gilt einer Physik, welche die Erkenntnis „alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt" gestattet, wie sie auch und gerade für „die Schöpfung neuer eigener Gütertafeln" und ihre Schöpfer unerläßlich ist: „wir müssen Physiker sein, um in jenem Sinne Schöpfer sein zu können". Aber dieses Gleichgewicht setzt voraus, daß man die Grenzen beider Bereiche, des strengen Wissens und des gläubigen, aber bewußten „Schaffens" nicht verwischt, weder die objektive Allgemeinheit der physikalischen Gesetze miß-, womöglich verachtet noch verkennt, daß ihre Erkenntnis mit dem Verzicht auf nähere Bestimmung des „ A n sich" erkauft wird. An diesem Punkt entzündet sich jetzt die Kritik gegen den „alten Kant", dessen „ K r a f t und Klugheit" zunächst durchaus dafür gerühmt wird, den „ K ä f i g " fixierbarer, aber keine Erkenntnis verbürgender Begriffe im moralisch-religiösen Bereich „erbrochen" zu haben; der sich aber in diesen Käfig urückverirrt" habe, als er das Ding an sich dann doch wieder moralisch-religiös besetzte. Durch diese Übertragung der Allgemeinheitsforderung auf ein Sittengesetz — ohnehin eine Anmaßung der „Selbstsucht, . . . sein Urteil als Allgemeingesetz zu empfinden" — sieht Nietzsche nicht nur die dem Menschen immer wieder aufgegebene Schöpfung neuer Ideale gefährdet; er sieht darin einen Verstoß gegen das „intellectuale Gewissen", das — als „Gewissen hinter deinem ,Gewissen' " — einem nicht mehr rational legitimierbaren Gesetz der geistigen Welt den Gehorsam kündigen muß. Waren daher bisher „alle Werthschätzungen und Ideale auf Unkenntniss der Physik oder im Widerspruch mit ihr aufgebaut", indem sie ihre beliebige Verwirklichung in einer Welt kausaler Gesetzmäßigkeit voraussetzten, so kann die Selbstverwirklichung — „Wir aber wollen Die werden, die wir sind" — nie mehr als die Explikation der eigenen Natur sein, welche eine moralische Restriktion weder erfordert noch erträgt. 2 8 Damit ist freilich bereits der Grund für den Willen %ur Macht gelegt, dessen Selbstverwirklichung mit der „Selbstüberwindung" zugunsten der eigenen Werke beginnt, um in der Überwindung anderer zu enden, von denen man nun den „Gehorsam" erwartet, den man selbst verweigert. 2 9 28 29
F W 335, (2) Z u r G r u n d l e g u n g des Willens zur Macht s. bes. Z a I, Von tausend und Einem Ziele, II, Von der Selbst-Ueberwindung. D a z u : G e r d - G ü n t h e r Grau, Sublimierter und realisierter Wille zur Macht, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), 222 ff.; ausführlich dann in: G e r d G ü n t h e r Grau, Ideologie und Wille ζur Macht. Zeitgemäße Betrachtungen über Nietzsche, B e r l i n - N e w York 1984
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Zur philosophischen Begründung dieses Umschlages, welcher den eigentlichen Willen zur Macht konstituiert, bedarf es jedoch auch theoretisch der Aufhebung eines „Willens zur Wahrheit", dessen „intellektuelle Redlichkeit" — ohnehin weiter gegen fremde Setzungen ins Feld geführt, an deren Kritik sich ihr Gewissen gebildet hat — jetzt noch den absoluten Anspruch gefährden könnte, den man für die eigenen Werte erhebt. Und es ist bezeichnend, daß sogar diese Etablierung des Willens zur Macht ihre Usurpierung des Willens zur Wahrheit auf den umgedeuteten transzendentalen Ansatz stützt; denn wenn auch Zarathustra bei seiner poetisch verbrämten Darstellung keine Namen nennt, so ist doch ohne weiteres ersichtlich, daß und wie sich seine Theorie als Fortsetzung der Kantischen Kritik mit den Mitteln eben des Dezisionismus erweist, dessen wertphilosophische Ausprägung zuvor den moralischen Imperativ ersetzt hat: „ .Wille zur Wahrheit' heisst ihr's, ihr Weisesten, was euch treibt und brünstig macht? Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heisse ich euren Willen! Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen·, 'denn ihr zweifelt mit gutem Misstrauen, ob es schon denkbar ist. Aber es soll sich euch fügen und biegen! So will's euer Wille. Glatt soll es werden und dem Geiste unterthan, als sein Spiegel und Widerbild. Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht; und auch wenn ihr vom Guten und Bösen redet und von den Werthschätzungen.. ."30
Man sieht leicht, daß Nietzsche hier die Kantische Kritik wieder einerseits überzieht, indem er den funktionalen Formalismus, welcher immerhin allgemeine, wenn auch menschlich bedingte Wahrheit gestattet und ihre Möglichkeit erklärt, als materiale Überwältigung der Dinge versteht, von der überhaupt nicht einzusehen ist, wie ihre „Fälschung" so erfolgreich, ja lebensnotwendig für die Gattung sein könnte. Andererseits verwischt Nietzsche offensichtlich bewußt die kritische Grenze zwischen immanenter, durch ihr Gelingen ausgewiesener Erkenntnisbemühung, deren allgemein interessierende Wahrheit mit dem Verzicht auf alles Interesse des Menschen erkauft wird, und einem transzendenten Anspruch, der dieses Interesse vertritt, ohne — vom moralischen Problem bis zur Sinnproblematik — zu allgemein gültigen oder auch nur anerkannten Aussagen gelangen zu können. Indem Nietzsche diesem eigentlich metaphysischen Interesse den Vorrang gibt, muß er dem absoluten Anspruch seiner Befriedigung das Wort reden, — den er als Willen zur Macht ebensowohl entlarvt — wo er als Wahrheit auftritt — wie fordert, — wenn er sich zu seinem Machtstreben bekennt. In jedem Fall muß er die bedingte, aber strenge Erkenntnis — sei es um ihre Kritik abzuwehren, sei es um ihren 30
Za II, Von der Selbst-Ueberwindung
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Anspruch zu restringieren — weiter relativieren, am Ende auf den Willen zur Macht zurückführen, — für dessen Interpretation und Forderung dann die Stringenz beansprucht werden darf, welche jene Erkenntnis auszeichnet; so oder so darf er, wie schon dargelegt, eine Grenze der Vernunft weder feststellen noch akzeptieren, weil er sich mit ihren Ergebnissen weder diesseits noch jenseits dieser Grenze zufriedengeben kann. Allerdings sollte man sich auch von Nietzsche — der hier im Grunde wieder mit Kant einig ist — warnen lassen, jenseits der Grenze strenger Erkenntnis den Anspruch auf eine höhere Wahrheit zu erheben, hinter dem dann in der Tat der Wille zur Macht lauern könnte; wie man auch mit ihm gegen Kant durchaus Bedenken tragen darf, den Freiraum, welche die funktionale Erkenntnis beläßt, nicht nur für eine jedenfalls praktisch zu postulierende Freiheit zu reklamieren, sondern diese sogleich mit einer unbedingten Forderung zu besetzen, welche auf menschliche Bedingungen keinerlei Rücksicht nimmt. Vollends verständlich wird Nietzsches sich wandelnde Einstellung zu Kant — in ihrer Entwicklung von akzeptierter Kritik zu kritischer Distanzierung — jedoch erst im Lichte derjenigen Idee, für deren historische Wirksamkeit die Transzendentalphilosophie geradezu zum Kronzeugen wird, — die Idee der „Selbstaufhebung" aller „grossen Dinge": „Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung". 31 Nietzsche will mit dieser Idee den Sachverhalt ausdrücken, daß die großen Dinge letzter Sinngebung, in endgültiger Interpretation der Welt und unbedingter Wertsetzung, der Auflösung durch eben die intellektuelle Redlichkeit erliegen, die sie selbst zur Bestätigung ihrer Gewißheit fordern und fördern; diese zerstört aber gerade jenen absoluten Anspruch, den sie immer neu begründen soll, aber nun auf ihre menschlich-allzumenschliche Basis, zuletzt auf den Willen zur Macht, zurückführt. Die historische Entwicklung — die Nietzsche vor allem an der deutschen protestantischen Philosophie nachzeichnet — ist dann die geschichtliche Ausprägung dieser immer wieder verzögerten und erneuerten Bewegung, welche, wie bemerkt, die Restauration nur als kritische Destruktion gelingen läßt. Das Ende dieser Entwicklung will, von ihr getragen, der Philosoph selbst herbeiführen, der freilich übersieht, daß lediglich der absolute Anspruch für Interpretation und Werte der Redlichkeit erliegt, die für relatives Wissen, auf das sie sich stützt, ebenso 31
FW 357 u. GM III 27; schon die wörtliche Wiederholung deutet an, daß Nietzsche die tragende Bedeutung seiner Idee der Selbstaufhebung, welche noch seine eigene Position einschließt, vollauf bewußt ist. Ausführlich dazu: Gerd-Günther Grau, Christlicher Glaube und intellektuelle Redlichkeit. Eine religionsphilosophische Studie über Nietzsche, Frankfurt a. M. 1958; dort ein Abschnitt über Kant, 39 ff., s. u. S. 236 f.
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Raum läßt, wie sie für einen sich als solchen verstehenden Glauben Platz schafft, ja sogar so etwas wie ein allgemeines Sittengesetz gestattet. Jedenfalls ist der Philosoph aber seinerseits redlich genug, die Abschaffung des Willens zur Wahrheit zu fordern, wenn und soweit den Ideen und Forderungen des Willens zur Macht Geltung verschafft werden soll, umgekehrt diesen Willen offen zu bekennen, wenn und soweit der Mensch auf seinen Anspruch nicht verzichten kann. Auch Kant hält, wie man weiß, diesen Anspruch — auf Abschluß der Erkenntnis im Unbedingten — für „unhintertreiblich" (KrV, Β 354), dringt aber auf einen bloß regulativen Gebrauch seiner Ideen, der allerdings im unbedingt gebietenden moralischen Imperativ noch einmal durchbrochen wird. Nietzsche sieht dagegen — auf den moralisch-religiösen Gegner fixiert, zudem ohnehin mehr wertphilosophisch als ethisch orientiert — den konstitutiven Gebrauch der Ideen generell als unverzichtbar, in der Geschichte allein wirksam an, möchte ihn lediglich durch das offene Bekenntnis zum Willen zur Macht getragen und durchgesetzt wissen; deshalb muß ihm Kants Entwurf zugleich als Höhepunkt in und „feinster Ausweg" aus der Geschichte der Entwicklung der und zur intellektuellen Redlichkeit erscheinen, welche die Selbstaufhebung nach sich zieht. Einen vorläufigen Höhepunkt intellektueller Redlichkeit stellt Kants Position für Nietzsche insofern dar, als hier im Grunde jede rationale Begründung des Absoluten, wenn auch nicht für den Glauben an es, und seine Werte, für die nur ein formales Gesetz bestehen bleibt, aufgegeben ist; kann jenes nur mehr als Kompensation des Agnostizismus verstanden, ja als „Fragezeichen" angebetet werden: „wer dürfte es nunmehr den Agnostikern verargen, wenn sie, als Vertreter des Unbekannten und Geheimnissvollen an sich, das Fragezeichen selbst jetzt ... anbeten?",
so kann dieses Gesetz den Mangel an intellektuellem Gewissen nur mehr dadurch verdecken, daß es der Vernunft praktisch die Aufgabe stellt, die sie theoretisch nicht zu erfüllen vermag: „Zuletzt hat noch Kant, in ,deutscher' Unschuld diese Form der Corruption, diesen Mangel an intellektuellem Gewissen unter dem Begriff .praktische Vernunft' zu verwissenschaftlichen versucht: er erfand eigens eine Vernunft dafür, in welchem Falle man sich nicht um die Vernunft zu kümmern h a b e . . ," 32
Daß diese Säkularisierung des religiösen Gebots zum moralischen Gesetz nicht nur keine Aufweichung der asketischen, gegen das Leben gerichteten Forderung bedeutet, sondern geradezu deren vertiefte, weil 32
GM III 25; AC 12
Wille zur M a c h t o d e r Wille zur Wahrheit?
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scheinbar vernunftgemäße Begründung betreibt, wurde schon eingangs sichtbar; auch „der kategorische Imperativ riecht nach Grausamkeit", weil er sich nicht sowohl gegen alle natürlichen Instinkte als vielmehr gegen alles persönliche Interesse des einzelnen wie der Völker wendet, weshalb sein Gesetz „niemals Gewohnheit und Sitte" werden kann. Immerhin ist aus dem unbedingten Vertrauen Luthers, es müsse „ein Wesen geben, dem der Mensch unbedingt vertrauen könne", auf dem „Umweg um die Moral" der unbedingte Gehorsam gegen ihr Gesetz geworden: „Der Mensch muss etwas haben dem er unbedingt gehorchen kann." Und Nietzsche verurteilt geradezu mit Schopenhauer die „Kantische Abgeschmacktheit" eines unpersönlichen Sittengesetzes, bei dessen Forderung nicht nur jede persönliche Befriedigung, sondern auch „Mitempfindung und sociale Empfindung" ausgeschlossen werde. Der Philosoph trifft hier gewiß einen schwachen Punkt der — ohnehin unüberprüfbaren — Gesinnungsmoral, in welcher immer das religiöse Gewissen mitschwingt, das, so leicht aus einer ethischen Sinnerfüllung zum Lohn-Strafe-Prinzip abgleitend, eher von der Nötigung der Pflicht — „dass die Pflicht immer etwas lästig falle . . . " — als von der Einsicht in die vernünftige Notwendigkeit moralischen Handelns getrieben wird. 3 3 Und man sollte nicht übersehen, daß es Nietzsche im Grunde keineswegs um die Abschaffung einer moralischen Forderung überhaupt, sondern vornehmlich um die Ermäßigung ihres Anspruchs, vor allem um die Aufhebung ihres Zwanges geht; gegenüber einem ebenso unbestimmbaren wie unentrinnbaren religiösen Gebot stellt sich ihm „das eigentliche Problem vom Menschen" gerade in der „paradoxen Aufgabe", ein „Thier heranzuzüchten, das versprechen darf, aber dies nicht immerfort und unbedingt tun muß. Dabei vergißt freilich wiederum der Philosoph — der sogar den Machtwillen auf Selbstüberwindung gründet — seinerseits leicht, daß der Geist nicht nur überhaupt zur menschlichen Natur gehört, sondern seine Aufgabe wesentlich in der „Bändigung", wenn auch nicht der „Exstirpation der Leidenschaften" besteht, wozu das religiös motivierte Gebot so oft zu tendieren scheint, welche Aufgabe aber in jedem Falle praktisch einschneidende Eingriffe der Vernunft in das Leben erfordert: „Und diess Geheimniss redete das Leben selber zu mir: ,Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss.' " „Geist ist das Leben, das selber ins Leben schneidet: an der eignen Q u a l mehrt es sich das eigne Wissen — wusstet ihr das schon?" 3 4
33
M 132, 207, 339; G M II 6. In der A b l e h n u n g des Mitleids ist N i e t z s c h e dann allerdings w i e d e r mit K a n t einig.
34
G M II 1; K G W V I I I 14 [163]; Z a II, V o n der S e l b s t - U e b e r w i n d u n g , Von den b e r ü h m t e n Weisen
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Da der Philosoph aber an der Unverzichtbarkeit des absoluten Anspruchs festhält, hinter dem er den Willen zur Macht sieht und bekennt, muß er die Kantische Verallgemeinerung des Sittengesetzes wiederum als Versuch einer erneuten Unterwerfung unter eine bestimmte Wertordnung ansehen; um so mehr, als die alten Ideale dieser Moral ja eingestandenermaßen immer noch und immer wieder den Übergang von einer theologischen Moral in eine moralische Theologie lancieren, welche das Leben von einem, wenn auch immanenten, so doch auf ihre Grenzen gegründeten „Jenseits der Vernunft" bestimmt sein läßt. „Die Rückbewegung auf Kant in unserem Jahrhundert ist eine Rückbewegung £um 18. Jahrhundert; man will sich ein Recht wieder auf die alten Ideale und die alte Schwärmerei verschaffen, — darum eine Erkenntnißtheorie, welche ,Grenzen setzt', d. h. erlaubt, ein Jenseits der Vernunft nach Belieben an^uset^en."35
Und gerade an diesem Punkt, wo Kant nicht nur den „erkenntnißtheoretischen Skeptizismus der Engländer" in den Dienst der „moralischen und religiösen Bedürfnisse der Deutschen" stellt, sondern wie Pascal „sogar die moralistische Skepsis bemüht, um das Bedürfniß nach Glauben zu excitiren", bedeutet der transzendentale Ansatz eine ernsthafte Gefahr für das Fortschreiten der intellektuellen Redlichkeit zur endgültigen Absage an objektiv begründete Werte und religiöse Ideen. Diese Gefahr wird schon an der Entwicklung des und zum deutschen Idealismus deutlich, der zwar die Emanzipation von den Theologen durch die Säkularisierung des transzendenten Ideals vorantreibt, aber zugleich, wie schon vermerkt, durch die transzendentale Begründung der Theologie einen geradezu wissenschaftlichen „Schleichweg" zum alten, jetzt jedenfalls endgültig nicht mehr zu widerlegenden Ideal eröffnet, — „dank einer verschmitzt-klugen Skepsis", welche eine Rückkehr zur „wahren Welt" gerade durch den Nachweis der nur beschränkten Gültigkeit einer Wahrheit in der Welt ermöglicht. „Gewiss ist, dass alle Art Transcendentalisten seit Kant wieder gewonnenes Spiel haben — sie sind von den Theologen emancipirt — welches Glück! er hat ihnen jenen Schleichweg verrathen, auf dem sie nunmehr auf eigne Faust und mit dem besten wissenschaftlichen Anstände den ,Wünschen ihres Herzens' nachgehen dürfen." „Woher das Frohlocken, das beim Auftreten Kants durch die deutsche Gelehrtenwelt gieng, die zu drei Vierteln aus Pfarrer- und Lehrer-Söhnen besteht —, woher die deutsche Überzeugung, die auch heute noch ihr Echo findet, dass mit Kant eine Wendung zum Besseren beginne? Der Theologen-Instinkt im deutschen Gelehrten erriet, was nunmehr wieder möglich w a r . . . Ein Schleichweg zum alten Ideal stand offen, der Begriff ,wahre Welt', der Begriff der 35
K G W VIII 9 [178]
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Moral als Essen^ der Welt . . . waren jetzt wieder, dank einer verschmitztklugen Skepsis, wenn auch nicht beweisbar, so doch nicht mehr widerlegbar.. ,"36
Die letzten Worte machen noch einmal deutlich, weshalb Kant — weit über den idealistischen Rückfall hinaus — für Nietzsche die entscheidende Wende in der Behandlung der religiösen Frage bedeutet und die Heraufkunft eines redlichen Atheismus lange Zeit, w o nicht für immer verhindert haben könnte; derart, daß er zwar die rationale Begründung eines objektiven Anspruchs der religiösen Idee unterbindet, aber zugleich der Rationalität das Recht abspricht, über sie endgültig kritisch zu befinden. Setzt er in jener Hinsicht das latente Zerstörungswerk Luthers fort, der bereits die Gültigkeit des katholischen D o g m a s und seines fixierten Moralkodex bestritt, auch den Institutionen ihre Unfehlbarkeit absprach, so verweigerte er doch der Vernunft die letzte Konsequenz in der Aufhebung eines im Grunde absurden Glaubens, dessen Gebot seine Unlegitimierbarkeit mit der Unlimitierbarkeit bezahlt. Ja, indem der neuerliche „Obscurantismus" nicht mehr „die Aufhellung der Geister zu hintertreiben", sondern umgekehrt „durch die höchste Verfeinerung des Intellects einen Ueberdruss an dessen Früchten zu erzeugen" versucht, liefert die transzendentale Dialektik Kants geradezu die philosophische Legitimation für die dialektische Theologie Luthers. So versteht man Nietzsches grundsätzliche Anklage, die Deutschen hätten „die unsauberste Art Christentum, die es gibt, die unheilbarste, die unwiderlegbarste, den Protestantismus auf dem Gewissen", und man begreift, weshalb der Philosoph seinen Landsleuten vorwirft, nach Luthers zweideutiger Wiederherstellung des Christentums — und Leibniz' theologischer Rechtfertigung einer vernünftigen Welt — mit ihrer in Kant gipfelnden Philosophie die Entwicklung der und zur intellektuellen Rechtschaffenheit entscheidend aufgehalten zu haben. „Kant war, gleich Luther, gleich Leibnitz, ein Hemmschuh mehr in der an sich nicht taktfesten deutschen Rechtschaffenheit." — „Wenn man nicht fertig wird mit dem Christenthum, die Deutschen werden daran schuld sein."37
Jedenfalls gewährleistet die Emanzipation von der protestantischen Theologie im Falle Kants ebensowenig einen Bruch mit dem theologischen Ideal und ihrem moralischen Idealismus wie Luthers Angriff auf die katholische Kirche, — der ja auch der Erneuerung des religiösen Anspruchs dienen sollte. Im Gegenteil, zufolge der radikalen Wendung von
36
37
K G W VIII 9 [3]; G M III 25; A C 10 ( K G W VII 34 [82], J G B 11). Die Herkunft aus dem protestantischen Pfarrhaus trifft natürlich auch auf Nietzsche zu, der sich freilich wieder auf die „Selbstaufhebung" berufen könnte (Anm. 31). M A II 1, 27; A C 10, 1 1 , 61
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einer unsicher gewordenen Gewißheit zu einer g e w i ß gewordenen Unsicherheit schlägt bei beiden Denkern gleichsam die Flamme der Skepsis zurück; derart jedoch, daß die Absurdität, die der Lutherische Fideismus noch durch den personalen Versöhnungsglauben aushalten mag, bei Kant von der intellektuellen Ebene auf diejenige des Intellekts verlagert und damit jede Entscheidung zwischen den Interpretationen ausgeschlossen ist. „Feinster Ausweg: der Kantische Kriticismus. Der Intellekt stritt sich selbst das Recht ab sowohl 2ur Interpretation in jenem Sinne als zur Ablehnung der Interpretation in jenem S i n n e . . . "
Dabei macht es keinen Unterschied, daß es für Nietzsche im Grunde gar nicht theoretisch um die „Wahrheit" des Christentums, sondern um den „Werth seiner M o r a l " für die praktische Bewältigung des Lebens geht; es bleibt ja ohnehin offen, ob die Interpretation die Werte begründet oder diese jene bestimmen. Während aber die erstere eine zwar unwiderlegbare, aber auch unverifizierbare und insofern letztlich unverbindliche Auslegung der Welt und des Geschehens über deren Erkennbarkeit hinaus bietet, fordern die letzteren eine Verbindlichkeit für das Handeln, deren Anspruch um so strenger ist, je w e n i g e r er sich an der erkennbaren Wirklichkeit orientieren kann und darf. Der Rigorismus der Kantischen Ethik verrät mithin nicht nur ihre religiöse Herkunft, sondern resultiert auch aus der Tatsache, daß Kants „logisches Jenseits" ebenso „über der Wirklichkeit hängen" bleibt w i e Luthers theologische Welt, die Gültigkeit des moralischen Gesetzes für die Erscheinungswelt so wenig beweisbar ist wie diejenige der religiösen Gesetzesmoral in ihr nachweisbar. Hier wie dort gründet die Absurdität der Forderung in dem oben erwähnten Widerspruch gegen die offensichtliche „ U n m o r a l i t ä t von Natur und Geschichte", welche moralisches Handeln so lebensfeindlich erscheinen läßt; daher gelangt die „Logik der Gläubigsten" zu demselben Resultat w i e die „Logik der Ungläubigsten", wenn und weil beide aus dem „Schlupfwinkel" argumentieren, der sich dadurch auftut, daß der absolute Anspruch der Unbegründbarkeit seiner Werte entspricht, aber die Höhe der Forderung dieses Anspruchs der Unwiderlegbarkeit der Interpretation entspringt, auf welche er sich stützt. „ E s giebt Schlupfwinkel jeder Art f ü r das Problem von der Wahrheit; und die Gläubigsten können zuletzt sich der L o g i k der Ungläubigsten bedienen, um sich ein Recht zu schaffen, gewisse Dinge als unwiderlegbar zu affirmiren — nämlich als jenseits der Mittel aller Widerlegung (— dieser Kunstgriff heißt sich heute ,Kantischer Kriticismus')." 3 8 38
K G W VIII 2 [165], 15 [19]
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Bis zu diesem Punkt bleibt Nietzsches Auseinandersetzung mit Kant, bei aller sachlichen und persönlichen Schärfe seiner Kritik, durchaus nachvollziehbar und ernst zu nehmen, auch wenn man weder die Voraussetzungen auf Seiten der Transzendentalphilosophie noch die Konsequenzen ihrer — vermeintlichen oder offensichtlichen, womöglich unvermeidlichen — Widersprüche so sehen muß. Bedenklich und fragwürdig wird diese Kritik — welche zu sehr mit dem ideologisch-idealistischen Mißbrauch Kants beschäftigt ist, um seinen kritischen Idealismus würdigen zu können — erst dort, wo sie ihrerseits von eben dem Anspruch getragen scheint, dessen mögliche Begründung durch die Transzendentalphilosophie sie mit Recht zurückweist. Es wurde ja schon deutlich, daß Nietzsche zunehmend dazu tendiert, den Willen zur Macht, den er als Triebfeder hinter dem absoluten Anspruch der Ideen und Ideale aufdeckt, seinerseits zum Prinzip nicht sowohl für die Praxis als schon in der Theorie zu erheben; Zarathustras Umdeutung liegt genau auf dieser Linie, auf welcher die Kritik zur Ideologiekritik, weil zur Kritik im Namen des eigenen ideologischen Anspruchs entartet. Nun werden nicht mehr nur die Extrapolationen der Vernunft zu unbedingten, aber unverifizierbaren, wenn auch unwiderlegbaren Ideen kritisiert, vielmehr wird schon die durch den Verstand bedingte und entsprechend begrenzte Erkenntnis desavouiert, obwohl deren Ergebnisse für jedermann nachprüfbar sind. Entsprechend bieten die synthetischen Urteile a priori der Physik nicht mehr die Gewähr strenger Erkenntnis „alles Gesetzlichen und Nothwendigen", an dessen realer Gültigkeit sich der schöpferische Mensch orientieren kann und muß, nicht zuletzt deshalb, um sich vor jenen zu hoch gegriffenen Ideen und Idealen zu bewahren; statt nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit zu fragen, welche Wahrheit erlauben und Wissenschaft gelingen lassen, deren Aussagen, zu Nietzsches ehrfürchtigem Staunen, in einer Welt des Werdens „Stand halten", gilt es nun zu untersuchen, weshalb und wofür „der Glaube an solche Urteile nöthig ist", welcher Fälschungen als Wahrheit ausgibt, — damit aber dem schöpferischen Elan des Willens zur Macht im Wege sein könnte, der die Wahrheit allererst schaffen muß: „Wahrheit ist somit nicht etwas, was da wäre und was aufzufinden wäre, — sondern etwas, das zu schaffen ist." Um so mehr überrascht dann allerdings, daß Nietzsche, wie andere ideologische Erkenntniskritiker, diese als solche durchschaute Falschheit der Voraussetzungen gelingender Erkenntnis mit einem Argument belegt, das eigentlich eher für eine gewisse — wie auch immer begründete — Richtigkeit ihrer Resultate spricht, — derzufolge sie die „Erhaltungs-Bedingungen" des einzelnen wie der Gattung darstellen, die wir allenfalls fälschlich „als Prädikate des Seins ... projicirt" haben, auf deren Kenntnis wir allerdings in jedem Falle angewiesen seien:
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„ . . . es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage: ,wie sind synthetische Urtheile a priori möglich' durch eine andre Frage zu ersetzen: ,warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthigi' — nämlich zu begreifen, dass zum Zwecke der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr geglaubt werden müssen, weshalb sie natürlich noch falsche Urtheile sein könnten!" 39
Doch die nicht nur begriffliche, sondern auch sachlich zumindest im Ergebnis begründete Nähe zu Kant bleibt bis hinein in den Grundsatz dieser Kritik Nietzsches bestehen, welche sich des transzendentalen Ansatzes bedient, um die erfolgreiche Erkenntnis zugleich respektieren zu dürfen wie diffamieren zu können, aber auch ihre Grenzen ebenso verachten wie sie im Schaffen neuer Wahrheit überschreiten zu dürfen. Denn die transzendentale Logik ist offensichtlich für Nietzsche ebenso wie die reine nur „der Versuch, nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt begreifen, richtiger, uns formulirbar, berechenbar machen..." Wenn und weil eben gar „nicht ,erkennen', sondern schematisiren" das Wesen der Erkenntnis ausmacht und eine Erkenntnis zuwege bringt, welche diesen Namen eigentlich gar nicht verdient, aber gleichwohl zur Orientierung in der Welt ausreicht, sollen vor allem die Kategorien „,Wahrheiten' nur in dem Sinne sein, als sie lebensbedingend für uns sind"; wie übrigens auch „der Euklidische Raum eine solche bedingende Wahrheit ist". Aber auch die Degradierung der Grundsätze zu „Postulaten" hält gleichermaßen ihre Unerläßlichkeit wie ihre Gültigkeit für die Weltorientierung fest, läßt eher über das Gelingen einer Erkenntnis, die keine adäquate Wahrheit vermittelt, staunen als ihr Mißlingen bedauern, läßt aber auch eher nach den funktionalen Bedingungen ihrer Möglichkeit fragen als diese wegen der Unmöglichkeit, ihre Fiktion zu durchschauen, verschmähen. Nietzsche sieht genau die Schwierigkeit Kants, für die Beschreibung und Wirkungsweise des Dinges an sich eben die Kategorien verwenden zu müssen, deren „rein-intraphänomenale Gültigkeit auf die ,Erscheinung beschränkt ist"; aber im Gegensatz zu seinen idealistischen Antipoden ist er bemüht, den Dualismus zugunsten einer Realität aufzuheben, deren letzte Unerkennbarkeit jede Möglichkeit abschneidet, die „wahre Welt" gegen die Wahrheit in der Welt auszuspielen, die Erscheinung zur scheinbaren Welt zu degradieren. „Der faule Fleck des Kantischen Kriticismus ist allmählich auch den gröberen Augen sichtbar geworden: Kant hatte kein Recht mehr zu seiner Unterscheidung ,Erscheinung' und ,Ding an sich' — er hatte sich selbst das Recht abgeschnitten, noch fernerhin in dieser alten üblichen Weise zu unterscheiden, insofern er den Schluß von der Erscheinung auf eine Ursache der Erscheinung
39 FW 335, s. o., 46; K G W VIII 9 [91], [38]; J G B 11
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als unerlaubt ablehnte — gemäß seiner Fassung des Causalitätsbegriffs und dessen rein-intraphänomenaler Gültigkeit.. ." 4 0 Allerdings zeigt sich wiederum sogleich, daß der Preis für diese kritische Distanzierung vom Kritizismus auch bei Nietzsche, wie bei Ideologen aller Couleur, die Rückkehr zu einem mehr oder minder naiven erkenntnistheoretischen Realismus ist, dessen verfeinerte Differenzierungen — bis hin zu der schon von Nietzsche vertretenen Absage an die „alte Wahrheit" der Rationalität überhaupt, welche indes den Zugang zu einer „neuen" höheren Wahrheit eröffnen soll — die Schwierigkeiten Kants eher bestätigen als überwinden. Das gilt vorab sogar für den prinzipiellen Gegensatz von Ding an sich und Erscheinung, der, genau genommen, allererst entsteht, wenn der „Grenzbegriff' für das erstere wörtlich genommen wird, wie es für jeden ideologischen Ansatz insoweit unerläßlich ist, als er seine konstitutive Idee der diskursiv erkannten Immanenz entgegensetzen muß; und man sieht nicht, wie Nietzsche seinerseits solcher Entgegensetzung entgeht, wenn er sie noch einmal auf das Prinzip des Willens zur Macht bringt und diesen nicht nur hinter allen subjektiven Bemühungen der Menschen, sondern durchaus objektiv hinter allem Geschehen der Welt am Werk wähnt. 41 Eine eindrucksvolle Bestätigung dieses Verdachts liefert der Philosoph selbst bei seiner Umwertung der Kategorie der Kausalität, deren falschliche und fälschende Verwendung, jene bei der Erklärung der Sinneswahrnehmung, diese bei der „Verzeichnung" der mechanistischen Weltbetrachtung, er Kant vorhält, — um sogleich nicht nur den „Versuch" zu machen, die „Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen", sondern mit und aus dieser die „Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ,intelligiblen Charakter' hin bestimmt und bezeichnet" zu sehen, — „sie wäre eben ,Wille zur Macht' und nichts ausserdem". Bezeichnenderweise kommt Nietzsche dabei zunächst auf die Position Humes zurück, um die geltungstheoretische Konzeption der Kausalität zu entschärfen, die causa efficiens für die Erkenntnis aus der causa finalis des Willens, die bewußt gemachte aus der unbewußt gewollten Setzung zu erklären: „Die Frage ,warum'? ist immer eine Frage nach der causa finalis, nach einem ,Wozu?' Von einem ,Sinn der causa efficiens' haben wir nichts: hier hat Hume R e c h t . . . " Aber die Intention geht stets dahin, die Geltung der Kausalität auf ihre Genesis durch den Willen zur Macht zurückzuführen, der die Wahrheit schafft,
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K G W V I I I 9 [97], 14 [152], 9 [144], 5 [4]; vgl. auch die vielzitierte Skizze „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde" in G D . Z u r Frage der — heute wieder ideologisch so aktuellen — „alten" und „neuen" Wahrheit s. Müller-Lauter, Nietzsche, 164 ff. und Grau, Ideologie, 2 5 2 ff. (Anm. 14 u. 29).
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indem er sein Gesetz in den Prozeß hineinlegt, die Erscheinungswelt als „seiend" und erkennbar „gemachte Welt" konstituiert, deren das Leben zu seiner Orientierung bedarf. Vordem sollte es noch Kants großes Verdienst im Rahmen der Selbstaufhebung des absoluten Anspruchs durch die deutsche Philosophie gewesen sein, die objektiv realistische Adäquatheit kausaler Erkenntnis der Naturwissenschaft in Frage gestellt zu haben, — „als Deutsche zweifeln wir mit Kant an der Letztgültigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und überhaupt an Allem, was sich causaliter erkennen lässt..."; doch es blieb ein „Hoch auf die Physik", deren fixierte, wenn auch vielleicht zweideutig bewußt gemachte Gesetze sich durch ihre allgemeine Gültigkeit auszeichnen, auf deren Beachtung daher jedermann angewiesen ist, wie willkürlich auch immer die Gesetze sein mögen, mit denen er seine bewußt geschaffenen „Gütertafeln" zu dokumentieren und durchzusetzen sucht. 42 Nun gibt der „alte Philologe" zu bedenken, ob „jene Gesetzmässigkeit der Natur', von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob", nicht „nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung" sein könnte, womöglich vom Interesse „pöbelmännischer Feindschaft gegen alles Bevorrechtigte" geleitet, welches „die Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem ,Willen zur Macht' " nicht gelten lassen will. Und für diese neuerliche Interpretation, die sich als solche bekennt, weil sie ihren Willen durchaus als „ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden", versteht, kann demgemäß nicht mehr die Physik als Basis der Welterklärung und Lebensgestaltung dienen; vielmehr muß sie „verlangen dürfen, dass die Psychologie wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt werde", weil deren Reflexion allein die Ermittlung von Machtkonstellationen und Abhängigkeiten hinter aller rational ge- und verordneten Erkenntnis gestattet, welche nur dem „moralischen Vorurtheil" entspringt, das sie begründen soll. 43 Die Philosophie bezahlt indes diesen Rückfall, wenn schon nicht in die von Kant wegen ihrer scheinbaren Eindeutigkeit gerügte rationale, so doch in eine hinsichtlich der Vieldeutigkeit ihrer beliebigen Reflexion nicht minder fragwürdig empirisch konstruierende Psychologie mit dem Verlust ihrer Kritik. So berechtigt ihre Einwendungen gegen einen zu engen, vorschnell festgelegten, deshalb so leicht gegen das Leben gerichteten Ansatz der Rationalität sein mögen, so schnell verspielt sie noch ihre eigene Kritik, wenn sie der Vernunft jegliche Reglementierung von Erkennen und Handeln, schließlich sogar die intellektuelle Rechenschaft für ihre Theorie verweigert. Aber Nietzsches späte Entwürfe — mag er 42 43
J G B 36; K G W VIII 2 [83]; FW 357, 335 J G B 22, 23, [14]; K G W VIII 2 [148]
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sie nicht abgeschlossen, mag er sie zuletzt aufgegeben haben — schwanken beständig zwischen einem transzendentalen Idealismus, der voluntaristisch interpretiert wird, damit er nicht gleichzeitig zuviel festlegt wie offenläßt, und einem transzendent interpretierten Realismus, der sich auf das AnSich des Willens festlegt, aber darüber die Erscheinung verliert. Dabei läßt sich der letztere ebenso als anthropologischer Vitalismus, welcher sich „der Analogie des Menschen" bedient, wie als energetischer Physikalismus verstehen, für den „jede Macht in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz zieht"; die Erklärungsmodelle reichen von einem panpsychischen Dynamismus über den monadologischen Entwurf bis zu einer buchstäblich an „dynamischen Quanten" orientierten hochmodernen Energetik. 4 4 Allerdings kann Nietzsche jetzt eine Definition der Philosophie, wie die „von Kant . . . als Wissenschaft von den Grenzen der Vernunft' !" nur als Zumutung empfinden, wenn damit der Versuch gemeint sein sollte, die Grenzen zwischen zwingender Erkenntnis und bloßer „Muthmassung" zu bestimmen; derart, daß ja noch nicht einmal im immanenten Bereich, wo der Verstand allenfalls relationale Zusammenhänge feststellt, von eigentlicher Erkenntnis die Rede sein könne, weil diese nur bei einer adäquaten Erfassung des „Unbedingten" gegeben wäre, für dessen Existenz, wie gesehen, die Vernunft noch nicht einmal einen korrekten Begriff formulieren kann. Wird aber so schon die Erkenntnis als solche zur „größten Fabelei", so ist es allenfalls eine „Naivität" von Kant, „die Erkenntniß der Erkenntniß" anzustreben, welche nur einem „höheren Wesen mit,absoluter Erkenntnis' " gegeben wäre, welches die „wahre Wirklichkeit" mit der Wahrheit über sie vergleichen könnte. „Die größte Fabelei ist die von der Erkenntniß. Man möchte wissen, wie die Dinge an sich beschaffen sind: aber siehe da, es giebt keine Dinge an sich! . . . Etwas Unbedingtes kann nicht erkannt werden: sonst wäre es eben nicht unbedingt!" „Kant glaubt an die Thatsache der Erkenntniß: es ist eine Naivetät, was er will: die Erkenntniß der Erkenntniß!" „Der Intellekt kann sich nicht selbst k r i t i s i r e n . . w e i l , um den Intellekt zu kritisiren, wir ein höheres Wesen mit .absoluter Erkenntniß' sein müßten . . , " 4 5
Am Ende kann sich Nietzsche aber vor allem deshalb nicht mit der Kantischen Bestimmung der Philosophie — „Die Grenzen der Vernunft
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K G W V I I 36 [31], V I I I 14 [79], Modelle bei Arthur C. Danto, Nietzsche as Philosopher, New York — L o n d o n 1968, und Friedrich Kaulbach, Nietzsche und der monadologische Gedanke, in: Nietzsche-Studien 5 [1979], 127 ff.; zur Deutung in Machtquanten s. bes. K G W V I I I 14 [79],
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AC 55, nochmals konterkariert K G W V I I I 7 [14]. K G W V I I I 2 [154], 7 [4], 5 [11]; Za II, A u f den glückseligen Inseln
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begreifen — das erst ist wahrhaft Philosophie" — zufriedengeben, weil er die damit verbundene Folgerung einer Unzulänglichkeit der menschlichen Vernunft zur Beantwortung der letzten Fragen und Festlegung der obersten Werte nicht akzeptieren mag: „Es giebt Fragen, wo über Wahrheit und Unwahrheit dem Menschen die Entscheidung nicht zusteht; alle obersten Werthprobleme sind jenseits der menschlichen Vernunft..." Man darf, wie eingangs bemerkt, diese Stelle nicht als Übernahme der Definition Kants mißverstehen, um so weniger, als Nietzsche ja im Grunde von der Folgerung seinerseits durchaus überzeugt ist; allein hier befürchtet der Philosoph vor allem, mit der Anerkennung dieses Satzes das Desiderat, womöglich das Faktum einer Offenbarung zu konzedieren, welche ihn entweder der Macht des „Priesters" oder einem Gesetz ausliefern würde, dessen absoluter Anspruch sich nur in der totalen Verneinung des Lebens betätigen ließe, — abgesehen davon, daß er zutiefst überzeugt ist, auf eine Beantwortung dieser Fragen bzw. Festlegung jener Werte gar nicht verzichten zu können. Um sich für diese ebenso unerläßlichen wie, nach Wegfall der transzendentalen Kritik, willkürlichen Entscheidungen — bei denen der Dezisionismus aus dem Werturteilsstreit in den Bereich des Positivismusstreits hinüberspielt — den nötigen Freiraum zu sichern, kann sich Nietzsche jedoch nicht damit begnügen, die Grenze zwischen Erscheinung und Ding an sich, zwischen einer für jene gelingenden und auf dieses verzichtenden Erkenntnis zu verwischen. Er muß zugleich die strenge Erkenntnis auf bloße Interpretation reduzieren, um jede weitergehende Deutung des Erkenntnisbefundes als gleichberechtigte Einsicht ausgeben zu können; ja am Ende auch noch den Unterschied der allgemein menschlichen und jeder persönlichen und kollektiven Perspektive aufheben, um einem Positivismus zu entgehen, der sich mit einem auf die Feststellung von Tatsachen beschränkten Sinn der Erkenntnis begnügt, aber den parteilichen Interessen eines sinngebenden Machtanspruchs die Anerkennung verweigert. „Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt, ,es giebt nur Thatsachen', würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen... Soweit überhaupt das Wort ,Erkenntniß' Sinn hat, ist die Welt erkennbar; aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne ,Perspektivismus'." 46
Man sollte jedoch niemals übersehen, daß, genaugenommen, der Wille zur Macht erst an der Grenze der allgemeinen Perspektive und der Interessensphäre wie am Übergang der verifizierbaren in die unverifizierbare 46
AC 55; KGW VIII 7 [60]
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Interpretation ins Spiel kommt; dann allerdings sucht er den Bereich überpersonaler Gültigkeit und objektivierbarer Wissenschaft seiner Herrschaft zu unterwerfen, um ebensowohl seiner perspektivischen Interpretation volle Geltung zu verschaffen, wie sie gegen rationale Kritik zu immunisieren. Schließlich wird aus der zunächst durchaus, soweit sie den überhöhten Anspruch angreift, rationalen Ideologiekritik die ideologische Kritik an der Rationalität überhaupt, weil und sofern diese dem Menschen die Beantwortung seiner eigentlichen Fragen verweigert, aber ihm zugleich verwehrt, sich mit Antworten zufriedenzugeben, welche vor seiner Kritik nicht bestehen können. Nietzsche steht „an der Schwelle dieses Ereignisses", da die „Selbstaufhebung" des absoluten Anspruchs den Willen zur Macht hinter ihm entdeckt hat, ihn aber weiter propagieren muß, weil er auf ihn für seine Sinngebung nicht verzichten kann; aber er weiß auch, daß er jenen, sei es vom Willen zur Macht gewollten, sei es ihn ungewollt fordernden Anspruch nur um den Preis eines Verzichts auf das einzige Gegengewicht gegen diesen Willen erheben kann, — wenn seine Redlichkeit „die Frage stellt, ,ivas bedeutet aller Wille %ur Wahrheit?'"47 Und darin liegt doch wohl der eigentliche Gegensatz zwischen Kant und Nietzsche: will Kant das Wissen begrenzen, um dem Glauben seinen Platz zu belassen, aber auch anzuweisen, so will Nietzsche das Wissen, vor allem die Wissenschaft aufheben, um für den Willen zur Macht und seine Wahrheiten Raum zu schaffen; während sich Kant mit den Grenzen der Rationalität zufriedengibt, erkennbare Wahrheit nur innerhalb dieser Grenzen zuläßt, aber regulative Ideen über sie hinaus erlaubt, wo nicht postuliert, muß Nietzsche den Willen zur Wahrheit aufheben, um den konstitutiven Ideen und obersten Werten Geltung zu verschaffen, die der Wille zur Macht für seine Sinngebung fordert. Über die begrenzte Gültigkeit der Rationalität sind beide Denker ebenso einig wie über die Bedingtheit menschlicher Wahrheit; während aber Kant sich mit der menschlichen Perspektive begnügt, weil er an der Begreifbarkeit höherer Wahrheit zweifelt, verzweifelt Nietzsche an den menschlich-allzumenschlichen Perspektiven möglicher Erkenntnis, die er im „Schaffen" des Übermenschen zu überwinden trachtet. „Wir h a b e n also jetzt d a s L a n d des reinen V e r s t a n d e s . . . d u r c h r e i s t . . . D i e s e s L a n d aber ist eine Insel, u n d d u r c h die N a t u r selbst in u n v e r ä n d e r l i c h e G r e n z e n e i n g e s c h l o s s e n . E s ist d a s L a n d d e r Wahrheit (ein reizender N a m e ) , u m g e b e n v o n e i n e m weiten u n d s t ü r m i s c h e n O z e a n , d e m eigentlichen Sitze des S c h e i n s . . . "
G M III 27
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„In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der .Weltgeschichte'.. ,"48 Allerdings sollte man ebenfalls sehr genau beachten, daß Nietzsches eigener Wahrheitswille von dem geforderten Übergang in den Willen zur Macht weitgehend unberührt bleibt, der Philosoph gar nicht daran denkt, auf eine strenge rationale Prüfung der ideologischen Entwürfe zu verzichten, wenn und soweit für diese ein Anspruch auf Wahrheit erhoben wird. Gerade weil er eine „tiefe Abneigung" empfindet, „in irgend einer Gesammt-Betrachtung der Welt ein für alle Mal auszuruhen, . . . sich den Anreiz des änigmatischen Charakters nicht nehmen lassen" will, möchte der Philosoph lieber „eine große, feste Glocke von Unwissenheit um sich stehn" lassen, als sich mit einer Wahrheit begnügen, welche rational weder begründet noch überprüft, als Gesetz nicht einmal fixiert, geschweige denn legitimiert werden kann. 49 Es sei daher noch einmal daran erinnert, daß Nietzsche sich bei seiner Kritik nicht nur der Momente der Rationalität bedient, welche — vornehmlich Allgemeinheit und Objektivität — die Transzendentalphilosophie herausstellt; sondern daß er bei seiner Polemik gegen alle höhere Wahrheit auch noch den eigenen Ansatz zugleich desavouiert wie bestätigt — als Wahrheit desavouiert, als Machtstreben bestätigt. Gerade der „Antichrist", der — ohnehin eine ernstzunehmend kritische, sogar religiöse, wo nicht christliche, zumindest biblische Streitschrift — die schärfsten Angriffe auf Kant enthält, verrät immer wieder eine Nähe zu ihm und seinem Anliegen, die überrascht; seine Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens, soweit dieser, historisch zwangsläufig, eine Lehre begründen statt eine „neue Praktik" verkünden will, ist durchaus im Geiste Kants geschrieben, wo nicht von seiner Kritik inspiriert. Schon die generelle Orientierung der Erkenntnis am Ideal der Philologie als einer „Kunst, . . . Thatsachen ablesen (zu) können, ohne sie durch Interpretation zu falschen", macht die kritische Einstellung, aber auch deutlich, daß Nietzsche sehr wohl zwischen stringent eindeutiger Erkenntnis und vieldeutiger Interpretation ihrer Resultate zu unterscheiden weiß. Mag er immerhin vom Zweifel an der Möglichkeit zur Verzweiflung an der Unmöglichkeit adäquater Erkenntnis, vom Verzicht auf transzendente zum Verschmähen transzendentaler Wahrheit übergegangen sein; mag er deshalb der Vernunft auch noch das
48
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Kant, K r V , Β 294 f.; Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, K G W III 2, 369 K G W VIII 2 [155], VII 26 [294]
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Recht zu einer praktischen Lebensweisung absprechen, deren rational nicht zwingend begründbares Gesetz sich so leicht gegen das Leben wendet, dem einzelnen nur als Imperativ vermittelt werden kann; mag er schließlich vom Primat einer durch den Menschen allererst — in Wahrheit und Werten — zu schaffenden Sinngebung so nachhaltig überzeugt sein, daß er den Willen zur Macht zur letzten Triebfeder erheben muß, um deren absoluten Anspruch sicherzustellen: So gewiß Nietzsche den christlichen Glauben gerade deshalb für ein Verhängnis hält, weil er dem Menschen rationale Aufklärung über seine letzte Bestimmung schuldig bleibt, ihm aber zugleich jede eigenständige Orientierung in der Welt und an den Bedürfnissen des Lebens verwehrt, ja die absolute Sinngebung nur durch die totale Verneinung seiner natürlichen Interessen zu behaupten weiß: „So zu leben, dass es keinen Sinn mehr hat, zu leben, das wird jetzt zum ,Sinn' des Lebens"; so gewiß ist er mit Kant völlig einig in der Zurückweisung eines Glaubens, welcher Wahrheit beansprucht, aber ihre rationalen Kriterien verweigert, den Menschen „asketischen Idealen" unterwirft, aber die eigentliche „Form des Asketismus" in der Erkenntnis ebenso versagt wie die „,humanitären' Segnungen" einer wenigstens relativen Behebung seiner „Nothstände", welche sogleich mit dem Makel der „Sünde" belegt werden. Deshalb repräsentiert für Nietzsche der Skeptiker „den anständigen Typus in der Geschichte der Philosophie", wie er für Kant „der Zuchtmeister des dogmatischen Vernünftlers" ist, wenn auch jener die Skepsis wiederum nur dogmatisch durch die Setzung des Willens zur Macht zu überwinden weiß, dieser sie durch „eine gesunde Kritik des Verstandes und der Vernunft selbst" ausbauen möchte. Derart jedoch, daß Nietzsches Kritik sich in dem Maße verschärft, in dem er tiefer unter dem Versagen und den Versagungen des Glaubens leidet als Kant, der sich mit den Auskünften und dem Gesetz der Vernunft zufriedengibt; doch verschärft Nietzsches leidenschaftliche Verurteilung gläubiger Irrationalität im Grunde nur die Ablehnung eines irrationalen Glaubens durch die Kantische Philosophie. So sind für Nietzsche generell „ Ü b e r z e u g u n g e n . . . Gefangnisse", während Kant lediglich den „Schein der Überzeugung" zurückweist, welcher „subjektive Assoziationen" als Vernunftgründe ansieht; aber eine Parteilichkeit der Wahrheit — in dem Bestreben, „von der Vernunft Aufklärung zu erwarten, und ihr doch vorher vorzuschreiben, auf welche Seite sie notwendig ausfallen müsse" — ist Kant nicht weniger verächtlich als Nietzsche, für den „der Parteimensch mit Nothwendigkeit Lügner" werden, weil er für die eindeutige Lösung unentscheidbarer Probleme einen absoluten Wahrheitsanspruch erheben muß. Und wenn für Nietzsche das „Veto gegen die Wissenschaft" geradezu zum Kriterium eines ideologi-
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sehen Anspruches auf absolute, aber rational weder belegbare noch widerlegbare Wahrheit wird, dann könnte er sich durchaus auf Kants eindringlichen Aufruf zur „Disziplin der reinen Vernunft" berufen: „Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen, und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch t u n . . . " Allerdings weiß Kant auch um die ebensoleicht dogmatisch werdenden und damit gegen jene Disziplin verstoßenden Behauptungen der Gegenseite, etwa im religiösen Gespräch, sobald diese verkennt, „daß niemand das Gegenteil jemals mit apodiktischer Gewißheit... behaupten könne" 50 , — wie es Nietzsche schon in der für „endgültig" gehaltenen Widerlegung durch die historische Methode betreibt, deren wissenschaftlich kaum nachweisbare Stringenz er unbedenklich aus der Naturwissenschaft übernimmt. Vollends eklatant wird die Wende zum (freimütig eingestandenen) Willen zur Macht und seiner (als solcher zugegebenen) Interpretation dann aber doch eben daran, daß Nietzsche schließlich selbst jenes Veto vertritt, indem er seinen Angriff nicht mehr gegen einen überhöhten Anspruch für die Wissenschaft, sondern gegen deren Resultate richtet, soweit diese den ideologischen Setzungen entgegenstehen. Doch ist es wiederum nur konsequent, wenn der Philosoph bei dieser Wende dann eben das subjektive Moment als Beweis der Wahrheit im „Gefühl der erhöhten Macht" betont, mit dem er kritisch den Anspruch auf objektive Wahrheit im „Beweis der Kraft" religiöser Aussagen und Erfahrungen zurückweist: wäre „.L/wZ-jemals ein Beweis der Wahrheit?"; bedenklicher schon, wenn die Feindschaft des Priesters gegen die Wissenschaft darauf zurückgeführt wird, daß für diesen, als Träger des absoluten Anspruchs, „nur eine grosse Gefahr" bestehe, — „der gesunde Begriff von Ursache und Wirkung", wo doch die kategoriale Kausalinterpretation bereits als bloße Täuschung abgetan sein sollte. 51 Da jedoch „Nothwendigkeit und Allgemeinheit", gerade weil sie niemals „durch Erfahrung gegeben werden" können, als „regulative Glaubensartikel'''' weiterhin brauchbar, wo nicht notwendig sind, wenn sie auch keine „reine Erkenntniß" liefern können, andererseits aber gerade „der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft" ebensowohl deren Anspruch ermäßigt wie denjenigen auf Wahrheit am Maßstab der Objektivität ausgerichtet hat, ist klar, daß Nietzsche bis zuletzt auf dem kritischen Weg bleibt, den die Wissenschaft, gegen alle ideologischen Verordnungen, gewiesen hat. „Alle Methoden, alle Voraussetzungen unsrer jetzigen Wissenschaftlichkeit haben Jahrtausende lang die tiefste Verachtung gegen sich g e h a b t . . . Wir 50 51
AC 52, 43, 57, 12, 54, 55. Kant, KrV, Β 797, 811, 775, 766 K G W VIII 15 [58], AC 49 f.
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haben das ganze Pathos der Menschheit gegen uns gehabt — ihren Begriff von dem, was Wahrheit sein soll, was der Dienst der Wahrheit sein soll: jedes ,du sollst' war bisher gegen uns gerichtet.. ."52
So bleibt das letzte Wort der Selbstaufhebung zugleich ein Verzicht auf absolute Wahrheit, soweit sie rational verfügbar sein soll, wie ein Bekenntnis zum unverzichtbaren Streben nach aller Wahrheit, welche rational zu gewinnen ist; und mit dieser doppelten Tendenz weiß Nietzsche die „deutsche Philosophie als Ganzes — Leibnitz, Kant, Hegel, Schopenhauer, um die Großen zu nennen" — durchaus auf seiner Seite. Mag er auch als „ein schrittweises Wiedergewinnen des antiken Bodens" historisch mißverstehen, was nur der Wiederbelebung der „Romantik" eines ebenso unergründlichen wie zugleich tragischen und erhabenen Lebensgefühls dient; wenn das vorsokratische Denken, zu dem er zurück will, für ein Philosophieren steht, das gleichermaßen der Macht wie der Ohnmacht des Logos bewußt ist, darf er sich mit Kant wenigstens durch die „Regenbogen der Begriffe" jenem Verständnis der Welt verbunden fühlen, das der Grenzen der Vernunft ebenso eingedenk ist wie der Notwendigkeit, sie in der Praxis des Lebens zu überschreiten. „Die deutsche Philosophie als Ganzes — Leibnitz, Kant, Hegel, Schopenhauer, um die Großen zu nennen — ist die gründlichste Art Romantik und Heimweh, die es bisher gab: das Verlangen nach dem Besten, was jemals w a r . . . , und das ist die griechische Welt!.. ,"53
Wie immer es also um den Wahrheitsanspruch steht, den Nietzsche für seine eigene Theorie und die Kritik in ihrem Namen erhebt, deren Interpretation „ a u f den Willen zur Macht durch die Auslegung „aus" ihm stets überboten wird, — die letztlich transzendentale, dem Anliegen Kants vollauf entsprechende Basis seines Philosophierens ist, von der Kritik bis hinein in die Theorie, so unübersehbar, daß der Versuch einer Synthese zwischen den beiden auf den ersten Blick so unvereinbaren Positionen unternommen werden darf. Einer Synthese, welche die Differenzen nicht verschweigt, aber sie aus den Gemeinsamkeiten entwickelt, um die Schwächen und Einseitigkeiten des einen Denkers durch die Stärken und den Weitblick des anderen zu kompensieren; vielleicht gelingt es so, eine umfassende Philosophie anzudeuten, welche es sich leisten kann, die Grenzen der Vernunft zu respektieren und immer neu zu prüfen, ohne jedoch das Leben an sie zu binden, dessen sinnvolle Gestaltung den „Irrtum" über es ebenso notwendig erscheinen lassen kann wie die Wahr52
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K G W VIII 7 [4], A C 13; ähnliche Betonungen des Wahrheitswillens: A C 50 (Anm. 12), EH, Vorw. 3 K G W VII 41 [4]
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heit, die in ihm und über es erreichbar ist. Die Formel für diese Synthese könnte wiederum Kant mit seiner gelegentlichen — gleichermaßen zur regulativen Ausweitung wie zum leichteren Ertragen letzter Unbegreiflichkeit eingeführten — Interpretation der Erkenntnisbemühungen des Menschen durch ein „Als Ob" liefern; diese Formel, schon von Vaihinger in der Auslegung Kants mit Blick auf Nietzsche zu einem philosophischen Gesamtentwurf entwickelt 54 , ermöglicht in der Tat jenes Maß an „Lüge und Irrtum", das für Nietzsche so unverzichtbar und daher nicht unmoralisch ist, wie an Wahrheit, nach der zu streben jedenfalls moralisch geboten scheint, — mag sich Kant mit den Grenzen der Erkenntnis abfinden, die noch ein Sittengesetz gestatten, mag Nietzsche der Moral den Abschied geben, um nicht an die begrenzte Erkenntnis gebunden zu sein. Mit diesem Als Ob — von beiden Denkern gewiß nur sporadisch, bei Kant eher systematisch, bei Nietzsche mehr destruktiv verwendet — wäre nicht nur den Ideen eine Geltung verschafft, die ihrer praktischen Bedeutung für das Leben entspricht und sie einer Kritik entzieht, welche ohnehin bei ihnen nicht zwischen Wahrheit und „Lüge" zu unterscheiden vermag; es ließe sich mit dieser Formel zugleich die Gültigkeit erkennbarer Wahrheit gegen die mögliche Lüge ihrer Bedingungen aufrechterhalten, indem der Gegensatz zwischen Funktion und Fiktion aufgehoben würde, von denen jene durch ihren Erfolg noch keine Wahrheit gewährleistet, diese durch ihre mögliche Unwahrheit noch nicht allen Wert einbüßt. Nietzsche geht hier, wie so oft, zu weit, wenn er schlicht von „Fälschung" und „Illusion" spricht, ohne sich klarzumachen, daß auf diesem Felde die „Nützlichkeit" der Täuschung ja eine gewisse Richtigkeit ihrer Weltorientierung voraussetzt; damit degradiert er nicht nur die Erscheinung zum „Schein", sondern setzt für seine eigene Position ein An-sich voraus, dessen gleichzeitige Abschaffung von wahrer und scheinbarer Welt kaum erhellender ist als ihr „Königsbergischer" Dualismus. 55 Wenn und soweit jedoch Nietzsche mit seiner outrierten Terminologie und seiner provokativen Diktion lediglich vertieft auf die formale Bedingtheit und die materiale Begrenzung der Erkenntnis hinweisen will, deren „Mythos" 54
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Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob (Anm. 15), 101927. Wie weit mit dieser Formel Kants Anliegen getroffen oder, gleichsam aufweichend, verfehlt wird, ist umstritten; s. bes. Erich Adickes, Kant und die Als-Ob-Philosophie. Stuttgart 1927. Hier geht es jedoch nicht um ein genuines Verständnis Kants, sondern um den Versuch, Nietzsches Bedenken, soweit sie berechtigt erscheinen, in eine kritische Philosophie begrenzter, aber unverzichtbarer Rationalität einzubringen. Die letzten Abschnitte dieser Arbeit sind einem früheren Aufsatz des Verf. entnommen: Gerd-Günther Grau, Zerstörung der Vernunft oder Veto gegen die Wissenschaft? Nietzsches Philosophie zwischen Rationalismus und Irrationalismus, in: Hans Lenk (Hg.), Zur Kritik der wissenschaftlichen Rationalität, Freiburg—München 1986
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weder im Großen einer Gesamtbetrachtung noch im Kleinen individueller Erfahrung Neugierde und Bedürfnis des Menschen auch nur annähernd zu befriedigen vermag, dann bleibt seine Herausstellung der „menschlichen Optik" aller Rationalität, ja des „unlogischen Wesens" des Menschen ebenso berechtigt, wie seine stete Beschwörung der intellektuellen Redlichkeit die Verwiesenheit auf diese bekräftigt. Mag Nietzsche gegen Kant zunehmend das schöpferische Moment der Erkenntnis hervorheben, das ihm gestattet, die Willkürlichkeit der Fiktionen stärker zu betonen als ihre geltungstheoretische Funktion und damit jede Wahrheitsforschung als Akt des Willens zur Macht aufzufassen, so deckt doch das Als O b unvermeidbarer, aber gelingender Täuschung zunächst den weiten Bereich zwischen der individualistischen und der transzendentalphilosophischen Version des Homo-mensura-Satzes völlig ab: Weder ändert das Bewußtsein möglicher Fälschung etwas an der Nützlichkeit der funktionalen Konstruktion noch das Bewußtsein sinngebender Setzung etwas an der Unerläßlichkeit der regulativen Fiktion, und es dürfte gleichermaßen wichtig sein, den zurechtgemachten Status rationaler Erkenntnis wie das Desiderat ihres transzendierenden Vollzuges zu betonen, — wobei man allerdings mit Kant die Grenze zwischen den allgemeinen und den bewußt gesetzten, aber in ihrem Gelingen nie eindeutig feststellbaren Fiktionen beachten sollte. 56 Daß Nietzsche dieser Grenze vollauf bewußt ist, lehrt ja gerade seine sorgsame Differenzierung in der Erörterung des Wahrheitsproblems und der Problematik der Wissenschaft: Während er die Idee der Wahrheit genugsam hochhält, um den absoluten Anspruch auf sie bei den ideologischen Entwürfen zurückzuweisen, die eben dadurch ihre lebensverneinende Tendenz gewinnen, gibt er der Wissenschaft erst an dem Punkt den Abschied, wo für ihre allgemeine Wahrheit jener Anspruch erhoben wird, den die intellektuelle Redlichkeit für die persönliche Gewißheit des Glaubens gerade aufgehoben hat. Vor allem aber ist sich Nietzsche des hohen Preises bewußt, den der Mensch für den Verzicht auf Wahrheit und Wissenschaft zu zahlen hat, wenn er die nicht sowohl unbewußte wie der Beliebigkeit entzogene erkenntnistheoretische Täuschung diffamiert, um die Gleichberechtigung der ebensowohl bewußten wie beliebigen Täuschung des Machtwillens zu erzwingen; nur daß ihm über der neuerlichen Parteinahme für die Parteilichkeit des letzteren entgeht, daß seine eigene Kritik in dem Maße unglaubwürdig wird, in dem sie die bewiesene Falschheit von Sachverhalten behauptet, auf deren Undurchschaubarkeit das Leben angewiesen sein soll. 56
Vgl. auch Walter del Negro, Die Rolle der Fiktionen in der Erkenntnistheorie Nietzsches. Bausteine zu einer Philosophie des Als O b , Bd. V, München 1923.
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So kommt denn schon im ethischen Bereich Nietzsche so wenig wie andere —ideologisch oder naturwissenschaftlich bestimmte — Leugner der Freiheit ohne die „nothwendigen Illusionen" einer „moralischen Freiheit" aus, mit welcher Behauptung er zwar wieder über die vorsichtige Formulierung Kants, daß allein die „Unbegreiflichkeit" der Ermöglichung ihres Gesetzes begreiflich sei, weit hinausgeht, wenn man will: hinter sie zurückfällt 57 ; doch er weiß dann nicht nur, daß der Mensch die „Vorstellung der Freiheit" hat, „als ob er auch anders könnte", sondern sieht sogar, daß „der ganze Prozeß der Weltgeschichte... sich so bewegt, als ob Willensfreiheit und Verantwortlichkeit existiere", — was allein schon eine ideologiekritische Geschichtsphilosophie, die als Wissenschaft will auftreten können, zur Farce degradiert. 58 Andererseits könnte und sollte sich der Vertreter einer rigoristischen Ethik Kantischer Struktur und Strenge aber auch von Nietzsche auf die ermäßigenden Einschränkungen hinweisen lassen, die man bei der Berufung auf die kritische Ethik so gern übersieht: etwa die Tatsache, daß der kategorische Imperativ lediglich, wenn auch wesentlich so gebietet, „als ob" das vernünftige Wesen „jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre", die Menschen mithin so handeln müssen (und können), „als ob" die Maximen der Freiheit „Gesetze der Natur wären", bzw. „als ob" sie durch ein Sittengesetz allgemein gesetzgebend wären. 59 Schließlich wollte auch Kant, bei aller prinzipiell unverzichtbaren Strenge der Pflicht, „der Tugend die Begleitung der Grazien... verstatten", um nicht ihre „anmutigen Folgen . . . in der Welt" durch eine „sklavische Gemütsstimmung" zu verspielen; wie er denn dem asketischen Ideal einer „ethischen Asketik", sofern sie als „bloßer Frohndienst" und nicht „fröhlichen Gemüts" betrieben werde, kaum weniger ablehnend gegenübersteht als Nietzsche, der ja eine eingeschränkte, selbstgewählte Asketik durchaus befürwortet. 60 Und es zeigte sich bereits, daß für Nietzsche letzten Endes „das eigentliche Problem vom Menschen" durch „jene paradoxe Aufgabe selbst" gegeben war, „welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt" hat: „Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf ' 61 , will sagen: jedenfalls nicht permanent versprechen rnuß, wie es unter der Nötigung — hier wäre wieder Kant durch Nietzsche zu ermäßigen — eines absolut genommenen Gesetzes so leicht eintreten kann. Wie dann die „Würde" durch den überhöhten — nun 57 58 59
60 61
K G W III 29 [4], Kant, GMS, Schlußbemerkung K G W III 7 [175], [144] Kant, GMS 2. u. 3. Abschn. Von den Formeln für den kategorischen Imperativ enthält lediglich die „Naturgesetz"-Formel explizit das Als Ob. Kant, Rei. I, Anm.; MST § 53, vgl. Anthr. 782 f.; Nietzsche GM II 1 GM II 1, s. o.
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fast zwangsläufig von Lohn und Strafe regulierten statt auf Sinngebung abgestellten — Anspruch, zumal eines religiös verstandenen Gebots, verspielt wird, so geht es dem Philosophen, mag er auch immer wieder vom kontradiktorischen Einspruch auf konträre Werte verfallen, doch letztlich nur darum, die heteronome „Sklavenmoral" erzwungener Unterwerfung durch eine „Herrenmoral" autonomer Selbstbestimmung — welche freilich ihrerseits vieldeutig und mißbrauchbar genug bleibt — zu ersetzen; erst und nur durch ein derart bestimmtes Verhalten könne der Mensch der durchschauten „Hypothese" eines zwar fiktiven, aber „regulatorisch" zu nehmenden moralischen Gesetzes gerecht werden: „die Art des bisherigen Geistes war noch zu schwach und ihrer selber zu ungewiß, um eine Hypothese als Hypothese zu fassen und doch als regulativisch zu nehmen — es bedurfte des Glaubens."6,2 Über die tragende und führende Rolle des Als Ob im religiösen Bereich dürfte unter denen, welche mit letzter, vom Glauben selbst geforderter und geschichtlich geförderter intellektueller Redlichkeit um diese Frage ringen, jedenfalls insoweit kein Streit entstehen, als zumindest die Ununterscheidbarkeit menschlicher Projektion und transzendenter Einwirkung nicht zu leugnen ist. Wie es der Mensch zunächst immer nur mit seinen Ideen zu tun hat, über deren Realitätsbezug er nach der geschöpflichen Anlage seines Erkenntnisvermögens nicht zu entscheiden vermag, so muß er selbst in jedem Falle ebensowohl über den Inhalt wie über die Höhe der Forderung befinden, vor die er sich gestellt glaubt; das läßt und schafft allerdings Raum für einen Glauben, den Kant solange gerade nicht als „Schleichweg zum alten Ideal" eröffnet hat, wie er sich — im Gegensatz zu den „Tübinger Stiftlern" — durchaus bewußt ist, über seine Wahrheit nicht rational und verbindlich entscheiden zu können, — eine Wahrheit, die Nietzsche indes im erkennbar höheren Wert seines neuen Ideals zu besitzen glaubt. 6 3 Im übrigen ist sich auch Nietzsche zuzeiten der Wünschbarkeit, ja Notwendigkeit einer Metaphysik „als Zeichen höherer Naturen" völlig bewußt, die er mit einigem Recht als „umgedrehten Piatonismus" insofern verstehen kann, als sie ein „Leben im Schein als Ziel", das „Schaffen von Fiktionen" als höchsten, so unverzichtbaren wie würdigen Ausdruck menschlicher Sinngebung ansieht: „Meine Philosophie" ist „umgedrehter Piatonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner 62
63
K G W VII 26 [263]; schon Lange gebraucht gelegentlich ungenau statt des Begriffs der Fiktion denjenigen der Hypothese. Nietzsche ist ohnehin darauf bedacht, die Begriffe zu verwischen, während Vaihinger eine ausführliche „Aufzählung und Einteilung der wissenschaftlichen Fiktionen" bietet, ohne freilich mögliche Grenzen der Durchschaubarkeit genau zu erörtern. Kant, K r V , Β X X X ; Nietzsche, A C 10
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schöner besser ist es". 64 Von Kants regulativen Ideen, denen zufolge die „Dinge der Welt so betrachtet werden müssen, als ob sie von einer höchsten Intelligenz ihr Dasein hätten", „als ob sie insgesamt aus einem einzigen allbefassenden Wesen, als oberster und allgenugsamer Ursache, entsprungen wären" 65 , ist es zwar noch ein weiter Schritt zu Nietzsches „Spiel der Erwachsenen", als welches er „Metaphysik und Religion . . . gelten" lassen will; dabei mag der „Ernst" dieses Spiels für Kants sorgsame Formulierungen sprechen, deren kritische Version überdies der dogmatischen Behauptung durchschauter Falschheit bei Nietzsche erneut überlegen ist, — dessen tiefe Betroffenheit freilich wiederum erst die Härte seiner Absage bestimmt. 66 Andererseits muß aber festgestellt und -gehalten werden, daß Nietzsche sich gerade gegen eine religiöse Metaphysik verwahrt, welche, Regeln und Bedeutung dieses Spiels verkennend, die Last des Daseins nicht nur nicht erleichtert, sondern — nicht zuletzt durch ein permanentes Schuldgefühl, das der Botschaft des Evangeliums eher widerspricht als gerecht wird — zusätzlich beschwert; und seine Gegenüberstellung aktueller Seligkeit und aktualisierter Unseligkeit, die der „Antichrist" nachzeichnet, entspricht ja weitgehend der Unterscheidung Kants zwischen einem freien, zwar an die Moral gebundenen, aber nicht einem Kultus unterworfenen und einem „statutarischen Glauben", der „Religionswahn" und „Aberglauben", innerlich wie äußerlich, Tür und Tor öffnet. 67 Bleibt noch der Bereich, bei dem für Nietzsche das „Leben im Schein", mag es bewußt gesucht oder erfunden, unbewußt geschaffen oder gefunden werden, „als ob man wirklich in einem andern Leib, in einem andern Charakter aufgegangen wäre", geradezu symptomatisch ist und seinen höchsten Triumph feiert: der Bereich des Ästhetischen. Sucht Nietzsche hier zunächst vor allem die mystische Einheitsempfindung mit der Welt
64
K G W IV 23 [64], III 7 [156]; V 13 [12] bringt die Gegenthese: „Meine Philosophie den Menschen aus dem Schein herauszuziehen auf jede Gefahr hin!" Insgesamt bleibt natürlich nicht nur unklar, ob Nietzsche die Fiktion — die er, wie Vaihinger, in jedem Falle durchschauen zu können vermeint — herausstellt, um die Illusion zu entlarven oder in ihrer Unerläßlichkeit zu wahren, sondern auch unentscheidbar, ob er den Unterschied zu Funktion und Hypothese verwischt, um den Willen zur Macht zu entlarven oder zu etablieren, womöglich als letzte Wahrheit zu begründen. Aber läßt nicht auch Kants vorsichtige Behandlung des religiösen, ja des christlichen Glaubens fragen, ob der Philosoph damit nur der geschichtlichen Wirksamkeit, allenfalls dem Zeitgeist Genüge tun oder ein genuines Desiderat der menschlichen Vernunft, über ihre systematische Befriedigung hinaus, begründen will, dessen erfahrbare Wahrheit jedenfalls postuliert werden darf?
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Kant, KrV, Β 699, 714 K G W IV 29 [49]; AC 15 spricht lapidar und eindeutig von einer „Fiktions-Welt" der christlichen Begriffe. Kant, Rei., 2. Teil
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67
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und den Menschen — welche für die ideologische Vorstellungswelt so charakteristisch ist —, aber zugleich das Vergessen einer rational allein erkennbaren letzten Sinnlosigkeit allen Daseins wie der Welt — „denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt^^ so könnte für Kant jedenfalls allein die ästhetische Urteilskraft durch den regulativen Zweckbegriff die Natur so vorstellen, „als ob" ein höherer „Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte", deren Einrichtung zumindest für die Erkenntnis als ein „glücklicher, unsere Absicht begünstigender Zufall" angesehen werden dürfe, der dann jedenfalls die Möglichkeit einer entsprechenden Praxis sinnvollen Tuns bestätige. 69 Auch Nietzsches spätere Verurteilung der „Lüge" der und in der Kunst gilt ja weit weniger ihrer lebensphilosophischen Funktion als vielmehr einer Überschätzung ihrer Wirksamkeit, die sie in die Nachfolge der Religion, gar als deren Ersatz, rücken läßt, weniger ihrer bewußt gesuchten oder unbewußt erfahrenen Unwahrheit als einem zu hoch angesetzten Wahrheitsanspruch für ihre als solche eingestandenen Fiktionen. „Die Kunst erhebt ihr Haupt, w o die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte." 0
Man sieht, von den „logischen" Fiktionen bis zu den Produkten der Kunst — zu denen Nietzsche gewiß ein weit tieferes Verhältnis hatte als Kant, hinter dessen Erörterung im erkenntnistheoretischen Bereich er merklich zurückfällt — über Moral und Religion — wo sich seine Kritik in wesentlichen Punkten in den kritischen Ansatz einbringen ließe — bleibt Nietzsche bis zuletzt einem Philosophieren verbunden, das der Grenzen der Vernunft prinzipiell ebenso eingedenk ist wie der Notwendigkeit, sie zu überschreiten, ja der Unvermeidbarkeit dieses Schrittes, der, schon durch eine letzte Unbestimmbarkeit dieser Grenzen gegeben, gleichermaßen in den Funktionen des theoretischen Als Ob vollzogen wäre wie in den Forderungen der Lebenspraxis getätigt wird. Es bleibe dahingestellt, ob man außermoralisch gebotene „Lüge", moralisch geforderte „Illusion" oder gestiftete Verdrängung, welche insgesamt ihre Wirksamkeit weitgehend ihrer Verborgenheit verdanken, bewußt wollen kann, „schaffen" muß, statt sie entweder in ihrer Unvermeidbarkeit oder in ihrem Gelingen zu akzeptieren, ohne die Wahrheitsfrage zu stellen, die ohnehin 68 65 70
G T passim, bes. 8, 5, wiederholt in 24 und „Versuch einer Selbstkritik" 5 Kant, K U , Einl. IV, V MA I 150
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durchweg unbeantwortbar ist 71 ; vollends fragwürdig erscheint es jedenfalls, solches Schaffen voll und ganz in den Dienst eines Willens zur Macht zu stellen, der nicht nur den Verzicht auf den Willen zur Wahrheit fordert, sondern andern die Ideen aufzwingen muß, welche das eigene Leben würdig zu ertragen gestatten, am Ende der Menschheit das Ziel setzen muß, das seine Sinngebung als ihren Endzweck setzt. Hier wäre gewiß kritische Strenge für eine Analyse angebracht, welche das Licht der Vernunft nicht vorschnell und deshalb auslöscht, weil seine Quelle und Wirkungsweise sich nicht ihrerseits völlig durchsichtig machen lassen; abgesehen davon, daß — wie Nietzsche sehr wohl weiß — der überhöhte Anspruch des „Ressentiments", wie er entweder aus dem unerfüllbaren Begehren einer „Uberwindung" des Menschen oder dem unüberwindbaren Versagen individueller Erfüllung des Lebens entsteht, das „Leiden" eher vertieft als erträglicher macht; daher es den von ihm Betroffenen eher schädlich als nützlich sei: „Das Ressentiment, aus der Schwäche geboren, Niemandem schädlich als den Schwachen selbst.. ." 72 Andererseits erscheint aber auch die kritische Strenge bei der Festlegung menschlicher Grenzen und Gesetze sowohl der Erkenntnis wie der praktischen Lebensgestaltung, theoretischen Verstehens wie geistiger Erfahrung einer „Ermässigung" (Freud) 73 ihres Anspruchs durchaus bedürftig und fähig, zu der wiederum Nietzsches Analysen, soweit sie im Dienste besserer Lebensbewältigung und gelingender Lebensführung stehen, einen gewichtigen Beitrag leisten dürften und sollten. Es gilt ebensowohl vorschnelle Verengung der Theorie und für die Praxis zu meiden wie überzogene Erwartungen für das Erkennen und Handeln zu dämpfen, die menschlich-allzumenschlichen Bedingungen des „Lebens" positiv auszuschöpfen wie ihren restriktiven Einfluß aufzuzeigen; der Philosophie stellt sich damit vornehmlich die Aufgabe, ihren Wahrheitsanspruch immer neu den erkennbaren Bedingungen und den unabweisbaren Erfordernissen der menschlichen Situation anzupassen, auf das Wahrheitsstreben nicht zu verzichten, weil es letzte Einsichten verweigert, aber auch angemaßtes Wissen zurückzuweisen, wenn es gefahrlicher ist als eingestandene Unwissenheit. „Das Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie ist eine Überzeugung, die noch kein Zeitalter hatte: daß mir die Wahrheit nicht haben..." „Auf diese Weise ist Philosophie eine bloße Idee von einer möglichen Wissenschaft, die nirgend in concreto gegeben ist, welcher man sich aber auf mancherlei 71
72 73
MA I 34: „Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie? Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich? Eine Frage scheint uns die Zunge beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben könne?" EH, Warum ich so weise bin 6 Siegmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur II, Ges. Werke, London 1948, Bd. XIV, 437
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Wegen zu nähern sucht, so lange, bis der einzige, sehr durch Sinnlichkeit verwachsene Fußsteig entdeckt wird und das bisher verfehlte Nachbild, so weit als es Menschen vergönnet ist dem Vorbild gleich zu machen gelingt.. ," 74
Siglen für die Werke Kants Anthr. GMS KrV KU MST Rei.
74
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. Kritik der Urteilskraft Metaphysik der Sitten, Tugendlehre Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
K G W V 3 [19]; Kant, KrV, Β 866, verkürzt zitiert: K G W VIII 2 [202]
die Stelle wird von Nietzsche kommentarlos
JÖRG SALAQUARDA
Nietzsches Metaphysikkritik und ihre Vorbereitung durch Schopenhauer 1 I
Für Schopenhauer war Philosophie wesentlich Metaphysik 2 , während Nietzsche, nach der Verabschiedung der „Artistenmetaphysik" der frühen Basler Jahre 3 , Metaphysik verworfen hat. Aber Schopenhauer hat seine Auffassung der philosophischen Grunddisziplin von früheren und gleichzeitigen Entwürfen abgehoben, vor allem von den Systemen des Rationalismus und des Deutschen Idealismus. Indem er diese vom Boden seiner empirisch anhebenden, den Anforderungen des Kritizismus genügen sollenden neuen Metaphysik vehement kritisierte 4 , hat er der Metaphysikkritik Nietzsches ein Stück weit vorgearbeitet. Und umgekehrt stützte sich Nietzsche bei seiner Metaphysikkritik auf bestimmte Voraussetzungen, die man als seine Metaphysik bezeichnen könnte. Oder sollte man, angesichts der derzeitigen Forschungslage, das Prädikat ,metaphysisch' für die Philosophie des reifen Nietzsches besser nicht 1
Teile der folgenden Überlegungen sind in Vorträgen im philosophischen Seminar der Universität Frankfurt (November 1986) und im Rahmen eines gemeinsam v o m GoetheInstitut und von der Universidad Complutense veranstalteten Schopenhauer-Colloquiums in Madrid (März 1988) vorgetragen worden. — Schopenhauers Werke werden nach den im Schopenhauer-Jahrbuch vorgeschlagenen Ausgaben und unter A n g a b e der dort verwendeten Siglen zitiert. Nietzsches Werke werden nach der K S A und K S B unter A n g a b e der dort verwendeten Siglen zitiert. Bei Zitaten aus kürzeren Textzusammenhängen (Aphorismen, Nachlaßfragmenten, Briefen etc.) erübrigt sich die A n g a b e der Bandund Seitenzahl der verwendeten Ausgaben.
2
Das in W dargestellte philosophische System Schopenhauers umfaßt Erkenntnistheorie oder Transzendentalphilosophie (1. Buch) und Metaphysik ( 2 . - 4 . Buch). Jene ist die unerläßliche Hinführung zum System, eine Art „Vorhalle", die Schopenhauer in seiner Dissertation auch selbständig dargestellt hat. Diese ist die eigentliche Philosophie, die „Philosophie im engeren Sinne" (P II, § 21). — Erläuterungen zu dieser Unterscheidung und überhaupt zum Systemaufbau gibt Schopenhauer außer in dem zitierten Paragraphen von Ρ II in Kap. 17 von W II und im 2. Teil seiner parallel zu W aufgebauten großangelegten Vorlesung über die gesamte Philosophie (hg. von Volker Spierling, 4 Bände, München), hier: Metaphysik der Natur, 1984, 55 ff.
3
GT, Vorrede 2 und 7 (1,13 und 21); vgl. Nachlaß Herbst 1 8 8 5 - H e r b s t 1886: VIII 2 [124] Zu Schopenhauers Metaphysikkriterien v g l . Abschnitt III der vorliegenden Untersuchung, bes. S. 271—273.
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heranziehen? Heidegger hatte sie zwar als metaphysisch in einem ausgezeichneten Sinne aufgefaßt: sie sei als Umkehrung der Metaphysik zugleich deren Ende 5 . Doch im Verlauf der sich anschließenden Diskussion ist seine These stark modifiziert worden. Wenn Nietzsches Denken sich auch in vielen Zügen in den von der Metaphysik vorgezeichneten Bahnen bewege, bzw. immer wieder in diese zurückfalle, so weise es in seinem eigenständigen Kern deutlich über sie hinaus. In Nietzsches nicht erst in Heideggers Denken bereite sich die „Überwindung der Metaphysik" vor, ja sei schon ein Stück weit vollzogen 6 . Müller-Lauter hat dieser Tendenz durch seine Arbeiten zum „Willen zur Macht", die Heideggers „metaphysischer Interpretation" dieser Nietzscheschen Lehre den Boden entzogen, zum Durchbruch verholfen 7 . In einem stimmen alle Autoren, die an der Entwicklung dieser differenzierteren These mitgewirkt haben, in ihren Nietzsche-Interpretationen weiterhin mit Heidegger überein, nämlich im Grundverständnis von Metaphysik'. Ein Indiz dafür sind Wendungen wie „der Metaphysik verhaftet bleiben", oder „die Metaphysik überwinden", die in ihren Arbeiten immer wieder auftauchen. Sie folgen Heideggers epochemachendem Vorschlag, Metaphysik nicht als eine philosophische Disziplin unter anderen (und sei es die grundlegende) zu verstehen, sondern als ein „Geschick des Seins", das das abendländische Denken durchherrscht und bestimmt. Metaphysik ist dieser Auffassung zufolge eine Weise der „Wahrheit des Seins", die in sich zweideutig bleibt, weil sie sich selbst verbirgt, indem sie das Seiende ins Helle rückt. Mit Heideggers Worten: „Die Metaphysik läßt sich nicht wie eine Absicht abtun. Man kann sie keineswegs als eine nicht mehr geglaubte und vertretene Lehre hinter sich bringen." 8 „Überwunden", oder besser, „verwunden" werden kann sie nur durch einen Wandel im Verstehen, der die Entbergung einer anderen Gestalt der Wahrheit des Seins vorbereitet. 5
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Vor allem in seinen schon in der zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre gehaltenen, aber erst später veröffentlichten Vorlesungen: Nietzsche, 2 Bände, Pfullingen 1961. — Zu der lange Zeit von der Forschung übersehenen Entwicklung in Heideggers Nietzsche-Verständnis vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Das Willemwesen und der Übermensch. Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82) 132 — 177 und Ders., Der Geist der Rache und die ewige Wiederkehr. Zu Heideggers später NietzscheInterpretation, in: F. W. Korff (Hg.), Redliches Denken. Festschrift für Gerd-Günther Grau zum 60. Geburtstag, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 92—113. Eine Übersicht über diese Entwicklung gibt Mihailo Djuric, Nietzsche und die Metaphysik (MTNF 16), Berlin-New York 1985, 1 - 7 . Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin —New York 1971, bes. 1 ff.; Nietzsches Lehre vom Willen %ur Macht, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), 1 ff. — Vgl. auch Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von W. Roux auf Fr. Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), 1 8 9 - 2 3 5 . Heidegger, Nietzsche I, 72
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Inzwischen ist zu Recht allgemein anerkannt, daß im Rahmen dieses Verständnisses von ,Metaphysik' in Nietzsches Denken beides zu finden ist: Motive und Argumente, die im traditionell-metaphysischen Verstehenshorizont befangen bleiben, und andere, die ihn sprengen, besonders Nietzsches Überlegungen zum Spiel, zur Kunst und zum menschlichen Handeln. 9 So sachlich bedeutsam und so einflußreich Heideggers Verständnis von Metaphysik auch ist, es behauptet in der gegenwärtigen Diskussion nicht allein das Feld. Eine zumindest genauso einflußreiche, auf Hegel zurückgehende, heute vor allem vom Historischen und Dialektischen Materialismus hochgehaltene Definition reserviert das Prädikat ,metaphysisch' für ein Denken, das sich am Modell einer statischen, aus in sich ruhenden Substanzen bestehenden Welt orientiert. Dieser Betrachtungs- und Argumentationsweise sei große Bedeutung zugekommen, weil sie es ermöglicht hat, Schritt für Schritt die mechanischen Grundgesetze der Natur zu erkennen. Als deren Erforschung aber „so weit gediehen war, daß der entscheidende Fortschritt möglich wurde, der Übergang zur systematischen Untersuchung der mit diesen Dingen in der Natur selbst vorgehenden Veränderungen, da schlug auf philosophischem Gebiet die Sterbestunde der alten Metaphysik". 10 Sie wurde von der neuen, dialektischen Denkweise abgelöst. Eine wieder andere, zur Zeit durch das erneute Interesse an metaphysischen Problemen in der Analytischen Philosophie zwar zurückgedrängte, aber weithin, besonders unter Naturwissenschaftlern verbreitete Auffassung von .Metaphysik' wurde in Aufnahme positivistischer Ansätze von den Denkern des „Wiener Kreises" entwickelt. Nach ihrer Ansicht liefert Metaphysik „Pseudoerklärungen". Anstelle der überforderten Vernunft gebe die Phantasie vorschnelle Antworten auf wissenschaftlich (noch) nicht behandelbare Fragen, soweit es sich nicht überhaupt, nach der berühmten These Carnaps, um „Scheinprobleme" handelt. 11 „Durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurch finden wir den Verstand des Philosophen mit der Phantasie des Dichters vereint; wo der Philosoph fragt, da antwor-
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Djuric, Nietzsche und die Metaphysik, hat nicht nur die vorher von Ulmer, Fink u. a. in diesem Zusammenhang herausgestellten Themen zusammenfassend dargestellt, sondern darüber hinaus eine eindringliche Darstellung von Nietzsches neuer, ,nicht-metaphysischer' Philosophie des Handelns gegeben (116 ff.). Friedrich Engels, L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Berlin 51956, 43 Rudolf Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit, Frankfurt am Main 1966
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tet der Dichter." 12 Nach dieser Auffassung ist Metaphysik nicht zu erneuern, sondern durch eine „wissenschaftliche Philosophie" zu ersetzen. Wer auf der Basis einer der drei kurz beschriebenen philosophischen Optionen argumentiert, wird ,Metaphysik' kritisieren und zumindest bis zu einem gewissen Grad verwerfen. Da aber einem jeden etwas anderes als .metaphysisch' gilt, fallt das, was er als das nicht-(mehr-)metaphysische Fundament seiner Kritik ansieht, für den anderen mit unter das Verdikt. 13 Läßt sich somit zwar eine argumentativ entscheidbare Diskussion darüber führen, ob Nietzsches Philosophie ganz, partiell oder gar nicht „der Metaphysik verhaftet" bleibe, solange man von einem gemeinsamen Metaphysikverständnis ausgeht — und das ist bei den wichtigen NietzscheInterpretationen der letzten Jahrzehnte nun einmal überwiegend das Heideggersche gewesen —, so wird die Nietzsche-Forschung, wie die philosophische Szene im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert überhaupt, bis zur Undurchschaubarkeit verwirrt, wenn konkurrierende Interpretationen mit verschiedenen Metaphysikverständnissen operieren. Für das Thema der vorliegenden Untersuchung ist das Heideggersche Metaphysikverständnis aus zwei Gründen kontraproduktiv. Erstens, weil Heidegger Schopenhauers Philosophie geringgeschätzt und in seiner Nietzsche-Interpretation beiseite gelassen hat, und weil die meisten der sein Grundverständnis von ,Metaphysik' teilenden Autoren ihm auch darin gefolgt sind. 14 Heidegger ist mit Schopenhauer ähnlich umgegangen wie dieser mit Hegel. Man kann nicht sagen, daß seine beiden Hauptthesen: Schopenhauer habe Kant mißverstanden und seine Metaphysik des Willens sei eine Entlehnung von Schelling 15 , viel zu einem sachgerechten Verständnis von Schopenhauers Denken beigetragen haben. Zweitens ist, von Heideggers Auffassung aus geurteilt, Schopenhauers Denken in der Tat viel stärker in die Metaphysik eingebettet als das Nietzsches. Dadurch trübt dieser Ansatz den Blick für die tatsächlich bestehenden Gemeinsamkeiten in der Metaphysikkritik der beiden Denker. In dieser Situation bietet sich ein Weg an, der in neueren Einführungen in die Disziplin Metaphysik verschiedentlich beschritten worden ist: der Rückgriff auf ein formales Verständnis von Metaphysik, demzufolge damit
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Hans Reichenbach, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, Braunschweig 1953, 36 Vgl. dazu auch Volker Gerhardt, Metaphysik und ihre Kritik, in: ZfphF 42 (1988), 45 ff. Vgl. dazu meine Aufsätze Der Antichrist, in: Nietzsche-Studien 2 (1973), 91 ff., bes. 109 ff. und Zur gegenseitigen Verdrängung von Schopenhauer und Nietzsche, in: 65. SchopenhauerJahrbuch (1984), 7 ff. — Vgl. ferner Richard L. Howey, Heidegger and Jaspers on Nietzsche, Den Haag 1973; Charles Senn Taylor, Nietzsche's Schopenhauerianism, in: Nietzsche-Studien 17 (1988), 45 ff. Heidegger, Nietzsche I, 1 2 7 - 1 3 0 , vgl. 44.
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der grundlegende Teil einer Philosophie bezeichnet wird, in dem ihre Voraussetzungen, sowie die empirisch nicht oder nur zum Teil entscheidbaren Probleme behandelt werden.16 Unüberholter Anknüpfungspunkt für einen solchen Metaphysikbegriff ist Kants Definition, nach der in der Metaphysik Fragen und Probleme bedacht werden, die die Vernunft nicht abweisen kann, weil sie aus ihrem eigenen Vorgehen erwachsen, die sie aber aus eigener Kraft auch nicht (letztgültig) beantworten bzw. lösen kann (KrV, A VII). Dieser Vorschlag erlaubt es, von einer „Metaphysik" Hegels, Marx', Carnaps, Heideggers und natürlich auch Nietzsches zu sprechen. Mit diesem Sprachgebrauch ist hinsichtlich des Sachgehalts und der Methode dieser Disziplin nichts präjudiziert, sondern nur auf ihren Stellenwert im Ganzen eines philosophischen Entwurfs hingewiesen. Es überrascht daher nicht, daß von Kant herkommende Interpreten viel unbefangener von „der Metaphysik Nietzsches" sprechen, als man es nach der eindringlichen Diskussion über dieses Thema im Horizont des Heideggerschen Metaphysikverständnisses erwarten konnte.17 Meiner folgenden Untersuchung liegt dieses formale Metaphysikverständnis zu Grunde. Sie fragt danach, ob und inwiefern Nietzsche mit seiner Kritik an dem, was er als ,Metaphysik' verstand und bezeichnete, an Tendenzen angeknüpft hat, die schon bei Schopenhauer zu finden sind; ferner inwieweit die beiden Denker diese Kritiken durch gleiche oder ähnliche Auffassungen von .Metaphysik' im Sinne philosophischer Grundoptionen stützten. Dabei interessiert vor allem der ^^Zusammenhang, d. h. die faktische Gleichheit oder Ähnlichkeit der Argumente und Positionen, und nur am Rande, ob Nietzsche bewußt und ausdrücklich an die Kritik seines philosophischen Mentors angeknüpft hat.
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Z. B. Gottfried Martin, Allgemeine Metaphysik. Ihre Probleme und ihre Methode, Berlin 1965. — Werner Risse, Metaphysik. Grundthemen und Probleme (UTB 253), München 1973. — Friedrich Kaulbach, Einführung in die Metaphysik, Darmstadt 1972 „Ob Nietzsche als Metaphysiker oder als dessen Widerpart zu gelten hat, hängt davon ab, was man unter Metaphysik versteht, und dieses sich im Gang der Geschichte wandelnde Verständnis ist von Nietzsches Kritik inzwischen nicht mehr zu lösen. Heute erkennen wir, wie sehr das, was er mit Recht gegen sie vorbrachte, längst zu einem sie von innen her treibenden Moment geworden ist. Damit dürfte es sich verbieten, über Metaphysik und Anti-Metaphysik bei Nietzsche nach Maßgabe einer Alternative zu entscheiden." (Volker Gerhardt, Macht und Metaphysik, in: Ders., Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, 72 ff., hier: 73 f.). - Vgl. Kaulbachs Nachweise, wie sehr Nietzsche mit seiner „Experimentalphilosophie" an Kants „Experiment mit der Vernunft" angeknüpft hat: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/ Wien 1980, 144 ff. — Zu Nietzsches Auffassung von Metaphysik und zu seiner Kritik an ihr vgl. außerdem: Günter Abel, Nominalismus und Interpretation. Die Überwindung der Metaphysik im Denken Nietzsches, in: Josef Simon (Hg.), Nietzsche und die philosphische Tradition II, Würzburg 1985, 35 ff.
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II Für die Leser von Nietzsches Werken wird erst von Menschliches, All^umenschliches an deutlich, daß der Philosoph einen Feldzug gegen die Metaphysik begonnen hat. Vom ersten Aphorismus an setzte er der traditionellen „metaphysischen Philosophie" eine neue „historische Philosophie" entgegen. 1 8 An dieser Ausrichtung und an der in ihr implizierten Entgegensetzung hat er bis zuletzt festgehalten, und er hat sie an vielen Stellen in Auseinandersetzung mit dem Metaphysiker Schopenhauer entwikkelt. Das Verständnis seiner eigenen, die Kritik tragenden Position hat sich allerdings im Laufe der Achtziger Jahre tiefgreifend verändert. „Mit der metaphysischen Verdrehung ging es mir zuletzt so, daß ich einen Druck um den Hals fühlte, als ob ich ersticken müßte", schrieb Nietzsche kurz nach dem Erscheinen von Menschliches, All^umenschliches.19 Das Buch diente ihm offenbar dazu, sich von diesem Druck zu befreien, indem er die Ergebnisse und Einsichten bisherigen .metaphysischen' Philosophierens erneut zu Fragen und Problemen machte, die von einem zukünftigen Philosophieren, gestützt auf Methoden und Ergebnisse der Naturwissenschaften und der Historie, beantwortet und gelöst, oder als unlösbar bzw. gar unsinnig verworfen werden sollten. Diesen neuen Philosophen, den „freien Geistern" und „Versuchern", weist er das „Himmelreich des Wechsels" zu, während den Metaphysikern die graue, trostlose „Hinterwelt" vorbehalten bleibt (VM 17). Daß „die ganze Philosophie [ . . . ] von jetzt ab der Historie verfallen" sei (VM 10), betonte Nietzsche von da an immer wieder, etwa wenn er sich auf „Philolog und Arzt" als Repräsentanten der historischen und der naturwissenschaftlichen Methoden berief (AC 47), oder wenn er als ,,Idiosynkrasie[n]" bei den metaphysisch orientierten Philosophen das Fehlen des historischen Sinns, die methodische Mißachtung des Leibes und des Zeugnisses der Sinne, die Vertauschung der Rangfolge von Anschauung und Begriff, und schließlich die Verwerfung des Werdens zugunsten des Seins aufführte. 2 0 Ebenfalls von Menschliches, All^umenschliches an bis zu den letzten Schriften hatte Nietzsche bei seiner Metaphysikkritik gewiß nicht nur, 18 19 20
Vgl. M A 1, V M 10 und 17, J G B 224 u. a. m. A n C. Fuchs, Juni 1878; vgl. auch an M. Maier, 15. 7. 1878. G D , Die „Vernunft" in der Philosophie. — Schon hier läßt sich konstatieren, daß Schopenhauer die meisten dieser Entgegensetzungen mitgetragen hätte. Die Zurückführung aller Wahrheit beanspruchenden Aussagen auf Anschauung hat er immer wieder gefordert, den Ausgang beim begrifflichen Denken den Deutschen Idealisten vorgeworfen. Insofern hat er sich auch auf das Zeugnis der Sinne berufen. Der Leib schließlich spielt eine wichtige Rolle in seiner Metaphysikbegründung, worauf noch einzugehen sein wird.
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aber doch an prominenter Stelle die Metaphysik Schopenhauers im Blick. Nicht nur, daß Nietzsche in diesem Zusammenhang seinen Vorgänger mehrfach ausdrücklich nennt 21 , er setzt auch immer wieder spezifische Motive und Termini der Schopenhauerischen Metaphysik als für diese ganze Disziplin typisch voraus, besonders die Berufung auf das „metaphysische Bedürfnis" 22 , das Modell „Wille und Vorstellung" 23 , den Ausgang vom Selbstbewußtsein als Königsweg der Metaphysik 24 und den Zusammenhang von Metaphysik und Religion. 25 Es muß erwähnt werden, wenn es hier auch nicht näher entfaltet werden kann, daß Nietzsches Metaphysikkritik nicht so abrupt eingesetzt hat, wie es dem Leser seiner veröffentlichten Werke erscheinen möchte. Läßt Die Geburt der Tragödie auch bis in die Terminologie und das zentrale ontologische Modell hinein den Einfluß von Schopenhauers Willensmetaphysik erkennen, so war Nietzsche, wie wir seinen Briefen und dem Nachlaß entnehmen können, zur Zeit der Abfassung seines philosophischen Erstlingswerks gewiß kein „orthodoxer Schopenhauerianer" mehr — sofern er je einer gewesen sein sollte. Seit seiner Lektüre von F. A. Langes Geschichte des Materialismus im Jahre 1866 verfügte Nietzsche über ein Modell, das es ihm erlaubte, Metaphysik einerseits als künstlerische Ausmalung des An-sich zu würdigen, sie andrerseits aber kritisch auf diese Funktion zu beschränken, ihr also jeden Anspruch auf wissenschaftliche Geltung zu bestreiten. Dabei handelte es sich um Langes von Kants Ideenlehre angeregtes Verständnis von Metaphysik als „Begriffsdichtung", die Nietzsche eine Zeit lang auf seine Weise übernommen hat. 26 Wenn Nietzsche im Rückblick den Gedanken von einem leidenden Urwesen, das sich in der Kunst einen lebenserhaltenden Schleier schönen Scheins schafft, damit seine Erscheinungen an der Erkenntnis der Wahrheit nicht zu 21
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Vgl. bes. MA 26, 110, VM 271, M 12, 86, FW 44, J G B 36. - Daß Nietzsches Metaphysikkritik in MA in starkem Maße aus seiner Auseinandersetzung mit dem Denken Schopenhauers erwachsen ist, hat zurecht betont: Peter Heller, Von den ersten und den letzten Dingen. Studien und Kommentare zu einer Aphorismenreihe Friedrich Nietzsches (MTNF 1), Berlin —New York 1972. Ein Indiz dafür, auf das Heller aufmerksam macht, ist die Tatsache, daß Nietzsche in Vorstufen zu vielen Aphorismen, in denen in der veröffentlichten Gestalt der Name ,Schopenhauer' nicht mehr enthalten ist, noch von diesem gesprochen hat. Vgl. vor allem den Abschnitt „Schopenhauer" in Hellers Studie zum 26. Aphorismus von MA (313 ff.). Zu Schopenhauer vgl. W II, Kap. 17; zu Nietzsches Kritik z. B. MA 15, 103, 110, 153, FW 151. MA 16, FW 99; vgl. EH, Menschliches, Allzumenschliches, bes. 1. J G B 16; Nachlaß Sommer-Herbst 1884: VII 26 [49]; Nachlaß Herbst 1 8 8 5 - H e r b s t 1886: VIII 2 [204]; Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887: VIII 7 [1] (12,249) MA 110, 131, 273, FW 347 Vgl. dazu Jörg Salaquarda, Der Standpunkt des Ideals bei Lange und Nietzsche, in: Studi Tedeschi, Napoli 1979, 1 3 3 - 1 6 0 .
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Grunde gehen, eine „Artistenmetaphysik" genannt hat 27 , dann war das nicht nur Selbstkritik aus einer viel späteren Perspektive, sondern bezeichnete den Status, den er schon zur Zeit der Abfassung der Schrift, nach seiner Lange-Rezeption, der Metaphysik noch zugestehen konnte und zugestanden hat. Daß Nietzsche gegen Mitte der Siebziger Jahre, zuerst in seinen Aufzeichnungen, seit Menschliches, All^umenschliches auch in seinen Veröffentlichungen, einen entschieden antimetaphysischen Ton angeschlagen hat, bedeutete zwar einen Wechsel in der Bezugsebene, aber keine grundlegende philosophische Neuorientierung. Es ist ihm fraglich geworden, ob seine „Artistenmetaphysik" und der kräftige „Wahn", den er in den Unzeitgemäßen Betrachtungen auf den Spuren Wagners seinen Zeitgenossen vor Augen malte, tatsächlich lebensdienlich seien. Das wachsende Mißtrauen gegenüber der Grundtendenz von Wagners Werk verstärkte diesen Zweifel. In der späteren Vorrede hat Nietzsche davon gesprochen, daß er sich damals die historisch-psychologischen Entlarvungen als Kur verordnet habe. 2 8 Ihre Rigorosität sei selbst Ausdruck der Krankheit gewesen; nach der Genesung habe er sich das Entlarvte wieder positiv aneignen können. In Menschliches, All^umenschliches und seinen beiden Fortsetzungen finden sich einige Äußerungen, die, für sich genommen, an die Metaphysikkritik des „Wiener Kreises" erinnern, also auf eine völlige Verwerfung, nicht nur einer bestimmten historisch vorgegebenen Gestalt von Metaphysik, sondern des gesamten Bestandes an metaphysischen Fragen und Problemen durch Nietzsche hindeuten. So gibt er etwa seiner Hoffnung Ausdruck, daß in Zukunft die historischen und psychologischen Bedingungen der Entstehung von Kunst, Religion und (metaphysischer) Philosophie immer deutlicher erkannt würden, so daß die Metaphysik schließlich durch Physiologie und Entwicklungslehre ersetzt werden könne (MA 10). Überhaupt müsse sich die neue Philosophie mit den Wissenschaften, mit ihren Methoden und Ergebnissen verbinden, den großen Intuitionen dagegen den Abschied geben. Dann werde sich zeigen, daß Metaphysik „die Wissenschaft" sei, „welche von den Grundirrthümern der Menschen handelt — doch so, als wären es Grundwahrheiten" (MA 18). Noch in einer späten Skizze für das von Nietzsche eine Zeit lang unter dem Titel Der Wille %ur Macht geplante Werk notierte er Gedanken „Zur Psychologie der 27 28
S. Anm. 3. Vgl. bes. M A , Vorrede 3, im Blick auf die ersten metaphysikkritischen Schritte des „freien Geistes": „Er schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Lüsternheit; was er erbeutet, muss die gefährliche Spannung seines Stolzes abbüssen; er zerreisst, was ihn reizt."
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Metaphysik", in denen er die Hauptthesen dieser Disziplin als „falsche Schlüsse" bezeichnete, die ihr Kritiker nicht logisch auf ihre Stichhaltigkeit hin zu untersuchen brauche, sie vielmehr durch psychologische Rückführung auf Leiden, Wünsche, Haß gegen die Realität etc. entlarven und so destruieren könne, denn: „das Ressentiment der Metaphysiker gegen das Wirkliche ist hier schöpferisch". 29 Es ist nicht zu bestreiten, daß Nietzsche in der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre diesem Typ von Metaphysikkritik zuneigte und daß er bis zuletzt in seinen Schriften und Aufzeichnungen bisweilen in ihn zurückgefallen ist. 30 Aber schon in Menschliches, All^umenschliches überwiegen andere Äußerungen, die nahelegen, daß Nietzsche „ganz und gar nicht Willens war, fürderhin auf ,Metaphysik' zu verzichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte". 31 Allerdings handelt es sich dabei um einen anderen, neuartigen Entwurf, den Nietzsche selbst nicht als ,Metaphysik' bezeichnete. Wenn er das „metaphysische Bedürfnis" genealogisch als „Nachschößling" der Religion und nicht, wie Schopenhauer, als Ursprung von Religion und Metaphysik begreift 32 , so anerkennt er doch, daß der Philosoph seiner Stärke und Verführungskraft Rechnung tragen muß (MA 131, vgl. 153). Gegen die positivistische Metaphysikkritik macht Nietzsche schon früh geltend, daß es mit der bloßen Verwerfung nicht getan ist: „Die Aufgeklärtesten bringen es nur so weit, sich von der Metaphysik zu befreien und mit Ueberlegenheit auf sie zurückzusehen: während es doch auch hier, wie im Hippodrom, not thut um das Ende der Bahn herumzubiegen" (MA 20). Und nicht erst in den Achtziger Jahren, sondern schon im ersten Aphorismenbuch verurteilte Nietzsche zwar das unentschiedene Schwanken zwischen einerseits Wissenschaft und Metaphysik, Religion und Kunst andererseits; aber er forderte als Merkmal einer höheren Kultur und kühnerer Menschen ein Tanten zwischen und über diesen beiden Bereichen. 33 Die Wissenschaft, das ist Nietzsche von Anfang an klar, kann den uns Menschen durch lange Gewöhnung lieb, ja unentbehrlich gewordenen Irrtümern keine ebenso wirkungsvollen Wahrheiten entgegensetzen, denn „solche Wahrheiten giebt es nicht", sondern allenfalls, wie er in Wendung gegen Schopenhauer sagt, „metaphysische Scheinbarkeiten (im Grunde 29 30 31
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Nachlaß Sommer 1887: VIII 8 [2] So zu Recht auch Djuric, Nietzsche und die Metaphysik, passim, bes. 8 ff. Nach MA II, Vorrede 1 im Blick auf die 2. UB: an Stelle von ,Metaphysik' heißt es dort natürlich .Historie'. FW 151, vgl. MA 110. — Dazu Jörg Salaquarda, Schopenhauer und die Religion, in: 69. Schopenhauer-Jahrbuch 1988, 321 ff., hier: 3 2 7 - 3 2 9 . MA 278 - Vgl. Za II, Das Grablied und GD, Was den Deutschen abgeht, 2.
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ebenfalls Unwahrheiten)" (MA 109). Geht es Nietzsche nach der Abkehr von Wagner zunächst darum, die Unwahrheit der religiösen, metaphysischen und künstlerischen Behauptungen im Sinne der Aussagenwahrheit zu entlarven, so ist er weit davon entfernt, sich mit einem wissenschaftsgläubigen „System der Natur" à la Holbach zufrieden zu geben. Die menschlichen Empfindungen und ihre Projektionen, die bisher von der Metaphysik monopolisiert worden sind, verschwinden nicht mit dieser; sie bedürfen einer Ausdeutung, gegebenenfalls einer Korrektur, aber auch einer Ermutigung! Gemäß seiner späteren Unterscheidung, die sich schon früh angekündigt hat, interessierte Nietzsche dabei primär, „ob der Hunger oder der Überfluß schöpferisch wird". 3 4 So gut wie alle Konzeptionen und „Lehren" des späteren Nietzsche — amor fati und Ewige Wiederkunft, Unschuld des Werdens und Umwertung aller Werte, freier Geist, höherer Mensch und Übermensch etc. — sind ja offensichtlich keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, vielmehr selbst Projektionen, die für Nietzsche gegenüber denen der ,Metaphysik' den Vorteil haben, aus Stärke und Wohlgeratenheit entsprungen zu sein und keine andere, der Realität des Werdens übergeordnete Sphäre zu suggerieren. 3 5 Nietzsche konnte dabei erneut an Langes Modell der Metaphysik als „Begriffsdichtung" anknüpfen 3 6 , wenn er sich nun auch in einem entscheidenden Punkt von Lange abgrenzte: er verstand auch die von den Wissenschaften thematisierte sinnlich-vergängliche Welt nicht mehr als vorgegebene Realität, sondern als Interpretationsprodukt. Dies ist die wichtigste Neuorientierung seiner ,Metaphysik' in den Achtziger Jahren. 3 7 34 35
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Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886: VIII 2 [122] Ein gutes Beispiel bietet Bernd Magnus' Interpretation der Wiederkunftslehre: mit ihr habe Nietzsche der „Chronophobie" der Menschen Rechnung getragen und doch zugleich eine Entgegensetzung von Sein und Werden verhindert: Nietzsche's Existential Imperative, Bloomington and London 1978, 155 ff. Vgl. meinen Aufsatz „Der Standpunkt des Ideals". — Nietzsche berührt sich darin mit dem Fiktionalismus Vaihingers, der die gleichen Wurzeln in Kants Ideenlehre hat. Vaihinger hat selbst auf diese Zusammenhänge hingewiesen: In seiner Philosophie des Als Ob (Berlin 2 1913) beruft er sich im abschließenden 3. Teil („Historische Bedingungen", 613 ff.) auf Kant, Forberg, Lange und Nietzsche. Vgl. das 1. Hauptstück von JGB, bes. den Aphorismus 22 und das vielzitierte Fragment VIII 7 [60] aus dem Nachlaß Ende 1886—Frühjahr 1887, das mit dem Satz beginnt: „Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt ,es giebt nur Thatsachen', würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen". Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 1936, hat als erster die grundlegende Bedeutung des „Auslegens" für Nietzsches Denken beachtet (vgl. bes. 290 ff.). Müller-Lauter hat im Schlußabschnitt seines Aufsatzes Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht (10. „Wille zur Macht als Interpretation") die Konsequenzen dieses Ansatzes deutlich herausgearbeitet. Ein letzter Grund, sei er als statische Gegebenheit oder als dynamischer Vollzug begriffen, verfällt der Kritik von Nietzsches Spätphilosophie. Sie „schließt die Frage nach dem Grund des Seienden im Sinne überliefer-
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Was kritisiert Nietzsche nach den bisherigen Erhebungen in seiner Metaphysikkritik? Zunächst und offensichtlich eine dualistische Weltauffassung. Darauf deutet nicht nur die boshaft-spöttische Metapher von der „Hinterwelt" und den Metaphysikern als „Hinterweltlern" hin 38 , sondern auch die Behauptungen, daß Metaphysik vom Bedingten auf etwas Unbedingtes schließe39, an den Gegensatz der Werte glaube40, deswegen einen „Wunder-Ursprung" der höher geschätzten Dinge annehme, und die Möglichkeit, daß etwas aus seinem Gegensatz entstanden sein könnte, nicht wahrhaben will. 41 In der Göthen-Dämmerung hat Nietzsche alle diese seit Beginn seiner Metaphysikkritik immer wieder erhobenen und im Lauf der Jahre differenzierten Vorwürfe noch einmal gebündelt zusammengefaßt: in dem schon kurz erörterten Abschnitt „Die .Vernunft' in der Philosophie"42 und vor allem in der vielzitierten „Geschichte eines Irrthums", der er den Titel gegeben hat: Wie die ,wahre Welt' endlich %ur Fabel wurde. Diese Entwicklung habe zu der Einsicht geführt, daß erst die Abschaffung des dualistischen Grundmodells die entscheidende Wende bringt, nach der die neue, nichtmetaphysische Philosophie beginnen könne.43
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ter Metaphysik als eine für das wirkliche Geschehen relevante Frage aus" (60). — Im Ausgang von Müller-Lauters Überlegungen ist Nietzsches Spätphilosophie von J. Figi als eine umfassende Hermeneutik und von G. Abel als Interpretationsphilosophie gedeutet worden. Vgl. dazu Johann Figi, Interpretation als philosophisches Prinzip. Fr. Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß (MTNF 7), Berlin —New York 1982; Ders., Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie, Düsseldorf 1984; Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr (MTNF 15), B e r l i n - N e w York 1984. V. Gerhardt, mit dem ich im Verständnis von ,Metaphysik' übereinstimme, hat in seinem unter dem Titel Experimental-Philosophie veröffentlichten „Versuch einer Rekonstruktion" von Nietzsches Denken merkwürdigerweise den zentralen Aspekt der Auslegung nicht unter den zehn seiner Meinung nach für Nietzsches neue ,Metaphysik' kennzeichnenden Merkmalen aufgeführt (in: ders., Pathos der Distanz, 163 ff.). VM 17, Za I, Von den Hinterweltlern; vgl. FW 351. Vgl. MA 16; JGB 31; Nachlaß Sommer 1883; VII 8 [25]; Nachlaß Sommer 1887: VIII 8 [2], — Daß der Schluß vom Bedingten auf ein Unbedingtes nicht valide ist, hat Nietzsche wohl zuerst durch seine Schopenhauer-Lektüre erfahren (vgl. unten S. 277 und Anm. 75); Argumentationshilfe hat ihm später Afrikan Spir, Denken und Wirklichkeit (Leipzig 1837) geliefert. Zu Nietzsches Exzerpten aus diesem Buch und zu seiner Spir-Rezeption überhaupt vgl. Heller, Von den ersten und letzten Dingen, 168 ff. und Helene Claparède-Spir, Friedrich Nietzsche und Afrikan Spir, in: Philosophie und Leben 6 (1930), 242—250. Vgl. M insgesamt (bes. das 2. Buch) und JGB 2. MA 1, JGB 2 Vgl. oben S. 263 und Anm. 20. Im veröffentlichten Text verweist Nietzsche mit dem Satz „INCIPIT ZARATHUSTRA" auf sein eigenes Werk; in einer Vorstufe heißt es an dieser Stelle „INCIPIT PHILOSOPHIA" (14, 415, Kommentar zu dieser Stelle), womit Nietzsche auf die in JGB beschworene „Philosophie der Zukunft" seiner „freien Geister" anspielt.
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Nach diesem Ansatz — der Nietzscheschen .Metaphysik' in der hier vorgeschlagenen Terminologie — ist die Welt das irreduzible Mit- und Gegeneinander von Machtwillen. Deren Sein ist der interpretierende Kampf; sie „sind" nicht unabhängig von diesem Geschehen, sondern nur als dieses. Und auch die Welt „ist" nicht als ein vorgegebenes Ganzes, sondern als der durch den Kampf der Machtwillen konstituierte Raum seines Vollzugs. Was im Alltags Verständnis als „Ding" aufgefaßt und von der traditionellen Metaphysik als „seiend" in einem substantiellen Sinn gedacht wird, ist seinem ontologischen Status nach eine zeitweilige Setzung durch einen jeweiligen Machtwillen. 4 4 Die „Versucher-Philosophen" der Nietzscheschen „Experimentalphilosophie" unterscheidet von den „Metaphysikern" daher nicht, daß sie keine derartigen Setzungen vornehmen würden, im Gegenteil: das ist ihre eigentliche Aufgabe! 4 5 Weil das so ist, sieht Nietzsche von dieser entwickelten Position aus nicht mehr nur das durch die Religionen in uns Menschen großgezogene „metaphysische Bedürfnis" als eine Verführung zu dualistischem und insbesondere statischem Denken an, sondern alle überkommenen und kanonisch gewordenen Setzungen, bes. die Logik, die Strukturen der (indogermanischen) Grammatik, die Dingmodelle bis hin zur Atomistik etc. Die Analysen, in denen er solche Setzungen entlarvt und destruiert, gehören zu den faszinierendsten, freilich auch umstrittensten seines Werks. Sie haben in der Diskussion um Nietzsches neuen, „nicht-metaphysischen" Ansatz zu Recht große Beachtung gefunden. 4 6 Seinem Begriff von der traditionellen Metaphysik, der für seine Metaphysikkritik grundlegend war, fügen sie aber nichts entscheidend Neues hinzu.
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Tatsächlich ist die Struktur viel komplizierter, wie Abel, Nietzsche gezeigt hat. Er spricht (162 ff.) von einem ,,geschehens-logische[n] Interpretationszirkel", der fünfstellig sei: „Es gibt ein Interpretationsgeschehen, von dem der Interpretierende [sc. Machtwille] bereits interpretiert ist, wenn und indem er sich interpretierend auf anderes Seiendes bezieht, welches, seinerseits Interpretierendes und Interpretiertes, auch ihn wiederum interpretiert" (173). Die Aufgabe des neuen Philosophen der Zukunft verlangt, „dass er Werthe schaffe", heißt es J G B 2 1 1 . In diesem Aphorismus und im gesamten 6. Hauptstück von J G B („Wir Gelehrten"), dem er entstammt, entwickelt Nietzsche nicht nur den Unterschied von metaphysischer und neuer Philosophie, sondern hebt auch den Wissenschaftler, als eine niedere Spezies, von beiden Philosophentypen ab. In dieser Hinsicht vollzieht er eine selbstkritische Wendung gegenüber der Position, die er in MA I und II eingenommen hatte. — Eine Abwertung der Wissenschaft als Wissenschaft, also als adäquates Mittel der We\terklärung und -beherrschung ist damit freilich nicht verbunden. Vgl. dazu die Arbeiten zum Problem der „Ideologiekritik" bei Nietzsche, vor allem: Heinz Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung (MTNF 2), Berlin —New York 1972. — Monika Funke, Ideologiekritik und ihre Ideologie bei Nietzsche (problemata 35), Stuttgart-Bad Cannstatt 1974. — Reinhart Maurer, Nietzsche und die kritische Theorie, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), 34 ff. - Dazu auch Jörg Salaquarda, Mythos bei Niet%-
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III Zu den „Metaphysikern" rechnete Nietzsche auch Kant, nicht zuletzt wegen seiner Postulatenlehre, in der er gewisse, in der ersten Kritik problematisch, d. h. theoretisch unbeweisbar, aber in sich widerspruchsfrei gebliebene Annahmen als im praktischen Zusammenhang gerechtfertigt erweisen wollte. Im „Schnappsack der Metaphjsiker" findet sich nach Nietzsches spöttischer Aufzählung deswegen unter anderem „ein kleiner Herrgott, eine artige Unsterblichkeit" (VM 12). Vor allem aber richtete sich Nietzsches Kritik gegen den Begriff eines „Dings an sich" und gegen seine Abhebung von der „Erscheinungswelt" (MA 16 u. ö.). In der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre hat er abschließend festgestellt, daß er schon die Unterscheidung für verfehlt ansehe, unabhängig davon, ob man das Ding an sich für erkennbar oder unerkennbar hält, bzw. wie man es bestimmt, wenn man es für erkennbar hält. „Es ist [ . . . ] nicht der Gegensatz von ,Ding an sich' und Erscheinung: denn wir ,erkennen' bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen". 47 In einer ausführlichen Reflexion aus dem Herbst 1887, deren Ergebnisse in die Göthen-Dämmerung eingegangen sind, stellte Nietzsche fest, daß es kein „Subjekt an sich" gebe. Auch die Ich-Substanz der rationalen Metaphysik sei eine Setzung des Auslegenden. Mit ihr sei freilich auch der Begriff eines Dings an sich preiszugeben, woraus zu guter Letzt folge: „Der Gegensatz ,Ding an sich' und ,Erscheinung' ist unhaltbar; damit aber fallt auch der Begriff ¡Erscheinung dahin" (VIII 9 [91]). Die Unterscheidung zwischen „Ding an sich" und „Erscheinung" ist auch für die Philosophie Schopenhauers grundlegend. Deswegen, wenn auch nicht nur deswegen, hat Nietzsche auch Schopenhauer den „Hinterweltlern" zugerechnet. Da er aber nirgends ausführlich und mit der erforderlichen Differenziertheit auf Schopenhauers Bemühungen eingeht, seinerseits die überkommene Metaphysik zu kritisieren und dadurch Raum für seine neue Metaphysik zu gewinnen, ist die Frage berechtigt, ob er nicht vorschnell geurteilt hat. 48
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sehe, in: H. Poser (Hg.), Philosophie und Mythos, Berlin-New York 1979, 174ff. - Die Frage, ob bzw. inwieweit der Ideologiebegriff auf das Denken Nietzsches anwendbar ist, wurde im Anschluß an das Referat von Gerd-Günther Grau, Sublimierter oder realisierter Wille zur Macht, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82, 222 ff. (dort 2 5 4 - 2 7 7 ) von den Teilnehmern an einer Nietzsche-Tagung kontrovers diskutiert. FW 354. — Vgl. Nietzsches erste Reaktion nach der Lektüre von Langes Geschichte des Materialismus: an Gersdorff, Ende 8.1866. — Zu Nietzsches Lange-Rezeption vgl. außer meinem in Anm. 26 genannten Aufsatz George J. Stack, Lange and Nietzsche (MTNF 10), Berlin —New York 1983 und Jörg Salaquarda, Nietzsche und Lange, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), 236 ff. Zum Verhältnis Nietzsches zu Schopenhauer vgl. neben der in Anm. 14 aufgeführten Literatur die Referate einer von der Schopenhauer-Gesellschaft veranstalteten Tagung zu
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Vorkritische, „dogmatische" Entwürfe hat Schopenhauer genauso wie Nietzsche abgelehnt. Er berief sich dabei auf Kant, und es ist, nebenbei gesagt, gar nicht abwegig zu fragen, ob nicht auch Nietzsche, seiner kurz angedeuteten entschiedenen Kritik zum Trotz, in entscheidenden Zügen seines Denkens Kantianer geblieben ist.49 Für Schopenhauer jedenfalls war die Unterscheidung von Ding an sich und Vorstellung Garantie dafür, daß ein Rückfall in „naiven" Rationalismus nicht mehr oder nur um den Preis philosophischer Rückständigkeit möglich ist.50 In manchem hat Schopenhauer den transzendental-kritischen Ansatz radikalisiert, ζ. B. insofern, als er keine apriorischen B e g r i f f e mehr gelten läßt. Seiner Meinung nach sind alle Begriffe empirisch. Deswegen müssen Aussagen, soweit sie nicht bloß formale Beziehungen betreffen, letztlich auf direkte Anschauung zurückgehen, wenn sie Anspruch auf Wahrheit erheben.51 Wenn sich der Philosoph zur Darlegung seiner Einsichten auch des begrifflichen Denkens
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diesem Thema (abgedruckt in: 65. Schopenhauer-Jahrbuch [1984], 1 ff.); Georges Goedert, Nietzsche und Schopenhauer, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), 1 ff.; Claudia Crawford, The Beginnings of Nietzsche's Theory of Language ( M T N F 1 9 ) , Berlin —New York 1988, inbes. 179 ff. („Nietzsche and Schopenhauer"); Thomas Böning, Metaphysik, Kunst und Sprache heim frühen Nietzsche ( M T N F 20), B e r l i n - N e w York 1988, inbes. I f f . („Nietzsches Destruktion der Metaphysik"); und vor allem die später (Anm. 84) heranzuziehenden Arbeiten von Fr. Decher. Die beiden für die Entwicklung seines philosophischen Denkens einflußreichsten Bücher, Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung und Langes Geschichte des Materialismus, stehen für einen modifizierten Kritizismus. Von den neueren Autoren sind vor allem die folgenden den Spuren des Kantischen Kritizismus im Denken Nietzsches nachgegangen: Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris 1962 (deutsch München 1976). — KarlHeinz Dickopp, Aspekte zum Verhältnis Nietzsche—Kant und ihre Bedeutung für die Interpretation des Willens zur Macht, in: Kant-Studien 61 (1970), 97 — 111. — Friedrich Kaulbach (neben seinem in Anm. 17 genannten Buch und seinem Beitrag in diesem Band vgl. Nietzsche und der monadologische Gedanke, in: Nietzsche-Studien 8 [1979], 127 ff.). — Volker Gerhardt (vgl. seine in Anm. 17 zitierte Aufsatzsammlung). — Mihailo Djuric (Nietzsche und die Metaphysik, bes. 214ff.). — J ö r g Salaquarda, Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie, in: Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Über Fr. Nietzsche. F.ine Einführung in seine Philosophie, Frankfurt 1985, 27 — 63. — Keith J. Ansell-Pearson, Nietzsches Overcoming of Kant and Metaphysics: From Tragedy to Nihilism, in: NietzscheStudien 16 (1987), 300 ff. — Die Monographie von Siegfried Kittmann, Kant und Nietzsche. Darstellung und Vergleich ihrer Ethik und Moral, Frankfurt et al. 1984 wird dem Thema nicht gerecht (vgl. meine Rezension in Kant-Studien 77 [1986], 264 — 267. — Vgl. auch Gerd-Günther Graus Beitrag in diesem Band. „Es macht die Eigenart von Schopenhauers Neugründung von Metaphysik aus, daß sie weder das Subjekt noch die Objektwelt überschreitet, wenn sie das Wesen erfaßt. Dem Wesen kommt die philosophierende Vernunft gerade darin bei, daß sie — dem transzendentalen Standpunkt treu bleibend — vom erkennenden Subjekt ausgeht und erkennend (nicht Erkenntnis überspringend) das fragende Subjekt selbst nach dem befragt, was es — außer Erkennen — noch ist" (Rudolf Malter, Der eine Gedanke. Hinführung zur Philosophie A. Schopenhauers, Darmstadt 1988, 51). Schopenhauers Erkenntnistheorie ist in G und W 1, 1. Buch enthalten; zu seiner Wahrheitslehre vgl. vor allem G. §§ 30 — 33.
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als eines Mediums bedienen muß, so darf Philosophie doch nicht als „eine Wissenschaft aus bloßen Begriffen" betrieben werden, wie Schopenhauer gegen Kants Definition und vor allem gegen die Praxis der „Sophisten" des Deutschen Idealismus betont.52 Für den Vergleich mit Nietzsches Kritik an der traditionellen Metaphysik und seiner Grundlegung einer neuen Philosophie sind vor allem folgende Momente wichtig: Schopenhauer unterscheidet die Philosophie (Metaphysik) zwar von den Wissenschaften, bezieht sie aber auf diese und auf ihre Ergebnisse. Erkenntnisse der Metaphysik gelten von derselben Welt, die auch von den Wissenschaften thematisiert wird, aber sie betreffen sie als garnie.53 Dementsprechend kann auch die Lehre, daß die Welt in ihrem Kern Wille ist, keine andere, gar „hintere" Welt meinen, sondern ist von Schopenhauer als ,metaphysische Deutung dieser Welt gemeint. Schopenhauer selbst hat seine Philosophie, in Abhebung von den seiner Meinung nach verfehlten Entwürfen, wie folgt gekennzeichnet: „Als einen großen Vorzug meiner Philosophie sehe ich es an, daß alle ihre Wahrheiten unabhängig von einander, durch die Betrachtung der realen Welt gefunden sind, die Einheit und Zusammenstimmung derselben aber [...] sich immer nachher von selbst eingefunden hat. Darum auch ist sie reich und hat breite Wurzeln auf dem Boden der anschaulichen Wirklichkeit aus welchem alle Nahrung abstrakter Wahrheit quillt."54 52
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Ρ II, § 9 in Anspielung auf Met. Anfangsgr. d. Naturwiss. (Akad. Ausg. Bd. IV, 469). — In den Werken der Basler Jahre und in der frühen Metaphysikkritik ist Nietzsche dieser Schopenhauerschen Maxime gefolgt. Zu seiner späten .Metaphysik', derzufolge es nur Interpretationen, keine Tatsachen gibt, paßt sie eigentlich nicht. Aber Nietzsche scheint diese Spannung nicht bemerkt zu haben. „Das ganze Wesen der Welt abstrakt, allgemein und deutlich in Begriffen zu wiederholen, und es so als reflektiertes Abbild in bleibenden und stets bereit liegenden Begriffen der Vernunft niederzulegen: dieses und nichts anderes ist Philosophie" (W I, § 68: 2,453). W II, Kap 17: 3,206f.; vgl. P I : 5,139f. - In den letzten Jahren hat das Interesse an Schopenhauers Denken und insbesondere an seinem Versuch einer nachkritischen Neubegründung von Metaphysik quantitativ und qualitativ stark zugenommen. Zur Literatur bis Anfang der Achtziger Jahre vgl. „Einleitung" und „Bibliographie" des von mir herausgegebenen Sammelbands Schopenhauer (WdF 602, Darmstadt 1985). Von den seither erschienenen Arbeiten sind für die hier behandelte Thematik vor allem folgende von Interesse: Dieter Birnbacher, Induktion oder Expression. Zu Schopenhauers Metaphilosophie, in: 69. Schopenhauer-Jahrbuch (1988), 7—19. — Rudolf Malter, Wesen und Grund. Schopenhauers Konzeption eines neuen Typus von Metaphysik, in: 69. SchopenhauerJahrbuch (1988), 29—40; ders., Erlösungdurch Erkenntnis. Über die Bedingung der Möglichkeit der Schopenhauerschen Lehre von der Willensverneinung, in: W. Schirmacher (Hg.), Zeit der Ernte. Studien zum Stand der Schopenhauer-Forschung, Stuttgart 1982, 41—59 (vgl. auch Malters in Anm. 50 genannte „Einführung"). — Martin Morgenstern, Schopenhauers Grundlegung der Metaphysik, in: 69. Schopenhauer-Jahrbuch (1988), 57—66. — Gerhard MollowitPhilosophische Wahrheit und intuitives Urdenken, in: 69. SchopenhauerJahrbuch (1988), 41—56; ders., Die besondere Erkenntnisweise des Künstlers, Heiligen, Philosophen, in: 65. Schopenhauer-Jahrbuch (1984), 2 0 9 - 2 3 2 . - Alfred Schmidt, Die Wahrheit
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Diese empirische Verankerung der Metaphysik hat Schopenhauer in seinem Werk auf zwei Wegen zu realisieren gesucht. Zum einen hat er sich auf die Ideenschau berufen, die es dem Philosophen ermögliche, die Erscheinungen in ihren Grundgestalten, unbeeinflußt von egoistischen Begierden zu erfassen. Zum anderen hat er an das angeknüpft, was dem Subjekt im Selbstbewußtsein zur Erfahrung kommt. 55 Nietzsche hat in seinem Frühwerk deutlich an den ersten Weg und später, wenn auch weniger offenkundig, an den zweiten angeknüpft. In den Unzeitgemäßen Betrachtungen hat er die geniale Ideenschau als Quelle des Philosophierens aufgegriffen, etwa in seiner Schilderung des „Schopenhauerischen Menschen".56 Im Zuge seiner kritischen Wendung hat er diesen intuitiven Zugang zur „wahren Welt" nachdrücklich verworfen, als „Aberglaube vom Genie", das sich „die Mühsal und Strenge der Wissenschaft" meint ersparen zu können.57 Später hat Nietzsche sich den Gedanken erneut angeeignet, allerdings mit einer wichtigen Modifikation, die es ihm erlaubte, in diesem Zusammenhang nicht mehr an Schopenhauer zu denken: die primäre Wirklichkeitserfassung des wahren Philosophen
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im Gewände der Lüge, Schopenhauers Religionsphilosophie (SP 639), München 1986; ders., Idee und Weltwille. Schopenhauer als Kritiker Hegels (edition akzente), München/Wien 1988; ders., Über Tod und Metaphysik bei Schopenhauer, in: 69. Schopenhauer-Jahrbuch (1988), 75 — 83. — Volker Spierling, Schopenhauers furchtbare Wahrheit, in: V. Spierling (Hg.), Schopenhauer im Denken der Gegenwart, München/Zürich 1987, 27 ff.; ders., Philosophie des Übergangs. Grundtendenzen in Schopenhauers Ethik, in: W. Schirmacher (Hg.), Zeit der Ernte, 30 ff. Birnbacher, Induktion oder Expression, unterscheidet in Schopenhauers Metaphilosophie zwei Ansätze für eine Neubegründung der Metaphysik: einen induktiven mit hypothetischem Geltungsanspruch, und einen expressiven der Phänomenbegründung. Nach Birnbachers Meinung überwiegt in Schopenhauers Metaphysik der induktive Ansatz, ohne je allein zum Tragen zu kommen, während er sich in seiner Selbstinterpretation mit ihren weitgehenden Ansprüchen eher am expressiven orientiert. Demgegenüber hat Malter, Wesen und Grund, zu Recht darauf hingewiesen, daß Schopenhauer die Metaphysik (nur) deswegen zu den „Erfahrungswissenschaften" rechnete, weil das Subjekt im Perspektivenwechsel von der Erfahrung äußerer Objekte (einschließlich des eigenen Leibes, soweit er durch die Außensinne erfaßt wird) zur Innenwahrnehmung, sein Selbst unmittelbar (also gerade nicht am Leitfaden des Satzes von Grund induktiv erschlossen!) als Leib bzw. Wille erfährt. Es stimmt allerdings, daß Schopenhauers Metaphysik hypothetischen Charakter hat, weil der erfahrene Wille immer noch Vorstellung und nicht der Wille als Ding an sich ist. Aber auch vom vorgestellten Willen zum Wesen dringt Schopenhauer nicht durch einen Induktionsschluß vor, sondern durch metaphysische Deutung. Und die Übertragung des Wesens „meines" Leibes auf das Wesen aller Vorstellungen nimmt er mit Hilfe eines Analogieschlusses vor. Vgl. SE 4, bes.: „[.··] wahrhaftig sein heisst an ein Dasein glauben, welches überhaupt nicht verneint werden könnte und welches selber wahr und ohne Lüge ist. Deshalb empfindet der Wahrhaftige den Sinn seiner Thätigkeit als einen metaphysischen, aus Gesetzen eines andern und höhern Lebens erklärbaren [ . . . ] " (1,372). M 164; vgl. MA 5, JGB 16.
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sei gerade nicht passives Hinnehmen von etwas Vorgegebenem, wie es Schopenhauers Bild vom ,,klare[n] Weltauge" nahelegt, das aus der Verschmelzung von Idee und Vorstellen resultiere 58 , sondern ursprünglich schöpferische Tätigkeit des großen Menschen. Der Behauptung, daß die Innen-Erfahrung zur unmittelbaren Erfassung des An-sich gelangen kann 59 , ist Nietzsche spätestens seit seiner metaphysikkritischen Wendung entschieden entgegengetreten. Er hat die neuen Philosophen vielmehr auf „jene unbedeutend erscheinenden Lösungen der Physik" verwiesen 60 und „die Tyrannen des Geistes" kritisiert, die sich mit den „kleinen einzelnen Fragen und Versuchen" nicht zufrieden geben, sondern unbedingt die „Enträthsler der Welt" sein wollten und nicht daran zweifelten, sogar der einzige zu sein, dem dies schließlich gelungen sei — „zuletzt noch Schopenhauer", wie Nietzsche ausdrücklich hinzufügte (M 547). Konnte Nietzsche im Kontext von Menschliches, All^umenschliches einen solchen Vorwurf glaubhaft vorbringen, so mußte er später, aus dem Munde eines Autors, der die Welt als „Wille zur Macht — und nichts außerdem" bezeichnet hatte 61 , merkwürdig klingen. Der späte Nietzsche kritisierte denn auch nicht, daß Schopenhauer auf dem Weg über die Innenerfahrung des Leibes die Welt überhaupt (.metaphysisch') gedeutet hat, sondern daß er sie als Wille gedeutet hat. 62 Entscheidend für Nietzsches Metaphysikvorwurf gegenüber Schopenhauer war und blieb der Dualismus-Verdacht, der sich an dem von Schopenhauer ja bewußt festgehaltenen Modell „Wille—Vorstellung" entzündete. Es ist freilich nicht zu übersehen, daß Schopenhauer das Modell in einer anderen Bedeutung verwendet hat als Kant. Schon ihm ging es dabei um die Vermeidung dualistischer Mißverständnisse. Schopenhauer hat Kant allerdings gerade in diesem Punkt gelobt. Seine Kritik der Kantischen Philosophie beginnt nach einer kurzen Einleitung mit folgendem hervorgehobenen Satz: „Kantsgrößtes Verdienst ist die Unterscheidung der Erscheinung vom Dinge an sich"63 — garantiere diese Einsicht doch die Möglichkeit einer kritischen Metaphysik. 64 Aber Schopenhauer konstatierte eine gewisse Zweideutigkeit in Kants Bestimmung des Verhält58 59 60 61 62
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W, 3. Buch, §36: 2,218 f. Die Schopenhauer freilich so nicht aufgestellt hat; vgl. Anm. 55. MA 6 u. ö. Nachlaß J u n i - J u l i 1885: VII 38 [12] (im Original gesperrt); vgl. J G B 22. Vgl. z. B. FW 370, wo Nietzsche Schopenhauers Willens-Philosophie als Ausdruck des ,,tyrannische[n] Wille[ns] eines Schwerleidenden" bezeichnete, der an der Welt Rache nimmt, indem er ihr „das Bild seiner Tortur" einbrennt. Er kritisierte also die seiner Meinung nach nihilistische Tendenz, anerkannte aber die machtvolle Projektion. Anhang zu W I: 3,494 Vgl. oben S. 271 und Anm. 49.
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nisses von Erscheinung und Ding an sich. Der Fehler beginne damit, daß Kant lediglich die Form der Erscheinungen auf das „Subjekt", d. h. auf die transzententalen Bedingungen des Vorstellens, zurückgeführt habe, nicht aber den Inhalt. Erscheinungen, so Schopenhauer, sind uns aber nur als Empfindungen des erkennenden Subjekts gegeben, ihrer Form wie ihrem Inhalt nach, und sollten deswegen unmißverständlicher als Vorstellungen bezeichnet werden. Kant habe das Problem falsch gestellt und habe daher nicht verständlich machen können, wie das als solche unerkennbare Ding an sich „außer mir" Empfindungen „in mir" hervorrufen können soll. 65 Viele Äußerungen deuteten darauf hin, daß er deswegen, in Spannung zu seinem eigenen Grundmodell, das Ding an sich als eine Art „Objekt an sich" begreifen mußte, d. h. als die äußere Ursache für das Materielle der Vorstellungen unseres Intellekts. Kant sei dazu von Locke verführt worden, der unbedenklich so argumentieren konnte, weil er von vornherein nicht zwischen Ding an sich und Erscheinung unterschieden hatte. Bei Kant mußte dieses Vorgehen dagegen zu unhaltbaren Konsequenzen führen, weil sein System dann entweder auf einen absoluten Idealismus hinauszulaufen schien, wogegen er sich bekanntlich in der zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft durch Einfügung einer ausdrücklichen „Widerlegung des Idealismus" zur Wehr gesetzt hat 66 , oder das Ding an sich als Ursache von Vorgängen in der Erscheinungswelt (miß)verstanden werden mußte, was der kritizistischen Grundeinsicht widerstreitet. Schopenhauer hat dagegen die These gesetzt, daß Erscheinungen, als „Vorstellungen", ihrer Form wie ihrer Materie nach, „subjektiv" im Sinne des kritizistischen Subjektsbegriffs sind. Wenn überhaupt, dann könne man nur durch eine Analyse ihres „Inneren" zur eigentlichen Realität vordringen, zu dem, ivas die Vorstellungswelt, abgesehen von ihrem Vorgestelltwerden, in sich selbst ist. 67 Aber auch und gerade in diesem Wechsel der Perspektive von der „Welt als Vorstellung" zu der „Welt als Wille", folgt Schopenhauer seinem Programm einer empirischen Fundierung der 65
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Schopenhauer hat die Kritik an Kants Fassung des „Dings an sich" zuerst von seinem Göttinger Lehrer G. E. Schulze gehört. In der Kritik der Kantischen Philosophie nimmt er auf Schutzes Aenesidemus von 1792 bezug (3,514 — 518 nach Aenesidemus 374 — 381). In einer längeren Nachlaßaufzeichnung aus dem Jahre 1830 (HN 3,655 ff.) weist er Schulzes Kritik allerdings als zwar scharfsinnig, aber verfehlt zurück: sie treffe „mehr die mangelhafte Darstellung Kants als seine Meinung" (660). Vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Kants Widerlegung des materialen Idealismus, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 46 (1964), 6 0 - 8 2 . In meinem Aufsatz Schopenhauers Kritik der Phjsikotheologie (in: V. Spierling [Hg.], Schopenhauer im Denken der Gegenwart, 81 ff.) habe ich Schopenhauers Argumentation gegenüber Kant schon kurz angedeutet (92 und Anm. 40).
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Metaphysik. Er setzt bei der Erfahrung des Selbstbewußtseins ein, in welcher Klasse von Vorstellungen einem jeden Subjekt nur ein einziges Objekt gegeben ist, nämlich es selbst. Allerdings ist es sich dabei nicht wiederum als erkennendes Subjekt gegeben — das Erkennen selbst ist unerkennbar 68 —, sondern als wollendes. Im Ausgang von dieser für jedes erkennende Subjekt singulären Vorstellung, und in Analogie zu ihrem Gehalt, könne das „Ding an sich" als Wille bestimmt werden. In der selbstbewußten Diktion seiner späteren Werke spricht Schopenhauer in diesem Zusammenhang vom „Kern und Hauptpunkt" seiner Lehre, der „eigentlichen Metaphysik derselben". Sie erbringe „jene paradoxe Grundwahrheit, daß Das, was Kant als Ding an sich der bloßen Erscheinung [...] entgegensetzte und für schlechthin unerkennbar hielt, [ . . . ] nichts Anderes ist, als jenes uns unmittelbar Bekannte und sehr genau Vertraute, was wir im Innern unsers eigenen Selbst als Willen finden; daß demnach dieser Wille, weit davon entfernt, wie alle bisherigen Philosophen annahmen, von der Erkenntniß unzertrennlich und sogar ein bloßes Resultat derselben zu seyn, von dieser, die ganz sekundär und spätem Ursprungs ist, grundverschieden und völlig unabhängig ist, folglich auch ohne sie bestehn und sich äußern kann, welches in der gesammten Natur, von der thierischen abwärts, wirklich der Fall ist; ja, daß dieser Wille, als das alleinige Ding an sich, das allein wahrhaft Reale, allein Ursprüngliche und Metaphysische, in einer Welt, wo alles Uebrige nur Erscheinung, d. h. bloße Vorstellung ist, jedem Ding, was immer es auch seyn mag, die Kraft verleiht, vermöge deren es daseyn und wirken kann [.. .]". 69 Ob Schopenhauers Interpretation und Kritik den Intentionen Kants gerecht wird, muß und kann hier auf sich beruhen. 70 Gewiß ist, daß es Kant nicht gelungen ist, eine zufriedenstellende und in sich widerspruchsfreie Lehre vom „Ding an sich" auszuarbeiten. Alle Nachkantianer haben ihn in dieser Hinsicht kritisiert. Die Bemerkung Jacobis, daß man ohne Voraussetzung des Realismus (d. h. der Realität des Dings an sich) nicht in das kantische System hinein gelangen, mit dieser Voraussetzung aber nicht in ihm bleiben könne, hat viel für sich. 71 Für den hier versuchten Nachweis ist wichtig, daß Schopenhauer in seiner Metaphysik zwar an einer dualistischen Terminologie festgehalten hat, indem er Ding an sich oder Wille der Erscheinung oder Vorstellung 68
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„[...] das vorstellende Ich, das Subjekt des Erkennens, kann, da es, als nothwendiges Korrelat aller Vorstellungen, Bedingung derselben ist, nie selbst Vorstellung oder Objekt werden" (G, § 41: 1, 141). - Vgl. auch W I, 1. Buch, § 2. N, Einleitung: 4/1, 2 Vgl. dazu den Beitrag von Martin Bauer in diesem Band. Fr. H. Jacobis Werke, hg. von Fr. Roth und Fr. Koeppen, Leipzig 1812, hier: II, 304
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entgegensetzte, daß er damit aber zweifellos einen metaphysischen Monismus des Willens zum Ausdruck bringen wollte. Dieser Wille ist, wie er ständig betonte, das HEN KAI PAN. 72 Die „Welt als Vorstellung" ist keine andere Welt als die „Welt als Wille", sondern eben dieselbe, wie sie sich als von einem Vorstellungsapparat angeschaut darbietet. Neben dem dualistischen Grundmodell ist es der Vorbild- und Maßstabscharakter des bleibenden „Urwesens" gegenüber der vergänglichen Erscheinungswelt, was Nietzsche in seiner Metaphysikkritik am entschiedensten verworfen hat. In diesem Punkt scheint Schopenhauer freilich ohnehin mit ihm einig zu sein: Der Wille ist in sich ganz und gar nicht göttlich, und er ist durchaus nicht vorbildlich! Im Gegenteil: Schopenhauers Philosophie hat ihre Spitze in der Verneinung des Willens! Das war Nietzsche natürlich wohl bekannt, er hat Schopenhauer deswegen ausdrücklich gelobt. 73 Wenn er ihn trotzdem so dezidiert den von ihm abgelehnten ,Metaphysikern' zurechnete, so muß er andere Gründe dafür gehabt haben. Er ging, wie Schopenhauer auch 74 , von der These aus, daß die abendländische Metaphysik zutiefst vom theistischen Gottesbegriff bestimmt ist und deswegen das „Ding an sich", wie er pauschal für alle Varianten eines Absoluten sagt, als so vollkommen angesetzt habe, daß die Realitäten der „Erscheinungswelt" sich nicht mit ihm vereinbaren lassen. „Das Unbedingte, sofern es jene höchste Vollkommenheit ist, kann unmöglich den Grund für alles Bedingte abgeben." Auf Schopenhauers Denken trifft dieser Einwand offenbar nicht zu. Dem hat Nietzsche durch folgende Verschiebung seiner Kritik Rechnung getragen: „Schopenhauer, der es anders wollte, hatte nöthig, jenen metaphysischen Grund sich als Gegensatz zum Ideale zu denken, als ,bösen blinden Willen': dergestalt konnte er dann ,das Erscheinende' sein, das in der Welt der Erscheinung sich offenbart. Aber selbst damit gab er nicht jenes Absolutum von Ideal auf — er schlich sich durch .. ," 75 Damit berührt Nietzsche einen in der Tat entscheidenden Unterschied zwischen
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Vgl. z. B. W II, Epiphilosophie: 3,739 ff., wo Schopenhauer sich andrerseits auch gegen den Pantheismus abgrenzt. „Die Dummheit des Willens ist der grösste Gedanke Schopenhauer's [...] Etwas Dummes wird niemand Gott nennen." (Nachlaß Frühling —Sommer 1875: IV 5 [23]) — Vgl. FW 357. Vgl. vor allem Ρ I: 5,112 ff. und Schmidt, Die Wahrheit im Gewände der Lüge, 32 ff. Nachlaß Herbst 1887: VIII 10 [150]. — Nietzsche schweigt sich in diesem Zusammenhang darüber aus, daß nicht erst er, sondern schon Schopenhauer die Vorstellung von einem „Unbedingten" als in sich widersprüchlich verworfen hat (vgl. G, § 49 u. ö.). Malter, Wesen und Grund, bes. 36, betont zurecht, daß Schopenhauers Metaphysik das Wesen, nicht den Grund thematisiere; alle Grund-Folge-Verhältnisse gehören in den Bereich der Erscheinungswelt.
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seiner Position und der Schopenhauers, nämlich die Rolle der Moral. Während er selbst, spätestens seit seiner Morgenröthe, die Moral als „Circe der Philosophen" (M 3) zu entlarven suchte, die alles Denken „in Grund und Boden gefälscht" habe76, verfolgte Schopenhauer mit seiner Philosophie wesentlich eine moralische Absicht. Aus seiner Überzeugung heraus, daß Welt und menschliches Dasein eine „moralische Bedeutung" haben, hat er deren Leugnung als eine „Perversion" angesehen. Nietzsche hat mit seinem Versuch „jenseits von Gut und Böse" zu philosophieren, diesen Fluch Schopenhauers bewußt auf sich genommen. 77 Nietzsche konnte daher zurecht gegen Schopenhauer einwenden, daß dieser trotz seiner Wendung gegen den Theismus an einem Maßstab festgehalten und damit das „Richten" der Tradition fortgesetzt habe. Aber Schopenhauer nimmt auch in dieser Hinsicht zumindest eine Zwischenstellung ein. Denn er setzt seinen Maßstab nicht nur jenseits der „Welt als Vorstellung", sondern auch jenseits der ,metaphysischen' „Welt als Wille" an. Deswegen kommt er auf diese äußerste Perspektive seines Denkens auch nicht innerhalb seines Systems zu sprechen, sondern in dem schon genannten, „Epiphilosophie" überschriebenen Anhang. Dort bezeichnet er dieses nur mystisch zu erfassende Andere zur Welt als „Nichts", um die völlige Unmöglichkeit seiner auch nur annähernden prädikativen Bestimmung zu unterstreichen. 78
IV Schopenhauer hat mit seiner Kritik an der traditionellen Metaphysik, mit der er zugleich Raum für seinen eigenen Entwurf einer empirisch fundierten Metaphysik schaffen wollte, der Nietzscheschen Metaphysikkritik zumindest in den beiden für Nietzsche wichtigen Merkmalen „dualistische Weltauffassung" und „Vorbildlichkeit der .wahren Welt' " vorgearbeitet. Beide Denker haben .Metaphysik' von einer monistischen Position aus abgelehnt 79 , und beide haben bestritten, daß die fundamentale Realität Ideal sein und den Maßstab abgeben könne und solle für die Erscheinungswelt insgesamt und zumal für das menschliche Verhalten. 76 77
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EH, Warum ich so gute Bücher schreibe, 5 Ρ II, § 109 — Zur Interpretation vgl. meinen Aufsatz Der Antichrist, in: Nietzsche-Studien 2 (1973), 91 ff.; dort auch weitere Nachweise. Ρ II, Kap. 50: 3,736 ff. Vgl. Kaufmanns Hinweis, den der Autor selbst zurecht zwar als Vereinfachung, aber als für das Verständnis nützliche Vereinfachung bezeichnet hat: „Nietzsches Wille %ur Macht unterscheidet sich von Schopenhauers Willen ungefähr so, wie sich das Absolute Hegels von dem seiner Vorgänger unterscheidet" (Nietzsche, 277).
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Diese Übereinstimmungen betreffen freilich nur Mindestanforderungen für eine ,Metaphysik' nach Kant — unabhängig davon, ob man (wie Schopenhauer) diesen Ausdruck beibehält, oder ihn (wie Nietzsche) verwirft. Der Nachweis solcher Zusammenhänge ist nicht unwichtig, weil sie erkennen lassen, daß Nietzsche selbst dort, wo er so radikale Konsequenzen gezogen hat, wie die Destruktion der .Metaphysik' durch den Nachweis ihrer Abhängigkeit von sekundär erworbenen Bedürfnissen, logischen oder grammatischen Strukturen, moralischen Vorurteilen etc., und obwohl er dabei Schopenhauer (zu Recht oder zu Unrecht) in die Verurteilung miteinschloß, ein nicht unerhebliches Stück weit in den von diesem zuerst gewiesenen Bahnen gedacht hat. Wichtig ist vor allem, daß schon Schopenhauer, nicht erst Nietzsche, seine metaphysischen Thesen nicht als Welterklärungen in Konkurrenz zu oder in Überhöhung von (natur)wissenschaftlichen Erkenntnissen aufgefaßt hat, sondern als Weltdeutungen in Ausgang von und in Einklang mit den Methoden und Einsichten der Wissenschaften. 80 Wenn Schopenhauer verkündete, daß das Ding an sich „Wille" sei, und Nietzsche uns versicherte, diese Welt sei „Wille zur Macht", so mögen diese „Lehren" im einzelnen noch so verschieden sein; in ihrem Status als ,metaphysische' Weltdeutungen stimmen sie überein. Aber sind sie tatsächlich so verschieden, daß sie einander völlig ausschließen? Die Forschung hat dazu zwei extreme Interpretationen beigesteuert: Die meisten frühen Interpreten haben den Unterschied zwischen den beiden Konzeptionen gering veranschlagt. 81 Dagegen hat Heidegger jede Übereinstimmung geleugnet 82 , und viele Spätere sind ihm darin gefolgt. Nietzsche selbst scheint Heidegger recht zu geben, denn sein Werk durchzieht eine entschiedene Polemik gegen Schopenhauers Begriff des ,Willens', die in der Behauptung gipfelt, daß es eine solche Entität gar nicht gebe. 83 Aber die Bestreitung jeder Gemeinsamkeit ist genauso unhaltbar wie die fast völlige Mißachtung der Unterschiede. 84 An der zentralen Stelle, an der er seine .metaphysische' These, daß alles Wirkliche von der Art des „Willens zur Macht" sei, zum ersten Mal 80 81
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Vgl. Salaquarda, Mythos bei Nietzsche, 197 f. So etwa Vaihinger, Richter, Simmel u. a. — Vgl. dazu Salaquarda, Der Antichrist, 109-113. Vgl. Anm. 15. „Aber es giebt keinen Willen" (Nachlaß Herbst 1887: VIII 9 [98]; vgl. Za II, Von der SelbstUeberwindung). — Zur Interpretation vgl. Müller-Lauters in Anm. 7 genannte Arbeiten, bes. Nietzsche, 2 3 - 2 5 . Vgl. zum Folgenden: Friedhelm Decher, Wille Leben — Wille %ur Macht. Eine Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche (Elementa XXXI), Würzburg/Amsterdam 1984 (dazu meine Rezension des Buchs in: 68. Schopenhauer-Jahrbuch 1987, 221—223); den., Nietzsches Metaphysik in der „Geburt der Tragödie" im Verhältnis %ur Philosophie Schopenhauers, in: Nietzsche-Studien 14 (1985), 110 ff.
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öffentlich präsentierte, hat Nietzsche bemerkenswerter Weise sogleich an Schopenhauers Auslegung der Welt als Wille gedacht und es für nötig gehalten, seine „Lehre" von der seines Vorgängers abzuheben: „Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss vom ,Willen zum Dasein': diesen Willen — giebt es nicht! Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen! Nur wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern [ . . . ] Wille zur Macht! Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet — der Wille zur Macht!" 85 Nietzsche hebt zwei Momente hervor: Daß es keinen Willen gibt ,vor' oder .hinter' dem Lebendigen bzw. der ,erscheinenden Welt'; und daß das .Leben' nicht sich selber will, sondern mehr Leben. Mit der ersten Abgrenzung wendet er sich gegen den Dualismus, den er aus Schopenhauers Äußerungen herausgelesen hat — zu Unrecht freilich, wie gezeigt wurde 86 , denn es gibt für Schopenhauer genauso wenig den Willen, wie es für Nietzsche den Willen zur Macht gibt. Beides sind ,metaphysische' Ausdeutungen des Wesens der Welt. Auch die zweite Abgrenzung beruht, mindestens zum Teil, auf einem Mißverständnis Nietzsches. Schopenhauers These schließt ein, daß jede „Erscheinung des Willens (zum Leben)" zunächst und zumeist mehr werden will. Schopenhauer spricht von „überwältigende[r] Assimilation", durch die die Erscheinung einer höheren Stufe solche einer niedrigeren unterwirft und sich einverleibt. Die Welt ist ein Kampfplatz, von dem gilt, „daß jeder Organismus die Idee, deren Abbild er ist, nur darstellt nach Abzug des Theils seiner Kräfte, welche verwendet wird auf Ueberwältigung der niedrigeren Ideen, die ihm die Materie streitig machen". 87 Bei allen Unterschieden, ζ. B. hinsichtlich der Schopenhauerschen Annahme unveränderlicher Grundmodelle in seiner Ideenlehre, macht eine solche Äußerung unübersehbar deutlich, daß Nietzsches Vorwurf, Schopenhauer verkenne das Aussein alles Wirklichen auf Steigerung und Macht, in dieser Allgemeinheit nicht berechtigt ist. 88
85 8ί 87 88
Za II, Von der Selbst-Überwindung Vgl. oben S. 2 7 4 - 2 7 7 . W I , §27: 2,173 f. Der dritte der von Abel (Nietzsche, 59 ff.) zur Unterscheidung zwischen Nietzsches „Willen zur Macht" und Schopenhauers „Willen (zum Leben)" aufgeführten fünf Punkten lautet: Steigerung gegen Erhaltung. Aber auch Schopenhauer spricht, wie im Text gezeigt, von Steigerung (an der Erhaltung der Individuen ist dem „Willen" seiner Meinung nach ohnehin nicht gelegen), und umgekehrt läßt Nietzsche die Erhaltung nicht unberücksichtigt, zumindest was das Spiel der Welt insgesamt betrifft (vgl. dazu das Fragment VII 38 [12]).
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Eine so wichtige wie auffällige Gemeinsamkeit scheint Nietzsche merkwürdigerweise ganz entgangen zu sein, nämlich die methodische Bedeutung des (menschlichen) Leibes für eine ,metaphysische' Ausdeutung der Welt. Nietzsches Programm, „am Leitfaden des Leibes" zu denken 89 , zielt gegen den Ansatz der Bewußtseinsphilosophie. Im ersten Teil von Also sprach Zarathustra folgt auf den Abschnitt „Von den Hinterweltlern", in dem die Argumentationsstrukturen der alten „Metaphysik" verworfen werden, der Abschnitt „Von den Verächtern des Leibes", in dem Nietzsche unserer ,,kleine[n] Vernunft" des Bewußtseins die „große Vernunft" des Leibes gegenüberstellt. An anderer Stelle integriert er die „Seele" der Tradition als ein Moment in den größeren Zusammenhang des Leibes, der „nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen" sei. 90 In konzentrierter Zusammenfassung lautet Nietzsches These: „Bewußtsein ist eine Oberfläche." 91 Offenkundig setzt diese ontologische und methodische Abwertung des Bewußtseins zugunsten einer übergeordneten vorbewußten Instanz, in die es integriert ist und der es dient, Schopenhauers Bestimmung des Verhältnisses von Wille und Intellekt voraus. 92 Aber die Übereinstimmung geht tiefer, denn auch in Schopenhauers ,Metaphysik' kommt dem Leib eine wichtige Rolle zu. Nietzsche mag das übersehen oder wieder aus dem Blick verloren haben, weil Schopenhauer, wie erörtert, zu seiner metaphysischen Deutung der Welt als Wille im Ausgang von der Erfahrung des Selbstbewußtseins vorgedrungen ist. Nietzsche hielt es für eine Mythologie zu glauben, daß man durch „Selbstbeobachtung" zu einer „unmittelbaren Gewißheit" vordringen könne. 93 Darüber hat er freilich den für Schopenhauer entscheidenden Punkt übersehen: Der Leib ist in sich gegliederte „Sichtbarkeit des Willens". Die Innenperspektive gewährt Erfahrung von dem, was das Subjekt über Erkennen hinaus, bzw. besser: vor allem Erkennen in sich ist, nämlich Streben, welche Erfahrung den Weg zur metaphysischen Deutung bahnt. Mag Nietzsche mit Schopenhauer über die adäquate Auslegung dessen, was in der Innenperspektive zur Erfahrung kommt, also in der näheren Bestimmung der Seinsweise des Willens 89
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Nachlaß Juni —Juli 1885: VII 36 [35] — Für weitere Stellennachweise und zur Auslegung vgl. Heinrich Schipperges, Am Leitfaden des Leibes. Zur Anthropologik und Therapeutik Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1975. JGB 2 EH, Warum ich so klug bin, 9 - Vgl. Nachlaß Winter 1 8 8 3 - 1 8 8 4 : VII 24 [16] (10,654f.) und FW 354. — Zur Interpretation vgl. Walter Kaufmann, Discovering the Mind vol. II: Nietzsche, Heidegger, and Buber, New York et al. 1980, 54 ff. Vgl. ζ. Β. FW 99, wo Nietzsche Schopenhauers These „von der Werkzeug-Natur des Intellekts" lobt. J G B 16 u. ö.
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bzw. der Willen zur Macht, auch uneins sein, so folgt er mit seinen Argumentationsschritten doch präzise dem Vorgang Schopenhauers: Ansatz beim Leib statt beim Sekundärphänomen Bewußtsein, Erfahrung desselben als Aussein auf etwas, Deutung dieses Strebens als „Wille zur Macht" und schließlich analogische Übertragung dieser Deutung auf alles Lebendige, ja auf die Welt insgesamt. Nicht nur in der Metaphysikkritik und in der Festlegung formaler Kriterien für eine neue .Metaphysik', sondern auch in der inhaltlichen Ausformung seiner philosophischen Grundgedanken ist Nietzsche also ein gutes Stück weit den Spuren Schopenhauers gefolgt. Auf dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeiten bzw. Zusammenhänge treten dann allerdings auch die Unterschiede deutlich hervor: Nietzsche hat mit dem Dualismus auch die dualistische Terminologie verworfen; er hat seine ,metaphysische' Deutung der Welt deutlicher als Schopenhauer als Deutung ausgewiesen; er hat dem „Willen zur Macht" auch das letzte Prädikat des theistisch gedachten Absoluten der Tradition abgesprochen, das Schopenhauer dem „Willen" belassen hatte, nämlich Einheit; und schließlich hat er mit seinem Programm einer Philosophie „jenseits von Gut und Böse" den moralischen Horizont durchbrochen, aus und in dem Schopenhauers Denken sich bewegte.
ERNST BEHLER
Selbstkritik der Philosophie in der dekonstruktiven Nietzschelektüre Durch die Schriften Derridas ist das Thema der Metaphysikkritik und der Selbstkritik der Philosophie unlösbar mit Heideggers Auslegung Nietzsches als letztem Metaphysiker und Philosophen des Willens zur Macht verknüpft worden. Heidegger hatte zu zeigen versucht, daß Nietzsche mit der Lehre vom Willen zur Macht in der Metaphysik steckengeblieben war und trotz aller Anstrengung nur eine „Umkehrung" der Metaphysik, kein eigentliches „Herauswinden" aus ihr zustande gebracht hatte. Für Derrida war es jedoch Heidegger, der in der Metaphysik verhaftet blieb, und dies nicht allein durch die Betrauerung der Abwesenheit des Seins und die Hoffnung auf seine Anwesenheit, sondern vor allem durch seine Metaphorik der Nähe, der Heimat, der Eigentlichkeit, der Frömmigkeit, der Präsenz und der Identität bekundete. Nietzsche hatte dagegen für Derrida überhaupt keine Lehre, weder die des Willens zur Macht noch eine andere vertreten, sondern einen völlig „heterogenen Text" erarbeitet, der nicht in einem Zentrum strukturiert ist, sich nicht auf ein Ziel hin ausrichten läßt, sondern ein freies Spiel der Zeichen darstellt, ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung. 1 In diesem Diskurs ist das Thema vom Ende der Metaphysik und vom Ende der Philosophie untrennbar mit Heidegger verknüpft, selbst wenn dieser nicht bis zu den letzten Möglichkeiten einer solchen Denkweise vorgedrungen ist. Aber von ihm rührt diese Thematik her, und ihre volle Radikalität wird dadurch gewonnen, daß man in der Nietzschelektüre wie in der Metaphysikkritik über Heidegger hinausgeht. Hier soll nun von einer ganz anderen Nietzschelektüre aus dieselbe Thematik entfaltet werden. Heidegger und der von ihm bevorzugte Schriftenkomplex Der Wille %ur Macht kommen dabei aber gar nicht vor. Denn der Zeitraum, der hier für Nietzsche berücksichtigt wird, liegt noch vor dem Anbruch jener eigentümlichen „Helle", die nach Heidegger ungefähr mit Morgenröthe, also seit 1881 über seinen philosophischen Weg kam. Die hier herangezogene Schrift, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen
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Siehe hierzu meine Schrift Derrida-Nietzsche
Nietzsche-Derrida,
Paderborn, 1988.
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Ernst Behler
Sinne, stammt aus dem Sommer 1873, also aus der Frühzeit Nietzsches, ist aber für die dekonstruktive Lektüre seiner Texte seit Beginn der siebziger Jahre von großer Bedeutung gewesen. In ihr tritt eine in den späteren Texten nicht mehr wahrnehmbare Tradition für Nietzsches Kritik der Metaphysik und der Philosophie in Erscheinung, nämlich die Theorie der Poesie und der Sprache aus der deutschen Frühromantik. Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne scheint gerade deshalb für eine kritische Untersuchung dieses Themas von besonderem Interesse zu sein. 1. Auf der Grundlage früherer Aufzeichnungen wurde dieser Text im Sommer 1873 von Nietzsche diktiert, ohne daß er ihn aber je für eine Veröffentlichung in Betracht gezogen hätte. Die Schrift hat Verbindungen mit sprachkritischen Fragmenten und Aufzeichnungen aus vorhergehenden Jahren und findet zahlreiche Entsprechungen in dem Essay Vom Pathos der Wahrheit, den Nietzsche Weihnachten 1872 zusammen mit anderen Texten in Leder gebunden und unter dem Titel Fünf Vorreden fünf ungeschriebenen Büchern Cosima Wagner übergab (KSA 14, 106).2 Unter den anderen Schriften aus dieser Zeit, die meist dem Gedankenkreis von Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik entstammen und sich mit dem Urwillen und Ureinen, mit Schopenhauer und Richard Wagner, sowie mit Themen aus der Welt der Kunst und der Romantik beschäftigen, nimmt sich diese kleine Schrift wie ein skeptisches Ungeheuer aus, insofern in ihr grundsätzlich bestritten wird, daß wir irgendwelche sinnvollen Aussagen über diese Gegenstände machen können. Nietzsche beginnt seine Darstellung mit einer fabelhaften Einkleidung und hebt an: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der .Weltgeschichte': aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mußten sterben" (KSA 1, 875 f.). In der Schrift Vom Pathos der Wahrheit wird diese Fabel einem „gefühllosen Dämon" in den Mund gelegt, der „von alledem, was wir mit stolzer Metapher ,Weltgeschichte' und ,Wahrheit' und ,Ruhm' nennen", nicht viel hält und abfällige Bemerkungen darüber macht (KSA 1, 759). An seinen Bericht vom Sterben der klugen Tiere schließt er dort noch die Bemerkung an: „Es war auch an der Zeit: denn ob sie schon viel erkannt zu haben sich brüsteten, waren sie doch zuletzt, zu großer Verdrossenheit dahinter gekommen, daß sie alles falsch erkannt hatten. Sie 2
Nietzsche wird zitiert nach Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe iti 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1980. Stellennachweise im Text mit der Bezeichnung „KSA".
Selbstkritik der Philosophie
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starben und fluchten im Sterben der Wahrheit. Das war die Art dieser verzweifelten Thiere, die das Erkennen erfunden hatten" (KSA 1, 760). Auch in Über Wahrheit und Lüge kommt es Nietzsche darauf an, den Eindruck zu vermitteln, „wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt" (KSA 1, 875). Obwohl dieser „doch gerade nur als Hülfsmittel den unglücklichsten, delikatesten vergänglichsten Wesen beigegeben ist", um sie eine Zeitlang im Dasein zu erhalten, bringt er immer wieder die „schmeichelhaftesten Werthschätzungen" seiner selbst zuwege. Die „Verstellung", ja „die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen" scheint damit zum eigentlichen Wesen des Intellekts zu gehören, so daß fast nichts so unbegreiflich ist, „als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte" (KSA 1, 876). Auf diese Frage, wie sich der menschliche Wahrheitstrieb hat entwickeln können, konzentriert sich der Text in seiner weiteren Ausführung. In einer mit eindrucksvollen Bildern durchwirkten Argumentationsweise beschreibt Nietzsche, wie das in „Illusionen und Traumbilder" eingetauchte Auge der Menschen „nur auf der Oberfläche der Dinge" herumgleitet und sich damit begnügt, „Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen" (ebd.). Die Natur verschweigt dem Menschen das „Allermeiste" über sich selbst und seinen Körper und läßt ihn, „abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluß der Blutströme, den verwickelten Faserzitterungen", in ein „stolzes gauklerisches Bewußtsein" gebannt und eingeschlossen sein — und warf den Schlüssel weg. Aber wehe dem Menschen, der „durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer" heraussehen möchte und dann nur wahrnimmt, „daß auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend" (KSA 1, 877). Woher also, fragt Nietzsche, „in aller Welt, bei dieser Constellation der Trieb zur Wahrheit?" (ebd.). Der „erste Schritt zur Erlangung jenes räthselhaften Wahrheitstriebes" besteht nach diesem Text in der Konvention, in einem „Friedensschluß" inmitten des bellum omnium contra omnes, mit dem „fixiert" wird, „was von nun an ,Wahrheit' sein soll" (ebd.). Aber nur durch Vergeßlichkeit konnte der Mensch in die Wahnvorstellung gelangen, „er besitze eine Wahrheit in dem eben bezeichneten Grade", d. h. gemäß der Unterscheidung von Wahrheit und Lüge (KSA 1, 878). Denn die „Conventionen der Sprache" sind ja kaum „Erzeugnisse der Erkenntniß", keine kongruenten „Bezeichnungen der Dinge", nicht „adäquater Ausdruck aller Realitäten", sondern eher „Illusionen", „leere Hülsen" (ebd.). Nur die Konvention,
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nicht die Wahrheit ist beim Ursprung der Sprache entscheidend gewesen. Berechtigterweise können wir zum Beispiel gar nicht sagen: „der Stein ist hart." Denn hart ist uns nur als „eine ganz subjektive Reizung" bekannt. Ebensowenig haben wir eine objektive Basis, um die Dinge nach Geschlechtern einzuteilen, den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich zu bezeichnen, oder von der Schlange zu reden, deren Bezeichnung als Sichwinden ja auch dem Wurm zukommt (ebd.). Stellte man die verschiedenen Sprachen nebeneinander, so argumentiert Nietzsche, dann würde sich zeigen, „daß es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck ankommt", weil es nämlich sonst nicht so viele Sprachen geben würde. Das „ D i n g an sich" ist dem Sprachbildner völlig gleichgültig, eine „reine folgenlose Wahrheit". Dieser bezeichnet vielmehr die „Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe" ( K S A 1, 879). Bei der Beschreibung dieses sprachbildnerischen Prozesses verwendet Nietzsche eine Übertragungstheorie, nach der man im Aufbau der Sprache ein „jedesmal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue" vollzieht: „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher" (ebd.). Wie ein völlig tauber Mensch die „Chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt" und dabei glaubt, etwas vom Ton zu verstehen, so geht es uns mit dem Verhältnis der Sprache zu den Dingen: „Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen." Jedenfalls geht es bei der Entstehung der Sprache nicht logisch zu, „und das ganze Material worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkukuksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der D i n g e " (ebd.). Das unzulängliche Verhältnis zwischen dem Menschen und den Dingen zeigt sich für Nietzsche noch besonders in der weiteren Übertragung des Wortes in einen Begriff. Dies geschieht dadurch, daß das „einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebniß", das zur Entstehung des Wortes geführt hatte, aufgegeben wird und der Begriff „für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muß". Der Begriff entsteht damit durch „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen" ( K S A 1, 880). Als gäbe es in der Natur etwas unseren Begriffen wie „Blatt" oder „Ehrlichkeit" Entsprechendes! Nur durch das „Uebersehen des Individuellen und Wirklichen" ergibt sich unsere Begriffswelt, wogegen die Natur „keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt" ( K S A 1, 880).
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Wie hier sichtbar wird, resultieren Nietzsches Ausführungen über den sprachgebundenen Charakter unseres Denkens keineswegs aus dem Argument der Nicht-Transzendierbarkeit der Sprache. Sie erfolgen nicht aus der Einsicht in unser Eingeschriebensein in Sprache, dem Funktionieren des erkennenden Subjekts als Sprache und sein Inbegriffensein im Spiel, sondern nehmen ihren Ausgangspunkt von dem mangelnden Repräsentationscharakter der Sprache, dem aber notwendigerweise eine Repräsentationstheorie zugrundeliegt. Genauer gesprochen handelt es sich bei Nietzsche um eine Kritik der Sprache der Philosophie und des von der Philosophie in der Sprache erhobenen Wahrheitsanspruches. „Was ist also Wahrheit?", fragt er und antwortet darauf mit der häufig zitierten Bestimmung: „Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen" ( K S A 1, 880 f.). Der besondere Charakter der von Nietzsche entwickelten Argumentation besteht aber darin, daß der philosophischen Begriffsbildung, die auf „Wahrheit" bezogen ist, eine künstlerische Metaphernbildung vorausgeht, bei der die abstrakte Wahrheitsfindung irrelevant war und das Ästhetische im Vordergrund stand. Ein Begriff, sagt Nietzsche, „knöchern und achtekkig wie ein Würfel und versetzbar wie jener", ist nur „das Residuum einer Metapher", die selbst die „künstlerische Uebertragung eines Nervenreizes in Bilder" gewesen ist. Wahrheit im philosophischen „Würfelspiel der Begriffe" ist nichts als „jeden Würfel so zu gebrauchen, wie er bezeichnet ist; genau seine Augen zu zählen, richtige Rubriken zu bilden, und nie gegen die Kastenordnung und gegen die Reihenfolge der Rangklassen zu verstoßen" ( K S A 1, 882). Als „Baugenie" solcher „complicirten Begriffsdome" ist der Mensch wahrhaft zu bewundern und erhebt sich weit über die Biene oder die Spinne (ebd.). Freilich stellt sich für Nietzsche damit auch die Frage, was damit wirklich geleistet wird. Er sagt: „Wenn jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort wieder sucht und findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und Finden der ,Wahrheit' innerhalb des VernunftBezirkes" ( K S A 1, 883). Dieser Gedanke wird mit zahlreichen Beispielen illustriert. Wenn ein Forscher die Definition eines Säugetiers aufstellt und nach der Besichtigung eines Kamels erklärt, daß es sich um ein Säugetier handele, dann
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wird damit für Nietzsche „eine Wahrheit zwar an das Licht gebracht, aber sie ist von begrenztem Werthe, ich meine, sie ist durch und durch anthropomorphistisch und enthält keinen einzigen Punct, der ,wahr an sich', wirklich und allgemeingültig, abgesehen von dem Menschen, wäre". Ein solcher Forscher „sucht im Grunde nur die Metamorphose der Welt in dem Menschen" (ebd.). Er handelt ganz ähnlich wie ein „Astrolog", der „die Sterne im Dienste der Menschen und im Zusammenhange mit ihrem Glück und Leide betrachtet", und sieht „die ganze Welt als geknüpft an den Menschen, als den unendlich gebrochenen Wiederklang eines Urklanges, des Menschen, als das vervielfältigte Abbild eines Urbildes, des Menschen" (ebd.). Dieser Forscher glaubt, die Dinge „unmittelbar als reine Objekte" vor sich zu haben und vergißt die „originalen Anschauungsformen als Metaphern". Aber nur „durch das Hart- und Starrwerden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Unvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse", nur dadurch, „daß der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergißt", kann Wissenschaftlichkeit im Sinne philosophischer Wahrheit Zustandekommen. Sobald der Mensch „einen Augenblick nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens heraus könnte", wäre es damit sowie mit seinem „Selbstbewußtsein" vorbei (KSA 1, 883 f.). Nach Nietzsche nützt es auch nichts, diese Eingeschlossenheit der menschlichen Perzeption auf die menschliche Sphäre durch die Relativierung dieses Standpunktes, etwa durch die Annahme anderer Maßstäbe transzendieren zu wollen. Das wäre ungefähr so, als wollte ein Mensch ohne Hände das ihm vorschwebende Bild durch Gesang ausdrücken (KSA 1, 884). Wie tief die Wissenschaft auch immer in ihren Schächten gräbt, sie wird nie etwas hervorbringen, was dem ursprünglichen „Phantasieerzeugnis" gleichen wird, das von vornherein den „Schein und die Unrealität", den Charakter als „ein höchst subjektives Gebilde" erraten läßt. Da wir als Menschen die Dinge nur in der „mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raumvorstellungen" begreifen, produzieren wir diese aus uns selbst heraus „mit jener Nothwendigkeit, mit der eine Spinne spinnt" (KSA 1, 885) und tragen sie dann an die Dinge heran (KSA 1, 886). Daraus ergibt sich freilich, daß jene Formen bereits in der „künstlerischen Metaphernbildung" angelegt sein müssen, aus denen der „Bau der Begriffe" konstruiert wird. Denn dieser ist nichts anderes als eine Nachahmung der Metaphern (ebd.). 2. Mit dieser Annahme einer ursprünglicheren, künstlerischen, poetischen Welt von Metaphern vor der philosophischen und wissenschaftlichen Begriffsbildung zeigt sich bereits die Verbindung von Nietzsches Kritik der Metaphysik und der Philosophie mit der frühromantischen Theorie.
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Nietzsche drückt den anscheinend als Abfolge gedachten Zusammenhang von metaphorischer und abstrakter Sprache, von Kunst und Wissenschaft, Poesie und Philosophie mit der Feststellung aus: „An dem Bau der Begriffe arbeitet ursprünglich, wie wir sahen, die Sprache, in späteren Zeiten die Wissenschaft" (KSA 1, 886). Die Wissenschaft mit ihrem Bau von jenem „großen Columbarium der Begriffe" ist die „Begräbnisstätte der Anschauung" (ebd.). Wenn aber der Forscher „seine Hütte dicht an den Thurmbau der Wissenschaft" anbaut, tut er dies auch aus Schutzbedürfnis, da „furchtbare Mächte" fortwährend auf ihn eindringen, „die der wissenschaftlichen Wahrheit ganz anders geartete .Wahrheiten' mit den verschiedenartigsten Schildzeichen entgegenhalten" (ebd.). Damit kehrt sich das ursprüngliche Abfolgeverhältnis von Kunst und Wissenschaft aber um, indem nämlich auf dem Höhepunkt der wissenschaftlichen Begriffsbildung das ursprüngliche Kunstbedürfnis mit neuer Macht wieder durchbricht. Von Nietzsches Die Geburt der Tragödie wissen wir, daß die unersättliche Gier des wissenschaftlichen Wissens, die auf vorbildliche Weise in Sokrates erscheint, an ihre unvermeidlichen Grenzpunkte gelangt, wo sie „in das Unaufhellbare starrt" und mit Schrecken sieht, „wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beißt" (KSA 1, 101). Hier bricht nach Nietzsche eine „neue Form der Erkenntniß durch, die tragische Erketintniß, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht" (ebd.). Ja Nietzsche vertrat dort sogar die These, daß dieser „erhabene metaphysische Wahn", daß nämlich „das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei", der Wissenschaft „als Instinct" beigegeben ist und diese immer wieder zu ihren Grenzen führt, „an denen sie in Kunst umschlagen muß". So ließe sich sogar sagen, daß es „bei diesem Mechanismus" eigentlich auf die Kunst abgesehen sei (KSA 1, 99). In der Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne verschärft Nietzsche die These vom transitorischen Charakter der Wissenschaft und vom Umschlagen in die Kunst eigentlich noch, wenn er die Wissenschaft aus einem ursprünglichen metaphorischen Trieb ableitet. Der „Trieb zur Metaphernbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen", so heißt es dort, ist nämlich nicht dadurch bezwungen und gebändigt, daß man „eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg" für ihn gebaut hat. Er wirkt fort, indem er sich „im Mythus und in der Kunst" ein „neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flußbette" sucht. Dies zeigt sich in der „Begierde, die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmäßig folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des Traumes ist. Oder dies zeigt sich in dem Wunsch, in die Welt des Mythos, „etwa der älteren
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Griechen", hinabzutauchen, die ebenfalls dem Traume ähnlicher ist „als dem Tag des wissenschaftlich ernüchterten Denkens" (KSA 1, 887). An dieser Stelle scheint nun die Wissenschafts- und Philosophiekritik Nietzsches unvermeidlich in die Utopie eines neuen Zeitalters der Kunst und des Mythos abzuirren. In der Tat ist Nietzsche von der „Ideologiekritik" in Deutschland meistens so gelesen worden. 3 Daß es sich dabei aber um eine Verstümmelung handelt, scheint aus den Schlußabschnitten des Textes hervorzugehen, welche vielmehr die Alleinherrschaft der Wissenschaft und der Philosophie als utopisches Endzeitdenken kennzeichnen und stattdessen keine gegensätzliche Kunstherrschaft, sondern eine Wechselwirkung, ein Alternieren von Metapher und Begriff, Kunst und Wissenschaft zu statuieren scheinen. In diesen Schlußabschnitten konfrontiert Nietzsche das mythische, künstlerische Denken mit dem wissenschaftlich-philosophischen als eine unreduzierbare, von diesem nicht aufhebbare Wissensform. Wenn für den älteren Athener der Baum als Nymphe redet, der Gott als Stier Jungfrauen wegschleppt, oder sogar die Göttin Athene selbst in Begleitung des Pisistratus durch die Märkte fahrt, dann ist „wie im Traume, alles möglich, und die ganze Natur umschwärmt den Menschen, als ob sie nur die Maskerade der Götter wäre, die sich nur einen Scherz daraus machten, in allen Gestalten den Menschen zu täuschen" (KSA 1, 887 f.). Aber dem Menschen gefallt es, sich auf diese Weise täuschen zu lassen, wie sich auch zeigt, „wenn der Rhapsode ihm epische Märchen wie wahr erzählt oder der Schauspieler im Schauspiel den König noch königlicher agiert als ihn die Wirklichkeit zeigt" (ebd.). Hier ist der Intellekt frei und „seinem sonstigen Sklavendienste" enthoben. Jetzt hat er „das Zeichen der Dienstbarkeit von sich geworfen", nun darf er „den Ausdruck der Bedürftigkeit aus seinen Mienen wegwischen". Hier täuscht der Intellekt, „ohne zu schaden", und alles, was er jetzt tut, „trägt im Vergleich mit seinem früheren Thun die Verstellung, wie das frühere die Verzerrung an sich" (ebd.). Auch hier kopiert der Intellekt das „Menschenleben", aber er nimmt es nun „für eine gute Sache und scheint mit ihm sich zufrieden zu geben". Nietzsche sagt: „Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, daß er jene Notbehelfe der Bedürftigkeit nicht 3
Siehe Jürgen Habermas, furt 1985, 1 1 0 - 1 1 3 .
Der philosophische
Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frank-
S e l b s t k r i t i k der P h i l o s o p h i e
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braucht, und daß er jetzt nicht von Begriffen, sondern von Intuitionen geleitet wird" (ebd.). Diese Intuitionen stehen in einem Gegensatz zu den begrifflichen Konstruktionen, den Schemata und Abstraktionen der wissenschaftlichen Vernunft. Der Mensch, der sie hat, verstummt, oder er „redet in lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen, um wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Begriffsschranken dem Eindruck der mächtigen gegenwärtigen Intuition schöpferisch zu entsprechen" ( K S A 1, 889). Jedoch handelt es sich für Nietzsche auch hier nicht um eine Eliminierung der Wissenschaft zugunsten der künstlerischen Intuition. Dies zeigt sich in seinem abschließenden Bild von den Zeitaltern, „in denen der vernünftige und der intuitive Mensch neben einander stehen, der eine in Angst vor der Intuition, der andere mit Hohn über die Abstraktion". Der eine sucht den „Nöthen" des Lebens zu begegnen, der andere sieht diese nicht und nimmt „nur das zum Schein und zur Schönheit verstellte Leben als real" (ebd.). Der von „Begriffen und Abstractionen geleitete Mensch" wehrt bloß das „Unglück" ab. K o m m t dagegen einmal, „etwa wie im älteren Griechenland", auch der intuitive Mensch zur Geltung, so vermag sich die Herrschaft der Kunst über das Leben einzustellen und sich „jene Verstellung, jenes Verläugnen der Bedürftigkeit, jener Glanz der metaphorischen Anschauungen und überhaupt jene Unmittelbarkeit der Täuschung" über alle Lebensäußerungen zu verbreiten, die das Zeichen eines von der Kunst bestimmten Lebens sind (ebd.). In dieser Lektüre zeigt sich die enge Verwandtschaft von Nietzsches Über Wahrheit und l^üge mit der Literaturtheorie der Frühromantik. Dieser Bezug bekundet sich vor allem in Nietzsches Bestreben einer Verschönerung des Lebens durch die Kunst, das dem romantischen Postulat einer Poetisierung des Lebens entspricht. E r kommt in den gegen Ende der Schrift sich häufenden Wendungen über die Kunst als freies Spiel, als schöne Täuschung und als kunstvolle Verstellung zum Ausdruck, die mit dem romantischen Ironiekonzept in Zusammenhang stehen, oder er zeigt sich in Nietzsches Aufnahme des romantischen Projekts einer Wiedererweckung der griechischen Klassik im modernen Zeitalter. Auf grundsätzlichere Weise tritt die Beziehung dieses Textes zur Frühromantik in der Annahme einer ursprünglich künstlerischen, schöpferischen, metaphorischen Tätigkeit des menschlichen Intellekts und seiner poetischen Funktion bei der Weltbegegnung in Erscheinung. Nietzsche leitete daraus die Aufgabe ab, die engen Schranken der philosophischen Begriffswelt zugunsten einer neuen Metaphorik zu durchbrechen, welche den schöpferischen Intuitionen der poetischen Vernunft Ausdruck zu geben vermag. Dieser Aspekt seiner Philosophiekritik, der mit entscheidenden Partien aus Die
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Geburt der Tragödie in Einklang steht, bezieht sich deutlich auf die Forderung nach einer neuen Mythologie, die in der Frühromantik wiederholt erhoben wurde: im Altesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, in verschiedenen Schriften Schellings, am prononciertesten aber vielleicht in Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie. Bereits die einführenden Sätze von Schlegels Gespräch über die Poesie, von dem die Rede über die Mythologie einen Teil bildet, sprechen von der unermeßlichen „Welt der Poesie", die so unerschöpflich ist, „wie der Reichtum der belebenden Natur an Gewächsen, Tieren und Bildungen jeglicher Art, Gestalt und Farbe" ( K A II, 285). 4 Schlegel erwähnt die „formlose und bewußtlose Poesie, die sich in der Pflanze regt, in Lichte s t r a h l t . . . " (ebd.). Ein Funke dieser ersten und ursprünglichen Poesie lebt aber nach ihm in uns fort, „tief unter der Asche der selbstgemachten Unvernunft", und hört dort nie auf, „mit heimlicher Gewalt zu glühen" (ebd.). Was nun das Projekt eines Umschlagens aus diesem Zustand der „Unvernunft" oder der wissenschaftlichen, philosophischen Vernunft in den einer wiedererwachten Poesie oder einer „neuen Mythologie" anbetrifft, so findet dies für Schlegel im Moment der höchsten Selbstkonstitution oder der intensivsten Selbstkonzentrierung der Philosophie statt, der mit dem Idealismus Fichtes gegeben ist. In diesem Moment muß die Philosophie entweder durch Selbstvernichtung untergehen oder in ihr Gegenteil umkehren und aus sich einen „grenzenlosen Realismus" entstehen lassen. Dieser Realismus war nach Schlegel nur deshalb noch nicht zur Mitteilung gekommen, weil das „Organ" dazu fehlte. Doch war er sich darüber im klaren, daß dies Organ nur in der Poesie gefunden werden konnte, „denn in Gestalt der Philosophie oder gar eines Systems wird der Realismus nie wieder auftreten können" ( K A II, 315). Die spezielle Verfahrensweise der Poesie erblickte Schlegel darin, „den Gang und die Gesetze der vernünftig denken Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Phantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen" ( K A II, 319). Auch an anderen Stellen seines Gesprächs über die Poesie vertritt Schlegel die Ansicht: „Das Höchste kann man eben, weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen" ( K A II, 324). Daß damit freilich keine „Rückkehr" in die „ursprüngliche", bewußtlose Poesie der alten Mythologie, sondern wie bei Nietzsche die ironische, verstellte, bewußte und reflexive Poesie der „neuen Mythologie" gemeint ist, ergibt sich schon aus dem Wirken
4
Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 2 (herausgegeben von Hans Eichner), Paderborn 1967, 285. Stellennachweise im Text mit der Bezeichnung „KA".
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der Phantasie, wie Schlegel es in seinem Gespräch beschreibt. Die Phantasie, so legt er dort dar, „strebt aus allen Kräften sich zu äußern", kann sich aber innerhalb „der Sphäre der Natur nur indirekt mitteilen und äußern". Schlegel sagt: „Daher bleibt von dem, was ursprünglich Phantasie war, in der Welt der Erscheinungen nur das zurück was wir Witz nennen" ( K A II, 334). Das Bestreben nach vollständiger Mitteilung scheitert an den Widerständen unserer Welt und transformiert sich in ironische, indirekte Mitteilung. Die Einbildungskraft hat ihre notwendige Ergänzung in der Ironie, und die Poesie findet in ironischer Konstruktion ihr Korrelat. Obwohl in einem Narrativ von gestern, heute und morgen — von alter Mythologie, wissenschaftlichem Rationalismus und neuer Mythologie formuliert — bringt die Schlegelsche Theorie ebensowenig wie die von Nietzsche bloß temporäre Sachverhalte zum Ausdruck, sondern versucht permanente Beziehungen, „ewige" Wechselverhältnisse zu bestimmen. Diese Wechselwirkung, dies Alternieren von Philosophie und Poesie, Rationalismus und Mythos zeigt sich in Schlegels Gespräch über die Poesie in Formulierungen wie „diese künstlich gewordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie" ( Κ Α II, 318 f.). Mit seinen Wendungen von der scheiternden Erkenntnisgier und dem aus Bedürftigkeit erfolgenden Umschlag in das Kunsterlebnis gibt Nietzsche deutlich zu erkennen, daß er die romantische Denkweise von Schopenhauer aus konzipierte. 3. Für die Beziehung Nietzsches zur frühromantischen Theorie der Poesie und der Sprache gibt es aber, was das engere Thema der Sprachkritik anbetrifft, noch eine direktere Quelle, die seit Beginn der siebziger Jahre zur Aufmerksamkeit der Nietzscheforschung gelangt ist. Es handelt sich um die Schrift von Gustav Gerber, Die Sprache als Kunst, die 1871 — 1872 in zwei Bänden erschien. 5 Gerber war ein Sprachphilosoph aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, der zu seiner Zeit viel beachtete und häufig rezensierte sprachphilosophische Schriften verfaßt hat, von dem wir aber heute kaum noch etwas wissen. 6 E r wirkte als RealgymnasialDirektor in Bromberg (heute Bydgoscz in Polen) und veröffentlichte dort auch die von Nietzsche konsultierte Schrift. Für einige Historiker gehört er zu einem vergessenen Kapitel in der Sprachphilosophie des neunzehnten
5
6
In der Mittlerschen Buchhandlung in Bromberg. Beide Bände kamen 1872 auch in einem heraus. Stellennachweise im Text mit der Bezeichnung „ S K " . Neben der in der vorigen Anmerkung genannten Schrift vor allem Die Sprache und das Erkennen, Berlin 1874, und Das Ich als Grundlage unserer Weltanschauung, Berlin 1893. Zu Gerber siehe Anthonie Meijers, Gustav Gerher und Friedrich Nietzsche. Zum historischen Hintergrund der sprachphilosophischen Auffassungen des frühen Nietzsche, in: NietzscheStudien 17 (1988), 3 6 9 - 3 9 0 .
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Jahrhunderts zwischen Wilhelm von Humboldt und Frege, Peirce und Wittgenstein. 7 Seinen eigenen Quellen nach zu urteilen, steht er in der romantischen Tradition der Sprachwissenschaft, von der wir aber ebenfalls nicht viel wissen. Gerber zitiert die wichtigsten Vertreter der romantischen Sprachphilosophie, und für seine Konzeption der Sprache kann folgendes Zitat von Jean Paul gelten, das durch ihn ebenfalls von Nietzsche herangezogen wird: „Wie im Schreiben Bilderschrift früher war als Buchstabenschrift, so war im Sprechen die Metapher, insofern sie Verhältnisse und nicht Gegenstände bezeichnet, das frühere Wort, welches sich erst allmählich eigentlichen Ausdrucke entfärben mußte. Das Beseelen und Beleiben fiel noch in Eins zusammen, weil noch Ich und Welt verschmolz. Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblaßter Metaphern" ( S K I, 361). 8 Nietzsche benutzte den ersten Band von Gerbers Text, als er im Wintersemester 1872 — 73 in Basel eine Rhetorikvorlesung anbot und verwies auf diesen auch in seinen Notizen zu dieser Vorlesung (RH, 251). 9 Während Richard Volkmann ( D i e Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht dargestellt, Berlin 1872) ihm hauptsächlich zur Information über die historischen und disziplinären Aspekte der klassischen Rhetorik diente, gab ihm Gerber wichtige Hinweise für die Tropenlehre und damit für den metaphorischen Charakter der Sprache. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Nietzsche von seiner Schopenhauerschen Basis aus mit der Sprachphilosophie beschäftigt und in seinen nachgelassenen Fragmenten zahlreiche Gedanken zu diesem Thema formuliert, die sich folgendermaßen charakterisieren lassen. 10 Sprache war für Nietzsche einer damals weit verbreiteten Meinung entsprechend ein Produkt des Instinkts. 1 1 In dem Aufsatz Die dionysische Weltanschauung ( K S A 1, 551—578) von 1871 zeigt sich, wie Nietzsches Bestimmung der Sprache vom Gefühl, vom Instinkt aus verläuft. Nur ein Teil der unbewußten Vorstellungen und Willenszustände gelangt ins Bewußtsein und kann Sprache werden. Andere Teile 7 8
Anthonie Meijers, Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche, 374 Nietzsche zitiert diese Stelle ebenfalls in den Notizen zu seinen Rhetorik-Vorlesungen: R H , 264 — 265. Siehe die folgende Anmerkung.
9
Nietzsches Rhetorik-Vorlesungen sind in der neuen kritischen Ausgabe noch nicht erschienen und werden nach der Großoktav-Ausgabe zitiert: Friedrich Nietzsche, Rhetorik, in: Friedrieb Nietzsche's Werke, Bd. X V I I I , Dritte Abteilung: Philologica. Zweiter Band. Unveröffentlichtes zur Literaturgeschichte, Rhetorik und Rhythmik. Herausgegeben von O t t o Crusius, Leipzig 1912. Stellennachweise im Text mit der Bezeichnung „ R H " .
10
Siehe Claudia Crawford, The Beginnings of Nietzsche's Philosophy of Language (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 19), Berlin 1988 und Thomas Boning, Metaphysik, Kunst und Sprache heim frühen Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 20), Berlin 1988.
"
Z. B. K . W. L . Hey se, System der Sprachwissenschaft,
Berlin 1856
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bekunden sich durch Gebärden, Töne oder sonstige Äußerungen. Hier sind die Stellen, an denen die Poesie über die Sprache hinausgeht. Für diese Mitteilungspotenzialitäten und die Transzendierung der Sprache durch die Kunst war für den frühen Nietzsche das Verhältnis von Sprache und Musik von besonderer Wichtigkeit. Dies zeigt sich in einem Fragment aus dem Winter von 1869 — 70, das mit den Worten beginnt: „Die Musik ist eine Sprache, die einer unendlichen Verdeutlichung fähig ist. — Die Sprache deutet nur durch Begriffe, also durch das Medium des Gedankens entsteht die Mitempfindung. Dies setzt ihr eine Grenze" (KSA 7, 47 — 49). Ein anderes Fragment von 1869 — 70 trägt den Titel Vom Ursprung der Sprache12 und ließe sich durchaus im Sinne von Herders These über die Poesie als die Ursprache der Menschheit verstehen, wenn man diese nur von der Schopenhauerschen Philosophie aus genügend modifiziert und die darin beschlossene Kritik an der Sprache der Philosophie Rousseauistisch als Überlegenheit des Gefühls über den Gedanken konzipiert. Am deutlichsten kommt die frühe Sprachphilosophie Nietzsches vielleicht in einem längeren Fragment vom Frühjahr 1871 zum Ausdruck (KSA 7, 359 — 369), das vom „Verhältnis der Sprache zur Musik" ausgeht und zu vielen Feststellungen gelangt, die eine Entsprechung in Über Wahrheit und Lüge finden. Es sind gerade die Unterschiede oder die Nuancen zwischen diesen beiden Texten, in denen Nietzsches Lektüre von Gerber zum Ausdruck kommt. Während seine früheren Aufzeichnungen bereits mit der grundlegenden These Gerbers vom zwecklosen, kunstmäßigen und poetischen Charakter der Sprache übereinstimmten, formuliert er diese Gedanken nun schärfer im Sinne Gerbers so, daß alle Wörter ursprünglich Tropen seien und die Sprache ihrem Wesen nach metaphorisch ist. Gerber hatte gesagt, „daß die Tropen nicht dann und wann an die Wörter herantreten, sondern daß deren eigenste Natur es ist, tropisch zu sein" (SK I, 386). Nietzsche formt diesen Gedanken um mit der Feststellung: „In summa: Die Tropen treten nicht dann und wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste Natur. Von einer eigentlichen Bedeutung', die nur in speziellen Fällen übertragen würde, kann gar nicht die Rede sein" (RH, 250). 13 Durch Gerber gewann die Sprachphilosophie Nietzsches mit einem Wort einen schärfer ausgeprägten disziplinären, von der Rhetorik her bestimmten Charakter, ohne jedoch ihre romantische Basis zu verlieren, die bei 12
13
Dieser Text ist ebenfalls noch nicht in der K S A ediert und wird nach der GroßoktavAusgabe, Bd. XIX (Philologica, Bd. 3), 3 8 5 - 3 8 7 , zitiert. Siehe Anthonie Meijers und Martin Stingelin, Konkordanz den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst ( Bromberg 1871 ) in Nietzsches Rhetorik-Vorlesungen und in ,Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne', in: Nietzsche-Studien 17 (1988), 3 5 0 - 3 6 8 .
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Gerber durch den Bezug zu Wilhelm von Humboldt, den Brüdern Schlegel und Jean Paul sogar noch direkter und ausgeprägter als bei Nietzsche selber war. Bei Gerber finden sich ebenfalls die Thesen von der Fixierung der Wörter durch soziale Konventionen und des Vergessens dieser Vorgänge im Entwicklungsprozeß der Sprache. Aus dem sinnlichen, metaphysischen Charakter der Sprache und der Unlösbarkeit der Begriffe und des Denkens von diesen Ursprüngen hatte Gerber ebenfalls eine Kritik der abstrakten Begriffe in der Sprache der Philosophie entwickelt, diese als „Gefasel" bezeichnet und gesagt: „Das reine Denken ist ein solches Hirngespinst, wie es eine reine Sprache sein würde, welche anzunehmen freilich noch Niemand eingefallen ist" (SK I, 261). Mit dieser Kritik an der Hypostasierung philosophischer Begriffe richtete sich Gerber hauptsächlich gegen Piaton und Aristoteles, wogegen seiner Ansicht nach Denker wie Bacon, Hobbes, Locke, Leibniz, Hamann, Herder und Jacobi einer Kritik der philosophischen Sprache vorgearbeitet hatten (SK I, 261, 274). Gerbers eigene Sprachkritik bestand zu einem großen Teil darin, den Vergessensprozeß, in den unsere ursprünglichen Wortbildungen geraten sind, wieder bewußt zu machen und durch eine Fülle von Beispielen ihren Charakter als Synekdoche, Metapher und Metonymie herauszuarbeiten. Nietzsche hat sich zahlreiche Beispiele dieser Art für seine Rhetorikvorlesung notiert. 14 Als er im darauffolgenden Sommer auf Grund seiner Aufzeichnungen den Text Über Wahrheit und Lüge diktierte, gingen neben der allgemeinen These, daß es bei der Entstehung der Sprache nicht logisch, sondern poetisch zugegangen sei, Gerbers Beispiele von der Härte des Steins (KSA1, 878), der Geschlechterbezeichnung von Baum und Pflanze (KS A1, 878) und dem Sichwinden der Schlange (KSA1, 878-879) in diesen ein. Gerber hatte mit diesen Beispielen zu veranschaulichen versucht, daß uns die Sprache keine Entscheidbarkeit in bezug auf die durch sie ausgedrückte Natur der Dinge erlaubt und wir uns hier innerhalb der Eigengesetzlichkeit der Sprache bewegen. Für Nietzsche werden diese sprachkritischen Beispiele Merkmale für die allgemeine Ungewißheit unserer philosophischen und metaphysischen Situation. „Weit hinausgeflogen über den Canon der Gewißheit", sagt er (KSA 1, 878), oder: „Welche willkürlichen Abgrenzungen, welche einseitigen Bevorzugungen bald der bald jener Eigenschaft eines Dinges" (KSA 1, 879). Die sprachkritischen Überlegungen Gerbers werden in einen umfassenden metaphysikkritischen Diskurs eingefügt, diesem untergeordnet oder in diesen transformiert. Dies zeigt sich in späteren Schriften Nietzsches noch deutlicher, weist aber 14
Siehe die in der vorigen Anmerkung angegebene Konkordanz.
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gleich2eitig auf die Bedeutung dieser frühen sprachkritischen Reflexionen für sein Denken hin, die keineswegs nur temporäre Relevanz hatten, sondern von dauerndem Einfluß waren. Eine dieser Transformierungen findet sich in Menschliches All^umenschliches und verbindet sich charakteristischerweise mit der Erfindung einer neuen Fabel, die diesmal nicht vom Ursprung der Sprache, sondern von dem unserer moralischen Empfindungen handelt. Nietzsche sagt dort: „Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut und böse ohne alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein der nützlichen und schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergißt man die Herkunft dieser Bezeichnungen und wähnt, daß den Handlungen an sich, ohne Rücksicht auf deren Folgen, die Eigenschaft ,gut' und ,böse' innewohne: mit demselben Irrthume, nach welchem die Sprache den Stein selber als hart, den Baum selber als grün bezeichnet — also dadurch, daß man, was Wirkung ist, als Ursache faßt" (KSA 2, 62). Auf grundsätzlichere und noch weiter von der frühen Sprachkritik entferntere Weise sagt Nietzsche: „Wir haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben können — mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt keiner aus zu leben!" (KSA 3, 477 f.). Eine andere Art der Transformierung dieser „Reflexion auf den uneigentlichen .Ursprung' von Sprache" ist das Wortspiel, das ebenfalls anzeigt, daß Nietzsches früher sprachkritischer Diskurs kein Ende findet, sondern sich in andere Ausdrucksformen überträgt und die Metaphysikkritik mit anderen Mitteln fortsetzt. 15 Nietzsche hat selbst zum Ausdruck gebracht, wie sich die Thematik von Über Wahrheit und Lüge, die ihrerseits aus einer Pluralität von Stimmen, von Texten besteht, mit anderen Themen aus dieser Periode, dem philosophischen Pessimismus und der Musikästhetik zum Beispiel, zu jener komplexen, widersprüchlichen Art von Text zusammenfügt, der von nun an die Eigentümlichkeit seines philosophischen Diskurses zum Ausdruck bringt. In der Vorrede zum zweiten Band von Menschliches All^umenschliches sagt er, daß als er mit der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung seine Ehrfurcht gegenüber Arthur Schopenhauer zum Ausdruck brachte, er bereits mitten drin war „in der moralischen Skepsis und Auflösung", was für ihn freilich bedeutete: „ebenso sehr in der Kritik als in der Vertiefung alles bisherigen Pessismismus", und bereits an gar nichts mehr glaubte, „wie das Volk sagt, auch an Schopenhauer nicht". Nietzsche fügt dort noch hinzu: „eben in jener Zeit erschien ein geheim gehaltenes Schriftstück ,über Wahrheit und 13
Martin Stingelin, Nietzsches Wortspiel Studien 17 (1988), 3 3 6 - 3 4 9
als Reflexion
auf poetf olog)ische
Verfahren,
in: Nietzsche-
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Ernst Behler
Lüge im außermoralischen Sinne' " (KSA 2, 370). Die Bemerkung über das Geheimhalten ist natürlich dramatisiert, da Nietzsche keine der in dieser Schrift vertretenen Thesen wirklich geheimgehalten, sondern in seinen nachfolgenden Schriften eigentlich nur noch überboten hat. Daß Uber Wahrheit und Lüge nicht veröffentlicht wurde, mag daran gelegen haben, daß Nietzsche in dieser Schrift von Gerber abhängig war oder daß dieser Text zu sehr die Struktur einer Abhandlung hatte, nicht genügend der Form des Aphorismus entsprach, die von nun an seine Art der Mitteilung wurde. Davon abgesehen hat aber Über Wahrheit und Lüge alle Kennzeichen des Nietzscheschen Textes. Es zeigte sich bereits, daß in ihm feste Strukturen in der Sprache, dem Denken und dem Leben des Menschen als gewordene Gewohnheiten, bloße Konventionen aufgefaßt werden und daß gewöhnlich eine fabelhafte Geschichte über deren Ursprung berichtet. Umgekehrt werden in dieser Schrift, die alle Begründungen entziehen will, auf die unbefangenste Weise Begründungsvorstellungen verwandt: die Übertragung von Nervenreizen in Laute, die Unterscheidung von Wörtern und Begriffen, mehr noch: die Trennung von Wahrheit und Illusion, ja die Annahme von ursprünglichen Dingen. Die Formulierung einer höchst reflexiven Wissenschaftskritik und Selbstkritik der Philosophie vollzieht sich in einer kühnen poetischen Bildersprache und gefallt sich in Metaphern wie: das tastende Spiel auf dem Rücken der Dinge, das Wegwerfen des Schlüssels, die Spalte im Bewußtseinszimmer, die Position auf dem Rücken eines Tigers, das Sichwinden der Schlange, die Chladnischen Klangfiguren im Sand, die wie Münzen abgenutzten Metaphern unserer Sprache, das Würfelspiel der Begriffe, der Maler ohne Hände, die Schächte der Wissenschaft, oder die Notwendigkeit, mit der die Spinne webt. Von nun an läßt sich Nietzsche nicht mehr auf einen einzigen Diskurs reduzieren oder aus einem einzigen Diskurs herleiten, weder aus dem von Schopenhauer noch aus dem des Neukantianismus, weder aus dem von Gerber noch aus dem von Lange, weder aus einer romantischen noch aus einer bloß antiromantischen Haltung. 16 Von nun an ist seine Denkweise die des Alternierens. 4. Auf diese Weise ist Nietzsches Über Wahrheit und Lüge auch in der dekonstruktiven Nietzschelektüre in Frankreich und den Vereinigten Staaten aufgenommen worden. Philippe Lacoue-Labarthe, der diese Bedeutung des Textes wohl als erster erkannte und auch zuerst auf die Beziehung dieses Textes zu Gustav Gerber, Die Sprache als Kunst, hingewiesen hat, 16
Zu dieser These siehe Karl Schlechta und Anni Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfangen seines Philosophierens, Stuttgart—Bad Cannstatt 1962.
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vertritt die Meinung, daß sich in den Jahren von 1872—1875, die dem Erscheinen von Die Geburt der Tragödie unmittelbar folgten, eine entscheidende Umwandlung in Nietzsches philosophischem Diskurs vollzogen hat, die von der Sprachkritik, genauer von der Rhetorik ausgegangen ist. Wie aber der Titel seiner Studie — Le détour — bereits anzeigt, hat es sich bei Nietzsches Projekt der Philosophiekritik von der Sprache oder der Rhetorik aus nur um eine vorübergehende Tendenz gehandelt, der sich Nietzsche zwar „mit einer gewissen Hartnäckigkeit" widmete, der aber zu keinen bleibenden Resultaten führte und, „dem Anschein nach zumindest, keine Spur in Nietzsches späteren Arbeiten" zurückgelassen hat (U, 78). 17 Von ca. 1875 an ist die Rhetorik für Nietzsche „kein privilegiertes Instrument mehr", ja man könnte fast sagen, „daß sie praktisch aufhört, ein Problem zu sein" (ebd.). Nach Lacoue-Labarthe war Nietzsches Beschäftigung mit der Rhetorik „zufallig" (U, 80). Sie begann 1872 mit der Lektüre der Bücher von Gerber und Volkmann für die im Wintersemester 1872 — 73 gehaltene Rhetorikvorlesung und braucht keineswegs als radikale Wende oder als ein Bruch, etwa als eine antiromantische Tendenz aufgefaßt zu werden, mit der er sich dem Werk Die Geburt der Tragödie zu widersetzen begann. Wenn Nietzsche sich zu dieser Zeit von der Romantik loszulösen suchte, dann kommt gerade durch Gerber die Romantik erneut auf ihn zu und verpflichtet ihn „einmal mehr der romantischen Tradition, von der er schon die Bestimmung des Wesens der griechischen Tragödie und seine ganze Sprachauffassung übernommen hatte" (U, 83). Freilich beginnt zu dieser Zeit Nietzsches fragmentarisches Schreiben, seine Fragmentierung der Schrift, in der man etwas radikal Neues, etwa den Gegensatz zur „Darstellung im Hegeischen Sinne, der ,Darstellung des erscheinenden Wesens' " und damit auch des Buches erblicken könnte (U, 107). Wie aber Lacoue-Labarthe mit größerer Richtigkeit beobachtet, ist das fragmentarische Schreiben bei Nietzsche nicht so sehr als die gegen das Buch gerichtete Schreibweise, sondern als das „unablässige Schreiben" des Buches zu verstehen, „des schon geschriebenen (Geburt der Tragödie), das sich selbst 17
Siehe Philippe Lacoue-Labarthe, Le détour (Nietzsche et la rhétorique), in: Poétique 2(1971), 53 — 76. Dt. Übersetzung als Der Umweg in: Werner Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt —Berlin 1986, 75 — 110. Zitate nach der deutschen Übersetzung, die am französischen Original überprüft wurden, direkt im Text mit der Bezeichnung „Li". — Die für dies Thema relevanten Texte Nietzsches hat Lacoue-Labarthe zusammen mit JeanLuc Nancy in einer kommentierten französischen Ausgabe vorgelegt, welche die bis heute eingehendste philologisch-historische Behandlung dieses Komplexes in Nietzsches Schriften darstellt: Friedrich Nietzsche, Rhétorique et langage. Textes traduits, présentés et annotés par Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy, in: Poétique 2 (1971), 99-142.
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nicht genügt, und des anderen, das Nietzsche bis zuletzt, von ,Buch zu Buch' verzweifelt zu schreiben versuchen wird" (U, 81). Fragmentarisches Schreiben ist mit anderen Worten nicht auf das absolut Andere des Werkes aus, sondern ist eher ein „unablässiges Erschöpfen" des Werkes, oder nach einem Ausdruck von Blanchot ein „désoeuvrement" (U, 82). So wird die Bedeutung des Rhetorikstudiums durch Nietzsche von Lacoue-Labarthe hauptsächlich und wohl auch mit Recht im Hinblick auf dessen Sprachphilosophie interpretiert. Rhetorik erscheint Nietzsche als eine „Fortführung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel", nun aber „im hellen Lichte des Verstandes", was jedoch nicht heißt, daß es vor der rhetorischen und noch vor der künstlerischen Sprache eine nicht-rhetorische, natürliche Sprache gegeben hätte, auf die man sich als seinen Bezugspunkt stützen könnte. Nein, ein Sprachäußeres, ein Sprachursprung in diesem Sinne ist nicht zu denken, und die Sprache ist selbst schon „das Resultat von lauter rhetorischen Künsten". Es handelt sich für Nietzsche mit einem Wort darum, alle früheren Standpunkte, die auf irgendetwas Ursprüngliches zurückgriffen, abzulehnen (U, 88). Als Rhetorik ist die Sprache zum Beispiel nicht Ausdrucksmittel der Wahrheit. Ebensowenig wie der Mensch von seiner Natur aus zum Erkennen da ist, geht es bei der Sprache ursprünglich darum, die Wahrheit zu sagen (U, 89). Insbesondere mußte sich Nietzsche aber unter dem Einfluß dieses rhetorischen Denkens mit seiner eigenen frühen These über den absoluten Ausdruck in der Musik und die Überbietung der Mitteilungsmöglichkeiten der Sprache durch Musik auseinandersetzen. Alles Nicht-Sprachliche, das aber doch nur zur Rettung des Sprachlichen gedient hatte, mußte aus der Sprachphilosophie entlassen werden, um die Sprache nun rein als Sprache und rhetorisches Kunstmittel zu sehen (U, 93). Im achtzehnten Kapitel von Die Geburt der Tragödie hatte Nietzsche die berühmte Stelle von Schopenhauer zitiert, nach der die Musik sich dadurch von allen anderen Künsten unterscheidet, „daß sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objektivität des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt" (KSA 1, 103 f.). Was durch die Rhetorik zerstört wird, ist diese Mythisierung der Musik als einer Art Ursprache, noch vor der Poesie. Nun wird alles Sprache, aber mit diesem neuen Denken von der Sprache her verändert sich auch der Begriff der Kunst. Genauer gesprochen müßte man sagen, so führt LacoueLabarthe diesen Gedanken aus, daß die Rhetorik, weil sie das Thema der Sprache aufwirft, dazu nötigt, „die Kunst von der Sprache her zu denken, und nicht umgekehrt — eine Bewegung, in der sowohl die Kunst als auch
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die Sprache sich verändern, in der beide, was sie waren, nicht bleiben können" (U, 99). In der dionysischen Kunst, so hatte Nietzsche diese Verhältnisse in Die Geburt der Tragödie noch vorgetragen, konnte es immer wieder geschehen, daß die Natur „mit ihrer ,wahren Stimme', ihrer unverstellten Stimme' " zum Durchbruch kam, während in der apollinischen Kunst der „Schmerz ,aus den Zügen der Natur hinweggelogen' war" (U, 99). Das „Ungeheure" der Rhetorik in Nietzsches früher Kunsttheorie besteht nach LacoueLabarthe mit einem Wort darin, daß von der Sprache her gedacht solche Unterscheidungen nicht mehr gemacht werden können, daß „der Ursprung nicht ursprünglich ist, daß die Repräsentation der Präsenz vorausgeht" (U, 100 f.), daß also Sprache schon immer Sprache war. Die Rhetorik zerstört damit die Möglichkeit, „beim Mythos Zuflucht zu nehmen". Das unumgängliche Resultat dieser Kritik lautet: „Es gibt also keine neue Mythologie, keine Mythologie jedenfalls, die ein philosophischer Diskurs sich noch voraus glauben dürfte" (U, 102). Wenn sich in den Texten Nietzsches Anklänge an das Thema der neuen Mythologie von Friedrich Schlegel finden, dann müßte man dies bei ihm, wie vielleicht auch bei Schlegel, mit den Worten spezifizieren: „der Mythos ist nicht musikalischen Ursprungs; der Mythos ist rhetorisch. Er hat, als solcher, Teil an der doxischen Duplizität der Sprache, die eben darum keine Wahrheit sagt, aber immerzu glaubt, die Sprache der Wahrheit zu sein" (U, 103). 18 Paul de Man suchte diesem Interesse Nietzsches an einer rhetorisch begründeten Sprachphilosophie eine breitere Bedeutung zu geben, indem er es auf das umfassendere Gebiet der Literatur bezog und damit auf die für Nietzsche entscheidende Beziehung von Literatur und Philosophie zu sprechen kam. Nietzsche war offensichtlich einer jener Denker wie Piaton, Augustinus, Montaigne oder Rousseau, „der jene beiden Tätigkeiten des menschlichen Geistes umspreizt, die am engsten und gleichzeitig am undurchdringlichsten zueinander stehen — Literatur und Philosophie" (A, 103). 19 Nietzsches kritische Beschäftigung mit der „Rhetorik der Tropen" ist ein wichtiges Verbindungsglied zwischen diesen beiden Bereichen, oder kann jedenfalls ein besseres Verständnis des Zusammenhanges dieser beiden Bereiche in Nietzsches Denken erlauben. Mit dieser Geisteshaltung Ähnliche Gedanken habe ich in bezug auf Nietzsches Philosophie der Kunst vom Thema der Klassik aus verfolgt: Sokraies und die griechische Tragödie. Nietzsche und die Brüder Schlegel über den Ursprung der Moderne, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), im Druck (Gedenkband für Mazzino Montinari). ' 9 Paul de Man, Rhetoric of Tropes (Nietzsche), in: Paul de Man, Allegories of Reading. Figurai Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New-Haven—London 1976. Stellennachweise im Text mit der Bezeichnung „A", nach meiner Übersetzung. 18
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steht Nietzsche nach de Man gleichzeitig in der Tradition der Romantik, besonders in der von Friedrich Schlegel und Jean Paul Richter, von deren linguistischen Theorien wir freilich nur sehr wenig wissen (A, 106). Dies rhetorische Vokabular verschwindet dann beinahe völlig mit dem Erscheinen von Menschliches All^umenschliches, womit sich Nietzsche auf die Fragen des Selbst und eine sich im existentiellen Pathos bekundende Philosophie konzentriert, die bei der Interpretation seines Werkes einzig im Vordergrund gestanden hat (ebd.). Der Schlüssel zu Nietzsches Kritik der Metaphysik ist für de Man aber ganz ähnlich wie für Lacoue-Labarthe in diesen frühen Rhetorik-Studien zu suchen. Diese Metaphysikkritik ist nicht, wie man sie falschlich bezeichnet hat, eine bloße Umdrehung der Metaphysik oder von Piaton, sondern „besteht in dem rhetorischen Modell der Trope oder, wenn man dies so nennen möchte, in der Literatur als der Sprache, die am ausdrücklichsten in der Rhetorik gegründet ist" (A, 109). Über Wahrheit und Lüge ist ein kapitaler Text für dies Thema. Jeder wird natürlich bereits in den Anfangssätzen der einleitenden Fabel das erkennen, was man in der gegenwärtigen deutschen Kritik an Nietzsche mit einem monströsen Wort den „performativen Widerspruch" einer „totalisierenden Selbstkritik der Vernunft" genannt hat. 20 Was Nietzsche in der Tat zu unternehmen versucht, ist die Ersetzung „einer im Menschen zentrierten Anordnung von Bedeutungen, die unserer Eitelkeit genügt, durch eine andere, die den Menschen zu einem bloß vorübergehenden Zufall in der kosmischen Ordnung reduziert" (A, 111). Das ist ganz offensichtlich eine unmögliche, aber darum doch nicht zu verachtende Aufgabe. Daß der Text selbst widersprüchlich ist, sieht de Man deshalb als das Normalste von der Welt an. Denn wenn Nietzsche sich nicht widerspräche, würde er ja seine eigene These von der Rhetorizität der Sprache unterminieren und irgendwo einen neuen Wahrheitsort aufstellen, an dem sich alles zu orientieren hätte. Ein Text wie Über Wahrheit und. Lüge, der die Mittel der literarischen Rhetorik demystifiziert, ist deshalb auf völlig legitime Weise „literarisch, rhetorisch und täuschend" (A, 113). Ja, so führt de Man diesen Gedanken in radikaleren Wendungen aus, ein Künstler, der in seiner Anerkennung dessen, was Wahrheit und Lüge ist, ehrlich verfährt, „gewinnt eine besondere Art von affektiver Freiheit, einen Überschwang, der eine fröhliche Wissenschaft oder eine Homerische Heiterkeit ist und sich völlig von dem Lustprinzip unterscheidet, das an die libido oder die Begierde gebunden ist". „Nur der Künstler", sagt de Man, „der sich die ganze Welt als Erscheinung vorstellen kann, vermag 20
Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 219
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sie ohne Begierde zu betrachten" (ebd.). Er bezieht sich dabei auf die Stelle in Nietzsches Text über das Freiwerden des Intellekts von seinem gewöhnlichen Sklavendienst in der künstlerischen Intuition, wenn der Intellekt „mit schöpferischen Behagen" die Metaphern durcheinander wirft und das „ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe" als ein „Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke" nimmt (KSA 1, 888). Nach de Mans Interpretation wird hier die Literatur zum Hauptgegenstand der Philosophie und das Modell jener Art von Wahrheit, nach der die Philosophie strebt: „Die Philosophie enthüllt sich als eine nicht endende Reflexion über ihre eigene Zerstörung in Händen der Literatur" (A, 115). Diese nicht endende Reflexion ist aber unlösbar mit der rhetorischen Struktur des Textes verknüpft, da sie sich von der Verstellung, welche sie entlarvt, selbst nicht lösen kann. Schärfer formuliert und mehr in der Weise de Mans ausgedrückt lautet dieser Gedanke, daß die Selbstzerstörung und die Selbstverzehrung, die in dieser unendlichen Reflexion auf sich selbst beschlossen liegen, aufs unbestimmte aufgeschoben sind: „die Selbstzerstörung ist in einer Reihe nacheinander abfolgender rhetorischer Umkehrungen unendlich verlagert, die sie, in der endlosen Wiederholung derselben Figur, zwischen der Wahrheit und dem Tod dieser Wahrheit aufgehängt sein lassen" (ebd.). Anders ausgedrückt: „Die Drohung unmittelbarer Zerstörung, die sich selbst als Redefigur ausspricht, wird zur permanenten Wiederholung dieser Drohung. Da Wiederholung ein zeitliches Ereignis ist, kann es aufeinanderfolgend erzählt werden, doch ist der Gegenstand der Erzählung selbst eine bloße Figur. Ein nicht-referentieller, repetitiver Text erzählt die Geschichte eines dem Buchstaben nach zerstörerischen, aber untragischen linguistischen Ereignisses. Wir könnten diesen rhetorischen Modus, der jener des ,conte philosophique' Uber Wahrheit und Lüge und, darüber hinaus, jeden philosophischen Diskurses ist, eine ironische Allegorie nennen — vorausgesetzt, daß wir die Ironie mehr im Sinne Friedrich Schlegels als in dem von Thomas Mann verstehen. Aber der Ort, an dem wir einiges dieser Art erfassen, ist Nietzsches eigenes Werk und nicht das seiner angeblichen Nachfolger" (A, 115 f.). Eine weitere Besonderheit der Nietzschelektüre Paul de Mans besteht darin, die metaphysikkritische Tendenz Nietzsches nicht von einem bestimmten Moment an, etwa mit dem Entstehen dieser sprachkritischen Rhetoriktexte zu datieren, sondern durchgängig für das gesamte Werk anzunehmen. Davon sollte selbst eine Schrift nicht ausgenommen werden, die wie Die Geburt der Tragödie ziemlich ausdrücklich für eine unvermittelte Präsenz des Willens und für eine tragische statt einer ironischen Kunst plädiert (U, 117). Es geht vielmehr mit Hilfe dieser von der Rhetorik aus gemachten Entdeckungen darum, den Nachweis zu erbringen, daß all die
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autoritativen Ansprüche, welche ein solcher Text macht, von Feststellungen unterminiert werden, die im selben Text enthalten sind. Die Geburt der Tragödie ist sogar ein ausgezeichneter Gegenstand für eine solche dekonstruktive Lektüre, wenn man nur an die Entstehungsgeschichte der Schrift denkt, die hastige Kompilation der Druckvorlage und die vielen liegengebliebenen Teile der Vorarbeiten, die nicht mehr in die sich verengende Konzeption paßten. Doch will de Man die Dekonstruktion nicht nur auf einzelne besondere Texte anwenden, sondern für jeden komplexen Text der Philosophie oder der Literatur, ja letztlich für jeden sprachlichen Ausdruck in Anspruch nehmen. Hier folgt er Nietzsches These, daß die Sprache insgesamt Rhetorik ist und sich nur dazu eignet, Meinungen, nicht aber Wahrheiten, mitzuteilen (A, 105). Nietzsches Werk ähnelt so besehen der Gestik des Künstlers, der von der Erfahrung nichts lernt und immer wieder in dieselbe Falle geht. „Was aber am schwersten fallt, von uns zugegeben zu werden", so fügt de Man hinzu, „besteht wohl darin, daß diese Allegorie der Irrtümer das eigentliche Modell philosophischer Strenge ist" (A, 118). 5. Neben seiner großen Offenheit für die literarisch-rhetorische Struktur von Nietzsches Werk zeigt de Man aber auch eine eigentümliche „Blindheit" gegenüber den vielfältigen Bewegungsrichtungen in diesem Text. Darauf soll noch kurz eingegangen werden, damit die Möglichkeiten der dekonstruktiven Nietzschelektüre nicht durch einen vorzeitigen Beschluß begrenzt werden. Für diesen Zweck genügt es, wenn man sich auf die eine Stelle in de Mans Essay konzentriert, in der er sagt, daß wir die Ironie mehr im Sinne Friedrich Schlegels als in dem von Thomas Mann nehmen sollen und daß der Ort, an dem wir die Wirksamkeit dieser Ironie am besten erkennen, Nietzsches eigenes Werk ist und nicht das seiner Nachfolger (A, 115 f.). Daß unter diesen Nachfolgern alle diejenigen zu verstehen sind, die Nietzsche, wie vor allem Heidegger, auf ein einziges ursprünglich vorgegebenes Prinzip festlegen wollen, dürfte klar sein. Wahrscheinlich sollte man auch diejenigen einbeziehen, die nicht im engeren Sinne „Nachfolger" Nietzsches sind, sondern ihn, wie etwa Lukács oder Habermas, aus Gegnerschaft heraus auf dieselbe Weise deuten und ihn zum Beispiel des Rückfalls in den Mythos oder einer irrationalistischen Willensmetaphysik bezichtigen. Gegenüber solchen Interpretationen scheint die dekonstruktive Nietzschelektüre mit ihrer Anerkennung der unendlichen Verweisungsstruktur, der nicht endenden Reflexion, mit einem Wort der absoluten Ironie, dem besonderen Diskurs Nietzsches gerechter zu werden. Das zeigt sich insbesondere beim Thema der Sprachphilosophie und der Sprachkritik in Nietzsches frühen Schriften, das nicht, wie üblich, auf irgendein Modell
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analytischer Sprachtheorie hin ausgerichtet wird, sondern von dem Motiv der „Sprache als Kunst" aus angegangen ist und damit gleichzeitig die Potenzialität der bislang noch nicht genügend bekannten romantischen Sprachphilosophie in die Debatte der Gegenwart bringt. Wie de Man mit Recht annimmt, vermag das Prinzip der Ironie die einseitigen Festlegungen Nietzsches wirksam zu verhindern, indem es die Bewegung und Gegenbewegung in seinem Denken in Erscheinung treten läßt. Dabei wäre natürlich zu berücksichtigen, daß Nietzsche die Bezeichnung Ironie für diese Technik gewöhnlich vermied und stattdessen die klassischen Termini der Dissimulation und der Maske verwandte. 21 In zahlreichen Wendungen hatte Schlegel die Ironie ein ständiges Alternieren, einen „steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung" genannt (ζ. Β. ΚΑ II, 172) und dabei großen Wert darauf gelegt, daß man seine Formulierungen nicht in einem dialektisch-teleologischen Sinne verdrehen konnte. Paul de Man schließt sich direkt an diese Theorie Schlegels an. 22 Aber gerade hier, bei der undialektischen, spielerischen und durch und durch künstlerischen Fassung der Ironie durch Schlegel erhebt sich ein Einwand gegen de Man, der sich dann ebenfalls gegen seine Nietzschelektüre und schließlich auch gegen die von ihm vertretene Version der Dekonstruktion richtet. Es scheint nämlich, daß er den durchaus schwebenden, oszillierenden, weder in Selbstschöpfung noch in Selbstvernichtung übergehenden Charakter der Ironie zugunsten der Selbstvernichtung des literarischen Textes auflöst und den endgültigen Vollzug der Selbstvernichtung nur durch die unendliche Repetition der Vernichtungsgeste suspendiert sieht. Philosophie, Literatur, Schreiben wären somit Tätigkeiten, die auf ihren eigenen Tod, ihre Vernichtung hinauslaufen und dies Ende nur durch ewig neues Schreiben aufzuhalten vermögen. Dekonstruktives Lesen wäre eine Tätigkeit, welche den unter der Oberfläche des Textes verborgenen düsteren Sinn als seine eigentliche Bedeutung hervorholt und diesen einer ursprünglichen „Blindheit" als wahre „Einsicht" konfrontiert. In der Tat laufen viele der von de Man vorgenommenen Lektüren in diese Richtung, und seine Nietzsche-Studien bilden davon keine Ausnahme. 23 Um das dekonstruktive Lesen in seinen spannungsreichen Bezügen voll aufrecht zu erhalten, müßte einem solchen Angezogenwerden von 21
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Siehe hierzu meinen Aufsatz Nietzsches Auffassung der ironie, in: Nietzsche-Studien 4 (1975), 1 - 3 5 . Die wichtigste Quelle hierfür ist de Mans g r o ß e r Aufsatz The Rhetoric of Temporality, in: Paul de Man, Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of C o n t e m p o r a r y Criticism, Minneapolis 1983. Siehe meine Rezension von Paul de Man, Blindness and Insight in Arcadia 22 (1987), 72-77.
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Ernst Behler
einem düsteren Ende aber ebenso widerstanden werden, wie es das verheißungsvolle Ziel zu vermeiden gilt. Es ginge vielmehr darum, das „InBetween", die Phase der Allegorie und des Schreibens, nicht als bloße Übergangsphase oder als bloßen Verlust von Sinn zu deuten, sondern als die Existenzweise von Sinn und den angemessenen Ort unserer Wirksamkeit anzuerkennen. Wie Derrida es formuliert, sollte man „das NichtZentrum anders denn als Verlust des Zentrums" deuten. Man sollte diese Situation bejahen, aber nicht mit jener „traurigen, negativen, nostalgischen, schuldigen und Rousseauistischen" Kehrseite der Bejahung 24 , wie wir sie auch in Paul de Man finden, sondern auf affirmative Weise, wie Nietzsche die Bejahung ins Spiel bringt, nämlich „mit einem bestimmten Lachen und einem bestimmten Tanzschritt". 25 Friedrich Schlegel scheint mit der Ironie das Modell für eine solche Denkweise erstellt zu haben, wenn man nur genügend darauf achtet, daß überbetonte „Selbstschöpfung" wie übertriebene „Selbstvernichtung" für den Geist „gleich tödlich" sind (KA II, 173). Nietzsche hat den Text geschrieben, in dem sich ein solches Denken bekundet, wenn man diesen Text nur in seiner Gesamtheit zur Kenntnis nimmt und nicht auf Kompilationen reduziert. Mit seinen Thesen von der Heterogeneität des Nietzscheschen Textes, seines jeder Wahrheit baren Zeichens, der aktiven Interpretation als nicht endendem Dechiffrieren und der Affirmation der Welt als Spiel scheint Derrida der Lektüre Nietzsches neue Möglichkeiten eröffnet zu haben, die sich in einzelnen Interpretationen freilich noch erweisen müssen.
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25
Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz Übersetzt von Rodolphe Gasché, Frankfurt 1976, 441 Jacques Derrida, Die différance, in: Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, Frankf u r t - B e r l i n 1976, 36
MANFRED
RIEDEL
Präludium zur Ontologie? Nietzsche und Parmenides Der Philosoph, notiert Nietzsche in den Vorarbeiten zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung (1873), soll „erkennen, was notb tut, und der Künstler soll es schaffen". Er soll am stärksten das „allgemeine Leid nachempfinden: wie die alten griechischen Philosophen jeder eine Noth ausdrückt". 1 Die Notiz steht im Kontext von Nietzsches Auffassung der tragischen Erkenntnis als „Mutter der Kunst", die der ästhetischen Metaphysik der ,Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik' zugrundeliegt. Und sie ist im Blick auf die „Doppelnatur" des tragischen Kunstwerks und der Philosophie geschrieben, die zwischen Kunst und Wissenschaft auf der Fährte der „wissenswürdigsten Dinge, der großen und wichtigen Erkenntnisse" bleibt und so durch Bändigung des blinden Wissenstriebes den Menschen über sich selbst erhebt.2 Die Philosophie beginnt mit einer Gesetzgebung der Größe, dem Auswählen und Ausscheiden des Ungewöhnlichen, Erstaunlichen, Schwierigen, Göttlichen; und mit der Erhebung des Menschen zu ihm. Was hat, so fragen wir uns, Parmenides mit dieser Bestimmung der Philosophie zu tun? Welche Not spricht sich in seinem Denken aus? Trifft auf ihn zu, was Nietzsche vom Typus des griechischen Weisen bis hin zu Sokrates behauptet: daß er ein „edler Warner" sei, der zu demselben Zwecke kommt, zu dem „die Tragödie geboren wurde und den die orphischen Mysterien in den grotesken Hieroglyphen ihrer Gebräuche zu verstehen geben". 3 Wer sich mit diesen Fragen an das Parmenides-Kapitel in dem uns erhaltenen Buch-Fragment wendet, wird darauf keine Antwort erhalten. Im Unterschied zu Anaximander und Heraklit, den Archetypen der tragischen Erkenntnis, fällt der Typus „Parmenides" aus diesem Rahmen heraus. Er verfällt dem hegelianischen Ansatz: nach Heraklit, dem Denker des Werdens, folgt bei Nietzsche der des Seins (während Hegel in seiner Ge1
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Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe ( = K S A ) , hg. von G . Colli/M. Montinari, Bd. 7, Fragment 19 [23] Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 3, K S A 1, S. 817 Vgl. Brief an Carl v. G e r s d o r f f v o m 2. März 1873, in: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, hg. von G . Colli/M. Montinari, Bd. 4, 132.
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Manfred Riedel
schichte der Philosophie im Einklang mit der großen Einsicht seiner Jugend die umgekehrte Reihenfolge vorzieht). 4 Mit seiner „durch logische Starrheit ganz petrificirten und fast in eine Denkmaschine verwandelten Natur" erscheint Parmenides als Typus eines „Propheten der Wahrheit, aber gleichsam aus Eis und nicht aus Feuer geformt und kaltes, stechendes Licht um sich ausgießend". 5 Ohne Not, so scheint es, taucht er in das „kalte Bad seiner furchtbaren Abstraktion", wonach alles, was wahrhaft ist, in ewiger Gegenwart sein muß; daß von dem in Wahrheit Seienden nicht gesagt werden kann: „es war" oder „es wird sein". Und ohne Not, aus rein gedanklicher Konsequenz, gelangt er dann zu seiner radikalen Leugnung der menschlich erlittenen Welt des Werdens und Vergehens. 6 In der Tat fallt es schwer, hinter der logisch stilisierten Notwendigkeit der Lehre vom Sein zu erkennen, was zu ihr nötigt. Ist es nichts als der völlig willkürliche „Moment der allerreinsten, durch jede Wirklichkeit ungetrübten und völlig blutlosen Abstraktion", den Nietzsche, seltsam genug, „ungriechisch" wie keinen anderen in den zwei Jahrhunderten des tragischen Zeitalters nennt? 7 Genügt die Parmenideische Lehre sich selbst? Läuft sie auf die „Selbstverständlichkeit des Logischen", auf eine Tautologie, hinaus? So scheint es, wenn wir Nietzsches Deutung folgen. Zweifellos gehört das Kapitel über Parmenides zu den schwächsten des viermal umgeschriebenen Fragments über die .Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen'. 8 Kein Zweifel aber auch, daß es zu ihren wichtigsten zählt. Und wenn wir bedenken, welchen Einschnitt es markiert; daß das Erzeugnis jenes Moments nach Nietzsches Darstellung für Parmenides' eigenes Leben zum Grenzstein wird, der es in zwei Perioden trennt und zugleich das vorsokratische Denken in zwei Hälften teilt, die Anaximandrische (mit Heraklit als Abschluß) und die Parmenideische, die der Atomistik die Weichen stellt, so können wir nur bedauern, daß eine fünfte Umschrift nicht gelungen ist. Sie war geplant, weil Nietzsche die Schwächen seiner Interpretation wohl bemerkt und gerade hier einzugreifen versucht hat. 9 Ihre Unzulänglichkeit hängt mit der Stärke des Gedankens der tragischen Erkenntnis zusammen, wie er sich zuerst in der Geburt der Tragödie Bahn bricht; und mit dem Unzulänglichen von Nietzsches anfanglich philosophi-
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Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, WG Bd. 17, 296 ff. KSA 1, 836. KSA 1, 842. KSA 1, 836. Vgl. Briefe, Bd. 4, 138. Vgl. KSA 7, 23 [12] und KSA 8, 6 [6] - 6 [5t].
Präludium zur Ontologie?
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scher Ausdeutung, wonach die tragische Erkenntnis in Schopenhauers ,Welt als Wille und Vorstellung' wiedergeboren sei und so noch einmal den durch Hegels Wissenschaftsoptimismus verschütteten Weg zur Weisheit eröffne. 1 0 I Wie sich am Typus „Parmenides", dem Chorführer der eleatischen Schule, die Doppelnatur des tragischen Kunstwerks spiegelt, hat Nietzsche mehrfach beschrieben. Parmenides treibt das Denken nicht nur zum „ E x ceß der L o g i k und Notwendigkeit", er ist „Dichter und Philosoph". So bewegt er sich zwischen „Abstraktion und Sprache". 1 1 Und seine Sprache ist die der Poesie:
%um
Vortrag
bestimmt,
weil er als Dichter „an Hörer
denkt". Schreiben ist ein wesentliches Merkmal des Prosaikers, der für Leser arbeitet: „Die Prosa heißt πεζός λόγος, sie geht zu Fuß; der Dichter ist hoch zu Wagen". Das prägt sich nach Nietzsche an der „poetischen" F o r m des Parmenideischen Lehrgedichts aus, dem Auftakt mit der dem E p o s wie der Lyrik (Pindar) vertrauten Wagenfahrt: „Großartiger Eingang bei Parmenides, wie er, geleitet von den Sonnenjungfrauen, Ross und Wagen zum Tempel der Weisheit hinlenkt". 1 2 Parmenides, der sein Gedicht in Hexameter faßt, das Metron
der Mündlichkeit, behält etwas Priester-
und Seherhaftes; und er ist, was den K e r n seiner Lehre angeht, einsilbig wie alle älteren Meister. 1 3 Nehmen wir diese Charakterisierungen durch den Philologen Nietzsche ernst, dann fällt um so mehr ins Auge, wie wenig er davon im ParmenidesKapitel Gebrauch macht. D a ß er sich, im Unterschied zu Hegel, auf die epische F o r m nicht weiter einläßt, erklärt sich daraus, daß Nietzsche zunächst die Eleaten zusammen mit Heraklit und Empedokles als die „tragischen Philosophen" begreift und überhaupt in ihnen den Höhepunkt der philosophischen Erkenntnis bei den Griechen erblickt. 1 4 So konzentriert sich sein Interesse mehr auf formale Entsprechungen zu den Requisiten der Tragödie: die Vereinigung der epischen Bildkunst mit dem lyrischen Sprechen (dem Ich-Sagen); des die Handlung
unterbrechenden Chores
mit
dem Dialog, der sie begleitet und den Weg zur Dialektik öffnet, den griechischen
Wortkampf,
den Nietzsche bei Parmenides auf die Spitze
Vgl. K S A 7, 7 [168], " Vgl. K S A 7, 23 [22], 12 Geschichte der griechischen Literatur Ausgabe") Bd. X V I I I , 13. 13 Vgl. ebd., 1/2; 174 und 249. 14 Vgl. K S A 7, 2 [6] und 5 [94], 10
(1875), in: Philologica Bd. 2, Werke („Groß-Oktav-
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getrieben sieht; 15 und schließlich darauf, als was Parmenides, wenn man ihn mit den älteren Meistern vor eine Tragödie stellte, das Dasein erkennen würde. Die Antwort lautet: als „vergänglichen Schein".16 Sie betrifft den Kern seiner Lehre, die sich nach Nietzsche „auflösend gegen alle K u n s t " verhält. 17 Parmenides als tragischer Philosoph und Feind der Kunst zugleich, sofern sie es mit dem Schein zu tun hat, das ist eine der Paradoxien, die das Kapitel durchziehen. Sie nimmt sich ebenso verwirrend aus wie die Einordnung des Parmenides in die Reihe der Weisen von Thaies bis Sokrates (daß sie einmal in ihm kulminiert und dann wieder durch den Drang zur Dialektik und logischen Abstraktion gebrochen erscheint) oder Parmenides' Zuordnung zu Heraklit (daß er ihm auf der einen Seite auf seiner eigenen Bahn polemisch begegnet und andererseits eine Begegnung ausgeschlossen sein soll). 1 8 Das Hin- und Herschwankende dieser Hypothesen, eine Folge von Nietzsches Arbeitsweise, die verschiedene Standpunkte ausprobiert, ohne selber zu festen Urteilen zu gelangen, ist nicht zu leugnen. Und seine auch hier befolgte Maxime, auf philosophisch-historische und philologisch-gelehrte Detailuntersuchung zu verzichten und den „Typus Parmenides" aus dem ewig Unwiderlegbaren der leibhaftigen Erscheinung zu zeichnen, der Person, die sich in der Lehre gleichsam maskiert und schauspielernd, d. h. die Stimme erhebend, bezeugt, 1 9 ist nicht dazu geeignet, Verwirrungen zu beheben oder „ N e u e s " zu entdecken. Sie erinnert an Hegels Rekurs auf die Erscheinungsgeschichte des Geistes in der Zeit, die „energische, heftige Seele" des Parmenides, die „mit dem Wesen ringt, es zu fassen und auszusprechen" sucht: „ E i n Mensch macht sich frei von allen Vorstellungen und Meinungen, spricht ihnen alle Wahrheit ab und sagt nur, die Notwendigkeit, das Sein ist das Wahre". 2 0 E s wäre jedoch verfehlt, Hegels Ansatz mit dem von Nietzsche einfach zu vergleichen. Vielmehr empfiehlt es sich, Nietzsches Eigenem zu folgen, seinem Spürsinn für tieferliegende Zusammenhänge, der ihn den I. Teil des Parmenideischen Lehrgedichts über das Sein im Ausgang von seinem II. Teil, der Lehre vom Schein, interpretieren läßt; nach den Grundzügen der ästhetischen Metaphysik seiner Frühzeit, die Nietzsches Stellung zu Parmenides bestimmt.
15 16 17 18
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20
Vgl. K S A 7, 19 [18]; 23 [8]; 23 [9] und 23 [22], K S A 7, 23 [35] K S A 7, 23 [9] Vgl. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, K S A 1, 842 mit: Die διαδοχαί der Philosophen, in: Philologica Bd. 3, Werke X I X , Leipzig 1913, 320. K S A 1, 803. Vgl. Jonathan Barnes, Nietzsche und Diogenes Laertius, in: Nietzsche-Studien Bd. 15 (1986), 21. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 309 und 313.
Präludium zur Ontologie?
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Die Geburt der Tragödie entwickelt ihre Ästhetik im Anschluß an Kant und Schopenhauer als Metaphysik der Erscheinung des Schönen in Natur und Kunst: „Das Kunstwerk und der Einzelne ist eine Wiederholung des Urpro^esses, aus dem die Welt entstanden ist, gleichsam ein Wellenring in der Welle". 21 Die Natur ist die Vision des Genius, des „Urkünstlers" Dionysos, der in der Erzeugung des Schönen das Schreckliche: den Schmerz der Vernichtung des Einzelnen, bezeugt. Für Nietzsche gibt es kein Naturschönes, es gibt nur ein Erhabenes in der Natur, 2 2 das sich der ursprünglich metaphysischen Betrachtung in der Doppelung des Seins im Schein, dem Doppelprozeß der Entstehung des Einzelnen (der apollinischen Individuation) und seines Vergehens, darstellt. Darauf beruht Nietzsches eigenster Gedanke, der ihn in der Abenddämmerung der Metaphysik zu ihrem griechischen Anfang zurücktreibt, zur Erhellung der Doppelkonstellation von Parmenides und Heraklit im Lichte der apollinisch-dionysischen Doppelnatur des tragischen Kunstwerks und der Philosophie. Apollo symbolisiert das Parmenideische Sein, die Erkenntnis des Weltbestands als Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft, Dionysos das Heraklitische Werden, die Anerkennung des Weltenwandels als Grundlage der höchsten, dem Menschen möglichen Weisheit. Der Bogen der mythischen Symbolik ist so weit gespannt, daß sie nach verschiedenen Richtungen hin gedeutet werden kann. Sie begünstigt keine und fordert zunächst auch keine Entscheidung zugunsten des Dionysossymbols und seiner späteren Gleichsetzung mit der „Heraklitischen Weisheit". Im Gegenteil: Am Ausgangspunkt seines Denkwegs optiert Nietzsche eindeutig für die Gestalt des Parmenides, sieht er den „ H ö h e p u n k t der Philosophie bei den Eleaten und Empedokles". 2 3 Und dieser Option entspricht die entschiedene Kritik an der Verselbständigung des Werdens im neuzeitlichen Historismus, wie sie Nietzsche in den Unzeitgemäßen Betrachtungen ausspricht. „Dieses ewige Werden", sagt Nietzsche unter Anspielung auf den Platonischen Timaios, „ist ein lügnerisches Puppenspiel, über welchem der Mensch sich selbst vergißt, die eigentliche Zerstreuung, die das Individuum nach allen Winden auseinanderstreut, das endlose Spiel der Albernheit, welches das große Kind Zeit vor uns und mit uns spielt". 24 Es klingt wie ein Echo der Parmenideischen „Wahrheit des Seins", gegen die sich die Ewigkeit des Werdens als „ u n w a h r " ausnimmt: „Im Werden ist Alles hohl, betrügerisch, flach und unserer Verachtung würdig; das
21 22 23 24
KSA KSA KSA KSA
7, 7, 7, 1,
7 [117] 7 [46] und 7 [121] 2 [6]; vgl. 3 [72]: „Die E r k e n n t n i ß l e h r e auf ihrem H ö h e p u n k t bei den Eleaten." 374, Schopenhauer als Erzieher.
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Räthsel, welches der Mensch lösen soll, kann er nur aus dem Sein lösen, im So- und nicht Anderssein, im Unvergänglichen." Und nur von ferne klingt an, was Nietzsche in der Nachzeichnung von Schopenhauers „heroischem Menschen" und seiner Erhebung zur „Wahrhaftigkeit" vorschwebt, nämlich „zu prüfen, wie tief er mit dem Werden, wie tief mit dem Sein verwachsen ist", um der Aufgabe gewahr zu werden, daß „alles Werdende zu zerstören, alles Falsche an den Dingen an's Licht zu bringen ist". 25 Die Berufung auf Schopenhauer konnte Nietzsche nicht darüber hinwegtäuschen, daß die „ungeheure Aufgabe", die er vor sich aufsteigen sah, mit Schopenhauerischen Formeln nicht zu lösen war. Das mag ihm schon durch dessen Definition der tragischen Erkenntnis als „Erhebung" über die Welt nahegebracht worden sein, die „dem Leben kein rechtes Genüge geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeit nicht werth sei". 26 Nietzsche entdeckt darin den Standpunkt der unheroischen Resignation, dem er mit Kant das Postulat entgegensetzt, das Erhabene festzuhalten. 27 Die Forderung entspricht der Metaphysik der Tragödie und der Gesetzgebung der Größe in Nietzsches Bestimmung des Anfangs der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Und es ist interessant zu sehen, wie Nietzsche im Umkreis der Geburt der Tragödie dem Weg des Parmenides zu folgen sucht, der Richtung auf das Eine, wahrhaft Seiende, den ewigen Urgrund der Welt. Unter direkter Anspielung auf Parmenides spricht Nietzsche vom „Ball des ewigen Seins", von dem „unnahbar Einen und Ewigen", dem „Abgrund des wahren Seins". 28 Aber das Eine ist unfähig, „sich selbst zu deuten" 29 , nach der Aporie des Platonischen Parmenides, die Nietzsche an dieser Stelle vorgeschwebt haben mag: Wenn das Eine ist und sonst nichts, läßt es sich nicht sagen; es „widerspricht" der Aussage, die immer nur zweifach (S ist P) gesagt und verstanden werden kann. Sonst wäre „Eines ist" und „Eins ist Eins" dasselbe, was sie offensichtlich nicht sind. 30 Nietzsche löst den Widerspruch des Einen im Rekurs auf die Kunst. Es braucht den Schein, die Erscheinung des Schönen: „Das Eine erzeugt in griechischer Heiterkeit aus sich den Schein: wie kann der Schein existieren? Nur als künstlerischer Schein. Es kommt zum Einen, Seienden nichts hinzu". 31 Warum? Weil die Kunst mit der Natur ganz dem Bereich 25 26 27 28 29 30 31
KSA 1, 375 GT, KSA 1, 19 f. Vgl. KSA 7, 7 [46]; 19 [22] und 19 [33], KSA 7, 7 [153] KSA 7, 7 [163] Plato, Parmenides, 142 b—c. KSA 7, 7 [163]
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des raum-zeitlich Erscheinenden angehört, den Grundformen des neuzeitlich gedachten Willens. Im Gegensatz zu Schopenhauer und dem späten Schelling identifiziert ihn Nietzsche nicht mit dem Sein (im Sinne des Kantischen „Dings an sich" als metaphysischem Grenzbegriff), sondern mit dem Werden, der Welt des Scheins, der Vielheit und Individuation. Die Erhebung über sie geschieht durch die den Schmerz brechende „Lust am Schein", die Kunst als „Verschönerung der Erscheinung", die sie „potenziert" 3 2 und auf der Spitze des tragischen Kunstwerks ins Erhabene wendet: die Durchbrechung des Scheins durch ihre „Verklärung", d. h. die Einsicht des Einzelnen in die Notwendigkeit der ewigen Wiederholung des Urprozesses am Grunde der Welt. Es ist die Lösung des Schopenhauerschen Problems der Selbstaufhebung des Willens ohne Schopenhauers Pessimismus, die möglich wird, weil der Wille nach Nietzsche „nichts als Schein selbst ist und das Ureine nur in ihm eine Erscheinung hat". 3 3 Darum muß der Schein ebenso sein wie das Sein: unverändert, ewig. Und daraus folgt dann der für Nietzsches künftigen Weg entscheidende Gedankengang: „Es gibt keine Leere, die gan^e Welt ist Erscheinung, durch und durch, Atom an Atom, ohne Zwischenraum: Voll als Erscheinung wahrnehmbar ist die Welt nur für den einen Willen. Er ist also nicht nur leidend, sondern gebärend: er gebiert den Schein in jedem kleinsten Moment: der als das Nichtreale auch der Nicht-eine, der Nichtseiende, sondern Werdende ist".3A
II Vor dem spekulativen Hintergrund der ästhetischen Metaphysik wird verständlich, warum das Parmenides-Kapitel des Fragments über die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen mit der Lehre vom Schein einsetzt. Das unterscheidet Nietzsche von Hegel, der den II. Teil des Parmenideischen Lehrgedichts lediglich als einen (im Grunde entbehrlichen) Anhang zum I. Teil behandelt. Damit nimmt er die Einsicht über die Zusammengehörigkeit beider Teile des Gedichts vorweg, die nach dem bahnbrechenden Werk von Karl Reinhardt über Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie (1916) zum Gemeingut der Forschung geworden ist. Nietzsche erwächst sie aus vergleichenden Untersuchungen über die Diadochen der Philosophen, in denen er „eine seiner wirklichen Entdeckun32 33
34
KSA 7, 7 [157]; [152]; [171]; [194] KSA 7, 7 [174]. Vgl. Friedhelm Decher, Nietzsches Metaphysik in der ,Geburt der Tragödie' im Verhältnis Schopenhauer, in: Nietzsche-Studien 14 (1985), 116. KSA 7, 7 [168]
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gen" macht, 35 die ihn Parmenides zusammen mit Heraklit ganz aus der Nachfolge von Anaximander verstehen läßt. So lohnt es sich, Nietzsches Interpretationsansatz ein Stück weit zu folgen. Als Nietzsche nach Vollendung der Geburt der Tragödie daran ging, das als „Seitenstück" geplante Philosophenbuch zu schreiben, entschloß er sich, „alles so bestimmt wie möglich zu sagen" und „jeden terminus, auch ,Wille', bei Seite zu lassen". 36 Der Entschluß dokumentiert Nietzsches Abwendung von Schopenhauer, die sich im Verlauf der Niederschrift vollzieht. Er bedeutet jedoch keine grundsätzliche Abkehr von der dem Jugendwerk zugrundeliegenden Metaphysik. Wenn uns die dort vorherrschende Willensterminologie in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen nicht mehr begegnet, so kommt das Nietzsches Absicht der Schrittweiten Wiedergewinnung des antiken Bodens entgegen, seinem Programm eines Rückstiegs in die Bahnen der Metaphysik. Nicht, um zuletzt mit Hegel stehenzubleiben und im Gestus der Überlegenheit auf sie zurückzuschauen, sondern weil es auch hier, wie im Hippodrom, nottut, um das Ende der Bahn herumzubiegen „und am anderen Ende den Anfang zu Gesicht zu bekommen". Und der Anfang liegt für Nietzsche nicht im Noumenon des Seins, sondern im Phänomenen des Werdens, der anfänglichen Erfahrung der Zeit, der das abendländische Denken entspringt: „Das Werden und das Sein — es ergibt sich die volle Differenz". 37 Der Bestimmung dieser „Differenz" gilt Nietzsches Interesse von Anbeginn, von der Vorlesung über die Vorplatonischen Philosophen und die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen bis hin zu den Fragmenten des Spätwerks. Sie läßt sich nicht mit Heidegger als „ontologisch" verstehen. Liegt doch der Ursprung des abendländischen Denkens nicht dort, wo ihn Heidegger mit Aristoteles findet, in der Frage der „ersten Philosophie" nach dem Seienden als solchen (δν ή όν) und seinen Gründen. Es entspringt eher jenen Quellen, die Aristoteles wohl kennt (die Homerische Dichtung, die orphische Religion), aber für trübe hält — den mythischen und sporadisch-spruchmäßigen Vorstufen der Uberlieferung, worin die ursprünglich griechische Zeiterfahrung in mythisch gebundener Form anklingt: im agonistischen Gegenüber von Erde (Chthon), Himmel (Äther) und erster, ältester Zeit (Chronos) und der Verwandlung der Erde durch das Zusammenwirken des Eros Demiurgus (dem „Urkünstler" der Geburt der Tragödie) mit Chronos, der ^weiten, der „zeitlichen, nicht anfangslosen
35
36 37
Vgl. Uvo Hölscher, Die Wiedergewinnung des antiken Bodens. Nietzsches Rückgriff auf Heraklit, in: Neue Hefte für Philosophie 15/16 (1979), 165. K S A 7, 19 [46] K S A 7, 23 [18]; vgl. Menschliches, Allzumenschliches, I 20, K S A 2, 41 f.
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Zeit" in die Elemente von Wasser, Luft, Feuer. 3 8 Auf sie stößt das erwachende Denken. Es erfahrt das „absolute Werden" (χρόνος) in der Beobachtung, wie die Phänomene „erscheinen" und im Erscheinen schwinden. Der freigewordene Intellekt, so umschreibt Nietzsche den Ursprung der Philosophie aus dem Affekt des Staunens (dem θαυμάξειν) „schaut die Dinge an: und jetzt zum ersten Mal erscheint ihm das Alltägliche beachtenswert, als ein Problem. Es ist das wahre Kennzeichen des philosophischen Triebs: die Verwunderung über das, was vor allen liegt. Das alltäglichste Phänomen ist das Werden: mit ihm beginnt die ionische Philosophie. Das Problem kehrt in einer unendlichen Steigerung bei den Eleaten wieder: sie beobachten ..., daß unser Intellekt das Werden gar nicht begreift und erschließen daher eine metaphysische Welt". 39 Nach Nietzsche ist Anaximander der erste in der Reihe der „tragischen" Philosophen, der sich über das Werden verwundert, dieses Phänomen nicht im Sinne des Entstehens und der Entwicklung des Vielen verstanden, wie ihn Nietzsche bei Thaies angelegt findet, der das Reich der Vielheit zu einer bloßen Entfaltung oder Verkleidung der einen, allein vorhandenen, Qualität (des Wassers) herabsetzt, sondern im Sinne des Wechsels.40 Nietzsche spricht von einem allgemeinen Werden und Ν ich tverharren,^ das mit dem Entstehen den Untergang einschließt, das Vergehen als eigentlichen Anstoß zum philosophischen thauma^ein·, wie es der Satz des Anaximander zuerst tiefsinnig ausgedeutet hat: „Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zu Grunde gehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeiten gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit" (Β 1). Alles, was einmal geworden ist, so legt Nietzsche diese früheste philosophische Deutung des Werdens aus, „vergeht auch wieder, ob wir nun dabei an das Menschenleben oder an das Wasser oder an Warm und Kalt denken: überall, wo bestimmte Eigenschaften wahrzunehmen sind, dürfen wir auf den Untergang dieser Eigenschaften, nach einem ungeheuren Erfahrungs-Beweis, prophezeien. Nie kann ein Wesen, das bestimmte Eigenschaften besitzt und aus ihnen besteht, Ursprung und Prinzip der Dinge sein. Das wahrhaft Seiende, Schloß Anaximander, kann keine bestimmten Eigenschaften besitzen, sonst würde es, wie alle andern Dinge, entstanden sein und zu Grunde gehen müssen". 4 2 Es ist über das Werden erhaben und verbirgt eben dadurch,
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Die vorplatonischen Philosophen, 138 (Referat des Pherecydos von Syros). Die vorplatonischen Philosophen, 131. Vgl. K S A 7, 14 [28]; [29]. K S A 1, 821 K S A 1, 828 f. Vgl. Die vorplatonischen Philosophen, 139. K S A 1, 819
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daß es der bestimmten, zum Untergang führenden Qualitäten enthoben bleibt, die Ewigkeit und den ungehemmten Verlauf des Werdens. Mit dem Sprung ins „Unbestimmte", der Trennung zwischen einer Welt, die nur „wird", und einer, die in Wahrheit „ist", ohne erkannt werden zu können, öffnet sich der Weg zur Ontologie: zu einer „moralischen", wie wir sie mit Nietzsche nennen könnten, 43 da sie die Entstehung des Einzelnen als schuldhafte Trennung vom Ganzen und das Vergehen als Abbüßung des Daseins deutet. Die moralische Ontologie, im Schatten des Mythos vom agonistischen Frevel des Menschen gegen das Göttliche bleibend, vermag nicht die „volle Differenz" zwischen Werden und Sein zu bestimmen. Sie verzeichnet die Fülle der Erscheinungen des Einen, deren Bestimmung sich im Schritt über Anaximander hinaus vollzieht. Er beginnt mit einem Sprung, der dem griechischen Denken trotz seiner Herkunft aus der Dichtung nicht leichtfallt. Nietzsche zeigt es an Heraklit und Parmenides, die erst zu gehen suchten, so weit sie konnten, und sich den Sprung für jene Stelle vorbehielten, „wo der Fuß nicht mehr Halt findet, und man springen muß, um nicht zu fallen". 44 Beide schauen dieselbe Welt an, ohne sie mit Anaximander als Ort des Frevels und der Buße für die Ungerechtigkeit des Werdens zu verurteilen. Während Heraklit darin gerade das höchste Recht, die wunderbare Ordnung, Regelmäßigkeit und Sicherheit des Wechsels am Grunde des Werdens gewahrt, tut Parmenides einen davon ganz verschiedenen Blick. Nach seinen Untersuchungen zu den Diadochen der Philosophen hält es Nietzsche für glaubhaft, daß der junge Parmenides bei Anaximander „gehört" hätte. 45 Und er versucht dann nachzuweisen, daß auch sachlich ein Zusammenhang besteht. Parmenides, so behauptet Nietzsche in den Vorlesungen über die vorplatonischen Philosophen, stellt im II. Teil seines Lehrgedichts dar, „welche Weltansicht sich auf dem Standpunkt der gewöhnlichen Weltansicht ergibt: und hier geht er von dem durch Anaximander aufgestellten Dualismus von Warm und Kalt aus, den er auch als Gegensatz von Dünn und Dicht, Licht und Finsternis, Erde und Feuer bezeichnet" (19, 156). Im Parmenides-Kapitel der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen wird diese These differenziert und mit dem Zusatz versehen, der zweite Teil des Gedichts entspreche einer ersten, jugendlichen Periode seines Denkens in der Nähe von Anaximander. So bestechend die Unterscheidung eines „jungen" vom „alten" Parmenides ist, so wenig hält sie der überlieferten Form des Gedichts Stand. Es 43 44 45
Vgl. H. Schmid, Nietzsches Gedanke der tragischen Erkenntnis, Würzburg 1984, 36. KS A 1, 837 Die vorplatonischen Philosophen, 156; Die Diadochen der Philosophen, 313 f.
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ist als Einheit komponiert, wie das Proömium am Ende der Auffahrt zum Gipfel der Weisheit anzeigt: Der Wagenlenker, als „Jüngling" (κούρος) angeredet, soll „alles" erfahren, das unerschütterliche Herz der wirklich verläßlichen Wahrheit und die Meinungen der Sterblichen, denen keine wahre Verläßlichkeit innewohnt, die aber vom naturhaft Seienden her verstehen zu lernen sind, so daß auch das Gemeinte gültig sein muß, insofern es alles durchdringt: διά τταντός -πάντα ττερώυτα (Β 29, 32). Das ist die milesische Formel der Physis, die im Titel des Lehrgedichts gestanden haben soll, aber nur im II. Teil wirklich auftritt. So ist Nietzsche gegenüber der zeitgenössischen Philologie und Philosophiegeschichtsschreibung (E. Zeller) im Recht, wenn er Parmenides nicht an die Seite der Pythagoreer, sondern von Anaximander rückt. 46 Und seine Auffassung, daß Parmenides die Anaximandrischen Gegensätze vervielfältigt und nach bestimmten Kriterien ordnet, erscheint uns nicht nur einleuchtend, sondern auch gut begründet: „Er verglich die Qualitäten mit einander und glaubte zu finden, daß sie nicht alle gleichartig seien, sondern in zwei Rubriken eingeordnet werden müßten. Verglich er zum Beispiel Licht und Dunkel, so war die zweite Qualität ersichtlich nur die Negation der ersten: und so unterschied er positive und negative Qualitäten, ernsthaft bemüht, jenen Grundgegensatz im ganzen Reiche der Natur wiederzufmden und zu verzeichnen." 47 „Im Reich des Intellekts", heißt es bei Nietzsche in gelegentlicher Erinnerung an Pythagoras und Demokrit, „ist alles Qualitative nur ein Quantitatives. Zu den Qualitäten führt uns der Begriff, das Wort." 48 Davon zeugt die Parmenideische Lehre vom Schein, die auf der Namengebung des Gegensatzes von Licht und Dunkel beruht. Er verweist auf den alltäglichen Wechsel zwischen Tag und Nacht, wie ihn das Epos im Bild getrennter Bahnen beschreibt. Das Gewicht der „Namen" verdeutlicht, daß die Qualitäten noch nicht etwas an sinnlich wahrgenommenen Dingen oder Körpern, sondern gedeutete Erscheinungen der Sinne sind, ein Wahrnehmen im ursprünglichen Sinne der Entgegennahme des „Wahren": seiner Gleichsetzung mit dem, was sich zeigt. Das Proömium setzt voraus, daß die Heliaden zuvor das Haus der Nacht zum Licht hin verlassen. Die Wagenfahrt des Jünglings beginnt vorm Tor, an dem sich Licht und Dunkel trennen (Β 1, 10 — 15). Die Lehre (B 9) verbietet die Trennung: Alles ist voll von Licht und unsichtbarer Nacht zusammen, die beide gleich sind (ττδν πλέον εστίν όμοΟ φάεος και νυκτός άφάντου ί σ ω γ άμφοτέρων). 49
46 47 48 49
Brief an Ε. Rohde vom 18. 6. 1872, Sämtl. Briefe Bd. 4, S. 10. KS A 1, 837 KS A 7, 19 [81] Parmenides, Β 9.
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Darin eine „Schwierigkeit" zu sehen,50 wird Parmenides so wenig gerecht wie die Annahme, sie wäre dann zu beheben, wenn die Gegensätze mit dem Anaximandrischen Gegensatzpaar des Warmen und Kalten benannt würden. Da dies nur ein doxographischer Bericht ist, der auf Aristoteles zurückgeht, 51 müssen wir die Lösung anderswo suchen. Wir finden sie im Aufbau des Gedichts, das im Proömium poetisch spricht: in der polaren Ausdrucksweise des Epos, während es im I. Teil den Schritt zum logischen Sprechen vollzieht, das dann im II. Teil die poetische Rede von „Gegensätzen" umgestaltet und in der Umgestaltung die „volle Differenz" zwischen Sein und Werden zu bestimmen unternimmt. Die Gegensatzlehre ist eine Folge der Lehre vom Sein, dieser „großen Affirmation", die nach Hegel den „Hauptgedanken" des Parmenides darstellt. Hegel bezieht sich auf Fr. Β 8, 34 — 36: „Das Denken und das um weswillen der Gedanke ist, ist dasselbe. Denn nicht ohne das Seiende, in welchem es sich ausspricht (manifestiert, èv φ ττεφστισμένον), wirst du das Denken finden; denn es ist nichts und wird nichts sein außer dem Seienden." 52 Im Unterschied zu Hegel, der es vom Denken „produziert" sein läßt, versteht die neuere Forschung den hier festgeschriebenen Grundsatz des logischen Sprechens so, daß es für Parmenides ein Sein gibt, von dem man nicht sagen kann, es werde von menschlich produzierten Gedanken „ausgedrückt" und „bedeutet", sondern daß es das Denken selbst „ausdrückt, ausspricht, sagt". 53 Die Verbindung des Denkens mit dem Sein geht darauf zurück, daß es sich ohne Bejahung durch den Logos nicht „zeigen" kann. Ihr wesentlicher Bestandteil bildet das Verbum „Sein", die allgemeine und universelle Form jeder möglichen Prädikation. Indem er den Weg des logischen Sprechens einschlägt, wird Parmenides zum Entdecker des „Ja" und „Nein", des Positiven und Negativen als universaler Unterscheidungen, die geeignet sind, in der Welt des Scheins das Licht von der Finsternis zu unterscheiden. Die Gegensätze „gibt" es nur auf Grund der Verbindung des Denkens mit dem sich darin affirmierenden Sein: weil nach dem II. Teil des Parmenideischen Lehrgedichts zu denken ist, wie das Licht sich selbst gleicht, wenn es vom Dunkel getrennt wird (B 8, 55). Und auch das Dunkel muß sich selbst gleichen, es kann keinesfalls mit dem „Nichts" identisch sein. Was Nietzsche anerkennt, wenn er notiert: „Es ist wahr, das Nichtsein ist nicht zu denken ... Denken und Sein muß dasselbe sein: denn sonst würde es das Sein nicht erkennen." 54 50 51 52 53 54
So K. Riemer, Parmenides, Frankfurt/M. 19702, 70. Met. I 5, 986 b 27 f. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 312. Vgl. G. Calogero, Studien iiber den Eleatismus, Darmstadt 1970, 6 ff. KSA 7, 23 [12]
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Erst an dieser Stelle erhebt sich für Nietzsche die „Schwierigkeit" des Parmenides-Verständnisses. Sie betrifft die Interpretation der Lehre vom Sein, die mit dreierlei nicht zu „verwechseln" sei: 1. mit der Frage: „können wir einen Inhalt im Denken finden, der im Sein ist" — dem idealistischen Vorurteil der Metaphysik; 2. mit dem Verhältnis der primären und sekundären Eigenschaften — dem atomistischen Vorurteil der Physik; 3. mit dem Problem der Konstitution der Materie — dem materialistischen Reduktionismus in der neueren Philosophie und dessen Projektion auf die Antike. 5 5 Nietzsche hat das zweite und dritte Vorurteil durchschaut, ohne dem ersten zu entgehen. Er verwechselt die ursprünglich logische mit der „erkenntnistheoretischen" Fragestellung, eine Verwechslung, die das Geschick der neuzeitlichen Metaphysik von Descartes bis hin zu Hegel besiegelt, dem zuletzt auch Nietzsche erliegt.
III Die Verwunderung über das alltägliche Phänomen des Werdens, der Affekt, womit die Philosophie der Griechen anfängt, gilt im Grunde dem Vergeben. Das war Anaximanders Problem: die Rätselhaftigkeit des Schwindens von allem, was erscheint. Und darin besteht für Nietzsche anfänglich auch das Parmenideische Seinsproblem. Er expliziert es mit den Denkmitteln der moralischen Ontologie: „Parmenides schaut, wie Heraklit, das allgemeine Werden und Nichtverharren an und kann sich ein Vergehen nur so denken, daß das Nichtseiende an ihm schuld sein muß. Denn wie sollte das Seiende die Schuld des Vergehens tragen! Ebenso aber muß das Entstehen durch Mithilfe des Nichtseienden zu Stande kommen: denn das Seiende ist immer da und könnte, von sich aus, nicht erst entstehen und kein Entstehen erklären." 56 Zur Erklärung ist das Seiende wie das Nichtseiende nötig: Ihr Zusammenwirken ergibt das Werden. Wie aber kommen sie zueinander? Hier flüchtet Parmenides nach Nietzsches Auffassung zum mythischen Symbol der göttlichen Dämonin, das den Heraklitischen Gedanken des Potemos als Vater aller Dinge mit der das Gegensätzliche aneinanderfügenden Harmonía verbindet. Ihr Name ist Aphrodite, die „das Seiende mit dem Nichtseienden zusammenkuppelt. Eine Begierde führt die sich widerstreitenden und sich hassenden Elemente zusammen: das Resultat ist ein Werden. Wenn die Begierde gesättigt ist, treibt der 55
56
K S A 7, 23 [10] —[13]. Das 4. Vorurteil: „Keine buddhistische Traumphilosophie", dürfen wir hier übergehen. Es trägt jedoch die Auslegung des Scheins als einer „Täuschung" ( K S A 1, 851). K S A 1, 838 f.
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Haß und der innere Widerstreit das Seiende und das Nichtseiende wieder auseinander — und dann sagt der Mensch, ,das Ding vergeht'". 57 Dieses Sagen ist „allzumenschlich", um wahr zu sein. Es variiert die poetische Sprache des Proömium, die im II. Teil des Gedichts wiederkehrt, verwandelt durch das Verfahren des Namengebens und „Rubrizierens", das Nietzsche bei Parmenides wie bei Heraklit am Werke sieht. Daß der Wandel durch den Schritt vom Onoma zum Logos, d. h. die Entdeckung des logischen Sprechens im I. Teil des Gedichts, motiviert sein könnte, diese Möglichkeit zieht Nietzsche nicht in Betracht. Darin besteht die Schwäche seiner Parmenides-Interpretation, die den Ansatz der ästhetischen Metaphysik, den großen Gedanken der Einheit des Seins mit dem Schein, nicht durchhält. Das hat Gründe, die teils mit Nietzsches Zweifel an ihrer Haltbarkeit nach dem öffentlichen Eklat der Geburt der Tragödie, teils mit den Mängeln der philologischen Arbeitsweise zusammenhängen. Sie ist inkonsistent, von einer Position zur anderen schwankend; was sich für die Textexegese nachteilig auswirkt. So heißt es im Vorlesungsmanuskript über die Vorplatonischen Philosophen, das auf die Zeit der Hochschätzung des Typus „Parmenides" (1869 — 72) zurückgeht: „Erst die Kantische Philosophie hat uns für den Ernst der Eleaten das Auge erschlossen: während selbst die späteren griechischen Systeme (Aristoteles) die eleatischen Probleme zu flach aufgefaßt haben." 58 Leider hat dies auch Nietzsche in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen getan, indem er mit Aristoteles Parmenides' Lehre vom Sein auslegt und damit die eleatische Problematik nivelliert. Nach der Geburt der Tragödie gelingt der „ungeheuren Tapferkeit und Weisheit" Kants und Schopenhauers der „schwerste Sieg" über den im Wesen der Logik verborgenen Optimismus, der als solcher der Untergrund der ganzen abendländischen Wissenschaftskultur ist. Kant weist nach, daß die logischen Denkformen nicht geeignet sind, das wahre Wesen der Dinge zu erkennen, sondern daß sie zusammen mit den Formen der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) nur dazu dienen, die Erscheinungen, das Werk der Maja, zur einzigen und höchsten Realität: zum Thema der Erfahrungswissenschaften, zu erheben. Mit dieser Einsicht eröffnet sich die Möglichkeit einer anderen Kultur, die Nietzsche als „tragisch" bezeichnet. In ihr rückt an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel eine Weisheit, die sich, „ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesamtbilde der Welt zuwendet und in 57 58
KSA 1, 839. Vgl. Die votplatonischen Philosophen, 223. Die vorplatonischen Philosophen, 129. Vgl. H. Wingler, Aristotle and the Thought of and Aquinas, in: Studies in Nietzsches and the Classical Tradition, 45.
Nietzsche
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diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht". 59 Es ist der Gedanke der tragischen, die Welt von der Erfahrung des Leidens her verstehenden, Weisheit, der Nietzsche im Rückgang auf die „wunderbare Doppelnatur" der griechischen Tragödie und der ihr benachbarten Philosophie wiederentdeckt und neu zu begründen versucht. Versagt sich Parmenides diesem Gedanken? Bricht er vor Sokrates, in Nietzsches Geschichtskonzeption der Totengräber der tragischen Weltansicht und Wegbereiter der Wissenschaftskultur, dem logischen Optimismus Bahn? Wenn wir uns an Hand dieser Fragen noch einmal dem ParmenidesKapitel der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen zuwenden, so haben wir als erstes zu unterscheiden zwischen dem, was Nietzsche gemäß seiner ursprünglichen Konzeption der Weisheit als Begrenzerin des Wissens- und Erkenntnistriebs meint und dem, wie er es sagt. Denn er sagt es in Anlehnung an Aristoteles, und zwar bereits in seiner Interpretation des II. Teils des Parmenideischen Lehrgedichts. Laut Aristoteles war Parmenides nach der rein logischen Begründung dafür, daß das Nichts weder sein noch gedacht werden könne und folglich außer dem einen Seienden nichts sei, im Hinblick auf die Sinneswahrnehmung gezwungen, eine Zweiheit von Prinzipien anzunehmen: die Anaximandrischen Gegensätze des Warmen und Kalten, die er in der Annäherung an den Sinnenschein Feuer ( = Sonne) und Erde genannt habe. Und ihnen ordnete er dann seine Gegensätze: das Seiende und das Nichtseiende, zu. 60 Wir haben gesehen, wie Nietzsche gleichwohl in der Interpretation des II. Teils des Parmenideischen Gedichts der Einsicht in die Wahrheit des Scheins nahekommt; daß man, um Nietzsches Worte zu zitieren, das Seiende „nicht außerhalb der Welt und gleichsam über unserem Horizonte" suchen solle, sondern „vor uns und überall, in jedem Werden, ist etwas Seiendes enthalten und in Tätigkeit". 61 Wir haben nun zu fragen, warum er sich dann der Aufgabe einer angemessenen Interpretation der Lehre vom Sein versagt. Der Grund liegt in der Ausweitung der Parmenideischen Idee der Namengebung von der Gegensatz- auf die Seinslehre. Nietzsche hält es für ausgemacht, daß die Rede vom „Seienden" ebenso konventionell sei wie die von Licht und Dunkel; eine Behauptung, die der etwa gleichzeitig verfaßte Aufsatz über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne nominalistisch radikalisiert: „Wahr sein heißt nur nicht abweichen vom usuellen Sinn der Dinge. Das Wahre ist das Seiende, im Gegensatz zum 59 60 61
GT, KS A 1, 118. Vgl. auch UB IV, KS A 1, 446. Aristoteles, Met. I 5, 986 b 18. KSA 1, 838.
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Nichtwirklichen. Die erste Konvention ist die über das was als ,seiend' gelten soll." 62 Konventionell ist das Gebräuchliche: was menschlicher Festsetzung bedarf — eine Folgerung, die Parmenides gerade dadurch zu vermeiden trachtete, daß er die Wahrheit des Seins als zu hörendes Wort (μύθος) einer Göttin verkünden läßt: „Wohlan, ich werde also vortragen, du aber sollst das Wort, nachdem du es gehört hast, weitergeben, welche Wege der Untersuchung einzig denkbar sind: der erste, daß es ist und daß nicht ist, daß es nicht ist, ist die Bahn der Überzeugung, denn sie richtet sich nach der Wahrheit, der zweite, daß es nicht ist, und daß es sich gehört, daß es nicht ist". Sie trifft die Unterscheidung zugunsten des Seins, das als Vorgabe des Mythos im Logos des sterblichen Menschen denkend zu verwahren ist. Die Entscheidung gegen den zweiten Weg („ein völlig unerfahrbarer Pfad") fallt nach dem Grundsatz der Identität des Denkens mit dem Sein: „Denn es ist ausgeschlossen, daß du etwas erkennst, was nicht ist, oder etwas darüber aussagst" (B 6 — 8) — „Denken und Sein sind nämlich dasselbe" (B 3). Davon ist bei Nietzsche so wenig die Rede wie von einer Vorgabe des Mythos für den Logos, obwohl doch gerade dieser Rahmen des Parmenideischen Lehrgedichts seine These von der Grenze des wissenschaftlichen Erkenntnistriebs hätte stützen können. Statt der Parmenideischen Bahn der Überzeugung nachzufragen, dem Namen von Peitho, einer Trochter der Prometheia,63 der auf die Begrenzung des Weges menschlicher Voraussicht verweist, folgt Nietzsche der Heerstraße der Logik, indem er die von Aristoteles formulierten Grundsätze des logischen Sprechens, den Identitätsatz (Α = A) und den Satz vom Widerspruch (A = nicht A), auf die Aristotelische Gleichsetzung der gegensätzlichen Eigenschaften von Licht und Dunkel mit dem Seienden bzw. Nichtseienden bezieht. So erzählt er schließlich seinen eigenen Mythos vom „Einfall" des Parmenides: wie dieser „plötzlich" bei dem Begriff der negativen Eigenschaft, des Nichtseienden, hängen bleibt und sich fragt, ob denn etwas, was nicht ist, sein kann; eine Frage, von der Nietzsche annimmt, sie werde bei Parmenides durch die „einzige Form der Erkenntnis" entschieden, der wir „sofort ein unbedingtes Vertrauen schenken". Und das ist die Tautologie des Satzes: A = A, die ihm „unerbittlich" zurief: Was nicht ist, ist nicht! Was ist, ist!M Mit diesem Ruf läßt ihn Nietzsche dann in das „kalte Bad seiner furchtbaren Abstraktionen" steigen — Parmenideisch gesprochen: in die Bewährung der Wahrheit des „Ist-Sagens" durch die Erkenntnis der Semata, d. h. der Bezeugungen der
62 63 64
K S A 7, 19 [229]; vgl. K S A 1, 875 ff. Alkman, 44 D . K S A 1, 841.
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Wahrheit des Seins: „Das was wahrhaft ist, muß in ewiger Gegenwart sein, von ihm kann nicht gesagt werden ,es war', ,es wird sein'. Das Seiende kann nicht geworden sein: denn woraus hätte es werden können? Aus dem Nichtseienden? Aber das ist nichts und kann nichts hervorbringen. Aus dem Seienden? Das würde nichts anderes als sich selbst erzeugen. Ebenso steht es mit dem Vergehen; es ist ebenso unmöglich wie das Werden, wie jede Veränderung, wie jeder Zuwachs, wie jede Abnahme. Überhaupt gilt der Satz: Alles, von dem gesagt werden kann, ,es ist gewesen' oder ,es wird sein' ist nicht, vom Seienden aber kann nie gesagt werden ,es ist nicht'". 6 5 Semata (nach Nietzsche ein phönizisches Wort für „Name, Denkmal", 66 das mit der Einführung der Schrift aufkommt) sind ursprünglich Wegweiser: Zeichen entlang des Weges zum Sein, der zu Fuß zu gehen ist, Schritt für Schritt. Als Zeichen weist ein jedes von sich weg auf andere Zeichen: die Unteilbarkeit, die Unbeweglichkeit, die Einzigkeit, die Vollendung, die Kreisförmigkeit, Kontinuität und Ruhe. Und diese Zeichen zusammen verweisen auf das Ziel, das sich im Beschreiten dieses Weges auftut: die Erkenntnis der Gleich-Zeitigkeit des Seienden im Ganzen: daß es „jetzt zugleich ganz ist" (νυν εστίν όμοΰ πάν). 67 Dieses Zeichen, das, recht verstanden, die Zeit dem Sein gleicht, steht bei Parmenides am Ende des Weges; es faßt den ersten Durchgang der Bewahrheitung des Mythos vom Sein im Logos zusammen. Nietzsche setzt es, bezeichnenderweise, an den Anfang. Und wenn wir bedenken, welches Gewicht er dem Sema der Kreisförmigkeit beimißt (dem „Ball des ewigen Seins"), worin er, im Unterschied zu Hegels Verwerfung der Kugelgestalt als „inkonsequentem Bild" des Seinsgedankens (das ihn verräumlicht, weil „ein Anderes darüber sein muß"), den „Kern der Natur", das „unnahbare Eine und Ewige" und zugleich einen „Abgrund des wahren Seins" symbolisiert findet,68 hätte Nietzsche von hier aus leicht einen Schritt zur Bestimmung der Wahrheit des Scheins im II. Teil des Parmenideischen Gedichts weitergehen können. Daß er ihn nicht wagt, sondern wieder in die Gleise der herkömmlichen Interpretation einbiegt, wonach Parmenides den Schein als „bloßen Schein und Wahn" bei Seite wirft, 69 erklärt sich eben daraus, daß Nietzsche mit der Nivellierung des Parmenideischen Problems durch Aristoteles vor dem „Ernst" der eleatischen Wahrheit des Seins das Auge schließt. Von der 65
K S A 1, 842 f.
64
Der Gottesdienst
67
Parmenides, Fr. Β 8, 5. Vgl. K S A 1, 843; 7, 7 [153] mit Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 313 f. K S A 1, 843 f.
68
69
der Griechen,
Philologica III, Bd. 19, 20.
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Grundlegung der Aristotelischen Logik geleitet, mißversteht er sie als „Tautologie", die einzig zugängliche Form der Wahrheit, die lediglich „beweist", daß sie den Menschen „gleichgültig" sei. 70 Und da er nicht übersehen kann, wie wenig dies zu Parmenides' Pathos der Wahrheit paßt, ja, selbst mit Aristoteles' Begründung der Wahrheit der Axiome aus der Selbigkeit des Seienden als solchen nicht passen will, versteht er sein Gedicht als „Präludium" zum „Thema der Ontologie". 71 Das Thema ist Ergebnis einer Thesis, das Gesetzte, Aufgestellte, der Hauptsatz der Lehre, in der Musik die wiederkehrende Melodie. So sollten wir erwarten, daß Nietzsche hier die Hauptsache vorträgt, die Absicht und den eigentlichen Gehalt der Seinslehre. Dieser Aufgabe weicht die Interpretation aus. Sie kritisiert die Verwechslung der „logischen" mit der „ontologischen" Fragestellung, wie sie die Geschichte der Metaphysik von Aristoteles abwärts begleitet und sich auf dem Weg von Descartes zu Kant zur Aporie des „Beweises" der Vorgabe des Seins aus dem neuzeitlich verselbständigten „Begriff des Logischen steigert. Davon nimmt Nietzsche mit Kant Abstand. Die Erfahrung zeigte Parmenides „nirgends ein Sein, wie er es sich dachte, aber daraus, daß er es denken konnte, erschloß er, daß es existieren müsse". Es ist das Schlußverfahren der Aristotelischen Logik, daß auf der von Aristoteles' Metaphysik geteilten Voraussetzung beruht, daß wir ein Organ haben, das ins Wesen der Dinge reicht und unabhängig von aller möglichen Erfahrung ist. Die logische Wahrheit jenes Gegensatzes von „Sein" und „Nichtsein", so sagt es Nietzsche noch einmal mit Kant, „ist vollkommen leer, wenn nicht der zu Grunde liegende Gegenstand, wenn nicht die Anschauung gegeben werden kann, aus der dieser Gegenstand, durch Abstraktion, abgeleitet ist, sie ist, ohne das Zurückgehen auf die Anschauung, nur ein Spiel mit Vorstellungen, durch das in der Tat gar nichts erkannt wird". 7 2 Die Frage, ob wir einen Inhalt im Denken finden, der im Sein „ist", diese traditionell-ontologische Grundfrage läßt sich nur mit Kant verneinen. Sie darf aber auch nicht, wie Nietzsche in den Vorarbeiten zum Parmenides-Kapitel notiert, mit der Parmenideischen Seinslehre verwechselt werden. 73 Unter jenen Notizen befindet sich ein Argument, das aus dem Kontext der Kantischen Fragestellung ganz herausfällt: „Die Begriffe können nur aus der Anschauung stammen. ,Sein' ist die Übertragung des Atems und Lebens auf alle Dinge: Beilegung des menschlichen Lebensgefühls. Die
70 71 72 73
KSA KSA KSA KSA
7, 1, 1, 7,
19 [258] 845. 845 f. 23 [12]
Präludium zur Ontologie?
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einzige Frage ist: ob der Ursprung aller Anschauungen uns auf ein Sein führt." Auf diese Frage antwortet Nietzsche ebenso klar mit „Nein". Die Formen des Denkens wie der Anschauung haben nicht das „Ding an sich" und dessen Affizierbarkeit durch das „Gemüt" zur Voraussetzung. Aber sie setzen voraus, daß wir an das Sein glauben. Und wir glauben an das Sein, weil wir an uns glauben, d. h. unser „Leben" annehmen. Wäre es eine Denkform im Sinne der Aristotelisch-Kantischen Kategorie, wäre dieser Glaube nicht nötig. Wir könnten dann im Einklang mit dem Parmenideischen Weg des Seins sagen: „Man denkt das nicht, was nicht ist." 74 „Das ,Sein' — wir haben keine andere Vorstellung davon als leben. — Wie kann also etwas Todtes ,sein'?" 75 Aus dem ersten Satz hat der späte Nietzsche gefolgert, daß wir „am anderen Ende" sind und in der Umkehr des Parmenideischen Weges sagen müssen: „Was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein." Aber vielleicht hätte Nietzsche aus dem Zusatz der hier gestellten Frage noch eine andere Folgerung ziehen können als diejenige ist, die er aus der abgeschwächten Fassung des Arguments im Parmenides-Kapitel der Philosophie im tragischen Zeitalter zieht: daß der Begriff des Seins nicht den ärmlichsten empirischen Ursprung bereits in der Etymologie des Wortes, sondern den reichsten in seinem Gebrauch aufzeigt, die Ursprünglichkeit des Lebens in der Zeit, wie es das Sema der Gleich-Zeitigkeit des Seienden im Ganzen (daß es „jetzt zugleich ganz ist") offenbart. Hinter dem Sema verbirgt sich die anfanglich griechische Erfahrung der „zeitlichen, nicht anfangslosen Zeit", die bei Parmenides mit dem Kreissymbol zusammenhängt. Und im Ausgang von diesem Zusammenhang, dem Nietzsche selbst später in den beiden Lehrstücken von der ewigen Wiederkehr der Gleichen und dem Willen zur Macht entfaltet („Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen — das ist der höchste Wille zur Macht"), wäre ihm vielleicht sogar der Sprung zur Bestimmung des Seins im Schein nachvollziehbar gewesen, den Parmenides im II. Teil des Lehrgedichts gewagt hat. Das Werden und das Sein: der Punkt, an dem sie sich berühren, ist das rätselhafte Widerfahrnis der Sterblichkeit, das dem Menschen vorbehaltene Wissen um den „zweiten" Chronos, die „zeitliche, nicht anfangslose Zeit". Sie beginnt mit der Verbindung des Eros und der Chton, dem epischen Sinnbild der Erde und ihrer Bewohner, die unter der dämonischen Macht des Eros stehen. Davon muß der II. Teil des Parmenideischen Lehrgedichts gehandelt haben, in dem die Göttin inmitten des Werdens, als die große Dämonin des Alls, erscheint. Hegel versteht darunter das Symbol der 74 75
K S A 7, 23 [12] K S A 12, 2 [172]
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Natur, 76 Nietzsche der Aphrodite, der Göttin der zeugenden Liebe. Beiden entgeht ein Zug, für den uns das Denken von Heidegger empfänglich macht. Wie Simplizius im Kontext des von ihm überlieferten Gedichtfragments berichtet, schickt die Parmenideische Daimon „die Seelen einmal aus dem Sichtbaren ins Unsichtbare (άειδες) das andre Mal wieder umgekehrt aus dem Unsichtbaren ins Sichtbare" (εμφανές).77 Das bestätigt Nietzsches Konnotation des Symbols mit Polemos und Harmonía, der Pythagoreischen Göttin, die wir auch von Empedokles her als Verbinderin des Gegensätzlichen kennen. Hier sind es die Gegensätze von Geburt und Tod, wobei der wechselnde Übergang der Seelen in die Hadeswelt (τό άειδές) und der Eingang in die Erscheinungswelt eine „Vorstellung von Dauer über den Tod hinaus in sich einschließt". 78 Und damit hängt die Parmenideische Wahrnehmungslehre zusammen; die dem Aristoteles-Schüler Theophrast so befremdliche Nachricht, daß Parmenides „auch das Entgegengesetzte für sich allein Wahrnehmung (αΐσθης) stattfinden läßt, in den Versen, wo er sagt, daß der Leichnam zwar Licht, Wärme und Klang wegen des Schwindens des Feuers nicht wahrnehme, wohl aber eine Wahrnehmung des Entgegengesetzten habe, wie des Kalten und des Scheidens; und daß überhaupt alles Seiende eine Art von Erkenntnis habe". 79 Das Tote ist ebenso „seiend" wie das Lebendige. Es gibt keine „Leere", kein Verschwinden, sondern die ganze Welt ist Erscheinung durch und durch. Daraus ergibt sich der Wechsel als die „volle Differenz" zwischen Werden und Sein. Er bestimmt sich aus der Kombination der Lehre vom Sein mit der Gegensatzlehre, die darauf hinausläuft, daß die Gegensätze eins sind: Alles ist erfüllt von Licht und unsichtbarer Nacht. Das Nichtsein kann nicht gedacht werden. Menschlich, und das besagt poetisch gesprochen: Es gibt kein Sterben. In der Sprechweise der Parmenideischen Lehre vom Sein heißt das am Abschluß eines langen Beweisgangs, der gleichwohl kein „Schluß" ist: „So ist Entstehen ausgelöscht und verschollen Vergehen" (B 8, 21). Das Problem des Parmenides war in der Tat dasjenige des Werdens, so wie es Nietzsche sieht: nicht nur, wie Seiendes entstehen kann, sondern wie und ob es vergeht. Aus dieser Frage entspringt die ganze Ontologie, was Nietzsche nicht gesehen hat. Dennoch ist es das Problem, um das sich sein eigenes Denken in Spruch und Widerspruch bewegt. „Unsere ganze Welt ist die Asche unzähliger lebender Wesen: und
76 77 78 79
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, 315. Test, zu Fr. Β 13. Vgl. U. Hölscher, Anfängliches Fragen, 129, der diesen Kontext aufgedeckt hat. Fr. Β 16.
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wenn das Lebendige auch noch so wenig im Vergleich zum Ganzen ist, so ist alles schon einmal in Leben umgesetzt gewesen und so geht es fort." — Und: „Hüten wir uns zu sagen, daß Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Toten, und eine sehr seltene Art."
III. Aspekte nach-metaphysischen Denkens
GÜNTER ABEL
Wahrheit als Interpretation I. Interpretation der Wahrheit In der geistigen Tradition des Abendlandes nimmt die Wahrheitsfrage eine Spitzenstellung ein. Auf das Erreichen der Wahrheit sind hohe intellektuelle, moralische, metaphysische und religiöse Prämien gesetzt. Drei Basisvorstellungen lassen sich isolieren: (a) Wahrheit als Übereinstimmung des Denkens mit seinem Gegenstand, (b) Wahrheit als das Sich-Zeigen der reinen Natur der Sache und (c) Wahrheit als die Tätigkeit solchen Erschließens selbst. In allen drei Hinsichten wird zudem unterstellt, daß es nicht viele, sondern nur ,Die Eine Wahrheit' gibt. Die Kritik dieser Auffassungen, mithin des Kernstücks abendländischer Metaphysik, wird vor allem bei Nietzsche radikal. In dessen Denken geht es nicht mehr nur darum, an die Stelle der bisherigen eine andere Wahrheitsvorstellung zu setzen. Vielmehr wird die Architektur der Fragestellung selbst, der Sinn und Wert von Wahrheit, uminterpretiert. Nicht der einzelne Gehalt, sondern das zugrunde liegende Schema selbst erfährt eine Veränderung. Dies erfolgt nicht durch externe, sondern durch interne Kritik. Zu Ende gedacht, zerstört sich das überlieferte metaphysische Wahrheitsverständnis selbst. Wie ist das zu verstehen? Wird mit der Rede von der Wahrheit die Aufforderung zur Erkenntnis dessen, was ist, verbunden 1 , dann ist, um eben dieser Wahrheit willen, festzuhalten, daß es viele Wahrheiten gibt. Denn zum einen gibt es unterschiedliche Weisen des Erkennens (ζ. B. die alltägliche, die künstlerische, die wissenschaftliche, die religiöse). Und zum anderen kann es selbst innerhalb ein und derselben Weise und/oder bezogen auf ein und dieselben Sachverhalte unterschiedliche und konfligierende Resultate geben. Weder
1
Noch bei Hegel besteht die Hauptaufgabe der Philosophie im „wirkliche(n) Erkennen dessen, was in Wahrheit ist" (Phänomenologie des Geistes, hg. von J. Hoffmeister, Einleitung, 63; vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts, Ausg. Frankfurt a. M. 1970, Vorrede, 26). Dieses wurde in der platonischen Metaphysik als das wahrhaft Seiende (όντως öv) bestimmt. — In diesem ersten Abschnitt wird auf Materialien zurückgegriffen, die Vf. in: Im Zeichen der Wahrheit — Die Wahrheit im Zeichen, in: Radius, 32 (1987), S. 37 f. verwendet hat.
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die Erkenntnisweisen noch deren Resultate lassen sich auf eine allen gemeinsame Basis reduzieren, und sie sind strenggenommen nicht ineinander übersetzbar. Wenn es aber viele Wahrheiten (nicht: viele 7>zY-Wahrheiten) gibt, und wenn eine universale Hintergrundgrammatik (in der die einzelnen Wahrheiten sich immer schon bewegen und folglich ineinander übersetzbar sein müßten) nicht angebbar ist, dann gibt es nicht mehr ,Die Eine Wahrheit', mithin, nach Maßgabe des alten Wahrheitsverständnisses selbst, gar keine Wahrheit mehr. Darüber hinaus ist jede der drei Basisvorstellungen selbst-destruktiv. Zunächst (a) kann die Idee der Adäquation zwischen dem in Zeichen geschehenden Denken und einem zeichen-transzendenten Sachverhalt nicht expliziert werden. Dies scheitert bereits beim ersten Schritt. D e n n ohne die verwendeten Zeichen läßt sich das, womit da übereingestimmt werden soll, nicht einmal angeben. Und selbst dann noch führt die Konstatierung einer Ubereinstimmung in einen unendlichen Regreß: Nietzsche zufolge ist bereits die Forderung nach Übereinstimmung sinnwidrig, „unsinnig". 2 E s läßt sich nicht denken, daß es eine vor-fabrizierte Welt und einen vorgefertigten Sinn gibt, die einfach daliegen und auf ihre Repräsentation und Spiegelung in unserem Bewußtsein sowie in unseren Zeichen und Handlungen warten. D i e Auffassung der Wahrheit als Übereinstimmung von D e n k e n bzw. Vorstellung und Gegenstand sollte mithin nicht verfeinert, sondern verabschiedet werden. Sodann (b) ist die Idee des Sich-Zeigens der reinen Natur der Sache selbst doppelt problematisch. Erstens kann etwas nur dann ein Gegenstand für uns sein, wenn es unter den Bedingungen derjenigen Zeichenschemata der Empfindung, des Wahrnehmens, des Sprechens, Denkens und Handelns steht, mit denen wir ausgestattet sind und die wir verwenden. G e h t es uns also, unter dem Vorzeichen des Willens zur Wahrheit, um die von den zeichenbestimmten und subjektiven Bedingungen unabhängige ,reine Natur der Sache selbst', dann, so schon Hegels pointierte Auffassung, betrügen wir uns selbst und die anderen. 3 D e n n wir verlangen, daß wir von unseren eigenen subjektiven und individuellen Bedingungen absehen, und daß die anderen Individuen sich da nicht einmischen. Zweitens ist zu betonen, daß die Rede v o m Sich-Zeigen ihren Sinn nicht von einem Jenseits der Zeichen, sondern ganz aus der Diesseitigkeit unserer Praxis der Zeichenverwendung selbst gewinnt. Was sich im Gebrauch der Zeichen
2
3
Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe ( = KGW), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abteilung VIII, Nachlaßfragment 14 [122] Vgl. Phänomenologie, 300.
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an deren Form %eigt und nicht sagen4, ζ. B. in bezug auf eine Tanzbewegung oder ein Musikstück nicht in Begriffen aussagen und nicht unter diese subsumieren läßt, kann nicht als ein hintergründiger Seins-Sinn aufgefaßt werden, der den Sprung in die Erscheinung geschafft hat. Was sich da zeigt, und was wir dann auch ohne irgendeine weitere Erklärung verstehen, das ist die nicht noch einmal hintergehbare Form der mit unserer Lebenspraxis verbundenen Zeichen- und Symbolverwendung selbst. Im SichZeigen erfahren wir mithin nicht etwas über eine zeichen-transzendente Welt und deren hintergründiges Signifikat, sondern etwas über die Tiefenstruktur unserer mit anderen Personen geteilten Diesseitigkeit. Re-Mythisierung des Sich-Zeigens ist von daher nicht möglich. Gerade das SichZeigen blockiert den Weg in eine Metaphysik der Jenseitigkeit. Was sich %eigt, kann nicht Gegenstand metaphysischer Aussagen und, mit Wittgensteins Worten, „kann nicht gesagt werden". Schließlich (c) kann man dem alten Wahrheitsverständnis gerade in seiner Bestimmung als die Tätigkeit des Erschließens selbst zweifach in den Rücken fallen. Zum einen erweist sich, wie vor allem Nietzsche gesehen hat, der Wille, %ur Wahrheit zu kommen, bei näherem Hinsehen gerade nicht als ein Erschließen und Erfassen der die Wirklichkeit und den Sinn kennzeichnenden Merkmale des Wechsels, der Veränderung, der Vielheit und der Widersprüchlichkeit, in denen wir leben, und auf die wir uns faktisch auch mehr oder weniger gut verstehen. Der Wille zur Wahrheit zeigt sich vielmehr als die Strategie des Fest-Stellens, des „Fest-Machens", der „Umdeutung" dieser Merkmale „ins Seiende", der Imagination ,wahrer', wesentlicher',,unbedingter' und ,sich-gleich-bleibender' Welten. Wahrheit ist nicht an sich da. Sie wird in interpretatorischen Prozessen erst geschaffen. Sie ist Nietzsche zufolge der Name für einen „Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat". Sie ist ein „Wort" für den „Willen zur Macht". 5 Zum anderen hat der Wille zur Wahrheit, der die Perspektivität und Relativität eines jeden Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses als Täuschung brandmarkt und eliminieren möchte, nihilistische Konsequenzen. Denn wer die Perspektivität und mit dieser die Endlichkeit des Menschen aus dessen Wirklichkeitsbezug herausnehmen wollte, der hätte, falls dies gelänge, eben damit die Welt ihrer Gestalthaftigkeit, mithin ihrer Wirklichkeit, beraubt. Er hätte sie vernichtet. Damit aber wäre auch die Wahrheit,
4
Z u m Unterschied von Sagen und Zeigen vgl. Ludwig Wittgenstein, und Nelson G o o d m a n s T h e o r i e der Exemplifikation in Languages to a Theory of Symbols, Cambridge Mass. 4 1 9 8 1 , K a p . II.
5
K G W V I I I , 9 [91]
Tractatus, Nr. 4 . 1 2 ff., of Art. An Approach
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verstanden als die Tätigkeit des Erschließens selbst, etwas Nihilistisches. Und auch die Wahrheit, aufgefaßt als das Erschlossene, als Grund des Seienden und als das Wirklich-Seiende, wäre nichts. Um der Wahrheit willen die Relativität, das Scheinbare sowie die Endlichkeit und Perspektivität des Menschen zu negieren, führt nicht vor das reine und volle Sein der Dinge, sondern ins leere Nichts. Der Wille ¡ζur Wahrheit wird so als ein verkappter Wille %um Nichts sichtbar. Und umgekehrt bricht die ganze Unterscheidung zwischen einer ,wahren' und einer ,scheinbaren' Welt in sich zusammen. Denn wenn sich in dem Gegensatzpaar ,wahr—scheinbar' die wahre Welt auflöst, dann verliert auch die Rede von der scheinbaren ihren Sinn. 6 II. Wahrheit als
Interpretation
(1) Die Schwierigkeiten, in die die metaphysische Wahrheitsauffassung aufgrund ihrer eigenen und selbst-destruktiv hoch angesetzten Ansprüche geraten ist, können nicht durch bloße Modifikationen des Begriffs überwunden werden. Erfordert ist eine Uminterpretation des in der alten Auffassung vorausgesetzten Schemas selbst. Wahrheit ist jetzt nicht mehr etwas, das unabhängig von den Bedingungen seiner Interpretation immer schon vorhanden ist und dann durch Interpretationen ans Licht gebracht wird oder nicht. Sie kann vielmehr als Name für ein Hervorbringen in Interpretations-Prozessen angesehen werden, mit denen man nicht zu einem definitiven Abschluß kommt. Dann aber ist eine Veränderung der gesamten Optik geboten. Interpretation ist nicht von Wahrheit, sondern Wahrheit von Interpretation abhängig. Und die Antwort auf die alte, am metaphysischen Fest-Stellen interessierte Frage nach dem, ,was in Wahrheit ist', bestünde letztlich in dem Hinweis auf das nicht mehr essentialistisch aufzufassende Interpretations-Geschehen selbst. Auf diese Weise verliert die Wahrheitsçtah\cm&û\i ihre Zentralstellung zugunsten der Interpretationsproblematik. In solcher Rede wird ein bestimmter Interpretationsbegriff in Anspruch genommen, dem eine Reihe unterschiedlicher Leistungen abverlangt wird. So müssen auf seinem Boden und in interpretations-philosophischem Vokabular unter anderem die folgenden Aspekte verdeutlicht werden können: (a) daß und warum der metaphysische Wahrheitsbegriff scheitern mußte; (b) daß Wahrheit eine Spezies der Interpretation ist, nicht umgekehrt; (c) 6
Vgl. Göthen-Dämmerung, Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde. Vgl. dazu Vf., Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin—New York 1984, 3 2 4 - 3 4 1 .
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daß es vorrangig nicht mehr um Probleme der Wahrheit, sondern darum geht, daß die Wahrheit zum Problem geworden ist 7 ; (d) daß der „Wert" der Wahrheit in Frage steht, und es bloß ein „moralisches Vorurtheil" ist, zu behaupten, daß „Wahrheit mehr werth ist als Schein" 8 ; (e) daß die vormals von der Wahrheitsfrage besetzten Bezirke einem veränderten Verständnis zugänglich sind; (f) daß das Wahrheitsproblem in seiner engen, d. h. in seiner auf die diskursive Aussagenwahrheit bezogenen wahrheitstheoretischen Version reformuliert und einer interpretationsphilosophischen Behandlung zugeführt werden kann; (g) daß auch auf den weiten, jetzt jedoch nicht mehr essentialistischen Sinn der Frage nach dem, was wirklich, was, wie es heißt, ,in Wahrheit' geschieht, reagiert werden kann; und (h) daß die Depotenzierung der Wahrheit weder in die Beliebigkeit führt noch im Nihilismus endet. Die Wahrheitsproblematik in die Interpretationsproblematik aufzulösen, heißt mithin weder sie einfach negieren noch sie im Interpretationsbegriff schlicht versinken zu lassen. Denn schließlich machen wir die Unterscheidung zwischen ,wahr' und ,falsch' und verstehen sie offenkundig auch. Sollte sich dies als ein metaphysisches Relikt erweisen, so hätten wir eben auch dessen Auftreten noch aus dem (mithin umfassend zu denkenden) Interpretationsbegriff verständlich zu machen. Um Aufgabenstellungen der skizzierten Art begegnen zu können, habe ich an anderer Stelle das Grundwort .Interpretation' näher gekennzeichnet sowie drei Interpretations-/?/^«!?» und drei Interpretations-Dimensionen unterschieden und diese in sich jeweils mehrfach untergliedert. 9 Dies ist hier nicht im einzelnen zu wiederholen. Auf unsere Fragestellung bezogen sind lediglich die folgenden Aspekte zu nennen. Die Rede von Interpretation meint nicht nur das Interpretieren im Sinne hermeneutischer Auslegung und aneignender Deutung von etwas Vorgegebenem (ζ. B. einem Text oder einem Gemälde). In ihr wird zunächst der Charakter der ursprünglichen Konstruktbildung sowie der Vorrang des Hinein- vor jedwedem Heraus-Interpretieren betont. Interpretation rückt damit in ihrer basalen Form auf die kategorialisierende Ebene 7 8 9
Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse I, Aph. 1. Jenseits von Gut und Böse II, Aph. 34 Vf., Interpretationsphilosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 13 (1988), 79 — 86; Realismus, Pragmatismus, Interpretationismus, in: a.a.O., 51 — 67; Interpretations-Welten, in: Philosophisches Jahrbuch, 96 (1989), 1 — 19. Die dort entwickelten Auffassungen treffen sich mit den stärker methodologisch orientierten Überlegungen von Hans Lenk, Welterfassung als Interpretationskonstrukt, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 13 (1988), 69 — 78. — Daß der Interpretationsbegriff in Nietzsches Philosophie wichtig ist, hat Wolfgang Müller-Lauter betont, vgl. Nietzsches Lehre vom Willen %ur Macht, in: NietzscheStudien, 3 (1974), 4 1 - 6 0 . Vgl. auch Vf., Nietzsche, Kap. VI.
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Günter Abel
eines jeden Welt-, Fremd- und Selbst-Verständnisses/Verhältnisses. Sie hat ihren Sitz in den kategorialisierenden Funktionen selbst. Interpretatorischkonstruktbildend sind die Prozesse, in denen wir ein (kleingeschriebenes) etwas als ein bestimmtes (und dann großgeschriebenes) Etwas phänomenal diskriminieren, identifizieren und re-identifizieren, organisieren und klassifizieren und in bezug auf die so formierten Welten und Sinn-Gebilde dann Meinungen, Überzeugungen und sogar gerechtfertigte Für-wahrHaltungen, pragmatisches Wissen haben. Die Resultate dieser Prozesse können dann als „Interpretationskonstrukte" (Lenk) angesprochen werden. Vor solchem Hintergrund kann man heuristisch drei Ebenen der Interpretation unterscheiden. Die in den kategorialisierenden Funktionen unserer weit- und sinn-formierenden Schemata selbst sitzenden Interpretationen ¡ können von den vor allem auf Gewohnheit beruhenden Gleichförmigkeitsmustern der Interpretationen2 und diese wiederum von den im engeren Sinne aneignender Deutung aufzufassenden Interpretationen¿ (z. B. den Beschreibungen, Erklärungen, Begründungen) unterschieden werden. Quer durch diese drei Ebenen hindurch lassen sich drei Dimensionen des Interpretationsbegriffs unterscheiden: die (auf unser sprach- und grundbegriffliches System bezogene) Interpretations-_L