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German Pages 598 [600] Year 2000
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil
Band 77
Das schwierige neunzehnte Jahrhundert
Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998 Herausgegeben von Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr und Roger Paulin. Mit einem Vorwort von Wolfgang Frühwald
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000
Redaktion
des Bandes:
Georg
Jäger
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Das schwierige neunzehnte Jahrhundert / Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Hrsg. von Jürgen Barkhoff.... - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 77) ISBN 3-484-35077-6
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik G m b H , Kempten Einband: Siegfried Geiger, Ammerbuch
Danksagung
Dieser Band versammelt die Erträge einer Tagung, die vom 29. August bis zum 2. September 1998 aus Anlaß der Emeritierung von Eda Sagarra vom Chair of German (1776) am Trinity College Dublin stattgefunden hat. Zusätzlich enthält er einige weitere, dem Tagungsthema zuzuordnende Beiträge von Kolleginnen und Kollegen Eda Sagarras, die an der Konferenz selbst nicht teilnehmen konnten. »Das schwierige neunzehnte Jahrhundert« zum Gegenstand dieser Konferenz zu machen, geht auf einen Vorschlag der Jubilarin selbst zurück. Sie wollte den Wunsch ihrer Kolleginnen und Kollegen, ihren 65. Geburtstag und ihren Abschied von einem Lehrstuhl, den sie fast ein Vierteljahrhundert innehatte, mit einem wissenschaftlichen Kolloquium zu markieren, dazu nutzen, eine Standortbestimmung der germanistischen und kulturhistorischen Forschung zu ihrem Hauptarbeitsgebiet vorzunehmen. Schwierig ist kulturelle Erinnerung, wie sie die historisch-hermeneutischen Wissenschaften betreiben, immer - das ergibt sich schon aus dem unvermeidlichen und erwünschten Bezug auf die Problem- und Fragehorizonte ihrer jeweiligen Gegenwartssituation. In einer Zeit der postmodernen Infragestellung von Literatur und Geschichte wachsen dementsprechend die Schwierigkeiten mit einer Epoche, die - je nach Perspektive - als Jahrhundert der Freiheit, als Jahrhundert der Ideologien, als Jahrhundert der positivistischen Wissenschaften, als Jahrhundert des Historismus oder - in der Literatur - als Jahrhundert des Realismus charakterisiert worden ist. Diese Ausgangslage allein schien Grund genug, das »schwierige neunzehnte Jahrhundert« zum Thema zu machen. Die Breite der Themen und Perspektiven der hier vorgestellten Beiträge spricht, so meinen wir, für sich. Die Rubrizierungen des Bandes wollen andeuten, daß sich diese Vielfalt dabei durchaus zu für den heutigen Stand der Forschung charakteristischen Schwerpunkten gruppiert. Unsere Hoffnung ist, daß darüber hinaus aus diesem Band auch ein wenig der Geist der von Begegnung, Austausch und Herzlichkeit geprägten gemeinsamen Dubliner Herbsttage spricht. Als Organisatoren der Tagung und Herausgeber des Bandes möchten wir uns an dieser Stelle für die vielfältige Unterstützung bedanken, ohne die dieser Anlaß so nicht hätte stattfinden können. Für großzügige finanzielle Förderung danken wir vor allem dem Goethe-Institut Dublin und seinem Direktor Reinhard SchmidtSupprian und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft in Essen, ebenso aber auch dem Österreichischen Kulturinstitut und seinem Leiter Dr. Emil Brix, der Österreichischen Botschaft unter seiner Exzellenz Herrn Botschafter Dr. Michael Breisky, dem Londoner Büro des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und seinem Leiter Dr. Sebastian Fohrbeck sowie dem Academic Development Fund des Provost Dr. Thomas Mitchell der University of Dublin, Trinity College.
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Danksagung
Für entscheidende Hilfe bei der Organisation der Veranstaltung danken wir unseren Kolleginnen und Kollegen im Department of Germanic Studies, allen voran dem Head of Department, Dr. Timothy Jackson und unserer Sekretärin Natalie Wynn, dann aber auch unseren Doktoranden Rachel MagShamhrain, Daragh Downes und Gary O'Reilly, die uns bei der Durchführung der Tagung hilfreich zur Seite standen. Auch bei der Entstehung des Tagungsbandes sind wir von vielen Seiten unterstützt worden. Zu allererst haben wir hier zu danken dem Herausgeber der Reihe »Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur«, Prof. Dr. Alberto Martino und seinen Mitherausgebern, die ganz umstandslos die Aufnahme dieses Bandes in ihre Reihe vorgeschlagen und ermöglicht haben. Ebenso danken wir Frau Birgitta Zeller und Frau Susanne Mang vom Niemeyer Verlag für ihre jederzeit entgegenkommende und umsichtige Betreuung des Manuskripts. Unser Dank gilt den Doktorandinnen Nicola Creighton und Sin6ad Furlong für Unterstützung bei der Ermittlung von Quellen und ganz besonders Martine Maguire-Weltecke und auch Manfred Weltecke für ihre Hilfe bei der Formatierung des Manuskripts, ohne die wir manchesmal ratlos gewesen wären. Sehr herzlich danken wir auch Prof. Dr. Wolfgang Frühwald dafür, daß er in seinem Vorwort die wissenschaftliche Leistung Eda Sagarras gewürdigt und in den Kontext der Arbeiten zum »schwierigen neunzehnten Jahrhundert« gestellt hat. Vor allem aber gilt unser Dank Eda Sagarra selbst, die mit ihrem 65. Geburtstag den Anlaß für dieses Unternehmen bot. Ihre Fähigkeit, ja Leidenschaft, vielfältige wissenschaftliche und persönliche »connections« (so der treffende Titel der Festschrift zu ihrem 60. Geburtstag) zu knüpfen und zu pflegen, erlaubte es uns, unser Thema mit Hilfe so vieler Kolleginnen und Kollegen aus der muttersprachlichen und internationalen Germanistik in solcher Breite und Tiefe auszuloten. Ihnen, den Beiträgerinnen und Beiträgern dieses Bandes, ihrem Engagement und ihrer Kooperationsbereitschaft sei abschließend herzlich gedankt.
Dublin und Cambridge im März 2000
Die Herausgeber
Inhaltsverzeichnis
Danksagung Inhaltsverzeichnis Wolfgang Frühwald (München/Bonn) Vorwort. Eda Sagarra zum 65. Geburtstag
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Geschichtskonstruktionen
Martin Durreil (Manchester) Standard Language and the Creation of National Myths in Nineteenth-Century Germany
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Günter Häntzschel (München) Das literarische Helgoland. Eine Insel zwischen Utopie und Apologie
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Anita Bunyan (Cambridge) >Notwendige Genossenschaft Natur< in der deutschsprachigen Lyrik 1850-1890
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Ingrid Oesterle (Gießen) Peripherie und Zentrum - Kunst und Publizistik - Wahrnehmungsgrenzfall >große StadtPadd< weint und lacht zwar anders als wir [...]«. Ottilie von Goethe, Ferdinand Kühne und Die Rebellen von Irland
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David Blamires (Manchester) German Children's Books in English 1840-1860
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Roger Paulin (Cambridge) »In so vielseitiger Wechselwirkung«. Some Problems in Nineteenth-Century Anglo-German Literary Relations
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Verzeichnis der Veröffentlichungen von Eda Sagarra
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Wolfgang Frühwald
Vorwort Eda Sagarra zum 65. Geburtstag
Zusammen mit Peter Skrine hat Eda Sagarra 1997 eine Geschichte der deutschsprachigen Literatur veröffentlicht, die, mit entschiedener Periodisierung, ein halbes Jahrtausend aus dem Gesamtbestand der literarischen Überlieferung deutscher Sprache überblickt. Dargestellt wird unter dem Leitgedanken der kulturellen Nationbildung die Geschichte der deutschen Literatur von 1500 bis zur Gegenwart: A Companion to German Literature. From 1500 to the present.1 Diese Grenzziehung hat einen im Kreise der Literarhistoriker noch immer als ungewöhnlich empfundenen guten Grund. Dargestellt wird nämlich das Zeitalter der Drucküberlieferung von Literatur, die legendäre »Gutenberg-Galaxis«,2 die sich nach 500 Jahren, am Beginn des Zeitalters elektronischer Speicherung und Überlieferung, in ein neues Sternbild hineinzudrehen beginnt. An der Grenze, an der die elektronische Erosion der Drucküberlieferung kenntlich wird, beginnt die Aufmerksamkeit auf die Medialität des Wissens und auf die Konsequenzen der Transport- und Überlieferungsmedien für die menschliche Wahrnehmung (in allen Bereichen des Lebens) zu wachsen. Printing changed people's perceptions of society and of themselves in a way that is perhaps comparable to the information technology revolution of our own time. Within two generations of this invention, on the eve of Germany's Renaissance and Protestant Reformation, a qualitative change was already reshaping the ways in which people saw and understood the universe and its Maker. In the Middle Ages access to information had been determined by institutions, namely the Church and the universities. Printing now opened up not just a new technology but a whole new communications system which allowed access to a far wider range of cultural information. 3
Ähnlich argumentieren die Propheten des Informationszeitalters, die nicht nur die weitere rasche und benutzerfreundliche Entwicklung der Informationstechnologie voraussagen, sondern, wie zum Beispiel Nicholas Negroponte, durch Vernetzung ein neues Sozialgefühl und ein neues Sozialgefüge: »Die Datenautobahn ist mehr als nur eine Abkürzung zu allen Büchern der Library of Congress. Sie schafft ein vollkommen neues Sozialgefüge.« 4 Die Frühe Neuzeit, der Übergang von der 1
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Eda Sagarra, Peter Skrine: A Companion to German Literature. From 1500 to the present. Oxford: Blackwell 1997. Zum Terminus und zur Problematik vgl. Wolfgang Frühwald: Das Ende der GutenbergGalaxis. Über den Einfluß des Mediums auf den Inhalt wissenschaftlicher Publikationen. In: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 26 (1998), S. 305-318. Sagarra, Skrine: Companion to German Literature (Anm. 1), S. IX. Nicholas Negroponte: Total digital. Die Welt zwischen 0 und 1 oder Die Zukunft der Kommunikation. München: Bertelsmann 1995, S. 224. [Zuerst 1995 Amerik. u. d. T. Being Digital],
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Wolfgang Frühwald
Schrift- zur Druckkultur, von einer Schrift und mündliche Überlieferung mischenden zu einer lesenden Gesellschaft, und die Reformation genannten sozialen Folgen dieses Wandels, scheinen in der Tat ein Modell zu sein, an dem Entwicklungen an der Grenze vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten Jahrhundert überprüft und nachgestellt werden können. Auf die Medialität des literarischen Wissens also wird in diesem »Companion to German Literature« Wert gelegt, auf eine Strukturveränderung, die dann im neunzehnten Jahrhundert mit der Etablierung der meditativen Privatlektüre, von Jürgen Habermas als der Königsweg der bürgerlichen Individuation gekennzeichnet, ihren Höhepunkt erreichte. 5 Rationalisierung, Kodifizierung, Klassifizierung, Katalogisierung, Indexierung des Wissens sind - nach Elisabeth Eisenstein 6 - erst durch den Druck möglich geworden. Der Druck erst erfindet den Autor und mit ihm (im neunzehnten Jahrhundert) das Urheberrecht, den Begriff des geistigen Eigentums, des Raubdrucks, des Copyright. Durch die Erfindung des Buchdrucks wird der Autor freigesetzt, erhält er durch das - nach Michael Cahn - »im Chor seiner Auflage« 7 sprechende Buch jene Autorität, welche die Metternich'sehen Zensurbehörden im neunzehnten Jahrhundert und davor die geistlichen und weltlichen Zensurgerichte vergebens bekämpft haben. Seitdem die bürgerlichen Bildungswelten des neunzehnten Jahrhunderts gründlich zerstört sind, entdeckt alles Wissen, auch das literarisch erzeugte, sein Angewiesensein auf die Medien der Vermittlung, werden wir aufmerksam auf die hellsichtigen Prophetien, die schon am Ende des neunzehnten Jahrhunderts über das Verhältnis von Transportmittel und Wahrnehmung verkündet wurden. Eda Sagarra, die Sozialhistorikerin, die als eine der ersten in unserer Zunft von den Möglichkeiten des Computers fasziniert war und davon Gebrauch machte, hat so bereits in ihrem Buch über Theodor Fontanes Alters-Roman Der Stechlin (1986) gesehen, daß der alte Dubslav den Wechsel der Medien (hier: der Fortbewegung) als Grund für den Wandel unserer Wahrnehmung erkannt hat. »Ich weiß nicht«, sagt Dubslav zu Engelke, »seit wir die Eisenbahn haben, laufen die Pferde schlechter. Oder es kommt einem auch bloß so vor.« Und Eda Sagarra fügt hinzu: »Durch diesen Nachsatz wird auf ein Gefühl angespielt, das einige hellsichtige Menschen im späten neunzehnten Jahrhundert besaßen und das zu einer zentralen Erfahrung der Menschen in unserem Jahrhundert wurde, nämlich daß das Auftauchen neuer Medien unsere Wahrnehmung in ihrer Struktur verändert.« 8 Jahrhundertwenden sind offenkundig anfällig für solche Erfahrungen. Die zunehmende Beschleunigung aller Erfahrungen gilt seit der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert als das Leitphänomen der Moderne, die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts waren davon zuerst spürbar betroffen und haben es 5
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Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 5 1971, bes. S. 60-69. Elisabeth Eisenstein: The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early Modern Europe. 2 Bde. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1979. Vgl. dazu Michael Cahn: Der Druck des Wissens. Geschichte und Medium der wissenschaftlichen Publikation. Wiesbaden: Reichert 1991, S. 55ff. Cahn: Der Druck des Wissens, ebd. S. 55. Eda Sagarra: Theodor Fontane: »Der Stechlin«. München: Fink 1986, S. 67.
Vorwort • Eda Sagarra zum 65. Geburtstag
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reflektiert. Der alte Goethe zum Beispiel hat, unter Anspielung auf die >velociferi< genannten Eilposten, von einer »veloziferischen« Zeit gesprochen.9 Auch für Joseph von Eichendorff hat (ebenfalls im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts) der rasche Sozietätswechsel, die flüchtige, transiente Erfahrung des Sozialen in einer Welt, die aus lauter Bahnhöfen zu bestehen schien, jene Grenzlinie gekennzeichnet, an der sich die technisch-wissenschaftliche Epoche vom Zeitalter der Persönlichkeit trennte.10 Literatur also erscheint bei Eda Sagarra, deren Arbeitsschwerpunkt nicht zufällig das neunzehnte Jahrhundert der europäischen Geschichte ist, nicht nur als ein Instrument zur Erziehung und zur Unterhaltung, sondern als der scharf geschliffene Spiegel der Entwicklung des Menschengeschlechts. Literatur wird hier verstanden als ein Erkenntnisinstrument, das, richtig verwendet, genauer als die philosophische Theorie oder tiefer greifend als das naturwissenschaftliche Experiment >Humanität< zu bestimmen vermag, das, was den Menschen zum Menschen macht. Auf Michael Böhler beziehen sich Eda Sagarra und Peter Skrine am Ende ihres Händbuchs der deutschen Literatur: »Literature is at one and the same time the voice of an individual, a nation's language in action in time and place, and the universal voice of mankind.«11 Den Verlauf der Geschichte Europas hat Franz Schnabel im »Bild von drei gewaltigen Perioden« gesehen: »Ein kurzes, nur das 19. Jahrhundert umfassendes Zeitalter der Freiheit zwischen den beiden Zeitaltern der Autorität, von denen das eine ein volles Jahrtausend in Geltung war und das andere, das Massenzeitalter, jetzt gerade sich heranbildet und vermutlich auch von sehr langer Dauer sein wird.«12 Die neue Gesellschafts- und Staatsordnung des neunzehnten Jahrhunderts wird durch »das Prinzip der freien Bewegung«13 gekennzeichnet, durch den Gedanken von der Freiheit, ja der Autonomie des Individuums, durch die Gewerbefreiheit, durch die freie Verfügbarkeit von Grund und Boden und Eigentum, durch die Freiheit der Forschung, der Wissenschaften, der Künste und der Presse, auch durch die Freiheit des Rückens (der Soldaten vom Stock ihrer Offiziere). Daß dieses neue Prinzip der Freiheit, verbunden mit der freien Bewegung des Kapitals und des Wettbewerbs, seine Gefahren hat, daß sich die alten Bindungen der Menschen zu rasch lösten, daß durch die leichte Zugänglichkeit aller Lebensformen Mittelmaß und Gedankenlosigkeit gezüchtet wurden, haben schon die Zeitgenossen erkannt. Das >epochale Bewußtseins das Bewußtsein, in einer Übergangsepoche zu leben, die
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Vgl. Nr. 39 in den »Betrachtungen im Sinne der Wanderer«: Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. Bd. 8. Wilhelm Meisters Wanderjahre. München: Beck 8 1977, S. 289. Vgl. Joseph von Eichendorff: Tröst-Einsamkeit. (Einsiedler-Novelle). (Vorwort). In: J. v. E.: Werke in 6 Bänden. Hg. v. Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach, Hartwig Schultz. Bd. 5. Tagebücher. Autobiographische Dichtungen. Historische und politische Schriften. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 381-385. Hier S. 381. Sagarra, Skrine: Companion to German Literature (Anm. 1), S. 258. Vgl. das auf »Juni 1964« datierte Vorwort zur Taschenbuchausgabe von Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Die Grundlagen der neueren Geschichte. Freiburg/Br., Basel, Wien: Herder 1964, S. 11. Ebd., S. 10f.
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Wolfgang
Frühwald
von raschem Verfall bedroht war, zog sich von Goethe bis Nietzsche durch die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Es wurde im Taumel von Dampf und Maschine, im Lärm des Kampfes der Unterschichten um soziale Rechte und Teilhabe an den neuen Reichtümern nur allzu oft parteilich verstanden. Eda Sagarra hat mit dem strengen Blick der Historikerin sowohl das Prinzip der freien Bewegung wie das der Bindung zu Leitthemen ihrer in Fülle vorgelegten Arbeiten und Bücher zu Geschichte und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts gemacht. In diesen Arbeiten dominieren daher drei große, lange übersehene Themenbereiche: (1) das sich in literarischer Selbst- und Fremddarstellung dokumentierende wachsende Selbstbewußtsein der >DienstbotenBedeutungen< zu versinken begann und die Entwicklung von realistischen Denk- und Schreibweisen die Tendenz des Zeitalters gewesen ist. Die Romantik war ein Zwischenspiel im ehernen Schritt der realistischen Jahrhunderte, sie legte nochmals auf Allegorie und Hieroglyphik Wert, als alle Dinge der Welt nur noch >warenbedeutetenDienstbotenganzen HausesWirklichkeit< des neunzehnten Jahrhunderts entsteht. Eda Sagarra führt ihre Leser nicht auf den Flügeln des Gesanges in idealistische Kunstwelten, die sich über der Wirklichkeit wie der Sternhimmel über einer Froschpfutze wölben - so hat Clemens Brentano einmal die Aufgabe der Kunst beschrieben -, 1 7 14
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Matthias Claudius: Sämtliche Werke. Hg. v. Rolf Siebke, Hansjörg Platschek. München: Winkler 1984, S. 595f. Z. B. in der Erzählung Das Marmorbild und im Roman Ahnung und Gegenwart. Vgl. Eichendorff: Werke (Anm. 10). Bd. 2. Ahnung und Gegenwart. Erzählungen I. 1985, S. 313, 395 u. ö. Vgl. dazu Egon Schwarz: Ein Beitrag zur allegorischen Deutung von Eichendorffs Novelle »Das Marmorbild«. In: Monatshefte für den deutschen Unterricht 48 (1956), S. 215-220. Hier S. 217. Eda Sagarra: Tradition und Revolution. Deutsche Literatur und Gesellschaft 1830 bis 1890. München: List 1972 [Zuerst 1971 Engl. u. d. T. Tradition and Revolution. German Literature and Society 1830-1890], Clemens Brentano: Das Märchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia. Herzliche Zueignung. In: C. B.: Werke in 4 Bänden. Hg. v. Wolfgang Frühwald, Friedhelm Kemp. Bd. 3. München: Hanser 2 1978, S. 617-629. HierS. 621.
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Wolfgang Frühwald
sie nimmt ihre Leserinnen und Leser gleichsam an der Hand und führt sie tief hinein in die Realitäten einer ihnen fernen und fremden Epoche, in der die Erscheinungen der Mode vielleicht charakteristischer sind als das große Historiendrama. Deshalb gehören auch in Deutschland oft übersehene Autoren, welche den Alltag ihrer Zeit kritisch beschreiben, wie etwa Ludwig Börne, zu Eda Sagarras bevorzugten Quellen der Erkundigung. Ein anekdotischer Stil gibt ihren Texten nicht nur Spannung und Reiz, sondern verbürgt auch Authentizität. Der Hinweis darauf, wie sich die deutschen Landschaften, für die Biedermeier-Literatur bekanntlich differenzierend und prägend, früher durch die Art der Kleidung ihrer Bewohner unterschieden haben, wie nun aber (zwischen 1820 und 1850) die billigen englischen Baumwollstoffe die Kleidung revolutionierten, sie vereinheitlichten, ist nicht nur eine Nebenbemerkung im Gang von Eda Sagarras Geschichts-Erzählung. Schon an der Mode wird nämlich ein Grandzug des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland kenntlich: der Trend der verspäteten Nation zur Nationbildung, zum Nationalstaat, der freilich nicht, wie lange erhofft und ersehnt, durch Literatur und Kultur, durch Technik und Verkehr, sondern letztlich durch Einigungskriege herbeigeführt wurde. Da all dies stets auf dem Hintergrund der europäischen Entwicklung geschildert wird, mit heiteren und ernsten Seitenblicken auf Irland und England, entsteht im CEuvre von Eda Sagarra aus vielen Facetten und mit dem Akzent auf den drei genannten Themenbereichen eine deutsche Sozialgeschichte der Literatur als Teil einer so perspektivierten - noch nicht geschriebenen - europäischen Literaturgeschichte. Fast unwillkürlich haben diese Geschichtserzählungen dann auch die Gegenwart im Blick: Brummel hatte Schwarz zur Modefarbe gemacht, und als der Journalist Börne in den zwanziger Jahren nach Deutschland zurückkehrte, bemerkte er, daß jede zehnte Frau den Tod irgendeines entfernten Verwandten zum Vorwand nahm, diese Modefarbe zu tragen. [...] Nach 1848 kommt bei den Männern der Knebelbart in Mode. In den fünfziger Jahren liebten es die Deutschen, die immer schon starke Raucher waren, ihren wachsenden Wohlstand dadurch zu zeigen, daß sie Zigarren statt Pfeife rauchten. Bis auf den heutigen Tag ist dann die Zigarre das bevorzugte Symbol des Wohlstands geblieben. 18
Die von Eda Sagarra interpretierten und gedeuteten Romane, ihre Haupt- und Nebenfiguren also sind in eine genau gezeichnete soziale, ökonomische und bis in Kleidung, Aussehen und Haartracht der Menschen, die Möblierung ihrer Wohnungen, ihre Verkehrsmittel und ihre Arbeitsgeräte exakt rekonstruierte Umwelt eingebettet. Daß die Münchner Bierhallen das Pendant zum Ausbau der Kunststadt in der Regierungszeit König Ludwigs I. waren, daß die Theater in Wien die Kirchen zu ersetzen begannen, die Literatur die Privat-Andacht, so wie sich eben konfessionelle Gegensätze im charakteristisch deutschen Nord-Süd-Gefälle in Bildungsgegensätze verwandelten, daß an Börnes Sentenzen - etwa: »Österreich ist das China Europas, Deutschland sein Ghetto« - die deutsche Mentalität abzulesen war, daß schon Gutzkows Werk die These bestätigt, wonach »das Fehlen einer eigentlichen deutschen Hauptstadt weitgehend die geringe Rolle erklärt, die soziale und politische Fragen in der deutschen Literatur spielen«,19 - all das und mehr macht die Lektüre 18 19
Eda Sagarra: Tradition und Revolution (Anm. 16), S. 38f. Ebd., S. 281. Vgl. auch S. 93, 137, 183f.
Vorwort • Eda Sagarra zum 65. Geburtstag
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von Eda Sagarras Büchern und Aufsätzen vergnüglich und lehrreich zugleich. Sie liebt, wie die von ihr mit so naher Anteilnahme geschilderten Menschen im Jahrhundert der Freiheit, das Konkrete, doch ist das daraus entstehende Ganze auch bei ihr mehr als die Summe seiner Teile, ein Kosmos aus Realität und Fiktion, der zwar unmittelbar zu Gott< ist und doch die Basis für eine historische Entwicklung abgibt, die unsere Zeit konditioniert hat. Die Zuneigung zur realistischen Erzählweise, die Liebe zum Konkreten, die Entdeckung der Dienstboten in Geschichte und Literatur, ihre Darstellung aus der Sicht der Herrschaft und ihre (literarische) Emanzipation von dieser Sicht, die Rolle der Frau in einer vom Götzen der Ehre beherrschten Gesellschaft, all dies mußte Eda Sagarra zielsicher zu ihrem deutschen Lieblingsschriftsteller führen, dem anglophilen Preußen hugenottischer Herkunft Theodor Fontane, dem sie einen großen Teil ihrer Arbeitskraft geopfert hat. Schon in dem dem Andenken ihres »Vaters Kevin O'Shiel« gewidmeten Buch Tradition und Revolution hat sie ein ganzes Kapitel (das vierzehnte) den beiden Autoren gewidmet, deren gleichen literarischen Rang erst die jüngste Forschung zu akzeptieren beginnt: Theodor Fontane und Wilhelm Raabe. Nicht nur durch Bescheidenheit, Menschlichkeit, Humor und Selbstironie haben sie diese beiden Erzähler des späten neunzehnten Jahrhunderts angezogen, sondern auch durch ihre charakteristisch unsichere Behandlung des charakteristisch deutschen Themas der >SicherheitRuhe und Sicherheitweiten Feld< charakterisiert, sondern durch die Bemerkung, die der Autor des alten Briest selbst 1890 gegenüber seinem Sohn machte: »Irgendwie bringen wir es nicht fertig, unserer Sache sicher zu sein.«20 Und Fontane meinte die Situation seines Volkes in einer bestimmten historischen Situation ebenso wie seine eigene Lage. Bei Raabe aber fiel ihr im Alterswerk die »Fülle von Sinnbildern« auf, die dieser Autor »für sichere Zuflucht« verwendet. Sie hat daraus geschlossen, daß Raabe »die Idee von der Literatur als einer Arche« entwickelt, »die die inneren Werte einer Lebensform, an die er glauben wollte, bewahrt«.21 In einem 1996 erschienenen Aufsatz über Dienstbotenautobiographien der Jahrhundertwende hat Eda Sagarra einen weiteren Vorzug ihres Schreibens belegt, die Sprachsensibilität, die sie auszeichnet, die Aufmerksamkeit auf das kaum hörbare Signal, auf das charakteristische Detail. »Die Heldin in Agatha Christies fnihem Kriminalroman Das Geheimnis des blauen Zuges (The mystery of the blue train)«, berichtet Eda Sagarra, frage dort »ihre Gastgeberin, das ältliche Fräulein Viner, nach der neuen Dienerin: >Is her name Ellen or Helen, Miss Viner? I thought - < >1 can sound my h's, dear, as well as anyone, but Helen is not a suitable name for a servantLene< oder >Ellen< sind anderer Herkunft als die >Helenen< oder >HelenasHerrschaftUmgangssprachehöfische Dichtersprache< bezeichnen.1 Other recent accounts vary in phrasing2 and, if few go as far as Tschirch in still claiming a »völliges Fehlen dialektaler Einschläge« 3 in the language of the classical Middle High German poets, most agree with Wiehl and Grosse in adducing what Keller describes as »a tendency towards a s t a n d a r d l a n g u a g e « , 4 what Stedje refers to as »die erste deutsche Gemeinsprache« s and Moskalskaja as »ein erster Ansatz zu einer gemeindeutschen Literatursprache auf hochdeutscher Grundlage«. 6 Complete rejection of the existence of a unified form of Middle High German is the exception, 7 however much the assumption may be qualified by the acceptance 1
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Hermann Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik. 23rd ed. revised by Peter Wiehl, Siegfried Grosse. Tübingen: Niemeyer 1989, p. 15. A useful summary is given in Ulrich Kriegesmann: Die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache im Widerstreit der Theorien. (Germanistische Arbeiten zu Sprach- und Kulturgeschichte 14) Frankfurt/M. etc.: Lang 1990, pp. 30-36. Fritz Tschirch: Geschichte der deutschen Sprache. Vol. 2. (Grundlagen der Germanistik 9) Berlin: Erich Schmidt 21975, p. 87. Rfudolf] E. Keller: The German Language. London: Faber 1978, p. 255. Astrid Stedje: Deutsche Sprache gestern und heute. München: Fink 1989, p. 94. 0[lga] I. Moskalskaja: Istorija nemetskogo jazyka (na nemetskom jazyke). Moscow, Leningrad: Prosveshchenie 1965, p. 147. One such is Werner König: dtv-AÜas zur deutschen Sprache. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 101994, p. 77.
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Martin Durreil
that any medieval Hochsprache would be rather different from a modem standard language, since, as Keller points out, »medieval written languages did not possess the extreme degree of exclusive normalization which marks modern languages«.8 However, it is difficult at times to identify precisely what these writers are actually asserting when they claim to identify tendencies towards standardization. The issue is ultimately obscured by the plethora of not always well defined terminological labels like Gemeinsprache, Hochsprache, Einheitssprache, Literatursprache and particularly Schriftsprache, which as Keller points out,9 is a notoriously ambiguous term, as it can mean any form of written language or standard language. Ultimately, too, the frequently used term höfische Dichtersprache is self-defining, since as a label for the register of courtly poetry it is merely descriptive - the language of höfische Dichter is unlikely to be anything but a höfische Dichtersprache. However, it is often used, as Wiehl and Grosse do, as if it implied some kind of standardization. The situation becomes somewhat clearer if we abandon such traditional (and ultimately pre-theoretical) terms and consider the question in the light of modern sociolinguistic work on linguistic standardization. Einar Haugen identified a set of four characteristic processes by which standardization characteristically occurs: a) selection from a number of competing variants; b) the elaboration of function of this variety through its use in all linguistic registers; c) codification through reference works which establish the canonic forms; d) acceptance of this standard variety by the language community as a whole.10 Clearly, the only one of these processes which can possibly be adduced for Middle High German is selection, and, in this way, there is obviously no question whatsoever of the existence of a >standard< Middle High German in modem terms. Of course, this has been recognized, if not always in explicit and systematic terms, by many writers who speak of tendencies towards standardization.11 Indeed, such was already clear to Müllenhoff and Scherer when they wrote that »eine deutsche koine hat das mittelhochdeutsche freilich ebensowenig begründet als die Staufer eine feste reichsgewalt«.12 However, even the evidence for a selection of variants in the Stauferzeit is quite weak. The case for it relies on a few pieces of evidence which are ambiguous and highly problematic. It is alleged, for example, that the poets of the period avoided >purely dialectal· rhymes, i. e. those 8
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Keller: The German Language (Footnote 4), p. 252. See also Adolf Bach: Geschichte der deutschen Sprache. Heidelberg: Quelle & Meyer 8 1965, p. 207. Keller: Ibid. An attempt to clarify these terminological problems is undertaken by Mfirra] M. Guchmann: Der Weg zur deutschen Nationalsprache. Ins Deutsche Ubertragen und wissenschaftlich bearbeitet von Gfiinter] Feudel. (Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 1) Berlin: Akademie-Verlag 1964. Ginar Haugen: Dialect, Language, Nation. In: American Anthropologist 68 (1966), pp. 922-935. Cf. in particular the accounts by Walter Henzen: Schriftsprache und Mundarten. Bern: Francke 2 1954, p. 54 and by Norbert Richard Wolf in: Hans Moser, Hans Wellmann, Norbert Richard Wolf (Eds.): Geschichte der deutschen Sprache. Vol. 1. Ν. R. W.: Althochdeutsch - Mittelhochdeutsch. Heidelberg: Quelle & Meyer 1981, pp. 179-183. The quotation from Keller in Footnote 8 shows that he fully acknowledges this point. K[arl] Müllenhoff, W[ilhelm] Scherer (Eds.): Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem 8.-12. Jahrhundert. Vol. 1: Texte. Berlin: Weidmann 1864, p. xxviii.
Standard Language and the Creation of National Myths
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which would only be valid for a particular dialect pronunciation. The details for this were assembled by Zwierzina,13 but his conclusions are very suspect, as Guchmann has shown.14 Wells, too, points out that it »is inordinately difficult to prove, given the lack of original manuscripts, the fact of copying and transcriptions of the manuscripts we do have, and the good intentions / prejudices of editors«.15 That poets like Hartmann or Walther cannot be localized on the basis of their language is rather a negative argument, and the fact that most of the major works are preserved in manuscripts dating from at least a century later than they were writing must make us suspicious of drawing conclusions about the language they actually wrote - and certainly spoke, because any assumption about spoken language at this time can only be highly speculative. If there is uniformity in some of the manuscripts it must be suspect, because many of them come from the same region (particularly Switzerland), and may reflect later established scribal traditions rather than a selection from extant variants actually during the Stauferzeit. What there is evidence for is that many poets were aware of words and forms from various German regions, including, notoriously, Flanders,16 and used them widely. This would have been particularly useful to cope with the exigences of rhyme, and as Guchmann shows,17 there is considerable evidence that poets borrowed rhyming pairs of words. It is also possible that poets moving round the country adapted to the dialect of places they moved to or wished to move to or imitated the language of prestigious rivals.18 But the use of variants from various dialects in the same texts or by the same author does not constitute evidence for the kind of linguistic convergence which many scholars have tried to adduce. We must thus conclude that the evidence for any degree of linguistic standardization in terms of a selection from competing alternative variants is dubious in the extreme. If there is a unity to classical Middle High German, it is a stylistic one, as Wolf demonstrates very clearly, referring to it aptly as a Funktiolekt, i.e. the register of a sophisticated poetry written for (and to some extent by) an aristocratic dlite centred predominately in south Germany.19 In practice, the notion of a medieval standard language is probably in any way vacuous. It is doubtful whether any kind of move towards linguistic uniformity could antedate the invention of printing or a more widespread literacy than can be supposed for the twelfth and thirteenth centuries. The idea of some kind of uniform or even supraregional spoken Hofsprache of the feudal aristocracy which avoids >grobmundartliche Züge< is speculation pure and simple, if many scholars seem to assume it ex hypothesi, ignoring the fact that coarse regionalisms can of course only be identified as such
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K. Zwierzina: Mittelhochdeutsche Studien. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 44 (1900), pp. 1-116, 249-316, 3 4 5 ^ 1 9 ; and 45 (1901), pp. 19-100, 253-313, 3 1 7 ^ 1 9 . Guchmann: Der Weg zur deutschen Nationalsprache (Footnote 9), pp. 117-125. C[hristopher] J. Wells: German. A Linguistic History to 1945. Oxford: Clarendon 1985, p. 117. Bach: Geschichte der deutschen Sprache (Footnote 8), p. 198. Guchmann: Der Weg zur deutschen Nationalsprache (Footnote 9), p. 119. This was evidently the case with Veldeke. Cf. Wolf: Althochdeutsch - Mittelhochdeutsch (Footnote 11), pp. 184f. Ibid., pp. 179-184.
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post facto, after the establishment of an educated supra-regional norm.20 But even in writing there is no secure evidential basis for the assumption of a supra-regional language or even tendencies towards standardization in any modern sense. In any case, a supra-regional written language fulfilling the needs of all the literate already existed in the form of Latin.21 In essence, I would agree very much with Wells that: The issue is obscured by the small number of original or contemporary manuscripts surviving, by the preconceptions of editors and grammarians, who reconstruct texts and normalize spelling and language, and by the UG geographical bias of most of the literature, which was, moreover, largely composed before geographically and chronologically phased shifts in German vowel phonology had become established. 22
Indeed, I would go even further and ask whether there is any point in desperate attempts to maintain the fiction that there is any evidence at all for what Wiehl and Grosse refer to as »eine über den Mundarten stehende Sprachform« or »eine überlandschaftliche Einheitssprache« in medieval German.23 The very notion is flawed. In some ways, the most interesting question is to consider the origin of this fiction and to ask how it has become so entrenched in the historiography of the German language. Here we come firmly into the nineteenth century, since the whole issue is inextricably linked to the development of nationalism, the perceived relationship between language, nation and state, in particular the creation of the >little German< Reich in 1871 with its subsequent appropriation of the symbols of German nationhood, and the creation of a >national< history legitimizing this state and forging a new national identity, which in this case included the history of the language which was seen as an essential component of nationhood. The assumption of a standard Middle High German dates from the 1820s, with classic formulations, first by Karl Lachmann in 1820: »Denn wir sind doch eins, dass die Dichter des dreizehnten Jahrhunderts, bis auf wenig mundartliche Einzelheiten, ein bestimmtes unwandelbares Hochdeutsch redeten, während ungebildete Schreiber sich andere Formen der gemeinen Sprache, theils ältere, theils verderbte, erlaubten.«24 This was extended by Jacob Grimm in the introduction to the second edition of his Deutsche Grammatik in 1822: »Im zwölften, dreizehnten jahrh. waltet am Rhein und an der Donau, von Tyrol bis nach Hessen schon eine allgemeine spräche, deren sich alle dichter bedienten; in ihr sind die älteren mundarten verschwommen und aufgelöst, nur noch einzelnen Wörtern oder formen klebt landschaftliches an.«25 From this preconception of Lachmann's, of course, arose the 20
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A characteristic expression of this assumption is Bach: Geschichte der deutschen Sprache (Footnote 8), pp. 206-208, but it is also seen in Wiehl and Grosse's 23rd edition of Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik (Footnote 1) and in Hans Eggers: Deutsche Sprachgeschichte. Vol. 2. Das Mittelhochdeutsche. Hamburg: Rowohlt 1965, p. 21. This is pointed out very clearly by Wells: German. A Linguistic History (Footnote 15), p. 133. Ibid, p. 109. Cit. Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik (Footnote 1), p. 15. As reprinted from the original edition of 1820 in: Karl Lachmann: Kleinere Schriften zur deutschen Philologie. Ed. by Karl Müllenhoff. Vol. 1. Berlin: G. Reimer 1876, p. 161. Jacob Grimm: Deutsche Grammatik. Vol. 1. Göttingen: Dieterische Buchhandlung 2 1822, pp. xii-xiii.
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regularized Middle High German which he created for his editions and which is still largely adhered to today. Following the scholarly editorial methods for classical texts in which he was expert, he recreated what he saw as the >original< form of the texts of the Stauferzeit.26 Grimm and Lachmann were part of the progressive bourgeois intellectual and cultural 61ite of the period immediately after the Napoleonic Wars, the period of early >Romantic< nationalism,27 which typically adopted ideas from Herder and Humboldt about the cultural distinctiveness of linguistic >peoples< and played a leading role in developing the idea of a nation bound by its language. Eventually this unity was identified as a possible basis for political modernization in terms of the creation of a nation state where the people would be sovereign. As Coulmas puts it: »Vor allem Deutschland und Italien [...] benutzten die Sprache als ideologisches Vehikel der politischen Einigung. Die Sprache definierte die Zugehörigkeit zur Nation, und die Nation war die natürliche Grundlage des Staates. Die Idee des Nationalstaats begründet den Anspruch einer Nation auf einen unabhängigen Staat.«28 The enthusiastic espousal by Grimm and Lachmann of the notion of a uniform language in medieval times is inextricably linked to such aspirations to a new national unity based on a common language. Part of the motivation for this postulate of a common standard Middle High German becomes clear a little further on in Grimm's Deutsche Grammatik (p. xiii): Das resultat wird daher dieses seyn: ein dialect ist so alt und ebenbürtig, als der andere, ehmahls aber sprach der gemeine mann wie der edle, heute ist die aus Verschmelzung der Völkerschaften errungene spräche eigenthum des gebildeten theils, also jedem erwerbbar [....] erst kraft der Schriftsprache fühlen wir Deutsche lebendig das band unserer herkunft und gemeinschaft und solchen vortheil kann kein stamm glauben zu theuer gekauft zu haben oder um irgend einen preis hergeben wollen.
If it is the existence of a supra-regional language of the educated classes which gives unity to the German people, as was increasingly assumed by the nationally inclined Bildungsbürgertum in the course of the nineteenth century,29 then the identification of such a language in the Middle Ages would give a historical depth to this unity and can be exploited to legitimize contemporary aspirations. Particularly significant in 26
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Cf. Klaus von See: Politisch-soziale Interessen in der Sprachgeschichtsforschung des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Werner Besch, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger (Eds.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Vol. 2. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2, 1) Berlin, New York: de Gruyter 1985, p. 246. This term is established and justified as an aspect of German nineteenth-century nationalism by Michael Hughes: Nationalism and Society. Germany 1800-1945. London etc.: Edward Arnold 1988, esp. pp. 23f. Florian Coulmas: Sprache und Staat. Studien zur Sprachplanung. (Sammlung Göschen 2501) Berlin, New York: de Gruyter 1985, pp. 46f.; Eric J. Hobsbawm: Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality. Cambridge: Cambridge Univ. Press 2 1992, pp. 102f. is also clear about the singular importance of language for German nationalism, since language »was the o n l y thing that made them Germans«. Klaus Mattheier: Standardsprache als Sozialsymbol. Über kommunikative Folgen gesellschaftlichen Wandels. In: Rainer Wimmer (Ed.): Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch. Berlin, New York: de Gruyter 1991, pp. 41-72.
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German terms is the notion that this common language did not arise in one particular city or region, but was, as Grimm says, »die aus Verschmelzung der Völkerschaften errungene spräche«, forged from all the various constituent tribes of the nation. The linking of ideas of national unity with the Middle Ages had enormous attractions at this time. As Breuilly puts it: »Celebration of Germany's medieval past was a significant component in early nineteenth-century articulations of the national idea«,30 especially, as Karin Friedrich expresses it, where »the history of German culture could be used to emphasize the superiority of a united German nation«.31 What Grimm and Lachmann did was to associate a period of outstanding literary and cultural achievement, the Stauferzeit, within a (relatively) united empire under a strong imperial house, with the supposed supra-regional language of an educated 61ite, and thereby establish the idea that the linguistic unity of the German peoples might have deep roots in a glorious past. This was potentially a powerful national symbol; it fits clearly into the pattern which Ahlzweig describes for this period: »Dieser Nationalismus wurde also durch Konstruktion eines nationalen Mythos, der auf sprachliche, kulturelle und historische Scheintraditionen zurückgriff, ideologisch formuliert und sollte die Integration der Bevölkerung herbeiführen und ihr die Partizipation an der Herrschaft ermöglichen.«32 But the impact of this >Romantic< nationalism was limited, as James Sheehan makes clear, »to a small minority of Germans, especially German intellectuals, whose memoirs and historical accounts helped to create a mythic image of the national past«.33 Their ideas may appear to be justified in the light of subsequent developments, but any ideas about the political realization of that unity were still relatively unfocussed and certainly would not have envisaged a division of the Sprachnation such as occurred in 1871. The not always choate feelings of this early nineteenth-century nationalism, in particular the idea of a shared common language such as motivated Grimm and Lachmann, did not have a kleindeutsch German nation state as its inevitable outcome. It is simply not the case in Germany that the growing strength of national feeling became so irresistible that a united Germany was the only possible development. This notion is, more than anything, the product of explanation by hindsight and depends ultimately on post facto rationalizations by Treitschke and Prussian historians aiming to legitimize the kleindeutsch unification of 1871. Breuilly has consistently pointed out that nationalism was more the creation of unification than its cause: »It is clear that a unified Germany was created long before nationalism was a strong and active political sentiment, certainly before it was a widespread
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John Breuilly: The National Idea in Modern German History. In: Mary Fulbrook, John Breuilly (Eds.): German History since 1800. London etc.: Edward Arnold 1997, pp. 556584. Cit. p. 560. Karin Friedrich: Cultural and Intellectual Trends. In: Ibid., pp. 88-105. Cit. p. 102. Claus Ahlzweig: Muttersprache - Vaterland. Die deutsche Nation und ihre Sprache. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, p. 156. James J. Sheehan: State and Nationality in the Napoleonic Period. In: John Breuilly (Ed.): The State of Germany. The National Idea in the Making. Unmaking and Remaking of a Modern Nation-State. London, New York: Longman 1992, pp. 47-59. Cit. p. 48.
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and popular feeling«. 34 Hughes, too, makes it clear that: »Nationalism [...] was more a consequence than a cause of unification« and that: »Before 1871 there was no irresistible trend towards the creation of a kleindeutsch state and the unification was carried out to solve Prussia's internal political difficulties not the German problem«.35 After the Reichsgründung of 1871, though, nationalist sentiment was encouraged in the service of the new nation state. As Hughes points out: »It became a deliberately adopted policy of the German government to persuade all Germans to identify with this nation«.36 In terms of the creation of a national history this was, of course, pursued vigorously by Treitschke and others who, as Hughes says, »were responsible for a deliberate perversion of Germany's history designed to present it as unbroken progress towards the Prussian-led creation of Kleindeutschland in 1871«.37 A national identity was created which incorporated the cultural and linguistic currents which were there in the earlier part of the nineteenth century into the new political entity. A national history was created along the characteristic lines outlined by Sheehan: In order to establish its identity, every nation must seek to create a national history. As official versions of the nation's origins these histories forge a nation's links to its past, provide justifications for its present, and establish guidelines for its future. Because national histories tell the story of how a nation had to become what it is, they are all both deterministic and teleological.38
In terms of the language, what also happened, characteristically, is that the national language was established as a national symbol in a particular standardization and invested with what James and Lesley Milroy term the authority of standard^ 39 with obligatory norms which are transmitted through the educational system and the mastery of which can be associated with being a proper and loyal citizen. For the first time, the German language is identified exclusively with the standard Hochsprache which is the national language of the new state, which took it upon itself to prescribe particular norms and adopt a particularly rigorous codification; the unity of the language is henceforward seen to reflect the unity of the state.40 34 35 36 37 38 39
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John Breuilly: The National Idea in Modem German History. In: Ibid., pp. 1-28. Cit. p. 22. Hughes: Nationalism and Society (Footnote 27), pp. 101 and 134. Ibid., p. 149. Ibid., p. 150. Sheehan: State and Nationality (Footnote 33). James Milroy and Lesley Milroy: The Authority of Standard. Investigating Language Prescription and Standardisation. London: Routledge 2 1991. The establishment of this authority in German is documented by Ahlzweig: Muttersprache - Vaterland (Footnote 32), pp. 154-182. In Germany, unlike in France, there has long been a tendency to accord some toleration to dialects as reflecting the richness of the German heritage and the diversity of the Stämme which constituted the German people, as is seen in the earlier citation from Grimm: Deutsche Grammatik (Footnote 25), p. xii. However, Grimm was ambiguous on this point (cf. p. xxii). Mattheier: Standardsprache als Sozialsymbol (Footnote 29) documents the increasing stigmatization of dialect among the Bildungsbürgertum in the course of the nineteenth century, in the interest of the linguistic unity of the nation. The nature of the codification of standard German is discussed, with further references, by Martin Durrell:
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In this respect the historiography of the language itself became important, because the history of the national language could also reflect the unified history of the people and legitimize the new national unity. Ahlzweig shows how standard German is now regarded as the Muttersprache of all Germans, as what he terms the w i l helminische Muttersprachideologie< is systematically fostered, 41 particularly on the völkisch fringes of nationalism and in the Allgemeiner Deutscher Sprachverein, founded in 1885, and in which many leading professors of German language studies such as Behaghel, Kluge, Siebs and Wilmanns were active. 42 Reflections of this new ideology can be found in many of the standard textbooks and accounts of the history of the German language from this period on. 43 Kluge consistently emphasizes the importance of the Protestant, north German (and thus Prussian) origin of the Muttersprache: »Die Volkssprache, die durch den Protestantismus die religiöse Weihe erlangt hat, ist zum Range einer Hauptsprache erhoben, seitdem >Gott, der in allen Sprachen gelobt sein will, auch in unserer Sprache Wunder wirktdas literarische Helgoland< eine Rolle spielt. Seine Helgoländer Briefe aus dem Jahr 1830, die der Autor zunächst vermutlich im Oktober desselben Jahres separat veröffentlichen wollte, dann aber erst 1840 seiner Polemik gegen Ludwig Börne. Eine Denkschrift11 einfugte, sind - zumindest in ihrer ersten Version in Form von Notizen, Vorstufen und Entwürfen - auf Helgoland entstanden, wo Heine sich im Sommer 1829 und dann noch einmal von Ende Juni bis Mitte August 1830 aufhielt. Im Mittelpunkt dieser sieben fiktiven Briefe steht Heines begeisterter, in autobiographischer Form gehaltener Bericht über die französische Juli-Revolution, von deren Ausbruch er auf Helgoland hörte. Sie zeigen seine 8 9
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Wülfing: Reiseberichte im Vormärz (Anm. 6), S. 343. Heinrich Heine: Briefe aus Berlin. In: Heine: Werke (Anm. 7). Bd. 6. Hg. v. Jost Hermand. 1973, S. 9. Heinrich Heine: Die Harzreise. Ebd., S. 122. Heinrich Heine: Ludwig Börne. Eine Denkschrift. In: Heine: Werke (Anm. 7). Bd. 11. Bearb. v. Helmut Koopmann. 1978, S. 35-57, Kommentar S. 251-276,455^86.
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intensive Anteilnahme an den revolutionären Bewegungen in Paris und wenden sich indirekt an das in politischem Schlaf ruhende Deutschland. Heines Bericht bildet - in Hinblick auf weitere Literarisierungen der Insel anderer Autoren - die programmatische Verbindung Helgolands mit politisch-utopischer Zielsetzung. Heinrich Laube bezeichnet diese Briefe als »Freiheitshymnen aus Helgoland«.12 Ludolf Wienbarg berichtet: »Der Ausbruch der Julirevolution warf Heine aus seiner mißmüthigen, unproductiven Stimmung in eine fieberhafte Aufregung; er fühlte, daß sie auch in seinem Leben einen bedeutsamen Abschnitt bilden würde.«13 Das eben geschah auf Helgoland. In Thematik, politischer Einstellung, Stil und Komposition - der Mischung aus Briefen, Tagebuchnotizen, subjektiven Beobachtungen und objektiver Historiographie - zeigen die Helgoländer Briefe enge Parallelen zu Heines Reisebildern, insbesondere zu dem Prosatext der Nordsee, der ursprünglich ebenfalls in Form von Briefen geschrieben werden sollte. Für alle seine die Nordsee thematisierenden Texte, die beiden lyrischen Zyklen Die Nordsee, Die Nordsee. Dritte Abteilung in Prosa und die Helgoländer Briefe, gilt Heines Bekenntnis: »Ich liebe das Meer, wie meine Seele.«14 Einige Passagen der Helgoländer Briefe sind eine fast wörtliche Umsetzung jener Stimmung, die Heine schon in der Prosa-Nordsee formuliert hatte. Dort heißt es: Gar besonders wunderbar wird mir zu Muthe, wenn ich allein in der Dämmerung am Strande wandle, - hinter mir flache Dühnen, vor mir das wogende, unermeßliche Meer, über mir der Himmel wie eine riesige Kristallkuppel - ich erscheine mir dann selbst sehr ameisenklein, und dennoch dehnt sich meine Seele so weltenweit. Die hohe Einfachheit der Natur, wie sie mich hier umgiebt, zähmt und erhebt mich zu gleicher Zeit, und zwar in stärkerem Grade als jemals eine andere erhabene Umgebung. Nie war mir ein Dom groß genug; meine Seele mit ihrem alten Titanengebet strebte immer höher als die gothischen Pfeiler und wollte immer hinausbrechen durch das Dach. 15
Hier, in den Helgoländer Briefen, lesen wir: Ich wandelte einsam am Strand in der Abenddämmerung. Ringsum herrschte feyerliche Stille. Der hochgewölbte Himmel glich der Kuppel einer gothischen Kirche. Wie unzählige Lampen hingen darin die Sterne; aber sie brannten düster und zitternd. Wie eine Wasserorgel rauschten die Meereswellen; stürmische Choräle, schmerzlich, verzweiflungsvoll, jedoch mitunter auch triumphirend. Ueber mir ein luftiger Zug von weißen Wolkenbildern, die wie Mönche aussahen, alle gebeugten Hauptes und kummervollen Blickes dahinziehend, eine traurige Prozession... Es sah fast aus als ob sie einer Leiche folgten...Wer wird begraben? Wer ist gestorben? sprach ich zu mir selber. Ist der große Pan todt? 16
Weitere Bemerkungen über Helgoland, das Inselklima, den Meeresstrand, das Spiel der Wellen in Analogie zum gesellschaftlichem Leben - »Auch die Menschheit bewegt sich nach den Gesetzen von Ebb und Ruth« -, 1 7 über seine Nachbarn, seinen Hauswirt, über den englischen Gouverneur und über die Rückfahrt nach Cuxhaven bilden Folie und Auslöser für Heines Reflexionen über seine Lektüre und führen ihn immer 12 13 14
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Ebd., S. 456. Ebd., S. 271. Heine: Die Nordsee. Dritte Abtheilung. In: Heine: Werke (Anm. 7). Bd. 6. Hg. v. Jost Hermand. 1973, S. 150. Ebd., S. 15lf. Heine: Ludwig Börne (Anm. 11), S. 47. Ebd.
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wieder zu dem Thema der Revolution. Obwohl es Heine »hinlänglich fatal« ist, »daß die Insel Helgoland unter brittischer Herrschaft steht«, fühlt er sich hier freier als in seiner Heimat, auch wenn der Inselaufenthalt nicht von Dauer sein kann: »Wenn ich nur wüßte, wo ich jetzt mein Haupt niederlegen kann. In Deutschland ist es unmöglich. Jeden Augenblick würde ein Polizeydiener herankommen und mich rütteln, um zu erproben, ob ich wirklich schlafe.«18 Daß die Gedanken an Revolution und Freiheit mehr hervortreten als die Schilderungen der Insel, erklärt sich vermutlich aus der Tatsache, daß Heine mit dem Thema Nordsee schon in seinen drei gleichnamigen Reisebildern detailliert und nuancenreich experimentiert hatte, so daß er jetzt Wiederholungen zu vermeiden suchte. In Ludolf Wienbargs Tagebuch von Helgoland tritt das Lokalkolorit der Insel und ihrer Bewohner sowie ihrer Geschichte dagegen stärker in den Vordergrund. Die zitierte Episode über die Bootsfahrt zur Badedüne hat die Nähe zu den Reiseführern und doch zugleich den ganz anderen, eigenständigen literarischen Charakter von Wienbargs Text gezeigt. Die Reiseführer geben Zustandsberichte über die gegenwärtige Lage auf der Insel, sie sSind auf den expandierenden Fremdenverkehr, die wichtigste Einnahmequelle des modernen Helgoland, abgestimmt, sie beschreiben das Ritual der Badekuren und unterrichten über deren medizinischen Nutzen. Im sich etablierenden Baedekerstil - Karl Baedekers Reisehandbücher erschienen seit 1839 - bringen sie Daten, Fakten und Statistiken. Wienbarg dagegen wandelt den statischen Stil in einen dynamischen. Unter dem Spannungsverhältnis »des Früher mit dem Jetzt« gerät der naiv-optimistische Ton der Reiseführer oft zu einem skeptischen und kulturicritischen, zu reflektierter Nachdenklichkeit. Wienbarg bietet eine Art Psychogramm von Helgoland und seinen Bewohnern. Die »Verschönerungen Helgolands als Badeortes«, von Reisehandbuchverfassern gepriesen, sind für ihn »fast lauter Eingriffe in das Helgoland der Fischer und Lootsen.« »Wären die Helgolander nicht zum Theil aus ihrem natürlichen Element herausgerissen, dann würde es mich nur wenige markige Striche kosten, ihre Figur als natürliche Staffage des einsamen, meerumrauschten Felsens hinzuwerfen.«19 Mit der Suggestion dieses vermeintlich noch immer >natürlichen< Zustands der Insel verharmlosen so manche Poeten in Lyrik und Prosa den Zustand Helgolands zu einer konfliktfreien heilen Welt. Es existiert ein Gartenlaube- und Anthologien-Helgoland, 20 das im Zuge der europäischen Entdeckung des Meeres und seiner Küsten seit dem achtzehnten Jahrhundert21 mit der 18 19 20
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Ebd., S. 36, 35. Wienbarg: Helgoland (Anm. 4), S. 30, 29, 93. Vgl. z. B.: C. Reinhardt: Ein Austemfang bei Helgoland. In: Die Gartenlaube 1858, S. 448-451; Fr. Schi.: Die Perle der Nordsee. Eine Sommer-Erinnerung. Ebd. 1873, S. 734-737; Karl Braun-Wiesbaden: Von der hansischen Flanderfahrt. Ebd. 1884, S. 660-662; Helene Pichler: Eine Fahrt um die Braut. Erzählung aus Helgolands Vergangenheit. Ebd. 1891, S. 720-723; Gustav Kopal: Helgoland einst und jetzt. Ebd. 1899, S. 209-212; Ludwig Frahm, Ingwer Petersen (Hg.): Nordseestrand und Inselland. Eine Anthologie. Garding: Liihr und Dirks 1886. Darin z. B.: S. 30: Friedrich August Feddersen: Meerfahrt. 2. Helgoland; S. 76-79: Harbeit Harberts: König Helgo von Helgoland; S. 118f.: Karl Tannen: Helgoland; S. 125f.: Heinrich Zeise: Helgoland. Vgl. Alain Corbin: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste. Frankfurt/M.: Fischer 1994.
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Wiridichkeit oft nur die Oberfläche gemeinsam hat, ein Pendant zu den pittoresken Dlustrationen der im Alltagsleben nicht mehr getragenen Helgoländer Trachten und den eintönigen >Seestiicken< in der Genremalerei. Wienbarg revidiert solches Schein-Bild: Aber diese Kontinentalsperre, diese Badeanstalt mit ihren verwirrenden demoralisirenden Einflüssen, sie äffen jeden reinen natürlichen Ansatz und umgaukeln des Zeichners Auge mit fratzenhaften Einzelheiten. Beide, die Kontinentalsperre und die Badeanstalt haben einen Riß in diese kleine Gesellschaft gebracht, der nach allen Seiten hin weiter klafft und die Grundfeste ihres Lebens mit noch früherer Zersplitterung und Auflösung heimzusuchen droht, als solche über ihre Felsen verhängt zu sein scheint. Hoffe und wünsche ich freilich, daß das Schicksal festere Klammern, wie für den Stein, so für die Herzen aufbewahrte, muß ich doch für letztere eine große Bedingung an die Regenerazion und Befestigung eines sittlich naturgemäßen Daseins knüpfen, nämlich die, daß die Badeanstalt entweder aufhört oder mindestens ein stärkeres Gegengewicht an der Schiffahrt und an dem Lootsenwesen erhält. Die Helgolander selbst, ich meine die ächten Helgolander, haben das tiefste Gefühl dieser Notwendigkeit. Aechten Helgolandern mißfällt dieses fremde Treiben, dieser unseemännische Verdienst im Innersten ihrer Seele. Fragt den braven Lootsen, der euch zum Baden hinüberrudert nach der Sandinsel, welchen Verdienst er vorzieht, diesen gefahrlosen, sicheren, lustigen, horchenden, gesellschaftlich unterhaltenden, oder den Dienst im Sturm, wenn er mit der Barke an das Signal gebende Schiff fliegen muß. Jenes, sage ich euch, dünkt ihn Galeerensklavenarbeit, in Vergleich mit diesem, worin er einzig das Geschäft eines edlen stolzen Helgolanders sieht.® Längere Auslassungen über das wechselhafte Schicksal Helgolands, das er als eine »Geschichte der Ueberraschungen« versteht - infolge der Christianisierung durch Missionare, die bald wieder verschwanden, infolge kurzfristigen Wohlstands durch Heringsschwärme im Mittelalter, länger anhaltendes Piratentum, Überraschungen infolge der Besetzung der Insel durch Dänemark zu Beginn des achtzehnten und durch Großbritannien zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, als Helgoland infolge der Kontinentalsperre ein wichtiger Umschlagplatz für den englischen Schleichhandel mit dem Festland bildete - , münden in die Behauptung, [...] selbst der Umgang mit Piraten wäre den Helgolandern zusäglicher, als die Vermischung mit den Kurgästen. Haben ihre Vorfahren einst mit Klaus Startobecker, Wiben Peter und wie die langbärtigen wilden Gesellen alle hießen, Kameradschaft getrunken und feiernd lustige Nächte bei Würfelspiel und Becher verschwelgt, so behaupte ich, diese edle Kameradschaft war weniger im Stande, sie zu ruiniren und in ihren natürlichen Grundfesten zu erschüttern, als das rouge et noir der heutigen Bank und die Berührung mit der fashionablen Gesellschaft des Continents [...].23 Obwohl Wienbarg als betont >modemer< Schriftsteller im Sinne des Jungen Deutschland agierte und 1834 in einer hitzig diskutierten Schrift sich für die >Ausrottung< der plattdeutschen Sprache ausgesprochen hatte - das Plattdeutsche benachteilige ihre Sprecher im modernen Lebensprozeß - , 2 4 läßt er im Tagebuch von Helgoland keine Gelegenheit aus, die mythische Vorstellung von der einstigen Größe der Insel als Rest des versunkenen Atlantis zu verteidigen. Die Annahme solcher geschichtlichen
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Wienbarg: Helgoland (Anm. 4), S. 93-95. Ebd., S. 108. Ludolf Wienbarg: Soll die plattdeutsche Sprache gepflegt oder ausgerottet werden? Hamburg: Hoffmann und Campe 1834.
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Herkunft war gerade kurz vorher energisch bestritten worden. 25 Wienbarg erwägt die Wahrscheinlichkeit des alten Sagenhelgolands und meint auch heute noch Nachwirkungen davon zu spüren. Der offenkundige Widerspruch zwischen der sonst modern-aufklärerischen, kritischen Einstellung Wienbargs und seinen fortschrittsskeptischen, am Alten hängenden Äußerungen im Tagebuch resultiert aus der persönlichen Situation des Autors, die allerdings zugleich eine allgemein-politische ist: Wienbarg hatte j a mit seinen Ästhetischen Feldzügen der Gruppe von oppositionellen Schriftstellern, zu der er auch selbst gehörte, den Namen >Junges Deutschland < gegeben. Nach dem Verbot der Schriften dieses Kreises durch den Deutschen Bundestag in Frankfurt im Dezember 1835 wurde Wienbarg aus Frankfurt ausgewiesen. Er suchte nach mehreren Stationen in anderen deutschen Städten Helgoland als Exil auf und lebte dort bis zum Herbst 1836. 26 Im Vorwort seines zwei Jahre später veröffentlichten Tagebuchs von Helgoland spricht er von seiner »Flucht« dorthin, um sich »dem Gefühle der Ohnm a c h t und eines ohnmächtigen Grolles, das den freien Flug meiner Seele zu vernichten droht«, zu entreißen. Ich suche eine Handweit Erde außer dem festen und gefesteten Europa, eine Lagerstätte unter den Menschen der fluthenden Wildniß, den Sturm, der allmählig schrillend die trägen Wellen vor sich aufrollt, vor allen Dingen die stürzende Brandung, die mich von dem Athem der Verhaßten reinigen wird. Solchen Freiraum findet er auf Helgoland, das zu dieser Zeit außerhalb des Machtbereichs des Deutschen Bundes liegt und auch unter der gegenwärtigen englischen Verwaltung ein wenig kontrolliertes Territorium bildet. »Nur da, wo Englands stolze Flagge weht, kannst du ruhig dein Haupt niederlegen.« 27 Helgoland bedeutet für den politisch ausgewiesenen Literaten Wienbarg also eine Idylle der Freiheit im ursprünglichen Verständnis der Idylle als eines positiven Gegenbildes zur negativ erfahrenen Wirklichkeit. Diese persönliche Situation notiert er in seinem Tagebuch; da er das Tagebuch aber veröffentlicht und sich mit ihm an ein breiteres Publikum wendet, wird die subjektiv erlebte Situation politischer Unterdrückung eine intersubjektive, öffentliche. Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, kann von dem Verfasser Wienbarg abstrahieren, seine vorgetragenen Ansichten verallgemeinem und sie im Sinne eines zeitkritischen Dokuments verstehen. Oder - um mit Heine zu sprechen - neben und hinter der >exoterischen< Lesart, die der Oberfläche und der äußeren Lage der Insel gilt, läßt sich eine >esoterische< Lesart ausmachen, die zumindest einigen Schilderungen des Insellebens einen tieferen, geheimen Sinn gibt, ihnen allegorischen Charakter verleiht. Man könnte sie mit Karl Gutzkow als »Ideenschmuggel« 28 bezeichnen. 25
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Johann Martin Lappenberg: Ueber den ehemaligen Umfang und die alte Geschichte von Helgoland. Ein Vortrag bei der Versammlung der deutschen Naturforscher im September 1830. Hamburg: Perthes und Besser 1830. Vgl. Ludolf Wienbarg: Nach Helgoland und anderswohin. Gedanken auf Reisen. Hg. v. Alfred Estermann. Nördlingen: Greno 1987, S. 217. Wienbarg: Helgoland (Anm. 4), S. VIII, VII, VI, X. Karl Gutzkow: Briefe eines Narren an eine Närrin (1832). Zit. nach Wülfing: Reiseliteratur (Anm. 6), S. 184.
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Wienbarg gibt den Schlüssel zu solcher subversiven Lesart programmatisch im Vorwort: »Der Felsen von Helgoland soll meine Schweizer Alpe sein, eine Fischerhütte meine Sennhütte, das Meer mit dem springenden Delfin mein Hirtenthal.« 29 Seit dem 18. Jahrhundert gilt die Schweiz in der Literatur mit Albrecht von Hallers Lehrgedicht Die Alpen (1729), Salomon Gessners Idyllen (1756) und Friedrich Schillers Wilhelm Teil (1804) nicht nur als archaische Idylle von Frieden, Freiheit und Demokratie, sondern trägt im Sinne eines Wunsch- und Vorbilds auch in die Zukunft weisende utopisch-gesellschaftskritische Dimensionen: Glück, Harmonie und Frieden des vergangenen >Goldenen Zeitalters< sollen in der kriegerischdynastischen Gegenwatt und in einer besseren Zukunft mittels der Literatur wieder belebt werden. Wenn Wienbarg in dieser utopischen Bedeutung die Schweiz mit Helgoland gleichsetzt, muß auch dieser Insel eine utopische Konnotation innewohnen, denn in lediglich topographischer Hinsicht wäre solche Gleichsetzung sinnlos. Und tatsächlich enthält auch das oft realisierte Motiv der poetischen Insel,30 etwa in Form von Robinsonaden - man denke an Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731), an Friedrich Leopold zu Stolbergs Die Insel (1788), an Wilhelm Heinses Ardinghello (1787) - ein starkes Maß an Gesellschaftskritik. Die Insel bietet dem dorthin sich Begebenden Zuflucht und ermöglicht ihm, in der Abgeschiedenheit eine vorbildliche Gesellschaftsordnung zu verwirklichen, die sich als Korrektur zu den Mißständen auf dem Festland, denen er entflohen ist, erweist. Indem Wienbarg beide literarische Traditionen aufgreift, Idylle und Insel, diese kombiniert und mit der konkreten Insel Helgoland verbindet, erhält Helgoland in seinem öffentlichen Tagebuch neben der Darstellung des tatsächlichen Zustands eine utopisch-kritische Komponente. Sie symbolisiert die Idee der ersehnten Freiheit und macht gleichzeitig die Konflikte der gegenwärtigen politischen Wirklichkeit modellhaft in dem begrenzten, überschaubaren und abgehobenen Gegen-Raum transparent. Es kennzeichnet die literarische Qualität Wienbargs, daß er nicht auf dem Niveau der Familienblatt-Autoren eine kitschige Inselbeschreibung liefert, sondern das Spannungsverhältnis von Utopie und Realität in seinen Konflikten skizziert und damit eben eine Idee von einem besseren Zustand entwirft, die auf dem gegenwärtigen basiert. Die Geschichte der »Ueberraschungen«, denen die Helgoländer ausgesetzt sind, erweckt gleichzeitig Assoziationen an die Verfahrensweisen der dynastischen Machtpolitik Europas und speziell der Metternichschen Ära, die die einzelnen Völker und Individuen als sie überraschende Willkür erfahren. Der labile Charakter der gesamtgesellschaftlichen Umbruchsituation kommt auch darin zum Ausdruck, daß die alte Zeit mit Piratentum und Aberglauben nicht nur in ihren negativen Auswirkungen gesehen und dementsprechend die moderne mit Spielkasino und gesellschaftlicher Umschichtung nicht wie sonst oft üblich als Errungenschaft und Fortschritt gepriesen wird. Eine Patentlösung wird nicht angeboten.
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Wienbarg: Helgoland (Anm. 4), S. VIII. Vgl. Horst Brunner: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur. Stuttgart: Metzler 1967.
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Unter dem Motto »Die Poesie und die Freiheit suchen die Inseln und Küsten der Meere« erkennt Wienbarg in Gewerbe, Fischerei und Lotsentätigkeit, die die Helgoländer »vereinigt in Compagnien« betreiben, »die nach festen Regeln Arbeit und Verdienst unter ihre Mitglieder theilten«, eine vorbildliche »wahrhaft republikanische Einrichtung, welche den vereinzelten Egoismus unterdrückte, den kleinen Staat auf lebendig verschlungenen Pfeilern emporhielt [...]. Betrügen wir uns untereinander, so betrügen wir uns selbst, diese Wahrheit prägte das kleinste Nachdenken in die Köpfe.« In solchem republikähnlichen Zustand möchte Wienbarg Helgoland gegenwärtig noch in den Händen Großbritanniens sehen, auch wenn er die aus den unklar definierten Kompetenzen des britischen Gouverneurs resultierende »Rechtsunsicherheit« kritisiert; er rechnet sich aber »Chancen zu einer deutschen Zukunft« aus. Chancen für eine friedliche deutsche Zukunft, denn - so äußert er prophetisch - »besäße Helgoland einen Hafen, wo Kriegsschiffe vor Anker gehen könnten, dann würde jede Flagge, die von Helgoland wehte, stolz und verächtlich auf ihre Gegnerin herabsehen dürfen: Helgoland wäre das Malta der Nordsee.« 31 Auch in den 1840 erschienenen Briefen über Helgoland von Theodor von Kobbe, einem damals nicht unbekannten Autor kritischer und satirischer Schriften, Dramen und Reisebeschreibungen, wird Helgoland zu einem poetischen Ort der Unschuld stilisiert - »Ich fühle mich in der That hier unschuldiger als auf dem festen Lande« - und zugleich in die Nähe des revolutionären Paris genickt. 32 Politisch-oppositionellen Charakter trägt ebenso der Aufenthalt August Heinrich Hoffmanns von Fallersleben auf Helgoland wie sein bekanntes Lied der Deutschen, die spätere Nationalhymne. Hoffmann von Fallersleben, Professor der Germanistik, Volkskundler und lyrischer Dichter, war seit 1830 als heftiger Kritiker der deutschen Restauration in der Öffentlichkeit aufgetreten. Empört über die Amtsentsetzung der >Göttinger Sieben·«, jener sieben Professoren, die 1837 gegen den Verfassungsbruch des hannoverschen Königs protestiert hatten, hatte er ein polemisches Gedicht veröffentlicht. Im Schweizer Parteienkampf ergriff er 1839 entschieden für die Liberalen Partei. 1840 und 1841 ließ er im Zuge der patriotisch-liberalen Hoffnungen nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. seine sogenannten Unpolitischen Lieder erscheinen, eine Sammlung politisch-kritischer Zeitgedichte mit Angriffen gegen Aristokratie, Regierung und Polizei, gegen Zensur und Frömmlertum. Sie gehören zu den erbittertsten Texten der oppositionellen Vormärzlyrik. Ihres politischen Zündstoffs wegen wurde er seines Professorenamtes enthoben und unter polizeiliche Aufsicht gestellt. 1841 floh Hoffmann von Fallersleben - und das verbindet ihn mit Wienbarg - vor der preußischen Obrigkeit nach Helgoland, wo er zu seinem bekannten Lied inspiriert wurde. In der Intention seines Verfassers und im zeitgenössischen Sinnhorizont ist das Lied ein systemkritischer Appell. Deutschland kann dann »über alles« in der Bedeutung von >mehr als alles< in der Welt geliebt werden, wenn seine einzelnen Territorien, die zur Entstehungszeit des Liedes ja nur als lockerer Staatenbund 31 32
Wienbarg: Helgoland (Anm. 4), S. 163, 103, 114, 115, 111. Theodor von Kobbe: Briefe über Helgoland, nebst poetischen und prosaischen Versuchen in der dortigen Mundart. Bremen: Kaiser 1840. Reprint Leer: Schuster 1977, S. 69, 72.
Das literarische Helgoland
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monarchischer Prägung existieren, »brüderlich«, das heißt im Sinne der revolutionären >Fraternit6Libert6, Egalit6, Fraternit6felicit6 publique< der Aufklärer; und das >Blühen< des Vaterlands wendet sich gegen die gewohnte Vorstellung, daß der Monarch das Glück verleihe. Somit ergibt sich: »Das Lied der Deutschen [...] kann wohl nur als republikanische Demonstration gegen die österreichische Kaiserhymne gedeutet werden, auf deren Melodie es von vornherein gedichtet und die dem Erstdruck vorangestellt war. Die Kontrafaktur korrigiert damit den Typ der Fürstenhymne überhaupt, verzichtet ostentativ auf ein gekröntes Haupt der Deutschen.« 34 Heine, Wienbarg, Kobbe und Hoffmann von Fallersleben rücken in ihren utopischen Zielen und Idealen revolutionärer, republikanischer und demokratischer Provenienz zusammen. Helgoland inspiriert sie gemeinsam zu politischen Hoffnungen, und Helgoland erscheint in ihren Dichtungen als utopisch-idyllische Örtlichkeit alternativer Möglichkeiten, als Insel der Freiheit. Diese utopische Dimension Helgolands war möglich, weil die Insel vor der Küste des Deutschen Bundes leicht zugänglich und dennoch politisch nicht integriert war. In der späteren Zeit sind zwei parallele Prozesse zu verfolgen: Das Lied der Deutschen büßt nach der Reichsgründung von 1871 und verstärkt im Zuge der folgenden imperialistischen Expansionspolitik seine utopischen Züge ein und wird als Apologie des jetzt bestehenden Deutschen Reichs aufgefaßt. »Über alles« liest man nicht mehr als Adveib zu >liebenherrschenscientific< use of archival sources. The establishment of a German historical profession in the nineteenth century appeared to go hand in hand with a concerted attempt to establish a firm boundary between the realms of fiction and historical writing. On closer inspection, however, contemporary concepts of the relationship between fiction and history inevitably appear more complex than that conveyed by the transfigurative experience of Ranke's youth. It was not until the nineteenth century that the practice of history in Germany became clearly distinguished from literature and was established as an autonomous discipline with its own purpose and method. The development of professional historical writing was paralleled in literature by the rise of the historical novel2 and genres such as the travel report and essay, which bore witness to contemporary history (Zeitgeschichte) and crossed boundaries between fiction and non-fiction. These developments were accompanied, and indeed fuelled, by lively discussions about the nature of the historical imagination. As the rediscovery of historicism in literature and recent debates on the boundaries between historical writing and literary fiction have demonstrated, the nature of this relationship remains a compelling and controversial issue.3 Literary theorists 1
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Leopold von Ranke: Aufsätze zur eigenen Lebensbeschreibung: 4. Dictat vom November 1885. In: L. v. R.: Sämmtliche Werke. Vol. 53/54. Ed. by Alfred Dove. Leipzig: Duncker & Humblot 1890, pp. 56-76. Esp. p. 61. Brent O. Peterson: Historical Novels and the Contents of German History. In: Monatshefte 87 (1995), pp. 48-67. Esp. p. 51. Robert H. Canary, Henry Kozicki (Eds.): The Writing of History. Literary Form and Historical Understanding. Madison: Univ. of Wisconsin Press 1978; Jürgen Kocka, Thomas
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Anita Bunyan
challenging the separation of historical and fictional writing caused historians to recognize and debate the literary and discursive dimension of historical writing.4 In particular, Hayden White's provocative thesis that historical narratives are verbal fictions prompted historians to examine more closely the role of fictional narrative structures in the writing of history.5 Over-schematic, yet thought-provoking, White's postmodernist emphasis on the metahistorical or rhetorical character of historical writing has not gone unchallenged. 6 Recently, for example, historians such as Jörn Rüsen and even literary scholars such as Paul Lützeler have sought to mediate between the scientific or rational and rhetorical character of historiography, arguing that the use of narrative strategies does not fictionalize the work of the historian. 7 The purpose of this paper is to shed light on the broader historical background of this theoretical debate by examining in general outline the manner in which the boundary between fiction and historical writing was perceived in nineteenth-century Germany by historians, literary critics and literary historians alike. In general, nineteenth-century literary critics distinguished clearly between fiction and historical writing but rated more highly the capacity of fiction to convey true insights into the life of the past. In a review of Theodor Mundt's Thomas Müntzer, written in 1842, Robert Prutz proclaimed poetry's task: [...] die Zustände und Begebenheiten der äußern Welt, die Welt der Erscheinungen, vor Allem die Thatsachen der Geschichte von dieser ihrer starren Aeußerlichkeit zu erlösen, gleichsam ihren lebendigen Herzschlag aufzuspüren, ihren leisen Anfängen in den Herzen der Menschen nachzugehen, das Allgemeine als ein Besondres, das Aeußerliche als ein Innerliches darzustellen.8
Several critics, keen to defend the value of the historical novel, reiterated this distinction between the representational powers of fiction and historical writing and claimed that in contrast to the historical novel, historical works were able to give expression only to the outer form of past reality. In the afterword to his novel of
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Nipperdey (Eds.): Theorie und Erzählung in der Geschichte. Munich: Beck 1979; Leonard Schulze, Walter Wetzeis (Eds.): Literature and History. London: Univ. Press of America 1983; Gisela Brude-Fimau, Karin J. MacHardy (Eds.): Fact and Fiction: German History and Literature 1848-1924. Tübingen: Francke 1990; Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich, Klaus R. Scherpe (Eds.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart: Metzler, 1990. See Paul Michael Lützeler: The Discussion of Narration in the Postmodern Context. In: Brude-Firnau, pp. 57-67. Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press 1973; Dominick LaCapra: History and Criticism. Ithaca, New York: Cornell Univ. Press 1985; Ann Rigney: The Rhetoric of Historical Representation: Three Narrative Histories of the French Revolution. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1990. See History and Theory 19 (1980). Beiheft 19. Metahistory: Six Critiques. Jörn Rüsen: Ranke's Historiography: A Theoretical Approach. In: Brude-Firnau: Fact and Fiction (Footnote 3), pp. 41-56; Lützeler: The Discussion of Narration (Footnote 4). Cit. Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger, Reinhard Wittmann (Eds.): Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880. Vol. 2. Stuttgart: Metzler 1976, p. 402.
>Notwendige Genossenschaft
Poesie< could depict ordinary life in its totality. 10 The writer was thus regarded as an early form of cultural historian or historian of everyday life (Alltagshistoriker), exploring the features of the past ignored by the dominant political historical writing of the day. In his essay Walter Scott und sein Jahrhundert (1827), the critic Wolfgang Menzel gave cogent expression to this concept of the complementary roles of fiction and historical writing: Der Roman ist [...] nur eine freyere Form der Geschichtschreibung, aber eine Form, worin sich der Geist der Geschichte oft treuer spiegelt, als in bloßen trocknen Berichten. In gewissen altfranzösischen und altenglischen Romanen werden wir besser über die Sitten der Zeit und über die Physiognomie der Nation unterrichtet, als in irgend einem Historiker; [...] Man darf also wohl behaupten, daß der Historiker nicht unrecht thut, wenn er den Romanschreiber zu Hülfe ruft." Moreover, many literary critics argued that the realm of psychological truth remained foreign to historians. In 1829, therefore, Wilhelm Meyer saw fit to praise the historical novels of Walter Scott for bringing to life the complex individual psychologies of historical actors in a way the historian never could: Mit den feinen Fühlhörnern dichterischer Einbildungskraft, mit jenem, den Dichtern eigenen Divinationsvermögen hat er oft die geheimen Fäden des Zusammenhangs der Ereignisse, die verborgenen Triebfedern der Handlungen entdeckt; er hat manchen historischen Charakter, mit psychologischer Wahrheit gezeichnet, uns so lebendig vor Augen gestellt, wie es die Geschichte nicht vermag [...] darum betrachtet selbst der ernste Geschichtsforscher seine Gemälde mit Wohlgefallen.12 Likewise, towards the end of the century, Franz Hirsch alluded in his essay Geschichte und nationale Erziehung (1882) to this superior quasi-religious intuitive capacity (Divinationsvermögen) of the writer: Die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte kommt nämlich nur in großen Zügen und Resultaten auf uns herab; selbst der größte Historiker kann ihren inneren, ihren menschlichen Zusammenhang nicht darstellen, weil er an die Ueberlieferung gefesselt ist, er vermag 9
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Cit. Hartmut Steinecke (Ed.): Romantheorie und Romankritik in Deutschland. Die Entwicklung des Gattungsverstandnisses von der Scott-Rezeption bis zum programmatischen Realismus. Vol. 2. Stuttgart: Metzler 1976, p. 167. Friedrich Schleiermacher: Ästhetik (1819-1832). In: Hartmut Steinecke (Ed.): Theorie und Technik des Romans im 19. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1970, pp. 4f. Steinecke: Romantheorie und Romankritik (Footnote 9), p. 60. Wilhelm Meyer: Drei Vorlesungen über das Wesen der epischen Poesie und über den Roman und die Novelle insbesondere (1829/1830). In: Ibid., p. 69.
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Anita Bunyan nicht, die Seelenlagen der Personen, die verborgenen Motive ihrer Handlungen, selbst oft nicht ihre Gestalt, ihre Sitten, ihre geistige Bildung u.s.w. zu schildern. Dies ist aber gerade die eben so schöne als schwierige Aufgabe des Dichters, dem sich als einem rückwärts schauenden Propheten die geheimnißvollen Beziehungen des äußeren und inneren Lebens offenbaren, welche dem Geschichtsschreiber verborgen bleiben.13
Other critics such as Friedrich Theodor Vischer and Gustav Freytag distinguished between inner or artistic truth on the one hand and factual or historical truth on the other, in order to elevate what they too regarded as the almost mystical power of the writer to unveil the innermost truths of the past. 14 Critics reflected on the provenance of these enigmatic powers of perception and representation. For his part, in a letter to Gustav Heckenast on the subject of his novel Der Nachsommer, Adalbert Stifter argued that factual knowledge of the past was not sufficient and spoke of the unusual capacity of the writer to bear witness to the life of the past: [Das Geschictrtliche] muß so treu angeeignet werden, daß Dichter und Leser in der Luft jener vergangenen Zeiten athmen, und die Gegenwart für sie nicht ist, dies allein gibt Wahrheit. Aber zu dem ist nicht das historische Wissen allein genug, dies gäbe nur ein hölzernes Gerippe, sondern das historische Mitleben, dieses gibt den Gestalten Fleisch und Blut.15 Similarly, in the foreword to Ekkehard, his historical novel of 1855, Joseph Victor von Scheffel made reference to the writer's creative and imaginative access to the truth of the past. Convinced that historical writing and fiction should call a truce and work together, he reflected on the crucial role of the creative imagination in bringing the past to life. He abjured the approach of the antiquarian historian who indulged in the ultimately fruitless collection of material, claiming that such a method could become an end in itself: Das Sammeln alterthümlichen Stoffes kann wie das Sammeln von Goldkörnern zu einer Leidenschaft werden, die zusammenträgt und zusammenscharrt, eben um zusammen zu scharren, und ganz vergißt, daß das gewonnene Metall auch gereinigt, umgeschmolzen und verwerthet werden soll. Denn was wird sonst erreicht? Ein ewiges Befangenbleiben im Rohmaterial, eine Gleichwerthschätzung des Unbedeutenden wie des Bedeutenden, eine Scheu vor irgend einem fertigen Abschließen, weil ja da oder dort noch ein Fetzen beigebracht werden könnte, der neuen Aufschluß gibt, und im Ganzen - eine Literatur von Gelehrten für Gelehrte, an der die Mehrzahl der Nation theilnahmslos vorübergeht und mit einem Blick zum blauen Himmel ihrem Schöpfer dankt, daß sie nichts davon zu lesen braucht.16 In Scheffel's view this almost obsessive accumulation of particular detail frequently caused the antiquarian historian to lose sight of the general picture. By contrast, only the writer possessed true insight into the general and universal features of experience. Granted, the scientific conscientiousness of the historian, and in particular that of the chronicler, brought forth many interesting details, but it failed to produce a total impression of the past. It is interesting to note, however, that this
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Cit. Bucher: Realismus und Gründerzeit (Footnote 8), pp. 491f. Friedrich Theodor Vischer: Gottfried Keller. Eine Studie. In: Steinecke: Theorie und Technik des Romans (Footnote 10), pp. 80f.; Gustav Freytag: Willibald Alexis. Isegrimm (1854). In: Bucher: Realismus und Gründerzeit (Footnote 8), p. 287. Cit. Steinecke: Theorie und Technik des Romans (Footnote 10), p. 51. Cit. Bucher: Realismus und Gründerzeit (Footnote 8), p. 294.
>Notwendige Genossenschaft
Notwendige Genossenschqft
scientific< concept of history and the postmodern rhetorical concept of history as mutually exclusive. Jörn Rüsen: Rhetorik und Ästhetik der Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke. In: Eggert: Geschichte als Literatur (Footnote 3), pp. 1-11. Esp. p. 3. Leopold von Ranke: Idee der Universalgeschichte in Vorlesungseinleitungen. In: L. v. R.: Aus Werk und Nachlass. Vol. 4. Ed. by Volker Dotterweich, Walter Peter Fuchs. Munich: Oldenbourg 1975, p. 72. Ranke: Erwiderung auf Heinrich Leo's Angriff. In: L. v. R.: Sämmtliche Werke. Vol. 53/54 (Footnote 1), pp. 659-666. Cit. pp. 664f. Notizen. In: Preußische Jahrbücher 14 (1864), pp. 468-470. Cit. p. 469.
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Consequently, by the end of the century the view expressed by Wilhelm Vischer, Professor of History at the University of Königsberg, had become quite commonplace in the historical profession. In drawing attention to the limits of historical knowledge and to the narrative dimension of historical writing, Vischer was merely reiterating what had become almost a truism among German historians: Indem wir darauf verzichten, der Geschichte unter den exacten Wissenschaften einen Platz anzuweisen, nehmen wir für sie einen solchen unter den künstlerischen Thätigkeiten in Anspruch. Die Geschichtswissenschaft vermag die Thatsachen nicht in ihrer nackten Wirklichkeit, nicht in ihrer Vollständigkeit, nicht unvermittelt wiederzugeben, sondern nur das Bild, das sich dem an ihnen betheiligten oder dem sie beobachtenden Menschen eingeprägt, und das dieser, bewußt oder unbewußt, dichterisch, künstlerisch schaffend zum Ausdruck, zur Darstellung bringt.44 Towards the end of the nineteenth century this recognition of the narrative elements of historical writing was leading some historians to strikingly modern interpretations of the art of historical representation. For some historians precisely these narrative qualities rendered the creation and transmission of the historical narrative a valid object of historical enquiry. Wilhelm Vischer alluded to this point in his discussion of the transmission of historical facts: [...] aber immer wird sich die Umgestaltung vollziehn unter dem Eindruck, den ein Geschlecht, den ein Volk von den fraglichen Thatsachen erhalten hat, und den es noch verspürt, es wird also die Ausbildung der Sage auf der Grundlage einer großartigen historischen Wahrheit vor sich gehn und dadurch der Gehalt der Sage selbst und ihre Bedeutung eine eminent historische werden, ja dieser historische Gehalt und diese historische Bedeutung können unter Umständen wichtiger sein, als was wir gewinnen würden, wenn wir über dieselben Thatsachen genaue Berichte hätten und uns eine sogenannte beglaubigte Geschichte construiren könnten.45 The advent of a professional and >scientific< mode of historical writing in the nineteenth century did not therefore always lead to a simplistic division of the realms of fiction and historical writing. Unsystematic they may have been, but the varied and insightful reflections of nineteenth century intellectuals on the relationship between fiction and historical writing frequently anticipated the modern view that fiction and history remain notwendige GenossenProvokationen< der Literaturgeschichte für jede neue Studentengeneration liegt sicher im literarischen Kanon dieses Jahrhunderts. Die Studierenden reagieren gelegentlich mit Langeweile, und uns Germanisten wird das Herz schwer, wenn wir sehen, wie sie Trost finden in der russischen, französischen oder englischsprachigen Literatur derselben Zeit. Vor dreißig Jahren haben wir unsere Professoren ähnlich enttäuscht; gleichzeitig haben uns fast alle anderen Aspekte dieses großen Jahrhunderts so fasziniert, daß wir nicht mehr davon loskamen. Das Jahrhundert ist offensichtlich so schwierig, daß die Literaturwissenschaft ihm nicht immer gewachsen war, zumindest seine Komplexität nicht angemessen vermitteln konnte. Da die Literaturgeschichte sich nicht einfach eine neue Literatur wählen kann (so wie Brecht nach dem 17. Juni 1953 der Partei vorgeschlagen hatte, sich ein neues Volk zu wählen),2 da außerdem der Verschleiß an Stammspielern den Bestand an frischen Kräften längst übersteigt (Hebbel mußte ausgewechselt werden, wie lange hält Keller noch durch?), da hier also in den 70er Jahren die meisten Reserven schon aufgebraucht wurden, müssen wir vielleicht doch über neue Spielregeln (sprich: neue methodische Zugriffe) nachdenken. Früher meinte man, die Hauptschwierigkeit läge in der Periodisierung. In den 70er Jahren wollte man deshalb die übliche Ausklammening des Revolutionsjahres 1848 und des ganzen Vormärz korrigieren.3 Zur Begründung einer Kanon-Korrektur konnte man sich auf eine ganze Reihe interessanter und wichtiger Texte berufen. Umgekehrt 1
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Thomas Mann: Leiden und Größe Richard Wagners. In: T. M.: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. 9. Reden und Aufsätze I. Frankfurt/M.: Fischer, 21974, S. 363-426. Hier S. 363. [Hervorhebung H. R.]. Vgl. Bertolt Brecht: Die Lösung. In: B. B.: Werkausgabe. Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 10. Gedichte 3. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967, S. 1009f. Vgl. Peter Stein: Epochenproblem »Vormärz« (1815-1848). Stuttgart: Metzler 1974.
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betonte Sigrid Weigel 1996, die historische Perspektive auf das Jahrhundert sei selektiv und unvollständig geblieben und habe viele wichtige Aspekte in den Schatten der 48er Revolution gedrängt.4 Diese Beispiele zeigen, wie groß die Schwierigkeiten sind, einen begrifflichen Rahmen für eine Auseinandersetzung mit dem Jahrhundert zu finden; durch den Austausch der Periodisierungskriterien werden sie nicht geringer. Der Gegenstand leidet an einem Übermaß an Theorie. Das fängt schon damit an, daß die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts sich selbst als nationale Literatur< verstand - und lange noch als solche rezipiert wurde.5 Sie wurde sozusagen, wie Nietzsche meinte, »sogleich graubehaart geboren«. 6 Der Makel der theoretischen Überfrachtung haftet aber der Literatur des g a n z e n Jahrhunderts an; ohne einen theoretischen Rahmen - Foucault spricht von den »großen, unbeweglichen und stummen Sockel[n], die die Verschachtelung der traditionellen Berichte mit einer dicken Schicht von Ereignissen bedeckt hatte«7 - ohne einen solchen Frame wäre sie nicht existent. Ganz im Gegensatz übrigens zur französischen und russischen Literatur der Zeit. Auch die englischsprachigen Dichter sind, wie Oscar Wildes Fazit nahelegt, durch ihren robusten Körperbau vor den Strapazen der Theorie geschützt8 und lassen sich auch außerhalb von Bibliotheken und ohne theoretisches Rüstzeug lesen; hier sind es eher die Dichterinnen, die des Geleitschutzes durch Theorie bedurften. Die deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts ist durchweg abhängig von theoretischen Konstrukten, unter denen die weniger strapazierfähigen Texte verschwinden. Ursache der theoretischen Überwucherung sind weniger ideologisch motivierte Polarisierungen (obwohl auch an denen kein Mangel ist), sondern ein genuin literaturwissenschaftliches Anliegen: Da das neunzehnte Jahrhundert als erste Periode der >modernen< Literatur gilt, wurden fast alle neuen Literaturtheorien an diesem Gegenstand erprobt. 9 Einen Ausweg aus dem bablyonischen Theoriegewirr weisen 4
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Vgl. Sigrid Weigel: Vorwort. Der Nachmärz als Laboratorium der Moderne. In: S. W., Thomas Koebner (Hg.): Nachmärz. Der Ursprung der ästhetischen Moderne in einer nachrevolutionären Konstellation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 9-18. Hier S. 9. Vgl. Queenie D. Leavis' Untersuchungen zu den vergleichbaren Strukturen in der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts und ihre Überlegungen zu den »conditions required to produce a great national literature« in: Henry James and the disabilities of the American novelist in the nineteenth century. In: Q. D. L.: Collected Essays. Bd. 2. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1985, S. 108-125. Hier S. 108. Es hing also nicht nur mit dem deutschen Kulturnationalismus zusammen, daß die Kategorie nationale Literatur so lange wirkte. Jauß' >Provokation der Literaturwissenschaft ist mehr als ein deutsches Phänomen. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Werke. 3 Bde. Hg. v. Karl Schlechta. München: Hanser 1956, Bd. 1, S.209-285. Hier S. 258. Michael Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 71995, S. 9. Oscar Wilde: The Decay of Lying (1889). In: Ο. W.: De Profundis and other writings. Harmondsworth: Penguin 1973, S. 55-87. Hier S. 58. Vgl. Peter Uwe Hohendahl: Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830-1880. München: Beck 1985, bes. S. 11-54. Die Diskussion ist charakteristisch für das Bestreben, eine komplette Literaturtheorie - in diesem Fall eine institutionell verankerte, materielle Literaturwissenschaft - an einem mit Selbstverständlichkeit als angemessen postulierten Objekt, der Literatur des Vor- und Nachmärz, zu exerzieren. Als Kontrast zu Hohendahl, aber von der gleichen Überzeugung, was den Wert des 19. Jahrhunderts für die Literatur-
Vormärz - Systemtheorie und
Literaturgeschichtsschreibung
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vielleicht die Arbeiten des unlängst verstorbenen Niklas Luhmann und seiner Interpreten. Der Umfang dieses Beitrages reicht allerdings kaum für mehr als eine kurze Darstellung von drei denkbaren systemtheoretischen Ansätzen zur Literatur des neunzehnten Jahrhunderts - beschränkt auf eine Periode, den Vormärz, auf den die Systemtheorie bislang kaum angewandt wurde.10 Im Kontext des neunzehnten Jahrhunderts hat jede Diskussion über Systemtheorie noch eine zusätzliche Funktion. Die Abhängigkeit der deutschen Literatur jener Zeit von einem theoretischen Rahmen verweist nicht nur auf die Uneigenständigkeit der Primärtexte; sie befrachtet die Literaturwissenschaft mit fachfremden Dimensionen. Deshalb ist von neuen theoretischen Zugriffen - in diesem Fall von der Systemtheorie - ein hohes Maß an Selbstreflexion zu verlangen. Da die Auseinandersetzung mit dem Thema bislang unter der Austauschbarkeit von Theorien und abgeleiteten Periodisierungen gelitten hat, sollten wir nach Möglichkeiten suchen, solche Probleme mitzureflektieren und die Metasprache des Fachs in Bezug zum Gegenstand zu thematisieren. Wer solche selbstreferentiellen Ansprüche formuliert, kommentiert nicht nur den Untersuchungsgegenstand neunzehntes Jahrhundert^ sondern auch das Verfahren >Systemtheorie< und gesteht, daß er sich Resultate weniger für ein neues Verständnis des Gegenstandes als für die Verfeinerung der Methode erhofft. Das mag defätistisch klingen; kluges Marketing sollte ein Produkt nicht im voraus schon abwerten. Doch in (überheblicher) Bescheidenheit sei betont, daß die Anwendung der Systemtheorie auf die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts zur Erhellung des Gegenstandes bislang nicht sonderlich viel geleistet hat. Robert Holub ist durchaus zuzustimmen, wenn er die Leistungen der Systemtheorie im Hinblick auf die traditionellen Aufgaben der Literaturwissenschaft als »rather disappointing« bilanziert. Systemtheorie habe kaum mehr geleistet als längst erkannte und erforschte literarische Gegenstände mit einer neuen terminologischen Schicht zu überziehen. Im Gegensatz zur marxistischen oder feministischen Methode habe die Systemtheorie nicht einmal zur Erweiterung oder Revision des Kanons beigetragen.11 Die vorliegenden systemtheoretischen Untersuchungen zur Literatur des neunzehnten Jahrhunderts bestätigen dieses allgemeine Urteil. In seiner 1995 erschienenen
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theorie anbelangt, vgl. Peter Stein: Zum Verhältnis von Literatur und Öffentlichkeit bis zum deutschen Vormärz. Oder: Wie schlüssig ist Jürgen Habermas' »Strukturwandel der Öffentlichkeit« für die Literaturgeschichte? In: Helmut Koopmann, Martina Lauster (Hg.): Vormärzliteratur in europäischer Perspektive. Bd. 1. Öffentlichkeit und nationale Identität. Bielefeld: Aisthesis 1996, S. 55-84. Daß hier weder eine noch so bescheidene Erklärung von Luhmanns Systemtheorie gegeben werden kann, noch die ihrer generellen Anwendung auf die Literatur, ist unvermeidbar. Es sei auf verschiedene einführende Hilfsmittel hingewiesen, beispielsweise die sehr klare Darstellung bei Andreas Dörner, Ludgera Vogt: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, politische Kultur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 125-139; oder Harro Müller: Systemtheorie und Literaturwissenschaft. In: Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 201-217. Robert Holub: Luhmann's Progeny. Systems Theory and Literary Studies in the Post-Wall Era. In: New German Critique. Special Issue on Niklas Luhmann. 61 (1994), S. 143-160. Hier S. 150.
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Schrift Die Kunst der Gesellschaft12 geht Luhmann über längst festgelegte, grobe literaturgeschichtliche Klassifizierungen kaum hinaus: Literatur habe sich im Laufe der deutschen Klassik als Kommunikationsmedium verselbständigt; vollzogen habe dieser Prozeß sich schließlich im Begriff einer autonomen Γart pour I'art. Luhmann diagnostiziert gewissermaßen eine Kunstperiode, die mit der Zeugung Mallarm6s anfangen und an seiner Wiege aufhören würde. Eine ähnliche Tendenz, das neunzehnte Jahrhundert auf ein Treibhaus der Artistik zu reduzieren, ist beim vielleicht bekanntesten Vertreter der literarischen Systemtheorie nicht zu verkennen: in Dieter Schwanitz' Untersuchung Systemtheorie und Literatur, die 1990 als »neues Paradigma« auf den Markt kam.13 Weil Schwanitz teilweise in Anlehnung an Luhmann, in seinen Beispielen sich aber vor allem auf Hofstadters Goedel, Escher, Bachu stützend - auf der absoluten Selbstreferenz des Kunstwerks insistiert und die Systemhaftigkeit, die »rekursive[n] Schleifen«,15 zum tragenden Stilmittel erklärt, kann es kaum verwundern, daß seine Untersuchung mit Lewis Carroll anfängt und später bei Beckett landet, mit einem kurzen Exkurs zu Shakespeare und Hamlet. Schwanitz führt viele literarische Beispiele an, trotzdem werden das neunzehnte Jahrhundert und der Realismus, der es konstituiert, kaum besprochen. Das schränkt die Nützlichkeit des Werkes ein - nicht nur für unser Thema und die im Vormärz keimenden Phänomene >Gebrauchsliteratur< und >RealismusKunst< und das Untersystem >Literatur< ableiten) gleichsetzen. Der Beziehungscharakter von Luhmanns System erinnert sowieso unmittelbar an Saussure. Der Filter, der in der strukturalistischen Literaturwissenschaft Undefiniert blieb (Sklovskijs Definition ging kaum über die postulierte Differenzierung zwischen einer poetischen und einer praktischen Sprache hinaus),27 wird in der Systemtheorie vordergründig behandelt, aber das Modell der Selbstreferentialität ist beiden Ansätzen gemeinsam (sowie auch der Widerspruch zwischen Ästhetik und Positivismus), und die Erwartung erscheint legitim, von der Systemtheorie ähnliche Einsichten in Literatur vermittelt zu bekommen, wie sie dem Strukturalismus zu verdanken sind. Gerade diese Ähnlichkeit aber läßt die Frage aufkommen, ob jede Diskussion um Literatursysteme unbedingt mit Systemtheorie zu tun haben muß. Daß bei Diskussionen Uber literaturinteme Systeme die Systemtheorie ergänzend und hilfreich herangezogen werden kann (was in der Vergangenheit allerdings selten geschah), ist eine These, die hier mit einem kurzen Beispiel begründet und mit einem Hinweis auf die Arbeit Jürgen Links untermauert werden soll 2 8 25 26 27
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Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil (Anm. 6), S. 218. Tynjanov: Die literarischen Kunstmittel (Anm. 24), S. 146. Zur Ausdifferenzierung der diesbezüglich >schwankenden< Terminologie von Jakobson und Sklovskij vgl. Jurij Striedter: Zur formalistischen Theorie der Prosa und der Literaturrevolution. In: J. S. (Hg.): Russischer Pormalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: Fink 1971, S. ix-xxxiii. Hier S. xxi. Zur nicht vollzogenen Systematisierung dieser Begriffe vgl. Boris Ejchenbaum: Die Theorie der formalen Methode (1915). In. B. E.: Theorie und Geschichte der Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1965, S. 8. Auch Müller: Systemtheorie (Anm. 10), S. 215 betont, »welchen Zugewinn das Auflöseund Rekombinationsverfahren der interdisziplinär angelegten Systemtheorie bietet, wenn man es mit anderen Verfahren - z. B. diskursgeschichtlichen - verknüpft«.
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In den späten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts finden wir deutliche Beispiele für den Systemcharakter des lyrischen Ausdruckes. In der lyrischen Produktion zwischen 1890 und 1914 gibt es einen kontinuierlichen Diskurs, der unter anderen von Hofmannsthal, Liliencron, George, dem Stundenbuch und Buch der Bilder, Richard Dehmel, Georg Heym und dem jungen Benn gepflegt wurde. Man darf diesen Strang identifizieren, ohne daß man den einen oder den anderen Autor als Ausgangspunkt oder geni locus bezeichnen muß - das heißt, es geht hier kaum um >EinflüsseMikroepochenLiteratur< durch Selbstreferentialität Bedeutung produziert, obwohl Link die in der Kollektivsymbolik vollzogene Codierung nicht als selbstreferenziell hinstellt) und zum Poetiksystem Emanuel Geibels.34 Daß beim ersten Aufsatz Links Ausgangspunkt eher Foucault als die Systemtheorie ist, spielt hier keine Rolle, weil die Korrektur, die Link an Foucaults Vorstellung vom Diskurssystem vornimmt, gerade die Notwendigkeit der sozialen Verankerung von Diskurssystemen hervorhebt und somit mit dem Bestreben der Systemtheorie, das System Literatur neben anderen sozialen Kommunikationssystemen zu verorten, absolut konform geht. Link untersucht anhand von Geibels Werk die sog. >Stagnation< der Lyrik in den mittleren Jahrzehnten unseres schwierigen Jahrhunderts und das Problem, mit dem diese Stagnation eine sonst mit bunten Epochenbezeichnungen großzügige Literaturwissenschaft konfrontiert. Unsicher, ob Stagnation als eine literarische Bewegung gelten könne (etwa unter der Rubrik Epigonalität - es passiert nichts, es passiert doch etwas, nämlich die >Epigonalitätvorbereitet< haben. Adlers literatursemiotischer Ansatz mag als Korrektur zum >reduktionistischen< Literaturverständnis der 70er Jahre erscheinen.38 Die von mehreren Seiten
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Beispielhaft ist der fnihe Aufsatz: Günter Oesterle: Arabeske und Zeitgeist. Karl Immermanns Roman »Münchhausen«. In: Martina Lauster (Hg.): Deutschland und der europäische Zeitgeist. Kosmopolitische Dimensionen in der Literatur des Vormärz. Bielefeld: Aisthesis 1994, S. 215-240. Vgl. Stein: Epochenproblem »Vormärz« (Anm. 3), S. 1-8. Hans Adler: Soziale Romane im Vormärz. Eine literatursemiotische Studie. München: Fink 1980. Vgl. weiter ders.: Literatur und Sozialkritik. Versuch einer historischen Spezifikation
Vormärz - Systemtheorie und
Literaturgeschichtsschreibung
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identifizierten binnenliterarischen Krisenerscheinungen im Vormärzroman - für Adler Symptome der »Unsicherheit der Literatur gegenüber Modemisierungsansprüchen«39 - sind aber allein nur mit Verfahren zu erklären, die nicht nur binnenliterarisch vorgehen, sondern über »die romaninteme Reaktion auf die Maschinenwelt«40 hinausgehen und die Literatur als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium im Kontext einer konkreten Gesellschaft verstehen, die die Literatur durch ihre Tätigkeit plausibilisiert. Trotz allen Vorbehalten und ungeachtet der theoretischen Überfrachtung mancher Diskussion zur Systemtheorie, darf mein Aufsatz nicht den Eindruck entstehen lassen, die Systemtheorie bedeute einen weiteren Schritt zurück hinter den Kunst- und Geschichtsgegenstand. Als hätte es einmal eine Literaturwissenschaft gegeben oder als könnte es morgen noch eine geben, die die Unmittelbarkeit zum Sujet hätte - man denke, beispielsweise, an eine Werkimmanenz der Unmittelbarkeit, oder (in diesem Kontext) an eine unmittelbare Sozialgeschichte der Literatur. Ein theoretischer Hintergrund läßt sich - auch bei vermeintlicher Unmittelbarkeit der Darstellung - nicht vermeiden. Es kommt nur darauf an, wie sehr die unterschiedlichen Methoden ihn erkennbar werden lassen. Hinter die Dekonstruktion von Geschichte und dem Werk, die wir den letzten Jahrzehnten verdanken, gibt es kein Zurück mehr. Mit seinen Reflexionen über die Kunst als methodologisches Erkenntnisinstrument - er beschreibt Literaturfcritik als ein »Beobachten dritten Grades«41 - bietet Luhmann eine Chance, über das eigene Gewerbe Klarheit zu gewinnen und durch Verständnis der Methodik die Literaturwissenschaft selber als System aufzufassen. Es mag sein, daß man dann versuchen kann, die offensichtlich rein funktional angelegte Systemtheorie zu unterwandern, sei es von einer sozialistischen Perspektive aus, wie Robert Holub es nahelegt,42 sei es im Sinne einer Subversion durch einen traditionellen Humanitätsbegriff. Die Systemtheorie wird dann zum nützlichen Erkenntnisinstrument. Auch wenn dies auf wenigen Seiten nicht unbedingt deutlich geworden sein mag, sollte man ihr Erkenntnispotential nicht ohne weiteres als »Zukunftsmusik«43 abweisen.
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des sozialen Romans. In: H. A. (Hg.): Der deutsche soziale Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S. 280-307. Vgl. Adler: Soziale Romane im Vormärz. Ebd., S. 112-115. Ebd., S. 164. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 12), S. 102f. Holub: Luhmann's Progeny (Anm. 11), S. 159. Plumpe: Epochen (Anm. 18), S. 58. Plumpes Diagnose beruht allein auf seiner negativen Einschätzung der gegenwärtigen Lage der Germanistik.
Hubert
Lengauer
Kontinuität und Diskontinuität Zur Hermeneutik einer österreichischen Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts
Absichten Im Jahr der von Historikern (und manchmal auch Germanisten) zelebrierten Erinnerung an die Revolution von 1848 haben die Überlegungen zu Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte einen neuen Schub erhalten. Bei allen Anstrengungen, dieser Revolution eine Nachwirkung und also Tradition im österreichischen Bewußtsein zuzuschreiben, bleibt jedoch das Ergebnis zweifelhaft, und es steht eher zu erwarten, daß die >traditionelle Tradition< bis hinunter zu den Trivialmythen zu der 1898 ermordeten Kaiserin Sisi, also die Konstanz und Wiederkehr des Immergleichen als >wirkliche Wirklichkeit aufgefaßt und öffentlich bestimmend bleiben wird. Liegt eine Begründung zu diesem Sachverhalt darin, daß, wie es eine Expertin formuliert, der Revolution von 1848 von allem Anfang an die geschichtsbildende Wucht fehlte? »Jedem, der die Geschichte Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert studiert, muß die Revolution von 1848 als eine schwunglose Angelegenheit erscheinen.«1 - »Dem Bärtigen kommt dieses freilich anders vor«,2 wäre mit Lichtenberg dagegen einzuwenden, zumal dem Österreicher, der die Berichte über die Wiener Revolution, besonders über die Euphorie des Märzen liest. Über diesen Enthusiasmus von 1848 haben sich freilich andere Erinnerungen und Bedenken geschoben: die der franzisko-josephinischen Epoche, welche viele der revolutionären Impulse von 1848 auf kaltem Wege realisiert und so dem Ursprung das Pathos .genommen hat und welche schließlich in den glänzenderen literarischen, künstlerischen, wissenschaftlichen Revolutionen < der Jahrhundertwende kulminierte. Und schließlich kam für die Nachwelt, natürlich erst nach 1945, die Erinnerung dazu, daß, wie Heinrich Benedikt es formulierte, der »deutsche Student mit grölender Stimme den Chor der Freiheitsdurstigen gefuhrt« habe und »1848 [...] an der Spitze der Revolution marschiert« sei.3 Für Benedikts harsches Urteil mag wiederum die Erfahrung des »deutschen Studenten mit grölender Stimme« zur Zeit des Nationalsozialismus in Österreich mitverantwortlich sein.4
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Eda Sagarra: Tradition und Revolution. Deutsche Literatur und Gesellschaft 1830 bis 1890. München: List 1972, S. 223. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. Bd. 1. Sudelbücher. München: Hanser 1968, S. 216. Heinrich Benedikt: Das Zeitalter der Emanzipationen 1815-1848. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1977, S. 145. Vgl. Michael Gehler: Korpsstudenten und Nationalsozialismus in Österreich. In: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), H. 1, S. 1-27.
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Vor 1945 war da gewiß manches anders gesehen worden, auch in der Literaturgeschichte, und die damals zuständigen Literarhistoriker hatten, wenn sie nicht (wie Josef Nadler) das rassisch-räumliche Konzept über das geschichtlich-politische geschoben hatten, die Zeit von 1866 bis 1938 als die des Ausschlusses Österreichs von Großdeutschland gefaßt, der durch den >Anschluß< von 1938 als einer Ait >Wiedervereinigung< rückgängig gemacht worden sei. Bei alledem hat die Literatur eine Rolle gespielt, als begleitende, kommentierende, legitimierende Instanz einerseits, als Beweismittel in der einen oder anderen Richtung politischer Entscheidung andererseits, und nicht alle vermochten, wie Karl Kraus, in der gemeinsamen Sprache den Unterschied zwischen den Deutschen und den Österreichern zu lesen.5 Im Selbstbewußtsein der Schriftsteller hat sich das Problem spätestens mit Beginn der 60er Jahre und dem Abtreten der älteren Generation von Schriftstellern erledigt, in der Literaturgeschichtsschreibung, welche die dadurch hervorgerufenen Brüche und Verwerfungen, Traditionen und Traditionsbrüche feststellen will, aber nicht, besonders dann nicht, wenn (wie hier) vorausgesetzt wird, daß Literaturgeschichte von Literatur u n d Geschichte handelt, von Geschichte in der Literatur und von Literatur in der Geschichte. Es geht im folgenden also um Vorüberlegungen zu einer österreichischen Literaturgeschichte unter den Aspekten von Kontinuität und Diskontinuität, oder, um es mit einer schon klassisch gewordenen Formel auszudrücken, >Tradition und Revolution^ Das Problem wird in einer Art rückläufiger Literaturgeschichte angegangen, es soll aber zu keiner Razzia auf Literarhistoriker führen; deshalb sind literarische Texte jeweils der Ausgangspunkt, die selber die Tradition >erschreiben< und so Kontinuität herstellen, allerdings unter der Voraussetzung wahrgenommener Diskontinuität. Die Beispiele der behaupteten kontinuierlichen Tradition sollen also die historischen Brüche (im besonderen die von 1945, 1918 und 1848) als Motivationsgrund erhellen. Das setzt voraus, daß literarische Werke nicht als nachahmende Verdoppelung von Geschichte begriffen werden.
1. Heimito von Doderer oder das lange Ende des langen neunzehnten Jahrhunderts Der österreichische Erfolgsroman der 50er Jahre, Die Strudlhofstiege (1951) betreibt durch die Hauptfigur Melzer die bruchlose Fortsetzung des neunzehnten Jahrhunderts in die 20er Jahre, ja, in der Suggestivität dieser Figur, bis in die 50er Jahre. In seiner Zeitstruktur erstellt der Roman ein Kontinuum zwischen den Jahren 1910— 1911 und 1923-1925, das wohl nach der Erfahrung der Zeitgenossenschafit so nicht bestanden haben kann. Dennoch wird es behauptet. Die Tätigkeit und Lebensweise des Beamten der Tabakregie Melzer ist die Fortsetzung der Tätigkeit und Lebensweise des Leutnants (später Majors) Melzer mit anderen Mitteln. Beharrlich wird 5
Vgl. Hfermann] M[öcker]: Das Bonmot vom »gemeinsamen Unterschied«: nicht von Karl Kraus sondern von...? Oder was England von Amerika und Österreich von Deutschland trennt. In: Österreich in Geschichte und Literatur 42 (1998), Η. 1, S. 23-28.
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er auch weiter mit seinem militärischen Titel angeredet. Die k. u. k. Monarchie lebt so personifiziert in den zwei Säulen ihres einst wackligen Bestandes, Militär und Bürokratie, weiter. Autoren wie Karl Kraus, Joseph Roth, Franz Theodor Csokor, Robert Musil haben sich der historischen Veränderung in einer ganz anderen Weise gestellt und sie - wenn auch jeweils sehr unterschiedlich - akzentuiert. Doderer ebnet den Geschichtsverlauf durch seine Figurenkonzeption ein. Sein Held hat im Krieg alles mitgemacht, aber nichts von Bedeutung erlebt: Melzer hat 1914-1918 so ziemlich mitgemacht, was es da mitzumachen gab: Gorlice, Col di Lana, Flitsch-Tolmein ... Nennbar Unvergeßliches! Aber der Mensch kommt, im Kriege erlebend, nicht zu sich selbst, sondern immer wieder zu den Anderen. Die Ernte wird innerhalb der Welt des legal-organisierten Schreckens nicht in den Kern der Person eingebracht, sondern an's Kollektiv zurückverteilt. Daher übrigens bei fast allen die besondere Neigung zu Erzählungen. 6
Doderer und Melzer haben diese Neigung zur Rückverteilung des im Krieg Erfahrenen nicht. Diese Kriegserfahrung wird als »nennbar unvergeßlich« beteuert, aber erzählerisch eben nicht benannt und in ihrer Unvergeßlichkeit gewürdigt. Die Passage, in der der Erzähler sein Verfahren durch die Erfahrungslosigkeit der von ihm erfundenen Person Melzer rechtfertigt, ist in mehrerer Hinsicht aufschlußreich. Der Erzähler gibt hier das einzige Mal seinen Standpunkt preis, zeitlich und örtlich: ein kaltes Hotelzimmer in Oslo, April 1945. Also ist auch der Zweite Weltkrieg in die Reflexion miteingeschlossen. Gab es davon, wie für Melzer aus dem Ersten, auch nichts Bedeutendes zu erzählen? Gefolgt wird die Passage von einer (in ihrer Intensität auch einmaligen) direkten Leser-Anrede über das >Handeln< in der Geschichte: »(Nebenbei, lieber Leser, gedachter und geachteter Leser, was hältst du eigentlich vom Handeln - ich meine: gehört es wirklich uns? ist es für uns immer bezeichnend? [.. .].)«7 Von der ethischen Fragestellung wird dann aber rasch auf die gattungstheoretische ausgewichen und die dramatische Literatur in Frage gestellt. Die Romanfigur Melzer ist weithin der Nicht-Handelnde, und das Militär ist gewissermaßen das beste Ambiente für das NichtHandeln: Wie beim Militär, wo man nicht irgendwohin geht, sondern einfach irgendwohin kommt, ist Melzer, als der Zusammenbruch von 1918 die militärische Laufbahn unseres damaligen Majors beendet hatte [...], zur österreichischen Tabakregie »gekommen«, und zwar als Amtsrat [...]. Gut, so diente er weiter.8
Da ist natürlich auch von der Verantwortung im Krieg die Rede, und so auch nicht nur von 1918 und Melzer, sondern auch von 1945 (und Doderer); vom Befehlsnotstand und von der Wehrmacht, mit der viele weit herumgekommen sind, aber, so hat es den Anschein, nicht gehandelt haben. Die ästhetische Form, in der hier das >Handeln< in der Geschichte und die Bruchlinien der Geschichte zum Verschwinden gebracht werden unter der erzählten Kontinuität von Person und Habitus, schreit geradezu
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Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege. München: Biederstein 1951, S. 85. Ebd., S. 85f. Ebd., S. 86.
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nach einem diese Verdeckung kompensierenden historischen Kommentar des Lesers. »Jedes avis au lecteur ist verdächtig«,9 hatte Doderer den Hinweis abgeschlossen und eben den Verdacht auf sich gelenkt. Der Roman ist aber selten im Zeichen dieses Verdachts gelesen worden; der diskrete Hinweis auf den April 1945 ist nicht gesehen worden in der kontinuierlichen Ordnung über die Zeiten, die der Roman sonst anbietet. Geht man dem Hinweis nach, so führt er zu den Brüchen von 1933 und 1938, die so entscheidend für die Gegenwartsgeschichte sind, aber ihrerseits auf Kontinuitäten aus dem neunzehnten Jahrhundert weisen.
2. Geschichtstheoretisches Intermezzo Dem gelernten Historiker Doderer kann das Problem der Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte nicht fremd gewesen sein. Für die deutsche Geschichte ist es in jüngerer Zeit von Thomas Nipperdey in allgemeinen Aspekten, besonders aber in Hinblick auf Deutschland und das Datum 1933 diskutiert worden. »Inwieweit läßt sich 1933 aus so etwas wie der Kontinuität der deutschen Geschichte erklären. Und daraus ergibt sich dann umgekehrt die Frage, ob und wie sich von 1933 her die vorangegangene deutsche Geschichte erklären läßt.«10 Nipperdey bestreitet zwar Kontinuitätslinien nicht, betont aber zugleich »das Element der Kontingenz, des Zufälligen«,11 das mit der exzeptionellen Persönlichkeit des Österreichers Adolf Hitler in die deutsche Geschichte getreten sei. Hitler sei keine historische Notwendigkeit gewesen, er habe aber den deutschen Nationalismus um eine entscheidende, sozusagen österreichische Komponente ergänzt, dem »anti-etatistisch-irredentistischen großdeutsch-völkischen Nationalismus der Besiegten von 1866, der Österreicher«. Auch der Antisemitismus zähle nicht »zu den dominanten Konstanten der deutschen Geschichte [...]. Und 1933 kam Hitler nicht an die Macht, weil er Antisemit war; das nahm man nur (schlimm genug) in Kauf«. Er ist Hitlers Mitgift aus dem Wien der Jahrhundertwende, dem Wien Karl Luegers. Insgesamt fügt sich Nipperdeys Erklärung zu einem kleindeutsch-liberalen Modell, das den >Bruch< von 1933 auf die österreichisch-dämonische Figur Hitler auslagert: Hitler knüpfe an (deutsche) Kontinuitäten an, breche sie aber dann; der Begriff der Kontinuität sei anwendbar auf das, was die Machtübernahme ermöglicht hat, nicht auf den Kernbestand des Nationalsozialismus selbst, nicht auf die Konsequenzen: »hier kann nur im eben beschriebenen Sinn von einer partiellen Kontinuität, einer Mischung von Anknüpfung und radikaler Unterscheidung die Rede sein«.12 9 10
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Ebd. Thomas Nipperdey: 1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte. In: Historische Zeitschrift 227 (1978), S. 86-111. Hier S. 87. Vgl. auch: Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1992, S. 277 ff. Nipperdey. Ebd., S. 88. Ebd., S. 96, 98, 100. Der in Wien geborene Raul Hilberg betont hingegen in der »Struktur des Vernichtungsprozesses« der Juden eine Bündelung kontinuierlicher institutioneller Faktoren, welche ihn vom Pogrom grundsätzlich unterscheide. Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. 3 Bde. Frankfurt/M.: Fischer 1982. Bd. 1, S. 59f.
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Doderer selbst war in seinem späteren Roman, den Dämonen, eher geneigt, die Brüche in der Geschichte wahrzunehmen und darzustellen, vor allem jenen des 15. Juli 1927, des Justizpalastbrandes, in dem sich für ihn das Finis Austriae ankündigte, in dem er aber gleichzeitig symbolisch einen Ursprungsmythos der Zweiten Republik, die Versöhnung der feindlichen >LagerUmwegen< und >Irrwegen< im Leben dieses sehr >österreichischen< Autors gehört auch der »barbarische Irrtum« (so hat er es später bezeichnet) des Eintritts in die NSDAP im Frühjahr 1933.13 Bis 1936 bestand sein literarisches Hauptprojekt auch in einem Roman mit dem Titel Die Dämonen der Ostmark, den er in einer Beilage für die Reichsschrifttumskammer so anpries: Ich glaube, es ist das erste Mal, dass die jüdische Welt im Osten deutschen Lebensraumes von einem rein deutschen Autor in den Versuchsbereich der Gestaltung gezogen wurde. Denn die bisher darüber schrieben (Schnitzler, Wassermann etc. etc.) waren selbst Juden und ihre Hervorbringungen können wohl seit langem schon nicht mehr ernsthaft gelesen werden.14
3. H o f m a n n s t h a l oder das schwierige E n d e des neunzehnten Jahrhunderts »Ich habe weder mit der österreichischen noch mit der deutschen Literatur einen Zusammenhang. Ich war in der Jugend viel zu dumm, als daß ich ihn hätte gewinnen können. Später kam ich dann selbst.«15 Heimito von Doderer sah sich in seiner Karriere als allein und einzigartig, war es aber weder politisch noch literarisch. Sein Lehrer und Vorbild Albert Paris Gütersloh sagte, Doderer stamme weder aus dem Hofmannsnoch aus dem Zillertal. 16 Das mag auf das Zillertal zutreffen. Hofmannsthals Lustspiel Der Schwierige jedoch, ein Drama des Nicht-Handelns, das am Ende der Habsburgermonarchie die epochale Wende von 1918 zu überspielen versucht, hat in manchem Züge, die den Intentionen Doderers entgegenkommen. 17 Die Genese des Stücks ist kompliziert. Das Ergebnis der Umformung des Stoffes im Krieg ist eine »nostalgische Konzeption«, wie Martin Stern das nennt, mit einer »vermutlich von Hofmannsthal gewollte[n] Diskrepanz zwischen dem im Dialog verankerten Datengeriist und dem irrealen Zustand einer Gesellschaft nach einem Krieg ohne Folgen«. Trotz der Bedenken von Zeitgenossen änderte Hofmannsthal daran
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Heimito von Doderer 1896-1966. Selbstzeugnisse zu Leben und Werk. Ausgew. und hg. v. Martin Loew-Cadonna. Mit einem einführenden Essay von Wendelin Schmidt-Dengler. München: Beck 1995, S. 71 u. 78. Ebd., S. 75. Tagebuchaufzeichnung Doderers vom 23. 2. 1965; zit. nach Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945-90. Salzburg: Residenz 1995, S. 71. Ebd., S. 70. Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hg. von Rudolf Hirsch u. a. Bd. 12. Dramen 10. Der Schwierige. Hg. v. Martin Stern in Zusammenarbeit mit Ingeborg Haase und Roland Haltmeier. Frankfurt/M.: Fischer 1993.
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nichts mehr. Das Stück wurde für die Erstrezipienten und die Kritik zu einer Provokation. »Man hielt das Stück mehrfach für ein Bekenntnis- oder Schlüsseldrama, das Hofmannsthals unverbrüchliche Anhänglichkeit an die untergegangene k. u. k. Monarchie und deren Gesellschaftsleben widerspiegele«. 18 Was es gewiß nicht widerspiegelt, ist die helle Kenntnis, die Hofmannsthal sich von dieser Gesellschaft erworben hatte. Gegen diese Erkenntnis und trotz des Krieges ist das Stück geschrieben, und Hofmannsthal scheut sich nicht, zur Verteidigung der Arbeit an der Komödie eine Ahnenreihe kompensatorischer Dichtung von Homer zu Stifter zu entwerfen, dessen Briefe trotz privater Misere und einer ungünstigen Zeit entstanden seien: »[...] diese Jahre in Österreich, die Grimasse von 1848, das Unheil von 1859, das dumpfe Unheil von 1866, diese Jahre, aus denen Grillparzer aufschrie: Wie soll man arbeiten, es ist ja ein Wunder daß man es erträgt zu leben! - und aus dieser Zeit sind diese Briefe.« 19 Das historisch Bemerkenswerte am Ende der Monarchie hat Hofmannsthal erkannt und ebenfalls brieflich festgehalten: »Ihr habt ja keine Ahnung da draußen in Eurem geschichtslosen, ganz monotonen Dasein, was in diesem Österreich jetzt vorgeht«, schreibt Hofmannsthal an Eberhard von Bodenhausen, dies ist jetzt die Agonie, die eigentliche Agonie des tausendjährigen heiligen römischen Reiches deutscher Nation, und wenn aus diesem Kataklysma nichts hervorgeht und in die Zukunft hinübergeht in das neue Reich, vermehrt um ein paar Millionen DeutschÖsterreicher, nichts als ein glatter, platter Nationalstaat - was das alte Reich nie war, es war unendlich mehr, es war ein heiliges Reich, die einzige Institution, die auf Höheres als auf Macht u. Bestand und Selbstbehauptung gestellt war - dann ist, für mein Gefühl, der Heiligenschein dahin, der noch immer, freilich so erblichen und geschwächt, über dem deutschen Wesen in der Welt geleuchtet hat. 20 Schon 1913 hatte er gegenüber Andrian seine Bedenken über die Veränderung Wiens geäußert: Wien ist einer Pöbelherrschaft ausgeliefert, der schlimmsten die es gibt, der des boshaften, stupiden, niederträchtigen Kleinbürgertums, dies ist eine Bande, für die es keinen Namen gibt, nichts erkennen sie über sich, keine Autorität gibts für sie, nicht das erzbischöfliche Ordinariat vermag etwas über sie, nicht der hohe Adel, nicht die öffentliche Meinung die sie, halb mit Recht, als Judenmeinung verschreien [...]. Die Judenschaft ist mächtig genug, aber sie duckt sich vor Autorität, vor dem Ausland, vor bekannten Namen: sie ist aber stark nur zum Bösen, zum Guten ohnmächtig in Wien. Die real existierende Aristokratie sei keine Hoffnung: [...] ich habe das Vertrauen vor dem obersten Stand [...] völlig verloren, und damit meine Achtung vor dem Stand als solchem - die ich, Gott weiß woher, hatte. Ich sehe jetzt die Rolle, die dieser Stand bei allen Katastrophen Österreichs gespielt hat, 1805, 1809 wie
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Ebd. aus dem ausgezeichneten Kommentar von Martin Stem zu Entstehung und Quellen des Dramas S. 147-200. Hier S. 158, 176. Hugo von Hofmannsthal - Eberhard von Bodenhausen: Briefe der Freundschaft. Hg. v. Dora ν. Bodenhausen. Düsseldorf: Eugen Diederichs 1953, S. 234f. Hofmannsthal kommentiert damit seine eigene Arbeit an der Frau ohne Schatten und dem Schwierigen im Sommer 1917. Ebd., S. 235f.
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1848, wie 1859 - mit anderen Augen als vorher - und ich fürchte, mit klareren. Aber ich gewahre nirgends den Stand, ja nicht einmal die Elemente des Standes, welche diesen in der Führung ersetzen könnten.21
4. Verdrängung oder »Trauerarbeit«? - D i e
Reitergeschichte
Die »Grimasse von 1848« schien in der Hofmannsthal-Literatur am ehesten sichtbar in der Figur des den Gehorsam verweigernden Wachtmeisters Lerch aus der Reitergeschichte von 1898: als jenes Ineinander von sexueller und materieller Gier, Anmaßung und Insubordination, das indirekt und militärisch kostümiert auf 1848 zurückwies. Die Hofmannsthal-Forschung hat sich diesem Aspekt allerdings nur mit größter Vorsicht genähert. 22 Jacques LeRider läßt in einer neueren Interpretation diese Vorsicht weitgehend fahren und versucht, die Geschichte für die liberale Idee zu retten. Er behauptet, daß Hofmannsthal - auf vorsichtshalber verschlüsselte Weise - einer liberalen Sensibilität Ausdruck verleihe, welche die Gegenrevolution von 1848/49 als Erbsünde des franzisko-josephinischen Regimes empfindet, daß also die Reitergeschichte »Zeugnis einer fundamentalen historischen Unzufriedenheit« sei, »die es nicht wagt, sich auf direktem Wege auszudrücken.« 23 Das gelingt LeRider nur dadurch, daß er spärliche Andeutungen zum Aussehen des Rittmeisters Rofrano, des Repräsentanten der Militär-Aristokratie in der Novelle, in einem Maße verschärft und zur >Grimasse< verzerrt, die weder textintem begründet ist noch textextern. 24
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Brief v. 24. 8. 1913 aus Aussee. In: Hugo v. Hofmannsthal - Leopold von Andrian: Briefwechsel. Hg. v. Walter Perl. Frankfurt/M.: Fischer 1968, S. 198-201. Hier S. 198f., 199f. Vgl. Martin Stern: Die verschwiegene Hälfte von Hofmannsthals Reitergeschichte. In: Karl Pestalozzi, Martin Stern: Basler Hofmannsthal-Beiträge. Würzburg: Königshausen & Neumann 1991, S. 109-112. Hier S. 111; für Martin Stern bleibt »verschwiegen«, »warum - aus welchem seelischen Fundus heraus - der andere [d. i. der Aristokrat Rofrano] siegte« (S. 112). Einer sozialhistorischen Interpretation wäre der »seelische Fundus« weniger fragwürdig als die Gewaltausübung in der Geschichte (wie in der Novelle); rätselhaft und interpretationsbedürftig bleibt freilich die Perspektive, unter der die Figuren erscheinen. Jacques LeRider: Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende. (Nachbarschaften. Humanwissenschaftliche Studien 6) Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1997, S. 93. Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte. In: Sämtliche Werke (Anm. 17). Bd. 28. Erzählungen 1. Hg. v. Ellen Ritter. 1975, S. 37-48. Die Physiognomie des Rittmeisters wird aus der Perspektive seines Gegenspielers Lerch gesehen und ist nicht auktorial legitimiert. Lerch »sah dicht neben sich das Gesicht des Rittmeisters mit weit aufgerissenen Augen und grimmig entblößten Zähnen« (S. 46) im Gemetzel, und dann, vor der Exekution, die Gestalt des Adeligen als eines sozialen Gegners, »und aus einer ihm selbst völlig unbekannten Tiefe seines Innern stieg ein bestialischer Zorn gegen den Menschen da vor ihm auf, der ihm das Pferd wegnehmen wollte, ein so entsetzlicher Zorn über das Gesicht, die Stimme, die Haltung und das ganze Dasein dieses Menschen, wie er nur durch jahrelanges Zusammenleben auf geheimnisvolle Weise entstehen konnte« (S. 47f.). Der Erzähler legt die kalte Contenance des Aristokraten bei der Exekution verdeckend über dessen möglichen Motive: »Ob aber in dem Rittmeister etwas Ähnliches vorging, oder ob sich ihm in diesem Augenblicke stummer Insubordination die ganze lautlos um sich greifende Gefährlichkeit kritischer Situationen zusammenzudrängen schien, bleibt im Zweifel« (S. 48).
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In den Briefen Hofmannsthals aus der Zeit seines Militärdienstes finden sich keine Entsprechungen, im Gegenteil: »Im ganzen macht mir der Dienst recht viel Freude, sowohl die Moral davon: Unterordnen und Einsetzen der ganzen Person, als auch das Malerische, das hie und da damit verbunden ist.«25 Die Briefpassagen vom 4.10.1894 an Beer-Hofmann über die Aristokraten in seinem Regiment, die fast wörtlich zur Charakteristik des Rittmeisters Rofrano in der Erzählung übernommen werden, sprechen eher die Sprache einer leicht selbstironischen, allenfalls ambivalenten Bewunderung für jene »Radetzky und O'Donnell und Tiefenbach und Herberstein«: [...] und, wenn man nur will, so riechen die nach Wallenstein und nach andern sehr merkwürdigen Intrigen und sehr stilvollen Gobelins des Heiligen Römischen Reiches, wenn auch nicht gerade nach den Heiligen 3 Königen. Ja, sie haben sogar einige ganz einzige Bewegungen der Arme und der Augenlider, die im übrigen Europa nur mehr in Museen zu sehen sind und die ich sehr goutiere 2 6
Insgesamt fällt es schwer, die Geschichte unter die Überschrift »Gedenken an 1848: Eine Trauerarbeit« zu stellen, wie LeRider dies tut, auch wenn es dem Revolutionshistoriker willkommen wäre. Selbst wenn Hofmannsthals Revision seiner Vorstellungen über die Rolle der Aristokratie in der österreichischen Geschichte, wie er sie 1913 gegenüber Andrian geäußert hatte, auf die Reitergeschichte von 1898 vorverlegt werden könnte, wäre immer noch der Begriff der »Trauerarbeit« fraglich für eine Schematisierung, welche der Grimasse des Subalternen (Lerch), die begleitet und kommentiert wird durch die Bilder des Animalischen, die »Grimasse« der kommandierenden Aristokratie in so subtiler Ironie gegenüberstellt, daß sie die Zeitgenossenschaft nicht und die Hofmannsthal-Forschung nur selten wahrgenommen hat. Gegen diese mutmaßliche »Trauerarbeit« wäre eine >Verdrängung< zu nennen, die mit dieser Schematisierung einherging, oder zumindest ein Verschweigen. Es ist das der eigenen Herkunft, die über der Assoziation mit den Hocharistokraten zurücktritt. Hilde Spiel schreibt zu der Phase des Militärdienstes, aus der die Motive Hofmannsthals zur Reitergeschichte stammen: Der k. und k. Dragonerleutnant, der sich mit den jungen Haugwitz, O'Donnell und Starhemberg in seinem Regiment an polnischem Schnaps besoff, um dann hilflos und umnebelt, »da alle Türen offen sind, in eine Menge, mit den rituellen Kerzen erleuchtete, jüdische Interieurs hineinzustolpern«, war den standhaften Glaubensgenossen Isaac Low Hofmanns so fern wie sie sich selbst nach hundert Jahren gewesen wären - hätten sie nun den Weg der Assimilation beschritten oder wären sie in das Land ihrer Väter zurückgekehrt 27
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Der erzählerische Zweifel hat denn auch Interpreten veranlaßt, den Rittmeister aus Gründen militärischer Räson gänzlich zu exkulpieren. Vgl. Volker O. Dum Der Tod des Wachtmeisters Anton Lerch und die Revolution von 1848: Zu Hofmannsthals »Reitergeschichte«. In: The German Quarterly 45 (1972), S. 33-46. Dürr schreibt denn auch, die vermutete Intention Hofmannsthals verstärkend, den Untergang der Monarchie den Ruchlosen und Raffgierigen von 1848 bis 1914-18 zu, für die der Wachtmeister Lerch stehe. Brief v. 2. 11. 1894 an Edgar Frh. Karg v. Bebenburg. In: Hugo von Hofmannsthal: Briefe. 1890-1901. Berlin: Fischer 1935, S.120. Ebd., S. 119. Hilde Spiel: Fanny von Arnstein oder Die Emanzipation. Ein Frauenleben an der Zeitenwende 1758-1818. Frankfurt/M.: Fischer 1962, S. 496. Spiel bezieht sich auf den Brief
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1848 hatte zumindest noch eine Grimasse, aber, janusköpfig wie diese Revolution nun einmal war, auch ein freundliches Antlitz. Das freundliche Antlitz ist das der Formulierung der Grundrechte und darin auch die Emanzipation der Juden. Die Grimasse ist der Antisemitismus, der diesen Fortschritt begleitete. Unter dem Titel De neue Jüden-Biirger-Militz wird im August und September 1848 ein Flugblatt publiziert, in dem ein Ahnherr Hofmannsthals, wie zum Spott des Enkels, in quasimilitärischer Funktion auftaucht: In der Leopoldstadt is a gewolt'ger Lerm, De Jüden wolln alle Bürger wem. [...] Und daß se hobn an tüchtigen Fahnenhalter Habns se gewählt Herrn von Kanawalder. Herr von Hofmannsthal gibt an scharfen Kopral, Herr von Wertheimstein ist gar schön gewachsen und fein, So hat er gemüßt Regimentstremler sein. 28 Der Urgroßvater Isaac Low, ein Wohltäter der jüdischen Gemeinde in Wien, stirbt 1849; sein Sohn Emil Augustin, der hier - wahrscheinlich - noch als Mitglied der jüdischen Bürgermiliz genannt wird, tritt zum Katholizismus über. Werner Volke kommentiert, daß die Bindung zur Mailänderin Petronilla Antonia Cäcilia von Rhö ihm geholfen habe, jene zur Konfession der Väter zu lösen. Vielleicht hat Hofmannsthal mit der Wahl der prächtigen, deutlich sexuell konnotierten Stadt Mailand zum Hintergrund seiner Reitergeschichte diese Option auf anderer Ebene nachvollzogen. Vielleicht hat ihm die Assimilationsgeschichte seiner Familie diese Wahl (und zugleich jene Verdrängung) in der Phase des aufgeheizten Antisemitismus der 90er Jahre nahegelegt. Hermann Broch, der diese Assimilationsgeschichte zum Angelpunkt der Beschreibung von Hofmannsthal und seiner Zeit macht, charakterisiert sie so: »Die bisher staatstreue deutsche Minorität, ihrer Vorzugsstellung beraubt und darob erbittert, degenerierte nun vollauf zu einer großdeutschen Irredenta schier prä-hitlerhaften Gepräges«, und zwar unter Lueger, der, so Broch, »die Situation von
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an den Vater aus Tlumacz in Galizien vom Pfingstsonntag 1896. Siehe Hugo von Hofmannsthal: Briefe (Anm. 25), S. 201f. Zu Hofmannsthals Judentum vgl. Hans Tietze: Die Juden Wiens. Geschichte - Wirtschaft - Kultur. Wien: Edition Atelier 1987, S. 273. Steven Beller: Wien und die Juden. 1867-1938. (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 23) Wien: Böhlau 1993, S. 196 betont, daß sich Hofmannsthal seines Status in der österreichischen Gesellschaftspyramide sehr bewußt gewesen sei, »ungeachtet wie verbissen er sich auch bemühte, diese Tatsache dadurch wettzumachen, daß er mit einem Adel gesellschaftlichen Umgang pflegte, in den er nicht geboren war.« Zu den Wiener Juden heißt es bei Spiel: »[...] sie erreichten 1846, daß der alte Judeneid abgeschafft wurde. Sie umstanden im März 1848 die Bahren ihrer Glaubensbrüder, deren Blut für die Revolution geflossen war, und waren stolz darauf, daß zwei Anführer des Volksaufstandes Fischhof und Goldmark hießen, daß ihr eigener Dichter L. A. Frankl die flammende Rebellenhymne der Universitätsstudenten schrieb.« (S. 496). Friedrich Steiner: De neue Jüden-Bürger-Militz. Flugblatt von August/ September 1848. Zit. nach Joseph Frh. v. Helfert: Der Wiener Parnaß im Jahre 1848. Wien: Manz 1882, S. 339-341. In Frage kommt, neben Emil Augustin v. Hofmannsthal, auch der Mediziner Ignaz v. Hofmannsthal; vgl. Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien in 5 Bänden. Bd. 3. Wien: Kremayr & Scheriau 1994, S. 236.
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1850 samt ihrem Reaktionskurs« 29 wiederherzustellen und die Nationalitätenproblematik durch eine Art innerösterreichischer katholischer Internationale zu lösen versucht habe. Die literarische Traditionslinie, die Hofmannsthal selbst zurück ins neunzehnte Jahrhundert, aber auch für sich entwirft, vermeidet solche Entsprechungen und Bezüge und forciert (in der Rezension zu Saars Novelle Schloß Kostenitz) andere: die der Simplizität und Resignation der österreichischen Dichter seit Grillparzer: Es ist etwas Hilfloses und Frauenhaftes an den meisten; sie verlernen den Verkehr mit Menschen gern und leicht; sie umgeben sich gern mit alten, abgeblaßten und abgegriffenen Dingen; das Weltfremde tut ihnen wohl, und sie stehen sehr stark unter dem rätselhaften Bann des Vergangenen.30
Der Bann des Vergangenen, dem Hofmannsthal erliegt (oder den er ausspricht), negiert freilich die deutlichen politischen Momente bei Saar und schlägt einen weiten Bogen über sie hinweg, zum >Biedermeier< der späten 20er Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, das so, mit einem Schlag, weniger >schwierig< wird als Historiker es notwendig sehen müssen.
5. Infinitesimalrechnung der Geschichte Eine andere Methode als die, geschichtliche Bruchlinien zu überspringen, ist jene, die Geschichte in dermaßen kleine Stücke zu zerlegen, daß sie jedenfalls kontinuierlich erscheint. Einer der Beispielsätze hierfür in Alexander Gerschenkrons Untersuchung des Konzepts der Kontinuität in der Geschichte lautet: »Austria is said to have enjoyed centuries of continuity under the Habsburgs«,31 was nur scheinbar synonym ist mit: »there was no change in the reigning dynasty in Austria«. 32 Beide Verallgemeinerungen werden herbeigeführt durch das, was Gerschenkron »inferential sloppiness, and political bias draped in the guise of scientific truth« nennt. Den Anschein naturwissenschaftlicher Dignität von Kontinuitätsbehauptungen fuhrt Gerschenkron zurück auf Leibniz, dessen Infinitesimalrechnung als Nachweis des Grundsatzes natura non facit saltus gedeutet wird. Kontinuität gewinnt dadurch den Anschein von Naturgemäßheit: [...] some highly positive values came to be attached to it. First, »continuity« was said to be inevitably present at all times and in all places. Second, it was also declared to be a good thing in terms of »1066 and all that.« Obversely, the concept of discontinuity was brushed aside as logically absurd, nonexistent in reality, and ethically reprehensible to boot [...]«
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Hermann Broch: Hofmannsthal und seine Zeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 56. Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. v. Bernd Schoeller in Zusammenarbeit mit Rudolf Hirsch. Bd. 8. Reden und Aufsätze I. Frankfurt/M.: Fischer 1979, S. 139f. Alexander Gerschenkron: On the Concept of Continuity in History. In: A. G.: Continuity in History and Other Essays. Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard Univ. Press 1968, S. 11-39. Hier S. 11. Ebd., S. 12.
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In der Übertragung auf die Sozialwissenschaften trübe sich das Konzept weiter ein: »the hybrid conceptual mass was gladly welcomed to the field of social sciences as a most palatable mixture of scientific cognition and social desirability«33. In dieser Grauzone Leibnizscher Tradition mag auch Adalbert Stifters >sanftes Gesetz< stehen, das er postrevolutionär seinen Erzählungen voranstellt und das die Eruptionen in Natur und Gesellschaft für klein erklärt gegenüber der kontinuierlichen >Gegengeschichte der Liebegroße Geschichten die Gewaltgeschichte, unterläuft. So werden Tradition und Kontinuität >erschrieben< durch eine Ästhetik, welche die Verluste durch diese Gewaltgeschichte kompensiert.35 Es ist nun nicht die Sache des Literarhistorikers,36 die Rechtmäßigkeit oder Naturgemäßheit einer solchen Auffassung zu entscheiden, sondern ihre geschichtliche und ästhetische Bedeutung. Eher und pragmatischerweise ist es so zu denken: At all times and in all cases, continuity must be regarded as a tool forged by the historian rather than as something inherendy and invariantly contained in the historical matter. To say continuity means to formulate a question or a set of questions and to address it to the material.37
Gerschenkrons Material ist freilich etwas einfacher als das Stifters oder das des ihn beschreibenden Literarhistorikers, es sind die statistisch erfaßbaren Zuwachsraten in der Wirtschaft, die Gerschenkron den Konzepten von continuity und discontinuity - ebenfalls interpretierend - unterwirft. »At all times«, sagt Gerschenkron, und die Selbstbeschränkung tut dem Hermeneutiker wohl, »it is the ordering hand of the historian that creates continuities or discontinuities«.38 In verallgemeinernder Anwendung dessen, was er über ökonomisches Wachstum sagt, könnte Geschichte, Literaturgeschichte als Prozeß aufgefaßt werden, der modo paulatim, modo saltatim ablaufe, woraus sich die Aufgabe ableitet, »to engage in the study of crucial processes of sudden change unbothered by the lovers and haters of revolutions who must find for themselves playgrounds and battlegrounds outside the area of serious scholarship.«39
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Ebd., S. 11, 18,20. Vgl. Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. In: Gesammelte Werke in 14 Bdn. Hg. v. Konrad Steffen. Basel, Stuttgart: Birkhäuser 1963. Bd. 2. Studien II, S. 13f. Vgl. dazu: Cornelia Blasberg: Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten. (Rombach Wissenschaften Reihe Literatur 48) Freiburg/ Br.: Rombach 1998, bes. S. 33-44. Eher des philosophischen Ästhetikers, wie etwa Odo Marquard: Kunst als Kompensation ihres Endes. In: O. M.: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen. Paderborn: Schöningh 1989, S. 113-121. Die kontroversen Urteile zu Stifter lassen sich jeweils den dort charakterisierten negativen und positiven Kompensationstheorien des Ästhetischen zurechnen. Siehe bes. S. 115f. Gerschenkron: On the Concept of Continuity (Anm. 31), S. 38. Ebd. Ebd., S. 39.
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Mehr als ein derart offenes Konzept, ein Konzept, das Tradition u n d Revolution, continuity and discontinuity, gleichermaßen bedenkt, scheint derzeit nicht praktikabel, jedenfalls nicht für die österreichische Literatur, vielleicht weil wir - möglicherweise ein kontinuierlicher nationaler Defekt seit Grillparzer - den hegelianischen Marschtritt des Geistes nicht so deutlich heraushören, vielleicht nie herausgehört haben. Wir haben also allen Anlaß, zu jenem offenen System von überlappenden Fäden und Verläufen zurückzukehren, die den konträren Konzepten von >Tradition und Revolution zuzuordnen sind, und die Texte - auch chiastisch, überkreuz, und nicht bloß bestätigend - als mögliche Antworten auf geschichtliche Lagen zu lesen. Und hier auch nicht, um zu prüfen, ob sie ad majorem revolutionis gloriam verfaßt sind (sonst müßten wir unsere Posten verlassen oder in solche für »Dichteraustreibung und Bildersturm« umbenennen, wie Odo Marquard dies Christian Enzensberger anrät), sondern ob und wie ihre Kompensationsleistung nach der »Überforderungskrise« der Kunst gelingt: dem entzaubernden Modemisierungsprozeß der »Versachlichung« entschädigend die »ästhetische Kunst« entgegenzuhalten.40
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Alle Zitate Marquard: Kunst als Kompensation (Anm. 36), S. 114f.
Beatrix
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Gebannte Geschichte Modelle historischer Selbstidentifikation am Beispiel österreichischer Geschichtsdichtungen aus dem neunzehnten Jahrhundert
Historische Dichtung zählt im neunzehnten Jahrhundert und im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts zweifelsohne zu den Liebkindern der literarischen Öffentlichkeit. Allein bei der Publikation von historischen Romanen weist der quantitative Trend seit 1820 stetig und steil nach oben.1 Daß man (nach einem Wort von Alfred Döblin) mit Historie etwas will2 und die Vergangenheit in keinem Fall >um ihrer selbst willen< erinnert wird,3 ist eine ebenso treffende wie triviale Einsicht. Weniger trivial sind ihre kulturhistorischen und kulturpsychologischen Implikationen: daß historische Dichtung - wie etwa auch Mythen, Lieder, Tänze, Sprichwörter, Gesetze, heilige Bilder, Ornamente - Bestandteil jenes Symbolinventars ist, mit dem Gruppen ihre Identität schaffen und sichern. »Gruppen >bewohnen< ihre Vergangenheit ebenso wie Individuen und formen daraus Elemente ihres Selbstbilds«.4 Großgruppen wie Nationen, Sprachgemeinschaften oder soziale Schichten, aber auch professional, regional oder institutionell definierte Gruppen bis hin zu Vereinen formen und fundieren ihre Identität, indem sie Geschichtliches im wörtlichen wie übertragenen Sinne >verorten< - in und vermittels »Orten des Gedächtnisses« (wie Pierre Nora sie nennt), in denen sich das Gedächtnis »in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat«.s Gemeint sind damit identifikatorisch semiotisierte Plätze, Gebäude, Denkmäler, Feier- und Gedächtnistage, historische Ereignisse, Symbole, literarische und musikalische Texte. In besonderer Weise gilt dies folglich auch für historische Dichtung, wird doch gerade am »Hiatus von Fiktion und Historie«6 dieses »Zwitter[s] aus Historie und Literatur«7 sinnfällig, daß Dichten Erinnern und Erinnern Dichten ist. 1
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Vgl. die aus den bibliographischen Erhebungen hervorgegangene Statistik des am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck durchgeführten Projekts »Der deutschsprachige Historische Roman 1780-1945« (Projektleiter: Johann Holzner, Wolfgang Wiesmüller; Projektmitarbeiter: Kurt Habitzel, Günter Mühiberger), Homepage http://germ2.uibk.ac.at/hr/, sowie Kurt Habitzel, Günter Mühiberger: Gewinner und Verlierer. Der historische Roman und sein Beitrag zum Literatursystem der Restaurationszeit (1815-1848/49). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 21 (1996), H. 1, S. 91-123. Vgl. Alfred Döblin: Der historische Roman und wir (1936). In: A. D.: Aufsätze zur Literatur. Ölten, Freiburg/Br.: Walter 1963, S. 163-186. Hier S. 172. Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992, S. 75. Ebd., S. 47. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt/M.: Fischer 1998, S. 7. Hans Vilmar Geppert: Der »andere« historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung. (Studien zur deutschen Literatur 42) Tübingen: Niemeyer 1976, S. 34. Walter Hinck: Geschichtsdichtung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, S. 47.
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Sich historischer Dichtung aus dieser übergreifenden kulturwissenschaftlichen Perspektive zu nähern, nötigt freilich zu einer Relativierung kanonisierter literar-analytischer Verfahrensweisen, ihrer normästhetischen Prämissen und damit auch des Selbstverständnisses der germanistischen Zunft als einer Disziplin mit eigenem und einmaligem Erkenntnisanspruch. Obgleich in der germanistischen Literaturwissenschaft die grundsätzliche Reflexion über den narrativen Konnex sowie die rezeptionspragmatische Verzahnung von Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung mittlerweile zum guten Ton gehört, fällt die einschlägige Forschung in der Praxis oft genug hinter die neugewonnenen Vorgaben zurück. Nach wie vor bleibt der Blick meist an >Ideologischem< und Ästhetischem, an der Intention einzelner kanonisierter Autoren und ausgewiesener Exemplare der Gattung, nicht zuletzt auch an den historischen Quellen und ihrer poetischen Umformung hängen. Dergestalt verschließt er sich freilich auch vor dem disziplinar Fremden und Bedrohlichen übergeordneter kulturwissenschaftlicher Perspektiven. Letztlich wendet man sich - vor allem in Überblickswerken - denn doch wieder dem vertraut Kanonisierten, dem kritisch Geweihten zu,8 während hingegen die Vergessenen, die Erfolglosen, die Lohnschreiber, die Heimatdichter den initiationsrituellen Spielwiesen von Dissertantlnnen zugewiesen werden. Welche Vorüberlegungen für ein Verständnis historischer Dichtung als einer Form der Historie beziehungsweise einer kulturellen Erinnerungsleistung anzustellen sind, welche Verfahrensweisen sich hierfür als nützlich erweisen und welcher Ertrag sich daraus ergeben könnte, soll in der Folge am Beispiel österreichischer Geschichtsdichtungen über den Tiroler Bauemrebellen Michael Gaismair überprüft werden. Von 1526, dem Jahr der Niederschlagung der Bauernrebellion in Tirol, bis zur Gegenwart erschienen insgesamt 22 Romane, Erzählungen, Dramen und Gedichte über Gaismair - bis auf vier allesamt von Autorinnen aus Österreich (in seinen jeweiligen Grenzen). 9 Um die literarischen Dokumente kultur- bzw. politikhistorisch positionieren und kontextualisieren zu können, seien jene aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert ausgewählt. Es ergibt sich ein Corpus von zwei Trauerspielen, zwei dramatischen Szenen, einem Roman und einem Gedicht. Außer Franz Kranewitter, dem Verfasser der 1899 publizierten und 1906 in Innsbruck uraufgeführten Tragödie Michel Gaißmayr, wurden keinem der Autoren auch nur irgendwelche bleibenden Weihen kritischer oder literarhistorischer Art zuteil; 10 nach Bourdieu zählen sie literatursoziologisch mithin zu den institutionell und historiographisch Exkommunizierten, Ausgeschlossenen und symbolisch Gemordeten. 11 8
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Vgl. z. B. ebd. Siegfried Lenz, Alexander Kluge, Rolf Hochhuth, Ernst Jünger, Horst Bienek, Uwe Johnson und Günter Grass; ähnlich Willibald Alexis, Wilhelm Hauff, Ludwig Tieck, Adalbert Stifter, C. F. Meyer, Theodor Fontane oder Wilhelm Raabe in: Hugo Aust: Der historische Roman. (Sammlung Metzler 278) Stuttgart, Weimar: Metzler 1994. Die bibliographischen Erhebungen erfolgten im Zuge eines größeren Forschungsprojekts über frühneuzeitliche Bauernerhebungen in der österreichischen Literatur. Vgl. Johann Holzner: Franz Kranewitter (1860-1938). Provinzliteratur zwischen Kulturkampf und Nationalsozialismus. Innsbruck: Haymon 198S. Vgl. Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. In: Louis Pinto, Franz Schultheis (Hg.): Streifzüge durch das literarische Feld. Texte von Pierre Bourdieu, Christophe Charle, Mouloud
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Die weiter unten an Beispielen aufzuzeigende enge Bindung von Autorenbiographie, Stoff, Wirkabsicht und Wirkungshorizont wirft in Verbindung mit einem Mangel an dem, was gemeinhin unter ästhetischer Innovation und Avantgarde läuft, die Frage nach der >Bearbeitungswürdigkeit< solcher Textdokumente durch die Literaturwissenschaft auf. Wenn auch die in den 1960er und 70er Jahren geführte Methoden- und Legitimitätsdiskusssion den bis dahin kanonfixierten Literaturbegriff der Germanistik aufbrach und kaum noch von >minderwertigen oder gar >Schundliteratur< die Rede ist, haftet der Erforschung regionaler Literaturspezifika nach wie vor etwas Kleinkariert-Provinzielles an. Dieser Einschätzung liegt ein Konzept der in Kategorien von ganzen Sprachräumen, ja mitunter der Welt (>Weltliteratur^ denkenden literarischen >Bedeutsamkeit< zugrunde, hinter dem sich ein zentralistisches Kulturverständnis verbirgt, das angesichts der aktuellen Regionalismusdebatten überholt und noch dazu recht bedenklich erscheint - und überdies für unsere Fragestellung nichts besagt.
1.
Michael Gaismair (um 1490 bis 1532),12 vorerst in Diensten des Tiroler Landeshauptmanns und später des Fürstbischofs von Brixen, übernahm 1525 die militärische Führung der Tiroler Bauernerhebungen, nach deren Niederschlagung er in die Schweiz zu Zwingli floh. 1526 verfaßte er seine Landesordnung, ein sozialutopisches Manifest, in welchem er die Umwandlung Tirols in eine christliche Republik vorsah. Nach erfolgloser Teilnahme am Salzburger Bauernaufstand von 1526 flüchtete er nach Venedig und versuchte fortan vergeblich, die antihabsburgische Liga von Cognac (Frankreich, Papst, Mailand, Florenz und Venedig) sowie die Schweiz zu einem gemeinsamen militärischen Schlag gegen Tirol zu bewegen. 1532 wurde Gaismair, auf den der habsburgische Erzherzog Ferdinand einen hohen Preis ausgesetzt hatte, in Padua von Kopfgeldjägern ermordet.
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Mammeri, Jean-Michel Peru, Michael Pollak, Anne-Marie Thiesse. (6dition discours. Klassische und zeitgenössische Texte der französischsprachigen Humanwissenschaften 4) Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1997, S. 33-147. Hier S. 56. Zu Gaismair (in Quellen und Dokumenten mitunter auch Gaismayr, Gaißmayr, Geismayr etc. geschrieben) vgl. Josef MaCek: Der Tiroler Bauernkrieg und Michael Gaismair. Berlin (DDR): Deutscher Verlag der Wissenschaften 1965. [Zuerst Tschechisch u. d. T. Tyroskä selska vdlka a Michail Gaismair]; Jürgen Bücking: Michael Gaismair: Reformer - Sozialrebell - Revolutionär. Seine Rolle im Tiroler »Bauernkrieg« (1525-32). (Spätmittelalter und frühe Neuzeit. Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung 5) Stuttgart: Klett-Cotta 1978; Michael Forcher: Um Freiheit und Gerechtigkeit. Michael Gaismair. Leben und Programm des Tiroler Bauernführers und Sozialrevolutionärs 1490-1532. Innsbruck: Haymon 1982; Angelika Bischoff-Urack: Michael Gaismair. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Bauernkrieges. (Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit 4) Innsbruck: Inn-Verlag 1983; Josef MaCek: Michael Gaismair. Vergessener Held des Tiroler Bauernkrieges. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1988.
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2. Will man die bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vorherrschenden historiographischen Schreckbilder Gaismairs nicht auch dem Bereich fiktionalisierender Geschichtsklitterung zuschlagen, so setzt die literarische Themengeschichte des Sozialutopisten und nach Friedrich Engels einzigen bedeutenden militärischen Talents unter sämtlichen Bauemanführern 13 im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts ein. Wenngleich Gaismair die dichterische Phantasie fortan nicht in jenem Maße zu erhitzen vermochte wie beispielsweise Martin Luther, Thomas Müntzer, Florian Geyer14 oder (in Österreich) Andreas Hofer,15 so erlaubt die Reihe der seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts entstandenen Dramen, Romane, Erzählungen, Gedichte und fiktiven Kurzprosatexte über den auch in der heutigen Historiographie noch heftig umstrittenen »Sohn aus gutem Haus«16 und späteren Bauemführer, von einer Themengeschichte sui generis zu sprechen. Sie ist weniger von quantitativer Fülle oder kulturell beziehungsweise nationalliterarisch übergreifender Ausdehnung geprägt, noch fügen sich ihre Glieder den jeweils gängigen literarästhetischen Standards. Statt weltliterarischer, stoffinnovatorischer oder ästhetischer Ambitionen eint die Autoren ein literaturpragmatischer Aspekt: die im weitesten Sinne geschichtsdidaktische Konzeptualisierung des historischen Themas im Hinblick auf eine mögliche historische Selbstidentifikation des intendierten Publikums. 1880, als in Österreich die von deutschnationaler Seite angefeindete »Sprachverordnung für Böhmen und Mähren« erlassen wird (sie verpflichtet die Behörden, Eingaben in der jeweiligen Landessprache zu erledigen) und Eduard Graf Taaffe eine konservative Koalitionsregierung gründet, erscheint in Innsbruck das Trauerspiel Der Knappe von Schwaz des Tiroler Gymnasialprofessors Christian Schneller (Holzgau, Tirol 1831 - Cornocalda, Trient 1908).17 Es basiert auf einer 1862 in der Tiroler Volks- und Schützenzeitung erschienenen Darstellung des Schwazer Knappenaufstandes von 1525. Den fiktiven Rahmen bildet eine tragische Liebesgeschichte, in deren Verlauf sich ein ebenso rechtschaffener wie eifersüchtiger Knappe dazu verleiten läßt, seinen Rivalen, den Bergrichter, tätlich anzugreifen und daraufhin die rebellischen Knappen nach Hall zu führen. Gaismair tritt im Drama als 13
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Vgl. Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg (1850). In: Karl Marx, F. E.: Werke. (MEW). Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd 7. Berlin: Dietz 1960, S. 327413. Hier S. 407. Vgl. Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart: Kröner 81992, S. 479-482 (Luther), S. 554-556 (Müntzer), S. 253f. (Geyer). Über Andreas Hofer erschienen mindestens 80 Dramen und eine kaum überschaubare Anzahl von Balladen, Erzählungen und Romanen; vgl. ebd., S. 342-344, sowie Johann Holzner: Andreas Hofer im Spiegel der Literatur. In: Egon Kühebacher (Hg.): Tirol im Jahrhundert nach Anno Neun. Beiträge der 5. Neustifter Tagung des Südtiroler Kulturinstituts. (SchlernSchriften 279) Innsbruck: Wagner 1986, S. 37-50. So eine Kapitelüberschrift aus Forcher: Um Freiheit und Gerechtigkeit (Anm. 12), S. 26. Christian Schneller: Der Knappe von Schwaz. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Innsbruck: Wagner 1880. Zu Schneller vgl. S[imon] Prem: Christian Schneller. Ein Beitrag zur tirolischen Literatur- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Halle/S.: Niemeyer 1913.
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haßerfüllter Demagoge auf, der fanatische Reden schwingt, Mord, Zerstörung und Bruderkrieg predigt und eben deshalb unter den eher besonnenen Knappen keine Unterstützung findet. Gänzlich andere Töne - nämlich antiklerikal-antiaristokratisch-nationale - schlägt Arthur von Wallpach(-Schwanenfeld) (Untervintl / Vandoles di sotto, Südtirol 1866 - Schloß Anger bei Klausen / Chiusa, Südtirol 1946) in seinem vierstrophigen, jambisch gereimten Gedicht Michel Gaißmayr. 1525 aus seinem 1893 erschienenen Lyrikband Im Sommersturm an. 18 Ein emphatisches lyrisches Wir spricht Gaismair als »Retter Deutschlands« und »Führer der Nation« an: »Mit Hof und Adel, Spaniern, Welschen, Pfaffen, / Lagst du in Streit in Rede, Schrift und Waffen. [...] Du warst, ein Einzelner, der Fürsten Schreck / Wie des gemeinen Mannes Trost und Sehnen.« 19 Wallpach, hauptberuflich als Leiter einer Samenhandlung in Innsbruck tätig, zählte zu den Mitbegründern mehrerer Zeitschriften, unter anderen des Brenner (1910) und der alldeutschen kulturkämpferischen Wochenzeitschrift Der Scherer. Erstes illustrirtes Tiroler Witzblatt für Politik, Kunst und Leben (1899), die sich durch harsche Ausfälle gegen Kirche, Klerus, Juden, Regierung und Parlament auszeichnete. Der Titel des Blattes war Programm, nannte man doch >Scherer< in Tirol den Mann, der Ratten, Maulwürfe und Ungeziefer einfing und vernichtete. Wallpach, vorerst ein Aktivist der Schönerer-Bewegung, zog sich im Alter von der aktiven Politik zurück, trat jedoch als dichterischer Parteigänger der Nationalsozialisten mit Hymnen an Hitler an die Öffentlichkeit. 20 Der ausgebildete Germanist, Klassische Philologe und Kunsthistoriker Rudolf Heinrich Greinz (Pradl, Tirol 1866 - Innsbruck 1942), Jungtiroler und Kulturkämpfer auch er, verstand sich als Vertreter der Tiroler Heimatkunst. Im Vordergrund seiner Romane stand stets die Anklage gegen kirchliche Formen und Normen wie das kirchliche Eherecht oder das Zölibat; seine Tiroler Dorfgeschichten feierten die Bindung an Heimat und Familie. Der 1895 erschienene Gaismair-Roman Der Herrenschreiber von Hall. Eine Tiroler Geschichte aus dem 16. Jahrhundert21 stellt Gaismair in den Dienst poetischer Heldenmythisierung: Der Sozialrebell, von dem keine bildliche Darstellung überliefert ist, wird in einem Steckbrief beschrieben als »langer, aufgeschossner, heger, dunner man, in dem alter ungeferlich 34 oder 35 jar, [hat] ain swarz praunfarben dünnen part, [ein] schons, clains, zimlichs angesicht, ain beschornen köpf und in seinem gang etwas mit dem köpf niderträchtig oder puggelt«. 22 Bei Greinz tritt er uns als athletischer hünenhafter Jüngling mit blonden Locken und blauen Augen entgegen; als romantischer amouröser Held, nach dessen Ermordung die Geliebte dem Wahnsinn verfällt (während hingegen Gaismairs Ehefrau Magdalena, Mutter von vier Kindern, nach dem Tod ihres Mannes einen Bittbrief an die venezische 18
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Arthur von Wallpach: Michel Gaißmayr. 1525. In: A. v. W.: Im Sommersturm. Gedichte. München: Albert [1893], S. 163f. Ebd., S. 163. Vgl. Josef Fontana: Geschichte des Landes Tirol. Bd 3. Bozen: Verlagsanstalt Athesia; Innsbruck-Wien: Tyrolia 1987, S. 392. Rudolf Heinrich Greinz: Der Herrenschreiber von Hall. Eine Tiroler Geschichte aus dem 16. Jahrhundert. München: Galler 1895. Zit. nach Forcher: Um Freiheit und Gerechtigkeit (Anm. 12), S. 38.
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Regierung schrieb, in dem sie die Verfolgung der Mörder forderte und bat, den Leichnam ihres Mannes in geweihter Erde bestatten zu dürfen); 23 als Sohn nicht nur aus >gutemfremd< galten den frühneuzeitlichen Bauern freilich jene, die man später als Inbegriff des Österreichischen feiern sollte: die Habsburger. Erzherzog Ferdinand von Tirol, Enkel Maximilians I. und Bruder Karls V., war in Spanien erzogen worden, beherrschte bei seiner Amtseinführung das Deutsche nur mangelhaft und setzte einen Spanier zum Kanzler ein - den überaus korrupten, habgierigen und prunksüchtigen Gabriel von Salamanca. Ihn hielten die Tiroler (wie danach mancher Geschichtsschreiber und -dichter) einmal für einen Juden, ein andermal für einen Moslem. Die Empörung der Aufständischen - wie auch Kranewitters - bewegte sich somit zum Teil in antisemitischen Bahnen. Selbst den Widerstand gegen die Augsburger Handelshäuser, vor allem die Fugger, denen die stets verschuldeten Habsburger die reichen Tiroler Berggraben verpfändet hatten, färbte Kranewitter antisemitisch ein: Flugs wird der (historisch) ursprünglich für den geistlichen Stand bestimmte Jakob Fugger (1459-1525) zum Juden gestempelt.26 Mehr als ein Jahrzehnt verstreicht, bis sich neuerlich ein Autor dichterisch mit Gaismair auseinandersetzt. Wieder ist es ein Tiroler, wie schon Schneller und von Wallpach beschäftigt er sich mit Schöner Literatur nur nebenbei, und auch seinen historischen Blickwinkel prägt konfessionelle Parteilichkeit - freilich in anderer Weise, als dies bei Kranewitter, von Wallpach oder Greinz zu beobachten war, denn Josef Weingartner (Dölsach, Tirol 1885 - Meran / Merano, Südtirol 1957) hatte katholische Theologie studiert und die kirchliche Laufbahn eingeschlagen. Seine 1911 und 1912 im Allgemeinen Tiroler Anzeiger (Innsbruck) erschienenen Szenen Bauernkrieg27 23
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Brief Magdalena Gaismairs vom 15. 4. 1532 an den Senat von Venedig. In: Biicking: Michael Gaismair (Anm. 12), S. 166f. Greinz: Der Herrenschreiber von Hall (Anm. 21), S. 100. Franz Kranewitter: Michel Gaißmayr. Tragödie in fünf Aufzügen aus dem Tiroler Bauernkriege von 1525. In: F. K.: Gesammelte Werke. Hg. v. d. Adolf-Pichler-Gemeinde in Innsbruck. Graz etc.: Bergland-Buch 1933, S. 171-233. Ebd., S. 177. Josef Weingartner: Bauernkrieg. Szene. In: Allgemeiner Tiroler Anzeiger (Innsbruck) vom 23. Dezember 1911, S. 35-37.
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und Landtag 152528 suchen Gaismair wenn schon nicht für die katholische Kirche, so doch für die Geschichte eines gemäßigt liberalen und dennoch kirchentreuen Tirol zu retten. Gaismair tritt als Mann des Ausgleichs und der Ordnung auf, als ebenso strenger wie besonnener Politiker, der auch wohl einen redlichen katholischen Seelsorger vor gewaltliistemen Rebellen und dessen Schwester vor sexuellen Übergriffen durch die Bauern schützt.
3. In ihren dramatischen, epischen und lyrischen Präsentationsformen bedienen sich die Autoren bewährter poetischer Schemata: Schneller und Kranewitter orientieren sich an den Mustern der traditionellen Tragödie, Rudolf Heinrich Greinz am Modell des historischen Romans, Arthur von Wallpach verdichtet seine Figur in kreuz- und paargereimte jambische Fünfheber. Gaismair tritt uns entgegen als fanatischer, zerstörungswütiger Aufrührer (Schneller), alldeutsch-antiklerikaler Führer (Wallpach), als charakterlicher Übermensch und Liebesheld (Greinz), nationalliberaler Sprecher der Besitzlosen und Entrechteten (Kranewitter) und moderater Reformer (Weingartner). Das jeweilige Urteil der dargestellten Ereignisse und Figuren geht in auffälliger Weise mit entsprechenden Tendenzen innerhalb der Geschichtsschreibung konform. Mehr oder weniger kann jeder einzelne Text als Literarisierung einer bestimmten historiographischen Strömung gelesen werden. Die etatistische Kritik klerikaler und liberaler Prägung, welche die Forderung der Bauern und Knappen zwar als gerechtfertigt ansah, deren Griff zur Gewalt jedoch als widerrechtlich verwarf, begegnet im Trauerspiel Schnellers und in den beiden Szenen Weingartners. Die Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Standardwerk geltende Geschichte Tirols von Josef Egger, einem Proponenten der liberal-etatistischen Gaismair-Historiographie, nennt Schneller im Anhang zu seinem Knappen von Schwaz sogar als Quelle. 29 Wallpachs Gedicht und Kranewitters Drama verbindet ein Geschichtsbild, welches in Gaismair den nationalen Volkshelden und in den Bauernaufständen eine völkische Erhebung wider jüdische, römisch-katholische und spanische Unterdrücker erblickte und das später namentlich zwischen 1933 und 1945 gepflegt wurde. 30
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Josef Weingartner: Landtag 1525. Szene. In: Allgemeiner Tiroler Anzeiger (Innsbruck) vom 26. Jänner 1912, S. 1^1. Vgl. Schneller: Der Knappe von Schwaz (Anm. 17), S. 125; dort der Hinweis auf Josef Egger: Geschichte Tirols von den ältesten Zeiten bis in die Neuzeit. Bd. 2. Innsbruck: Wagner 1876. Z. B. in Josef Wenter, Alfred E. Frauenfeld: Michel Geismair. Schauspiel in drei Akten. München: Piper [1940]; Karl Itzinger: Der Ketzerfürst. Roman einer Geisteswende. Graz, Leipzig: Stocker 1941; Karl Springenschmid: Michel Gaismayrs Berufung. In: Alpenheimat. Familienkalender für Staat und Land 3 (1941), S. 32-36; Wilhelm Lackinger (Text), Josef Eduard Ploner (Musik): Das Gaismayr-Lied (1525). In: Hellau! Liederbuch für Front und Heimat des Gaues Tirol-Vorarlberg. Im Auftrage des Gauleiters und Reichsstatthalters Franz Hofer hg. v. Jos[ef] Eduard Ploner. Potsdam: Voggenreiter 1942, S. 41. Vgl. auch Bücking: Michael Gaismair (Anm. 12), S. 120-123.
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Sich angesichts dieser augenfälligen Verzahnung von Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung wie üblich die Frage nach den historischen Quellen und den Absichten und Verfahrensweisen ihrer Poetisierung zu stellen, mithin Stoff- oder Intertextualitätsforschung zu betreiben, mag von literarhistorisch-ästhetischem und nicht zuletzt ideologiekritischem Interesse sein. Für eine Klärung der grundsätzlichen Funktionen kultureller Erinnerungsarbeit, wie sie sowohl Dichtung als auch Historie leisten, wird sie wohl von nur begrenztem Nutzen sein. Überdies fiele ein solches Vorgehen hinter die (auch nicht mehr so neuen) Ergebnisse soziologisch-kulturhistorischer Gedächtnisforschung zurück und setzte mit der Dichotomisierung von Historie und historischer Dichtung heuristische Vorannahmen wieder ins Recht, welche (hier scheint der empiristische Begriff durchaus nicht zu hochgegriffen zu sein) als falsifiziert gelten können. Insofern es nämlich (wie von Arthur C. Danto dargelegt) »keinen wesentlichen Unterschied zwischen historischen und kausalen Erklärungen gibt« und »Kausaleiklämngen tatsächlich ausnahmslos die Form von Geschichten haben«,31 kommt es zu einer »Überkreuzung von Geschichte und Fiktion«. Diese Überkreuzung von Geschichte und Fiktion erfolgt nach Paul Ricceur über eine »Refiguration der Zeit« und beruht auf einer »gegenseitigen Grenzübertretung«, in der »das quasihistorische Moment der Fiktion den Platz mit dem quasi-fiktiven Moment der Geschichte tauscht.«32 In dem Maße, wie »auch Klio dichtet«,33 imitiert die Fiktionserzählung in gewisser Weise die historische Erzählung.34
4. Historische Dichtung und Historie, verstanden als verschriftlichte Erinnerungskultur, gehören, wie Jan und Aleida Assmann im Anschluß an Maurice Halbwachs gezeigt haben, »zum Planen und Hoffen, das heißt zur Ausbildung sozialer Sinn- und Zeithorizonte«.35 Wie rituelles Totengedenken stiften sie Gemeinschaft36 - eine »memoire collective«,37 »um ein Bild der Vergangenheit wiederherzustellen, das sich für jede Epoche im Einklang mit den herrschenden Gedanken der Gesellschaft befindet.«38 Welcher Ereignisse oder Personen man sich erinnert, was oder wen man vergißt, bestimmt der soziopolitische Bezugsrahmen, denn die »spezifische Bedeutung dieser 31
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Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 376. [Zuerst 1965 Engl. u. d. T. Analytical Philosophy of History], Paul Ricceur: Zeit und Erzählung. Bd. 3. Die erzählte Zeit. München: Fink 1991, S. 295, 311. [Zuerst 1985 Frz. u. d. T.: Temps et ricit], Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. (Sprache und Geschichte 10) Stuttgart: Klett-Cotta 1986. [Zuerst 1978 Amerik. u. d. T. Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism], Vgl. Ricceur: Die erzählte Zeit (Anm. 32), bes. S. 306. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 3), S. 31. Vgl. ebd., S. 63. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Enke 1967. [Zuerst 1950 Frz. u. d. T. La Mimoire collective]. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 22f. [Zuerst 1925 Frz. u. d. T. Les Cadres sociaux de la mimoire].
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Ereignisse, die man auch >epochemachend< nennt, beruht auf ihrem Vermögen, das Identitätsbewußtsein - die narrative Identität - der fraglichen Gemeinschaft so wie das ihrer Mitglieder zu begründen oder zu stärken.« 39 Tirol war den meisten Autoren nicht nur Herkunftsland und biographisch bedeutsamster Aufenthaltsort, sondern auch Wirkungsstätte, Gegenstand und Ziel ihrer alles eher als ausschließlich dichterischen Kulturambitionen. Christian Schneller, der Verfasser des Knappen von Schwaz, trat mit Publikationen zur Tiroler Volkskunde, zur Geschichte, Landeskunde sowie Sprachgeographie Tirols an die Öffentlichkeit und suchte als Vermittler zwischen den deutsch- und italienischsprachigen Kulturkreisen Tirols zu wirken. Arthur von Wallpach plädiert in seinen journalistischen Beiträgen und Gedichten für eine pangermanische Erneuerung Tirols aus dem Geiste Ulrich von Huttens, Martin Luthers, Andreas Hofers und Johann Senns. Rudolf Heinrich Greinz erzählte in seiner Tiroler Bauernbibel die Bibel im Tiroler Dialekt nach und galt in seiner Wahlheimat München wegen seiner Tiroler Dorfgeschichten als Inbegriff des >bodenständigen< Tirolers. Franz Kranewitter, >Führer< der deutschnational-antiklerikalen literarischen Bewegung »Jung-Tirol«, griff in seinen Dramen vorzugsweise Themen aus der Geschichte Tirols und soziale Probleme des Tiroler Bauernlebens auf und ließ seine Protagonisten mitunter in einem der Oberinntaler Mundart angenäherten Literaturdialekt sprechen. Dem katholischen Theologen und Seelsorger Josef Weingartner schließlich lag an der Pflege und Erforschung der Tiroler Kunstdenkmäler. Leben und Programm Gaismairs zu literarisieren scheint mithin einerseits zu den regionalen Themenspezifika der Tiroler Literatur zu gehören, zum anderen aber auch mit einer prinzipiellen Absicht der weltanschaulichen Indienstnahme von Geschichte im Medium der Literatur verbunden zu sein. Die enge Korrelation von Stoff, regionaler Herkunft und kulturpädagogischem Impetus der Autoren geht zum einen darauf zurück, daß die frühneuzeitlichen Bauern- und Knappenaufstände Tirols aufgrund ihrer soziopolitischen Eigenheiten und zum Teil auch zeitlichen Verspätung oft als >Sonderphänomen< eingestuft und (was namentlich für das neunzehnte Jahrhundert gilt) vornehmlich von Regionalhistorikem erforscht und zugänglich gemacht wurden - und dies einem wegen der Themenspezifik wiederum nur eingeschränkten Leserkreis. Daß namentlich Tiroler und hier durchweg kulturell engagierte Autoren sich Gaismair zum literarischen Thema auserkoren, hängt wohl mit den in Tirol seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts und selbst heute noch geführten Gaismair-Kontioversen zusammen. Ganz gleich, ob man in Gaismair den Ketzer, den Gesetzlosen, den demokratischen Revolutionär, den machtgierigen Ränkeschmied oder den germanischen Recken sehen wollte - das je vermittelte Geschichtsbild verstand sich zugleich als »Geschichtengenerator« 40 und selbstidentifikatorische Standortbestimmung 41 - und wollte sich auch solcherart begriffen wissen.
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Ricoeur: Die erzählte Zeit (Anm. 32), S. 303. Begriff nach Gerhard Kebbel: Geschichtengeneratoren. Lektüren zur Poetik des historischen Romans. (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte 2) Tübingen: Niemeyer 1992. Vgl. Bücking: Michael Gaismair (Anm. 12). Kap. III, S. 106-133.
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Die Autoren erinnern sich der Bauernrebellionen und ihres Hauptmanns Gaismair in einer Zeit schwerer landes-, partei- und kirchenpolitischer Auseinandersetzungen. Seit 1860, als der Staatsminister Anton Ritter von Schmerling unter anderem die freie Religionsausübung und die Regelung der interkonfessionellen Verhältnisse zu den Grundsätzen der Politik erklärt hatte, prägten heftige institutionelle Querelen und ideologische Kämpfe zwischen Klerikalen, Liberalen und >Kulturkämpfern< das soziopolitische Leben Tirols. Einen der Angelpunkte bildete die auf das frühneuzeitliche Axiom der Vergesellschaftung zurückgehende katholische Doktrin der >GlaubenseinheitGlaubenseinheit< junktimieit. »Die Tage sind ernst«, schreibt Fürstbischof Vinzenz Gasser in seinem Hirtenbrief vom 12. Februar 1867. »Die Feinde des Rechtes und der christlichen Weltordnung sehen schon siegestrunken dem Augenblick entgegen, wo sie auf den umgestürzten Altären ihre Weltherrschaft erbauen können.«43 Die öffentliche Erregung über das 1868 beschlossene interkonfessionelle Gesetzterre irredenteunerlöstenFührerheilige< Tirol mit seinen Ansprüchen auf >Glaubenseinheit< erinnernd zu legitimieren. 47
Es existieren davon zwei Versionen; abgedruckt und kommentiert in: Bücking: Michael Gaismair (Anm. 12), S. 149-162.
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5. Mit Ausnahme des Schauspiels von Kranewitter, das seit der Uraufführung selten, aber regelmäßig auf dem Spielplan von Tiroler Theatern (vor allem Laienbühnen) steht, konnte keine Gaismair-Dichtung einen nachhaltigen Erfolg für sich verbuchen. Christian Schneller zog sein Stück wegen »Unaufführbarkeit«, 48 wie ein Biograph vermerkt, bald nach seinem Erscheinen vom Buchmarkt zurück. Offenbar gelangten auch Weingartners Bauernkriegs-Szenen nie auf die Bühne. Quantitativ besehen, ist die Rezeption der Gaismair-Dichtungen somit als verhältnismäßig bescheiden einzustufen, und auch die literarische Themengeschichte reißt bis 1940, dem Erscheinungsjahr von Josef Wenters und Alfred E. Frauenfelds nationalsozialistischem Gaismair-Drama, einfach ab. Um die Jahrhundertwende drängten sich im öffentlichen Diskurs Tirols (wie auch gesamtösterreichisch) soziale und nationale Fragen in den Vordergrund. Die Zeit der kulturkämpferischen Kontroversen und Parolen war vorbei und mit ihr jene des literarischen Appells, sich identifizierend oder abgrenzend der konfessionellen Kämpfe der Vergangenheit zu erinnern. Die frühneuzeitlichen Bauernerhebungen und Michael Gaismair fehlen fortan auf dem kulturellen »Jahrmarkt der Identitäten«,49 entschwinden aus dem kulturellen Gedächtnis der Region und bleiben als literarisches Thema auch nach 1945 zahlenmäßig wie rezeptionshistorisch bloße Marginalie (trotz oder gerade wegen der Versuche der marxistischen Historiographie, Gaismair als Frühsozialisten zu reklamieren). 50 Angesichts der entscheidenden Funktion der Bauernerhebungen und Konfessionskämpfe für die Herausbildung noch heute virulenter neuzeitlicher Kollektividentitäten mag dieses Schweigen der Dichter erstaunlich anmuten, doch macht es zugleich darauf aufmerksam, daß die »Gegenwart bestimmt, was in das Bild der Vergangenheit aufgenommen wird und was gegenwärtig nachwirkt«51 - und nicht zuletzt darauf, daß Herrschaft je nach Bedarf Allianzen eingeht: einmal mit dem Gedächtnis, ein andermal mit dem Vergessen.52
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Vgl. Prem: Christian Schneller (Anm. 17), S. 75. Lutz Niethammer: Konjunkturen und Konkurrenzen kollektiver Identität. Ideologie, Infrastruktur und Gedächtnis in der Zeitgeschichte. In: Matthias Werner (Hg.): Identität und Geschichte. (Jenaer Beiträge zur Geschichte 1) Weimar: Böhlaus Nachf. 1997, S. 175-203. HierS. 180. Vgl. MaCek: Der Tiroler Bauernkrieg und Michael Gaismair (Anm. 12), sowie den Roman von Werner Legfere: Der gefürchtete Gaismair (1976). Berlin (DDR): Union Verlag 21981. Gerd Theissen: Tradition und Entscheidung. Der Beitrag des biblischen Glaubens zum kulturellen Gedächtnis. In: Jan Assmann, Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 170-196. Hier S. 170. Vgl. Assmann: Kulturelles Gedächtnis (Anm. 3), S. 71 f.
Florian Krobb
Geschichtssinn und Narrativität in Wilhelm Raabes Erzählung Die Innerste
Ein Kernthema der anglo-amerikanischen Geschichtstheorie der letzten Jahrzehnte ist die »Bedeutung der Sprachlichkeit« der Geschichtsdarstellung.1 Im Rahmen dieser Diskussion kommt Hayden Whites großer Studie Metahistory (1973) eine Schlüsselrolle zu, denn in ihr hat der Verfasser den entscheidenden Impuls dazu geliefert, das Augenmerk von der Frage, w a s Historiker wissen, zur Frage, w i e Historiker wissen, umzulenken.2 Seine These ist es, daß das >emplotment< von Ereignissen (ihre >Verfabelungrealistischen< und >fiktionaien Diskursen< kein ontologischer Unterschied hinsichtlich ihres realen bzw. imaginären Referenten besteht.« Da »jedes Erzählen - ob im Roman oder im wissenschaftlichen Werk - Gesetz, Gesetzmäßigkeit, Legitimität oder noch allgemeiner Autorität oder sogar Moral impliziere«, bedeute Geschichtsdarstellung immer Geschichtserklärung, und Geschichtserklämng immer Sinnvermittlung fur die jeweilige Gegenwart.5 Daß diese Thesen ihre Resonanz vor allem in der Geschichtswissenschaft und der Theorie der Geschichtsschreibung gefunden haben, kann nicht verwundern, rüttelt doch die Erkenntnis, daß sich Dinge und Ereignisse dem direkten historischen Zugriff 1
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Gerhild Scholz Williams: Geschichte und die literarische Dimension. Narrativik und Historiographie in der anglo-amerikanischen Forschung der letzten Jahrzehnte. In: Deutsche Vierteljahresschrift fur Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 63 (1989), S. 315-392. Hier S. 318. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/M.: Fischer 1994. [Zuerst 1973 Amerik.]. Hier wird, auch wenn sie manchmal etwas unelegant erscheint, die deutsche Übersetzung verwendet (Sigle W + Seitennachweise im folgenden im Text). Scholz Williams: Geschichte und die literarische Dimension (Anm. 1), S. 348. Ebd., S. 323. Hugo Aust: Der historische Roman. (Sammlung Metzler 278) Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 12.
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Florian Krobb
entziehen, daß Geschichtssinn in der Präsentation, nicht aus den historischen Gegenständen selbst entsteht, an den Grundvoraussetzungen der Geschichtsschreibung.6 Für die Literaturwissenschaft erscheint Hayden Whites These, daß nicht nur die Auswahl des Stoffes, Inhalt, Handlung und Figurenarsenal, sondern auch Stil, narrative Form, sowie Organisation und Präsentation des historischen Stoffes die Richtung und Aussage eines historischen Textes determinieren, als Neuformulierung bekannter Einsichten. Das Verständnis narrativer Strategien als Sympathielenkungs- und Leserbeeinflussungsmechanismen gehört zu den zentralen Aufgaben der Literaturwissenschaft; denn nur die Untersuchung von Erzählmitteln und Erzählformen kann ja die Art (im Gegensatz zum Inhalt) der jeweiligen Gegenwartsrelevanz des historischen Textes bestimmen. Auf dieser Grundlage lassen sich sogar Erkenntnisse zu dominanten Strukturen historischer Romane in einer bestimmten Epoche zur Bezeichnung ihrer Stellung im politischen Diskurs ihrer Zeit fruchtbar machen, wie Hermann Sottong in seiner Studie zum historischen Erzählen vor und nach 1830 zeigt.7 Dementsprechend sind Whites Thesen zwar in ihrer Allgemeinheit von der germanistischen Literaturwissenschaft zur Kenntnis genommen worden; da seine Überlegungen aber weitgehend eine geschichtstheoretische Applizierung etablierter literaturwissenschaftlicher Praxis darzustellen scheinen, hat, soweit ich sehe, seine Argumentation im einzelnen die Überlegungen zur historischen Dichtung bisher noch nicht merklich befruchtet. Zum Nachweis des Nexus zwischen Geschichtserzählung und Vermittlung von Geschichtssinn stellt White ein einfaches Modell bereit, in dem Arten der »Erzählstruktur« mit Arten der »Argumentation« und Arten der »ideologischen Implikation« - und damit der historischen Sinngebung sowie der jeweiligen Anwendbarkeit auf die Gegenwartssituation - korrespondieren.8 Trotz aller Vorsicht gegenüber dem Schematismus dieses Ansatzes, trotz aller Differenzierungsnotwendigkeit erscheint eine Rückbindung der Thesen Whites an die Literatur, das heißt eine Überprüfung seines Modells an einem literarischen Gegenstand gerechtfertigt, produktiv und historisch angemessen: gerechtfertigt, weil Whites Kategorien ja weitgehend auf literaturwissenschaftlichen Beobachtungen zu Stil und Erzählstruktur beruhen; produktiv, weil die Systematisierungstendenz der Geschichtswissenschaft und Geschichtstheorie vielleicht griffigere, allgemeingültigere Ergebnisse ermöglicht als die Detailverhaftetheit der Literaturwissenschaft; historisch angemessen, weil das neunzehnte Jahrhundert
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Zur Auswirkung Whites auf das moderne Geschichtsdenken siehe Scholz Williams: Geschichte und die literarische Dimension (Anm. 1), bes. S. 357-370. Auch der ebenfalls das Verhältnis von Historizität und Narrativität thematisierende, zeitgleich mit der englischen Originalausgabe von Whites Metahistory erschienene fünfte Poetik und HermeneutikSammelband erscheint mehr als Dokument eines Umdenkens innerhalb der Geschichtstheorie denn als wirklicher Dialog zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft. Reinhart Kosellek, Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte. Ereignis und Erzählung. München: Fink 1973. Hermann Sottong: Transformation und Reaktion. Historisches Erzählen von der Goethezeit zum Realismus. München: Fink 1992. Dazu auch Aust: Der historische Roman (Anm. 5), S. 69-71. Vgl. White: Metahistory (Anm. 2), S. 48 und die Zusammenfassung dieses Korrespondenzmodells ebd. auf S. 553f.
Geschichtssinn und Narrativität
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die Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung und historischer Belletristik sowieso noch nicht so strikt zog, wie dies durch die Zersplitterung der Wissenschaftsdisziplinen und des Buchmarktes in diesem Jahrhundert zur Regel geworden ist. Letzteres ist besonders aus wirkungsgeschichtlicher Perspektive zu verstehen, wenn man akzeptiert, daß in wissenschaftlicher wie in literarischer Geschichtsdarstellung ein vergleichbarer Wiikungszusammenhang zwischen Art (Form und narrativer Struktur) der Geschichtsdarstellung und Sinngebung für die Gegenwart gegeben ist, das heißt beide Darstellungstypen vergleichbare >ideologische< Wirkungen auf vergleichbare Weise und auf vergleichbarer textueller Grundlage ausüben können. Geht man von der Annahme aus, daß Leser des neunzehnten Jahrhunderts historischen Romanen und historiographischen Werken mit ähnlichen Erwartungshaltungen begegneten, daß sie ähnliche Funktionen im Kontext der politischen Meinungsbildung und der Herausbildung oder Bestätigung eines bürgerlichen Bewußtseins, einer kollektiven Identität in Deutschland hatten, so gewinnt die Untersuchung wissenschaftlicher und literarischer Geschichtswerke mit demselben Instrumentarium eine literatursoziologische Legitimation.9 Ungefähr ein Drittel von Wilhelm Raabes erzählerischem (Euvre ist historischen Inhalts. Dies macht ihn zu einem der produktivsten historischen Erzähler des neunzehnten Jahrhunderts. Seine Geschichtstexte sind in der letzten Zeit verstärkt ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt: in das der Bemühungen zum historischen Roman im neunzehnten Jahrhundert allgemein, seit Hans Vilmar Geppert Das Odfeld als einen seiner >anderen< historischen Romane beschrieben hat;10 in das der Raabephilologie insbesondere, die sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aber ebenfalls auf das späte Meisterwerk Das Odfeld konzentriert." Raabes historische Großerzählung Die Innerste (geschrieben im Spätherbst 1874, erstmals veröffentlicht in Westermann's Illustrirten Deutschen Monatsheften 1876, in Buchform im 3. Band der Krähenfelder Geschichten 1879)12 fällt in eine Epoche in der Entwicklung Raabes, die von deutlicher literarischer Auseinandersetzung mit seiner politischen und sozialen 9
Vgl. zu diesem Themenkomplex Hartmut Eggert: Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850-1875. Frankfurt/M.: Klostermann 1971. 10 Hans Vilmar Geppert: Der >andere< historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung. (Studien zur deutschen Literatur 42) Tübingen: Niemeyer 1976. In seiner Überblicksdarstellung konzentriert sich auch Hugo Aust: Der historische Roman (Anm. 5) auf Das Odfeld (S. 109-112, dort auch Angaben zur weiteren einschlägigen Literatur). " Vgl. Hans-Jürgen Schräder: Zur Vergegenwärtigung und Interpretation der Geschichte bei Raabe. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1973, S. 12-53; Wilhelm Vormweg: Wilhelm Raabe. Die historischen Romane und Erzählungen. Paderborn: Igel 1993; Julia Bertschik: Maulwurfsarchäologie. Zum Verhältnis von Geschichte und Anthropologie in Wilhelm Raabes historischen Erzähltexten. Tübingen: Niemeyer 1995. Dazu wären zahlreiche Einzelstudien zu nennen; einschlägig z. B. Walter Killy: Geschichte gegen die Geschichte. Raabe: »Das Odfeld«. In: W. K.: Romane des 19. Jahrhunderts. Wirklichkeit und Kunstcharakter. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1967, S. 146-165; Heinrich Detering: Apokalyptische Bedeutungsstrukturen in Raabes »Das Odfeld«. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1984, S. 87-98. 12 Angaben nach Hans-Jürgen Schräders editorischer Noüz in Wilhelm Raabe: Krähenfelder Geschichten. Werke in Einzelausgaben. Bd. 2. Frankfurt/M.: Insel 1985, S. 312f.
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Florian Krobb
Gegenwart geprägt ist. Die Gegenwartsrelevanz eines anderen der historischen Texte aus den Krähenfelder Geschichten ist bereits ausführlich herausgearbeitet worden: Höxter und Corvey läßt sich unschwer als Zeugnis einer Desillusionierung des Verfassers nach anfänglicher Gründerzeiteuphorie lesen, als Kritik mithin an Parteienzwist und Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen in der Folge der deutschen Vereinigung von 1871.13 Für Die Innerste erscheint es schwieriger, eine direkte Beziehung zwischen dem darin enthaltenen Geschichtsbild und der Gegenwart des Autors festzustellen: vielleicht liegt die Beziehung ja auf einer weniger offensichtlichen Ebene als bei Höxter und Corvey, etwa einer, die durch Whites Überlegungen sichtbar gemacht werden kann. Ein Blick auf Die Innerste mit Whiteschen Ideen könnte deshalb so reizvoll sein, weil diese Erzählung von typischer Historiographie (wissenschaftlicher Geschichtsschreibung) so weit wie nur eben denkbar entfernt ist. In dieser Geschichte einer an dem titelgebenden Fluß gelegenen Mühle und ihrer Bewohner treten keine tatsächlichen historischen Figuren auf; die handlungstragenden Personen, der junge Müller Albrecht Bodenhagen und der Kriegsveteran Jochen Brand kommen auch nicht, wie so viele unhistorische >mittlere Helden< des Genres, in Kontakt mit den wirklichen Geschichtsakteuren der Zeit; die Handlung umfaßt keinerlei in den Geschichtsbüchern verzeichnete Ereignisse, auch wenn die präzise Datierung des Erzählanfangs auf den Juli des Jahres 1759 (R 108 und öfter)14 und die Nennung historischer Namen in Personenrede und Erzählerbericht ein größeres historisches Bedeutungsfeld deutlich und unmißverständlich aufrufen: der historische Hintergrund ist der des Siebenjährigen Krieges. Doch ist in diesem Zusammenhang der Ort der Handlung, die Sarstedter Mühle an dem kleinen Fluß am Harzgebirge, keine bedeutende Geschichtslandschaft, keine »der beiden großen Staatsmühlen zu Berlin oder Wien«, wie Raabe sagt (R 133) - weder Schauplatz großer Schlachten noch Austragungsort diplomatischer Entscheidungen. (Nur nebenbei sei angemerkt, daß ja gerade die Aufwertung vermeintlich unbedeutender Geschichtsorte eines der konstanten Kennzeichen der Raabeschen Geschichtsdichtung ist, von frühen Texten bis zu den Spätwerken wie Das Odfeld oder Hastenbeck.) In Umkehr eines beliebten Handlungsschemas des historischen Romans beginnt die Handlung nicht mit dem Aufbruch des Protagonisten >in die Geschichten und sie endet auch nicht mit dem »Ausstieg des Helden aus dem semantischen Raum >PolitikGeschichteGeschichtsheldenkontextualistischNietzsche vogue< of the 1890s there have been Nietzscheanisms left, right and centre,1 but of course the most fateful - and unfortunately for many still the defining - political appropriation of Nietzsche came from the right, from the National Socialists, and in one way or another its repercussions continue to be felt. As Tracy Strong commented in 1975, »they [the Nazis] read him [Nietzsche] so thoroughly (and so inaccurately) as a foundation for their politics that most more recent commentators, desirous of being sympathetic to Nietzsche, have gone the other way and simply ignored any political dimensions his thought might have«. 2 The trend to which Strong adverts was set by Walter Kaufmann, the leading English-language Nietzsche interpreter in the immediate post-war period, with a highly sympathetic monograph, first published in 1950, which was at the same time a highly successful rehabilitation of Nietzsche largely because it took Nietzsche's self-description as »der letzte antipolitische Deutsche« (KSA 14, 472)3 at face value, as an expression of distaste for politics tout court, and presented Nietzsche, in the words of its subtitle, as »philosopher, psychologist, antichrist« but precisely n o t as political thinker.4 1
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On the vicissitudes of political Nietzsche reception, see in particular Steven E. Aschheim: The Nietzsche Legacy in Germany 1890-1990. Berkeley, Los Angeles, London: Univ. of California Press 1992; Richard Frank Krümmel: Nietzsche und der deutsche Geist. 3 vols. Berlin, New York: de Gruyter 1974-1998; Seth Taylor: Left-Wing Nietzscheans: The Politics of German Expressionism 1910-1920. Berlin, New York: de Gruyter 1990; R. Hinton Thomas: Nietzsche in German Politics and Society 1890-1918. Manchester: Manchester Univ. Press 1983. Tracy Β. Strong: Friedrich Nietzsche and the Politics of Transfiguration. Berkeley, Los Angeles, London: Univ. of California Press 2 1988, p. 187. Nietzsche's unpublished notes and letters are referenced by part, volume and page number in, respectively, the following editions: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. IS vols. Ed. by Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Berlin, New York: de Gruyter; Munich: Deutscher Taschenbuch Verlag 2 1988 (= KSA). Friedrich Nietzsche: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Ed. by Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Berlin, New York: de Gruyter 1975ff. (= KGB). Walter Kaufmann: Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist. Princeton: Princeton Univ. Press 4 1974.
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It is indeed ironic that in 1969 Mazzino Montinari should have definitively established that the passage in which that by now quite celebrated self-description appears was in fact a superseded draft,5 for in recent years there has been a renaissance of interest in Nietzsche as political philosopher which has yielded some of the most insightful readings of his work - undertaken for the most part, perhaps not surprisingly, by scholars working outside Germany, such as Tracy Strong himself, Mark Warren and Daniel Conway in the United States, Keith Ansell-Pearson and David Owen in Britain. 6 The emphasis in all these studies, however, has been on coming to terms with the broader implications of >Nietzsche as political thinkerBlut und Eisern, managed to insert both Nietzsche and Bismarck into a tradition of Prussian militarism stretching back at least as far as Clausewitz - a tradition which, depending on one's perspective, might then be evaluated either positively, as a source of national pride, or negatively, as the ideological key to the insidious belligerence of Wilhelmine Germany in search of European hegemony and Lebensraum.9 A more nuanced understanding of the question has been shown on the other hand by those who have recognized the inherent difficulty in constructing the mature Nietzsche as a predatory Prussian patriot and instead set Nietzsche and Bismarck at odds. By now this has indeed become the consensus view, and again it can be epitomized by Walter Kaufmann, who summarizes it succinctly with the comment that »Nietzsche's reaction to Bismarck was overwhelmingly negative«.10 Behind this view lies an unacknowledged syllogism which runs as follows: it is well known that Nietzsche was one of the most implacable critics of the German Reich; Bismarck was the architect of that Reich, the very incarnation of the Reichsgedanke·, therefore Nietzsche treated Bismarck with disdain. Such a view can be supported by drawing on some of the deliciously polemical passages from Nietzsche's late writings, especially the section entitled »Was den Deutschen abgeht« in one of his very last works, Götzen-Dämmerung, from the autumn of 1888. The following passage is by now typical: Es zahlt sich theuer, zur Macht zu kommen: die Macht v e r d u m m t ... Die Deutschen - man hiess sie einst das Volk der Denker: denken sie überhaupt noch? - Die Deutschen langweilen sich jetzt am Geiste, die Deutschen misstrauen jetzt dem Geiste, die Politik verschlingt allen Ernst für wirklich geistige Dinge - »Deutschland, Deutschland über Alles«, ich fürchte, das war das Ende der deutschen Philosophie ... »Giebt es deutsche Philosophen? giebt es deutsche Dichter? giebt es g u t e deutsche Bücher?« fragt man mich im Ausland. Ich erröthe, aber mit der Tapferkeit, die mir auch in verzweifelten Fällen zu eigen ist, antworte ich: »Ja, B i s m a r c k ! « (GD VIII, 1)"
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For examples of the former position, see Maximilian Harden: Apostata. Neue Folge. Berlin: Stilke 1892, p. 24; Richard Gröper: Nietzsche und der Krieg. In: Die Tat 8/1 (1916) pp. 25-38. Esp. p. 30. For the latter position see Tomää G. Masaryk: Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914-1918. Berlin: Reiss 1925, pp. 352f. From the perspective of the post-Second World War period, this assimilationist position is also the one adopted by Georg Lukäcs: Die Zerstörung der Vernunft. Berlin: Aufbau 1954, pp. 268f. Friedrich Nietzsche: The Gay Science. Ed. and trans, by Walter Kaufmann. New York: Vintage Books 1974, p. 305 η. 66. References to Nietzsche's published works are by section and paragraph number. Titles of the works are abbreviated as follows: A - Der Antichrist; EH - Ecce homo; FW - Die fröhliche Wissenschaft; GD - Götzen-Dämmerung; GM - Zur Genealogie der Moral; JGB - Jenseits von Gut und Böse; Μ - Morgenröthe; Μ A - Menschliches, Allzumenschliches; UB - Unzeitgemäße Betrachtungen; WA - Der Fall Wagner; Ζ - Also sprach Zarathustra.
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Even later than Götzen-Dämmerung, in the twilight of his own fading sanity at the beginning of 1889, the »transfigured« Nietzsche pens a celebrated last letter to Jacob Burckhardt which concludes with the declaration: »Wilhelm Bismarck und alle Antisemiten abgeschafft« (KGB ΙΠ/5, 579). If the lack of a comma between »Wilhelm« and »Bismarck« should leave any suspicion that Nietzsche here means not Otto von Bismarck but his younger son Wilhelm,12 two less well-known passages from this period confirm that father Otto does not escape Nietzsche's censure quite so easily. Two days previously, Nietzsche writes to Meta von Salis: »Ich habe eben Besitz ergriffen von meinem Reich, werfe den Papst ins Gefängniß und lasse Wilhelm, Bismarck und Stöcker erschießen« (KGB ΠΙ/5, 572), and one of the very last passages in his notebooks is a declaration of »Todkrieg dem Hause Hohenzollern«, which includes a damning characterization of »Fürst Bismarck« as »der Idiot par excellence unter allen Staatsmännern« (KSA 13,643). On the basis of such passages as these the view that, in Kaufmann's words, »Nietzsche's reaction to Bismarck was overwhelmingly negative« is indeed compelling, and what is more it is a view that has been held across the political spectrum. It is perhaps no surprise that Kaufmann himself, motivated above all by the desire to prise Nietzsche away from the grasp of the National Socialists, should therefore cite, in the context of Nietzsche's relation to Bismarck, those late passages in which his anti-nationalism, anti-statism and above all his anti-anti-Semitism are most plainly in evidence - in other words where it can most credibly be argued that Nietzsche's animus against the Reich is a personalized antipathy directed against the most illustrious embodiment of its most egregious traits.13 Nor is it surprising that Kaufmann's view has in turn been accepted by more recent commentators from the liberal left; 14 what is surprising about the proponents of this view is that they include some of the most influential commentators from the nationalist right, too, who have found themselves forced to recognize, with no little discomfort, that Nietzsche was, in the words of Otto Westphal, one of the Feinde Bismarcks·15 Thus Ernst Bertram, in his 1918 monograph Nietzsche: Versuch einer Mythologie, expresses regret that Nietzsche should have so misunderstood Bismarck and deplores »seine merkwürdige Verzerrung und Verkennung Bismarcks, dessen Gestalt gerade er aus unbeteiligter 12
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J. P. Stern does indeed read »Wilhelm« as a reference to »the Chancellor's notoriously anti-semitic eldest [i/'c] son«, although by inserting a comma between the two names in citing the passage he evidently understands Nietzsche to be referring to Bismarck senior as well. See J. P. S.: A Study of Nietzsche. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1979, p. 32. Kaufmann's remark (Footnote 10) is made in the context of a note on paragraph 357 of Die fröhliche Wissenschaft, which was first published only in the extended second edition of the text (1887). All the passages Kaufmann cites in support of his contention (JGB 241; JGB 254; FW 357; EH III, »UB«, 1) date from the period 1886-1889, as do the other passages cited in the same context in: Kaufmann: Nietzsche (Footnote 4), pp. 37,45f. See, for example, R. J. Hollingdale: Nietzsche. London, Boston: Routledge & Kegan Paul 1973, pp. 19-22; Ansell-Pearson: An Introduction to Nietzsche (Footnote 6), pp. 26, 93; Daniel W. Conway: Nietzsche's Dangerous Game: Philosophy in the Twilight of the Idols. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1998, pp. 73f. Otto Westphal: Feinde Bismarcks. Geistige Grundlagen der deutschen Opposition 1848— 1918. Munich: Oldenbourg 1930.
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Feme ohne Zweifel der Reihe seiner macchiavellistischen Machttypen großen Stils zugesellt haben würde«.16 Alfred Bäumler devotes the longest chapter of his 1931 study Nietzsche der Philosoph und Politiker to a discussion of Nietzsche's remarks on Bismarck, and although, in the course of this repellently revisionist account, he manages to establish, among other things, that Nietzsche's praise for French culture was only ever an ironic expression of his true »Germanismus« and that he had a deep aversion to the Jews,17 even Bäumler is obliged to concede that Nietzsche's animosity towards Bismarck went beyond »tendenziöse Bosheit« and amounted to a »konsequenter Kampf«. 18 Bäumler manages to salvage the situation (for his own purposes) only by reducing Nietzsche's critique of Bismarck to a critique of Gründerzeit pusillanimity: Germany under Bismarck betrayed itself by remaining too Christian and too bourgeois, in other words it was not radical and not German enough. This conveniently allows him to conclude his study by bracketing Bismarck from the discussion and revaluing Nietzsche's criticisms of the Second Reich as presciently providing the ideological basis for the Third.19 Doubtless it will have emerged by now that, from whichever side of the political spectrum it has been propounded, I find this view of Nietzsche's relation to Bismarck - as one of unmitigated antipathy - untenable, and in the remainder of this article I want to argue instead that, on the contrary, the impression one gains from reading Nietzsche's remarks on Bismarck over the totality of his career is that Nietzsche, pace Bertram, did indeed accord Bismarck a place alongside his »macchiavellistischen Machttypen großen Stils«. Nietzsche had an enduring, if fundamentally ambivalent fascination with two specific character types: on the one hand the >great Germany in which category he includes pre-eminently Luther, Bach, Goethe, Beethoven, Schopenhauer and Wagner; on the other the >powerful manchess game< of statecraft is not for the faint-hearted, and heralds Bismarck as the consummate practitioner of the art. 21
For a brief account of Nietzsche's changing political position in the 1860s see AnsellPearson: An Introduction to Nietzsche (Footnote 6), pp. 23-25.
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The Prussian victory at Königgrätz in July 1866 was the turning point in Bismarck's reputation generally,22 and it also marked the inception of a fully-fledged Bismarckianism on Nietzsche's part. In October 1867 he began a year's military service, and although he seems not to have enjoyed the experience much, and was in any case invalided out after a riding accident the following March, it is from this period that we have perhaps the most unequivocal statement of his admiration for Bismarck, in a letter of 16th February 1868 to his friend Carl von Gersdorff: Politik ist jetzt das Organ des Gesammtdenkens. Ich staune über die Ereignisse und kann sie mir nur dadurch näher bringen, daB ich mir die Wirksamkeit bestimmter Männer aus dem Flusse des Ganzen herausscheide und einzeln betrachte. Unmäßiges Vergnügen bereitet mir Bismark [sie]. Ich lese seine Reden als ob ich starken Wein trinke: ich halte die Zunge an, daß sie nicht zu schnell trinkt und daß ich den Genuß recht lange habe. (KGB 1/2,258)
It is typical of Nietzsche that he can gain an understanding of political events only by associating them with the words and actions of a >great manconverted< to Bismarck in 1866.23 Nor did Nietzsche's appointment to the chair of Classics in Basel in the spring of 1869 dampen his enthusiasm, for although the university authorities stipulated that he should renounce his Prussian citizenship (which he did) so as to avoid being conscripted for military service in future, on the outbreak of the Franco-Prussian War the following year Nietzsche volunteered anyway.24 The events of 1870-1871 - the defeat of France, the unification of Germany and the foundation of the Reich - would later serve Nietzsche as a kind of shorthand designation for the precise point at which Germany's cultural fortunes began to wane, as when he writes in Götzen-Dämmerung: »>Deutscher Geiste seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto« (GD I, 23). At the time, however, the position - and Nietzsche's position - was of course not so clear-cut, and although - influenced in this regard by the sceptical pessimism of his Basel colleague Burckhardt - he was expressing concerns about Prussia's >anti-culturalism< in letters to his friends before the war with France had even been concluded,25 Die Geburt der Tragödie, published at the end of 1871, still calls for a regeneration of German culture through the Wagnerian Gesamtkunstwerk. Nietzsche's apprehensions about the pernicious cultural effects of the Reichsgriindung surface as early as 1873 in the first of the Unzeitgemäße Betrachtungen, »David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller«, which is directed precisely against the post-war triumphalism of the new German state and warns that cultural complacency might turn the victory into a defeat: 22
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See, for example, Edward Crankshaw: Bismarck. Harmondsworth: Penguin 1983, p. 224; David Blackbourn: The Fontana History of Germany. 1780-1918: The Long Nineteenth Century. London: Fontana 1997, pp. 257f. See Barry Millington: Wagner. New York: Vintage Books 1987, pp. 81f.; Derek Watson: Richard Wagner: A Biography. New York: McGraw-Hill 1979, pp. 226f. See R. J. Hollingdale: Nietzsche: The Man and his Philosophy. London, Boston, Henley: Ark 21985, pp. 53f. See letters of 7th November 1870 to Carl von Gersdorff (KGB II/1,155f.) and 23id November 1870 to Erwin Rohde (KGB II/l, 160).
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»in d i e Niederlage, ja Exstirpation des deutschen G e i s t e s zu G u n s t e n d e s > d e u t s c h e n R e i c h e s < « (UB I, 1). This first Unzeitgemäße Betrachtung already contains in nuce the arguments Nietzsche will range against the Germans fifteen years later, in »Was den Deutschen abgeht«, and in particular it establishes the disjunction between political and cultural importance - indeed the relation of inverse proportion between them - which will prove a constant throughout the remainder of Nietzsche's philosophical career. The only difference between 1873 and 1888 is that whereas in 1873 Nietzsche still cares passionately enough about the fate of German culture to express a great anxiety at the p r o s p e c t of its being p o t e n t i a l l y outstripped by its French counterpart, by 1888 this potential state of affairs has in Nietzsche's view been actualized. He simply accepts as faits accomplis Germany's cultural decline and the shift in Europe's cultural centre of gravity to Paris.
Nietzsche's Bismarckbild I: The Statesman and his Shifting Alliances What, though, of Nietzsche's Bismarckbild over the corresponding period? His published works certainly do not afford much of an insight. Indeed, there are only seven explicit references to Bismarck scattered across the whole of his published oeuvre. These include passing references like the one in the David Strauss essay included in a paraphrase of Strauss himself - the first time Nietzsche mentions Bismarck in print (UB I, 7). It is primarily in his notebooks that Nietzsche engages in a subterranean dialogue with Bismarck, and it is on this material that I shall for the most part now be drawing. Two passages from Nietzsche's notebook of early 1874, from his preparations for the fourth of the Unzeitgemäße Betrachtungen, »Richard Wagner in Bayreuth«, give us a typical insight into his view of Bismarck in the years immediately after 1871. In the first of these we find him for the moment suspending judgement over Bismarck's impact: »Ob er [Wagner] mit dem grossen Vertrauen, welches er in Bismarck setzte, Recht hatte, wird eine nicht zu feme Zukunft lehren« (KSA 7, 766). In the second, however, we find Nietzsche nevertheless already willing to admit Bismarck into his pantheon of great men (even if, at the same time, he is already showing an unwillingness to accord Wagner the same status): »Eine besondre Form des Ehrgeizes Wagner's war es, sich mit den Grössen der Vergangenheit in Veihältniss zu setzen: mit Schiller-Goethe, Beethoven, Luther, griechischer Tragödie, Shakespeare, Bismarck« (KSA 7, 774). Such lists of names are typical of Nietzsche's notebook style, yet one of the fascinating aspects of his changing relationship to Bismarck is that one can gain a very precise sense of its modulations from the company Bismarck keeps in Nietzsche's notebooks, from the varying configurations of such groupings. Not the least of the ironies about Nietzsche's relationship to Bismarck is that while Bismarck himself is busy with his Bündnispolitik, creating a shifting network of political alliances so as to maintain the balance of power in Europe, Nietzsche is inserting Bismarck into a variety of shifting alliances in his own imagination.
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A good illustration of this last point is the development in the triangular relationship between Nietzsche, Bismarck and Wagner. For whereas in the late 1860s Nietzsche and Wagner were united in their admiration for the Prussian Premier, the above quotations indicate the extent to which by the early 1870s Nietzsche's view of Bismarck had developed independently of his mentor's. Indeed, their divergent attitudes towards Prussian nationalism had already been apparent during the FrancoPrussian War, which prompted Wagner to expressions of the basest jingoism. 26 Yet Wagner's nationalism was to prove short-lived: his repeated attempts over the next few years to secure funding from Bismarck for the Bayreuth project proved fruitless, and in the later 1870s he turned violently against him, a fact which Nietzsche explicitly recognizes in Morgenröthe (Μ 167).27 While Wagner was turning against Bismarck, Nietzsche was of course turning against Wagner - particularly after the first Bayreuth Festival in 1876 (which Bismarck boycotted and Nietzsche left early). This turn lends a certain logical consistency to the respect for Bismarck which Nietzsche continues to evince. In Menschliches, Allzumenschliches (1878), Nietzsche devotes a whole section to political matters: »Ein Blick auf den Staat«. Here Bismarck is mentioned by name only twice, in passing. Much more significant are the numerous passages in which Bismarck is not mentioned by name, but simply referred to implictly undei the designation »der Staatsmann«, which grants him the same kind of archetypal status as Wagner (»der Musiker«) and Schopenhauer (»der Philosoph«) have by now assumed in Nietzsche's writings.28 A typical passage is the following, entitled »Im Dienste des Fürsten«: Ein Staatsmann wird, um völlig rücksichtslos handeln zu können, am besten thun, nicht füi sich, sondern für einen Fürsten sein Werk auszufuhren. Von dem Glänze dieser allgemeiner Uneigennützigkeit wird das Auge des Beschauers geblendet, so dass er jene Tücken und Härten, welche das Werk des Staatsmannes mit sich bringt, nicht sieht. (ΜΑ 1,445)
Ironically enough for such a thoroughgoing anti-Platonist, this construction of Bismarck as the archetypal statesman is a Platonic move. As in Plato's dialogue Statesman, Nietzsche here is abstracting from the current political situation so as to arrive at more general principles of (>Machiavelliancompellingideal typeim Buche stehtgood< Bismarck, yet through the later 1880s he is still presenting him as an outsider to the German national character, for example when he characterizes Bismarckian »Blut und Eisen« as a prescription to combat the anaemia endemic among Germans (JGB 254).34 His inclusion of Bismarck among that 61ite who are, paradoxically, the greatest Germans because they managed to transcend their Germanness is still apparent as late as 1887, when in the new fifth book of Die fröhliche Wissenschaft he argues that »Bismarck's Macchiavellismus mit gutem Gewissen, seine sogenannte >Realpolitik»ReichBildungChristenthumBismarckErfolg«< (EH ΙΠ, »UB«, 1): at the time he had avoided any explicitly ad hominem criticism of Bismarck,35 but now he makes the name a metonym for the >culture< whose creation he oversaw. Only at the end does Bismarck become, in Theodor Schieder's words, »mit einem Worte alles das, wogegen Nietzsche seine Blitze schleuderte, was er verachtete und als Symptom der Decadence erkennen wollte«.36 Nietzsche by this stage undoubtedly does see Bismarck as his personal antagonist. He intended sending Bismarck a personal copy of Ecce homo as a declaration of his enmity (KGB ΙΠ/5, 504), and in one of the drafts for that work he lists Bismarck first among the Germans who had >made him possibles his »Gegensatz-Art von Rasse« (KSA 13, 641). Nietzsche discards Bismarck at the last, I would argue, in order to supplant him: in the increasingly febrile narcissism of the late works there can be room for only one heroically self-de-Germanized German to teach the Germans what they lack, and that is not the Slavic Bismarck but rather the Slavic Nietzsche, who fantasizes in Ecce homo: »Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang, dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches« (EH I, 3). As he writes in another of the drafts for Ecce homo: »A parte, Etwas zum Singen, aber bloß für die durchlauchtigten Ohren des Fürsten Bismarck: / Noch ist Polen nicht verloren, - / Denn es lebt Nie[t]zky noch...« (KSA 14, 483).
Conclusion: The Aristocratic Radical and the White Revolutionary In conclusion, it seems to me that Nietzsche's reaction to Bismarck was far from being overwhelmingly negatives On the contrary, from his first encounter with Bismarck Nietzsche constructs him as a great man, indeed a genius, and for all the subsequent modulations in Nietzsche's Bismarckbild, over the course of his career he remains remarkably faithful to this positive early evaluation of Bismarck the man.37 It is perhaps not surprising that Nietzsche's respect for Bismarck should have endured for so long, given the similarities of outlook between the philosopher with the hammer< and the >Iron Chancellory between the >aristocratic radical· and the >white revolutionary real timeBritish Fa5adeofficial< nineteenth-century Prussian historiography came to view the Teutonic Order, formerly regarded as the opponent of Prussia, as the latter's precursor, whose settlement of the eastern territories had provided the foundation for Prussia's development as a major power. Hence the restoration of the Marienburg, undertaken between 1817 and 1842, was supported by the Prussian state. Secondly, Theodor von Schön, a reformer in the tradition of Stein and Hardenberg, who tirelessly promoted the project after his appointment as Prefect of West Prussia in 1815, envisaged the Marienburg as home to a constitutional assembly on the Westminster model; but the third element, the conservatism of Prussian state policy after 1815, prevented the realization of his vision. The fourth standpoint is that of Eichendorff, whose enthusiasm for the project was based neither on identification with Prussian aims, nor with those of liberalism, but on Romantic and Catholic premises. The anti-Polish comments in his Marienburg writings apparently place him in the camp of the Prussian government, which sought to suppress the Poles after their uprising of 1830-1831, and contrast markedly with liberal support for the Polish cause (V, 1183). He was, however, a Polish speaker and as a civil servant had expressed opposition to the government's attempt to make German obligatory for Polish-speaking Catholic clergy in Prussia.16 His thinking, though influenced by Romantic nationalism and by no means free of national stereotyping, cannot be equated with modern secular nationalism.17 Both of Eichendorffs poems published under the title Der Liedsprecher were written for performance, the first on the occasion of the visit of the then Crown Prince, subsequently Friedrich Wilhelm IV, to the Marienburg in 1822, the second 16
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Paul Stöcklein: Joseph von Eichendorff in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt 1963, p. 150. See also Hans Pömbacher: Joseph Freiherr von Eichendorff als Beamter. Dargestellt auf Grund bisher unbekannter Akten. (Veröffentlichungen der ostdeutschen Forschungsstelle des Landes Nordrhein-Westfalen. Series A, no. 7) Dortmund: [η. publ.] 1964, pp. 75f. Stöcklein: Joseph von Eichendorff, p. 12 states that Eichendorff is »ein Mann des pränationalen Zeitalters« and claims that there is no evidence of positive or negative attitudes to Polish culture on his part. In contrast, Alfred Riemen: Der Deutsche Orden in Eichendorffs Sicht. In: A. R. (Ed.): Ansichten zu Eichendorff. Beiträge der Forschung 1958 bis 1988. Sigmaringen: Thorbecke 1988, pp. 415-452, stresses nationalist and anti-Polish comments in his writings on the Marienburg. Neither critic, however, does full justice to the complexities and contradictions of Eichendorffs thinking, which still await detailed analysis.
Ein' feste
Burg«?
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for a visit by the Russian Tsarina. The fact that the first poem was recited to zither accompaniment by Theodor Kniewel, a grammar school teacher in Danzig, in the garb of a medieval troubadour,18 lends an air of incongruity to the proceedings which is accentuated in a report by the historian Johannes Voigt on the first performance of Der letzte Held von Marienburg, which reads like a description of Der gestiefelte Kater,19 By contrast, Eichendorffs account of the restoration of the Marienburg, although it idealizes the Teutonic Order, is otherwise factually reliable and is stylishly written throughout (V, 1181f.). Clearly, the restoration of the Marienburg, like that of Cologne Cathedral, had much to do with the reassertion of German identity after 1815, but the varied and conflicting concerns of its supporters gave it something of the >omnibus< function noted by Nipperdey as characteristic of the Cologne project.20 The central paradox inherent in it is the use of a Catholic order to legitimize a Protestant state: a window in the restored building depicted Luther at the Diet of Worms, defended by the last Prussian Grand Master of the Teutonic Order and the first Duke of Prussia, and in Der letzte Held von Marienburg Eichendorff echoes the famous words attributed to Luther on that occasion.21 In his later writings on literature he praised both Luther and his best known hymn, implicitly assimilating the latter to the spirit of the Befreiungskriege?2 he had already cited it in a poem in Chapter 18 of Ahnung und Gegenwart (1815), subsequently published as Der Tiroler Nachtwache (cf. 1,902, 904). This is surely how he saw the Marienburg, too: »Ein' feste Burg, Trutz der Gewalt« (I, 116). In the short and medium term, things turned out differently. The precariousness of the ideal of national unity evoked in connection with both the Marienburg and Cologne Cathedral was harshly illuminated by the uprising of the Silesian weavers in the year in which Eichendorffs account of the restoration of the Marienburg was published and the outbreak of revolutions four years later. His hope that a new sense of unity and purpose might emerge from these revolutions proved as illusory as his search for it in an idealized concept of medieval chivalry and in the spirit of anti-Napoleonic solidarity. In the longer term, however, the Marienburg has proved its worth. After severe damage in the Second World War, it was painstakingly reconstructed by Polish restorers, and like Cologne Cathedral and the Frauenkirche is now seen an outstanding example of the European cultural and architectural heritage. Hence modern concepts of Denkmalpflege have vindicated the >conservative< side in the nineteenth-century German debate on historic buildings, while the ideas of the other side - democracy, emancipation, cultural diversity - have proved more viable
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Eichendorff: Werke (Footnote 9). Vol. 1. Gedichte. Versepen. Ed. by Hartwig Schultz. 1987, pp. 239,982. Cf. Vol. 5, p. 804. Ibid. Vol. 4. Dramen. Ed. by Hartwig Schultz. 1988, pp. 959f. It is clear from Voigt's description that the main fault lay with the production and acting rather than with the text itself. Nipperdey: Der Kölner Dom (Footnote 1), p. 158. Hartmut Boockmann: Eichendorff und die Marienburg. In: Aurora 49 (1989), pp. 111-133. Esp. pp. 127f. Eichendorff: Werke (Footnote 9). Vol. 6. Geschichte der Poesie. Schriften zur Literaturgeschichte. Ed. by Hartwig Schultz. 1990, p. 968.
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Judith Purver
politically. These are now to be embodied in the new German capital, Berlin, and its restored seat of government, the Reichstag. Of the four buildings considered in this essay, the Reichstag is the only one of purely secular origin. Its past associations endow it with a more deeply ambivalent heritage than any of the religious edifices, and help to explain the choice of radical redesigning, rather than restoration, as the response to the problem of reintegrating it into the city's architectural and political landscape. The choice of the British architect Sir Norman Foster to design and supervise the reconstruction makes a further contribution to defusing any potential it might still have as a focus for extreme nationalism. This provides a link with the Frauenkirche, whose crowning glory, the baroque cross and orb above the dome, has been remade in Britain as a gift from the British people. In the last century, a lightning conductor was attached to the cross; it is not yet clear whether the replica will need one. In symbolic terms, however, it is itself a lightning conductor - for British as well as German nationalism. From the brief survey conducted here it is evident that, contrary to Nipperdey's assessment of the situation before 1989, political architecture is once more on the agenda of post-Wende Germany and ecclesiastical and historic buildings are again being invested with political and symbolic significance. The question of whether the modern reconstruction projects will prove politically more successful than the earlier ones must, of course, remain open. There are many more ethnic, cultural, and ideological fault lines in present-day than in nineteenth-century Germany and Europe, as well as greater opportunities for overcoming them. Whatever the case, an earlier observation of Nipperdey's is still relevant and may be quoted in conclusion: Die vergleichende Geschichte der Denkmäler und ihrer verschiedenen Formen kann [...] ein Beitrag zur Sozialgeschichte der nationalen Idee werden. [...] In der »Objektivität« der Denkmäler kommen [...] Momente zum Vorschein, die in den literarischen Explikationen des nationalen Bewußtseins nicht oder nur verstellt zu finden sind. 2 3
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Nipperdey: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert (Footnote 1), p. 133.
Jürgen
Barkhoff
In Grimms Wäldern wächst der Widerstand Kulturelles Gedächtnis und Waldsterben in Günter Grass' Die
Rättin
Kein Buch des neunzehnten Jahrhunderts ist im kulturellen Gedächtnis bis in unsere Gegenwart hinein so präsent wie die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Nach der Bibel gilt es als das in Europa weitestverbreitete Buch überhaupt, 1 und in Deutschland sind die von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten Märchen der einzige literarische Textkorpus, der nicht nur den Zusammenbruch des bildungsbürgerlichen Literaturkanons, sondern auch den Medienwechsel am Ende der Gutenberggalaxie von der Schrift zum Universum der Bilder zwar nicht unbeschadet, aber doch einigermaßen lebendig überstanden hat.2 Damit sind die Grimmschen Märchen ein wichtiges Element innerhalb jener »kulturellefn] Kontinuierung«, die »das Gestern an das Heute« zu binden vermag.3 Sie sind zentraler Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses (vor allem) der Deutschen in dem Sinne, in dem Jan Assmann dieses definiert hat als Sammelbegriff für den in jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an WiedergebrauchsTexten, -Bildern und Riten [...] in deren »Pflege« sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) Uber die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.4
Diese Bestimmung ist bereits anwendbar auf die Intentionen der Brüder Grimm. Die von ihnen gesammelten Märchen sollten bewahren, was, wie es in ihrer programmatischen Vorrede zur zweiten Auflage der Kinder- und Hausmärchen 1819 heißt, »sich in ihnen [an] Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten« hat, um der Gegenwart und zukünftigen Generationen zu ermöglichen, darin dem »Geist des Volkes in dem Einzelnen« nachzuspüren.5 Die Märchensammlung ist ein Kernstück ihres lebenslangen Projektes, den Deutschen durch die >WiederRomanJahr des Waldes< ausgerufen worden. Dem war in den Jahren zuvor eine die Ökobewegung weit überschreitende Mobilisierung der Öffentlichkeit angesichts des kranken deutschen Waldes vorausgegangen. 11 Kein von der Umweltbewegung aufgegriffenes Thema fand vorher oder nachher eine so breite, auch international beispiellose Resonanz. Die Sorge um den sterbenden Wald war eine, wie es schien, spezifisch deutsche Form der Betroffenheit, die besonders auch bildungsbürgerliche Schichten zu ergreifen im Stande war. Sie ist nur als Funktion des kulturellen Gedächtnisses zu erklären und hat dabei natürlich direkt mit den romantischen Ursprüngen des Mythos vom >Deutschen Wald< und den Bemühungen der Grimms zu tun. Zeitgleich mit dem Erscheinen des ersten Bandes der Kinder- und Hausmärchen gaben die Grimms in den Jahren 1812/1813 ihre Zeitschrift Altdeutsche Wälder heraus. Ihr Titel spielt an auf Herders Kritische Wäldchen, auf eine Sammlung von Miszellen also; er läßt sich im Kontext dieser Überlegungen aber auch so verstehen, daß hier ihr Programm kultureller Traditionsstiftung verknüpft wird mit dem Aufbruch in deutsche Wälder als »symbolische Reservate der volkstümlichen und mündlichen Überlieferung, die sie durch ihre anhaltende philologische Arbeit wiederzuentdecken gedachten«. 12 Naturalisierung der Kultur und kulturelle Überformung der (Wald-)Natur sind hier einander genau reziprok. Im ersten Paragraph der schon 10
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Siehe als Überblick: Peter Morris-Keitel: Anleitung zum Engagement. Über das ökologische Bewußtsein in Grass' Werk. In: Hans Adler, Jost Hermand (Hg.): Günter Grass. Ästhetik des Engagements. Frankfurt/M. etc.: Lang 1996, S. 145-168; Irmgard Eisner Hunt: Vom Märchenwald zum toten Wald: ökologische Bewußtmachung aus globalökonomischer Bewußtheit. Eine Übersicht über das Grass-Werk der siebziger und achtziger Jahre. In: Gerd Labroisse, Dick van Stekelenburg (Hg.): Günter Grass: Ein europäischer Autor? (Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik 35) Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1992, S. 141-168. Zur Stellung der Rättin innerhalb der apokalyptischen Literatur dieser Zeit siehe Axel Goodbody: Catastrophism in Post-war German Literature. In: Colin Riordan (Hg.): Green Thought in German Culture. Historical and Contemporary Perspectives. Cardiff: University of Wales Press 1997, S. 159-180. Ich nenne als Beispiel nur zwei charakteristische, auf ein breites Publikum zielende Titel aus dieser Zeit: Burkhard Mücke: Damit der Wald nicht stirbt. Ursachen und Folgen der Waldkatastrophe. München: Heyne 1983; Christof Bosch: Die sterbenden Wälder. Fakten, Ursachen, Gegenmaßnahmen. München: Beck 1983. Es ist kaum ein Zufall, daß in diesen Jahren auch verschiedene Anthologien zur Kulturgeschichte des Waldes erschienen. Siehe z. B.: Wolfgang Möhrig (Hg.): »Wer hat Dich, Du schöner Wald...«. Literarische Bermekungen zu einer Herzensangelegenheit. München: Universitas 1984; Timur Schlender (Hg.): Der Wald in Mythen, Märchen und Erzählungen. München: Knaur 1987. Harrison: Wälder (Anm. 1), S. 202. Vgl. auch: Simon Schama: Landscape and Memory. London: Harper Collins 1995. Kap. 2: Der Holzweg: The Track through the Woods, S. 75-134, bes. S. 100-109; Colin Riordan: Green Ideas in Germany: A Historical Survey. In: Riordan: Green Thought (Anm. 10), S. 3-41, bes. S. 8-11; Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München: Beck 1998, bes. Kap. 18: Bäume und eine nationale Idee werden gepflanzt, S. 176-184. Siehe insbesondere: Bernd Weyergraf: Deutsche Wälder. In: Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald. Ausstellungskatalog. Hg. v. der Akademie der Künste Berlin. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung 1987, S. 6-12. Die Ausstellung, zu der dies der Katalog ist, kam übrigens nur durch massive Unterstützung von Grass zustande.
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zitierten Vorrede benutzen die Grimms folgerichtig ein Naturbild, um die von ihnen zusammengetragenen und dadurch >geretteten< Märchen als etwas Bedrohtes und Erhaltenswertes darzustellen, wenn es heißt, daß die »von Sturm oder anderem Unglück [...] zu Boden geschlagen[e] [...] Saat [...] sorgfältig gebunden und [...] heimgetragen« werden muß: »und winterlang sind sie Nahrung und vielleicht auch der einzige Samen für die Zukunft.« 13 Genau in dieser Doppelperspektive als »zu Boden geschlagen[e]«, schützensweite »Saat« und als potentieller »Samen für die Zukunft« leben die Märchen in der Rättin wieder auf. Sie sind in die komplexe Handlungsstruktur des Romans im Rahmen eines Filmskripts verwoben, das der Erzähler mit dem ebenfalls intertextuell wiedererstandenen und inzwischen zum erfolgsorientierten Videoproduzenten avancierten Oskar Matzerath zusammen entwirft. Der Erzähler berichtet von den Plänen zu einem Stummfilm »über den sterbenden Wald, der einerseits anklagen soll, damit die Wälder in letzter Stunde gerettet werden, der andererseits Abschied nehmen will, weil es zu spät ist, viel zu spät ist, [...]« (XI, 117).14 Dieses Gegen- und Ineinander von Anklage und Abschied, Widerstand und Melancholie wird durchgespielt im Verhalten der Pensionsgäste des Waldgasthofs >Zum Knusperhäuschens So werden sie vorgestellt: Ein mehr dürres als dünnes Schneewittchen wird von der Bösen Stiefmutter, einer im Reisekostüm stattlichen Erscheinung, gestützt; Dornröschen reibt sich schlaftrunken die Augen und muß vom Prinzen, der, einem angestellten Pfleger gleich, die Schlafsüchtige begleitet, wieder und wieder wachgeküsst werden; Rotkäppchen, kenntlich durch eine Baskenmütze, zu der es gleich grelle Stiefel trägt, führt die schwerhörige Großmutter mit sich. (XI, 125)
Dazu treten noch auf Die Sieben Zwerge, Froschkönig und Prinz, Rapunzel, Jorinde und Joringel und Das Mädchen ohne Hände. 15 Das Knusperhäuschen, mit der Hexe als Hausherrin, Rübezahl (aus Musäus importiert) als Hausmeister und Rumpelstilzchen als Kellner, erscheint hier zu Beginn als eine Mischung aus Altersheim und Museum, in dem die leicht skurril gewordenen Märchenfiguren aus ihren Rollenklischees entwickelte Ticks pflegen, die Requisiten ihrer prominenten Rollen in Vitrinen bewundern und sich an ihrer glorreichen Vergangenheit in schwarzweißen Märchenfilmen aus dem Zauberspiegel-TV ergötzen. Diese Märchenwelt ist erstarrt und nostalgisch, ihre Hauptfiguren sind müde und melancholisch: das ist einerseits sicher zu lesen als satirische Warnung vor der Petrifizierung kultureller Tradition durch ihre Stillstellung in Prachtausgaben und Museen. 1 6 Doch die 13 14
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Jacob und Wilhelm Grimm: Vorrede (Anm. 5), S. 11. Grass wird im folgenden zitiert nach: Günter Grass: Werkausgabe in 16 Bänden. Hg. v. Volker Neuhaus, Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997. Nachgewiesen wird im Text in Klammern: (römische Ziffer=Bandzahl, arabische Ziffer=Seitenzahl). Eine vollständige Liste der intertextuellen Verweise auf die Grimmschen Märchen bei Mark Martin Gruettner: Intertextualität und Zeitkritik in Günter Grass »Kopfgeburten« und »Die Rättin«. Tübingen: Stauffenberg 1997, S. 85. Gruettner verzichtet allerdings auf eine Interpretation. Vgl. dazu Walter Filz: Dann leben sie heute noch? Zur Rolle des Märchens in »Butt« und »Rättin«. In: Günter Grass. 6. Auflage. Neufassung. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. (Text & Kritik 1) München: Edition Text & Kritik 1998, S. 93-100, bes. S. 97f. Filz spricht S. 98 von »Altersheimatmosphäre«.
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Melancholie hat auch und vor allem aktuelle Ursachen. Auch der Märchenwald bleibt vom Sauren Regen nicht verschont: »[...] wie Zauber liegt Trübsinn auf allen. Altbacknes Leid zehrt; doch steht noch größerer Kummer bevor. [...] Es ist, als habe sie jetzt das Ende eingeholt. Alle spüren, daß, wenn der Wald stirbt, auch sie sterben müssen.« (XI, 174f.) Der Untergang des Naturraums Wald bedeutet auch das Ende des Kulturraums Wald, den Verlust einer identitätsstiftenden Erinnerungskultur, die in den Märchen eines ihrer Zentren hatte. Mit dem Wald wird auch der Erfahrungs- und Assoziationsraum verschwinden, in dem Märchen und das Märchenhafte lebendig werden und wirken können. »Arm werden die Menschen ohne Wälder sein« (XI, 228) wissen auch Jacob und Wilhelm Grimm, die im Roman als »Sonderminister für Umweltschutz« und »Staatssekretär, für zunehmende Waldschäden zuständig,« (XI, 117) auftreten und sich mit den Märchengestalten verbünden. »Das hält selbst unser Märchenwald nicht aus.« (XI, 126) Diese melancholische Erwartung angesichts der an der Meßstation Knusperhäuschen gesammelten Daten über den Sauren Regen führt allerdings nicht zur Resignation. Lebendigkeit und Gegenwartssinn erhält die Märchenwelt durch die Ankunft von Hänsel und Gretel, mit der die Märchenhandlung einsetzt. Als 12- und 13jährige Kanzlerkinder Hans und Margarethe kommen sie geradewegs aus der Realität. Dort hatten sie die medienwirksame Inszenierung eines potemkinsch-gesunden Waldes durch die Regierung durchbrochen und die Kulissen der heilen Welt niedergerissen, um danach in den so als tot entlarvten Wald davonzulaufen. »Während sie laufen, wird der tote Wald, der wie das Erzgebirge auf gegenwärtigen Photos aussieht, zuerst zögernd, dann entschlossen, schließlich heftig grün, immer dichter grün wie im Bilderbuch, bis er zum unwegsamen grünen Märchenwald wird.« (XI, 122) Hänsel und Gretel bringen aus den Umweltdebatten der Gegenwart das Motto der Protestbewegungen auf die Märchenwiese und ermutigen die Versammlung, etwas gegen ihre drohende Auslöschung aus der kulturellen Erinnerung zu unternehmen: »Wehrt Euch« (XI, 176). Zuerst wird eine Delegation nach Bonn zu Jacob und Wilhelm Grimm geschickt. Da diese nichts ausrichten können, nehmen die Märchenfiguren die Rettung ihres Waldes selbst in die Hand und locken die Regierung mit Zauberkräften zu Dornröschens Schloß, wo der Kanzler, als diese sich sticht, märchenhaft und märchengemäß mit allen Ministern und Sicherheitskräften in Schlaf versetzt wird. »Alle Macht den Märchen« (XI, 357) lautet von da an die Parole. Auf märchenhafte Weise soll die beinahe unvermeidliche Ökoapokalypse doch noch aufgehalten werden: »Gute Luft! Reines Wasser! Gesunde Früchte!« Das sind, dem naiven Wunschschema der Gattung entsprechend, ihre drei Grundforderungen. »Fortan sollen die Märchen Mitsprache haben«, versprechen denn auch die Grimmbrüder, als sie die »Märchenregierung« (XI, 359) übernehmen. Es ist deutlich: Mit dieser Wendung der Dinge wird - auch gegen das böse Ende des Experiments - narrativ-fiktional erprobt, ob die Grimmschen Märchen auch angesichts der drohenden Aufkündigung aller Zukunft noch »Samen für die Zukunft« sein können. Die Revolte der Märchenfiguren ist eine Mobilisierung des kulturellen Gedächtnisses gegen die ökologische Gefahr. Die Trauer um seinen Verlust schlägt um in die Erinnerung des subversiv-utopischen Potentials von Märchen-
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wald und Märchenwelt. Jan Assmann versteht die Pflege der Erinnerungskultur in einer Gemeinschaft als soziale Verpflichtung im Sinne der Frage: »Was dürfen wir nicht vergessen«?17 Grass gibt auf diese Frage eine Antwort, wenn er mitten in dem dystopischen Gegenwartsroman aus dem Motivvorrat und den Vorstellungskomplexen der Märchentradition einen märchenhaft-utopischen Gegenentwurf, ein Reservoir phantastischer Widerstandsperspektiven und emotiver Antriebe erwachsen läßt. Der intertextuelle Bezug, den Grass dabei zu den Märchen herstellt, ist intensiv. Seine verschiedenen Dimensionen zu identifizieren ist wichtig im Hinblick auf die Diskussion seiner Wiikungsmöglichkeiten. Zuerst ist dazu festzuhalten, daß es sich um eine vom Autor intendierte und deutlich maricierte, manifeste Intertextualität handelt 18 Grass legt es darauf an, daß der Leser die Erinnerung an die eigene Märchenlektüre und den von ihr geprägten Erwartungshorizont aktiviert, um die Märchenhandlung der Rättin vor diesem Hintergrund zu lesen, so daß es zu einem Dialog zwischen Roman und Märchen kommt.19 Dieser Dialog bezieht sich sowohl auf das wiedererkannte Motiv aus den einzelnen Märchen wie auf die Gattung als Ganze. Diese Gattungsreferenz ist mindestens so wichtig wie der je spezifische intertextuelle Dialog mit dem Einzeltext. Beide Dimensionen zusammen nämlich erst konstituieren jene Spannung zwischen Grimmschem Prätext und Grassschem Intertext, auf die es in der Analyse ankommt. Die intertextuelle Zitation der Märchengattung als Ganze ruft im Rezipienten das auf, was Bausinger »Märchendenken« genannt hat: die Erwartung des guten Endes, das sich mit Hilfe des Wunderbaren gegen praktisch unüberwindbarc Schwierigkeiten und alle Wahrscheinlichkeit durchsetzt.20 Die Rezeptionshaltung des Märchendenkens als Provokation in diesen tief pessimistischen Untergangsroman zu stellen heißt, die daraus entstehende starke semantische und ideologische Spannung für die Reflexion unserer Gegenwaitssituation zu nutzen.21 Realisiert wird diese Spannung dabei in Porträt und Handlungsweise der einzelnen Märchenfiguren - und diese weichen, wie zu zeigen sein wird, erheblich von den Grimmschen Entwürfen ab. Insofern ist auch die intendierte und deutlich markierte, das heißt vom Leser erkenn- und rückbeziehbare Anspielung auf den einzelnen Märchentext für die intertextuelle Wirkungsstrategie wichtig. In der zum Teil parodistisch-satirischen Umschreibung der Grimmschen Rollenskripte und im Spiel mit dem Märchendenken und seinen utopischen Angeboten zusammengenommen nur realisiert sich das volle Assoziations- und Sinnpotential des intertextuellen Spiels.
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Assmann: Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 3), S. 30. Manfred Pfister nennt dies »Referentialität«. Der klare und souveräne Überblicksartikel von Pfister unterscheidet sechs Dimensionen der Intertextualität, die die Intensität intertextueller Verweise markieren. Grass' Roman ist nach vier Kriterien hochgradig intertextuell. Vgl. Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Ulrich Broich, M. P. (Hg.): Intertextualtiät. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaften 35) Tübingen: Niemeyer 1985, S. 1-30. Hier S. 26. Diese Dimension nennt Pfister »Kommunikativität«. Ebd., S. 27. Vgl. Hermann Bausinger: Möglichkeiten des Märchens in der Gegenwart. In: Hugo Kuhn, Kurt Schier (Hg.): Märchen, Mythos, Dichtung. Festschrift zum 90. Geburtstag Friedrich von der Leyens am 19. August 1963. München: Beck 1963, S. 15-30. Hier S. 19. Diese Spannung nennt Pfister: Konzepte (Anm. 18), S. 29 »Dialogizität«.
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Grass schreibt einen »Hypertext«,22 der eine bestimmte literarisch-kulturelle Tradition aufruft und fortsetzt, indem er sie umschreibt und der Gegenwart adaptiert. Dabei lotet er ihre Gegenwartsrelevanz aus und problematisiert sie zugleich 23 Bei Grass steht die Reinterpretation der Märchengestalten ganz im Zeichen des Leibes. Ihr Verhalten ist im Vergleich zur Grimmschen Vorlage zunächst einmal explizit sexualisiert, und zwar im Sinne einer polymorph-normverletzenden Erotik. Bei den Sieben Zwergen »fällt auf«, so erfahren wir als Erstes, »daß alle Sieben ihr Schneewittchen benutzen« und das »folgsame[ ]«, aber bald »erschöpftet ]« »Hausmütterchen« für seine Dienste entlohnen, indem sie der Bösen Stiefmutter als Puffmutter den Obulus in »Münzen alter Prägung« (XI, 241) entrichten. Die Hexe, an der der pubertierende Hänsel zuerst ihre »enorme[n] Titten« (XI, 124) wahrnimmt, hat »ein Verhältnis mit dem Hausknecht Rübezahl oder mit Rumpelstilzchen oder mit beiden« (XI, 242f.). Der Prinz aus Dornröschen (KHM 50) ist auf diese mit einem mechanisch-fetischistischen »Kußzwang« fixiert; die Prinzessin aus dem Froschkönig (KHM 1) und Gretel fordern »dem königlichen Frosch Seitensprünge« (XI, 242) ab, indem sie sich abwechselnd oder auch schon mal gemeinsam erwartungsvoll an den Brunnenrand legen. All dies ist mehr als die bekannte derb-erotische Fabulierlust des Erzählers Grass und beschränkt sich auch nicht auf das im engeren Sinne Sexuelle. Wenn Rotkäppchen angesichts drohender Unbill und Gefahr immer wieder im Wolfsbauch regressiven Schutz sucht, so gehört auch dieses Detail zu einer Pointierung des Leiblichen, die am besten mit Bachtins Kategorie des »grotesken Leibes« zu fassen ist. 24 Für Bachtin zeigt sich in der grotesken Verzerrung die subversive, ordnungssprengende Naturhaftigkeit des Leiblichen. Grass' Darstellung nun treibt das groteske Element, das Märchen ohnehin inhärent ist, geradezu provozierend hervor. Damit akzentuiert er gegen die bearbeitenden Eingriffe der Grimms, die ja das explizit Sexuelle wie das Nonnverletzende aus den Märchen eher entfernt haben,25 die Ursprünge des Märchens aus dem, was Bachtin »Volkskultur« genannt und im gleichen Zug als »Gegenkultur« gekennzeichnet hat. 26 Und tatsächlich erwächst die »anarchische Grundhaltung« (XI, 241), die Oskar Matzerath, dessen bekannter Sinn fürs Subversive sich hier mit der Quotenorientierung des Filmproduzenten glücklich paart, für seine Filmfiguren wünscht und die ihrem Protest gegen das Waldsterben zentral ist, aus der Naturhaftigkeit ihrer »sich begattenden, entleerenden,
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Vgl. zum Begriff Görard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993. Für Genette sind gerade Parodie und Travestie Hauptformen der Hypertextualität. Für Pfister: Konzepte (Anm. 18), S. 27f. ist dies die »Autoreflexivität«. Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zu Romantheorie und Lachkultur. München: Hanser 1969, S. 19. Siehe zur Desexualisierung der Märchen durch die Grimms bes. Maria M. Tatar: The hard facts of the Grimm's Fairy Tales. Princeton: Princeton Univ. Press 1987. Vgl. auch Lutz Röhrich: Artikel »Erotik, Sexualität«. In: Enzyklopädie des Märchens (Anm. 2). Bd. 4. 1984, Sp. 234-278, bes. Sp. 240-251. Der zitierte Bachtin-Text ist ein Auszug aus Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987.
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überfressenden grotesken Leibefr]«. 27 Der alte Ford, mit dem die Delegation der Märchenfiguren nach Bonn aufbricht und damit die Revolte gegen die herrschende Politik anstößt, kommt nur in Gang, weil die Hexe ihn »auf Hexenart« und »nach altem Rezept« auftankt. Der Vorgang wird detailfreudig beschrieben: »Sie hockt sich über einen Trichter, rafft ihre Röcke, zielt und pißt genau in den Trichter, daß es bald darauf im Tank plätschert.« (XI, 176) Doch das ist erst der Anfang. Das anarchisch-utopische Potential von Grass' Märchenwelt, die, in den Worten Bachtins, »Möglichkeit einer ganz anderen Welt, einer anderen Weltordnung, eines anderen Lebens« 28 hängt unmittelbar am Bund mit der Natur. Ihr Aufstand gegen die versteinerten Verhältnisse nimmt die Form einer magischen Renaturalisierung der Gesellschaft. Mit der Parole »Wir bringen ihnen den Wald in die Städte« (XI, 334) wird das zauberkundige Personal aus allen Märchen- und Feengeschichten mobilisiert, um die Gegenkräfte der Natur in die Zivilisation zu tragen: »Das ist unsere Stunde! Zeigt, was ihr könnt. Verzaubert, be wispert, sprecht los oder bindet. [...] sprießen, treiben, wurzelschlagen, überall wuchern, ranken, knospen und grünen soll es.« (XI, 334) Phantasie und Natur verbünden sich; überall ausgestreute Zaubermittel sorgen dafür, daß dem zerstörerischen Wirtschaftswachstum ein ganz anderes Wachstum entgegengesetzt wird, das Grass wuchernd-üppig beschreibt. Kletterpflanzen in Starkstrommasten, die Fernsehtürme hinauf. Geschützrohre treiben knospende, dann vielblättrige Äste. Bahnhöfe werden zu Treibhäusern. Den Rhein-MainFlughafen überschwemmt tollwütig grün. Aus allen Fenstern der Ministerien und Chefetagen kotzt sich Grün aus, nimmt einzig Grün zu. Wachstum! Überall legt die Natur sich quer. Seltsame, vorher nicht gekannte Pflanzen fallen ihr ein, darunter solche, die Beton zermürben, Mauern brechen, Stahlrohre biegen, solche, die Karteikarten fressen, und solche sogar, deren Saugnäpfe Daten löschen. Moose und Flechten sprengen die Bank. Parkettböden treiben Pilzkulturen. Mannshohe Buchstaben, die Firmennamen bilden, treiben Ableger und werden unleserlich. Unwiderstehlich nimmt Natur überhand. Kein Verkehr mehr in keine Richtung. Kein Rauch aus Schornsteinen. Keine Abgase, dicke Luft. (XI, 357)
Diese »Karnevalisierung«29 der Verhältnisse erfaßt auch die Menschen genau da, wo sie in der Märchenwelt ihren Ausgangspunkt hatte, in ihrer Leibnatur: Die anfangs erschreckten Menschen sind plötzlich lustig und haben Zeit. Zwischen stillgestellten Produktionsanlagen, die sich zu botanischen Gärten auswuchsen, und auf übergrünten Autobahnen schlendern Grüppchen und Gruppen. Einzelne pflücken hier Blumen, entdecken dort sündhaft süße Früchte. Jungen und Mädchen klettern an rankenden Pflanzen hoch. Liebespaare hausen in Riesenerdbeeren. Überall lädt diese Frucht zu hintersinnigen Spielen ein. Offen steht allen der Garten der Lüste. Deshalb halten Frauen und Männer, Kinder und Greise auf verkrauteten Plätzen Schilder und Transparente hoch, auf denen zu lesen steht: »Alle Macht den Märchen! [...] Wir fordern eine Märchenregierung!« (XI, 357)
Zwei emanzipative Elemente des Märchens zieht Grass hier zusammen, um seinem Roman eine »Karnevalisierung des Bewußtseins« einzuschreiben. Zum einen das
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Bachtin: Literatur und Karneval (Anm. 24), S. 19. Ebd., S. 26. Ebd., S. 28.
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Potential der Groteske, gerade angesichts des augenscheinlich Unausweichlichen »eine fröhliche Freiheit des Gedankens und der Einbildungskraft zurückzugewinnen«, die das »monolithisch Ernsthafte[ ] und Unabdingbare[ ]« der realgeschichtlichen Entwicklung zu relativieren vermag. 30 Zum anderen die Glücksversprechen des Phantastischen gerade angesichts aussichtsloser und unabwendbarer Situationen, deren »Versuchsanordnung« Richter und Merkel so formuliert haben: »Wie wäre es, wenn meine Wünsche und meine wirkliche Erfahrung nicht mehr zwei so sehr verschiedene Dinge wären? In seiner Weise bezieht sich das Märchen gerade dort, wo es unwirklich wird, sehr genau auf die Lebenswirklichkeit seiner Hörer.«31 Niemand hat diese utopische Dimension der Märchengattung als Ganzer schärfer pointiert als Ernst Bloch: »Es war einmal: das bedeutet märchenhaft nicht nur ein Vergangenes, sondern ein bunteres und leichteres Anderswo. Und die dort Glücklichgewordenen leben, wenn sie nicht gestorben sind, heute noch.« 32 Zur Ökoapokalypse und ihren Auslöschungsalpträumen ist die Glücksökonomie des Märchens samt ihrem Unsterblichkeitstopos der radikale Gegenentwurf. Grass, der sich in seinem Roman schon mal über die Deutungswut der zeitgenössischen Märchenforscher lustig macht,33 kennt deren Positionen sehr wohl und weiß also genau, daß seine pointierte Stärkung des Grotesken und Anarchischen im Dienste des Utopischen gegen Strategie und Intentionen der Märchenbrüder als >domestizierende< Bearbeiter ihrer Vorlagen gerichtet ist.34 Insofern wird ihr kulturelles Erbe nicht nur zitiert, sondern auch intertextuell um- und fortgeschrieben. Als Wilhelm und Jacob Grimm nach der Festsetzung der Regierung Gäste im Knusperhäuschen sind, fällt ihnen nicht nur als erstes die erotische Freizügigkeit ihrer losgelassenen Figuren auf; sie distanzieren sich sofort, wenn auch im Gestus der Philologen, die genau wissen, daß Rezeption nur sehr bedingt steuerbar ist: Die sprunghaften Aktivitäten des Froschkönigs zwischen Prinzessin, Gretel und der Hexe, von den Zwergen »mit anzüglichen Gesten« gedeutet, kommentiert Wilhelm: »Du siehst, Bruder, unsere Märchen haben ihr Eigenleben.« (XI, 331) Der von Bachtin beschriebenen Logik der Entwicklungen folgend, übertragen die beiden diesen
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Ebd. Dieter Richter, Johannes Merkel: Märchen, Phantasie und soziales Lernen. (Basis Theorie 4) Berlin: Basis Verlag 1974, S. 53. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 5 1978, S. 410. Das hier relevante Kapitel: Bessere Luftschlösser in Jahrmarkt und Zirkus, in Märchen und Kolportage, S. 409-428 ist wiederabgedruckt in: E. B.: Ästhetik des Vor-Scheins I. Hg. v. Gert Ueding. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 72-90. Siehe zum Utopischen als einer Wirkungsdimension des Märchens auch Christa Bürger: Die soziale Funktion volkstümlicher Erzählformen - Sage und Märchen. In: Heinz Ide (Hg.): Projekt Deutschunterricht 1. Kritisches Lesen - Märchen. Sage. Fabel. Volksbuch. Stuttgart: Metzler 1971, S. 26-56. Ein Forschungsüberblick bei: Max Lüthi: Märchen. 9., durchgesehene und ergänzte Auflage. Bearbeitet von Heinz Rölleke. (Sammlung Metzler 16) Stuttgart, Weimar: Metzler 1996, S. 91-99. Vgl. eine Szene des Filmtreatments, in der die Grimms mit »einer Gruppe von Professoren [...], die alle Märchenexperten und Hintersinnforscher sind [...] ein längeres Fachgespräch führen«. (XI, 275). Vgl. Zipes: The Brothers Grimm (Anm. 7); Tatar: The hard facts (Anm. 25).
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Befund sogleich aufs Politische, als ihnen das Zauberspiegel-TV die ersten Bilder anarchischer Verhältnisse in der führungslosen Bundesrepublik liefert: Erschrocken begreifen die Grimmbrüder, welche Macht immer noch von den Märchen ausgeht. Wilhelm flüstert in Jacobs Ohr: »Das ist unser Werk, Bruder. Als Sammler und Herausgeber sind wir die wahren Anstifter.« Jacob antwortet flüsternd: »Man hat unsere schlichten Hausmärchen zu wörtlich genommen.« (XI, 334)
Soviel Eigenleben freilich ist den beiden zutiefst verdächtig; sie protestieren sogleich dagegen, daß ihre Figuren aus dem von ihnen vorgesehenen Skript ausbrechen: »Das dürft ihr nicht! Solch ein Märchen geht böse aus!« (XI, 336) »Aufruhr ist das, Anarchie!« (XI337) Als die Menschen kurz darauf fordern: »Die Grimmbrüder sollen uns regieren!« (XI, 357), sind die Märchenfiguren denn auch uneins, ob die beiden die richtigen Sachwalter ihrer phantastischen Lösung der Umweltkrise seien. Grass porträtiert die beiden Grimms gleich zu Beginn des Romans mit einem Erzählerkommentar, der an auktorialer Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Die »ins späte 20. Jahrhundert fortgeschriebenen Brüder« werden vorgestellt als »nur gelegentlich wankende, so kluge wie sensible, heimlich jedoch an mangelnder Radikalität leidende, kurzum: liberale Grimmbrüder« (XI, 54). Sie sind sich ihrer politischen Verantwortung bewußt und stehen auf Seiten des Fortschritts und der guten Sache, sind aber als traditionsorientierte Gelehrte und staatstreue Bürger so gemäßigt-reformorientiert, daß sie letztlich zu wirkungslosen Alibifiguren degradiert sind. »Auf jeden Fall sehen sich beide dem Wald verpflichtet [...] Ihre Kritik an der Energiewirtschaft ist zitierbar, doch folgenlos geblieben. [...] Man sagt: die Grimmbrüder sind zu liberal. [...] Man leistet sich die beiden.« (XI, 117f.) Diese Fortschreibung der politischen Rolle der Grimms aus dem neunzehnten Jahrhundert in die Bundesrepublik des Jahres 1985 paßt durchaus zu Einschätzungen der GrimmBiographik und entbehrt damit nicht der Stimmigkeit.35 Die Bedenken der Märchenfiguren sind berechtigt, die nobel-idealistische Haltung der Grimms taugt nicht zur Veränderung der Strukturen der Industriegesellschaft. Bei der ersten Kabinettssitzung der Notstandsregierung der Grimms werden sie von Generälen und Industriebossen erst verlacht und dann verhaftet. Gegen die Riesen aus der Märchenwelt, die bei der Revolte geholfen hatten, werden dabei unter dem Kabinettstisch die »Riesen« (XI, 392) der Geld- und Profitgesellschaft eingesetzt: Bestechungsgelder für die auch am Tisch sitzenden Bischöfe und Professoren, Tausendmarkscheine auf denen, ironisch genug, das Portät der Grimmbrüder prangt. Jacobs Reaktion stammt aus dem Jahre 1838: »Wir widerstehen dennoch. Ich werde eine Denkschrift verfassen.«36 Doch das eigentliche Ende der märchenhaften Utopie 35
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Vgl. z. B.: Gabriele Seitz: Die Brüder Grimm. Leben - Werk - Zeit. München: Winkler 1984, S. 123-154: Kap. V: Das bürgerliche Pathos der Mitte. Die Brüder Grimm und die Politik; Hans-Bernd Harder: Einführung. In: Η-B. H., Ekkehard Kaufmann (Hg.): Die Brüder Grimm in ihrer amtlichen und politischen Tätigkeit. Ausstellungskatalog. Kassel: Weber & Weidemeyer 1985, S. 13-22. Eine Anspielung auf die Denkschrift »Über meine Entlassung«, mit der Jacob auf die Entfernung der Göttinger Sieben von der Universität im November 1837 reagiert hatte. Vgl.
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kommt nicht aus der Politik, sondern mitten aus der Märchenwelt selbst. Der Prinz, der von seinem Dornröschen lassen mußte, weil es für die Ruhigstellung des Kabinetts gebraucht wurde, ist von seinem Kußzwang so besessen, daß er sich von den ihn bewachenden Zwergen befreit und den Generälen den Weg zu Dornröschens Schloß zeigt, nur um diese wiederzubekommen. Mit Räumdrachen nimmt das Militär zuerst Richtung aufs Knusperhäuschen und dann aufs Schloß. Die Zerstörung der Märchenwelt ist vollständig und wird drastisch ausgemalt, Widerstand ist zwecklos: Vom Dorn wird der Zauberer Merlin gespießt. Rapunzels Langhaar verfängt sich in der Raupenkette eines Räumdrachens. Das Mädchen mit den abgehauenen Händen geht in Flammen auf, während noch seine Hände bis zu allerletzt hier einen Sehschlitz verstopfen, dort eine Schraube zu lockern versuchen und endlich doch der drachenförmigen Gewalt erliegen. (XI, 420)
Nachdem dieser seine Schuldigkeit getan hat, »wirft der Greifer des kommandierenden Räumdrachens den wachküssenden Prinzen und sein Dornröschen weit von sich, so daß beide zerschmettert sind (XI, 422). Nur Hänsel und Gretel entkommen. Wie ist es zu deuten, daß die fast vollständige Vernichtung der Märchenwelt genau in jener grotesken Reinterpretation des Märchenpersonals ihren Ursprung hat, die auch Träger der utopischen Perspektiven war? Steckt darin nicht ein grundsätzliches Dementi gegenüber der utopischen Kraft des Märchenhaften, in die der Roman zuvor so viel Hoffnung investiert hatte, eine dadurch um so radikalere Absage an die Gegenwartsrelevanz kultureller Überlieferung? Bietet die Rättin nur mehr den »Tod des Märchens« als »letztes Märchen«? 37 Dazu ist zunächst anzumerken, daß die Groteske nicht nur - mit Bachtin - Ausdruck der karnevalesken Welt ist, sondern - mit Wolfgang Kayser - auch der entfremdeten Welt. 38 Zum Kußzwang als Ausdruck gesellschaftlicher Entfremdung hat Filz einen überzeugenden Deutungsvorschlag gemacht: Ausgerechnet die Geste der wunderbaren Erlösung stiftet das Verhängnis [...]. Die absurde Logik des sinnlos-verselbständigten >Kußzwanges< folgt der absurden Logik eines sinnlos-verselbständigten Fortschrittsstrebens [...]. Das Motiv der Erlösung, wesentliches Element des märchenkonstituierenden Schemas (nämlich der »Wiederherstellung einer zeitweilig gestörten Ordnung« Volker Klotz) bestätigt die negative Ordnung. 39
Doch dieser klugen Interpretation entgeht, daß Grass' Verfremdungsstrategien eben die Doppelgesichtigkeit des Grotesken präsent halten, seine utopische wie seine dystopische Dimension. In der Logik des Romans als Ganzem wie in der Logik des einzelnen Erzählstrangs >Märchenfilm< kann das auch gar nicht anders sein. Immer wieder hat Grass betont, daß sein Erzählen gegen den drohenden Untergang gerichtet sei, »weil ich mit Wörtern das Ende aufschieben möchte« (XI, 16), und also als Warnung und Appell verstanden werden müsse. Genauso wird auch das Projekt
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Seitz: Die Brüder Grimm (Anm. 35), S. 141-143. Filz: Dann leben sie heute noch? (Anm. 16), S. 97. Vgl. Wolfgang Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg, Hamburg: Stalling 1957. Filz: Dann leben sie heute noch (Anm. 16), S. 98. Das Zitat im Zitat aus Volker Klotz: Weltordnung im Märchen. In: Neue Rundschau 91 (1970), S. 73-92. Hier S. 84.
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des Märchenfilms im Buch selbst begründet; als Anklage, die aufrütteln soll. Für den Appellcharakter des Buches ist seine utopische Dimension, die Fähigkeit, »andere Wirklichkeiten, Gegenwelten« 40 zu entwickeln, unabdingbar. Grass hat verschiedentlich deutlich gemacht, daß Märchen genau deshalb ein wichtiger, für ihn »stilbildender« Teil der kulturellen Überlieferung sind, weil sie dazu wie kaum eine andere literarische Gattung in der Lage sind. »Denn so verstehe ich Märchen und Mythen: als Teil, genauer: Doppelboden unserer Realität.« Er findet in ihnen »Relikte einer Bild-, Zeichen- und Bedeutungswelt«, in der unsere Sehnsüchte, Wünsche und Hoffnungen bewahrt werden und für die Literatur zur Verfügung stehen: »Die Literatur lebt vom Mythos. Sie erzählt die Wahrheit jedesmal anders. Ihr Gedächtnis speichert, was wir erinnern sollten.« (XVI, 22f.)41 Ebenso zentral für die Wirkungsabsicht des Märchenelements in der Rättin ist aber auch der Verzicht auf ein gutes Ende: »[...] ich will auch keine falschen Hoffnungen machen. Denn das falsche Hoffnungenmachen lähmt auf eine ganz andere Art und Weise«. 42 Auch deshalb hat Grass das Wunderbare der Märchenhandlung erzählstrukturell als »einzige[n] Erzählstrang, der, auf die Realität der Erzählung bezogen, eindeutig als Fiktion in der Fiktion bestimmbar ist«,43 deutlich vom atomaren Untergang distanziert und ausgenommen. Für die Wirkungsintention im Sinne der Friedens- und Umweltbewegung muß einerseits die befreiende Kraft umstürzlerischer Phantasie als Potentialität vorgeführt werden. Das darf aber nicht vergessen machen, daß wir, mit dem berühmten Eröffnungssatz der Kinder- und Hausmärchen zu reden, eben nicht leben »in den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat«, 44 und daß auch unser kulturelles Gedächtnis nicht unaffiziert bleibt von den Schrecken und Ausweglosigkeiten der Gegenwart. Insofern kann das Märchen von der Revolte der Grimmschen Figuren gar nicht anders als böse ausgehen und insofern hat es auch seine Stimmigkeit, daß das Unheil auch in der Märchenwelt sitzt und von dieser ausgeht. Stellt man diese Überlegungen in den größeren Kontext der Märchenrezeption in der modernen fiktionalen Literatur, so bestätigt sich ihr Befund. Schon Bausinger forderte 1963, daß die Aufnahme von Märchenmotiven heute welthaltig, selbstreflexiv und ironisch gebrochen sein müsse, um einen glaubwürdigen Spiegelungsraum der Gegenwartssituation anzubieten. »Diese gebrochene Haltung müßte auch das happy end betreffen.«45 Auch fur Eicher sind »Abweichungen vom konventionell 40
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Günter Grass: Mir träumte, ich müßte Abschied nehmen. Gespräch mit Beate Pinkerneil (März 1986). In: G. G.: Werkausgabe in zehn Bänden. Hg. v. Volker Neuhaus. Bd. 10. Gespräche mit Günter Grass. Hg. v. Klaus Stallbaum. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1987, S. 342-368. Hier S. 343. Günter Grass: Literatur und Mythos. Rede auf dem Schriftstellerkongreß in Lathi (Finnland) [1981], In: Grass: Werkausgabe (Anm. 14). Bd. 16. Essays und Reden III. 19801997, S. 19-23. Grass: Mir träumte, ich müßte Abschied nehmen (Anm. 40), S. 343. Walter Filz: Es war einmal? Elemente des Märchens in der deutschen Literatur der siebziger Jahre. (Kölner Studien zur Literaturwissenschaft 1) Frankfurt/M. etc.: Lang 1989, S. 271. Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich (KMH 1). In: Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen (Anm. 5), S. 23-26. Hier S. 23. Bausinger: Möglichkeiten des Märchens (Anm. 20), S. 26.
In Grimms Wäldern wächst der Widerstand
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glücksverheißenden Märchenschluß« 46 heute bei Aktualisierungsversuchen der Märchengattung ebenso die Norm wie dringend geboten. Daran läßt sich die für Grass charakteristische Verbindung von aufklärerisch-utopischer Wirkungsintention und bitterer Negativität, die ja zum Grundbestand satirischer Strategien in der Moderne gehört, mühelos anschließen. 47 Wenn aber als Ende des Films die Brüder Grimm mit Hänsel und Gretel in einer alten Kutsche »biedermeierlich gekleidet« (XI, 451) und mit dem Kommentar Jacob Grimms »In solcher Gegenwart ist kein Bleiben. Wir sind nicht mehr erwünscht.« (XI, 452) rückwärts in die Vergangenheit fahren: Ist das nicht doch die endgültige Absage an die Relevanz kultureller Überlieferung, ein bitterer Kommentar auf den Funktionsverlust des kulturellen Gedächtnisses? In der Rättin wird noch ein weiteres von den Grimms gestiftetes Monument des kulturellen Gedächtnisses intertextuell eingesetzt. In kritischen Momenten liest die Großmutter aus dem Grimmschen Wörterbuch vor und kommentiert so Situation und Stimmung - bis zuletzt: »Bis auch sie erfaßt und zerkleinert wird, liest Rotkäppchens Großmutter aus dem Grimmschen Wörterbuch laut gegen die röhrende Gewalt an: >Gnade!< liest sie, >gnädig, gnädiglich, gnadenlos...Natur< in der deutschsprachigen Lyrik 1850-1890 »Wenn Realismus verhandelt wird, ist von Lyrik in der Regel nicht die Rede« - so leitet Almut Todorow ihren Beitrag zu »Lyrik und Realismus« in einem Handbuch aus dem Jahre 1981 ein.1 Und die Neugier der Leser zu diesem Thema bescheidend, engt sie es für ihre Studie sogleich wieder ein und beschränkt sich auf die Mitte des neunzehnten Jahrhundeits, so daß Autoren im Vordergrund stehen, die wie Mörike und Heine zumindest mit den quantitativen Anteilen ihres Werks eindeutig dem Zeitraum vor 1850 zugehören. Wo in der Erzählprosa wichtige Neuorientierungen sowohl in den Traditionslinien einzelner Genres als auch für die Zuordnungen der Genres insgesamt beschrieben werden können, stellt sich für die Lyrik ein ernüchterndes Urteil: Sie zeige nur beschränkte Variation der klassisch-romantischen Tradition, sie verenge das Politische aus der Lyrik des Vormärz auf das Patriotische im Umfeld der Ereignisse von 1866 und 1871. Und dazu als basso continuo die Kennzeichnung des Konventionellen, der schematischen Reproduktion der Muster von Natur-, Liebes- und Gedankenlyrik, die zwischen 1770 und 1830, also im Epochenzusammenhang der sogenannten Goethezeit, ausgebildet worden waren.2 Eben diese Muster, die Texte des lyrischen Kanons, wurden nach 1850 gehegt und gepflegt in den Sammlungen der Anthologien, in Beispieltexten der Poetiken und Literaturgeschichten, in der häuslichen und öffentlichen Deklamationspraxis; sie wurden auf den Flügeln des Gesanges in die Salons und guten Stuben des Besitz- und Bildungsbürgertums getragen, in Reden zu politischen und privaten Anlässen vielfach zitiert: sie waren wichtigstes Zahlungsmittel im Tausch der Kulturgüter. In den knapp 80 Jahren, die zwischen 1840 und dem Ende des Ersten Weltkrieges lagen, kamen etwa 4.000 bis 5.000 Lyrik-Anthologien auf den Buchmarkt. Lyrik wird nach 1850 zur Domäne der poetae minores und Dilettanten, über die Anthologien finden sie ihr Publikum. 1890 - auf dem Höhepunkt der Anthologie-Mode erschienen in einem Jahr rund 90 Lyrik-Anthologien.3 Solche Anthologien erreichten 1
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Almut Todorov: Lyrik und Realismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Klaus-Detlef Müller (Hg.): Bürgerlicher Realismus. Grundlagen und Interpretationen. Königstein/Ts.: Athenäum 1981, S. 238-254. Hier S. 238. Erst jüngst wird der Gegenstandsbereich mit einer monographischen Studie erschlossen - vgl. Rolf Selbmann: Die simulierte Wirklichkeit. Zur Lyrik des Realismus. Bielefeld: Aisthesis 1999. In diesem Sinne zuletzt: Jürgen Fohrmann: Lyrik. In: Edward Mclnnes, Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 6) München: Hanser 1996, S. 394-461. Hier S. 430f. Grundlegend: Joachim Bark, Dieter Pforte (Hg.): Die deutschsprachige Anthologie. 2 Bde. Frankfurt/M.: Klostermann 1969f.; ferner Günter Häntzschel (Hg.): Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840-1914. München: K. G. Saur 1991.
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oft die 10., wenn nicht gar 15. und 20. Auflage: Erfolgsbücher also. Diese Sammlungen vereinten die Lyrik-Texte des Kanons mit den zeitgenössischen Produktionen; jedes der neu geschaffenen Gedichte wurde - wie ein Foto im Familienalbum - in die Reihe deijenigen eingeordnet, denen es gleichsam seine Existenz verdankte, wurde mit den lyrischen Vorfahren verglichen, daran gemessen und borgte der eigenen (mitunter kümmerlichen) Existenz vom Glanz der Familie, in die hinein es geschrieben war. Konkret gesagt: die lyrischen Muster der klassisch-romantischen Tradition haben nach 1850 noch so viel Gewicht, daß ihnen auch die neuen Erfahrungen zugewiesen werden, bis deutlich wird, daß sich Menge und Spezifik dieser veränderten Erfahrungen zum Status des Subjekts, zu den Geschlechter- und Familienbeziehungen, zum Verhältnis von Individuum und Natur, zur industriellen Revolution und zur Großstadt in den überkommenen Modellen nicht mehr hinreichend aufnehmen lassen. Die Folgen sind vor allem für die Jahrzehnte nach 1860 zu erkennen. Zum einen kommt es zu Überlastungen der tradierten Modelle, die dann Bruchstellen zeigen, weil sie die neuen Erfahrungen nicht mehr in umfassender lyrischer Integration zu verarbeiten vermögen (dazu noch Genaueres am Beispiel der Texte von Storm). Zum anderen führt die Spannung zwischen dem Stabilitätsanspruch der lyrischen Modelle und dem deutlichen Wandel in den literaturrelevanten Erfahrungen zu einem erheblichen Verschleiß der lyrischen Muster. Die Ordnungsmöglichkeiten dieser Muster werden überanstrengt; sie fungieren nur noch als Schemata, als Reproduktion des Überkommenen und vermitteln bloß den Anschein von Organisation und Deutung wichtiger Aspekte der zeitgenössischen Wirklichkeit: es werden Leerformeln der lyrischen Sinnstiftung produziert (vgl. weiter unten zu Felix Dahns Abendfeier). Doch soll dieser Befund zur Lyrik in der 2. Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als einer innovationsarmen Periode nicht bedeuten, daß überhaupt keine Veränderungen und Entwicklungen stattgefunden hätten. Im Sinne des Realismusprogramms wird vielfach die Wirklichkeitsreferenz der Gedichte verstärkt. Die beobachtbaren äußeren Erscheinungen - insbesondere in Naturszenerie und Naturgeschehen - erhalten besonderes Gewicht; das Bild der Natur wird aus den Details der Naturerscheinungen erstellt, die symbolische Wirkung des signifikanten Details wird abgebaut zugunsten der Addition charakteristischer Elemente. >Natur< setzt sich dann - wie für Storms Abseits und Meeresstrand noch zu zeigen ist - aus vielfältigen Naturerscheinungen zusammen. Die frei schweifende, die assoziierende Einbildungskraft wird so an konkrete Vorstellungen gebunden, wird in sinnlich erfahrbaren Phänomenen fixiert.4 Dieser >modernen< Konkretisierung des Sinnlichen steht die traditionale Praxis der Abstraktion von Erlebnissen, Stimmungen und Erfahrungen gegenüber. Sie wird auch
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Zugleich ergibt sich die Tendenz, die bewegliche Referentialität von Metaphern und Symbolen in der lyrischen Rede für die Rezeption festzulegen, um beispielsweise ein Bild sogleich mit der Ausdeutung zu verbinden und die konkrete sinnliche Erfahrung auf den Begriff zu bringen; auch dazu mehr, weiter unten, am Beispiel von Felix Dahn.
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bestimmt von den Veränderungen im Blick auf die bevorzugten Adressaten der Lyrik. Nach 1850 wurden Gedichtbände und Anthologien vorwiegend für das Publikum gebildeter Frauen und Mädchen konzipiert, um - so heißt es - »in zarte Frauenhand« gelegt zu werden.5 Naturlyrik, Lieder von Liebesfreude und Liebesleid, Erbaulich-Belehrendes - das sind die Eckpfeiler solcher Sammlungen. Sie sollen ihre Leserinnen nicht in die Kämpfe des öffentlichen Lebens führen, sondern gerade ihre Position der Ausgrenzung im Privaten Uberhöhen, ihnen das Gute, Wahre und Schöne - die Trias >echter Humanität< - zuweisen. Und dabei gilt ein verengtes Konzept von >Natur< und >Natürlichkeit< als bevorzugter Analogiebereich und als globales Deutungsmuster für die Existenz der Frau. Zugleich wird das vorwiegend weibliche Publikum der Lyrik auf bestimmte Rezeptionshaltungen festgelegt: auf die gedämpfte Erregung der Affekte, auf dosierten Sinnenreiz und sanfte Rührung, auf Entlastung der kognitiven Wahrnehmung zugunsten des Wohllauts, des schönen Klangs, der polierten Form der Texte. Für den Prozeß der bedeutungszuschreibenden Lektüre sollen dabei Entlastungen geschaffen werden: durch thematische Einordnung der Gedichte in den Anthologien; durch die Nachbarschaft zu themenund motivgleichen Gedichten und vor allem durch zahlreiche Illustrationen werden die Rezeptionsvorgänge gelenkt und verengt.6 Dagegen stellt Storm 1870 eine - so der Untertitel zu seinem Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius - »kritische Anthologie«, die in der 1. Auflage auf Illustrationen verzichtet. Für die Lektüre von Lyrik wird in den Jahrzehnten nach 1850 eine spezielle Kulturpraktik der Distribution und Rezeption ausgebildet, in der die Vertonungen besonders beliebter Texte eine wichtige Funktion haben, indem sie die Vorliebe für liedhafte Lyrik und das dominante Werturteil von Wohllaut und Musikalität stützen.7 Solche »medialen Koppelungen sind charakteristisch für Kunstprodukte in der
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Vgl. Günter Häntzschel: »In zarte Frauenhand. Aus den Schätzen der Dichtkunst«. Zur Trivialisierung der Lyrik in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980), S. 199-226; Jörg Schönert: Die populären Lyrik-Anthologien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Sprachkunst 9 (1978), S. 272-299. Vgl. dazu in diesem Band im Beitrag von Wolfgang Martens über Ludwig Richters Illustrationen zu Berthold Auerbach, S. 117-127. Emanuel Geibel und Friedrich v. Bodenstedt (Die Lieder der Mirza Schaffy) gelten als die Meister solcher Formkunst; sie sind die beliebtesten Lyriker beim gebildeten Publikum. Vor allem Geibels Geltung erreicht nach der Reichsgründung einen Höhepunkt, wozu auch seine patriotische >reichsstiftende< Lyrik zwischen 1866 und 1871 erheblich beitrug. Politische Lyrik, die in den 40er Jahren für Furore gesorgt hatte, verliert nicht nur in der Resignationsphase des Nachmärz an Bedeutung; sie gilt nach 1860 für das in der Lyrik dominierende Frauenpublikum als ungeeignet. Diese Einstellung läßt sich insbesondere an der Auswahl von Heine-Texten für die Anthologien zwischen 1860 und 1890 aufweisen. Heinrich Heine erscheint darin nur als der Dichter von >Liebesleid und LiebeslustNatur< genutzt.
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zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts; mit ihrer Hilfe sollen Bedeutungszuschreibungen gesichert werden, wo man sich ihrer nicht mehr sicher ist. Wenn wir die Konstellationen des Genrespektrums >Lyrik< nach 1850 aus der Sicht des heutigen Kanons, also unter Vernachlässigung der zeitgenössischen Wertungen, beschreiben sollten, wären Gottfried Keller und Theodor Storm als die Autoren anzusehen, für die sich der Zusammenhang von Lyrik und Realismus in besonders aufschlußreicher Weise erörtern läßt. Dieser Beitrag muß sich auf Storm beschränken. Sammlungen seiner Gedichte, in jeweils veränderten Zusammenstellungen, erschienen erstmals 1852, mit Folge-Auflagen 1856, 1859, 1864, 1875, 1880 und 1885; sie erstrecken sich also kontinuierlich über den Zeitraum der Jahrzehnte nach der Jahrhundertmitte. Zudem ist Storm selbst als Herausgeber einer Anthologie in Erscheinung getreten, des (bereits erwähnten) Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius von 1870. Er hat sich in Rezensionen und Briefen vielfach zum Problem der Lyrik nach dem Ende der Kunstperiode geäußert. Sowohl in seinen Traditionsbezügen zur Lyrik der Goethezeit als auch in seiner skeptischen Distanz zu dem neuen Anspruch, den Conrad Ferdinand Meyer setzt, markiert Storm den Standort seiner Generation.8 So schreibt Storm am 14. Juni 1884 an Gottfried Keller angesichts der ungebrochenen Beliebtheit von Emanuel Geibel: Sein Oktoberlied gäbe er nicht her für den ganzen Geibel. Dieses eine Gedicht sei viel mehr wert als alle die Gedichtsammlungen, mit denen Geibel reüssierte. Und Storm setzt hinzu: »Das klingt freilich sehr hochmütig und darf nicht verraten werden«.9 Für eine differenzierte Darstellung zu den charakteristischen Konstellationen und Entwicklungen in Produktion und Rezeption von Lyrik zwischen 1850 und 1885 reichen die Feststellungen zu Schematisierung der Tradition in leerer Formkunst, zu Entwicklungsarmut, zu Trivialisierung der Lyrik in der Anthologieproduktion nicht aus. Einzubeziehen wären die theoretisierenden Reflexionen in der Literaturkritik und in den Dichterbriefen, in den zahlreichen Poetiken der Zeit und in den Handbüchern für Schule und Selbststudium. Diese theoretischen Abhandlungen und Zusammenstellungen zur lyrischen Technik, zum Verseschmieden, zum gekonnten Umgang mit tradierten lyrischen Verfahren führen zum einen zur Ausbildung einer lehr- und lernbaren Technik des >Versemachensdie Natur< - um es abgekürzt zu formulieren - gibt weder Ziel für die Bewegung noch existenzielle Orientierung; was aus der Erde mitwandert, ist die bloße Verdopplung der Bewegung; dadurch werden weder konkrete Bedrohungen noch neue Erfahrungen ausgelöst. Die beiden Reflexionsstrophen, die zweite und die letzte, erfassen nach der ziellosen Bewegung im Raum die Bewegung in der Zeit, doch ist die Sicherheit, die aus den zyklischen Bewegungen der Natur erwächst, für das erlebende Ich erschüttert. Die Gegenwart »Herbst« läßt sich nicht mehr in zuverlässiger Erinnerung an die Vergangenheit »Frühling«/»Mai« anschließen: »Gab es denn einmal selige Zeit?« Und zudem wird der vorauseilende Blick auf die Momente der Erneuerung durch das FrUhjahr, wird der Blick in die Zukunft nicht mehr gewagt - ja überhaupt ist die Integrationsleistung des Erinnerns in Frage gestellt. Erinnern und Hoffen garantieren nicht mehr die Einheit der Person in Analogie zum Zusammenspiel der Stirb-und-Werde-Vorgänge in der Natur. Der mangelnden Zuversicht des Sprechers verweigert sich das Sinnstiftungsmodell >Naturoben< und >unten< verweisen nicht mehr auf die Ganzheitlichkeit des Kosmos;30 sie sind >Schichtungen< aus der Sicht des Sprechers; sie können sich auf Bewußtes und Unbewußtes im Erfahrungsbereich des Ichs beziehen.31 Für die beiden letzten Beispieltexte müssen nur wenige Bemerkungen genügen. Zunächst zu Meeresstrand (1853 entworfen, 1856 veröffentlicht), einem Text, der in zeitlicher Nähe zu Abseits steht.32 Meeresstrand Ans Haff nun fliegt die Möwe, Und Dämmrung bricht herein; Über die feuchten Watten spiegelt der Abendschein. Graues Geflügel huschet Neben dem Wasser her; Wie Träume liegen die Inseln Im Nebel auf dem Meer.
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Vgl. Georg Bollenbeck: Theodor Storm. Frankfurt/M.: Insel 1988, S.259 mit der Kennzeichnung »Trostlose Elegie«. Zur Thematisierung des Unbewußten in der Literatur des Realismus vgl. u. a. Horst Thomö: Autonomes Ich und >Inneres Auslände Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914). Tübingen: Niemeyer 1993; Marianne Wünsch: Die Erfahrungen des Fremden im Selbst. Der Kampf mit dem »Unbewußten« in der Literatur zwischen Goethezeit und Jahrhundertwende. In: Eijiro Iwasaki (Hg.): Begegnung mit dem »Fremden« - Grenzen, Traditionen, Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Bd. 11. München: iudicium 1991, S. 169-176. Storm: Gedichte (Anm. 19), S. 24f. Vgl. zur Forschungsdiskussion u. a. Müller: Storms Lyrik (Anm. 26), S. 78-82; Tamara Silman: Theodor Storms Gedicht »Meeresstrand«. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 25 (1976), S. 48-52.
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Ich höre des gärenden Schlammes Geheimnisvollen Ton, Einsames Vogelrufen So war es immer schon. Noch einmal schauert leise Und schweiget dann der Wind; Vernehmlich werden die Stimmen, Die über der Tiefe sind.
Die Sprechsituation wird in der Übergangszeit der Abenddämmerung entworfen; diese konventionelle Natur-Erfahrungs- und Stimmungslage ist mit konkreten Elementen der Topographie der Nordsee-Landschaft charakterisiert. Auch hier - ähnlich wie in Abseits - baut die Addition von beobachteten Details beziehungsweise überschaubaren Bewegungsabläufen die Gesamtstimmung des Übergangs vom Deutlich-Gewußten und Klar-Geschauten zum Undeutlicheren, ja Geheimnisvollen auf: »Ich höre des gärenden Schlammes / Geheimnisvollen Ton«. Doch haben diese geheimnisvollen Töne nichts Bedrohliches; sie sind auch keine Verdopplungen der Empfindungen des Sprechers wie in Über die Heide, sondern den Tönen aus dem Bereich der Erde antworten die Vogelrufe aus der Luft - und diese Korrespondenz im Kosmos hatte schon immer Bestand, sie wird als Ordnungsmuster der Natur erfahren; die Erfahrung des immergleichen und zugleich immer wieder beeindruckenden Widerhalls der Töne aus der Höhe und Tiefe bestimmt die Gelassenheit der letzten Strophe. Die Erlebnisfähigkeit des menschlichen Individuums und die Sprache der Natur sind aufeinander eingestellt - wer sich darauf versteht, Natur anzuschauen und anzuhören, wird mit seinen Gefühlen und Gedanken nicht alleingelassen. Das letzte Beispiel Komm, laß uns spielen33 (1881 entstanden, 1885 veröffentlicht) entwirft dagegen die Stimmungslage der Vemnsicherung, ja Verstörung; der Gleichlauf von Zeiterfahrung des Sprechers und Zeitläufen des Naturgeschehens scheint nicht mehr zu gelten. Komm, laß uns spielen Wie bald des Sommers holdes Fest verging! Rauh weht der Herbst; wird's denn auch Frühling wieder? Da fällt ein bleicher Sonnenstrahl hernieder Komm, laß uns spielen, weißer Schmetterling! Ach, keine Nelke, keine Rose mehr; Am Himmel fährt ein kalt Gewölk daher! Weh, wie so bald des Sommers Lust verging Ο komm! Wo bist du, weißer Schmetterling?
Das Sprecher-Ich wird in der grammatischen Position der Ersten Person nicht sichtbar, sondern ist nur noch zu ermitteln im Anredegestus hin zum >DuNatur< konkretisiert, sondern alle Aussagen über die Vorgänge, die man sich in diesem Erfahrungsraum >Natur< zu denken hat, sind gebunden an die emphatische Rede des Sprechers: »Wie bald / [...] Rauh weht [...] / Da fällt [...] / Komm, laß uns spielen [...] / Ach, keine Nelke, keine Rose [...]« und wiederholend: »Weh, wie so bald [...] / Ο komm!« und schließlich »Wo bist du [...]?« Die einzige Verszeile, die in der Nähe zu einer objektivierenden Beschreibung der Umwelt >Natur< steht, ist auch durch das emphatische Attribut »kalt« auf den Sprecher bezogen, korrespondierend zu »Rauh weht der Herbst«, nämlich: »Am Himmel fährt ein kalt Gewölk daher«.34 In dieser Zeile löst sich - so könnte man annehmen - der Naturvorgang wieder ab von den hilflosen Aneignungsversuchen des Ichs und seiner Klage über die fehlende Gewißheit einer geordneten Natur. Das Zitat des >romantischen< Schmetterlings (aus der Gelbveigelein-Lyrik) wirkt wie die Fetischisierung des Naturobjekts. Es wird kontrastiert mit einem ebenso anschaulichen wie eindrucksvollen Naturbild: »Am Himmel fahrt ein kalt Gewölk daher«. Das hat nicht nur den Unterton einer drohenden Schlechtwetterfront, sondern in der Isolation der Zeile und des Bildes auch den Gestus eines apokalyptischen Klimawechsels: mit kaltem Gewölk wird die Wunschvorstellung einer Einheit von Mensch und Natur, die Verklärung der kosmischen Ordnungen ausgetrieben. Das Bild hat eindringliche Wirkung, ohne daß es dazu die melodramatische Geste bräuchte, die etwa gleichzeitig Nietzsche für Vereinsamt inszeniert: »Die Krähen schrei'η und ziehen schwirren Flugs zur Stadt« und »Weh dem, der keine Heimat hat!« 35 Mitunter kann ein so kurzes Gedicht wie dieses von Storm mit einer Zeile im Gedächtnis haften; die wehmutsvolle Tändelei mit dem Kohlweißling ist rasch vergessen - aber: »am Himmel fahrt ein kalt Gewölk daher«; diese Zeile könnte man auch in einen Text von Georg TrakI einschmuggeln. Die Lakonik der späten Gedichte Storms, der Abschied von der Liedform 36 mag sie als eine Art >Trümmerliteratur< erscheinen lassen. Selbst Storm, der >ererbte Form< mit Augenmaß und Sensibilität bewahrt und entwickelt, sind solche Gefäße für den »Naturlaut in künstlerischer Form«37 auf dem Weg zum Ausgang des Jahrhunderts zerschlagen worden.38 Veränderungen vollziehen sich in diesen spätesten Gedichten weniger auf der semantischen Ebene, in Thematisierung und in Bildgestaltung, als in der dargestellten Performanz des Sprechens im Gedicht. Die Dynamik der Rede des Ichs findet keine Verbindung zur Dynamik von Natur-
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Vgl. zum Kollektivum »Gewölk« in »Meeresstrand« die morphologische Entsprechung »Graues Geflügel«. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bdn. Hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Bd. 11. Nachgelassene Fragmente 1884-1885. Berlin, München: de Gruyter/Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S. 329. Dort u. d. T.: Der Freigeist. Abschied. Grimm: Nachwort (Anm. 21), S. 146. Storm: Gedichte (Anm. 19), S. 95. Vgl. Friedrich Sengle: Storms lyrische Eigenleistung. Abgrenzung von anderen großen Lyrikern des 19. Jahrhunderts. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 28 (1979), S. 9-33. Siehe bes. S. 21 zu Storms begrenzter Modernität mit ihren Vorausweisungen zu Symbolismus und Expressionismus.
»Am Himmel fährt ein kalt Gewölk daher!«
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Vorgängen. Die >inszenierte< Rede des Sprechers zeigt sich gleichsam >überfahren< von der Bewegung in der Natur (»[...] fährt ein kalt Gewölk daher!«), so daß - anders etwa als in Abseits - das Naturbild nicht mehr ausgedeutet werden kann und soll. Der eigentlich notwendigen Frage nach den Ursachen für solche Ablösungen und Zertrümmerungen der >Subjekt-Natur-Einheit< kann hier nicht mehr nachgegangen werden. Sie wären für das Beispiel >Storm< nicht nur im Biographischen zu suchen, denn vergleichbare Konstellationen lassen sich etwa auch in der Entwicklung der Lyrik Gottfried Kellers beschreiben. So erscheinen Überlastung und Krise des Erfahrungs- und Deutungsmodells >Natur< als Signum für die prinzipiellen Schwierigkeiten, Entwicklungen des neunzehnten Jahrhunderts in seiner Spätphase (nach 1870) mit den >Sinnstiftungen< der Literatur vermitteln zu können.*
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Herzlich bedanke ich mich bei Tanja Lange und Swantje Köhnecke für hilfreiche Mitarbeit.
Ingrid
Oesterle
Peripherie und Zentrum - Kunst und Publizistik Wahrnehmungsgrenzfall >große Stadt< Die Aufzeichnungen Friedrich Hebbels in Paris 1. Fehlende deutsche Hauptstadt Die Klage über das Fehlen einer deutschen Hauptstadt ist bei deutschen Schriftsteilem seit der Aufklärung notorisch. Sie verstummt nicht seit Justus Moser und reicht trotz der Gegenstimmen der Romantiker, trotz Theoremen über die Vorteile kultureller Vielfalt und Verteilung, die in der Auseinandersetzung mit der kulturellen Zentrierung in der französischen Metropole von Herder über Görres bis hin zu Börne entwickelt werden, bis tief ins neunzehnte Jahrhundert, auch zu Friedrich Hebbel. Deutsche Schriftsteller entbehren einen städtischen »Mittelpunkt gesellschaftlicher Lebensbildung« in Deutschland, wie Goethe in seiner kleinen polemischen Schrift Literarischer Sansculottismus feststellte,' um den umständlichen, hindernisreichen, allein dem Individuum des einzelnen Künstlers abgeforderten Bildungsgang des Genies durch Kontakte unter ihresgleichen zu erleichtem und, wie Friedrich Schlegel forderte, Urbanität und Gesellschaftlichkeit auszubilden. In den fremden Metropolen beobachten sie - bewundernd und skeptisch zugleich - urbane Unterhaltungsformen, den Austausch wissenschaftlicher Kenntnisse, politischer Meinungen und literarischer Neuigkeiten, die kritische Auseinandersetzung in öffentlichen Bildungsstätten, Zeitschriften, Zeitungen und Parlamenten, die Gewandtheit im Gespräch, die Wendigkeit der Sprache. Sie suchen durch Reisen in die Metropolen Begegnung und Aneignung und schrecken gleichwohl vor Ort davor zurück. Herder, Kleist, Friedrich Schlegel, Börne sind prominente Beispiele dafür. Der soziale und literarische Kommunikationsraum >große Stadt< mit seiner Dynamisierung des Wissens, seiner Beschleunigung des Ideenumlaufs, seiner Entwicklung einer öffentlichen Meinung, seinen gleitenden Übergängen von Rede in Schrift, von Unterhaltung in Literatur, seiner Wahmehmungs- und Verhaltensmodellieiung, seiner Veränderung der Lebensformen und -rhythmen antiquiert die akkumulierende Wissenserwerbshaltung des Gelehrten ebenso wie die >fassionierende< Aneignung adeliger Umgangsformen durch den reisenden Kavalier. In Aussicht gestellt werden hier gewünschte und beargwöhnte Veränderungen der Künste und Literatur. Goethes späte Prägung des Begriffs >Weltliteratur< entsteht im Zusammenhang mit seiner Umorientierung von der großen Stadt Rom auf die Metropole Paris. Sie nimmt Bezug auf den literarisch-publizistisch-wissenschaftlichen Kommunikationsraum >große Stadt< und ist eine nationalliterarische Grenzen überschreitende FortJohann Wolfgang von Goethe: Literarischer Sansculottismus. In: J. W. v. G.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. Bd. 12. Hamburg: Christian Wegener 1963, S. 239-244. Hier S. 241.
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Ingrid Oesterle
bildung seines frühen Denkansatzes, Literatur und ihre geschichtliche Entwicklung im Kontext gesellschaftlich präformierter Kommunikation zu begreifen. Experimentell versetzte Vamhagen Goethe nach Paris;2 Börne unternahm den gleichen Versuch,3 um bewußt zu machen, daß ein solcher gesellschaftlicher Lebensbildungsraum den Entwicklungsgang dieses Dichters und der deutschen Literaturgeschichte entschieden verändert hätte. Bei Friedrich Hebbel ist das Bewußtsein der Entbehrung eines städtischen Kontextes zur Ausbildung seiner gesellschaftlichen Fähigkeiten und seines dichterischen Talents extrem ausgeprägt. Es kommt einer Einbuße an Selbstbewußtsein und einem Verlust an Lebenszeit gleich. Immer wieder spielt der von der geographischen und sozialen Peripherie stammende Dichter inmitten von Paris in Gedanken die Möglichkeiten und Chancen anderer Bildungs- und Individuationsverläufe durch. Das Defizit geselliger Umgangsformen, fehlender Kenntnisse und mangelnder Bildung ist ihm während seines einjährigen Parisaufenthaltes vom Herbst 1843 bis zum Herbst 1844 allpräsent.
2. Zentrum und Identität Als sich der Dichter Hebbel 1849 an Überlegungen erinnert, die ihn 1843 beim Betreten der französischen Hauptstadt und »der Hauptstadt der Welt«4 bewegten, schreibt er in aphoristischer Dichte den Satz nieder: »Aber es ist keine beneidenswerthe Lage, wenn man auf die Sonne zurückgehen muß, sobald man das Centrum, mit dem man zusammenhängt, nachweisen soll. Die Sonne schützt nur die Planeten vor'm Schwindel, nicht die Menschen.« (W 10,21) Zentrumsfeme bedeutet erhöhte Gleichgewichtsgefährdung und forcierte Zusammenhangsstiftung. Sie betreffen, wenn ein Land einer Hauptstadt entbehrt, die nationale Identität, der eine Verkörperung der Nationalgeschichte fehlt; sie betreffen ebenso die Identität des Einzelnen, wenn er, wie Hebbel, ohne jeden Zusammenhang mit städtischen und bürgerlichen Bildungsund Sozialisationsmöglichkeiten Kindheit und Jugend verbrachte. Für einen solchen Menschen ist, weit über den Versuch hinaus, sich durch das Reisen und den Aufenthalt in großen Städten gebildete Formen anzueignen, das ganze Leben [...] ein verunglückter Versuch des Individuums, Form zu erlangen; man springt beständig von der einen in die Andere hinein und findet jede zu eng oder zu weit, bis man des Experimentierens müde wird und sich von der letzten ersticken oder aus einander reißen läßt. Ein Tagebuch zeichnet den Weg. Also fortgefahren! (2756) 2
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Karl August Varnhagen von Ense: Tag und Jahreshefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse von Goethe. In: Κ. Α. V. v. E.: Zur Geschichtsschreibung und Litteratur. Berichte und Beurtheilungen. Hamburg: Perthes 1833, S. 384f. Ludwig Börne: Brief v. 9. 2. 1828 an Jeanette Wohl. In. L. B.: Sämtliche Schriften. Hg. v. Inge und Peter Rippmann. Bd. 4. Darmstadt: Melzer 1968, S. 848. Friedrich Hebbel: Ein Diarium. (Geführt auf einer Reise von Paris nach Rom im Herbst 1844). 1850. In: F. H.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Richard Maria Werner. 1. Abt. Bd. 10. Berlin: B. Behr 1903, S. 23. Unter den Siglen W (= Werke) und Β (= Briefe) wird Hebbel fortan im Text mit folgenden Band- und Seitenzahlen nach dieser 1901-1907 erschienenen Ausgabe zitiert. Die Tagebuchnotate aus Bd. 10 werden ohne Bandangabe nur mit der betreffenden Nummer zitiert.
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Der Appell, fortzufahren nach Paris und im Tagebuchschreiben, ist filr Hebbel mit einer Neuerung verknüpft. Erstmals wird das Tagebuch im Blick auf die Paris- und Italienreise nicht erst ein nachträglich zusammengeheftetes, sondern ein zukunftsgerichtetes, im Voraus »gebundenes Tagebuch!« »Ein starker Wechsel, auf die Zukunft gezogen!«, wie Hebbel kommentiert. (2756) Es stellt einen schreibverwiesenen, nicht narrativen, quasi experimentellen Konsistenzbildungsversuch des Ichs dar, der das Abgelegte, Heterogene festhält, eine Materialbasis empirischer Selbsterfahrung: »Es ist, als ob eine Schlange ihre Häute sammeln wollte, statt sie den Elementen zurück zu geben. Aber man sieht doch einigermaßen, wie man war, und das ist sehr nothwendig, wenn man erfahren will, wie man ist.« (2756) 5 Hebbels einzigartige Tagebuchaufzeichnungen sind neben seinen Privatbriefen, später daraus entnommenen, als Feuilletons veröffentlichten einzelnen Erinnerungen und in Paris entstandenen Gedichten die Hauptquelle für Hebbels Wahrnehmung und Literarisierung der großen Stadt. Friedrich Hebbel kommt, geboren in Wesselburen, als Untertan des dänischen Königs von der geographischen Peripherie. »Ohne Bücher, ohne Gesellschaft«,6 ohne jede Mobilität - »22 Jahre auf einem Fleck in Dithmarschen« (3241) - wächst er auf. Die traumatische Erinnerung an seine Kindheit und Jugend als eine verlorene, uneinholbare Lebenszeit und individuelle Entwicklungsbeeinträchtigung wird ihn sein Leben lang nicht verlassen. Mühsam und langwierig - der Pariser Aufenthalt ist eine erste Etappe - verläuft der Prozeß der Ablösung. Das Tagebuch hält nach Art einer »Experimentalanthropologie«7 dem »aus Wesselburens Dumpfheit heraufgestiegenen« Dichter »die Spannweite seiner Lebensgeschichte präsent«.8 Auf Hebbels biographischer Landkarte führt der Weg von Wesselburen nach Paris über einen längeren Aufenthalt in Hamburg und einen Umweg über Kopenhagen. Hier bemüht er sich als Untertan der dänischen Krone um ein Reisestipendium, das für zwei Jahre in die großen Städte Paris und Rom führen soll. Hier lernt er den dänischen Dichter Oehlenschläger und den Bildhauer Thorvaldsen kennen, für den Rom zum Ausgangspunkt einer beispiellosen Künstlerkarriere von europäischen Dimensionen geworden war. Hier lernt er zudem die Hauptstadt und das kulturelle Zentrum eines kleinen Landes kennen; er wird sie mit Paris vergleichen und dem deutschen Publikum als vorbildlich vor Augen führen. Die Bekanntschaft mit Oehlenschläger ermöglicht ihm einen Blickwechsel. Er schaut mit dem dänischen Dichter einerseits von außen auf die deutsche Literatur, für die die dänische peripher ist; dänische Schriftsteller hingegen erlernen die deutsche 5
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Speziell zu Hebbels Pariser Tagebuchnotizen vgl. Monika Ritzer: »Ein Theil des Lebens ist Ufer, ein anderer ist Strom.« Zeit im Raum als Faktoren der Biographie in Hebbels Tagebüchern. In: Günter Häntzschel (Hg.): Studien zu Hebbels Tagebüchern. München: iudicium 1994, S. 67-93, bes. S. 87f„ sowie allgemein die instruktive Einleitung des Herausgebers Günter Häntzschel in diesem Band, S. 9-17. Vgl. Hebbels Parallele zwischen seiner unbefriedigenden Lage in St. Germain zu Beginn seines Pariser Aufenthaltes und Wesselburen in Β 2, S. 291. Hans Blumenberg: Grenzfalle. Glossen zu Hebbels Diarium. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 33 (1986), S. 53-73. Hier S. 54. Ebd., S. 53.
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Sprache und besitzen genaue deutsche Literaturkenntnisse. Er sieht den in Deutschland nahezu unbeachteten dänischen Schriftsteller andererseits im Mittelpunkt der dänischen Nationalliteratur als »ein bedeutendes Cultur-Moment seiner Nation« (B 2, 161), Schiller in Deutschland vergleichbar. Die Bekanntschaft mit Thorvaldsen erfährt er als mehrfaches Identifikationsangebot Thorvaldsen ist ein Künstler von »europäische[m] Renomme« (B 2,216); seine internationalen Erfolge steigerten bei den Dänen aus dem Bewußtsein heraus, »einer kulturellen Randlage anzugehören«,9 nationale Selbstwertgefühle. Für die aus dem Norden Europas kommenden Künstler ist er in der ersten Jahrhunderthälfte ein gemeinsames Leitbild künstlerischer Durchsetzung und Anerkennung in Europa. 10 Hebbel aber identifiziert sich vor allem lebens- und bildungsgeschichtlich mit dem Bildhauer. Er teilt mit ihm sozial »den F l u c h seiner berühmten J u g e n d Armuth« (B 2, 216), und er teilt mit ihm aufgrund dieser Herkunft die Ausbildungs- und Bildungsdefizite: »Er hat sich ganz von unten heraufgearbeitet und ist in Folge dessen fast [...] unwissend in allen anderen Dingen.« (B2,161) Hebbel berichtet von dem Gerücht, der Bildhauer habe nur schwer lesen können und »die krausen willkürlichen Zeichen der Schriftsprache schon deshalb hassen« müssen, »weil er immer schöne, reine Formen vor sich sieht.« (B 2,161) Die Aufmerksamkeit für dieses Gerücht, das Hebbel Anlaß gibt, einen Zusammenhang von Schriftvorbehalt und Anschauung ästhetischer Formen zu stiften und einen Gegensatz zwischen »krausen willkürlichen Zeichen« und »schönefn], rcinefn] Formen« herzustellen, darf für einen Künstler wie ihn, dessen Mutter nicht lesen konnte, als Hinweis auf dessen eigenes kompliziertes Verhältnis zu Schrift und Buch nicht unterschätzt werden. 11 Momenthaft scheint in dieser Notiz eine Lesbaikeitsbarriere und ästhetische Anschauung auf, die für Hebbels literarische Stadtwahrnehmung weichenstellend gewesen sein dürfte. Thorvaldsen kam, wie Hebbel, durch ein Stipendium des dänischen Königs nach Rom und verfügte anfangs, wie Hebbel in Paris, über keinerlei Sprachkenntnisse des Landes. In einem großangelegten, im deutschen Parisdiskurs einzigartigen Gedicht anläßlich Thorvaldsens Tod, gedenkt Hebbel des berühmten Bildhauers im Kontext der großen Stadt und spannt den Bogen zurück nach Kopenhagen, die zukünftige Entwicklung der Kunst bedenkend. Als Hebbel sich 1849 unter dem Titel Erinnerungen an Paris in der Oesterreichischen Reichszeitung zu Wort meldet, stellt er drei städtische Zentren zusammen: »Die Hauptstadt eines k l e i n e n Landes«, Kopenhagen, »die Hauptstadt eines großen Landes«, Paris, und die immer noch fehlende »Hauptstadt Deutschlands« (W 10, 21). 9
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Hermann Mildenberger: Bertel Thorvaldsen und der Kult um Künstler und Genie. In: Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770-1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde. Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Hg. v. Gerhard Bott, Heinz Spielmann. Nürnberg: Germanisches National-Museum 1992, S. 95-103. Hier S. 96. Jan Drees: Thorvaldsen und die Herzogtümer Schleswig und Holstein. Aspekte der wechselseitigen Beziehungen. In: Bott, Spielmann: Bertel Thorvaldsen (Anm. 9), S. 105-126. HierS. 117. Vgl. Blumenberg: Grenzfälle (Anm. 7), S. 55.
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Immer noch ist für ihn Paris ein Ort, wo sich »zwar nicht die Welt, aber doch so viel von der Welt zusammen [drängt], als ein Mensch mit seinen Organen auf einmal in sich aufzunehmen vermag«; immer noch ist es für ihn eine Herausforderung, »eine Probe für den Besucher« (W 10,18), »sich mit den ungeheuren Elementen, die sich in Paris regen und durch einander bewegen in das Gleichgewicht zu setzen« (W 10,19). Doch deutlich hat sich seine Sicht ins Nationale verschoben: »Die Metropole eines Landes ist die verkörperte Spitze seiner Geschichte, seines Entwicklungsprozesses« (W 10, 20). Sie ist eine im Medium der Architektur visualisierte Nationalgeschichte. Dem Kriterium, die Nationalgeschichte eines Landes zu repräsentieren, genügt auch die Hauptstadt des »kleinen Landes« Dänemark (W 10,21). Kopenhagen ist Geschichtsschreibung in Stein, »ein steinernes Album, in das die Jahrhunderte sich [...] einzeichneten«, während in Deutschland die Vergangenheit keine sichtbare Mitte hat und allenfalls im literarischen Medium der »verdächtigefn] Almanachs- und Prolog-Poesie« Gestalt gewinnt (W 10, 22). Nur »in patriotischen Träumen« läßt sich nach Hebbel eine deutsche Hauptstadt entwerfen, eklektizistisch im Stil einer veduta idealita zusammengesetzt aus »steinernen Riesen-Gästen« und architektonischen Geistestrophäen: »Man denke sich den Wiener Stephansthurm, den Straßburger und den Freiburger Münster, den Kölner Dom, die Hamburger Petri-Kirche und so viele andere architectonische Trophäen des deutschen Geistes in den Ringmauern einer einzigen Stadt vereinigt« (W 10,20). Hebbels imaginierte Metropole ist nicht der pulsierende Kommunikationsraum, in dem sich für den publizistisch-jungdeutschen Schrifitstellertypus die flüchtige Geschichte des Tages und zukunftsweisende Geschichte der Menschheit aufspüren, verschriftlichen und zur Geschichtsschreibung der Gegenwart literarisieren läßt. Mit dem Mauerring, der sich um Hebbels erträumte deutsche Hauptstadt legt, verschließt sie sich gegenüber der Zukunft und versteinert zu einem Ort der Erinnerung. Sie wechselt vom Erinnerungsmedium Schrift hinüber ins Erinnerungsmedium Architektur, ein Monumentalisierungsvorgang, der die lebendige Gegenwart preisgibt.
3. Kindheit und Metropole - Wesselburen und Paris Zu Hebbels geographischer Peripherieverortung tritt, lebensgeschichtlich einschneidend und wahmehmungsdisponierend, seine soziale Randerfahrung hinzu. Von frühester Jugend an lebt er, auch in Paris, am Rand der Gesellschaft in größter Armut. »Oh, welch ein Fluch ist die Armuth!« schreibt er. »Wer dieß Gespenst einmal sah, und ich sah es in meiner frühsten Jugend, der sieht nichts Andres mehr!« (B 3,117) Aufgrund dieser doppelt randständigen Herkunft fehlen ihm nicht nur konventionelle Benehmensformen, gesellschaftliche Wendigkeit im Verhalten und Reden, eine gründliche Schulausbildung und Bildung. Er beklagt eine Einschränkung, ja Determination seiner Wahrnehmung durch Kindheit und Armut; nicht einmal das Lernen habe er gelernt. Seine »untergeordneten Seelenkräfte, Gedächtniß- und Erinnerungsvermögen [seien] wie Magnete, die man nicht gebraucht hat und die darum nicht mehr tragen wollen.« (B 2,225) Auch die ungewöhnlich hohe, »ungeheure[ ] Reizbarkeit« (2960), die sein Verhalten und seine Wahrnehmung charakterisieren, entspringt nach Hebbels
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Selbsteinschätzung weniger seiner »dichterischen Natur«, sondern vielmehr seiner »trüben Kindheit« und seinen »gedrückten Jünglingsjahre[n]«. (2958) Erstmals, auch innerhalb des deutschen Parisdiskurses, kommt hier eine prekäre sozialisationsbestimmte Wahmehmungsdisposition zur Sprache, die vorgängig steuernd auch in die Wahrnehmung der großen Stadt eingreift und ihr literarisches Gesicht verändert. In Hebbels Privatbriefen und Tagebucheintragungen der Pariser Zeit sind Kindheit und Jugend auf verschiedene Weise gegenwärtig: In der Klage über die fatalen Ausgangsbedingungen seiner individuellen Entwicklung, im Aufruf einzelner, auch beglückender Erinnerungen, im Einfließen ekstatischer Lektüre- und karger Bildungserlebnisse in die Stadtwahrnehmung, in dem merklichen, zunehmend auch explizit bemerkten Abstand zur eigenen Vergangenheit und der dennoch ungefiltert und ungedämpft verbleibenden Durchlässigkeit fiir die Schrecken der Wahrnehmung. Die überwältigende Fülle an Eindrücken, Anregungen und Kunstschätzen in der großen Stadt, die Pracht der Boulevards, der Illuminationen bei gleichzeitig extremer Dürftigkeit der eigenen Lebensfristung, und vor allem das pulsierende Leben der großen Stadt, die Menge der Menschen, die ständige Bewegung, die Hebbel immer wieder in der Naturmetapher des belebenden Stromes faßt, machen ihm die Versäumnisse, Prägungen und Entwicklungseinschränkungen durch seine Kindheit und Jugend aufs bitterlichste bewußt. »Mein Gott, mein Gott«, schreibt er Ostern 1844 an Elise Lensing, die Klage extremer Gottverlassenheit des Gekreuzigten variierend, »wenn sich mein Leben von Jugend an nur ein klein wenig anders gestaltet hätte, nur ein wenig, wie anders würden die Resultate ausgefallen seyn!« (B 3, 74) Hebbel ist reizbar, labil, leidet an einer »schrecklichen Abhängigkeit von äußeren Eindrücken« (2958). Durch Äußerlichkeiten ist er sofort »aus dem Gleichgewicht« (2958) zu bringen. Aber es ist wiederum gerade diese extreme Verletzlichkeit und Unabgeschirmtheit, die ihn zu einer einzigartigen Wahmehmungsschärfe für das Andersartige, Schreckhafte, Abnorme befähigt. Die Entbehrungen der ersten Lebensphasen und die städtischen Anforderungen an die Aufnahmefähigkeit der Sinne lassen ihn in Paris seine Sinnesorgane und ihre welterschließende Kraft entdecken. »Ich habe Organe fiir die Welt und bedarf der Welt, ich wäre, das weiß ich gewiß, bei einer freundlicheren Jugend ein ganz anderer geworden« (B 3, 63). Die eigene Sinnes- und Welterfahrung eröffnet Welt- und Selbsterkenntnis gleichermaßen: »[. . .] ο gesegnet ist der Mensch, der mit seinen eignen Sinnen und Organen dem Vortrefflichen gegenüber treten und sich ein Verhältniß dazu begründen darf, er lernt auf diese Weise nicht bloß die Fülle und Tiefe der Welt, sondern auch sich selbst kennen« (B 2, 352), ruft Hebbel angesichts der Kunstschätze des Louvre aus. Paris mit seiner Eindrucksflut und Dynamisierung des Lebens wird für ihn zum Ort eines gesteigerten Selbstgefühls, einer aus ihren Verkrustungen und Beengungen aufbrechenden, sich dynamisierenden Lebensgeschichte: [...] trotz der großen Verfinsterung meines Gemiiths, fühle ich wohl, was es heißt, in dieser Stadt zu leben. Man hat einen elastischen Boden unter sich, der Einen nicht bloß trägt, sondern empor schnellt, es ist ganz eigen. Zum Theil kommt es bei mir wohl mit daher, daß ich, dem die Jugend und beste Jiinglings-Zeit so trist verfloß, daß ich nicht einmal zu träumen wagte, mich innerlich unbewußterweise selbst darüber wundre, nun doch hier zu seyn. (B 2, 352)
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Die große Stadt bietet ihm und seinem Talent »Massen von Anregungen und [eine] daraus hervorgehende Entbindung des inneren Lebens.« (B 3,63) Hier wird er »aus sich selbst heraus und in die Welt hinein gerissen« (B 3,64) und kann schließlich feststellen: »[...] ich trenne mich mehr und mehr von meiner allerdings finstern Vergangenheit los, ich überzeuge mich mehr und mehr von dem hohen und einzigen Werth des Lebens« (B 3, 106). Mit der Entlastung stellen sich in Paris auch freundliche Erinnerungen an Wesselburen ein. Tröstliche, heitere Erinnerungspartikel und Bildungssplitter werden nun in die eigene dynamisierte Selbstsicht und Bildungsgeschichte eingeholt, verwebt und in die Stadtwahmehmung eingeschmolzen: »Oft schweben mir, wie glänzende Schatten, Bilder aus meiner Jugend vor. Welche Freude damals, wenn es regnete, und man geschützt unter einem Baum stand und dem Fall der Tropfen zusah!« (2844) Straßenbilder und Erinnerungsbilder überlagern sich und führen in der Tagebuchnotiz zu humorvollen Versetzungen, vom Caf6 nach Wesselburen und seinem Konrektor, und von Wesselburen ins Jenseits, einem Ort erneuter Begegnungen (vgl. 2945). Nach einem Spaziergang zum Pfcre Lachaise und dem Besuch des Grabes von Abaelard und Heloi'se notiert Hebbel: Mir zog, als ich dort stand, auf einmal mein ganzes Leben, wie in einer Zickzackfigur, vorüber; ich erinnerte mich eines alten Kupferstichs, den ich bei meinem Zeichenlehrer, dem Maler Harding in Wesselburen gesehen und der Abälard und Heloi'se darstellte, wie sie von dem Oheim des Mädchens belauscht wurden; was ist seitdem Alles geschehen! (2839)
Gegenwärtige und gelesene Parisbilder in der Jugend schieben sich ineinander und überlagern sich: Ich war heute zum ersten Mal in der Bibliothfeque Mazarin im Institut de France. Schwerlich bietet der Lese-Saal irgendeiner Bibliothek der ganzen Welt eine Aussicht dar, wie ich sie dort hatte [...].Vor mir die Seine, mit dem wunderlichen und immer lebendigen Pont neuve [...], von dem ich vor vielen Jahren in Dithmarschen in einer Erzählung von Wilhelm Hauff zum ersten Male las, ohne damals zu ahnen, daß ich mir so oft Apfelkuchen darauf kaufen sollte. (B 3, 119f.)
In der Beschreibung des Festes vom 14. Juli und seiner Illuminationen wird Paris zu einem Ort erfüllter und verwirklichter jugendlicher Lektürephantasien: Die Illumination war von einer Pracht, daß ich gewiß Nichts Ähnliches wieder sehen werde. [...] An ein ruhiges Betrachten dieser Herrlichkeit war freilich nicht zu denken, doch eben dieser Tumult, dieses Sich-Abarbeiten-Müssen im Strom gehörte mit zum Ganzen; ich hatte ein Gefühl, als ob ich meine Jugend-Träume, die tollen Phantasien namentlich, denen ich mich hingegeben hatte, als ich die Asiatische Banise, einen alten Roman voller Wunder und Seltsamkeiten, las, nicht bloß verwirklicht, sondern Ubertroffen, ausgezischt und verspottet sähe. (B 3, 143)
In der Neujahrsnacht 1843/1844 resümiert der Dichter in seinem Tagebuch: »Paris hat sich von seiner lebendigen und belebenden Seite bald bei mir geltend gemacht« (2975). Hebbel individualisiert den von Heine entworfenen Mythos von Paris als Geburtsstadt eines >neuen Lebens< und >neuer Kunst< und überträgt ihn in seine
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Lebensgeschichte und Künstlervita; sein Kunstbegriff und seine Wahrnehmungsweise bleiben jedoch von den Anschauungen Heines strikt unterschieden.12 Der von der Peripherie in die Metropole Paris gelangte Dichter öffnet sich der großen Stadt, ihrer Sinnesbeanspruchung, ihren Wahrnehmungsfreuden und -schrecken, ihren Bildungsangeboten. Wieder grenzt ihn die Armut sozial aus, so daß ihm wesentliche Bereiche des städtischen Kommunikationsraums nur bedingt zugänglich sind: die Salons, die Kontakte mit anderen Schriftstellern (Heine und Rüge sind Ausnahmen) und vor allem die Theater. Er liest und schreibt in Cafds und Bibliotheken, unter anderem um sich zu wärmen, dichtet beim Spaziergang auf den Boulevards und in den Passagen. Er »parisiert« (B 2, 353) seinen Tageslauf. Die Menge an Menschen, Fußgängern und Equipagen auf den Boulevards von Paris ist für ihn unüberbietbar: »Einen breiteren Strom des Lebens, in einer glänzenderen Umgebung kann man wohl auf der Erde nicht fluthen sehen« (2870). Die städtische Dynamik, die ihn zum »mitschwimmen« im »Ocean« (B 3,167), zum »Sich-Abarbeiten-Müssen im Strom« (B 3, 143) hinreißt, ist das ihm angemessene, förderliche Element. In der »größeren Welt« Paris regt sich »nach Jahrelangem Schlaf [...] gewaltig wieder« sein Talent (B 3,47). Anders als die deutschen Romantiker in Paris stören Hebbel weder die Zerstreuungen der großen Stadt, noch ihre Massen, ihre Größendimensionen, ihre bezwingende Eindrucksgewalt, ihre Wechselhaftigkeit, Ruhelosigkeit, Schnelligkeit. Er lehnt sie nicht als Nervosität und Krisen heraufbeschwörende Aufreizung ab, die Konzentration und Arbeit verhindert, sondern akzeptiert die städtische Herausforderung der Sinnesbelastbarkeit als »Probe« (W 10, 18) und nutzt sie als wohltätige, die dichterische Produktivität anregende Stimulation. Für Hebbel bedeutet ein Unmaß an Eindriicklichkeit keinen Selbst- und Anschauungsverlust, im Gegenteil. Ausdrücklich setzt er sich von Jean Paul und der deutschen Kleinstadtpoesie ab: Wie wenig von einem Jean Paul in mir steckt, der sich vor den großen Städten scheute und immer wieder in einen kleinen Winkel zurückkroch, das fühle ich gerade hier. Mir ist das Anschauen [...] eines Lebensstromes, dessen Wellen man nicht zählen, geschweige mit Merkzeichen versehen und wieder erkennen kann, Bedürfniß und für meine Poesie ist es ein unschätzbares Glück, daß ich diese Reise machen durfte. (B 3, 108)
Als Hebbel am 26. September 1844 von Paris nach Rom aufbricht, ist diese große Stadt für den von der Peripherie gekommenen Dichter zu einem Zentrum eigener Art geworden. Mit einem Stadtsegen endend, lautet der letzte Tagebucheintrag: »Paris wird immer der Mittelpunkt aller meiner Wünsche bleiben.« (3241)
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Vgl. Heinrich Heine: Französische Zustände. In: H. H.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 12/1. Französische Zustände. Über die französische Bühne. Text. Bearb. v. Jean-Ren6 Derr6, Christian Giesen. Hamburg: Hoffmann & Campe 1980, S. 103.
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4. »Grenzgänge« des »Unerträglichen«: Die große Stadt als Wahrnehmungsexperiment Es ist ein Verdienst zweier deutscher Schriftsteller in Paris um die dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, die Lesbaikeitsmetaphorik des Buches der Natur erstmals auf die große Stadt übertragen zu haben. Ludwig Börne und Heinrich Heine entwerfen Paris, dem Mythos der Menschheits- und Weltgeschichtsmetropole gemäß, als Geschichtslektüre und annoncieren ihre Pariser Korrespondenzen als »Geschichtschreibung der Gegenwart«.13 Über sie wandert das Lesen der Stadt in den französischen Parisdiskurs ein.14 Anders jedoch als die deutschen publizistischen Schriftsteller der dreißiger und vierziger Jahre läßt Hebbel sich auf die Lektüre der Stadt und Signaturendeutung der Zeit nicht ein. Die Lesbarkeitsmetaphorik findet sich äußerst selten in Bezug auf die Stadt und wenn, dann in bezeichnender Abwandlung. Sie wird spät im Zusammenhang der Erinnerungen an Paris von 1849 verwendet, wenn Kopenhagen als »Bollwerk der Nationalität« (W 10, 21) ein vorbildliches »steinernes Album, in das die Jahrhunderte sich [...] einzeichneten« (W 10, 22), genannt wird. Dieser Metapherngebrauch minimiert den Anteil der Literatur. Der Albumtopos des Buches beinhaltet traditionsgemäß eine offizielle Verlautbarung; ursprünglich ist »album [...] die weiße Tafel für amtliche Bekanntmachungen«.15 Gegenüber der städtischen Geschichtsverlautbarung in Stein tritt die schriftliche Geschichtsüberlieferung zurück, gegenüber der Vergangenheit die Gegenwart. In Frage gestellt wird die Lektüre der Stadt zudem unter dem Druck sozialer Randerfahrung. Angesichts der mit Affichen und Annoncen übersäten Häuser in Paris hält Hebbel im Tagebuch den Blick des Armen auf die städtische Welt des Kaufens und Verkaufens fest: [...] die Stadt, aus diesem Gesichtspunct betrachtet, ist eine Ausgabe des Almanac de commerce in Stein, jede Straße bildet eine Seite, jedes Haus eine Zeile, aber die Leetüre ist nur dann interessant, wenn man Geld in der Tasche und zufällig einen durch den gestrigen Platzregen ruinierten Hut auf dem Kopfe hat. (2890)
Wiederum kennzeichnet Hebbels Stadtwahmehmung das metaphorische Spiel eines Medienwechsels zwischen gedrucktem Wort und architektonischem Raum, zwischen Lesen und Sehen, zwischen dem publizistischen Intelligenzblatt und dem »gemauerten Intelligenzblatt«. (2890) Rund zehn Jahre zuvor hatte Victor Hugo einen umgekehrten Weg zur metaphorischen Erfassung der großen Stadt eingeschlagen. Im Vorwort zu seinem Roman Notre-Dame-de-Paris hatte er gegenläufig in der medialen Ablösung von Stein und Architektur durch Buchdruck und Bibliothek ein
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Heinrich Heine: Brief v. 15. 3. 1832 an Friedrich Thiersch. In: H. H.: Briefe. Hg. v. Friedrich Hirth. Bd. 2. Mainz: Kupferberg 1965, S. 17. Vgl. Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris: Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München: Hanser 1993. Emst Robert Curtius. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen: Franke "1993, S. 313f.
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angemessenes Bildfeld für die ungeheure Multiplikation und Dynamisierung des Wissens und der Ideen in der großen Stadt gesucht.16 Zum Bibliotheksmodell greift auch Hebbel als Bild für die städtischen Massen und ihre Bewegung. Er benutzt es, um den Zusammenbruch jeder Lektüreanstrengung zu illustrieren und damit eine Grenze der Wahrnehmung städtischer Massenerscheinungen zu markieren: »In diesem Gewühl von Menschen [...] gab [es] keine bessere Gelegenheit, physiognomische Studien zu machen, [...] aber [...] in einer Bibliothek von hunderttausend Bänden kommt man nicht leicht dazu, sich in ein einzelnes Buch zu vertiefen.« (2870) Hebbel fokussiert das Mitreißende der städtischen Bewegung, für das immer wieder das Metaphemfeld des Stromes und Ozeans eintritt. Gegenüber der großen Stadt Paris als Zeiterfahrungsraum bewegter, temporalisierter Geschichte der Jetztzeit, den es lesbar zu machen gilt, wird die Überdimensionalität der großen Stadt dominant: die Größe und Pracht ihrer Räume, die Masse ihrer Menschen und Gebäude, die Multiplikation der menschlichen Schicksale. Vom Temporären, Flüchtigen und der städtischen Miniaturisierung und Differenzierung lenkt Hebbel den Blick auf das Räumliche, Dauernde, Große, Massenhafte. Adjektive wie >imposant< und >grandiosDenkform Erinnerung< präferiert Hebbel die letztere. 17 Quantität, Monumentalität und Masse verschwistern sich mit dem Ort, dessen Zwang und Bann, wie im Fall des Are de Triomphe, sich nur die Leute, »die Blousen tragen«, entziehen können, während er sonst ausnahmslos »die Füße der Vorübergehenden fesselt und ihre Blicke zwingt«. Das Denkmal ist nach Hebbel ein »bis zur Überwältigung bedeutendefs] Monument kriegerischer Größe«, dessen Rhetorik »faßlich und mächtig« sei und »keine Nebenfragen aufkommen« lasse. (W 10, 17) Scharf setzt er seine Sehweise gegen die Gutzkows ab, der es »ein kaltes, frostiges Gebäude« nenne, und resümiert: »Dergleichen Abfertigungen der bedeutendsten Gegenstände sind doch wirklich nicht viel besser, als die Inschriften, womit die G a m i η s ein solches Denkmal wohl zu versehen pflegen.« (2905) Mitten im Vormärz scheren hier zwei sich literarisch manifestierende, für das schwierige neunzehnte Jahrhundert bezeichnende Wahmehmungsweisen auseinander: die das Fugitive, Vorübergehende der städtischen Erscheinungen und Geschichte der Zeit graffitihaft aufnehmende, im Vormärz kulminierende jungdeutsche Schreibart einerseits und die Betonung des geschichtlich Imposanten, Heroischen, ja Kriegerischen, die Faszination des »Massenhaften und Gewaltigen« (B 3, 108), die nach 1848 in der zweiten Jahrhunderthälfte blickführend wird. Hebbel ist ein Grenzgänger des »Unerträglichen«, 18 auch in der großen Stadt. Ihm ist »das Anschauen des Massenhaften und Gewaltigen [...] Bedürfniß« (B 3, 108). Er sucht die bezwingende Eindrucksstärke, die Grenze sinnlicher Fassungskraft, den Umschlag zur Verzweiflung oder zum Erliegen, zur Erschöpfung und Teilnahmslosigkeit. Sinnes- und Darstellungsexperiment konvergieren. Die Schilderung der Illuminationsereignisse des 14. Juli 1844 beginnt mit der Nachricht, daß ungefähr zwanzig Menschen durch die drängende Menschenmenge zertreten wurden, und endet mit der Beobachtung des unfaßlichen Spektakels aus der Perspektive gänzlich anderer Lebewesen, der Tiere:
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Vgl. Günter Hess: Panorama und Denkmal. Erinnerung als Denkform zwischen Vormärz und Gründerzeit. In: Alberto Maitino in Zusammenarbeit mit Günter Häntzschel, Georg Jäger (Hg.): Literatur in der sozialen Bewegung. Aufsätze und Forschungsberichte zum 19. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1977, S. 130-206. Hier S. 175. Blumenberg: Grenzgänge (Anm. 7), S. 54.
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Merkwürdig waren mir des Nachmittags einige Haasen, die in all dem Lärm ruhig schliefen; er mußte die Fassungskraft ihres Gehörs so weit übersteigen, daß sie Nichts mehr von ihm vernahmen. Den Hunden ging es dagegen, wie den Menschen, sie verzweifelten. (B 3, 144)
Begleitet, grundiert und allein dem intimen Tagebuch anvertraut ist diese ParisWahrnehmung von einem »ausgesprochenen Sinn fürs Außerordentliche [...], Abnorme« sowie »fürs Groteske und Abseitig-Verborgene«.19 Auch ihn kennzeichnet ein Außerkraftsetzen des Fassungsvermögens. Ausgerechnet der Tagebuchschreiber Hebbel, für den das Leben des Individuums seinen einzigen Zweck darin hat, »Form zu erlangen«, und dessen Tagebücher die abgelegten Formen sammeln (2756), ausgerechnet er hält in seinen täglichen Notaten das Formlose, Ungestalte fest, die andere Hälfte der Melusinengestalt des Menschen und der Menschheit, das Amorphe, »das Ungeheuer« (3111). In der Fragmentierung der vereinzelten Tagebuchnotiz haben sich eine ungeschönte Momenthaftigkeit und ein ungemilderter Wahrnehmungsschrecken erhalten, die keine Sinneskonditionierung kennen, keine Abstumpfung wie der Städter gegenüber Reizen. Die Tagebücher Hebbels huldigen einer »versteckten Kultur des Grotesken, des Absurden, einer schrägen metaphysischen Komik«. 20 Hebbel selbst hat seine Ungeschütztheit vor starken Reizen auf seine »trübe Kindheit und [·.·] gedrückten Jünglings-Jahre« zurückgeführt. Sie begleitet ihn auf seinen Gängen durch die große Stadt und prägt ihr Bild: »es geht mir, wie einem, der ein Decenium zwischen Fußangeln und Selbst-Schüssen umhergeirrt ist [...], er wird selbst auf P f l a s t e r s t e i n e n anders auftreten, wie Andere.« (2958) Die Entdeckung seiner »Organe für die Welt«, seines Bedürfnisses nach Welt in Paris und das Eingeständnis der Unabänderlichkeit seiner »Grundfäden der Genesis« lassen ihn schlußfolgern: »so habe ich wenigstens für einen möglichst bunten und mannigfaltigen Einschlag zu sorgen, damit sich nicht alles in Nacht und Nebel verliere.« (B 3,63f.) Das Wort »Einschlag« anstelle von Eindruck faßt präzise die Wahrnehmungsgewalt, mit der sich die Abnormitäten der großen Stadt in Hebbels »Experimentalanthropologie« eingraben.21 Den »Gedankenexperimente[n] mit dem Unerträglichen«22 parallel sammelt das »Herbarium« genannte Tagebuch nicht nur die »zudringlichen Schmeißfliegen« der Gedanken (2408), sondern auch die extrem zudringlichen, einschlägigen Wahmehmungsgrenzfälle. Wie »ein leibliches Auge, mit dem Vergrößerungsglas bewaffnet«, vermerkt das Pariser Tagebuch, »in einem schönen Gesicht nur noch ein Stück durchlöcherte Haut erblickt«, so habe der »Dichter [...] geistige[ ] Augen für die Risse und Spalte der Welt und des menschlichen Ich« (3148). Lakonisch lautet eine andere Tagebuchnotiz: »auffallend viele Blatternarbige« (2950). Das Straßenbild einer Passantengruppe in der Gallerie d Orleans beginnt mit der Karikatur von Mutter und Vater: 19
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Karl Riha: Die Beschreibung der >Großen StadtSattelzeitQuerelle des Anciens et des Modernes< gleichsam arbeitsteilig auf die beiden Städte Paris und Rom projiziert. Die Ambivalenz von Geschichtlichem und Ästhetischem wird in unterschiedlichen Akzentuierungen des Ästhetischen aufgespalten, sowie jeweils anderen geschichtlichen Zeitdimensionen zugeordnet. Rom wird die Stadt der Kunst, in der sich die vergangene Geschichte unter dem Primat des Ästhetischen und der Erinnerung in der Einbildungskraft vollendet; es wird mit Jacob Burckhardt zum Anti-Paris, zur Stadt des »ästhetischen Historismus«. 27 Paris hingegen emanzipiert sich aus dem Romvergleich, wie Goethes Formulierung »Paris - das moderne Rom« 28 zu erkennen gibt, und wird zum Literaturort des ästhetischen Aktualismus. Hier durchdringen sich, faßlicher als andernorts, eine neue Zeit, das heißt eine dynamisierte, sich in eine offene Zukunft überschreitende, ungeschriebene Gegenwartsgeschichte und eine neue Literatur, die als Geschichtsschreibung der Gegenwart ihre eigene Überholbarkeit ins Auge faßt. Im Aufbau eines ästhetischen, politischen und geschichtsphilosophischen Bild-, Orientierungs-, Flucht- und Fiktionsfeldes Paris wird diese Stadt zu einem mit Rom als dem Ort der klassischen Kunst und der vergangenen Geschichte konkurrierenden, mit kollektiven und privaten Mythen durchsetzten Geburtsort der Moderne. In diese Literatur- und Kunstkonstellation reist Friedrich Hebbel, als er sich im Herbst 1843 mit dem Reisestipendium des dänischen Königs nach Paris und von dort weiter nach Rom begibt. Er hätte auf Jacob Burckhardt treffen können, der sich ebenfalls 1843 in der französischen Hauptstadt aufhält. Die literarischen Anfänge beider charakterisiert die Auseinandersetzung mit der publizistischen Schreibart. Jacob Burckhardt formuliert die ästhetische Ausgangslage, auf die Hebbel trifft und aus der sich beide herauszuaibeiten haben: »alles will N e u sein, aber auch weiter nichts«.29 Auch in der Literatur und Kunst setzt sich der ständige Veränderungsdruck 25
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Vgl. Heinrich Heine: Französische Maler. Gemäldeausstellung in Paris 1831. In: Heine: Werke. Bd. 12/1 (Anm. 12), S. 47f. Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: J. G. H.: Werke. Hg. v. Wolfgang Pross. Bd. 1. München: Hanser 1984, S. 433. Vgl. den Begriff bei Hannelore und Heinz Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975. Vgl. Ingrid Oesterle: Paris - das moderne Rom? In: Conrad Wiedemann (Hg.): Rom - Paris - London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Stuttgart: Metzler 1988, S. 375-419. Hier S. 398. Jacob Burckhardt: Brief v. 21.-25. 8. 1843 an Johanna Kinkel. In: J. B.: Briefe. Hg. v. Max Burckhardt. Bd. 2. Basel: Benno Schwabe & Co. 1952, S. 42.
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durch die Publizistik durch: »Dieß ewige Ausderhandindenmundleben der französischen Kunst und Literatur ist zum Theil eine Folge der Journalistik; es wird gar nichts Dauerndes mehr geschaffen.« 30 Burckhardt verabschiedet Paris, in dem »mannshohe Affichen« an den zentralen Punkten in der Stadt jede Erinnerung an die Vergangenheit »überschreien«.31 Er wendet sich in Rom dem Studium der klassischen Kunst und ihrer Wiedergeburt in der Kultur der Renaissance zu. Hebbel hingegen hält fest an Paris. Rom sei der »Scherbenberg der Welt« (W 10, 44), ein Ort, den man sich durch Untersuchung des vergangenen Lebens erschließen müsse, schreibt er nach seinem Eintreffen dort.32 Paris bleibt demgegenüber mit seinem immer wieder eindrücklichen, anregenden, »unendlichen Menschenstrom« ein Ort behaupteter ästhetischer Produktivität, ein »Ocean« des wirklichen, gegenwärtigen Lebens, der selbst Hebbels »Träume« anregt. (B 3, 167) Immer wieder war Paris für deutsche Dichter, die hier auf Zeit aus heimischen Bedingungen und Zwängen freigesetzt und der Dynamisierung eines modernen, anonymen, städtischen Lebens ausgesetzt sind, ein Ort labiler Identitätssuche und Selbstvergewisserung, sei es für Kleist, Arnim oder Schlegel, die dort zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts Reformpläne, Lebenspläne, Lebensansichten entwikkelten, im Blick auf die eigene individuelle und oft auch nationale deutsche Identität. Kleist erklärte sich in Paris gegen die Berufsschriftstellerei des Publizisten und für die Kunst; Arnim transformierte einen publizistischen Text für die von Paris aus redigierte Zeitschrift Europa des Romantikers Schlegel in einen dichterischen. Auch für Hebbel wird hier die Spannung zwischen publizistischer Schriftstellerei und Dichtung eine Entscheidungsfrage. Hebbel schreibt in Paris Tagebuch, Briefe, Gedichte, am Drama Maria Magdalena, das manifestartige Vorwort zu diesem Drama, aber er schreibt, oder veröffentlicht zumindest keine publizistischen Reise- und Stadtkorrespondenzen, wie es im Gefolge von Börne und Heine jungdeutsche Schriftsteller von Gutzkow über Dingelstedt bis zu Mündt tun. Zwar trägt er sich aus finanziellen Erwägungen mit dem Gedanken: »Warum soll ich meine ReiseEindrücke nicht eben so gut im Morgenblatt oder in der Allgemeinen Zeitung drucken lassen, als andere Leute?« (B 2, 295) Ein Publikationsangebot wird ihm jedoch weder von Cotta noch von Campe unterbreitet. Zwiespältig ist sein Verhältnis sowohl zum jungdeutschen Schriftstellertypus als auch zur publizistischen Literatur und Schreibart. Parallel zur von außen kommenden Ablehnung setzt eine zunehmende innere Distanzierung von der Publizistik ein. Hebbels Briefe und Tagebuchnotizen reflektieren kontinuierlich Möglichkeiten und Grenzen der eigenen schriftstellerischen Fähigkeiten sowie die Eigenarten des publizistischen Paris-Diskurses. »Niemand«, schreibt er apodiktisch an Hauff, kann die »>Correspondenzen< und >Feuilletons< [...] gründlicher verachten [...] wie ich« (B 2,278). Abstiegsängste des >Dichters< in den
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Ebd., S. 43. Brief v. 19.-21. 6. 1843 an Willibald Beyschlag. In: Ebd., S. 17. Zu Hebbels ästhetischer Wahrnehmungsschulung in Rom vgl. den Aufsatz von Alexandra Tischel: »... ein Jeder, der hieher kommt, erst sehen lernen muß ...« - Friedrich Hebbel in Italien. In: Hebbel-Jahrbuch 54 (1999), den ich freundlicherweise im Manuskript einsehen konnte.
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prosaisch-publizistischen Alltag werden laut, stärker aber noch die Sorge, die journalistische Arbeit könnte den Dichter aufzehren, »tödten« (B 3,102). Als Hebbel nach Gutzkows Weggang das Angebot ertiält, Redakteur des Telegraphen zu werden, wägt er seine Fähigkeiten gegen die Anforderungen an den Publizisten ab: Ich kann über bedeutende Dinge g u t , aber nicht Uber unbedeutende Dinge v i e l schreiben. Letzteres aber ist das Talent, das von einem Redacteur verlangt wird. Man kann einer der ersten Dichter und deß - ungeachtet, ja eben deswegen, einer der letzten Journalisten seyn. Ich brauche zu Allem Stimmung, zu einem Brief, zu einer Notiz, ich habe Tage, ja Wochen, wo ich nicht im Stande bin, eine Zeile zu schreiben. (B 3, 114)
Neben der Abhängigkeit seiner Produktivität von »Stimmung« sei er auch »unfähig zum Deutschen Schriftsteller« (B 3, 118), weil er die Dinge nicht realistisch im Detail mit Hingabe, sondern nur in ihrer Wirkung auf ihn selbst betrachten könne, als Selbsterweiterung und Ideenanreiz. Für den Tagebuch- und Briefschreiber Hebbel in Paris sind die jungdeutschen Paris-Korrespondenzen gleichwohl durchgängig präsent, ebenso wie seine Jugendlektüren. Er muß sich aus diesen erlesenen Wahrnehmungsmodellierungen herausschreiben und -arbeiten. Offen bleibt, ob er nicht doch ein Paris-Buch verfaßt hätte. Tagebuch und Privatbriefe liefern Schieibübungen, Probestücke, Notizen, Wahmehmungsfetzen, ja Beweise dafür, mit der publizistischen Schreibart auf dem deutschen Literaturmarkt konkurrieren zu können. Sie enthalten, sei es in dem traditionellen Medium des Theaters oder avancierten Medien des Panoramas und Dioramas vermittelte Stadtlandschaften eigener Art, in die, wie am 11. November 1843 »alles Geisterhafte und Schauerliche« von Hebbels Natur ebenso eingehen kann, wie, beim Anblick des Abendhimmels über der großen Stadt, die Erinnerung an ein Nordlicht, »als ob oben an der Wölbung der Kugel Blut ausgegossen und in breiten Streifen bis an den Rand niedergelaufen sey«. Dem geht im Tagebuch eine dioramatische Beleuchtungsinszenierung voraus: Es dämmerte schon, wie wir den Pfere la Chaise verließen und es war ganz dunkel, als wir die Boulevards St Martin wieder erreichten; durch eine Straße hindurch sahen wir auf den Mont martre, der in einer wahrhaft phantastischen Beleuchtung vor uns lag, man glaubte nichts Wirkliches, Wahrhaftes zu sehen, sondern eine Coulisse aus einer Wunder-Oper.
Die Tagebucheintragung endet mit dem Blick auf die publizistische Konkurrenz: »Da wäre auch einmal eine Schilderung; ob sie schlechter ist, als eine Dingelstedtsche?« (2839) Hebbels verschiedenartige Pariser Aufzeichnungen geben Einblick in die eigene Prägung und Wendung der Wahrnehmung von Paris als Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts durch einen deutschen Dichter, »der einem wie das verkörperte neunzehnte Jahrhundert erscheint und dessen Tragödien sich ausnehmen wie die Haupthalle des Musde d'Orsay«. 33 Sein Buch hätte Hebbel >Pariser Spaziergänge< nennen können, denn wie kaum ein anderer deutscher Schriftsteller erlief er sich die große Stadt. Zwei Publikationen aus dem Pariser Textcorpus, ein feuilletonistischer und ein poetischer Text, führen denn auch den Spaziergang im Titel. 33
Von Matt: Armer Sieger (Anm. 20).
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Hebbels großes, neunundzwanzig Strophen umfassendes Gedicht Ein Spaziergang in Paris dokumentiert bereits durch seine poetische Form eine Entscheidung zwischen Kunst und publizistischer Schreibart zugunsten der Kunst, zumal in der deutschen Paris-Literatur seit mehr als einem halben Jahrhundert der Spaziergang in der großen Stadt zum Paradestück publizistischen Schreibens gehört. Das Gedicht vollzieht die Auseinandersetzung inhaltlich noch einmal nach. Eine Fülle an Paris-Bemerkungen aus Tagebuch und Briefen sind in es eingegangen. Ausgelöst ist es, wie das Gedicht selbst und ein Brief es darstellen, durch die Nachricht vom Tod des großen dänischen Bildhauers Thorvaldsen. Schon der Befund, daß die journalistische Tagesneuigkeit nicht am Anfang des Gedichtes steht, sondern erst in der 19. Strophe, gibt die Distanz zu publizistischen Effekten zu erkennen. Daß sie jedoch zur Peripetie dieses poetischen Nachrufs auf einen Künstler wird, kennzeichnet die gleichzeitige Distanznahme von traditionellen Pathosformeln, wie der Brief vom 17. Mai 1844 ironisch betont: Das Gedicht geht aber nicht aus der Melodie von: »Weint Ihr Musen, seufz' Apollo!« sondern ich habe das EreigniB, wie ich es erlebte, den Spatziergang in den Champs elys&s usw. und das Lesen der Nachricht in der Zeitung mit all seinen bunten Farben hingestellt. (B 3, 94)
Es ist ein Stadt- und Kunstgedicht gleichermaßen. Bindeglied zwischen Stadt und Kunst ist der Spaziergang, eine poetische Bewegungsform der Kunstreflexion seit Schillers Elegie, die die Erschwerungen der Kunst unter den Bedingungen der Gegenwart angeht. Im Unterschied zu Schillers Gedicht Der Spaziergang, das mit dem Verlassen der Stadt beginnt,34 betont Hebbels Titel den Spaziergang i η der Stadt, deren Erscheinungen ins Gesichtsfeld des Spaziergängers treten und Eingang in den Gedichttext finden. Das Gedicht ist ein vormärzliches Gegenstück zu der klassischen Elegie. Gleichwohl hält es, dieser verwandt, an der Unabdingbarkeit der Kunst fest, auch wenn es dessen geschichtsphilosophischen Entwurf zurücknimmt, Hegels geschichtsphilosophische Spekulationen und Heines literarische Mythenbildungen parodierend zurückweist und restlos durch einen Künstlermythos ersetzt. Der erste Teil des Gedichtes feiert, frühlingshaftes Naturerwachen und österliche Auferstehung verbindend, die Rückkehr des leidenden Dichters ins Leben, eine Befreiung seines Inneren aus dem, was es »umengt«, zur »Fülle neuen Seins«, eine Entgrenzung des lyrischen Ichs ins erhaben »Unermeßliche« (W 6, 242), eine Überwindung des Todes mit Anspielungen auf den Tod und die Auferstehung Christi. Es ist Morgen; das Gedicht wird den Pariser Tageslauf bis zum Einbruch der Dunkelheit und Nacht abschreiten. Die Tageszeiten strukturieren es; ihnen sind bestimmte Rhythmen des städtischen Lebens zugeordnet. Mit der Mittagsszene wechselt die Szene von den Naturzuständen zu den Stadterscheinungen. Es beginnt, wie es später im Gedicht heißt, die »Lebensposse« Stadt. (W 6, 245) Dem sakral grundierten Auferstehungsgeschehen in der Natur und dem Gemüt des lyrischen Ichs tritt gegenüber die Profanierung von Gründonnerstag und »Still=Freitag« im Pariser Stadtleben. Sie sind ein »Ostertag der schönen Welt, / Wo zwar noch Christus nicht, doch, heiß 34
Vgl. Friedrich Schiller: Der Spaziergang. In: F. S.: Sämtliche Werke. Hg. v. Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert. Bd. 1. Gedichte. Dramen I. München: Hanser 8 1987, S. 228-234.
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erfleht, / Schon die Pariser Mode aufersteht.« (W 6,242) Es ist Longchamp, ein jährlich wiederkehrendes »Modenfest«, an dem auf den Champs Elysdes die neuesten Moden präsentiert werden, verbunden mit »ungeheuere[m] Gedränge«, »Lustbarkeiten, Buden, Gauklern, allefm] mögliche[n], die Welt im Kleinen« (B 3, 72). Die Schilderung Longchamps war ein publizistischer Dauerbrenner in deutschen Zeitschriften seit Merciers einschlägigem Kapitel in seinem Tableau de Paris.35 Indem Hebbel diese Inszenierung des Neuen und Veränderlichen schlechthin in sein Gedicht aufnimmt, umstellt, ja unterminiert er poetisch das publizistische Prinzip ständiger Innovation. Im Gedicht wird durch diese Passage die Natur von der Künstlichkeit, der Innenblick durch den »putz'gefn] Anblick« (W 6, 242) abgelöst. Ein Stadtbild des >StaatSchuldweundeutschen< Stil ausfindig machen zu können. Danach kommt (und Heines Stil ist dafür nur ein Exempel) »Juden« und »Franzosen« eine »Virtuosität der Form« zu, die nach dem Gehalt der Worte wenig frage, während die Sprache Martin Luthers »geboren in Kämpfen des Gewissens [...] allezeit die Sprache des Freimuths und des wahrhaftigen Gemüthes geblieben« sei.2 Abhold jeder Art vorschneller Kontinuitätsunterstellungen wird man doch kaum umhin können,
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Die hier vorgelegte Studie verdankt ihr Zustandekommen vielfacher Unterstützung. Von Dr. Rolf Haaser stammt der Hinweis auf Emst Eckstein, von Dr. Lothar Schneider und Dr. Andreas Hoeschen die Anregung zu Moritz Lazarus. Ohne die intensive Mitarbeit von Nils Björn Schulz wäre der Aufsatz in dieser Form nicht zustandegekommen. Zudem hatte ich das Glück, die Rohfassung vor kundigen Zuhörern in Dublin, Cornell (Ithaca) und Jena vortragen und diskutieren zu können. Hugo von Hofmannsthal: Umrisse eines neuen Journalismus. In: H. v. H.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Bd. 8. Reden und Aufsätze I. 1893-1913. Hg. v. Herbert Steiner. Frankfurt/M.: Fischer 1979, S. 378-381. Hier S. 378. Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Vierter Teil. Leipzig: Hirzel 1889, S. 423.
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im Falle von Trcitschkes Diatribe gegenüber dem »gesucht nachlässigen, schillernden, flunkernden« Feuilletonstil mit »seiner geschicktefn] Mache, [...] aus niedlichen Riens noch einen wohlklingenden Satz zu bilden«, 3 einen ideologischen Bezugsrahmen für die nationalsozialistische Feuilletonforschung zu sehen. Dort wird nämlich ein Gegensatz konstruiert zwischen einer »Akrobatik der Sprache«, einem »gewiß« im sogenannten »jüdischen Feuilleton« vorhandenen »brillanten Wortwitz« und den nur dem deutschen Feuilleton eigenen »Tönefn] der Innigkeit« und »Tönefn] eines echten großen Gefühls«. 4 Die noch im Nachkriegsdeutschland wirksame, vom Nationalsozialismus geprägte »Feuilletonkunde« mit ihren sechs »Stationen der feuilletonistischen Schöpfung« »Sehen, Miterleben, Verknüpfen, Aufschreiben, Formen« und »Emporführen« - ist vor diesem Hintergrund so harmlos nicht.5 Die von nationalsozialistischen Forschern vorgeschlagene Verdeutschung des Feuilletons als »Erlebnisbetrachtung« und »Erlebnisgestaltung«6 nimmt dem Feuilleton die urbane Brisanz und den soziologischen Biß. Statt in der Art eines Schulaufsatzes zu »sehen«, »mitzuerleben«, zu »verknüpfen« und »emporzufuhren« treten dem Interpreten schon in der Selbstreflexion des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert ganz andere zentrale Charakteristika entgegen, zum Beispiel der »Vergleich« der eigenen »Ansichten« mit denen anderer,7 die Sprachkritik im weitesten Sinne als Kritik an der »Phrase« 8 sowie das Spuren-
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Ebd. Wilmont Haacke: Das Wiener jüdische Feuilleton. In: Walther Heide (Hg.): Handbuch der Zeitungswissenschaft. Bd. 2. Leipzig: Hiersemann 1942, Sp. 2051-2072. Hier Sp. 2068ff. Als Klassiker der »Kleinen Form« und des »Feuilletons als der Form« werden daher noch 1963 von Wilmont Haacke nicht Börne, Heine und Saphir genannt, sondern »Matthias Claudius mit seinen Einfallen für den Wandsbecker Bethen, im 19. Jahrhundert Hebel mit seinen Scherzen für den Rheinischen Hausfreund«. Produktion und Rezeption dieser »Prosa-Miniaturen« werden folgendermaßen beschrieben: »Aus unerheblichem Anlaß dem Bruchstück eines Gesprächs, einer anekdotischen Begegnung, vielleicht nur einer Zeitungsnotiz - erwächst ein kurzes, leises, ja gleichsam beiseite gesprochenes Referat, das vom Herzen kommt und zu Herzen der Leser, Hörer, Zuschauer geht und dort lautlos ein inneres Sichverändern hervorruft.« Wilmont Haacke: Fragen des Feuilletons. In: Publizistik 8 (1963), S.75-78. HierS. 78. Vgl. Emil Dovifat: Um die Wahrhaftigkeit der Darstellung. Gedanken und Lehren einer »Feuilletonkunde«. In: Deutsche Presse 2 (1944), S. 15f. Hier S. 16. Vgl. Georg Jäger: Das Zeitungsfeuilleton als literaturwissenschaftliche Quelle. Probleme und Perspektiven seiner Erschließung. In: Wolfgang Martens (Hg.): Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. Weinheim: VCH 1988, S. 53-71. Hier S. 55. Dovifat: Ebd., S. 15. Karl Emil Franzos: Lieber das Feuilleton. Einleitung. In: Ferdinand Groß: Kleine Münze. Skizzen und Studien. Breslau: Schottlaender 1878, S. VII-XXXXVI. Hier S. XXXXI. Vgl. Ludwig Speidel: Daniel Spitzer. In: Joachim Schreck (Hg.): Ludwig Speidel. Fanny Elßlers Fuß. Wiener Feuilletons. Wien, Köln: Böhlau 1989, S. 433: »Die Lächerlichkeit, die Phrase, der Schwindel, die Hohlheit, die sich wichtig macht, die falsche Würde, alles Kleinliche, Schwächliche - er räuchert es aus ihren Löchern und Höhlen heraus und läßt sie seine Peitsche und seine Pfeile fühlen. Dafür hat sich Spitzer seine eigene literarische Form geschaffen.« Vgl. Gustav Seibt: Strukturveränderungen in der kulturellen Öffentlichkeit. Die neue Ohnmacht des Feuilletons. In: Merkur 8 (1998), S. 731-736. Hier S. 736.
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legen und Spurenentziffern, also eine bestimmte Form modernen Erinnems, 9 und schließlich die Dynamik einer europaweit geführten Ideenzirkulation.10 Selbst die plausibel erscheinende Zuschreibung, das Feuilleton müsse »vom Einzelnen, Zufälligen, Nebensächlichen, Alltäglichen herüberleuchten ins Allgemeine«,11 gewinnt ihre kulturkritische Pointe erst wieder, wenn man sie rückübersetzt in den kulturgeschichtlichen Befund, daß das Feuilleton sich aus der eigenwilligen Kombination von Internationalität und Lokalität speist. Diese Rückübersetzung ist bis heute nicht geschehen, obwohl man zurecht konstatiert hat, daß die Feuilletons »führender Tageszeitungen [...] früher in höherem Maße als heute der mediale Ort [waren], an dem das Kulturgespräch einer Gesellschaft geführt wurde«.12 »Wie kaum eine andere Abteilung im Archiv der kulturellen Geschichte«, heißt es etwas pathetisch an anderer Stelle, »kann die des Feuilletons Auskunft geben über die Selbstwahrnehmung der Zeit«13 - und doch gibt es keine Geschichte des Feuilletons. Obwohl es kaum ein Medium gibt, an dem auf hervorragendere Weise die gegenwärtig brisanten Fragen der Intertextualität, der Intermedialität, der Ideenzirkulation und des Funktionsübergangs von Poesie zu Publizistik diskutiert werden können, fehlt bislang eine Kulturpoetik des Feuilletons. Vier Gründe sind hier in gebotener Kürze zu nennen: 1. Der Versuch, Feuilleton als Genre und das Feuilletonistische als eine relativ homogene Darbietungs- und Kommunikationsweise zu bestimmen, scheitert. Man kann Wolfgang Preisendanz zustimmen, wenn er in seiner wegweisenden Abhandlung Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik betont: »Wo das Wort [...] den Begriff eines literarischen Genres abgeben soll, verdeckt man leicht, welche unterschiedlichen Textsorten dieser Begriff subsumieren muß. Es läßt sich schlechterdings nicht definieren, welche textimmanenten Merkmale (der Thematik, des Stils, der Technik) einen Text als Exemplar dieses Genres ausweisen.«14 2. Es kann als problematische Vereinseitigung angesehen werden, das Feuilleton als »Ideenschmuggel« zu instrumentalisieren, wie es nach dem Vorbild Walter 9
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Vgl. Ernst Bloch: Das Merke. In: Fabeln denken. Essayistische Texte aus der »Frankfurter Zeitung«. Vorwort von Gert Ueding. Tübingen: Klopfer & Meyer 1997, S. 8: »Aus Begebenheiten kommt da ein Merke, das sonst nicht so wäre; oder ein Merke, das schon ist, nimmt kleine Vorfälle als Spuren und Beispiele.« Ferdinand Kiirnberger: Sprache und Zeitungen (1866). In: F. K.: Gesammelte Werke. Bd. 2. Literarische Herzenssachen. Reflexionen und Kritiken. Hg. v. Otto Erich Deutsch. München, Leipzig: Georg Müller 1911, S. 18: »Varnhagen erinnert im echtesten Zeitgeist unserer Freihandels-Aera, daß im internationalen Verkehr der Völker nicht nur Güter zum Austausch kommen, sondern auch Ideen und Ideenkleider - Wörter.« Vgl. Harald Schmidt: Jungdeutsche Publizistik als >IdeenzirkulationGewebeNetzwerkVergleichFürsten< des französischen Feuilletons, bewundert und kritisiert man, daß er das jeweilige Theaterstück nur zum Anlaß für eigene Expektorationen nimmt.70 Fortan wird die Autonomie des Feuilletons gegenüber ihrem Gegenstand im Brennpunkt der Kontroverse um die Bewertung des Feuilletons stehen.
5. Die despektierliche Aura des Feuilletons Trotz aller impliziten Aufwertung der Bedeutung des Feuilletons in der Geschichte des Zeitungswesens des neunzehnten Jahrhunderts (und die Auflagenzahlen belegen dies zur Genüge) verliert freilich das Unter-dem-Strich-Schreiben nie ganz seine despektierliche Aura. Unter-dem-Strich-Schreiben und Auf-den-Strich-Gehen, sei es nur in der alten und ursprünglichen Bedeutung des abenteuerlich Vagabundierenden, Werbenden, ist nun einmal semantisch nicht weit voneinander entfernt.71 So spricht Nietzsche in bezug auf den Journalismus von der »Prostitution des Geistes« und Karl
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Artikel: Feuilleton (1876). In: Fritz Nies: Genres mineurs. Texte zur Theorie und Geschichte nichtkanonischer Literatur. München: Fink 1978, S. 104. Vgl. Envel Tulving: How many memory systems are there? In: American Psycholgist 40 (1985), S. 385-398. Hier S. 387f. Paul Lindau: Jules Janin, der Fürst des Feuilletons. In: P. L.: Nur Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart und Berlin: Cotta 6 1919, S. 102. Artikel: Strich. In: Jacob und Wilhelm Grimm (Hg.): Deutsches Wörterbuch. Bd. 10. Abteilung 3. Leipzig: Hirzel 1957, Sp. 1529 f.
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Kraus bekanntlich von der »großen Hure« Presse.72 So nimmt es nicht Wunder, daß der hochadelige Bruder der Droste-Hülshoff ihr verbietet, einen Beitrag in dem liberalen, dem Katholizismus fernstehenden Feuilleton der Kölner Zeitung zu publizieren.73 War das Schriftstellergewerbe von der Herkunft her besehen sowieso eine zweideutige Zunft, so bilden sich in der Entwicklung des Zeitschriftenwesens des neunzehnten Jahrhunderts zwei Sozialtypen von Journalisten mit unterschiedlichem Habitus, unterschiedlichen Adelungsversuchen und Professionalisierungstendenzen heraus.74 Der Über-dem-Strich-schreibende Journalist versucht den regierungsamtlichen Nachrichtenvermittler zu beerben, sich als seriöser Bote zu gerieren, der Unter-dem-Strich-schreibende Feuilletonist tritt nolens volens das Erbe des Kolporteurs, Curiositätenausrufers, Gerüchteverbreiters und Klatschkenners an. Und wie versucht er sich zu adeln? Er baut ein Entre nous der Zwischentöne, der Eleganz, der Causerie auf, um auf diese Weise zum publizistischen Salonniere aufzusteigen. Eine noch ungeschriebene Kulturpoetik des Feuilletons müßte eine ästhetische Theorie des Pikanten75 mit dem unaufhaltsamen Aufstieg des Feuilletonisten vom Colporteur zum Salonlöwen in Verbindung bringen. Dieses Wertungsgefälle von Oben und Unten, von Zentrum und Rand, von Offiziellem und Inoffiziellem, von Information und Meinung bietet sich geradezu an, deplaziert, umgewertet und verkehrt zu werden. Den abqualifizierenden Duktus von Oben nach Unten macht sich natürlich die Satire zunutze, wenn zum Beispiel 1848 der Streit um die Kaiserkrone nach Meinung Friedrich Engels ins Feuilleton unter den Strich gehöre,76 oder wenn der Feuilletonist Georg Weerth ironisch über seine Neue Rheinische Zeitung schreibt: »[...] dieses unheilvolle Blatt setzt sich sogar über die gewöhnlichen Regeln des Anstandes und der guten alten Sitte hinweg«, indem es »die Kabinett-Ordres nicht selten hinter dem Strich neben die Korn- und Ölpreise des Neusser Fruchtmarktes« dnickt.77 Derartigen offensichtlichen Satanisken korrespondiert eine schleichende, sublime, leise Subversion und Umwertung, wenn der konventionellen, umständlichen, in Verwaltungsdeutsch geschriebenen, abstraktbegrifflichen Verlautbarung über dem Strich eine alltagsnahe, unkonventionelle, nuancierte, langzeitbeobachtende, vergleichende, prognostische, lokalorientierte Schreibhaltung unter dem Strich entgegentritt. Das Unter-dem-Strich-Schreiben wird sogar wortwörtlich genommen. Alfred Polgar behauptet zum Beispiel, »das
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Zit. nach Fischer: Von Börne bis Kraus (Anm. 35), S. 538. Wienfried Woesler: Die Droste und das >Feuilleton< der »Kölnischen Zeitung«. In: Kleine Beiträge zur Droste-Forschung 1 (1971), S. 25-32. Hier S. 25. Vgl. Lothar L. Schneider: Reden zwischen Engel und Vieh. Zur rationalen Reformulierung der Rhetorik im Prozeß der Aufklärung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 9ff. Vgl. den von Berthold Auerbach konstruierten Gegensatz des »Pikanten und Interessanten« des Feuilletons im Unterschied zum Volkstümlichen und die bei der Kritik am Interessanten des Feuilletons beobachtbare Berufung auf Jacob Grimm. Berthold Auerbach: Schrift und Volk. Grundzüge der volkstümlichen Literatur. Leipzig: Brockhaus 1846, S. 262f. Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. (MEW). Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 6. Berlin: Dietz 1956, S. 427. Georg Weerth: Warnung vor der »Neuen Rheinischen Zeitung« (Fragment). In: Weerth: Vergessene Texte (Anm. 67), S. 75.
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Gebot der fliehenden Stunde« fordere vom Feuilletonisten, »die kürzeste Linie von Punkt zu Punkt« 78 zu wählen und in kühnen, knappen, charakteristischen, skizzenhaften, in einem Zug durchgeführten Strichen zu schreiben. 79
6. D i e stilprägende D y n a m i k des Feuilletons i m Modernisierungsprozeß der Zeitungen Wenn Balzac die beste Karikatur des Feuilletons in seinem Roman Les Illusions perdues geschrieben hat, dann hat Fontane mit seinen Thesen vom pointierten schnellen Schreibduktus, vom Verstecken des Wissens, der Preisgabe des kritischen Richteramts und der Dominanz der Einbildungskraft über den Verstand die knappste und treffendste Poetik des Feuilletons am Beispiel der Times in London gegeben. Da die Times die Erfindung des Strichs nicht anwendet, kann Fontane seine poetologischen Überlegungen zum Feuilletonstil am Leitartikel exemplifizieren. Der »Times«-Leitartikel ist der völlige Sieg des F e u i l l e t o n s t i l s über die letzten Reste des Kanzleistils und ähnlicher miBgestaltener Söhne und Töchter lateinischer Klassizität. Lange Perioden sind verpönt; rasch hintereinander, wie Revolverschüsse, folgen die Sätze. Der Schreiber, wenn er ausnahmsweise gründliche Kenntnis hat, ist strikte gebunden, seinen Schatz zu vergraben und höchstens anzudeuten, daß er ihn überhaupt besitzt. Wissen und Details dürfen sich nicht breitmachen. Der gut geschriebene »Times«-Artikel ist eine A r a b e s k e [Hervorhebung G.Oe.], die sich graziös um die Frage schlingt, ein Zierat, eine geistreiche Illustration; er ist kokett und will gefallen, fesseln, bezwingen, aber es fällt ihm nicht ein, auf alle Zeit hin überzeugen zu wollen. Er übt kein Richteramt, auch wenn er sich gelegentlich die Miene gibt; er ist ein Advokat und ficht weniger für die Wahrheit als für seinen Klienten. Daß er die Miene der Unfehlbarkeit annimmt, beweist nur, wie wenig sicher er sich fühlt. Er will nichts erschöpfen, er will nur anregen; er wendet sich an die bestechliche Einbildungskraft, nicht an den nüchternen Verstand. Witz und Pathos sind seine liebsten Waffen und lösen sich untereinander ab. Aristophanisch zu sein, ist sein Stolz und sein Bestreben. Wie Voltaire hält er nur eines für verpönt - die Langeweile. Elegant, blendend, pointiert; kein Gericht, das nährt, aber eine Sauce, die schmeckt.80 Man hat in dieser Darstellung des »völligefn] Siegfs] des Feuilletonstils« die Geburt einer »modernen Schreibweise« erblickt.81 Freilich hat man in der Forschung diese feuilletonistische Schreibweise meines Erachtens allzuschnell mit einer »Subjektivierung der Literaturkritik«, der »Neigung zu einer Theoriefeindlichkeit» und der Tendenz zum Bruch mit der »tradierten Poetik« literarischer Gattungen in Verbindung gebracht. 82 An dem Text von Fontane scheint mir hingegen bedeutsam zu sein, daß 78
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Alfred Polgar: Die Kleine Form. In: A. P.: Kleine Schriften. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki. Bd. 3. Reinbek: Rowohlt 1984, S. 373. Vgl. auch Artikel: Strich (Anm. 71), Sp. 1526. Theodor Fontane: Studien über England 1860. Die Londoner Tagespresse. In: Th. F.: Sämtliche Werke. Bd. 19. Politik und Geschichte. Hg. v. Charlotte Jolles, Kurt Schreinert. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1969, S. 163-247. Hier S. 242. Russell A. Berman: Subjeküvierung der Literaturkritik. Der Feuilletonismus. In: Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730-1980). Stuttgart: Metzler 1985, S. 213. Ebd., S. 211,213, 214.
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er absieht von zeitgenössischen, auch von Eckstein und Franzos geltend gemachten Thesen der Subjektivierung der Kritik und stattdessen dezidiert Anschluß sucht bei einer seit der Frühromantik diskutierten Poetik des Arabesken. Wie die frühromantische Poetik hebt Fontane an dieser arabesken Schreibweise die Dominanz der Einbildungskraft, den Wechsel von Witz und Pathos, das ludistische Moment, die Abwehr richterlicher Kritik und die Distanz zu gelehrsamen Artikeln hervor.83 Die Aufmerksamkeit der Feuilletonforschung sollte daher weniger auf den Bruch mit der spätklassizistischen Poetik, als auf die Umschrift des mit Exoterik und Esoterik spielenden romantischen Arabeskenkonzepts gerichtet werden. Ungeklärt blieb bislang der Zusammenhang zwischen den Arabesken- und Omamentkonzepten um 1800 und um 1900. Vorschnell neigte man dazu, im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts nur die Trivialisierung des hochtheoretischen Arabeskenkonzepts der Frühromantik zu sehen.84 Die Perspektive verschiebt sich, wenn man die romantische Reflexion der Arabeske von Anfang an nicht von den Modernisierungsproblemen der Publizistik trennt. Auf diese Weise entstünde eine Reflexionskette, die von Friedrich Schlegels Brief über den Roman, Heinrich Heines Zueignungsbrief zur Lutezia,85 Theodor Fontanes Beschreibung der Times bis hin zu Hofmannsthals »feuilletonistischer Vorschule« reichen würde. Mit der subversiven, anspielungsreichen, vielstimmigen Schreibweise übernimmt das unter dem Strich geschriebene Feuilleton die stilprägende Dynamik im Modemisierungsprozeß der Zeitungen und Zeitschriften. Es entfaltet sich eine stilbildende Dynamik im Wettkampf und in der Konkurrenz zwischen den unterschiedlichen politischen Orientierungen in einer Stadt,86 zwischen verschiedenen Regionen, Ländern und Metropolen, zum Beispiel zwischen dem Pariser, dem Londoner, dem Berliner und dem Wiener Feuilleton.87 Es entsteht europaweit eine Zirkulation der Ideen und Stilgesten, die durch die lokale Färbung und besondere Medienlandschaft nicht geschwächt und gestört, sondern gesteigert wird. Es ist wahrscheinlich nicht zu gewagt, zu behaupten, daß einst der Maßstab der Metropolenfähigkeit von der Ausbildung eines eigenen regional distinkten Feuilletonstils abhing.88 83
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Vgl. Günter Oesterle: Arabeske und Roman. Eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion von Friedrich Schlegels »Brief über den Roman«. In: Dirk Grathoff (Hg.): Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode. Frankfurt/M.: Lang 1985, S. 233-292. Hier S. 254f. Man vgl. dort die Bezugnahme von Schlegels Arabeskentheorie auf die »gelehrten Zeitungen«. Vgl. Werner Busch: Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. Berlin: de Man 1985. Heine: Lutezia (Anm. 56), S. 18: »Um die betrübsamen Berichterstattungen zu erheitern, verwob ich sie mit Schilderungen aus dem Gebiet der Kunst und der Wissenschaft, aus den Tanzsälen der guten und der schlechten Societät, und wenn ich unter solchen Arabesken manche allzu närrische Virtuosenfratze gezeichnet, so geschah es [...] um das Bild der Zeit selbst in seinen kleinsten Nuancen zu liefern.« Vgl. die Konkurrenz der von Karl Marx redigierten Neuen Rheinischen Zeitung mit dem von Levin Schücking betreuten Feuilleton der Kölnischen Zeitung. Vgl. den Bericht: Das Wiener Feuilleton. In: Velhagen und Klasings Monatshefte 11, Jg. 26. Bd. 3. 1912, S. 411-417 mit dem Hinweis auf die für das Wiener Feuilleton geschriebene Korrespondenz von Max Nordau aus Paris und Paul Goldmann aus Berlin. Als unerforschtes Beispiel könnte der allmähliche Aufstieg des Feuilletons der Frankfurter
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7. Das Energiezentrum des Feuilletons: die Gleichzeitigkeit von Internationalität und Lokalität und die eigenwillige Verschränkung von Öffentlichkeit und Mysterium Mit der These von der Gleichzeitigkeit von Internationalität und Lokalität geraten wir in das paradoxe Energiezentrum des Feuilletons. Die Nationalsozialisten haben mit der Denunziation der Heimatlosigkeit des sogenannten >jiidischen< Feuilletons ein dem Feuilleton prinzipiell zukommendes Element benannt. Als Erscheinung städtischer Urbanität ist das Feuilleton international, ein »mannigfaches Echo« anderer in- und ausländischer Zeitungen,89 aber es ist keineswegs, wie die Propaganda der Nationalsozialisten unterstellt hat, jederzeit austauschbar, versetzbar. Es ist nämlich gebunden an die spezifische urbane Lokalität, an die jeweilige Szenenatmosphäre einer bestimmten Metropole.90 Mit dieser eigenartigen Kombination von Internationaliät und Lokalität unterläuft das Feuilleton die alte, im achtzehnten Jahrhundert ausgebildete binäre Opposition von Nationalismus und Kosmopolitismus. Mit dieser eigenwilligen Zusammenfuhrung eines Internationalismus der Metropolen mit einer spezifischen lokalen Urbanität schafft sich das Feuilleton einen eigenen Erinnerungsraum der Gebildeten. Im österreichischen Feuilleton bildet dieses »Gemeingedächtnis« der Gebildeten die Wiener Wochenplauderei oder Wochenchronik.91 Das Organisationsprinzip dieses Gedächtnisraums ist wiederum der Strich und seine Zweiteilung. 1848 heißt es in einer österreichischen Zeitung über die Aufgabe des Feuilletons: »Wir wollen eine Übersicht der historischen Ereignisse dieser Woche, jedoch hauptsächlich nur wie sie sich im L o k a l l e b e n Wiens spiegeln, dem Leser vorführen«, um dann freilich sofort die Differenz und Distinktion von Oben und Unten zu vollziehen, von Aktualität und Massenwirksamkeit oben und individueller Sehweise unten, von der massenwiiksamen Politik des Augenblicks in der oberen, größeren Hälfte der Zeitung und von der >sozialenCauserie< nimmt das Thema selbstreflexiv zum Anlaß, über das Verhältnis von Alltag und Wissenschaft zu räsonnieren. Ein alltäglicher einfacher Dialog mit der kleinen Tochter über die Absendung eines Briefes zeigt, wie hochkomplexe Erscheinungen, zum Beispiel die »Briefpost«, die »Uhr in der Westentasche« oder »der Wochenmarkt«, im Alltag ihre Komplexität einbüßen.108 Bernsteins »Culturgesetz« lautet: Wir handhaben einst mühevoll erarbeitete, sensationell innovatorische »geistige Vorarbeiten« unserer Zivilisation heute im Alltag »gedankenlos«.109 Diese Komplexitätsreduktion ist, so Bernstein, freilich lebensnotwendig, um entlastend Platz für neue Gedanken zu schaffen. Zwischen bewußtem Erinnern und Vergessen existiere im menschlichen Haushalt ein habituell wirksamer Erfahrungsspeicher. In feuilletonistischem Stil heißt es: Ich glaube nicht, daß irgendeine mit Hieroglyphen und Keilschrift bedeckte Mauer des Altertums eine solche S u m m e von vorausgesetzten Menschengedanken, sinnreichen Erfindungen und wundervollen Culturergebnissen enthält als das Alltäglichste, in dem wir uns fortwährend bewegen. 110
Die Pointe dieses das Feuilletonschreiben legitimierenden Gedankenganges lautet: Im Unterschied zu unserem Vorurteil stellen die wissenschaftlichen Bücher nur zum »allerkleinsten Teil« »die Entstehung [und] die Genesis solcher Gedankenreihen dar, stattdessen ist der unermessliche«, »ererbte« Reichtum an Wissen und Fertigkeiten in »tausendfältigen»111 »Wundern der Alltäglichkeit«112 gespeichert und »liegt unmethodisch durcheinander versteckt«113 greifbar, entdeckbar für jedermann. Die »Culturaufgabe« unter anderem auch des Feuilletons ist es, »alles, was wir selber etwa auf dem schweren Wege der Gedanken ersinnen, erfinden oder schaffen, so ins Leben hineinzutragen, daß es so bald wie möglich alltäglich und von allen, die nach uns kommen, ebenso ohne selbstschöpferische Gedanken-Operationen benutzt, genossen und aufgenommen werden« kann.114 Diese feuilletonistisch-kulturhistorische Fallstudie nimmt ein Jahr später (1862) der Philosoph und Kulturtheoretiker Moritz Lazarus zum Anlaß, »dem Prozess der V e r d i c h t u n g « , wie er es nennt, der einstmals »mühevollen Erkenntnisarbeit« 107
Julius H. Schoeps: Bürgerliche Aufklärung und liberales Freiheitsdenken. A. Bernstein in seiner Zeit. Stuttgart: Burg 1992, S. 237f. 108 Adolf Bernstein: Ein alltägliches Gespräch. In: Berthold Auerbachs deutscher Volks=Kalender auf das Jahr 1861. Leipzig: Keil 1861, S. 134-150. 109 Ebd., S. 149,139. 110 Ebd., S. 145. [Hervorhebung G. Oe.]. 111 Ebd., S. 148f. 112 Ebd., S. 143. 113 Ebd., S. 148. 114 Ebd., S. 149.
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zu immer »elementareren«, »geläufigeren« »Anschauungen und Begriffen«, in Sprache, Sitten, Institutionen und Künsten nachzugehen," 5 freilich mit dem Ziel, die von Bernstein dem Feuilleton zugesprochene Vermittlung von Erkenntnis und Alltag fur die Wissenschaft zuriickzugewinnen. Es sei nämlich »Aufgabe der Wissenschaft«, die »zwei Arten der Verdichtung des Denkens«, die »objective« durch einen »historischen« Prozeß auf uns gekommene und die »individuelle« und »subjectiv« erlebte Kultur miteinander zu vermitteln, »daß die objectiven Verdichtungen der Cultur durch die Kenntniß ihrer Geschichte in subjective verwandelt werden«. 116 Derartige Überlegungen liefern die Legitimation für Versuche, die seit 1800 einsetzende problematische Trennung von wissenschaftlicher Forschung und didaktischer Popularisierung in einen neuartigen, vom Feuilleton und der Publizistik inspirierten Stil aufzuheben. Im Verhältnis von Alltag und Wissenschaft, von Feuilleton und Darbietung von modernem Wissen geht es um die Formen von Speicherung kultureller Erfahrung. Adolf Bernstein spricht von der »Summe« des einst gedanklich Geleisteten. Lazarus verwendet den Begriff der »Verdichtung«. In diesen Überlegungen geistert noch begriffsgeschichtlich eine bislang nicht benannte Bedeutung des Unter-dem-StrichGeschriebenen mit - die einfachste und naheliegendste nämlich, die wir im Rechnungswesen dem Zeichen unter dem Strich beilegen. Auch diese Vorstellung des Eine-Summe-Ziehens stand bei der Genese des Feuilletons Pate. Freilich kam diese Form nicht in der Publizistik, sondern in der Parlamentsarbeit zum Tragen. Feuilleton in diesem Sinne als Eine-Summe-Ziehen, machte zunächst nämlich im politischen Bereich Karriere. »Feuilleton des Petitions« meint um 1800 den Auszug aus den Bittgesuchen, die dem französischen Parlament vorgelegt wurden.117
115 116 117
Lazarus: Verdichtung des Denkens (Anm. 19), S. 55,61. Ebd., S. 61. Ernst Meunier, Hans Jessen: Das Deutsche Feuilleton. Ein Beitrag zur Zeitungskunde. Berlin: Duncker 1931, S. 5.
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Wilhelm Busch - The Reductive Satirist
An der Tugend nur genippet, Und die Bosheit ausgetrunken, Also sind die armen Menschen In ihr liebes »Ich« versunken. 1
These lines of doggerel with their unabashed banality, pedestrian diction and flatfooted rhyme, did not spring from the pen of Wilhelm Busch but from that of his contemporary Friederike Kempner, the irrepressible would-be poet of high-minded sentiment and begetter of involuntary humour. Born in 1836, just four years after Busch, she may be seen as representative of all self-styled poets and scribblers in that >problematic< nineteenth century whose vanities he satirized in Balduin Bählamm der verhinderte Dichter. The great difference between them - one also of notoriety and fame - lies, of course, in the exercise of control over language and poetic form. Diction, which for Kempner aspires to the higher, poetic style yet constantly flops into pedestrian drabness, in Busch's hands becomes a controlled parodistic vehicle, replete with ironies and worked into a sharpened tool for the satirist. Busch had learned his lesson from Heine well, while Kempner remained the inept, deluded wondsmith whose idea of poetry, widely shared by her class and culture, was to emulate the grand manner of the Classics and to breathe improving verities into her verse. Busch remained resolutely within everyday vocabulary, finely attuned to the idiom of common parlance in Northern and Southern German, from which pedestrian premise he could score sure hits with highfalutin flourishes. His tone is generally colloquial and unpretentious, his versification a supple adaptation to natural speech rhythms and accent: Tugend will, man soll sie holen, Ungem ist sie gegenwärtig; Laster ist auch unbefohlen Dienstbereit und fix und fertig. (VI, 340) 2
To be a poet in an age of prose was a challenge to which Busch found his own answers and expedients. As something of an outsider looking in upon his age from the provincial Wiedensahl, he neither followed fashions nor was he lured by social acclaim. Never tempted by the large canvas or epic breadth, shunning all luxuriance or extravagance of expression in an age that loved both, he set about cultivating his 1 2
Friederike Kempner: Gedichte. Berlin: Karl Siegesmund 7 1895, p. 137. References are to the following edition: Wilhelm Busch: Sämtliche Werke. 8 vols. Ed. by Otto Nöldeke. Munich: Braun & Schneider 1943 (reprinted 1949).
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gift of graphic clarity and detailed precision. Strict economy of means characterize him both as a draughtsman and as a writer. A born caricaturist, his genius lay in confining himself to a limited compass - as may be seen from his earliest Bildergeschichten without words, published in Münchener Fliegende Blätter - in the reductive process of paring down and elimination to the point of the essential. The mot juste, the rhyming couplet, the epigram and the aphorism are his signature. His pithy wit and wisdom have gained him a space comparable to that allotted Schiller and Goethe in Büchmann's Geflügelte Worte. And yet the popular image of a gemütlich humorist whose comic drawings and rhymes became a >treasury< for countless middle-class nurseries, stands in need of correction. Any notion that Busch is a comfortable wit or that his humour is smug and conciliatory is certainly misguided. His pronounced gift of caricature is patent proof of his satirical bias and there is more critical acerbity in his use of the word than many good bourgeois homes have suspected. It is worth remembering that Busch studiously read and annotated Kluge's Etymologisches Wörterbuch to the year of his death. Nor is it perhaps surprising that it should fall to a modern historian, albeit one steeped in the world of literature, to seize most decisively on this awkward side of the popular humorist. Golo Mann's succinct assessment of Busch's work and its reception is worth quoting at length: Einen anders gearteten, schärferen Spiegel hielt der Hannoveraner Wilhelm Busch dem Bürgertum vor. Die Leute genossen die Werke des nur scheinbar heiteren, unergründlich boshaften, menschenfeindlichen Humoristen mit nie versiegender Freude. Sie fühlten sich von ihm erkannt, aber auf eine Weise, die ihnen gefiel. Busch kämpfte mit Bismarck gegen Frankreich, dessen Niederlage er häßlich belachte; mit ihm gegen seine heimattreuen Hannoveraner, die er als »Partikularisten« verhöhnte; mit ihm gegen die katholische Kirche, indem er nie aufhörte, auf Pfaffen, ausgepichte Jesuiten, alkoholische Eremiten, heuchlerische Pilger, Kirchgeher, alte Jungfern seinen gezeichneten und gereimten Spott auszugießen. Sein tiefster lachender Haß galt dem deutschen Bürgertum, dem biederen Kleinbürger auf dem Lande wie dem städtischen, wohlhabenden, von anderer Leute Arbeit lebenden, den sittlichen Verfall der Zeit bejammernden, in Bade- und Kurorten Sichherumlangweilenden. Aber fähig zum Ekel wie er war, ein Verehrer der Schopenhauerschen Philosophie, ein selbstquälerischer, grundgescheiter, mitleidender Sadist - seine Leser merkten das nicht. Er wußte es gar zu lustig zu sagen in seinen Vers-Geschichten und gab auch um des lieben Friedens willen das Happy-End mit darein [...]. Wer etwas erfahren will vom Geist des deutschen Bürgertums in der Bismarckzeit, der kann es in den BuschAlben besser als in manchen gesellschaftswissenschaftlichen Traktaten.3
The problem of how far, if at all, Busch's bourgeois readership recognized that he had seen through them, had exposed their innermost weaknesses to ridicule, is not unequivocally answered here. Mann seems undecided on this point, though he suggests that there was much in the social satirist which his readership had missed. Of this there can be little doubt. The sharpness of Busch's critical appraisal of contemporary culture, the intensity of his »lachender Haß«, and the sureness of his touch, both as a caricaturist and poet, was not, and still is not, fully registered. The satirist who schools his art to fluent simplicity of line (both in the graphic and the verbal 3
Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M.: Fischer 1958, p. 456.
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sense), to a sureness of touch which aims at the essential and definitive, must needs be reductive in scale and scope. But he need not lose import or subtlety. The social and topical subjects treated by this satirist are of necessity a radically scaled-down version of that human comedy of manners with which the great novelists of the age filled whole family bookshelves, but they abound in significant detail. The scenes from clerical and secular life in the nineteenth century which Busch provides in his maturer works afford, as Golo Mann has claimed, more insight into the nature of German middle-class life than many a learned disquisition from the social sciences.4 Theodor Heuss, whose well-known essay on Busch dwells mainly on the specific qualities of the artist, also drew attention to his great gift of expressive simplicity, which he called »die letzte Vereinfachung der expressiven Linie«.5 This fundamental artistic trait, which Busch discovered in himself during his Munich years in the late 1850s, was fastidiously and secretly nurtured until it became his aesthetic programme. His satirical narratives address issues and ideas, not historical personalities; his characters are deftly gauged typifications whose features are distorted into grotesques: thus we find figures representative of the trades and professions as well as hermits, pilgrims, beggars and tramps and the whole gamut of social types drawn from the Kleinbürgertum. Yet it was Busch's unique contribution to give the animal world equal status and significance by caustic caricatures which bestowed human characteristics on the animal and vice versa. The interchangeability of the two related spheres of biological life gave the satirist his chance to explore an exact parallelism of behaviour in all its drastic, malicious and destructive potential, whilst remaining ever observant of the ethical implications of this charivari of original sin. »Hans Huckebein, der Unglücksrabe« is given the censorious epithet »die schwarze Seele«, and the trenchant motto: »Der größte Lump bleibt obenauf!!« (III, 84) is coined in recognition of his victorious vices after he has outwitted his long-suffering rivals, the tomcat and the dog Spitz. Similarly, »Fipps der Affe« follows the path of dereliction and vice, much in the way of that infamous pair of delinquents Max and Moritz, who yield with a will to every wicked and destructive impulse. Man and beast are seen to be made of the same sinful clay: Wenn wo was los, er darf nicht fehlen; Was ihm beliebt, das muß er stehlen. Wenn wer was macht, er macht es nach; Und Bosheit ist sein Lieblingsfach. (V, 85)
This willing pupil in the school of immorality is not a human being but a monkey, though one who wears tails and trousers, can grind coffee and play the piano while eating an apple. Since there is no such thing as natural virtue in Busch's scheme of things - Darwin and Schopenhauer having influenced his world view for much of his life - both man and beast can only be taught ethics the hard way, by painful example and harsh chastisement. The Victorian adage: >spare the rod and spoil the child< is 4 5
Ibid., p. 457. Theodor Heuss: Wilhelm Busch 1832-1908. In: Hermann Heimpel, Theodor Heuss, Benno Reifenberg (Eds.): Die großen Deutschen. Deutsche Biographie. Vol. 5. Berlin: Propyläen 1956, pp. 361-367. Cit. p. 365.
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repeatedly reflected and illustrated in Busch's value system. He pillories both the futility of the glare of reproof and the excessive zeal of a routine flogging before any offence has been committed in the opposing stereotypes of Rektor Debisch and Meister Dniff from the Knopp-Trilogie. To judge by the number of times the cane is applied with didactic intent, it seems clear that Busch, in step with his times, tends to side with Meister Druff: Druff hat aber diese Regel: Prügel machen frisch und kregel Und erweisen sich probat Ganz besonders vor der Tat. (IV, 238)
It is certainly evident that most of the endings of Busch's cautionary tales from Max und Moritz onwards show a pattern of severe, simplistic morality and remorseless retribution: Gott sei Dank! Nun ist's vorbei Mit der Übeltäterei!! (Max und Moritz. III, 68) »Die Bosheit war sein Hauptpläsir, Drum«, spricht die Tante, »hängt er hier!« (Hans Huckebein. III, 96) Fipps muß sterben, weil er so ein Racker. (Fipps der Affe. V, 169) »Das Gute - dieser Satz steht fest Ist stets das Böse, was man läBt! Ei, ja! - Da bin ich wirklich froh! Denn, Gott sei Dank! ich bin nicht so!!« (Die fromme Helene. III, 462)
Seldom has the primary question in all ethics and moral philosophy received such matter-of-fact treatment or been brought to such an ingenious conclusion. The satirist's view of the relative strengths of the powers of good and evil is supplied elsewhere with comparable economy and simplicity in one of his sayings or Spricker. »Gott zieht an einer Hand, der Teufel an beiden Beinen.« 6 Or, leaving moral theology aside, he put this in familiar secular terms: Denn der Mensch als Kreatur Hat von Rücksicht keine Spur (IV, 423)
Busch's satirical method might best be approached by examining a range of his social and cultural types. His practice was to select for caricature a figure which would be readily recognized as representative; a point of focus, as it were, for the commonly held view. The petit bourgeois prejudices and vulgar simplifications rife among his contemporaries are reproduced with telling accuracy and embodied in a rogues' gallery of figures ranging from Witwe Bolte and Lehrer Lempel, »Onkel Fritze in der spitzen Zippelmütze«, to the desperately seeking bachelor Knopp, the blissfully 6
Adolf Hermann, Otto Nöldeke: Wilhelm Busch. Munich: Lothar Joachim 1909, p. 110.
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married Fittigs, the religious bigot Helene, the sinister Jesuit Filucius, the would-be poet Bählamm or the struggling painter Klecksel. Each of them has something of the contemporary clichd, though a clichd etched with vitriol. It is never easy to distinguish between Busch the originator or the copyist of a stereotype, so close is he to the pulse of the times - only the satirical barb distinguishes him. To illustrate just how well Busch was in touch with the topical view we should summon up his portrait of the Englishman abroad in Plisch und Plum (1882):
Zugereist in diese Gegend, Noch viel mehr als sehr vermögend, In der Hand das Perspektiv, Kam ein Mister namens Pief. »Warum soll ich nicht beim Gehen« Sprach er - »in die Ferne sehen? Schön ist es auch anderswo, Und hier bin ich sowieso.« (V, 338) The drawing shows the lanky Victorian traveller in chequered tweeds, equipped with sun-helmet and outsize telescope, the consummate eccentric in all his selfassurance. For a comparable perspective on the species, Jerome K. Jerome's Three Men on the Bummel (1900) can supply us with a corroborating portrait of the travelling Britisher in the age of steam: I turned my head and saw what, I suppose, few living Englishmen have ever seen before - the travelling Britisher according to the Continental idea, accompanied by his daughter. They were coming towards us in the flesh and blood, unless we were dreaming, alive and concrete - the English »Milor« and the English »Mees«, as for generations they have been portrayed in the Continental comic press and upon the Continental stage. They were perfect in every detail. The man was tall and thin, with sandy hair, a huge nose, and long Dundreary whiskers. Over a pepper-and-salt suit he wore a light overcoat, reaching almost to his heels. His white helmet was ornamented with a green veil; a pair of opera-glasses hung at his side, and in his lavender-gloved hand he carried an alpenstock a little taller than himself.7 7
Jerome K. Jerome: Three Men on the Bummel. Bristol: J. W. Arrowsmith 1900, p. 169.
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Jerome's caricature matches Busch's in all essential detail, though the novelist is more expansive in comic exaggeration. The brevity of Busch, his self-schooled economy of means, sharpen his satire and fix the image more memorably in the mind. His no less notorious and far more injurious caricature of the Jew in Plisch und Plum opens the author, with some justification, to the charge of anti-semitism. At this historical distance it is still important to remind ourselves of the profound differences between social mores and taboos of the nineteenth and twentieth centuries. In considering the degree of complicity in a satirist who clearly reflected widespread social attitudes, we run the risk of narrowing the view solely to that of the author. If we see Busch in the wider context of his age and its prejudices - and here some knowledge of cultural history and an informed historical imagination are essential - it would be a great mistake, as Erich Heller has argued, to bring the anti-semitic views of nineteenth-century men »into too close a connection with the mindless and yet systematic malefactions of the later mass executioners«. 8 To juxtapose Busch's satires with the virulent and malign anti-Semitic drawings in such illustrated weeklies as Simplicissimus, Fliegende Blätter, and the Viennese Bilderbogen des Kikeriki of the late nineteenth and early twentieth centuries, is also to appreciate differences of degree and kind. Heller's fair-minded verdict seems to me well worth consideration: »[...] such a sage and artist cannot simply be a precursor of the apocalyptic thugs with unlimited executive power«. 9 In all justice, Busch directed far more aggressive criticism at Catholic piety, clericalism and religious bigotry in all its guises, than he did at Jewry. His participation in Bismarck's Kulturkampf gave rise to the two heavy-handed satires Der Heilige Antonius von Padua (1870) and Pater Filucius (1872), neither of which display his verbal wit, taste or tact to anything like his habitual standards of judgement. The topical scare of ultramontanism and the Jesuitengesetz it evoked draw from him a cruder form of the time-serving art than he was wont to produce. A qualitative distinction must be made in relation to Die fromme Helene (1872), a work which focuses as cunningly on the well-intentioned, prim and proper piety of average country folk as it does on their erring and straying niece Helene. Busch has by this time reached a level of subtlety in verbal mastery and ironic allusion expressive enough to contain in nuce a whole social milieu with its established forms and practices. Here is the opening of chapter seven: Ratsam ist und bleibt es immer Für ein junges Frauenzimmer, Einen Mann sich zu erwählen Und wo möglich zu vermählen. Erstens: will es so der Brauch. Zweitens: will man's selber auch. Drittens: man bedarf der Leitung Und der männlichen Begleitung; 8
9
Erich Heller: The Little World of Wilhelm Busch. In: E. H.: In the Age of Prose. Literary and Philosophical Essays. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1984, p. 261. Ibid., p. 262. For a fuller examination of this topic see: Erich Fuchs: Die Juden in der Karikatur. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. Munich: Albert Langen 1921.
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Weil bekanntlich manche Sachen, Welche große Freude machen, Mädchen nicht allein verstehn; Als da ist: ins Wirtshaus gehn. - (III, 398)
The mocking voice mimics as it parodies the domestic pedant who lectures the patient listener on the mysteries of sexual relations in a man's world, on the proper procedure leading to marriage, on a wife's dutiful acceptance of male prerogative. The writing breathes the spirit of petit bourgeois orderliness and conformism, of obedience to convention. Yet an ironic distance clearly divides Busch from the point of view expressed. Busch's jaunty use of the vernacular is ever in a nice state of ironic tension with popular Bildungsjargon - the pretentious cultural clichös which trip so readily from the tongue and are designed to attest to Herr Biedermann's education. Notice the paternalistic self-assurance of »man bedarf der Leitung / Und der männlichen Begleitung«, or the undisguised preaching tone of condescension and Rechthaberei in the third verse. Such use of verbal affectation and petty pedantry constitute the finer weapons in the satirist's armoury which function in a subversive manner, constantly needling and deriding that ageless Spießbürgertum of provincial Germany. And it is this latent anti-bourgeois irony which has often passed his readership by. The words which accompany Helene's final rejection of earthly vanities on her double bereavement mark another such shift in register to a borrowed voice; here the bombast of hell-fire homilectics is emulated: Fort! Du Apparat der Lüste, Hochgewölbtes Herzgerüste! Fort vor allem mit dem Übel Dieser Lust- und Sündenstiebel! Trödelkram der Eitelkeit, Fort, und sei der Glut geweiht! Ο wie lieblich sind die Schuhe Demutsvoller Seelenruhe! (III, 446f.)
The hollow tone of this borrowed style perfectly encapsulates that note of falsehood, of pretended piety, which is the very butt of the whole satire. Nothing, one might think, can more effectively render the satirist's aim than this astutely slanted form of reference, and yet Busch is all too seldom read for his implicit critique of contemporary bourgeois culture and its suspect system of values. The humorist tends to drown out the satirist. No figure in contemporary society is given more persistent ironic treatment by Busch than the typified Spießbürger who populates his oeuvre in many guises from the early miniatures to the late masterpieces Bählamm and Klecksel. The trilogy dedicated to the life and times of Tobias Knopp (1875), ridicules the typical wellestablished bourgeois of the Gründerjahre, whose very materialism may be weighed and measured in terms of corpulence. He is haunted by nothing so much as the thought of utter extinction of the self and passing unlamented to an unadorned grave: Ach - und endlich auch durch mich Macht man einen dicken Strich. Auch von mir wird man es lesen: Knopp war da und ist gewesen. (IV, 263)
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The cruel hollowness of such an obituary leaves no room for illusion and lacks all spiritual consolation. Indeed Busch was accustomed to treat the subject of death with a grim sobriety and defiance of decorum which both accorded with his satirical bent and threw down a challenge to the smug hypocrisy of his times. Though his letters generally show him as caring and compassionate, the crisp unsentimental tone is characteristic, as a letter of 21st June 1879 to his friend Gedon attests: »So sind wir nun; kriechen heraus, hantieren hier oben eine zeitlang scheinbar selbständig hin und her und legen uns dann ganz still wieder unter die Kruste.«10 Scarcely another nineteenth-century writer could so wryly have formulated the way of all flesh. For his overweight anti-hero Knopp there is no other solution to the threat of non-existence than to find a mate. Now there is no social institution which Busch confronts with more ironic verve and wit than marriage. From early miniatures such as Die Brille and Der Schreihals, through Plisch und Plum to Balduin Bählamm, marriage is portrayed as neither a haven of personal gratification, nor as a civilizing agency in society, but as a treacherous arena designed for close combat between the sexes.11 Knopp, having gone the rounds of his former flame and friends, comes home to his loyal housekeeper Doris and settles gratefiilly into the clich6 of conjugal Gemütlichkeit with pipe, dressing gown and embroidered cap: Stolz sitzt er da auf seinem Sitze; Das Haupt verschönt die Morgenmütze; Die Pfeife ist ihm Hochgenuß Und Doris hält den Fidibus. (IV, 360)
However, the following drawing of Knopp enjoying his food is in stark contrast to the jocular irony of Busch's lines, for it shows a grotesque porcine head munching open-mouthed, with huge hog's ears suggested by the ends of a napkin tied round his chops (IV, 361):
10
11
Wilhelm Busch: Ist mir mein Leben geträumet? Briefe eines Einsiedlers. Ed. by Otto Nöldeke. Leipzig: Gustav Weise 1935, p. 127. For drastic scenes of marital mayhem see Busch's pair of satirical genre paintings entitled Eheliches Glück. In: W. B.: Ich besah mir diese Geister. Gedichte, Prosa, Zeichnungen und Gemälde. Ed. by Wolfgang Teichmann. Berlin: Eulenspiegel 1988, p. 271.
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Only with this pictorial pointer before us can we properly gauge the satirical intensity of Busch's portrayal, so completely have the human features been absorbed by the bestial.12 Everyday domestic normality in the Knopp household is stripped of all romance and all illusion but exists only in its uniform grossness, while one domestic servant after another is sent packing for some new misdemeanour. Only the disclosure of imminent parenthood produces that all too rare expression of melting conjugal sentiment: Und tief erschüttert and allsogleich Zeigt er sich milde, gerührt und weich. (IV, 407)
Busch's unerring choice of the conventional epithet serves his satirical purpose at every turn: »milde, gerührt und weich« are clichds which catalogue precisely the expectations of the wife who has cunningly divulged her little marital secret. Knopp's frantic torments of anticipation at the birth of Julchen and the whole medical ceremonial involving Doktor Pelikan and the midwife Frau Wehmut are examples of the satirist's skill in drawing perfect domestic miniatures with an eye for the telling gesture and an ear for the appropriate word. At the end of the chapter, the curtain of propriety is drawn by Frau Wehmut over matters which concern only the midwife: »Ratsch! Man zieht den Vorhang zu.« (IV, 342) Thereupon the concluding vignette sums up the satire and shows Knopp fully broken in as >Ehegaulenjoyed< by society much in the way of physical nourishment: Erst in den Kopf, dann in das Herz, Dann kreuz und quer und niederwärts Fließt's und durchweicht das ganze Wesen Von allen denen, die es lesen. Nun lebt in Leib und Seel der Leute, Umschlossen vom Bezirk der Häute Und andern wannen Kleidungsstücken, Der Dichter fort, um zu beglücken (V, 352f.)
This manner of ingesting and digesting the poetic product to the point when it is »veridungen oder ausgeschwitzt« (V, 351) represents an exclusively utilitarian understanding of the uses of poetry. »Gedichte machen« has become the narrow vocation of Bählamm and his breed; their purpose is purely sentimental - »zu beglücken« appropriate to such as sought sweet solace in verses. For all that, the empirical standpoint is seen to triumph, despite Bählamm's bravest efforts to draw direct inspiration from wild nature. The journey by train produces in Busch (but not in Bählamm) some
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of the wittiest lines of the satire - lines which parody that poetry of private sensibility or Innerlichkeit which remained very much in vogue up to and including the early Rilke: Vorüber schnell und schneller tanzen, Durch Draht verknüpft zu einem Ganzen, Die schwesterlich verwandten, langen Zahlreichen Telegraphenstangen. Der Wald, die Wiesen, das Gefilde Als unstet wirbelnde Gebilde, Sind lästig den verwirrten Sinnen. Gern richtet sich der Blick nach innen. Ein leichtes Rütteln, sanftes Schwanken Erweckt und sammelt die Gedanken. Manch Bild, was sich versteckt vielleicht, Wird angeregt und aufgescheucht. (V, 186)
Yet Bählamm fails to find his poetic self: wind and rain, beasts of the field and unfeeling beasts in human guise, a sensitive corn, an earwig, and Anally, that supreme torment of nineteenth-century man - toothache - conspire to defeat the seeker for spiritual uplift. The proverbial necessity of pain for the aspiring laureate is also ridiculed, for in its mundane physical form it finally cures him of his bucolic craving. Only in his dreams can a Bählamm sprout celestial wings to carry him up to his Muse; the dead weight of his copious family clutching him by his coat-tails relentlessly drags him earthwards (V, 420) - a fitting concluding image to express the whole tenor of this satirist's art: It is sometimes overlooked that the satirical strain, as opposed to the comicgrotesque, was not limited in Busch to rhyming verse and pictorial tales.13 The mature artist also gave the world a highly concentrated form of prose satire, and this couched in a sophisticated, self-conscious style well ahead of its day. In entertaining the fanciful world of Eduards Traum (1891), one finds oneself in surprising proximity to Lewis Carroll's Through the Looking-Glass (1872). A similar virtuosity in the exercise of inverted logic and mathematical imagery - which in the case of both writers betrays the trained mathematician - is coupled with a whimsical imagination which is not merely playful but sharply critical. Yet whereas Carroll indulges a Victorian taste for literary pastiche, punning and parody, Busch resotts to wide-ranging and robust social and cultural castigation. By contracting his intellect or conscious self to »ein denkender Punkt« (VI, 100), his disembodied, airborne narrator gains ultimate freedom of mobility and uses this in each dream episode to let the satirical focus flit from one target to the next. Busch's mordant wit is scathing about the failings of both individuals and institutions; social pretension, the patterning of behaviour, vapid conformism to stereotypes or the transparency of hypocrisy, are all targeted: »Einer durchschaut den andern; und doch reden diese Leute, 13
Wolfgang Kayser's pioneering pamphlet: Wilhelm Busch's grotesker Humor. Göttingen: Vandenhoeck 1958, p. 11, offers this verdict: »Zu den wenigen Meistern des Grotesken gehört Wilhelm Busch. Seine reinste, abgründigste Groteske ist ein Spätwerk, in dem er sogar völlig auf die Zeichnung verzichtete: 1891 erschien >Eduards Traum< - ein Dichtertraum.« One can see no fundamental contradiction in also designating the work a satire.
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Alexander Stillmark
die sich durch und durch kennen, die nicht soviel Eingeweide haben wie ein ausgepustetes Sperlingsei, von dem edlen Drange ihres Inneren und sagen sich darüber die schönsten Flattusen« (VI, 108). The satire broadens out, as it progresses, to lampoon the numberless vices and frailties of the human condition, fixing on a host of original and unoriginal sins. There is the farmer, who sheds no tear at the death of his wife, but rather grieves over the hefty bill presented by the incompetent doctor who hastened her death, and his neighbour, whose marital relations are summarized in a metaphor worthy of Nestroy: »Dieser Vater, so scheint's, hatte bereits den Gipfel der ehelichen Zärtlichkeit erklommen, wo die Schneeregion anfängt« (VI, 113). There is the house-hold tyrant, who terrorizes the family with the welltried weapon of arbitrary power, throwing down his hat in their midst and shouting: »Wer ihn aufhebt, kriegt Hiebe; wer ihn liegen läßt, auch!« (VI, 113). There is the deceitful old crone, who markets her adulterated butter from which she has carefully removed all flies' legs, or the incongruous snobbery of the affected peasant girl seated at a piano, who explains her father's absence with the words: »Papa fährt Mist!« (VI, 114). There is the mercenary doctor, who rejoices at acquiring another patient when a cart severs the leg of a rich landowner, and the symphonic concert by a vast orchestra of toads, frogs and crickets, which is greeted with extravagant acclaim, including the narrator's confessedly false pathos: »Offenbaarrung! Musikalische Offenbaaarrrung!« (VI, 117) - very probably a satirical dig at fashionable Wagnerite hysteria. While some of Busch's vital allegorizing is doubtless a tribute to his much admired model John Bunyan, it is no less relevant to see this as part of an ancient tradition of satire and fable that goes back to classical times. The very real concern for the moral point of view has always been a defining attribute of the satirist. It therefore follows quite naturally to discover at the very heart of Eduards Traum the search for the >good mane »[...] so viel Wunderbares und Herrliches mir nämlich
Wilhelm Busch - The Reductive Satirist
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bisher auch begegnet war, ein wahlhaft guter Mensch war mir nicht vorgekommen« (VI, 123). The amplifying sentence that follows is testimony to that undaunted matter -of-factness, that sovereign laconicism of the sober sage of the age of realism: »Nicht, daß ich mich so recht herzlich danach gesehnt hätte; es war nur der Vollständigkeit wegen« (VI, 123). Busch is essentially a realist whose critical sobriety favours the art of curtailment - he produces abstracts and brings things down to earth. His ceuvre is a digest of his times reflecting in minimal detail the complexity of the Zeitgeist. His thumbnail sketches of contemporary domestic life, perfected throughout a lifetime, are witness to that graphic visual realism, that Anschaulichkeit to which he once referred as a probable reason for their widespread popularity.14 Yet it is realism with a purpose. I have tried to argue that the main thrust and energy of his satire is directed at unmasking semblance and hypocrisy within his culture and society. The laconic, pedestrian style abounding in banalities, which he made his own, is used with ironic intent pour epater le bourgeois. Yet it is so convincing a reflection of the object of ridicule, that the satire is all too often lost on the recipient. That is a price Busch must pay for his popularity.15
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Busch: Ist mir mein Leben geträumet? (Footnote 10), p. 213. John Simon in his introduction to: Wilhelm Busch and Others. German Satirical Writings. Ed. by Dieter P. Lotze, Volkmar Sander. New York: Continuum 1984, p. xviii, offers this view: »One of the secrets behind the continuing success of these and other tales may be Busch's ability to present a satiric caricature that is at the same time sympathetic and allows the audience to identify with some of the characters portrayed.« The problem with such an explanation is that, if true, the writing would no longer deserve the title of satire. Failure on the part of many of his readers to recognize Busch's finer satirical registers seems the more plausible explanation.
IV Theodor Fontane
Gotthard Erler
Der Briefwechsel zwischen Theodor und Emilie Fontane
Fontane-Boom Daß bei der Besichtigung des »schwierigen neunzehnten Jahrhunderts< auch Theodor Fontane eine angemessene Position einnimmt, hat seine guten Gründe. Denn der Versuch einer Bilanz fällt nicht nur mit dem Ende der Ära Eda Sagarra - nein: mit dem Beginn einer neuen Ära Sagarra - in der internationalen Germanistik zusammen, sondern auch mit dem 100. Todestag des Dichters, und e r ist nun mal der eigentliche Kronzeuge des Zeitalters. Ja, aus deutscher Sicht scheint es derzeit sogar, daß er der einzige literarisch Überlebende seines Säkulums ist (allenfalls von Wilhelm Busch mit einer freilich völlig anders gearteten Popularität abgesehen). In der Gunst des Publikums und der Medien spielt Fontane zumindest - weit vor Brecht (dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr zu begehen war) - die Rolle des absoluten Favoriten. Die von ihm oft beklagten »mäßigen Anstands-Erfolgfe]«1 seiner Bücher - ein deutliches Zeichen für s e i n e Schwierigkeiten mit dem Jahrhundert - werden inzwischen von Absatzzahlen abgelöst, von denen die Verleger anderer Klassiker nicht einmal zu träumen wagen. Und die brüskierende Mißachtung des Schriftstellers durch die damalige Gesellschaft, die ihn oft verbitterte, ist der schulterklopfenden Einvernahme durch Politik und Öffentlichkeit gewichen. Der brandenburgische Kultusminister Steffen Reiche sagt unter Anspielung auf die desolaten Finanzverhältnisse, daß es dem Lande an zwei Dingen nicht mangele: an Sand und an Fontane-Zitaten. Und die Herren Diepgen und Stolpe, die die Fusion ihrer Länder nicht bewerkstelligen konnten, eröffnen in trauter Gemeinsamkeit, unterstützt vom Bundespräsidenten, den schier endlosen Reigen von Fontane-Veranstaltungen in Berlin und Brandenburg. Die vielfach beschriebene Geschichte von Verspätungen in Fontanes Leben wiederholt sich offensichtlich bei seiner Rezeption, und nicht zufällig hängt die neue Qualität dessen, was man etwas diffus >Fontane-Renaissance< nennt, mit den politischen Veränderungen in Deutschland am Beginn der neunziger Jahre zusammen. Der Verfasser der Wanderungen durch die Mark Brandenburg profitierte von der deutschen Einheit, indem ungezählte Touristen, die zum Teil keinen einzigen FontaneRoman kannten, mit diesem Standardwerk im Kofferraum die historische märkische Landschaft nach Jahren der Abgrenzung erstmals erkundeten. Die Zeitungen 1
Brief v. 3. 1. 1883 an Mathilde von Rohr. In: Theodor Fontane: Werke. Schriften und Briefe. Hg. v. Walter Keitel, Helmuth Nürnberger. 4. Abt. Briefe. Bd. 3. 1879-1889. Hg. v. Otto Drude, Manfred Hellge, H. N. unter Mitwirkung von Christian Andree. München: Hanser 1980, S. 228.
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Gotthard Erler
beriefen sich in allen märkisch-preußischen Fragen auf Fontane; die Fernsehanstalten strahlten die zahlreichen Verfilmungen seiner Erzählwerke wieder aus. Ein cleverer Geschäftsmann aus Bayern ließ sich den Namen Fontanes vom Münchener Patentamt für alles Touristische reservieren, und der Fontane-begeisterte Schweizer Dominikanerpater Gerold Zenoni beschrieb die Fontane-Welle mit den Worten: »Fontane boomt«. 2 Inmitten der viel apostrophierten >Klassikermüdigkeit< begann 1994 der Berliner Aufbau-Verlag, der nach der Privatisierung gerade wieder etwas wirtschaftlichen Boden unter die Füße bekommen hatte, eine Große Brandenburger Ausgabe und hatte mit der Erstveröffentlichung der Tagebücher 1994 einen furiosen Start. 1995 beflügelte Günter Grass mit seinem Roman Ein weites Feld den FontaneEnthusiasmus erneut, und eine Berliner Zeitung brachte die Stimmung auf die zutreffende Formel: »Seit Grass fontanisiert, grassiert Fontane.«3 Die heftige, einhellige, meines Erachtens politisch motivierte Ablehnung des Romans durch das deutsche Feuilleton hat Grass nicht geschadet und Fontane nur befördert. Und nun staut sich zur Erinnerung an den 100. Todestag eine Flut von mehr oder weniger relevanten Publikationen, darunter mindestens ein Dutzend neue Biographien, aber das eigentliche editorische Ereignis dürfte der Fontanesche Ehebriefwechsel sein, den ich im Rahmen der Großen Brandenburger Ausgabe herausgegeben habe.
Der Ehebriefwechsel Der alte Fontane gibt nicht nur weltweit das Spielfeld für spekulative und emsthafte Untersuchungen ab, er hält tatsächlich auch noch genügend Überraschungen in Form von Novitäten bereit (die »Unechten Korrespondenzen«4 in der Schriftenreihe der Theodor Fontane Gesellschaft rechne ich übrigens nicht dazu). Seine Korrespondenz mit Frau Emilie, die seit August 1998 in drei Bänden mit 2400 Seiten vorliegt, hat, soweit ich sehe, nichts Vergleichbares in der deutschen Literaturgeschichte, und selbst unter seinen zahlreichen Briefgesprächen überragt sie alles andere an Umfang und Gehalt. Sie umfaßt 751 Briefe, wovon ein Drittel leidlich korrekt, ein Drittel nur auszugsweise und ein Drittel gar nicht veröffentlicht war. Dreiviertel der Texte stammen von ihm, ein Viertel von ihr. Damit löst sich der bisher bruchstückhafte Monolog der Fontane-Briefe zum ersten Mal in einen spannenden Dialog auf, der sich wie ein neu entdeckter Fontane-Roman liest, der nach den Titeln, die ich, Fontaneschen Wendungen folgend, den Bänden gegeben habe, heißen könnte: Dichterfrauen sind immer so (Band 1), Geliebte Ungeduld (Band 2) oder Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles (Band 3).
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3 4
Das Wort, zuerst im Sommer 1998 im Urner Wochenblatt verwendet, avancierte zur vielbenutzten Wendung in den deutschen Zeitungsberichten über Publikationen und Veranstaltungen zum 100. Todestag Fontanes. Vgl. u. a. Berliner Zeitung v. 19. 12. 1997. Vgl. u. a. auch Westdeutsche Allgemeine v. 23. 12. 1997. Theodor Fontane: Unechte Korrespondenzen. Hg. v. Heide Streiter-Buscher. 2 Bde. (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft 1) Berlin, New York: de Gruyter 1996.
Der Briefwechsel zwischen Theodor und Emilie Fontane
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Was mich bei der Arbeit an dieser Edition von Anfang an fasziniert hat, war die Persönlichkeit Emilie Fontanes, jener Frau, die es ein halbes Jahrhundert an der Seite dieses Autors ausgehalten hat (nicht umgekehrt!) und die jetzt erst - im unmittelbaren Kontext der Äußerungen ihres Mannes - mit etwa 180 Briefen selbst zu Worte kommt. Manches bekannte Urteil entpuppt sich dadurch als Vor-Urteil, und in den brieflichen >Szenen einer Ehe< lernt man Emilie als kluge, sympathische Frau in der Polarität von Anpassung und Selbstverwirklichung kennen und kann sich getrost vom Klischee der ewig nörgelnden Gattin verabschieden, das die ältere Fontane-Literatur mit erstaunlicher Beharrlichkeit installiert hatte. Die Herausgabe des Briefwechsels bedeutet sozusagen die Erlösung Emilie Fontanes aus einem völlig unverdienten Aschenputtel-Dasein und ihre Etablierung als die erotische und geistige Partnerin des erfolgreichen Klassikers Theodor Fontane. Alles in allem also ein Stoff, wie man ihn zu diesem Band und seinem Anlaß kaum sinnvoller beisteuern kann. Der Ehebriefwechsel liefert in Hülle und Fülle konkrete Belege, wo und worin das neunzehnte Jahrhundert >schwierig< war, und zwar aus einer Perspektive, die einerseits höchst individuell ist, andererseits durch den Umstand typische Merkmale gewinnt, daß es Beobachtungen und Erlebnisse des seismographisch registrierenden Schriftsteller-Subjekts Theodor Fontane und seiner Lebensgefährtin sind. Insofern freue ich mich besonders, an dieser Stelle und zu Ehren von Eda Sagarra, die ja eine der vorzüglichsten Kennerinnen des Jahrhunderts ist und der wir so viel speziell über Sozialgeschichtliches verdanken, auf dieses Material hinweisen zu dürfen. Ich will deshalb aus dem Kosmos des Fontaneschen Ehebriefwechsels einiges Wenige herausgreifen, das die Auswirkungen der >freien SchriftstellerRat Kummer< erfährt die Fünfzehnjährige, daß sie gar nicht dessen leibliche Tochter ist, und zu den unterbewußten kindlichen Eindrücken des Umhergestoßenwerdens gesellt sich nun das bewußt erlebte Gefühl der Bindungslosigkeit.
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Brief Emilie Fontanes v. 21. 11. 1865 an Bertha Kummer. Theodor-Fontane-Archiv Potsdam. Unveröffentlicht.
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Gotthard Erler
Durch die regelmäßigen, ausführlichen Briefe Emiliens an die neue Stiefmutter Bertha Kummer, die ich in meiner Einleitung erstmals auswerten konnte, wissen wir jetzt Genaueres über das unstete, unbefriedigte Leben des Mädchens, in dem seit etwa 1844 die Liebe zu ihrem >Theo< aufkeimt, den sie seit zehn Jahren kennt und mit dem sie eine fünfjährige Verlobungszeit verbinden wird, die von Liebe und Eifersucht, Hoffnung und Enttäuschung bestimmt ist. Emilie schreibt im Frühjahr 1848: »[...] es ist auch gar zu bitter immer vergebens zu hoffen. Das Gefühl, daß ich eigentlich nirgends so recht hingehöre quält mich dann auch u. mit heißer Sehnsucht wünsche ich mir einen eignen, kleinen Herd.«6 Aus den traumatischen Erlebnissen der aparten jungen Frau resultiert jenes sehr verständliche Bedürfnis nach materieller Sicherheit und familiärer Geborgenheit, das freilich in ihrer Gemeinschaft mit dem Schriftsteller Fontane - wegen der Unregelmäßigkeit der Einkünfte wie wegen der oft monatelangen, schmerzhaften Trennungen - zum ständigen Konfliktpotential werden muß. Denn, so sagt der auf gut berlinisch und ganz realistisch: » S i c h e r h e i t is nich.«7 Ich finde es äußerst ungerecht, daß man Emilie den Wunsch nach Stabilität im Leben so häufig vorgeworfen und sie für die Krisen verantwortlich gemacht hat, die sich vor allem 1870 und 1876 ergaben, als Fontane feste, aber unerträgliche Stellungen aufgab. Mit Äußerungen gegenüber Dritten (beispielsweise mit dem Brief an Mathilde von Rohr vom 22. August 1876) und nicht zuletzt mit seiner ironisch gemeinten, aber immer für bare Münze genommenen Skizze Wie sich meine Frau einen Beamten denkfi hat Fontane freilich selbst zum schlechten Image seiner Frau beigetragen. Man hat angesichts solcher Texte gern übersehen, wie und daß sich Emilie, die entgegen allen Legenden durchaus von der poetischen Sendung ihres Mannes überzeugt war, schließlich immer wieder in die jeweiligen Verhältnisse hineingefunden und zu ihm gestanden hat. Ein geradezu rührendes Zeugnis ist ihr Brief vom 18. Juni 1878, in dem sie am Ende einiger Ferienwochen in Schlesien auf die leidige Akademie-Affäre von 1876 zurückkommt und bemerkt: »Mir klopft das Herz vor Freude, bei dem Gedanken, Dich wiederzusehen. Laß es Dir gut gehen Du lieber Sekretair a. D.; es war ein böser Titel. Lächerlich an sich, für Dich unter der Würde. Nein, wir wollen nun [für] Th. F. leben u. sterben. Hoffentlich gemeinsam u. gesund noch lange das erstere.«9 Sind, mit Fontanes eigenen Worten gefragt, Dichterfrauen wirklich immer so? In den ersten anderthalb Jahrzehnten der Fontaneschen Ehe ist das einzig Sichere nur die nächste Schwangerschaft Emilies und die Furcht davor. Sie bringt in sechs Jahren fünf Kinder zur Welt, von denen sie drei im Säuglingsalter sterben sehen muß. (Ich glaube schon, daß die Tragik eines nicht lebensfähigen Kindes, wie sie 6
7 8
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Theodor Fontane: Große Brandenburger Ausgabe. Hg. v. Gotthard Erler. Berlin: Aufbau 1994-. Der Ehebriefwechsel. Hg. v. Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. 3 Bde. 1998. Bd. 1, S. XIV. Brief v. 28. 5. 1870. In: Ebd. Bd. 2, S. 492. Theodor Fontane: Wie sich meine Frau einen Beamten denkt. In: Th. F.: Autobiographische Schriften. 3 Bde. Hg. v. Gotthard Erler, Peter Goldhammer, Joachim Krueger. Berlin, Weimar: Aufbau 1982. Bd. 3/1, S. 438. Brief v. 18. 6. 1878. In: Fontane: Ehebriefwechsel (Anm. 6). Bd. 3, S. 128f.
Der Briefwechsel zwischen Theodor und Emilie Fontane
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Fontane in Ellernklipp beschrieben hat, auf eigene Erlebnisse zurückgeht.) Emilie ist fast vierzig, als das vierte überlebende Kind geboren wird (der Sohn Friedrich, 1864). Der Briefwechsel, in den England-Jahren Fontanes besonders ergiebig und nahezu lückenlos erhalten, gibt detailliert Auskunft über die begleitenden Nöte der Mutter und die Komplikationen im Kindbett Allein die Ernährung des Neugeborenen bildet ein kultur- und medizingeschichtlich interessantes Kapitel. Von Fontane eher verwirrend als kompetent beraten, hat Emilie zwischen Seibernähren, Päpeln (Aufzucht mit der Flasche) und Amme zu entscheiden. Sie wählt die Ammen-Variante, und man erfährt dabei erstaunliche Einzelheiten über den florierenden Wirtschaftszweig der Ammen-Vermittlung. Was Fontane in seinem Gedicht Land Gosen zum Thema reimt, geht auf eigene Erfahrung zurück: Nichts entlehnt und nichts geborgt. Für Großes und Kleines ringsum gesorgt, Und gesorgt vor allem auch (und nicht schlecht) Schon für unser kommendes Geschlecht, D e s sind uns Gewähr unsre lieben, strammen Und fast unmöglichen Spreewaldsammen.10
Familienautobiographie und sozialgeschichtliches D o k u m e n t Der Ehebriefwechsel gestaltet sich naturgemäß zur Familienautobiographie und dokumentiert die weitere Entwicklung der Kinder. Fontane hat kein rechtes Verhältnis zu den Kleinen und überläßt gern (seinem eigenen Vater ähnlich und mit dem Hinweis auf seine beruflichen Verpflichtungen) die Erziehung seiner Frau, die damit allerdings oft überfordert ist. In der schlesischen Sommerfrische zum Beispiel führt sie, »wie ein Tanzlehrer seine Violine«, 11 eine Rute mit sich und spielt diese, wie sie nach Berlin berichtet, auch gehörig auf, um mit dem zweijährigen Wildfang Martha fertig zu werden. Offensichtlich sind alle vier Fontane-Kinder nicht unproblematisch gewesen: der Angsthase George, der später seinen Weg als Offizier und Militärlehrer macht, lange Zeit verschuldet wie ein Major, obwohl er es nur bis zum Hauptmannsrang bringt; der eigenwillige, etwas altkluge Theodor junior, der eine erfolgreiche Laufbahn als Verwaltungsjurist bei der Armee einschlägt und durch den die Fontane-Familie auch heute noch fortlebt; die hochbegabte, kränkelnde Tochter Martha, Liebling und Sorgenkind der Eltern, das erst nach dem Tode des Vaters einen zweiundzwanzig Jahre älteren zweimaligen Witwer heiratet und (höchstwahrscheinlich) freiwillig aus dem Leben scheidet; schließlich der Nachzügler Friedrich, ein eigensinniges, bockiges Kind, das sich aber später zielstrebig zum Verlagsbuchhändler ausbildet und sich mit viel Geschick für das Spätwerk des Vaters engagiert.
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11
Fontane: Große Brandenburger Ausgabe (Anm. 6). Gedichte 1. Gedichte (Sammlung 1898). Aus den Sammlungen ausgeschiedene Gedichte. Hg. v. Joachim Krueger, Anita Golz. 1995, S. 65. Brief v. 4. 6. 1862. In: Fontane: Ehebriefwechsel (Anm. 6). Bd. 2, S. 202.
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Fontane nutzt die Debatten mit seiner Frau über die Kinder gern zu verallgemeinernden Statements, die aber wohl an den konkreten Vorkommnissen vorbeigehen und Emilie nicht helfen. »Am allerwenigsten«, schreibt er, »muß man an den Charakteren herumbasteln wollen; es fiihit zu gar nichts, außer zu Verstimmung und Aergemiß.«12 Sehr liebevoll scheinen die kleineren Fontanes übrigens nicht miteinander umgegangen zu sein; zumindest schildert Emilie, fast mit Neid, die Harmonie der Kinder in anderen Familien. Als sie dann jedoch erwachsen sind, stellen sich entspanntere Beziehungen ein, und Emilie scheint mehr und mehr zum geliebten und geschätzten Mittelpunkt zu werden. Näheren Aufschluß über diesen Teil der Fontaneschen Biographie wird erst eine Sammlung von Emilies Briefen an die Kinder und an Freunde geben, die ich vorbereite und die das Porträt der Frau Fontane weiter positiv konturieren wird, zumal sie sich auch dabei als vorzügliche Epistolographin bewährt. Emilie war natürlich der eigentlich regierende Wirtschaftsminister im Hause Fontane. So wie er mit frappierender Peniblität seine Tagebücher führte, hielt s i e mit vergleichbarer Sorgfalt Einnahmen und Ausgaben in ihren Wirtschaftsbüchern fest, und sie war überdies zuständig für die >Mädchenoffensive< nature of the comic servant, whose proven ability to dupe his master constituted a threat to the status quo, and to purge the Lustspiel of the Hanswurst type. 9 The refinement of the German servant within eighteenth-century prose comedy finds particular expression in Lessing's Minna von Barnhelm. Lessing achieves greater realism in servant characterization whilst ensuring, as in earlier prose comedies, that his protagonists do not constitute a tool of social provocation. The friendship between mistress and servant challenges the conventional role of the maid as confidante, thus affirming her existence independent of her function as a comic person and of a merely materially determined loyalty. Yet, simultaneously, Lessing retains many of the constants of servant portrayal: stock names locate the servants within the domestic hierarchy, mirroring their reluctance to depart from their pre-ordained social status. The echoes of the real world do not compromise the place of the play within the comic genre. M. A. Rogers' reference to the servant within Viennese comedy, that »there is a basic vocabulary of comic structures to which each contemporary reality is adapted with more or less ingenuity by the writers concerned«,10 suggests a latent tension between tradition and innovation, between the writer's response to his own literary objectives and the social expectations of his public. The nineteenth century saw massive demographic changes, especially evident in the lower classes, and the resulting tension forced a re-evaluation of the social relationships portrayed within literature. The middle classes sought to impose their values on the lower social echelons and the writers of comedy adapted their literary objectives to the changing mood. Ferdinand Raimund's Der Verschwender (1833) attempts to balance these dual demands. Valentin is a model servant, who upholds the Biedermeier ethos of the family and the work ethic, and surpasses his master in his loyalty, yet his inability to abstract this concept ensures that any criticism of the employer class as a whole is avoided. The modesty of the servant was to emerge more clearly within Biedermeier prose fiction, particularly the >volksaufklärend< genre of the Dorfgeschichte, with its Utopian vision of a harmonious, yet stratified society and its values of selfmastery and hard work within the framework of horizontal, rather than vertical mobility. The rural idyll can be considered as a substitute for social idealism. Many of the servants have their origins in the Kleinbürgertum, a factor which was instrumental in elevating the servant from minor figure to protagonist. Their fate mirrors that of many members of the petty bourgeoisie faced with financial ruin 9
10
Cf. Walter Hinck (Ed.): Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell'arte und Theatre italien. (Germanistische Abhandlungen 8) Stuttgart: Metzler 1965. M[ichael] A. Rogers: The Servant Problem in Viennese Popular Comedy. In: W. E[dgar] Yates and J[ohn] R. P. McKenzie (Eds.): Viennese Popular Theatre: A Symposium. Exeter: Exeter Univ. Press 1985, pp. 81-92. Cit. p. 81.
Tradition and Innovation
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and social degradation in the wake of economic restructuring. Yet their Sinne and Verstand elevate them above mere servitude and infuse them with a more individual personality. Comic conventions of servant representation are subjugated to didactic ends, for example when the servant acts as teacher to his master, or is morally rehabilitated from a life of debauchery, as in Gotthelf s Uli der Knecht (1841). The inclusion of realistic social detail lends the village tale particular relevance as a document of mid-nineteenth-century social thinking and points the way to the emergence of the German Realist tradition. In general, the Realists failed to innovate significantly in servant portrayal, preferring to borrow from the literary past and in many cases to reassign the servant to the status of a minor personage with a comic aura. Interest in the female servant, a legacy of Biedermeier literature, endured, in contrast with the more prominent role afforded to the valet within drama as the architect of the intrigue. Raabe's Jule Grote and Reuter's Diirten Holz further the tradition of the servant acting as teacher to the master, yet social comment does not go beyond oblique reference to the lack of employment security for domestic personnel. Gutzkow's more critical analysis of the servant role does not offer much in the way of direct censure. In Der Zauberer von Rom (1858-1861) he establishes Lucinde as a victim of society, yet he leaves his readership to draw their own conclusions about the vulnerability of servants to possible exploitation, thus adhering to the tenet of Realist theory that innuendo take the place of blunt exposition. Against this background, the relationship between tradition and innovation within Fontane's servant representation emerges very clearly. His novels depict a myriad of housekeepers, maids, factotums, cooks, coachmen and grooms in the context of a rapidly changing social order. The distribution of the servants, particularly the predominance of indoor domestics, mirrors social patterns during the second half of the nineteenth century. Whilst Fontane avoids a preponderance of either sex, the high number of Dienstmädchen recalls not only the centrality of heroines to his narrative fiction, but also the higher percentage of female domestics in the closing decades of the nineteenth century. The servants belong to three main social milieus: the petty bourgeois, the rural labourers, the urban masses. A fourth category is constituted by the poor relative, obliged through financial circumstances to enter the employ of another branch of the family. The diversity of the servant body is not, to quote Peter Demetz, »so selbstverständlich im Hintergrund, daß man von ihr schweigen darf«.11 Instead, the servants constitute part of the Gesellschaftsbild, which Fontane portrays with such depth of insight, and they exemplify another dimension of the interaction between different social castes and the influence of society on the life of the individual. Their observations attest the nature of social reality without any explicit evaluation or obloquy. Instead, it is the underlying irony which pervades much of the interaction that provides the key to Fontane's perspective. In the same way as he invests even the briefest dialogue with significant meaning, the servants, although often making fleeting appearances, form an 11
Peter Demetz: Formen des Realismus. Theodor Fontane: Kritische Untersuchungen. Munich: Hanser 1964, p. 116.
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Gillian Martin
integral part of the text; they help to establish the context of the narrative and to illuminate aspects of the personality of the protagonists. They are no less original in terms of their expression than the other figures of his prose: in this respect, Fontane has recourse to the same literary techniques, notably characterization by a third party, narratorial comment which guides the reader's interpretation and, most important, dialogue. In this way, each servant expands an identifiable dimension of social reality and although precise information relating to social background is seldom given, one can draw conclusions from other details, including use of language and dialect, which Fontane manipulates in accordance with his aesthetic ideals. By accentuating and modifying selected features of a particular dialect form, Fontane aims not just to create Kolorit, but rather to provide a cipher to the personality and outlook of the speaker. The dialects spoken by the servants, including Piatt, Berlin and Swiss German, are as subtly nuanced as the speech of their social superiors. It is this attention to detail which establishes him as an innovator amongst his contemporaries and predecessors. As Friedrich Spielhagen observed: »In der Art, die Sprechweise der Personen dem wirklichen Leben anzunähern, ist Fontane Meister. Er gibt die Quintessenz der Alltagssprache, sie unmerklich stilisierend.« 12 Although each of the servants appearing in the novels gains in individuality through this linguistic variety, aspects of literary typology can be identified. Emphasis on the concrete and the descriptive and the tendency toward a circumlocutory manner of speech are inherited from the comic theatre together with the spontaneity which emerges from emotion rather than reason. In Effi Briest Roswitha, whose roots are in the petty bourgeoisie, shares the verbal fantasy which characterizes the speech of the lower classes, and which has conventionally been exploited within literature to humoristic ends. Her spontaneous outpourings reflect her humanity, which contrasts strikingly with the restrained discourse of Johanna, whose loyalty is defined by social codes, most notably honour. Significantly, the juxtaposition of the two servants also provides evidence of Fontane's use of language as a social indicator. Those servants whose background lies in the urban lower classes speak in a pronounced Berlin dialect which varies according to the position occupied by the servants, their age and educational background. Of particular interest is the manner in which Fontane illustrates how the working environment of the servant offered a fertile basis for the transfer of linguistic codes and exploits this for parodistic purposes. In Der Stechlin he achieves this by juxtaposing the picnic of the employers with the tea party held by the servants. Frau Imme, through her long employment with the Barbys, has adopted an affected manner of expression which evinces many of the characteristics of the discourse of her employers. As Peter Hasubek observes, Frau Imme speaks in a manner »der sich durchaus dem Niveau der bürgerlichen
12
Friedrich Spielhagen: Die Wahlverwandtschaften und Effi Briest. Eine literar-ästhetische Studie. In: Das Magazin für Literatur 65 (1896), pp. 409-426. Cit. Katharina Mommsen: Hofmannsthal and Fontane. (Stanford German Studies 15) Berne: Lang 1978, p. 38.
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und adligen Figuren nähert«.13 The impression created by this incongruity of social rank and polished, stylized language offers an essentially satirical parallel to the pretensions of the employer class and represents an element of literary innovation in servant representation. Indeed, Fontane exploits and refines the role played by humour in masking social censure. Humour remained central to his understanding of realism and to the importance of the Verklärungsprinzip in literaiy creation. It aided the achievement of a >poetic< realism, which was no less authentic in its depiction of contemporary society. Through his approach to language, Fontane responds to his dual literary ideal, that is, to depict characters who are individuals and, at the same time, readily distinguishable as members of a particular class. On 2nd March 1896 he wrote to Julius Rodenberg: »Mein Interesse für Menschendarstellung ist von der Wahrheit oder doch von dem, was mir als Wahrheit erscheint, ganz unzertrennlich [...]«. 14 This engenders the essential dichotomy, identified by Hans-Heinrich Reuter, between Wahrheit and Schönheit, which Fontane sought to reconcile in his later writings. In a letter to Moritz Lazarus of 12th September 1891, he noted that his interest lay with figures »die nicht bloß Typ und nicht bloß Individuum sind«, 15 a reflection of the desire to marry the demands of genre, that is, to standardize and thereby to consolidate certain traits which are judged by society to represent a particular group, with his own aesthetic ideal to depict das Wahre. To quote Reuter: »Seine Gestalten blieben Individuen, blieben Charaktere, und sie wurden Typen, wurden Repräsentanten ganzer Schichten und Klassen.« 16 In seeking a balance between type and individual the author was to find the cornerstone of his literary talent, namely the ability to embrace the typical without losing sight of the individual psychology. With reference to servant portrayal this balance is determined by the servant's interaction with the main characters. The closer the relationship between servant and master, the greater the emphasis on developing his personality and reducing the level of stereotypy. Of importance, however, is how the servants remain subordinate in the tradition of literary representation, even though economic circumstances have redefined their role. Representative of this trend is Engelke (Der Stechlin). Alongside numerous references to the ethos of paternalism and its influence on servant master relations: »Engelke [...] war dessen Vertrauter geworden, aber ohne Vertraulichkeit. Dubslav verstand es, die Scheidewand zu ziehen«,17 Fontane places the factotum in the literary tradition of the valet, who enjoys a certain intimacy with his master whilst simultaneously being kept at a distance. The strength
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Peter Hasubek: ».. .wer am meisten red't ist der reinste Mensch«: Das Gespräch in Theodor Fontanes Roman »Der Stechlin«. (Philologische Studien und Quellen 152) Berlin: Erich Schmidt 1998, p. 170. Theodor Fontane: Briefe (Footnote 1). Vol. 4. 1890-1898. Ed. by Otto Drude, Helmuth Nürnberger. Munich: Hanser 1982, p. 540. Ibid., p. 156. Hans-Heinrich Reuter: Fontane. Munich: Nymphenburger Verlagshandlung n. d. Vol. 2, p. 550. Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe (Footnote 1). Pt. 1. Romane, Erzählungen, Gedichte. Vol. 5. Ed. by Walter Keitel, Helmuth Nürnberger. Munich: Hanser 1980, p. 14.
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of his loyalty relies not only on length of service, but also social isolation in Schloss Stechlin and the respect provided by his paternalistic employer. Whilst loyalty earned different significance within comedy, where it became synonymous with complicity in the unfolding of the intrigue, and in the prose fiction of the Biedermeier era, which broached the question of reconciling loyalty to one's employer with loyalty to oneself, Fontane contrasts the paternalistic view of Treue with the capitalist understanding of its value as a saleable asset. The role of the servant as a vehicle for the views of his master emerges in both prose fiction and comedy, which frequently portrays the servant as the comic parallel of the master, as we noted in Der Verschwender. The physical proximity in which Engelke and Dubslav live in Der Stechlin has fostered the development of parallel social attitudes. The factotum has become Dubslav's alter ego on a different social level, which anticipates their common decline. The feudalization of Engelke guarantees him a place in the museum alongside the nobility. As Dubslav observes: »Ja, Koitschädel, wenn ich so meinen Engelke, wie er da geht und steht, ins märkische Provinzialmuseum abliefern könnte, so kriegt ich ein Jahrgehalt und wäre raus.«18 Socially and politically, Engelke has become a mouthpiece for the older order, although it is questionable whether these values are accompanied by any real understanding of their import. Evidence in the text would imply internalization without differentiation, a feature which is related to level of education and to the mental and physical dependency fostered by paternalism. Dubslav and Engelke have reached the limit of potential rapprochement; any further degree of familiarity would signify a departure from the traditional literary and social basis of the relationship. Engelke has also inherited the humanity and spontaneity of his literary predecessors. He shares that quality of Herz, increasingly important to Fontane in an encroaching capitalist world, and the role as a demythifying personage, which permits him to pierce the social fafade of his superiors, most notably in respect of the parvenu Gundermann. Engelke's urban counterpart, Jeserich embodies the same human qualities, albeit permeated with an occasional streak of rebelliousness which possibly reflects the more rapid pace of social change in the city, although he ultimately concludes that he is »fürs Alte. Gute Herrschaft und immer denken, >man gehört so halb wie mit dazuSchritt vom Wege< which unites her with Effi, together with her incapacity to grasp the immorality of her actions, is balanced against Johanna's blind adherence to a stagnant code of morality. Nonetheless, it is the love of Roswitha which withstands the upheavals more successfully. Herz, not the sterile codes which dictate to Innstetten how he must behave, is the more durable basis of human relationships. As Eda Sagarra observes: »Nicht die moraltheologische Dimension ist hier von Belang, sondern die Gesellschaft und ihr Selbstverständnis. Um ein gesundes Selbstverständnis, das sich selbst kennt und akzeptiert, möchte man sagen, geht es hier für Fontane.«28 The relationship of the individual to society and the effort to remain true to oneself remains a central theme in Fontane's writing and embraces his portrayal of the servants. Whilst the artistic techniques exploited in the earlier and later novels remain constant, the role of the servant as a vehicle for social comment assumes greater prominence in the later texts, which is compatible with Fontane's own shifting political allegiances. Indeed, he politicizes his servants to a degree previously unrealized within bürgerlicher Realismus, without jeopardizing their artistic identity. In this vein, the servant substantiates reality without evaluating its relevance to his own social situation. Fontane pursues the conventional division within literature which designates the servant as a privileged subordinate, a consequence of his physical proximity to the master. The sense of superiority of the paternalistic servant emerges from the comic tradition and is adapted by Fontane to the notion of Berufsstolz, which he uses to illustrate the widening division between the social situation of the vierter Stand and that of the servants in late nineteenth-century Germany. The changing perceptions of professional pride acquire particular poignancy when seen through the eyes of the other servants. As Kutscher Imme observes to Mr Robinson on their proposed game of cards: »Hartwig als dritter wird schon kommen; Portiers können immer.«29 It is the porters who are the main representatives of the vierter Stand. They further the venality and coarseness of the concierge in comedy. Hartwig's maxim: »[...] wer 26 27 28
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Ibid., p. 245. Ibid., p. 287. Eda Sagana: »Und die Katholschen seien, bei Licht besehen, auch Christen«. Katholiken und Katholischsein bei Fontane. In: Fontane Blätter 59 (1995), pp. 38-58. Cit. p. 54. Fontane: Romane. Vol. 5 (Footnote 17), p. 139.
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nichts für die Menschheit tut, der muß abgeschafft werden«, 30 contrasts sharply with the servant who appears content with his lot. Yet, the sham nature of their espoused progressiveness is underlined in Die Poggenpuhls by Nebelung's reaction to the death notice of Eberhard von Poggenpuhl: »In der Tiefe seiner Seele fühlte sich Nebelung gar nicht so unberührt von dem allen, er hatte sich vielmehr, als echter Berliner, nur den durch die glänzende Namensaufzählung empfangenen Eindruck wegschwadronieren wollen.« 31 Within this picture of contemporary society, Fontane also juxtaposes the situation of young and older female servants and heralds a deepening division between urban and rural servants. He imbues the young, urban servant with a more egotistical streak, a consequence of the changing environment. In Der Stechlin Lizzi and Hedwig symbolize this new mobility and social awareness with their interest in education. 32 Indeed, Fontane contrasts the security of Frau Imme with Hedwig's Odyssey between bourgeois households, although the former's barrenness chronicles the fate of the order which she upholds. Parallels between Hedwig and Lucinde in Der Zauberer von Rom are discernible, yet whereas Gutzkow presents the servant girl as a tragic figure, Fontane continues to integrate traits of the soubrette within comedy and thus conveys in an oblique manner the potential tragedy of her fate without actually establishing her as a victim. Nor does he seek to moralize in the tradition of the village tale which exploited the flirtatiousness of the servant girl to illustrate both the negative influence exerted by employers on their comportment and the moral ambivalence of many servants. Instead he provides evidence of the potential vulnerability of the servant girl faced with the amorous advances of the master, whilst suggesting that the blame cannot be attributed unilaterally. In the tradition of Realism, he does not offer censure, rather he presents the facts and devolves judgement to the reader, although it is perhaps significant, that views on servant morality are most frequently expressed by bourgeois employers, including Frau Gunderman (in Der Stechlin), who describes Frida Brandt as »die reine Eva«. 33 Fontane's fiction not only attests the pride of the >feudal< servant and the sense of hierarchy within the domestic ranks, but also underlines the efforts of the petty bourgeoisie to differentiate itself from the vierter Stand. The comic genre has traditionally by-passed the housekeeper in its preference for younger female servants who play an active part in the intrigue. The housekeeper belongs more comfortably within narrative fiction by virtue of her lower middle class origins which breach the two-class division of comedy. The most notable representative of this group is Frau Schmolke in Frau Jenny Treibet, who possesses both recognizable servant-specific traits and an inflated consciousness of her social status as befits her position as a Polizeiwitwe. Human qualities align Schmolke within the tradition of Biedermeier servant portrayal,
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Ibid., p. 148. Fontane: Romane. Vol. 4 (Footnote 20), pp. 57If. Interestingly, Armgard addresses Hedwig with >Sie< rather than the more usual >du< in the closing chapter of Der Stechlin. Similar observations are made in Effi Briest by Geheimrätin Zwicker. See Fontane: Romane. Vol. 4 (Footnote 20), pp. 249-252. Also Fontane: Romane. Vol. 5 (Footnote 17), p. 40.
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whilst the hint of caricature, which permeates her representation, particularly with reference to her external appearance, is a legacy of comic theatre, which reassured the audience of its moral and intellectual superiority. Yet, Fontane places equal emphasis on individual worth and virtue. Schmolke contributes humour to the dialogue and the reader remembers her primarily as a Polizeiwitwe unable to accept her drop in status, not as a mere domestic. Moreover, she fulfils an important function within the narrative as a parallel to Frau Jenny. Both women share similar social origins, although Schmolke has stagnated in the eyes of society and become Frau Jenny's inferior, whilst she believes herself to be an equal. Fontane juxtaposes altruism with egoism, the hypocritical sensitivity of Frau Jenny with Schmolke's creed: »Liebet euch untereinander, denn der Mensch soll sein Leben nich auf den Haß, sondern auf die Liebe stellen.«34 Schmolke undermines not only the pretentiousness of the erstwhile Jenny Bürstenbinder, but also the intellectual snobbery of Professor Schmidt, and in this way provides an insight into the contemporary social conflict between Bildung and Besitz, a conflict which also underpins the relationship between Frau Jenny and the governess, Fräulein Honig. Although in later years Fontane's conception of Realism favoured a narrowing of the distance separating the artistic and social objectives of his composition, his own social views found more radical expression in his correspondence than in his narrative prose, where they are adapted to the principles of bürgerlicher Realismus. The servants, whilst immediately distinguishable as minor characters and shaped by conventional role models, make a fundamental contribution to the global picture of reality presented by the author. None can be considered as superfluous. All provide an important commentary on the protagonists and on the changing face of society. As Fontane confided to Maximilian Harden on 20th August 1890: »Es ist richtig, daß meine Nebenfiguren immer die Hauptsache sind, in >Stine< nun schon ganz gewiß, die Pittelkow ist mir als Figur viel wichtiger als die ganze Geschichte.«35 Coupled with his predilection for interaction, Fontane portrays characters who are erlebt rather than angelesen, an objective which accompanies the quest for originality. Indeed, the manner in which he marries the literary and social roles of his servants both associates and distances them from their predecessors and contemporaries. Fontane innovates from the basis of his own social consciousness and artistic purpose, conferring the servants with a much fuller literary independence, whilst remaining loyal to inherited conventions of the Rollenfach. It is this synthesis which guarantees that his servant portrayal is »interessant und apart«.
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Fontane: Romane. Vol. 4 (Footnote 20), p. 460. Fontane: Briefe. Vol. 4 (Footnote 14), pp. 57f.
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Gideon ist nicht besser als Botho Gesellschaftlicher Wandel in Fontanes Irrungen,
Wirrungen
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»Hätt er 100 Jahre früher gelebt«, schreibt Fontane, »so wär er ein Landedelmann comme-il-faut gewesen«.1 »Er«: das ist Storch von Adebar in dem Romanentwurf dieses Titels. Hundert Jahre später also, in Fontanes Gegenwart, ist dieser preußische Aristokrat kein Landedelmann comme ilfaut mehr. Der Mann selbst hat sich nicht geändert in diesem Gedankenexperiment; es müssen die Verhältnisse sein, die andere geworden sind - und darin steckt für Fontane offenbar ein Problem: Persönlichkeitsideal und Verhältnisse, hundert Jahre zuvor noch aufeinander abgestimmt, passen jetzt nicht mehr zusammen. Das scheint Fontane zu interessieren (ähnliche Beobachtungen sonstwo in seinem oeuvre bestätigen es). Aber warum? Was interessiert da eigentlich? Bedauert er, daß vermeintlich zeitlose, stabile und mustergültige Verhältnisse im Strom der Geschichte zerfließen und ihre Lebensformen entwertet werden? Oder aber begrüßt er den gesellschaftlichen Wandel, der das Überalterte (einschließlich veralteter Lebenseinstellungen) endlich zu Grabe trägt? Bekanntlich kann man aus Fontanes Briefen und sonstigen Äußerungen Belege für die eine wie für die andere Antwort zusammenstellen. Der »Haß gegen alles, was die neue Zeit aufhält«2 steht da gegen das Bedauern, »daß wir viel zu sehr mit dem Alten aufräumen«.3 Ein Mann nach dem Herzen von Professoren also, dieser Fontane, der die Frage nach der Wünschbarkeit gesellschaftlicher Veränderungen mit Ja und Nein beantwortet:4 »altes Rindfleisch« soll man nicht »einpökeln«5 - und doch: für Feinschmecker ein wahrer Genuß! Aber ist das nicht lediglich der Bürger
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Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Hg. v. Walter Keitel, Helmuth Nürnberger. Abt. 1. Sämtliche Romane. Erzählungen. Gedichte. Nachgelassenes. Bd. 7. München: Hanser 1984, S. 397. Vgl. S. 380: »Storch antwortet nun: >daß die Zeit (etwa 1862) eine a n d r e geworden sei; ganz andre Strömung herrscht.Fortschritt< vgl. Alan Bance: Fontane and the Notion of Progress. In: Publications of the English Goethe Society 57 (1986-1987) [Erschienen 1988], S. 1-18. Brief v. 22. 3. 1896 an Georg Friedlaender. In: Briefe an Georg Friedlaender. Hg. v. Walter Hettche. Frankfurt/M.: Insel 1994, S. 396.
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Fontane, der so unentschieden ist: der Mann, der sich auf den Weg zum Wahllokal macht, ohne schon zu wissen, für wen er denn stimmen werde? Mit anderen Worten: wie verhält es sich mit dem Schriftsteller Fontane? Ist die mit Storch von Adebar thematisierte Diskrepanz von dem Fluß der Zeit einerseits und dem beharrenden Charakter oder Verhalten des Menschen andererseits für den Romancier nicht vielmehr eine Goldgrube? (Schließlich war es Fontanes erklärte Ansicht, der Roman wolle ein Zeitbild geben, und zwar »ein Bild s e i n e r Zeit«, 6 und die stand ja eben n i c h t still.) Hier nun sind es Fontanes Leser, die sich nicht eins werden können. Auf der einen Seite steht die Auffassung: der Gesellschaftsroman Fontanes sei geschichtsfeindlich, suche »reine Inseln der Sitte inmitten des Geschichtsstromes aufzuschütten«, suche also »bestimmte Elemente der Wirklichkeit von der Darstellung auszuschließen«,7 nämlich den realgeschichtlichen gesellschaftlichen Konflikt und Wandel. Soweit sich solche realhistorischen Phänomene nun aber schlechterdings doch nicht ausgrenzen lassen, so stehen (wird auf dieser Seite argumentiert) nicht eigentlich sie in Rede, also nicht eigentlich der Gegensatz der Stände oder der von alt und neu, sondern, grundsätzlicher und weniger konkret, die Spannung zwischen Gesellschaft und Menschlichkeit, »zwischen einer Gesellschaft, wie sie ist, und einer natürlichen Menschlichkeit, wie sie sein sollte«, oder, noch grundsätzlicher, zwischen der »Gesellschaftlichkeit des Menschen und der freien Herzensbestimmung«, »die sich jeder realistisch-soziologischen Festlegung entzieht«8 - ein >jederzeitliches< Thema; realgeschichtlicher gesellschaftlicher Wandel bleibt wiederum außerhalb oder ganz am Rande des Blickfelds: nicht wichtiger als das Wetter. Die offensichtliche Ausnahme ist da natürlich Der Stechlin, der das gesellschaftliche Alt und Neu fast auf jeder Seite zum Thema macht. Eda Sagarra hat in ihrem Buch Uber diesen Roman mit Paul Sagave von Fontanes »Erkenntnis von der Notwendigkeit sozialer Umwälzungen« gesprochen und mit Dubslav von Stechlin »ein Sensorium [bewiesen] für die durch die technologisch-gesellschaftlichen Neuerungen hervorgebrachten >Ungleichzeitigkeitenbrr< sagt und sich einbildet, sie werde still stehn wie sein Ackergaul«).12 Ein solcher Wandel und die Einstellung dazu wäre also das Thema des Romanciers schon von Anfang an, nicht erst im Stechlin. Doch was die Romane selbst angeht, bleibt es in Böckmanns kurzem Essay notgedrungen bei ganz flüchtigen Skizzen, die diese These nicht bestätigen können; und obwohl Böckmanns Aufsatz schon 1959 erschienen ist, hat sich niemand die Mühe gemacht, seine These an auch nur einem Roman aus der Zeit vor dem Stechlin zu überprüfen. Das ist um so erstaunlicher, als Alan Bance 1988 in einem Aufsatz über Fontane and the Notion of Progress noch einmal auf die These zurückgekommen ist: »Fontane's approach to writing is [...] perfectly attuned to the dialectic of change«, »transition for him is the poetic material par excellence«.13 Wie steht es damit in Irrungen, Wirrungen? Die kulturhistorische Akkuratesse dieses in den mittleren 1870er Jahren spielenden Romans von 1888 hat die zeitgenössische Kritik, die es wissen mußte, bekanntlich lobend hervorgehoben.14 Aber gehört zu dieser Akkuratesse auch die Wahrnehmung des Wandels der dargestellten Verhältnisse?15 Auf den ersten Blick will es zwar durchaus nicht in den Kopf, daß es in Irrungen, Wirrungen überhaupt um gesellschaftlichen Wandel gehen soll. Es ist doch viel zu viel (eleganter sagt man: leitmotivisch) von der gesellschaftlichen »Ordnung« die Rede in diesem Roman von der Liebe eines preußischen Barons zu einer erwerbstätigen Kleinbürgerin. Zu dieser Ordnung finden schließlich beide Partner zurück; beide bejahen sie voll und ganz, so schmerzlich das für sie auch sein mag: »Arbeit und täglich Brot und Ordnung. [...] Denn Ordnung ist viel und mitunter alles. [...] Ordnung ist Ehe [mit der ständisch oder ökonomisch wünschenswerten Partnerin]. [...] Ja, meine liebe Lene, du bist auch für Arbeit und Ordnung und siehst es ein und machst es mir nicht schwer... aber schwer ist es doch ... für dich und für mich.« (S. 405f.)16 Das deutet auf gesellschaftliche Statik: man paßt sich den bestehenden Verhältnissen an. Das »Herkommen bestimmt unser Tun«, wie Botho sagt, und damit solle man nicht »brechen« (S. 406,462). Daß die Verbindung Bothos und Lenes
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Paul Böckmann: Der Zeitroman Fontanes. In: Der Deutschunterricht 11 (1959), H. 5, S. 59-81. Hier S. 72. Brief v. 14. 5. 1894 an Georg Friedlaender. In: Fontane: Briefe. Bd. 4 (Anm. 2), S. 253. Bance: Progress (Anm. 4), S. 2,11. Vgl. Frederick Betz (Hg.): Irrungen, Wirrungen. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 1979, S. 92, 95, 119. Siehe ebd., S. 113: jedenfalls eine Andeutung der zeitgenössischen Ahnung, daß die Verhältnisse veränderungsbedürftig seien. Nichts zum Thema bei Heiko Strech: Theodor Fontane. Die Synthese von Alt und Neu: »Der Stechlin« als Summe des Gesamtwerks. Berlin: E. Schmidt 1970, und Eue-Choon Park: Fontanes Zeitromane. Zur Kritik der Gründerzeit. Frankfurt/M. etc.: Lang 1997. Fontane: Werke (Anm. 1). Abt 1. Bd. 2. 1971. Auf diesen Band beziehen sich Quellenverweise im Text.
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nicht zustande kommt, deutet auf eine beharrende Festigkeit im sozialen Gefüge und in dem Denken, das es stützt.17 Doch nur auf den ersten Blick. Denn zahlreich und nicht weniger leitmotivisch sind die Hinweise auf Veränderungen, die während der Handlungszeit in der Gesellschaftsstruktur vorgehen. Sozialer Wandel tritt also deutlich in Konkurrenz zur »Ordnung«; ja: er profiliert sich als das grundlegende Thema des Romans. Das liegt auf der Hand - wo es nicht wahrgenommen wird, selbst in dem Studienbuch von Hugo Aust nicht, das, 1998 erschienen, eine Summa der Forschung bietet. Gesellschaftlicher Wandel: das ist also ein real-historisches Phänomen, das aus der preußischen Wirklichkeit der mittleren siebziger Jahre in die fiktive Welt des Berliner Romans eindringt. Aber nicht die Genauigkeit und Vollständigkeit in der Widerspiegelung soziologisch-ökonomischer Veränderungen kann hier interessieren und schon gar nicht die Richtigkeit ihrer Interpretation im Roman. 18 Vielmehr: wie sieht der Romancier seine fiktiven Figuren im Kontext dieser, ihrer Zeit in dem Sinne, daß er sie konkrete gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen als etwas Neues bemerken und erleben läßt? Ob befremdend, bedrohlich oder faszinierend: diese Veränderungen (die sich, nebenbei bemerkt, im Rahmen des realhistorisch Dokumentierten halten) betreffen die Romanfiguren im Persönlichsten und präzisieren ihr Selbstverständnis entscheidend. Ob sie aber selbst verändert werden, ist eine andere Frage.
2.
»Die Zeiten [...] änder[te]n sich« (S. 468), sagt in Irrungen, Wirrungen der Schotte Armstrong, den es aparterweise in den Frauenkurort Schlangenbad verschlagen hat. Er spricht vom historischen Wandel in der Bewertung des schottischen Nationalsports, des Pferdediebstahls (früher heroisch, jetzt kriminell). Aber erwähnt wird dieses Exoticum natürlich nur deswegen, weil Fontane die p r e u ß i s c h e gesellschaftliche Wirklichkeit und Mentalität als im Wandel befindlich darstellen will. Im vollen Wortlaut sagt Armstrong, daß sich »Zeiten und Anschauungen« ändern; und ein Gesichtspunkt in Fontanes Optik ist, wie sich herausstellen wird, die Frage, ob Zeiten und Anschauungen sich im Gleichtakt ändern, oder ob die Anschauungen etwa nachhinken oder keiner Weiterentwicklung bedürfen.
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So versteht noch die neueste Deutung in Hugo Austs »Studienbuch«, das eine kritische Summa sein möchte, den Roman: als gesellschaftliches Tableau vivant sozusagen, in dem sich ja gerade nichts bewegt. Vgl. Hugo Aust: Theodor Fontane. Ein Studienbuch. Tübingen: A. Francke 1998, S. 113-120. Zur Realgeschichte vgl. Ernest Kohn-Bramsted: Aristocracy and the Middle-Classes in Germany. Revised edition. Chicago, London: Phoenix Books 1964; Eda Sagarra: An Introduction to Nineteenth-Century Germany. London: Longman 1980, Kap. 10; dies.: Tradition und Revolution. Deutsche Literatur und Gesellschaft 1830 bis 1890. München: List 1972, S. 9-98; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3. Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849-1914. München: Beck 1995.
Gideon ist nicht besser als Botho
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Gesellschaftlich-ökonomischer Wandel ist die Grundvoraussetzung für den äußeren und inneren Vorgang in Irrungen, Wirrungen. Das Liebesidyll über die Standesgrenzen hinweg kommt abrupt an sein Ende, als dem ostelbischen Familiengut kurzfristig die Hypothek gekündigt wird. Unverzüglich also muß Botho von Rienäcker, so erinnert ihn ein Brief seiner Mutter, in den finanziell sanierenden Stand christlicher Ehe treten, und zwar mit Käthe von Seilenthin, von der die briefliche Mutterliebe nur dies für erwähnenswert hält, daß der Zinsbetrag ihres Vermögens hinter dem Kapitalwert des Rienäckerschen Besitzes »nicht sehr erheblich zurückbleiben werde« (S. 402). Verschuldet war das Rienäckersche Gut bereits seit langem: der Großvater hat den Waldbestand schlagen und veräußern lassen; der Vater hat 500 Morgen verkauft und fast den ganzen Erlös am Spieltisch durchgebracht (vgl. S. 357); und Botho selbst, standestypisch preußischer Offtzier, lebt üher seine Verhältnisse - »er hat 9000 jährlich und gibt 12000 aus« (S. 361). Solche Verschuldung adeliger Agrarbetriebe war zu diesem gesellschaftsgeschichtlichen Zeitpunkt in Preußen an der Tagesordnung. 19 Und was den Ruin der Rienäckers als einen gesellschaftsgeschichtlich (statt charakterdegenerativ) verursachten ausweist, ist dies: die Hypothek wurde der Familie mit dem altehrwürdigen Adelsnamen von einem gewissen »Rothmüller in Arnswalde«; nicht >von Rothmüllerrealistische< Sprung gelungen vom selbständigen kleinen Handwerker oder Proletarier (»Klempner« oder »Maschinenarbeiter«) zum Aufseher über »wohl hundert« Industrie-Arbeiter »in einer großen Fabrik« (S. 425). 24 Sein Aufzug stellt das zur Schau: »Zylinder und schwarze Handschuh«; er ist »gebildet« und »hat auch ein gutes Gehalt« (meint man im Kleinbürgermilieu); er ist »eigentlich schon ein Herr« (S. 425), aber nur »eigentlich«. Frankes »hohe Vatermörder von untadeliger Weiße« lassen entsprechend auch Bothos Burschen schwanken, ob er einen »Mann« oder einen »Herrn« melden soll (S. 440). Gideons Aufstieg, seine Anschauungen, seine Interessen - »städtische Angelegenheiten, [...] Schulen, Gasanstalten und Kanalisation« (S. 424) - sind, so hat man nachgewiesen, typisch für die (quasi bürgerliche) Führungsschicht der damaligen Sozialdemokratie; Gideon muß vom zeitgenössischen Leser also seiner ganzen Erscheinung nach als radikale aufsteigerische Herausforderung an den status quo verstanden worden sein.25 Sein biblischer
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Univ. of North Carolina Press 1989, S. 124. Vgl. Wehler: Gesellschaftsgeschichte (Anm. 18), S. 62; Sagarra: Introduction (Anm. 18), S. 214. David Malcolm: A New View of Gideon Franke in Fontane's »Irrungen, Winringen«. In: New German Studies 10 (1982), Η. 1, S. 43-53. Hier S. 45.
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Namensvetter organisierte, wie man damals wohl noch wußte, einen Aufruhr gegen obrigkeitliche Unterdrückung.26 Und nicht zu vergessen: Gideon Franke ist in Amerika gewesen, als Wanderprediger zwar und ambulanter Händler (vgl. S. 425), vielleicht sogar als der sprichwörtliche Schlangenölverkäufer, der sich Professor nannte. Amerika aber galt damals als das Land, in dem gewerkschaftlich sozialdemokratische Wunschträume in Erfüllung gegangen waren oder, umgekehrt, das Establishment bedroht war von subversiven Elementen, >von untenlichterloh< immerhin auf >Stroh< - vielleicht eine der »tausend Finessen«, 32 die Fontane in diesen Roman hineingeheimnist hat, vielleicht auch nicht.)S Also: den Verlierern im gesellschaftlichen Wandel, den Aristokraten, scheint Fontanes Sympathie nicht unbedingt zu gelten; sie werden diskret ins Lächerliche gezogen. Gilt seine Sympathie folglich dem Neuen, den Aufsteigenden? Auf den ersten Blick gewiß. Aber sein unbestechlicher Sinn sieht Komik auch auf der Gegenseite. Er sieht sie in Frau Salinger mit ihren ordinären, dem neureichen »Toilettenluxus« zu verdankenden »kirschroten Lippen«, mit ihrer halb dressierten, halb verwöhnten Tochter und ihren provinziellen Lebensweisheiten aus ihrer Vor-Aufstiegszeit wie »In Preußen hoaben's die Schul' und in Wian hoaben wir die Küch' (S. 463). Wenn Käthe nicht so überwältigt wäre von Wiens »älterer Kultur« (S. 438) - oder meint sie Konditorei? - hätte sie an der Kur- und Reisemenage Salinger doch wohl einiges »zu komisch« gefunden. Aber der Germanist sollte da nicht mit Käthe in Wettbewerb treten. Der andere Aufsteiger, Gideon Franke, ist ein klarerer Fall. Er ist nicht nur der strebsam-ehrenwerte Mann der Zukunft in der Leistungsgesellschaft, der angehende Technokrat der Kanalisation und sicher bald gefragt in einer Zeit, in der in Berlin die Panke zugeschüttet werden soll und Bothos Liegenschaften durch Drainage auf
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Kohn-Bramsted: Aristocracy and the Middle Classes (Anm. 18), S. 254. Brief v. 14. 7. 1887 an Emil Dominik. In: Fontane: Werke (Anm. 1). Abt. 4. Briefe. Bd. 3. 1879-1889. 1980, S. 551.
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Profitniveau gebracht werden könnten (Vgl. S. 334, 339). 33 Der Mann mit dem biblischen Namen (darin ist die - wie Germanisten sagen - >Gideon-Forschung< einig) ist ein wunderlicher Heiliger, so »untadelig« seine »Gesinnung« auch sein mag (S. 441). Er verfehlt, Müller-Seidel nimmt da kein Blatt vor den Mund, ebenso wie Käthe »das eigentlich Menschliche«. 34 Aber eben auf komische Weise auch er. Ihm, dem Konventikler, dem keine Sekte abstrus genug war, so daß er sich seine eigene zu gründen genötigt sah, ist es ein leichtes, von seinen technisch-gemeinnützigen Themen wie Kanalisation, Gasanstalten usw. in den feierlichen Ton der Kanzelberedsamkeit zu verfallen - und die erspart uns nichts von »Fleisches Schwäche«, »falsch Zeugnis« und diversen »Heilswegen« (S. 444): selbstbewußt und in der Weihe der pastoralen Erleuchtung, ganz als habe Gideon seine »hundert unter sich« aus der Fabrik v o r sich. So in Gideons Gespräch mit Botho darüber, »was es mit der Lene eigentlich sei« (S. 441). Dieses Gespräch aber ist, weit über die Verulkung Gideons hinaus, eine Schlüsselstelle, nicht allein für die komische Visierung des gesellschaftlichen Wandels überhaupt, sondern auch für dessen Verständnis und Deutung. Raffiniert komisch ist in diesem Gespräch nämlich vor allem die Konstellation Botho - Gideon: raffiniert komisch nämlich vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels. Denn die beiden von diesem Wandel konträr Betroffenen lernen sich in ihrem Gespräch gegenseitig schätzen: Gideon zollt Botho, dem durch seinen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Funktionsverlust komisch Gewordenen, seine Achtung; Botho weiß Gideon, den durch seinen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Funktionsgewinn komisch Gewordenen, zu würdigen. Das ist hochgradig amüsant, komisch das Zusammenspiel von Aufstieg und Abstieg. Aber noch etwas haben die beiden gemein, diese Exponenten des sozialen Prozesses, der Verlierer und der Gewinner. Und da hört die ästhetische, nämlich r e i n komisierende Vermittlung des gesellschaftlichen Wandels auf, und ein unerwartet neuer Aspekt dieses Wandels fällt ins Auge. Auf der letzten Seite des Romans sitzen Botho und Käthe beim Frühstück. Käthe lacht »ausgelassen« über einen Fund in ihrer »Lieblingszeitung«: »... Ihre heute vollzogene eheliche Verbindung zeigen ergebenst an: Gideon Franke, Fabrikmeister, Magdalene Franke, geb. Nimptsch ... Nimptsch. Kannst du dir was Komischeres denken? Und dann Gideon!« Botho nahm das Blatt, aber freilich nur, weil er seine Verlegenheit dahinter verbergen wollte. Dann gab er es ihr zurück und sagte mit so viel Leichtigkeit im Ton, als er aufbringen konnte: »Was hast du nur gegen Gideon, Käthe? Gideon ist besser als Botho.« (S. 475)
Damit endet der Roman. Und kein Kritiker, der das nicht erfreut kommentierte, die Ironie des double entendre bewunderte. 35 »Fontane has contrived a perfect ending.« 36
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Vgl. Alan Bance: Theodor Fontane. The Major Novels. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1982, S. 98. Müller-Seidel: Theodor Fontane (Anm. 8), S. 268. Kurt Sollmann: Theodor Fontane: »Irrungen, Wirrungen«. Frankfurt/M.: Diesterweg 1990, S. 85-87, 98-102, referiert mehrere derartige Urteile. Henry Garland: The Berlin Novels of Theodor Fontane. Oxford: Clarendon Press 1980, S. 124.
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Mag sein. Nur: was steht da zwischen den Zeilen? Daß Käthe keine Ahnung hat, wer Gideon und Lene sind, daß Botho also seine Ehe auf Vertrauensmangel gegründet hat. Das sieht ein Blinder und ein Germanist. Doch der advocatus diaboli (der bei Heiligsprechungsprozessen die Funktion hatte, widerlegt zu werden) fragt sich: ist Gideon in dieser Hinsicht wirklich besser als Botho, sofern nämlich s e i n e Ehe »an honest contract based on mutual regard and respect« wäre? 37 Gewiß, Lene hat Gideon reinen Wein eingeschenkt Uber ihre Vergangenheit (vgl. S. 433), während Botho sich Käthe gegenüber zu nichts Entsprechendem aufgeschwungen hat. Aber Gideon ist nicht besser als Botho. Warum käme er sonst zu Botho zu seiner Aussprache über Lenes Vergangenheit? Er muß sich bei Botho über Lene und ihr Bekenntnis vergewissem; er kommt »mit einer Frage« zu ihm: »was es mit der Lene eigentlich sei«. Das kann doch nur bedeuten, daß er seiner Verlobten nicht traut ganz wie Botho Käthe nicht traut. Botho erkennt das sofort, woraufhin er Gideon Lenes Vertrauenswürdigkeit eigens bestätigt (weil das eben nötig ist): »Die Lene lügt nicht und bisse sich eher die Zunge ab, als daß sie flunkerte. Sie hat einen doppelten Stolz, und neben dem, von ihrer Hände Arbeit leben zu wollen, hat sie noch den andern, alles gradheraus zu sagen und keine Flausen zu machen und nichts zu vergrößern und nichts zu verkleinern« usw. (S. 443). Nur daraufhin, auf Bothos Versicherung: »Sie kriegen da eine selten gute Frau« (der eben zu vertrauen ist), ist Gideon beruhigt, seiner Lene sicher (der er also weniger traut als dem wildfremden Baron: der Klassenfeind ist der einzig Vertrauenswürdige in einer Welt des klasseninternen Mißtrauens - nicht ganz ohne Ironie). Und gewiß ist es kein Zufall, daß die »immer predigerhafter werdende« Wortkaskade, die Gideon daraufhin auf Botho niedergehen läßt, von »lügen und trügen«, handelt: von »falsch Zeugnis« und »Honnettität«, vom »geraden Weg« und von »Wahrheit« und »Zuverlässigkeit« und »Ehrlichkeit« und was sonst noch in allen Lebenslagen zu empfehlen ist (S. 444f.) - besonders von denen, denen es daran mangelt. Gideon spricht von Tugenden, die er nicht hat; protesting too much nennt man das. Merkwürdig also: vereint sind Botho und Gideon, die beide eine Vernunftehe schließen, nicht zuletzt in ihrer Unfähigkeit, dem Ehepartner zu vertrauen. Vom Schluß des Romans aus wird diese Gemeinsamkeit überdeutlich, und zwar ironischerweise, finessenhafterweise noch gegen den Wortlaut (»Gideon ist besser als Botho«). Doch hier gerät die r e i n komische Vermittlung des Themas ins Zwielicht. Eine wehmütige Trauer umspielt die beiden entgegengesetzten Exponenten des gesellschaftlichen Wandels: Die »Zeiten« mögen sich ändern; die »Menschen« tun es nicht, und tränken sie noch so viel Kaffee. »Zuletzt ist einer wie der andere« (S. 367): Aufsteiger und Absteiger. Vertrauen zum anderen haben sie selbst im intimen Bereich nicht: die Fremdheit derer, die sich kennen. Und kein noch so fortschrittlichaufgeklärter Wandel in Verhältnissen und Verhalten, der die Menschen auf ein höheres Niveau führen, der die Barrieren zwischen Menschen und Klassen abbauen soll, wovon Fontane sich immer wieder viel versprach - kein solcher Wandel ändert etwas daran, an solcher mangelnden Authentizität im menschlichen Miteinander
37
Ebd., S. 121.
Gideon ist nicht besser als Botho
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im jeweiligen eigenen gesellschaftlichen Kreis. Plus ςa change, plus c'est la meme chose; mutantur tempora et nos in iis non mutamur. Wenn es bei Fontane Annäherungen an Tragik gibt, so hier, im Umkreis eines kaum beachteten Themas: des Themas der mangelnden Authentizität, so humoristisch es auch artikuliert ist. An die anderen Ehe- und Liebesromane Fontanes wäre zu denken, aber auch Wiillersdorf und Instetten bringen sich in Erinnerung, wo das Thema der Inauthentizität jedoch mehr im Hinblick auf die internalisierte Gesellschaftsgebundenheit artikuliert wird: sobald Innstetten seinem besten Freund die Untreue seiner Frau anvertraut hat, muß er sein Geheimnis publik machen. Denn es kann nicht im Privaten belassen werden, weil man selbst seinem besten Freund nicht vertrauen, sich auf dessen Loyalität nicht verlassen kann.38 »Mir persönlich ist die humoristische Betrachtung am liebsten«, schreibt Fontane 1891. Doch fügt er gleich hinzu: »Aber es gibt doch auch andere, sehr respektable Betrachtungen, und das >Temperament< umschließt alle, läßt jede ran, gibt jeder ihr Recht.«39 So auch in Irrungen, Wirrungen. Nicht ein r e i n komisches, humoristisches Licht fällt also vom Schluß auf den Roman des gesellschaftlichen Wandels zurück. Das heitere Darüberstehen ist zugleich ein kritisch besorgtes Darüberstehen: eine Lebenstrauer, die ahnt: Wandel im Persönlichen, insbesondere zum >BesserenAußenseitern< der Fontanebzw. der Realismus-Forschung: Hans Blumenberg: Gerade noch Klassiker. Glossen zu Fontane. München: Hanser 1998, und Roland Barthes: Lecture de Brillat-Savarin. In: Barthes: (Euvres completes (Anm. 1). Bd. 3, S. 280-294. Es handelt sich um eine Einfuhrung in
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Fontane gehörte, wenn man es zeitdynamisch ausdrücken will, gerade noch zu diesem Jahrhundert, das Hegel einmal das »entzweite« 4 genannt hatte - und er stand dabei mitten in dem Umbruch, der den Beginn der Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts kennzeichnete. Dieser besondere Zwiespalt, in dessen Zeichen das Jahrhundertende steht, wird schlagartig deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Zola und Mallarmd Fontanes genaue Zeitgenossen waren: Mallarm6 und Fontane sterben 1898, Zola 1902! Da ist, auf der einen Seite, der erklärte Naturalist Emile Zola - dem Materialismus, dem Biologismus, der Milieutheorie, dem Darwinismus und Historismus zugewandt; seine Romane erproben die Transfusion des puren Lebensprozesses in den literarischen Text, indem sie das Organische und das Soziale gleichsam in ein und denselben Blutkreislauf zusammenzwingen - Le ventre de Paris ist die Formel, >voir la nature< die Parole dieser Bewegung. Da ist, auf der anderen Seite, St6phane Mallarmd. Seine Texte - die sich dem Einspruch gegen das Leben unter dem programmatischen Titel Don du poeme,5 dem anagrammatischen Spiel der Buchstaben (Un coup de des)6 verpflichtet wissen - zielen auf die radikale Auslöschung alles Materialen und damit auf den puren Selbstbezug des literarischen Textes; das Gedicht - eine absolute Metapher, lafleur, »absente de touts bouquets«.7 >Le ventreBlüteVerklärung< gelten zu lassen geneigt ist, und dem wohl zugleich nichts ferner gewesen wäre als Mallarm6, erweist sich - bei schärferem Zusehen - als genau und mitten im Konflikt zwischen beiden Extremen, zwischen beiden Auffassungen des Verhältnisses zum >Realenpour rienDistinktion< sei »I'une des cat£gories formelles les plus importantes de la modernitd: celle de l ' ä c h e l o n n e m e n t des phdnomönes«, und er fügt hinzu: »le goüt implique une philosophie du rien«. Barthes: CEuvres completes (Anm. 1). Bd. 3, S. 280. Ebd., S. 281.
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Essen und Trinken, soweit es nicht der gemeinen Lebensnotdurft dient, muß mehr und mehr zur symbolischen Handlung werden, und ich begreife Zeiten des späten Mittelalters, in denen der Tafelaufsatz und die Fruchtschale mehr bedeuteten, als das Mahl selbst« (I, 569). Das Tischgespräch also als eine Kasuistik der sozialen Distinktionen,22 der ins Unendliche geführten Geschmacks-Differenzierungen, als eine »energie gratuite«23 über einem Abgrund des materialen Nichts errichtet. In dieser Einsicht könnte man den tieferen Grund dafür sehen, warum Fontane gerade Gastmahlsituationen zu paradigmatischen Chronotopen24 in der sozialen Dynamik auswählt. Man könnte auch, indem man die Terminologie Stephen Greenblatts aufgreift, sagen, daß Fontanes Romane die Mahlzeiten der Menschen, und zwar auf allen Stufen der Gesellschaft, zu Dispositiven25 sozialer Energie machen; daß sie zeigen, wie diese Mahlzeiten ein komplexes Kraftfeld eröffnen, einen Kreuzungspunkt und Verteilerknoten von sozialer Energie und ihrer Bewegung in der Sprache bilden, deren Dynamik ja ihrerseits ausschließlich durch Distinktionsprozesse in Gang gehalten wird. »La nourriture«, schreibt Roland Barthes in seinem folgenreichen Essay über BrillatSavarin, »[est] une sorte d'opdrateur universel du discours«.26 Nirgends läßt sich die Übersensibilität einer Sozialformation - als eine wesentliche Form der Dekadenz - überzeugender demonstrieren oder minuziöser überprüfen, als im Geschmack-Theater von Essensszenen und jener Geschmack-Differenzierung und Geschmack-Inszenierung, die sich in den dieses Essen begleitenden Tischgesprächen ereignet: einem rituell sich entwickelnden Sprachspiel der Ermittlung sozialer Bedeutungen und sozialer Werte. In Essensszenen eingebettete Tischgespräche sind Distinktions-Rituale kat'exochen: In ihnen entfaltet sich exemplarisch der kulturelle Code der minuziösen Unterscheidung - seine Syntax, seine Semantik, seine Idiomatik, ja sein Stil!27 Barthes formuliert: »La table est en quelque sorte le lieu g6om6trique de tous les sujets d'entretien.« 28 Die Rituale, in denen Fontane seine Figuren ihr Selbstverständnis und das ihrer Gesellschaft verhandeln läßt, in denen er im Spielraum von Norm und Distinktion, von Regelgerechtheit und Apartheit seine Figuren das »symbolische Kapital der Ehre« 29 immer wieder von neuem in Umlauf setzen läßt, erwachsen durchweg aus 22 23
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So auch Barthes: »une casuistique du gout«. Ebd., S. 285. Ebd., S. 282. Zugehörig ist die These Barthes', daß die Besetzung mit Lust sich nicht auf die Speisen in ihrer Materialität richtet, sondern auf die Zeichen, die sie repräsentieren: »la communication comme une jouissance - et non plus comme une fonction.« Ebd., S. 293. Ich bediene mich hier eines von Bachtin geprägten Begriffs. In vergleichbarer Weise auf Ballszenen in Romanen angewandt hat diesen Alain Montandon: Pour une βοείοροέϋςυε du chronotope: la scfene de bal chez Thiophile Gautier. In: Litterature N° 112 (ddcembre 1998), S. 14-25. Diesen Begriff - im Sinne einer Verteilerinstanz - beziehe ich von Michel Foucault: Histoire de la sexualiti I. La volontd de savoir. Paris: Gallimard 1976. Barthes: (Euvres competes (Anm. 1). Bd. 3, S. 294. Roland Barthes: Pour une psycho-sociologie de l'alimentation contemporaine. In: Barthes: (Euvres competes (Anm. 1). Bd. 1, S. 924-933. Barthes: (Euvres completes (Anm. 1). Bd. 3, S. 292. So eine Kapitelüberschrift in: Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der
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dem materialen Substrat, das, als gleichsam Natürliches, das Netz kultureller Zeichen und ihres irisierenden Spiels grundiert. Es sind zumal vier Substratfelder, vier verschiedene Formationen sozialer Energie, die hier Bedeutung gewinnen. Sie stehen im Zeichen von Nahrung, Sexualität, Aggression und Tod. So tritt neben das Ritual der Mahlzeit, das im Werk Fontanes wohl dominiert, das Aggressionsritual des Duells, das in zahlreichen Texten des preußischen Autors Schlüsselfunktion gewinnt. Neben dieses wiederum gesellt sich die Ritualisierung des Begehrens im durch die bürgerliche Moral aufgeladenen Spannungsfeld zwischen Liebe und Ehe und jenen vielfachen Mesalliancen, die sich hier zwischen Norm und Apartheit einstellen. Und zu diesem stellt sich schließlich das Sterberitual, wie es die in Fontanes Romanen so häufigen Selbstmorde, die Szenen der derniers adieux und der »letzten Worte« repräsentieren.30 Alle vier Kraftfelder artikulieren sich als Schaltstellen von sozialem Sinn, die dem Triebgeschehen, der Materialität der Dynamik des Natürlichen förmlich aufsitzen und aus ihr - wie aus »Sumpf und Sand« - als »feinste Kultur« modelliert werden und hervortreten. Dabei sind es vor allem die Sprachspiele, die Fontane ja berühmt gemacht haben, die aus diesem Fond erwachsen; Sprachspiele, in denen er das Grundmuster der preußischen Dekadenzgesellschaft lesbar macht; durch die er es aber auch in ihrer verwickelten kulturellen Kasuistik in Szene setzt; Sprachspiele mithin, mittels deren seine Romane als Ganze zu Ethnogrammen der gleichsam durch den Blick fremdgemachten, untergehenden preußischen Gesellschaft der Gründeijahre geraten und als solche auch gelesen werden können. Das Grundmuster dieser im Verfall begriffenen Gesellschaft ist aber pointiert mit einem einzigen Begriff zu kennzeichnen: nämlich dem der Mesalliance. Das Distinktions-Theater der Fontaneschen Tischgespräche erprobt sich denn auch unermüdlich an dieser einen universellen Matrix verschobener sozialer Verhältnisse; einer grundsätzlich als Mesalliance sich ausweisenden Rekapitulation des contrat social, in dem das paradoxe Spiel der Eingemeindung des Außenseiters in die Norm gleichsam unter Vertragsbedingungen unermüdlich weitergespielt wird, als Leitsymptom der Dekadenz gewissermaßen. Dabei ist dieses soziale Spiel weit gefächert. Es entwickelt sich als fortgesetzte Erörterung der Mesalliancen zwischen Staat und Kirche, Preußentum und Luthertum, Militär und Besitz- oder Bildungsbürgertum, Mann und Frau, Hoch und Niedrig, Bildung und Unbildung. Die Mesalliance erscheint mithin als eine alles gesellschaftliche Leben durchdringende - soziale wie rhetorische - F i g u r einer f a l s c h e n B e z i e h u n g , bezeichnet durch einen Schwärm von soufflierten Stichworten, die die Romane Fontanes durchziehen und durchlaufen: Surrogat, Kopie, Karikatur, Plagiat, Fälschung, geflügeltes
30
ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 335-377. [Zuerst 1972 Frz. u. d. T. Gsquisse d'une thdorie de la pratique, pr6c6d£ de trois itudes d'ethnologie kabyle]. Siehe Karl S. Guthke: Das Leben vom Ende her. Letzte Worte in der Biographie. In: Euphorion 87 (1993) S. 250-268. Ferner ders.: Letzte Worte. Variationen über ein Thema der Kulturgeschichte des Westens. München: Beck 1990. Dort Hinweise auf weitere Literatur und Nachschlagewerke.
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Wort, idee regue (wie Flaubert sagen würde), Gemeinplatz. Diese ubiquitäre Figur der f a l s c h e n B e z i e h u n g , der s c h i e f e n S i t u a t i o n , d i e den contrat social durchquert, wirkt in die fiir Fontanes Romane charakteristische Diskussion um die Tragfähigkeit sozialer Zeichen überhaupt zurück: zum Beispiel als die Frage nach dem Authentizitätsgrad oder Fälschungscharakter der Worte und der Sätze, wie im Stechlin; so zum Beispiel als die Frage nach Original oder Kopie im Feld der Bilder und Abbildungen, wie in L'Adultera. Baron Innstetten, in seinem Mißtrauen schon kurz vor der folgenreichen Entdeckung der Briefe Crampas' in Effis Nähkommode, liefert Fontanes Maxime für diesen Sachverhalt: »Er hatte lange genug gelebt, um zu wissen, daß alle Zeichen trügen« (IV, 183).
2. Fontanes Roman Cecile, 1885 publiziert, gehört vielleicht ein wenig zu den Stiefkindern der gerade wieder florierenden Fontane-Forschung: zu Unrecht, wie mir scheint. 31 Denn es gibt wohl kaum einen Fontaneschen Roman, der so streng durchkomponiert, so ganz ohne blinde Motive ein schlüssiges Ganzes bildet wie Cecile und um dieses Gestaltungsaktes willen eine sorgsame Analyse verdiente gerade im Hinblick auf die Modernität des Fontaneschen Realismus im Kontext des schwierigen neunzehnten Jahrhundertsgenierten BlickFisch< bedeutet und aus den Initialen der Wortfolge Jesus, Christus, Gottes Sohn, Erlöser< gebildet erscheint.
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Die erste Situation einer Mahlzeit, die im Roman geschildert wird, ist die Table d'hote im Hotel Zehnpfund in Thale. In ihr wird das Thema des Fisches zum ersten Mal aufgebracht. Die Rede der Tafelnden kommt auf die gerade servierten Harzforellen. Im Hin und Her des Tischgesprächs klingt das Thema der Distinktion zum ersten Mal an. Man äußert sich über das besondere Aroma, über den feinen Geschmack derselben und über die Möglichkeit einer Unterscheidung vom Geschmack anderer, zoologisch verwandter Fische, wie zum Beispiel der Felchen, Schmerlen, Lachsforellen, White Bait, Ikley, Spree-Stints. Was Fontane im Bildungsgespräch der am Tisch Versammelten im parlando in Szene setzt, ist ganz offensichtlich das Prinzip der differentia specifica im Linn6schen Sinne - zugleich aber und unter der Hand die Transfundierung eines naturwissenschaftlichen Prinzips in ein solches sozialer Verhältnisse - ein Einfall, der beinahe Zolasche Dimensionen annimmt. Einer der Tafelnden, Privatdozent und »Spezialissimus«, wie sein Spitzname in der Runde lautet, hält diesem Differenzierungsaufwand seiner Mitspeisenden barsch entgegen: »Forellen sind Forellen«; worauf Gordon - seinerseits auf die differentia specifica C6ciles erpicht - repliziert: »Doch nur etwa so, wie Menschen Menschen sind« (Π, 197). Damit ist das Leitthema der >feinen Unterscheidung< im kulinarischen wie im sozialen Feld, im natürlichen wie im kulturellen Bezirk gleichsam als soziale Aufgabe und Verhaltensstrategie exponiert. Der Roman wird es über viele Erzählstationen weiterführen. Man beschließt also, dem Problem der Distinktion in der Forellenfrage bei einem Schmerlenessen im für seine Fischgerichte renommierten Landgasthaus zu Altenbraak weiter nachzugehen. Abermals wird hier ein Experiment auf die feinen Unterschiede in Szene gesetzt. In einer Art Tonartwechsel geschieht dies aber nun in einem Sprachspiel, das zugleich ein Gesellschaftsspiel ist, nämlich in Form der sogenannten Leberreime. Jeder der Gäste, so lautet die Regel, hat einen Doppelvers zu liefern, dessen erstes Reimwort »Schmerle« lauten muß. Gordon provoziert die Runde mit einem falschen Reim, einer >Mesalliance< innerhalb der Gesellschaftssprache gewissermaßen: Er schlägt nämlich das Unwort »Querle« als Reimwort auf »Schmerle« vor und verfehlt damit den Ton (Π, 232), bringt eine falsche Nuance ins Spiel - eine Vorwegnahme des Faux pas in seiner Huldigung an Cecile, der später das Duell mit St. Arnaud provoziert, in dem er fallen wird. C6cile, deren rätselhafte Individualität und Apartheit ja im Grunde das geheime Ziel des ganzen Sprachspiels der Leberreime ist, liefert als Einzige in der Runde keinen solchen Leberreim. Rosa Hexel, die Tiermalerin und Suffragette in Männerkleidern,32 dichtet - ihrerseits eine Aparte und Außenseiterin, die sich solche Abgrenzung als Künstlerin aber auch leisten kann - einen Huldigungsreim auf C6cile; einen Reim, der deren Singularität im Feld der Normierten hervorhebt: »Genug,
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Rosa Hexel wird von ihren Kollegen Rosa Malheur genannt, in Anspielung auf die französische Tiermalerin Rosa Bonheur (1822-99). Hier spielen weitreichende Assoziationen zur Frauenemanzipation eine Rolle. Vgl. Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel. Beobachtungen zu Fontanes Namengebung. In: Fontane-Blätter 62 (1996), S. 31-57; ferner den Katalog: Femininmasculin. Le sexe de Part. Paris: Editions du Centre Pompidou, Gallimard, Electa 1995, S. 39.
Das Ritual der Mahlzeit und die realistische Literatur
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genug der Reimerein auf Schmerlen oder Schmerle, Hoch, dreimal, unsre schöne Frau, der Perlen schönste Perle.« (II, 233) Ein drittes Gesellschaftsessen, nunmehr in Berlin, führt die Sequenz der Distinktionen, welche den Erzählfaden des Romans bildet, weiter. Es ist das kleine Diner im Hause St. Arnaud in der Großstadt Berlin, das die prekäre Außenseiterstelle des Paars noch einmal in aller Deutlichkeit zu Bewußtsein bringt. Ein Kreis von entlassenen Generälen, entmachteten Politikern, skurrilen Adligen und alten Frondeuren hat sich eingefunden. In Erinnerung an Altenbraak und Thale läßt C£cile erneut Forellen auftragen: eine Rekapitulation oder Revision, ja eine emeut in Szene gesetzte Kasuistik jenes damaligen Distinktionsgeschehens, ein förmlich über Leben und Tod entscheidender Prozeß, in dem Cdciles soziale Stellung und Anerkennung, das symbolische Kapital ihrer Ehre< anhängig ist. Der demissionierte General von Rochow, der später beim tödlichen Duell zwischen Gordon und St. Arnaud sekundieren wird, statuiert in rüder Provokation eine strikte Leugnung aller spezifischen Differenz und widerruft damit jenen Prozeß versuchter Distinktion und Ehrgewinnung, den Cdcile und St. Arnaud angestrengt haben: »Schmerlen«, sagt er, »ein erbärmlicher Genuß, der nur noch von seiner Unbequemlichkeit und Mühsal übertroffen wird. Er kommt gleich nach den Artischocken, ebenso langweilig und ebenso fruchtlos.« (II, 268) Diese drei in Gordons soziales Spiel der Huldigung um das Rätsel Cecile eingebetteten Mahlzeiten stellen - im Fortgang des Tischgesprächs, das geführt wird die Frage nach der Apartheit der von Gordon bewunderten Frau. Damit ist aber das Leitmotiv 33 der >feinen Unterscheidung^ welches das Romangeschehen steuert, keineswegs zu Ende gebracht. Es folgt - im weiteren Verlauf der Ereignisse - nun eine Rückspiegelung in die Kindheit Cdciles: und zwar in das Sozialisationsgeschehen der Mahlzeit, wie es sich innerhalb der Familie abspielt. Als vierte Station in der Reihe der Mahlzeitenbeschreibungen und als Aufklärung des Rätsels von C6ciles Existenz fungiert nämlich im Roman ein Brief der Schwester Gordons und genauer Kennerin des Gotha, Klothilde, die ihren Bruder nun endlich über die dubiose Vergangenheit C6ciles, über den Fälschungs- und Surrogatcharakter ihrer Karriere und über ihre Mesalliance-Situation, ihre prekäre Vergangenheit als Fürstengeliebte, aufklärt. Dieser Brief Klothildes berichtet nämlich von einem Ritual am Familientisch der verarmten Familie von Zacha, wo Cdciles Mutter aus Mangel an sonstigem Eßbarem ein »Pilzchen«-Essen in Szene setzt (II, 283-285) - ein Familienmythos, wie er im Buche steht, ja geradezu die Konstruktion eines »FamilienRomans«.34 Bei dem »Pilzchen«-Essen handelt es sich, wie Klothildes Brief ausführt, 33
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>Leitmotiv< ist übrigens ein schon von Fontane selbst benutztes Wort. Vgl. Fontanes Brief v. 8. 6. 1896 an Carl Robert Lessing. In: Fontane: Werke. Schriften und Briefe (Anm. 2). 4. Abt. Briefe. Bd. 4. 1890-1898. Hg. v. Otto Drude, Helmuth Nürnberger. 1982, S. 562. Dieser Freudsche Begriff ist hierfür wie geschaffen: Es handelt sich um die Inszenierung einer künstlichen, das Register der sozialen Klasse wechselnden Genealogie. Vgl. Sigmund Freud: Der Familienroman der Neurotiker. In: S. F.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich et al. Frankfurt/M.: Fischer 1970. Bd. 4. Psychologische Schriften, S. 221-226. Siehe auch ders.: Aus den Anfangen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ. Ab-
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um ein aus Rosinen und Mandeln gebasteltes Schaugericht von künstlichen Pilzen und einem »Roi Champignon« als »morceau de r6sistance« in der Mitte (Π, 284). Wer das Glück hat, diesen zu verspeisen, so der Bericht des Briefs, sei König des Mahls gewesen. 35 Hier sei das Kind C6cile, als Auserwählte in einer Art familialer Mythisierung, zur Prinzessin der Mahlzeit gekrönt worden: in einem Ritual, das prophetisch den künftigen feudalen Erlöser der Familie verheißt, den Prinzen, der C6cile als Mätresse heimholen wird, und zwar nicht ohne Zutun der Mutter und ihres inszenatorischen Geschicks. In dieser von Gordons Schwester kolportierten Familienszene aus der Vorgeschichte C6ciles gewinnt das Geschehen bei Tisch eine neue Funktion: Die Familienmahlzeit erscheint als trügerisches Simulakrum sozialer Distinktion und gesellschaftlichen Aufstiegs, als eine Art magischen Rituals im Feld primärer Sozialisation, ja förmlich als Initiationsritus für eine künftige Karriere der ältesten Tochter des Hauses. Die letzte Situation im Roman sodann, die auf den Vorgang der Nahrungsaufnahme als kulturelles Szenario Bezug nimmt, ist zugleich ein Ritual des >dernier adieuAnekdote< sprechen, einem >bislang der Öffentlichkeit nicht Zugänglichen^ 36 das Symptomcharakter gewinnt. Der Brief des Hofpredigers erzählt von C6ciles Kapitulation vor dem Versuch, sich in einer Gesellschaft der Verfälschungen, der Anmaßungen des verfehlten Tons, in einer Welt des >homme copie< (Stendhal) und der Mesalliancen gegen allen Widerstand als Subjekt zu behaupten, sich gleichsam sozial zu distinguieren und damit in der Gesellschaft >das Gesicht zu wahrendernier adieu< bezogen ist, das Motiv des Todesbechers, den der verurteilte Sokrates leert, des Todeskelchs, dem die Todesangst Jesu in Gethsemane gilt. 37 Das Tuch, welches C6ciles Antlitz und die Lippen verdeckt, die
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handlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902. Hg. v. Marie Bonaparte, Anna Freud, Ernst Kris. London: Imago 1950, S. 219, 273. Die Darstellung des Mahls eines >Bohnenkönigs< ist ein stereotypes Bildmotiv der niederländischen Malerei: vgl. z. B. Jakob Jordaens (1593-1678) >Le roi boit< - Der Bohnenkönig. Vgl. hierzu den wegweisenden Aufsatz von Joel Fineman: The History of the Anecdote: Fiction and Fiction. In: H. Aram Veeser (Hg.): The New Historicism. New York, London: Roudledge 1989, S. 49-76. Vgl. Matth. 26, 39. Siehe hierzu auch George Steiner: Zwei Nachtmahle. In: G. S.: Der Garten des Archimedes. Essays. München: Hanser 1997, S. 309-352.
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das Gift des roten Digitalis genetzt hat, löscht die Züge ihres Gesichts. Es zeigt an, was ihr aus sozialer Distinktion verweigert wurde: die Wahrung ihres Gesichts in einer Welt uniformierter Masken, die Achtung ihrer Apartheit in einer Gesellschaft, die sich die >gute< nennt. Im Brief des Hofpredigers Dörffel, der den Roman zugleich abschließt und damit eigentümlich offen läßt, heißt es: Frau von St. Arnaud lag auf dem Sofa, ein Batisttuch über Kinn und Mund. Es war mir nicht zweifelhaft, auf welche Weise sie sich den Tod gegeben; ihre Linke hielt das kleine Kreuz mit dem Christuskopf, das sie beständig trug. Der Ausdruck ihrer Züge war der Ausdruck derer, die dieser Zeitlichkeit müde sind. (II, 316)
3. Fontanes Romane handeln von der Konstruktion von Realität, dem komplexen Prozeß, in dem die Bedeutung sozialer Werte verhandelt wird. Sie tun dies, indem sie zeigen, wie aus dem materialen Substrat, das die Eßakte und die sie gestaltenden Mahlzeiten darstellen, die Kommunikationsstruktur einer Gesellschaft herausgetrieben wird: als Akte einer fortgesetzten, peniblen Unterscheidung zwischen Norm und Abweichung. Fontanes Romane sind der weitreichende Versuch, das Paradox der Moderne selbst, wie es sich ihm am Ende des neunzehnten Jahrhunderts abzuzeichnen schien, zu thematisieren und erzählerisch zu inszenieren. Dieses Paradox, welches ich das Paradox der Dekadenz nennen möchte, besteht in dem widersprüchlichen Bewußtsein von der Gleichzeitigkeit von Fortschritt und kulturellem Verfall, der Koinzidenz von naturalistischem, szientifischem Optimismus einerseits, einer Melancholie über die >Tragödie der Kultur< (Georg Simmel) andererseits; einer Kultur, die dem leeren Ästhetizismus verfällt. Prägnantester Ausdruck dieses paradoxen Bewußtseins von Fortschritt und Verfall sind die auf die Spitze getriebenen Distinktionsrituale der Fontaneschen Gespräche, in denen es nicht gelingt, den klaffenden Riß zwischen Norm und Abweichung, zwischen Gesetz und Apartheit zu schließen. So geht es, genau genommen, in Fontanes Romanen zuletzt um die Frage, ob die Ausdifferenzierung von sozialer Energie, ob die Distinktionsrituale einer Gesellschaft als ein Ordnungsmuster wissenschaftlichen Fortschritts oder aber als ein Verfallsmuster aller Werte, als ein System kultureller Ermüdung zu lesen und, als erkannte, zum Verständnis der eigenen Kultur dienen können. Dabei sind es, wie mir scheint, in dieser Ära des endenden neunzehnten Jahrhunderts nicht weniger als vier Problemfelder, vier kulturthematische Argumentationszusammenhänge, die kontrastieren, ineinanderwirken und sich in fortgesetzter Reibung partiell überschichten. Es scheint mir die besondere Bedeutung des Fontaneschen Realismus-Konzepts zu sein, daß er deren Friktionen nicht harmonisiert, sondern, als ein komplexes kulturelles Spannungsmuster, in seinen Romanen thematisiert. Das erste Feld ist durch die Konzepte des französischen und skandinavischen Naturalismus bestimmt, die sich auf das materiale Substrat des Sozialen, näherhin aber auf dessen >Stoffwechsel< im Austausch mit dem Ensemble sozialer
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Zeichen und Werte richten. Ein zweiter prägender kultureller Code ist derjenige der Dekadenz, des Verfalls der Werte und der normsetzenden Grenzen. Er offenbart sich in den vielfältigen Zeremonien einer Förmlichkeits- und Distinktionskultur, in der es um fortschreitende Verfeinerung des Geschmacks geht, um die Ausdifferenzierung des Aparten aus der ungeschriebenen Norm bis zum Verschwinden jeder signifikanten Differenz, zuletzt aber um das lähmende Gefühl einer Todesverfallenheit, sich ausprägend im Gesichtsverlust des Einzelnen, der »dieser Zeitlichkeit müde« geworden ist, des Verlöschens seiner Physiognomie. Ein Drittes in Fontanes Diagnose einer Zwiespältigkeit der zeitgenössischen Kultur ist dann seine Prätention einer altadligen Gesprächskultur, die auf das Wort und seine gesellschaft-bildende Kraft setzt - die Erkundung einer Konstruktion des Realen aus dem lebendigen Dialog, seiner Authentifizierung aus der gesprochenen, ständisch verantworteten Rede, die eine bildungsgesättigte symbolische Ordnung als Garantin des Sozialen erweist. Und ein letztes Problemfeld sodann, an dem sich Fontanes erzählerischer Realismus abarbeitet: die Beobachtung einer fortgesetzten Subversion der herrschenden symbolischen Ordnung, die eine soziale Wertewelt noch aufrechterhält, durch eine Zitierkultur, in der die >gute Gesellschaft sich nur noch als Zirkulationsraum des Unverbindlichen zu begreifen vermag, durch eine Imprägnierung des kulturellen Ganzen durch mannigfache Mesalliancen, durch eine Herrschaft der Kopien, der geflügelten Worte und der trügerischen Simulakren. Es mag kein Zufall sein, daß Fontane dieses tiefere Wissen gerade Innstetten, dem Gatten Effis und repräsentativen Konservativen, >unterschiebtSchwermutmythische< Welt versetzen, die mit der >wirklichen< der Mittelstrophen kontrastiert wird? 23 Welchen Mächten gilt dann der Heldenkampf? Bereits Martini hat den »archaischen Schauer des Verhängnishaft-Numinosen« in der Brück' am Tay auf Fontanes Rezeption der »nordisch-englisch-schottischen Tradition« zurückgeführt. 24 Inwiefern wird das Rezipierte also stillschweigend angeeignet? Man kann in den Rahmenstrophen die Stimmen zwar als personifizierte »Naturgeister«25 begreifen. Trotzdem erschöpft der Nachweis eines altschottischen »Reimworts« 26 als Quelle dafür sowenig wie der einer Macbeth-Anleihe die Funktion dieser Stimmen. Nicht nur der Schauplatz hat die Anlehnung an Macbeth fast von selbst eingegeben; die Besprechung einer Neuinszenierung dieses Dramas, das Fontane als »die Höhe dramatischer Kunst« schätzte, 27 am 20. Dezember 1879, eine Woche vor dem Unglück, erklärt gewiß die rasche Entstehung der Ballade. Besonders die Hexenszenen sollten »die K r a f t haben, uns auf einen Ruck aus dem Alltagsleben in die Groß weit des Schreckens zu versetzen«, wie er am 16. November 1875 anläßlich einer Inszenierung bemerkte: »Das Ganze soll wie ein Akkord im Winde sein, ein Heidespuk, eine Vision, ein Kommen und Gehen. In demselben Augenblick, in dem man sich der Erscheinung bewußt wird, schwindet sie auch wieder.« 28 Bleibt aber die Stimmungserzeugung der Ballade allzu >kostümfreudig