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German Pages 292 [289] Year 2014
Malda Denana Ästhetik des Tanzes
TanzScripte hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 33
Malda Denana (Dr. phil.), Philosophin, Tanzwissenschaftlerin und -pädagogin, Choreographin und Dramaturgin, forscht zu Körper und Bewegung, erhielt tanzwissenschaftliche Lehraufträge und unterrichtet an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Ballett und Modern Dance.
Malda Denana
Ästhetik des Tanzes Zur Anthropologie des tanzenden Körpers
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Inhalt Einleitung | 7 Vorspann Heinrich von Kleists Marionettentheater und das Paradox vollkommener Körperbewegung | 19 I
Der Tanz und die Künstlichkeit des Menschen – Anthropologische Fundierung 1. Einführende Gedanken | 41 2. Die choreographische Version des Sündenfalls im Marionettentheater und Bewegung als sich selbst präsente „gebrochene Ursprünglichkeit“ | 49 3. Tänzerische Verkörperung und die Verschränkung der Leiblichkeit in den Körper | 54 4. Der Körper als Werkzeug im Tanz – Natürliche Künstlichkeit, vermittelte Unmittelbarkeit und utopischer Standort | 60
Tanzpraktischer Exkurs 1 Das Allegro aus dem 2. Akt aus S CHWANENSEE von Lew Iwanow/ Marius Petipa (UA 1877), I/II/III/IIII von Kris Verdonck (UA 2007) und (N.N.N.N.) von William Forsythe (UA 2002) | 69 II Zur exponierten menschlichen Bewegungskompetenz 1. Einleitende Überlegungen | 89 2. Auge, Hand und Bewegung – Gehlens Konzeption der menschlichen Wahrnehmung | 91 3 . Bewegungsphantasie und Spiel im Tanz | 100
Tanzpraktischer Exkurs 2 SELF UNFINISHED von Xavier Le Roy (UA 1998) | 110 III Tanz im Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung 1. Vorüberlegung: Thematische Zusammenführung von Kapitel 1 und 2 | 117 2. Exzentrizität und Expressivität | 122 3. Cassirers Theorie der Kunst und seine Untersuchungen zu Ausdruck, Darstellung und Bedeutung | 139 4. Anthropologie des Schauspielers und Anthropologie des Tänzers – Überlegungen im Anschluss an Plessner und Diderot | 159 Tanzpraktischer Exkurs 3 DARK MATTERS von Kidd Pivot Frankfurt RM (UA 2009) | 190 IV „…wechselseitiges Beben der Potenz im Akt und des Aktes in der Potenz“ – Tanz als Geste, Pathosformel und Symptom 1. Vorüberlegung – „Durchgangspunkte“ | 217 2. Tanz als Geste – Giorgio Agambens Noten zur Geste | 220 3. Tanz als Pathosformel und Symptom – Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Sigmund Freuds Psychopathologie des Alltagslebens | 225 4. Feuer-Tanz, Ekstase und Metamorphose – Paul Valérys L’âme et la danse | 234 Tanzpraktischer Exkurs 4 CAFÉ MÜLLER von Pina Bausch (UA 1978) und APOLLON von George Balanchine (UA 1928) | 252 Anhang Literaturverzeichnis | 271 Internetquellen | 288 Abbildungsverzeichnis | 289
Einleitung
In den letzten Jahren haben Tanztheorie und -praxis sehr an gesellschaftlicher Anerkennung gewonnen. Mit dem Tanzplan Deutschland hat die Kulturstiftung des Bundes zwischen 2005 und 2010 ein Förderprojekt entwickelt, welches Tanzschaffenden und Tanzforschern mit beachtlichen finanziellen Mitteln nicht nur vielgefächerte und anregende Aufführungsmöglichkeiten und Diskussionsforen eröffnet, sondern den Tanz hierzulande auch kulturpolitisch aufgewertet hat. Während man Tanzforschung vor einiger Zeit noch hauptsächlich mit Tanzgeschichte gleichgesetzt hat, etablieren sich Tanzwissenschaft und Performance Studies als universitäre Disziplinen. Auch die drei großen Tanzarchive in Köln, Leipzig und Bremen werden neu bestimmt, um ein breitgefächertes Gedächtnis für historische und aktuelle Tanzströmungen zu ermöglichen. Tanz taucht in unterschiedlichen Profilen auf, deren Strukturen oftmals, auch das ist ein Fortschritt, aus der künstlerischen Produktion gedacht sind: Ich denke hier an Institutionen und freie Gruppen, aber auch an das Beispiel der Private Partnership wie inzwischen bei der Forsythe Company. Zugleich intensivieren nationale und internationale Tanznetze wie die World Dance Alliance ihren Austausch. In Deutschland mehren sich Tagungen und Kongresse, die den Tanz zum Thema haben. Umso erstaunlicher und bedauerlicher ist es, dass sich Tanz noch nicht als Sujet der Philosophie etabliert hat. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, kommt Tanz in den letzten Jahrzehnten philosophiegeschichtlich so gut wie nicht vor.1 Hier ist vor allem Rudolf zur Lippes Habilitationsschrift 1
Platon setzt den Tanz in seinem Timaios und in den Nomoi noch hoch an. Und Friedrich Nietzsches Vision eines Gottes, der zu tanzen verstünde, in den vier
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Naturbeherrschung am Menschen von 1974 zu nennen, in welcher der französische Absolutismus mit Normierungstendenzen im klassischen Ballett in Verbindung gebracht wird.2 Neben kleineren Arbeiten, vor allem aus dem französischen und englischen Sprachraum,3 hat Bernhard Waldenfels 2010 ein Kapitel seines Buchs Sinne und Künste im Wechselspiel dem Tanz gewidmet.4 Aber man sucht vergeblich nach einer philosophischen Arbeit, die diese Kunstform systematisch untersucht. Ein Grund für die bis dato unzureichende philosophische Würdigung des Tanzes liegt wohl nach wie vor daran, dass sich der Leib nicht von der Feindlichkeit erholt hat, die ihm, propagiert von der Kirche, in der abendländischen Tradition lange Zeit entgegengebracht wurde. Die Rehabilitierung der Sinnlichkeit seit der Aufklärung hat vielleicht deshalb nicht zu einer vermehrten philosophischen Be-
Büchern von Also sprach Zarathustra und in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, reflektiert Tanz emphatisch als Phänomen, in dem sich Lebendigkeit, gesteigerte Bewegungsmöglichkeiten und ein spielerisches Maßhalten verwirklichen. 2
Rudolf zur Lippe 1974, Naturbeherrschung am Menschen II. Geometrisierung des Menschen und Repräsentation des Privaten im französischen Absolutismus, Frankfurt am Main; zu diesem Thema auch Silke Leopold 2007, „Tanz und Macht im Ancien Régime“, in: Gabriele Brandstetter, Christoph Wulf (Hg.), Tanz als Anthropologie, München, S. 159–166
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Vgl. Verena Köhne-Kirsch 1990, Die „schöne Kunst“ des Tanzes. Eine phänomenologische Erörterung einer flüchtigen Kunstart, Frankfurt am Main/Bern/ New York/Paris. Marie Bardet 2011, Penser et mouvoir: une rencontre entre danse et philosophie, Paris. Véronique Fabbri 2007, Danse et philosophie: une pensée en construction, Paris. Der Kognitionswissenschaftler und Philosoph Alva Noë forschte in seiner Funktion als sogenannter „philosopher-in-residence“ der Forsythe Company über Tanz und Wahrnehmung. Vgl. ders. 2004, Action in perception, Cambridge, Massachusetts. Außerdem ist noch Richard Shusterman zu nennen, der sich von einer pragmatistischen Ästhetik aus mit Tanz und anderen Künsten beschäftigt: ders. 1992, Pragmatist Aesthetics: Living beauty, Rethinking Art, Oxford.
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Bernhard Waldenfels 2010, Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main
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schäftigung mit dem Tanz führen können, weil keine einschlägigen Vorarbeiten existierten, auf die sich Denker hätten beziehen können.5 Diese Studie versucht diesem Versäumnis beizukommen. Es handelt sich um eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation Mensch, Marionette, Maschine – Eine Studie zur anthropologischen Tanzästhetik, die ich im Februar 2013 am Fachbereich Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt eingereicht habe. Wenn ich von Tanz spreche, meine ich die in Europa entstandene und heutzutage überall auf der Welt zu sehende, unter ästhetischen Gesichtspunkten rezipierte Ausführung dieser Kunstgattung. In Abgrenzung von gesellschaftlichen und rituellen Tänzen werden künstlerische Tanzphänomene untersucht, die man auch als „Bühnentanz“ bezeichnen könnte (die aber heutzutage nicht mehr nur auf „Bühnen“ im engeren Sinne aufgeführt werden): klassisches und neoklassisches Ballett, Forsythe Technologies, moderner oder zeitgenössischer Tanz, Ausdruckstanz, freier Tanz, Tanztheater. In der anthropologisch-ästhetischen Beschäftigung mit dem Tanz zeigt sich, dass Tanz sich auf eine besondere Weise anderen Künsten annähern bzw. mit ihnen in einer engen Beziehung stehen kann. Mit der Musik etwa teilt der Tanz, dass er rhythmisch gestaltet ist; mit dem Film verbindet ihn eine durch Bewegung erzeugte Raumerfahrung, auch wenn
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Bei der Lektüre von Immanuel Kants kurzem Text „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ von 1786 könnte man sich durchaus vorstellen, dass Kant diesen als Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit dem Tanz hätte nutzen können. Er beschreibt das menschliche Gehen als ein Vermögen, das bereits im Fallen begriffen ist, „am Rande eines Abgrundes“. Das Gehen ist ein Fortschritt, der den Menschen gleichzeitig anfällig für Gleichgewichtsstörungen macht, denn er verlässt die Instinkthaftigkeit und sieht sich mit einem unendlichen Streben konfrontiert: „Denn aus einzelnen Gegenständen seiner Begierde, die ihm bisher der Instinkt angewiesen hatte, war ihm eine Unendlichkeit derselben eröffnet, in deren Wahl er sich noch gar nicht zu finden wusste; und aus diesem einmal gekosteten Stande der Freiheit war es ihm gleichwohl jetzt unmöglich, in den der Dienstbarkeit (unter der Herrschaft des Instinkts) wieder zurück zu kehren.“ Vgl. Immanuel Kant 1964, „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt, S. 85–102; hier S. 89
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diese im Film durch das Bild vorgegeben und stärker geführt ist als bei Tanzbewegungen.6 Als ich mit der Recherche für meine Dissertation begann, war die anthropologische Beschäftigung mit dem Tanz wissenschaftliches Neuland. In Anbetracht dessen sind zwei Veranstaltungen wertschätzend hervorzuheben, in denen das Desiderat einer Tanzanthropologie erkannt und diese zum übergreifenden Thema gemacht wurde. Im Dezember 2005 fand, initiiert und organisiert von Gabriele Brandstetter und Christoph Wulf, in der Akademie der Künste Berlin eine internationale Tagung zum Thema „Tanz als Anthropologie“ statt, in der zweierlei untersucht wurde: Zum einen ging es um Tanz als Bewegungsform, die selbst anthropologisches Wissen einschließt, also um ein in Raum und Zeit gestaltetes Körperwissen, das sich in künstlerischen, gesellschaftlichen oder rituellen Tänzen bemerkbar macht und einen je spezifischen Weltzugang eröffnet. Zum anderen, und thematisch relevanter für mein Forschungsvorhaben, wurde von Tanz als „Gegenstand“ der Anthropologie gesprochen, davon, dass in Körperbewegungen ein menschliches Selbstverständnis ästhetisch repräsentiert und vermittelt wird, in dem der Mensch als Interpret und Gestalter seiner Welt auftritt. Auf der Tagung wie auch im Tagungsband wurde keine strenge Unterscheidung zwischen rituellen, gesellschaftlichen und künstlerischen Tanzformen gemacht. Das schlug sich, wie ich mit Bedauern für meine Thematik feststellen musste, erstens dahingehend aus, dass die Sonderstellung einer künstlerischen Befähigung des Menschen zur Bewegungsgestaltung und die Sinnverdichtung in der konkreten Tanzbewegung nur in wenigen Beiträgen beleuchtet wurden, etwa in dem Aufsatz Gerald Siegmunds über „Bewegung als Wiederherstellungsversuch. Hinter dem Spiegel: Tod, Tanz, Trieb“7. Hier greift er sein Konzept der mit Bewegung verbundenen „Ab-
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Dazu vor allem Martin Seel 2008, „Bewegtsein und Bewegung. Elemente einer Anthropologie des Films“, in: Neue Rundschau, Jg. 119, H. 4, S. 129–145; hier vor allem S. 133f. und 142
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Vgl. Gerald Siegmund 2007, „Bewegung als Wiederherstellungsversuch. Hinter dem Spiegel: Tod, Tanz, Trieb“, in: Gabriele Brandstetter, Christoph Wulf (Hg.), Tanz als Anthropologie, München, S. 260–276
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wesenheit“ auf, das er in seiner Habilitationsschrift8 ausgearbeitet hat, und erklärt, dass er diese durchaus als „anthropologische Dimension des Tanzes“9 versteht. Siegmund beschreibt jedes Tanzstück als „Wiederherstellungsversuch“ eines Abwesenden, als Sprung heraus aus der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit in das Leben.10 Auch Christoph Wulf ist an dieser Stelle zu nennen, der in seinem Tagungsbeitrag „Anthropologische Dimensionen des Tanzes“11 an die philosophische Anthropologie anknüpfen kann, wenn auch eher der Aspekt der Interkulturalität bei ihm im Zentrum steht. Er beschreibt, wie durch „mimetisches Lernen“, durch Tanzpraxis und Tanzwahrnehmung, ein „Körperwissen“ erworben wird, das für die „Performanz“ notwendig ist. Die „Dynamik von Tänzen“ dränge „gleichzeitig auf Wiederholung und Differenz“ und bewirke dadurch immer neue Inszenierungen.12 Zweitens zeigte sich in den Vorträgen und Aufsätzen der Tagungsgäste ein eher kulturanthropologischer Ansatz. Beispielhaft möchte ich Renate Schlesier nennen, die in ihrem Aufsatz „Kulturelle Artefakte in Bewegung. Zur Geschichte der Anthropologie des Tanzes“ einen explizit ethnologi-
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Gerald Siegmund 2006, Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes; William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart (TanzScripte 3), Bielefeld
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Siegmund 2007, S. 268
10 „Tanz und damit die Bewegung sind aus dieser anthropologischen Perspektive heraus betrachtet kein Ausdruck des vollen Lebens oder der ungezügelten Lebensfreude. Sie markieren vielmehr einen qualitativen Sprung des Subjekts aus der Abwesenheit und dem Tod heraus ins Leben. Sie springen ins Leben hinein und wiederholen doch mit jeder Bewegung den drohenden Verlust des Subjekts. […] Tanz und Bewegung markieren […] die Höhlung des Todes im Leben. Die Bewegung sucht Anschluss im Leben, obwohl sie dem Tod abgetrotzt und ihm aufgrund ihrer Vergänglichkeit geweiht ist.“ Ebd., S. 271 11 Vgl. Christoph Wulf 2007, „Anthropologische Dimensionen des Tanzes“, in: Gabriele Brandstetter, ders. (Hg.), Tanz als Anthropologie, München, S. 121– 131 12 „Solche Prozesse der Nachahmung zielen nicht darauf, die tänzerischen Vorbilder einfach zu kopieren; Ziel ist es vielmehr, in einem Prozess kreativer Nachahmung, der Raum für die individuelle Gestaltung des Tanzes lässt, wie die tänzerischen Vorbilder zu werden.“ Alles ebd., S. 123f.
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schen Ansatz vertritt und einen interessanten Überblick über die Geschichte und Perspektiven einer Kulturanthropologie des Tanzes gibt.13 Auch in den Beiträgen von Rolf Elberfeld, Helen Thomas und Kathrin Audehm werden Forschungsfragen aus ethnologischer Perspektive gestellt. Die Unterscheidung zwischen Kultur- und philosophischer Anthropologie ist so substantiell, dass ich mir für die Tagung eine klarere Unterscheidung und eventuelle Schwerpunktsetzung gewünscht hätte. Die Kulturanthropologie hat eine eigene Methodik, und das muss herausgestellt werden. Drid Williams z.B., eine der bekanntesten zeitgenössischen Tanzethnologinnen und Begründerin der „semasiologischen“, auf einer Semiotik menschlicher Handlung beruhenden, Tanzforschung, untersucht Tanz in einem soziokulturellen und linguistischen Kontext, der an die Sprechakt-Theorie angelehnt ist.14 Ihre Erkenntnisse, obgleich sie in einschlägigen Kontexten intensiv rezipiert werden, können im Rahmen der hier vorliegenden Themenstellung nicht nutzbar gemacht werden. Zurück zu den erwähnten Tagungsbeiträgen: Dort stand auch nicht der künstlerische Tanz im Mittelpunkt, der aber, das ist der Ansatz meiner Studie, als selbstbezügliche Ausdrucks- und Darstellungspraxis anthropologisch besonders bedeutsam ist, weil anthropologische Grundstrukturen sichtbar gemacht und intensiviert werden. Einige Beiträge des Sammelbandes Tanz als Anthropologie konnten gleichwohl dieser Studie als Anregung dienen und werden an einschlägigen Stellen angeführt, um philosophische und tanzwissenschaftliche Erkenntnisse nebeneinander zu stellen. Die Anthropologie des Tanzes wurde desweiteren im interdisziplinären Symposion „tanz!forum“ mit dem Titel „Der getanzte Raum“ zum Thema. „In dieser Perspektive“, so schreiben die Organisatoren Eckart Liebau und Leopold Klepacki, „rückt nicht der Tanz in seiner historischen und ästhetischen Vielschichtigkeit, sondern das Tanzen als aus dem Alltag herausgehobene, ästhetische Dimension der Selbst-Bewegung ins Zentrum des Inte-
13 Renate Schlesier 2007, „Kulturelle Artefakte in Bewegung. Zur Geschichte der Anthropologie des Tanzes“, in: Gabriele Brandstetter, Christoph Wulf (Hg.), Tanz als Anthropologie, München, S. 132–145 14 Vgl. vor allem ihre Dissertation, Drid Williams 1975, The Role of Movement in Selected Symbolic Systems, Dissertation, Oxford, sowie Drid Williams 2004, Anthropology and the Dance. Ten Lectures, Urbana/Chicago
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resses.“15 So ist das erklärte Ziel des Forschungsbandes die „anthropologische[…] Fundierung des menschlichen Bewegungsphänomens ‚Tanzen‘“16. Obwohl einige Erkenntnisse des Symposions durchaus einschlägig sind und an thematisch entsprechenden Stellen dieses Buches angeführt werden, muss man allgemein dennoch sagen, dass der Sammelband Tanzwelten ausdrücklich an Tanzpädagogen und Tänzer gerichtet ist und die anthropologische Fragestellung eigentlich vor einem pädagogischen Hintergrund verfolgt. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Auswahl der meisten AutorInnen und darin, dass der Sammelband im Rahmen der Erlanger Beiträge zur Pädagogik erschienen ist (Band 6; herausgegeben von Michael Göhlich und Eckart Liebau). Die beiden genannten Veranstaltungen, die wirklich mit ihrem anthropologischen Interesse aus den anderen Tanztagungen der letzten Jahre herausstachen, können leider dennoch dem Anspruch nicht beikommen, eine anthropologische Ästhetik des Tanzes zu etablieren. Dies habe ich mir mit diesem Buch vorgenommen und hoffe, dadurch viele auch fächerübergreifende Diskussionen anzuregen. Methodisch berührt meine Studie insofern die Phänomenologie, als dass sie vom sinnlichen Tanzerlebnis ausgeht und dessen Anschauung und Beschreibung in den Fokus nimmt. Wenn ich von Tanz spreche, meine ich die ästhetische Erfahrung von Tanzphänomenen, die Tanzende und Rezipierende stets auf ihre phänomenale Leiblichkeit verweist. Ein positivistischer Ansatz würde diesen (wie jeden) ästhetischen Gegenstand verfehlen, denn die tänzerische Artikulation folgt keiner rationalistischen Logik und hat eine eigene Art von Logizität und Stimmigkeit. Auch semiotisch oder strukturalistisch ist dem Tanzästhetischen nicht beizukommen, da sich in der potentiell unendlichen Bedeutungsoffenheit eine grundlegende Eigenschaft der Kunst ausdrückt. Mein Zugang ist fernerhin an die Hermeneutik angelehnt, da ich von einer Interpretationsbedürftigkeit meines Gegenstands ausgehe. Es handelt sich beim Tanz um Sinnzusammenhänge, in de-
15 Nachzulesen in Eckart Liebau, Leopold Klepacki 2008a, „Tanzen. Eine Einleitung“, in: dies. (Hg.), Tanzwelten. Zur Anthropologie des Tanzens, Münster, S. 7f.; hier S. 7 16 „Körper und Leib, Raum und Zeit, Erfahrung und Gestaltung, Weltverstehen und Selbstbefremdung, Erinnerung und Antizipation, Manifestation und Flüchtigkeit sowie Alltag und Kunst können dabei schließlich als Pole der Betrachtungen verstanden werden.“ Alles ebd.
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nen Ausdrucksgestalten gedeutet werden, die immer in ein umfassenderes symbolisches kulturelles Geschehen eingefasst sind, vor dessen Hintergrund sie verstanden werden. Ich begreife Verstehensprozesse im Tanz wie in jeder anderen Kunst als Niederschläge einer für den Menschen spezifischen lebensweltlichen Zugangsweise zur Wirklichkeit. In der Sinnerfahrung durchdringen sich der Erkenntnisgegenstand in seiner spezifischen Gestalt und das immer schon vorgreifende Verstehen gegenseitig. Der anthropologisch-ästhetische Ansatz dieser Studie beschreibt eine freie Beweglichkeit im Tanz, Bewegungen, die um ihrer selbst willen vollzogen werden, die sich über jede Zweckmäßigkeit erheben und als solche in Szene gesetzt sind. In den Sommersemestern 2009 und 2010 leitete ich an der GoetheUniversität am Fachbereich Theater-, Film- und Medienwissenschaft ein zweisemestriges Seminar zum Thema „Mensch, Marionette, Maschine – Zur Technik des klassischen und zeitgenössischen Tanzes“, das sich mit den Grundideen der vorliegenden Arbeit beschäftigte. In der Veranstaltung forschten wir, in einer intensiven Verbindung von Tanztheorie und Tanzpraxis,17 systematisch an der philosophisch-anthropologischen Frage, welche Implikationen das Streben nach einer vollkommenen Bewegung für das Körperverständnis von Tanzenden und Rezipierenden hatte und hat, und ob unsere gemeinsamen Erkenntnisse systematische anthropologisch-ästhetische Antworten zur Tanzkunst erlauben. Gleichzeitig verfolgten wir einen historischen Ansatz und betrachteten Tanzphänomene unter Berücksichtigung ihrer zeitgeschichtlichen Bedeutung, d.h. vor dem Hintergrund ihrer zeitgenössischen Geistes- und Kunstgeschichte. Das Seminar umfasste die Zeit von den Anfängen des Bühnentanzes (klassisches Ballett) in Frankreich und Italien bis zu heutigen Tanzströmungen (in der Tradition der Neoklassik, des Modern Dance, des Ausdruckstanzes und des Tanztheaters). Wir sichteten und analysierten Tanzstücke verschiedener Epochen
17 Neben der Lektüre von Tanztraktaten und einschlägigen ästhetischen Texten, lag im Seminar ebenfalls ein Schwerpunkt auf Hospitationen in klassischem und zeitgenössischem Tanz in der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt sowie auf dem gemeinsamen Besuch von Tanzperformances. Für die Studierenden bestand zusätzlich die Möglichkeit, durch den Besuch meiner klassischen und zeitgenössischen Tanzklassen in der Goethe-Universität theoretisch erlernte Tanzkonzepte körperlich zu erfahren.
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und Stile unter der Fragestellung, ob der Tänzer hier möglichst einen natürlichen Ausdruck anstreben (Jean-Georges Noverre) oder seinen Körper zu einer beherrschbaren Maschine machen soll, die möglichst exakt ein normiertes Tanzvokabular auszuführen hat (Carlo Blasis). Was passiert, wenn, wie in Heinrich von Kleists Erzählung „Über das Marionettentheater”, die Tänzergrazie zu einer nichtmenschlichen Qualität wird und die Marionette, im Ausdruck vollkommen berechenbar, den Menschen an Virtuosität weit übertrifft? Wie verfügbar ist der menschliche Körper? Als Stipendiatin des Sommertanzlabors 2008 im Mousonturm Frankfurt hatte ich die Gelegenheit, zu demselben Themenkomplex ein tänzerisches Bewegungsexperiment namens MOVING MATERIAL zu entwickeln und als Choreographin und Tänzerin (in einem Duett mit Rebecca Marcos Nikolaus) zu präsentieren, aus dem ein Jahr später meine Choreographie für das Tanztheatestück PARADEISER als Koproduktion der Künstlergruppe DNS (Malda Denana/Kai Niggemann/Ruth Schultz) hervorging, das am 9. Oktober 2009 in Münster im Theater im Pumpenhaus Premiere hatte und 2010 zum TanzArt Festival in Gießen eingeladen wurde. Die vorliegende Dissertation ist ein Ausdruck der vielfältigen Beschäftigung mit dem Thema „Anthropologie des Tanzes“, das mich jahrelang in vielen Lebensbereichen begleitet hat und sicherlich auch weiterhin in meiner theoretischen und praktischen Beschäftigung mit Körperlichkeit und Bewegung begleiten wird. An dieser Stelle seien mir einige Hinweise zur Lektüre dieser Arbeit gestattet. Ich empfehle zumindest für den theoretischen Hauptteil, den Text in der vorgegebenen Reihenfolge zu lesen, da die Erkenntnisse aufeinander aufbauen. Kapitel 1 und 2 fundieren Tanz als Gegenstand einer anthropologischen Ästhetik und beantworten die Frage, was es für ein körperleiblich verfasstes und phantasiebegabtes Lebewesen bedeutet, sich in einem Zusammenspiel von Rezeptivität und Produktivität im Tanz selbst zu erfahren und Bewegungen zu gestalten. Kapitel 3 und 4 befassen sich mit der tänzerischen Bewegung selbst, die in einem ersten Schritt in einem Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung situiert und in einem zweiten als Geste, Pathosformel und Symptom charakterisiert wird. An die theoretischen Ausführungen in den Kapiteln 1 bis 4 schließt sich jeweils ein tanzpraktischer Exkurs an, in dem die anthropologisch-ästhetischen Thesen anhand von Beispielen aus der Tanzgeschichte veranschaulicht werden – Aufführungen, in denen sich auf jeweils einzigartige Weise
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Welt- und Selbstauslegungen körperleiblich anschaulich machen. Dies stellt ein Angebot an die Leserin und den Leser dar, die Thesen auf ihre Aussagekraft für die Tanzpraxis hin zu erkunden, und gewährt gleichzeitig einen Einblick in das Selbstverständnis dieser Kunstform. Gewählt wurden überwiegend Stücke, denen auch tanzhistorisch ein bedeutsamer Platz eingeräumt wird. Damit verbindet sich meine Hoffnung, dass die eine oder andere Choreographie den Leserinnen und Lesern in einem anderen Zusammenhang wieder begegnet und die Reflexion darüber wiederbelebt. In diesem Zusammenhang möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass die sprachliche Beschreibung der Tanzstücke philosophisch lediglich einen Kompromiss darstellen kann, ein Hilfsmittel ist, das die je eigene Rezeption durch meine Leser bei der körperlichen Anwesenheit von Tanzenden und Zuschauern in einer gemeinsam erlebten Aufführungssituation nicht ersetzen kann. Ich hatte das Glück, bei Vorstellungen fast aller hier besprochenen Stücke gewesen zu sein. Die Beschreibung der Choreographien, wie sie in den tanzpraktischen Exkursen vorgenommen werden, entspricht methodisch den Inszenierungsanalysen, wie sie in der Tanz- und Theaterwissenschaft üblich sind und sich bewährt haben.18 Dieser Notbehelf macht sich zunutze, dass die Verstehensbewegung in der Sprache dem Tanz ähnlich verfährt, indem man in beiden Fällen unwillkürlich Sinnbahnen folgt und Anstrengungen nachgeht, den Gegenstand auf Sinn hin zu befragen. Auf Einsichten Wilhelm von Humboldts rekurrierend kann man sagen, das Verstehen in der Sprache ist immer schon über die einzelnen Worte hinaus. Ebenso ist es für einzelne visuell aufgenommene Bewegungsmomente im Tanz, die sprachlich nur atomistisch, aber nicht kontextuell dargestellt wer-
18 Auch in der Tanzwissenschaft ist man sich der Problematik einer Übersetzung von sinnlich wahrgenommener Bewegung in Sprache bewusst, wie Brandstetter eindringlich herausstellt. Gleichwohl versteht sie den Versuch als lohnendes und erkenntnisbringendes Unterfangen: „Eine Sprache für die Erfahrung und die Wahrnehmung finden – dies ist eine Herausforderung, die nie gelingen kann. Dennoch lohnt es sich, sie anzunehmen, denn es ist die einzige Möglichkeit, die unterschiedlichen Erfahrungen und Wissensformen zum Ausdruck zu bringen und sie in ein Verhältnis zu setzen, das die Spannungen, Widersprüche, die Lücken und die Grenzen sichtbar werden lässt.“ Vgl. Gabriele Brandstetter 2007a, „Tanz als Szeno-Graphie des Wissens“, in: dies., Christoph Wulf (Hg.), Tanz als Anthropologie, München, S. 84–99; hier S. 91
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den können. Die Sprache stützt unser Verstehen insofern, als dass jeder sinnvollen Gestaltung immer schon vorgegriffen ist: Wenn wir einen Satz hören, spielen Antizipationen, Erwartungen an das, was folgt, sowie Erinnerungen an und Erfahrungen mit dem, was schon war, eine große Rolle. Wir sind entsprechend auch der tänzerischen Wahrnehmungssituation vorgreifend voraus und stützen uns in der Rezeption auf Bekanntes, auf Tanzformen, die wir schon gesehen haben. Insofern ist der Tanz – das teilt er mit allen performativen Künsten und der Sprache – „energeia“, ein organisches System, das erst in seinem Vollzug wirklich wird und ein dynamisches Körperwissen vermittelt. Ich wünsche mir für die Zukunft einen regeren Austausch zwischen der philosophischen Ästhetik und der Tanzwissenschaft, denn neben den interessanten Impulsen aus und Einblicken in die benachbarte Disziplin zeigt sich auch, dass hinter abweichenden Begrifflichkeiten oftmals eine ähnliche Fragestellung zu finden ist. Das gilt ebenso für Selbstanalysen zeitgenössischer und historisch relevanter Tanzschaffender wie Jean-George Noverre, Carlo Blasis, Pina Bausch, George Balanchine, Xavier Le Roy und Crystal Pite, die in dieser anthropologischen Tanzästhetik zu finden sind. Ich würde mir wünschen, einen Beitrag dazu geleistet zu haben, den Tanz, diese viel zu lange vernachlässigte Kunstform, als lohnenden Erkenntnisgegenstand der philosophischen Ästhetik zu etablieren. Danken möchte ich meinen Doktoreltern Prof. Dr. Brigitte Scheer und Prof. Dr. Josef Früchtl für die fachliche Betreuung, der DFG für die Förderung als Stipendiatin des Graduiertenkollegs Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung, meiner Familie und meinen Freunden für ihre liebevolle und verlässliche Unterstützung und den Menschen, die mich in Wissenschaft, Kunst und im Leben inspirieren. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Frankfurt am Main, April 2014
Malda Denana
Vorspann Heinrich von Kleists Marionettentheater und das Paradox vollkommener Körperbewegung
Ein „Gesetz der Bewegung“ Heinrich von Kleist schreibt 1798 in seinem „Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, und ungestört, auch unter den größten Drangsalen des Lebens, ihn zu genießen!“ an seinen Freund Otto August Rühle von Lilienstern: „Und alle Jünglinge, die wir um und neben uns sehen, teilen ja mit uns dieses Schicksal. Alle ihre Schritte und Bewegungen scheinen nur die Wirkung eines unfühlbaren aber gewaltigen Stoßes zu sein, der sie unwiderstehlich mit sich fortreißt. Sie erscheinen mir wie Kometen, die in regellosen Kreisen das Weltall durchschweifen, bis sie endlich eine Bahn und ein Gesetz der Bewegung finden.“1
Kleist charakterisiert das von ihm beschriebene „Gesetz der Bewegung“ an derselben Stelle als „Beschwörungsformel“. Mit dieser Bezeichnung gibt er seinem Gefühl der Getriebenheit und seiner Sehnsucht nach Richtung Ausdruck, ohne zu postulieren, es könne ein allgemeingültiges und kohärentes, quasi mathematisches Gesetz der Bewegung geben, das sich theoretisch 1
Heinrich von Kleist 1962, „Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, und ungestört, auch unter den größten Drangsalen des Lebens, ihn zu genießen!“, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Band II, Helmut Sembdner (Hg.), zweite Auflage, Darmstadt, S. 301–315; hier S. 309
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ergründen ließe. Die Idee eines welterklärenden Bewegungsgesetzes bestimmt Kleists Denken von Beginn seiner Studien an.2 An der Schwelle zum 19. Jahrhundert befassen sich unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen wie Psychologie, Medizin und Physik verstärkt mit dem Körper. Er erhält nun als ein „in vielerlei Hinsicht bewegter, in Bewegung gedachter Gegenstand der Forschung“ eine neue kulturelle Bedeutung.3 Auch die Tanztheorie steht stark unter dem Einfluss dieses Körperdiskurses und wirkt ihrerseits auf diesen zurück. Der Tanzmeister Carlo Blasis veröffentlicht 1820 in Mailand die „Traité“ der Tanzkunst4 und fasst damit und mit seinem 1828 erscheinenden „The Code of Terpsichore“5 das klassische Tanzvokabular und die Technik des klassischen Balletts in einem bis in die heutige Zeit gültigen Codex zusammen. Blasis beschreibt den menschlichen Körper als Maschine, die tanztechnische Prinzipien umsetzen und dadurch tänzerische Bewegungen fehlerlos meistern könne.6 Sein Ansatz wird gemeinhin mit dem Tanzverständnis des Tanztheoretikers und -praktikers Jean-Georges Noverre kontrastiert. Noverre
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Vgl. vor allem Roger W. Müller-Farguell 1995, Tanz-Figuren: Zur metaphorischen Konstitution von Bewegung in Texten: Schiller, Kleist, Heine, Nietzsche, München, S. 121 und Waltraud Maierhofer 1998, „Tanz zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion“, in: Günter Blamberger, Sabine Doering, Klaus MüllerSalget (Hg.), Kleist-Jahrbuch, Stuttgart, S. 308–313; hier S. 310
3
Vgl. Gabriele Brandstetter 2004, „The Code of Terpsichore. Carlo Blasis' Tanztheorie zwischen Arabeske und Mechanik“, in: Gabriele Brandstetter, Gerhard Neumann (Hg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg, S. 49−71; hier S. 49
4
Carlo Blasis 1820, Traité élémentaire, théorique et pratique de l'art de la Danse contenant les développements, et les démonstrations des principes généraux et particuliers qui doivent guider le danseur; avec le portrait de l'auteur et planches, Mailand
5
Ders. 1828, The Code of Terpsichore: A practical and historical treatise, on the ballet, dancing and pantomime, London
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„I should compose a sort of alphabet of straight lines, comprising all the positions of the limbs in dancing, giving these lines and their respective combinations, their proper geometrical appellations, viz: perpendiculars, horizontals, obliques, right, acute, and obtuse angles, etc., a language which I deem almost indispensable in our lessons“, ebd., S. 96f.
VORSPANN
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kritisiert in seinen Lettres sur la danse, et sur les ballets von 17607 die Tanzregularien der 1661 gegründeten Académie royale de danse. Er lehnt den Schematismus der Arm- und Beingestik sowie die strenge Symmetrie und Geometrie des klassischen Balletttanzes im Raum ab und propagiert eine Natürlichkeit der tänzerischen Bewegungen. Kleist reflektiert den regen Körperdiskurs seiner Zeit vor allem nach 18018 in seinen Schriften
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In der deutschen Übersetzung Jean-Georges Noverre 1977, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette (Aus dem Französischen übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing und Johann Joachim Christoph Bode, Hamburg und Bremen 1769; mit einem Nachwort, Werk- und Schriftenverzeichnis und Bibliographie), Kurt Petermann (Hg.), (Reprint: Documenta Choreologica), München
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Das Jahr 1801 ist für Kleist in vielerlei Hinsicht einschneidend, so dass es nicht verwundert, dass er den Dialog, der im Marionettentheater nacherzählt wird, in dieses Jahr verlegt. Neben der Auflösung seiner Verlobung mit Wilhelmine von Zenge, ist es auch das Jahr von Kleists sogenannter „Kant-Krise“. Kleist, der seinen Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff durch Kants kritischen Idealismus existenziell in Frage gestellt fühlt, radikalisiert die Kantische Philosophie in einen Subjektivismus. So schreibt Kleist am 22. März 1801 an Wilhelmine von Zenge: „Vor kurzem ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt und Dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. […] Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich – Ach, Wilhelmine, wenn die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr –“. Vgl. Heinrich von Kleist an Wilhelmine, 22.3.1801, in: ders. 1996, Sämtliche Werke (Brandenburger Ausgabe), Roland Reuß, Peter Staenge (Hg.), Band IV.1: Briefe I. März 1793–April 1801, Basel/Frankfurt am Main, S. 502–509; hier S. 505
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nicht nur thematisch, sondern auch sprachlich: Er verleiht seinen Texten eine besondere physische, ja gestische Qualität. Der Körper beinhaltet in seiner Mehrdeutigkeit für ihn eine „Unwiderlegbarkeit“, die sich einem streng diskursiven Denken nicht erschließt.9 Kleists Marionettentheater von 1810 ist ein Leitmotiv dieser Arbeit und wird hier als Bewegungsstudie und Choreographie gelesen. Kleist nimmt mit dieser Schrift Bezug auf den Umbruch in der Tanzästhetik seiner Zeit, die immer mehr von der Manipulierbarkeit und Beherrschbarkeit des Körpers ausgeht und von Tanzélèven erwartet, ihre Körper fest definierten Regularien zu unterwerfen. Die Erzählung stellt die Frage nach der Grazie der Körperbewegung, indem die klassische Tanztechnik und Körperdisziplinierung hinterfragt und die Vermitteltheit des körperlichen Selbstverständnisses offenbart wird. Dafür verlegt Kleist die Diskussion über den Körper gewissermaßen in den Körper10 und führt dem Leser vor, getreu der Maxime Max Horkheimers und Theodor Wiesengrund Adornos, nur die Übertreibung sei wahr,11 welche Ideologie das Körperverständnis seiner Zeit unausgesprochen verfolgt. Die Idee der Perfektibilität der Bewegung spiegelt sich bei Kleist in der Frage, ob ein „vollkommener“ Tänzer in einem Menschen, in einer Marionette oder in einer Maschine zu finden ist.
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Dazu auch Lucia Ruprecht 2007, „Entstelltes Ideal. Choreographie und Fehlleistung bei Heinrich von Kleist“, in: Günter Blamberger, Gabriele Brandstetter, Ingo Breuer, Sabine Doering, Klaus Müller-Salget (Hg.), Kleist-Jahrbuch, Stuttgart, S. 46–60; hier S. 53
10 „Die szenische Präsentation des Textes ist eben nicht einfach Medium für ein theoretisches Argument, sondern sie dient der Selbstdarstellung eben des Körpers, ‚über‘ den gesprochen wird. […] Das Gespräch über die Marionetten verkörpert sein Argument in seiner Aktion und als Aktion (verstehbar im Sinne der rhetorischen ‚actio‘); es situiert die Diskussion über den Körper im Körper.“ Vgl. der Literaturwissenschaftler Helmut J. Schneider 1998, „Dekonstruktion des hermeneutischen Körpers. Kleists Aufsatz ‚Über das Marionettentheater‘ und der Diskurs der klassischen Ästhetik“, in: Günter Blamberger, Sabine Doering, Klaus Müller-Salget (Hg.), Kleist-Jahrbuch, Stuttgart, S. 153–175; hier S. 156 11 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno 1981, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 3, Frankfurt am Main, S. 139
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Welchen Gesetzmäßigkeiten sollte die tänzerische Geste folgen, um künstlerisch ausdrucksvoll und darstellerisch gekonnt, ja virtuos zu sein? Die Puppe gilt von jeher als Metapher für den Schauspieler. In der Debatte über Körperlichkeit und Materialität der Bühnenkünste rücken Aspekte der Bewegung und des Körperbezugs in den Mittelpunkt und werden anhand der Antithese zwischen Mensch und Kunstfigur diskutiert.12 Auf künstlerische Tanzphänomene bezogen, stellen sich Fragen der Führung und Gestaltung von Bewegungen zum Zwecke der ästhetischen Darstellung in dieser Perspektive anthropologisch, denn der Körper des darstellenden Künstlers ist ihm zugleich als Leib und als Körper gegeben – von innen als Leib, der sich bewegt und dabei ausdrückt, sowie von außen als Körper, als Werkzeug, welches auf eine bestimmte Art und Weise bewegt wird und Bewegungsmaterial zur Darstellung bringt. Neben der offensichtlichen Bedeutung als von außen bewegtes Medium, assoziiert man mit dem Bild des Gliedermanns auch ein Skelett, den menschlichen Knochenbau, der wiederum an den Tod gemahnt. Die Marionette steht bei Kleist für eine „Fragmentierungsangst“, die im Marionettentheater im selben Zuge „abgewehrt“ und „beschworen“ wird.13 In diesem Themenzusammenhang ist in Heinz Kohuts 1977 erschienenem Werk Die Heilung des Selbst eine aufschlussreiche Bewertung von Kleists Schrift aus psychoanalytischer Sicht mit anthropologischem Anspruch zu finden. Kohut schreibt, Kleist befasse sich „mit den Problemen des zerbröckelnden (oder tief gekränkten) Selbst“ und deutet seine Werke als „künstlerische Vorwegnahme der Psychologie des Selbst“.14 Kleist legt in die Figur der Marionette zugleich die Phantasie der Unfehlbarkeit und Schwerelosigkeit und die Vision eines entfremdeten
12 Exemplarisch für eine systematische Untersuchung ist Jochen Kiefer 2004, Die Puppe als Metapher, den Schauspieler zu denken. Zur Ästhetik der theatralen Figur bei Craig, Meyerhold, Schlemmer und Roland Barthes, Berlin, S. 10ff. 13 Vgl. Schneider 1998, S. 162. Er weist darauf hin, dass die Marionette nicht nur den Gegenstand des Dialogs bildet, sondern von diesem auch „hervorgebracht“ wird: „So wie die analytische Diskussion den Körper zergliedert, über den sie spricht, so wird der ‚Gliedermann‘ zur Allegorie sprachlicher Artikulation (deren lateinische Bedeutung eben dies, die Zerlegung der Glieder, besagt: ‚articulus‘, ‚Fingerglied, Gelenk, Abschnitt‘). […]. Das Artefakt der Marionette ist der von der beschreibend-analytischen Sprache getötete und zerlegte Körper“. 14 Vgl. Heinz Kohut 1981, Die Heilung des Selbst, Frankfurt am Main, S. 282
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Körpergefühls, welches aus der Selbstfragmentierung und der damit zusammenhängenden Fragmentierungsangst hervorgeht. Auf der einen Seite offenbart sich in den Bewegungen der Marionette die „Seele des Tänzers“,15 auf der anderen Seite entwirft Kleist eine mechanisch-morbide Welt der hölzernen Glieder und Prothesen. Damit verbindet er Themen wie Normierung und Disziplinierung des Körpers mit den damit verbundenen Ängsten. Die Erzählung folgt einer Spannung zwischen idealisierter Bewegung und ihrer traumatischen Gegenseite.16
Über Anmut und Würde Johann Joachim Winckelmanns bedeutende Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst von 175517 prägte wesentlich das Denken der Weimarer Klassik. Seine Formel vom schönen Kontur der klassischen Statue bestimmte das Schönheitsideal des Klassizismus. Im Geiste der Griechen sollten diese nachgeahmt werden. Friedrich Schillers Schrift Über Anmut und Würde von 1793 propagierte ein Körperbild, bei dem Anmut auf der einen Seite vom Subjekt hervorgebracht werden und auf einen Betrachter hin ausgerichtet sein musste, auf der anderen Seite aber ihren hervorgebrachten Charakter und alle Momente der Zurschaustellung verbergen sollte.18
15 Heinrich von Kleist 1990, „Über das Marionettentheater“, in: ders., Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, Band 3, Klaus Müller-Salget (Hg.), Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns, Hinrich C. Seeba (Hg.), Frankfurt am Main, S. 555–563; hier S. 557. Alle im Vorspann folgenden Quellenangaben im Fließtext beziehen sich auf diese Ausgabe. 16 Dazu vor allem Lucia Ruprecht 2006, Dances of the Self in Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann and Heinrich Heine, Aldershot, S. 20 17 Vgl. Johann Joachim Winckelmann 1756, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Zweyte vermehrte Auflage, Dresden/Leipzig 18 Schiller selbst, darauf weist Schneider hin, formuliert in einer Fußnote zu seiner Schrift Über Anmut und Würde, dass „der ästhetische Schein spontaner Natürlichkeit“ auf einer „rigoros domestizierten Natur beruht“; vgl. Schneider 1998,
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Über Anmut und Würde muss Kleist bekannt gewesen sein, als er das Marionettentheater verfasste, denn er verhandelt in seiner Schrift viele Motive Schillers. So schreibt Schiller, dass bloßer „Instinkt“ noch keine Anmut entstehen lasse,19 dass vielmehr nur solche Bewegungen graziös sein können, die eben nicht „bloß der Natur angehören“.20 Auf der anderen Seite behauptet er, Grazie müsse „jederzeit Natur, d.i. unwillkürlich sein (wenigstens so scheinen), und das Subjekt darf nie so aussehen, als wenn es um seine Anmut wüßte“.21 Anmut wird definiert als „die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freiheit; die Schönheit derjenigen Erscheinungen, die die Person bestimmt“.22 Schiller möchte Anmut „in demjenigen“ finden, „was bei absichtlichen Bewegungen unabsichtlich, zugleich aber einer moralischen Ursache im Gemüt entsprechend ist“.23 Kleist nimmt Nuancen der
S. 157. Er zitiert aus Friedrich Schiller 1959a, „Über Anmut und Würde“, in: ders., Sämtliche Werke, Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert (Hg.), Band 5, München, S. 433−488; hier S. 451: „‘Der Tanzmeister kommt der wahren Anmut unstreitig zu Hülfe, indem er dem Willen die Herrschaft über seine Werkzeuge verschafft und die Hindernisse hinwegräumt, welche die Masse und Schwerkraft dem Spiel der lebendigen Kräfte entgegensetzen. Es kann dies nicht anders als nach Regeln verrichten, welche den Körper in einer heilsamen Zucht erhalten und, solange die Trägheit widerstrebt, steif, d.i. zwingend sein und auch so aussehen dürfen. Entläßt er aber den Lehrling aus seiner Schule, so muß die Regel bei diesem ihren Dienst schon geleistet haben, daß sie ihn nicht in die Welt zu begleiten braucht: kurz, das Werk der Regel muß in Natur übergehen.‘“ 19 Ebd., S. 436f. 20 Ebd., S. 447 21 Ebd., S. 450 22 Ebd., S. 446. Ulrich Johannes Beil betont, dass Schiller „gut kantianisch“ argumentiert, indem er der Anmut eine „moralische Ursache im Gemüt“ zugrunde legt; vgl. ders. 2006, „‘Kenosis‘ der idealistischen Ästhetik. Kleists ‚Über das Marionettentheater‘ als Schiller-réécriture“, in: Günter Blamberger, Ingo Breuer, Sabine Doering (Hg.), Kleist-Jahrbuch, Stuttgart, S. 75–99; hier S. 81 23 Schiller 1959a, S. 453. Schiller löst den in der Moralphilosophie Kants aufgestellten Widerspruch zwischen Pflicht und Neigung auf, indem er sich in seiner Schrift Über Anmut und Würde des Begriffs des „Erhabenen“ bedient und die „schöne Seele“, bei der „Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren“ (ebd., S. 468), in eine „erhabene“ übergehen lässt. Josef Früchtl geht
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Argumentation Schillers ernst, die widersprüchlich oder paradox erscheinen, und überzeichnet sie, indem er den klassisch-idealistischen Diskurs über den Körper in einem rhetorisch-theatralischen Verfahren „von außen“ darstellt.24 Er präsentiert in seiner Erzählung keine in sich geschlossene Theorie der Bewegung oder der Grazie. Vielmehr stellt er die Diskrepanzen so provokant heraus, dass die Perspektiven einander gegenseitig in Frage stellen und desavouieren, so dass der Leser sich auf eine besondere Weise dazu aufgefordert fühlt, Stellung zu beziehen.25
davon aus, Schiller stelle den Begriff der Anmut und den der schönen Seele hier „in einen engeren ästhetischen Zusammenhang, in der Absicht, einen Lösungsvorschlag zu dem von der Moralphilosophie Kants vorgegebenen Dualismus zu unterbreiten.“ Wie Schiller im zweiten Teil von Über Anmut und Würde schreibt, ist Würde für ihn der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung, so wie Anmut der Ausdruck einer schönen Seele ist. Auch wenn die schöne Seele daher ein unerreichbares Ideal darstellt, betont Früchtl, eine Seele sei für Schiller nur erhaben, „wenn sie Spuren von Anmut zeigt. Die schöne Seele bietet Schiller daher zwar das utopische Modell angesichts der moralisch zerrissenen Existenz, aber eine realistische Kontur erhält es erst in der erhabenen Seele. Ist das anmutige, Pflicht und Neigung versöhnende Verhalten eine unerreichbare Idee, so ist das würdevolle Verhalten sein realistisches Pendant. Dann ist es Schiller aber auch nicht um eine Harmonisierung zu tun, sondern um eine an Harmonie orientierte Sublimierung der inneren Zerrissenheit“. Vgl. Josef Früchtl 1996, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung, Frankfurt am Main, S. 314ff. 24 Vgl. Schneider 1998, S. 158. Er schreibt, Kleist treffe „die klassische Ästhetik ins Mark“, indem er „das klassisch-idealistische Körperparadigma“ aufgreife, „um es in ein theatralisches Spiel zu zerlegen und seine phantasmatische Einheit als Verdeckung einer ursprünglichen Spaltung vorzuführen“. 25 Auch Gerhard Gamm interpretiert Kleists Marionettentheater in diesem Sinne. Er führt an, „die literarische Einbettung bietet uns durch den künstlerischen Rahmen qua Erzählung eine Möglichkeit der Reflexion. Sie ist ein wiederkehrender Einsatz, der den Gedanken hemmt, irritiert, provoziert, herausfordert.“ Vgl. ders. 2013, „Das Wissen der Darstellung. Über Versuche, ins Offene zu gelangen – H. v. Kleist und G.W.F. Hegel“, in: Michael Nerurkar (Hg.), Kleists „Über das Marionettentheater“. Welt und Selbstbezüge: Zur Philosophie der drei Stadien, Bielefeld, S. 249-277; hier S. 256
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Das Marionettentheater „Über das Marionettentheater“ erscheint vom 12.−15. Dezember 1810 in den Berliner Abendblättern. Einen Monat zuvor, am 5. November 1810, hatte Kleist in derselben Zeitschrift den Tod des Ballettmeisters JeanGeorges Noverre verkündet. Ein weiterer Referenzpunkt in der Entstehungszeit der Erzählung, auf die Kleist implizit Bezug nimmt, ist die Zensurkampagne des Direktors des Königlichen Nationaltheaters August Wilhelm Iffland gegen das Marionettentheater am Anfang des 19. Jahrhunderts. Theaterpolitisch suchte das Nationaltheater sich selbst als „hohe Kunst“ zu legitimieren, indem es das Puppenspiel als „niedere“ theatralische Praktik diffamierte. Neben dem Argument, es fehle den Marionettenspielern an der nötigen Bildung, wurde dem Puppenspiel in erster Linie vorgeworfen, es ziele auf Publikumswirkung und nicht auf die Darstellung und Vermittlung moralischer Wahrheiten. Kleists Schrift ist auch als Apologie des Marionettentheaters und als Kritik an der Theaterideologie Ifflands zu lesen.26 Das Marionettentheater ist die Nacherzählung eines Dialogs zwischen einem fiktiven Ich-Erzähler und Herrn C., dem ersten Tänzer der Pariser Oper, die sich zufällig nach dem Besuch eines Marionettentheaterspiels treffen und diese Begebenheit zum Anlass nehmen, darüber zu diskutieren, wie disponibel oder indisponibel der menschliche Körper ist. Das Thema Vermitteltheit spielt von Anfang an eine wichtige Rolle und wird von Kleist auf vielerlei Art akzentuiert. Die ungenaue Datumsangabe ist ein erster Hinweis darauf, dass das Gespräch wohl einige Zeit zurückliegen soll und die Erinnerung des Erzählers eventuell verzerrt sein könnte – vorausgesetzt, er wollte überhaupt die „Wahrheit“ sprechen. Darüber hinaus sprechen die Dialogpartner auch über Ereignisse, die noch weiter in der Vergangenheit liegen. Auch der über Textstrecken in indirekter Rede und im Konjunktiv wiedergegebene Dialog wirkt wie ein erzählerischer Umweg. In einem Kontrast dazu steht, dass der Schilderer des Gesprächs im Dialog sein Gegenüber „hermeneutisch“ zu ergründen versucht, indem er seine
26 Dazu vor allem Christopher J. Wild 2002, „Wider die Marionettentheaterfeindlichkeit. Kleists Kritik bürgerlicher Antitheatralität“, in: Günter Blamberger, Sabine Doering, Klaus Müller-Salget (Hg.), Kleist-Jahrbuch, Stuttgart, S. 109–141; hier S. 110ff.
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Gesten und seine Redeweise minutiös beschreibt.27 In diesen Sprachgesten, die auf den Leser an vielen Stellen wie Regieanweisungen für ein Theaterstück wirken, wird gerade die Differenz zwischen Produktion und Rezeption, Sender und Empfänger hervorgehoben, die Unmöglichkeit einer „authentischen“ Mitteilung. Viele Gesten, von denen die Rede ist, deuten zudem darauf hin, dass der Sprechende lügt oder etwas verheimlicht: ein Blick auf den Boden, eine verräterische Handbewegung, ein unangebrachtes Lachen. Dadurch wird eine Spannung aufgebaut zwischen dem „was wirklich ist“ und dem, was die Protagonisten sprachlich mitteilen. Für eine Studie zur anthropologischen Ästhetik des Tanzes, die von dem menschlichen Körper und seiner Selbstbezüglichkeit ihren Ausgang nimmt, ist Kleists Erzählung, neben der offensichtlichen anthropologischen Beschäftigung mit der Tanzkunst,28 auch deshalb aufschlussreich, weil es um Verkörperung geht und darum, wie das Bewusstsein des eigenen und des fremden Körpers in einer engen Beziehung zur körperlichen Präsentation und zum Schauspiel steht. Helmuth Plessner schreibt in seiner Anthropologie des Schauspielers von 1948 über das Puppenspiel, der Mensch werde hier „durch eine Figur zum Leben erweckt, nicht mit einer bloßen Figur an ihn erinnert. Darin liegt gerade der Reiz des Schattenspiels, des Puppen- und Marionettentheaters, des Zeichenfilms nicht zu vergessen, daß es bloße Figuren als Stellvertreter von Menschen zeigt, Repräsentanten von allem, was auf, über und unter der Erde ist. Die Repräsentation, erschwert durch den Abstand der Figur zu dem, was sie vorstellt, und insofern wieder erleichtert, als die Augenscheinlichkeit des wirklichen Menschen wegfällt, spielt hier über einen besonders großen Abstand hinweg zugleich mit dem Abstand.“29
Mit Plessners Beschreibung des Marionettentheaters als Spiel mit dem Abstand über den Abstand zum Menschen, sind wir in medias res. Ich lese 27 Dazu vor allem Schneider 1998, S. 160f. 28 Hinter der kontrastierenden Betrachtung Mensch versus Marionette, Mensch versus Tier, steht bei Kleist die Frage nach dem spezifisch Menschlichen. 29 Helmuth Plessner 1982c, Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 7, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 399-418; hier S. 410f.; im Folgenden zitiert als Zur Anthropologie des Schauspielers
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Kleists Schrift mit ihrem gestischen Potential30 als „Körperinszenierung“31. Etwas Ähnliches meint Johann Wolfgang von Goethe, wenn er Kleists Umgang mit der Sprache ein „unsichtbares Theater“32 nennt. Verkörpert im Bild der Marionette, verknüpft Kleist die historische Körperthematik mit der körperlichen Darstellung im Tanz. Das Gespräch zwischen dem Tänzer Herrn C. und dem fiktiven Ich-Erzähler über das Phänomen der Bewegung gliedert sich in drei Anekdoten, die ich, der Übersichtlichkeit halber, die „Marionettenepisode“, die „Dornauszieherepisode“ und die „Bärenepisode“ nenne. Im Folgenden werde ich die Episoden einzeln beleuchten und in ihrer Relevanz für diese Studie besprechen.
Die Marionette Herr C. stellt gegenüber seinem Gesprächspartner, dem Ich-Erzähler, die These auf, die Marionette sei einem Menschen tänzerisch weit überlegen. Dies begründet er mit dem fehlenden Bewusstsein der Puppe, und damit, dass ihre Glieder physikalischen Gesetzen gehorchen und kein Eigenleben haben. Sie folgen lediglich dem einen Schwerpunkt, den der Maschinist ihnen vorgibt, und stehen somit für ein utopisches Ideal einer „vollkommenen“ Körperbewegung.33 Diese kann ihr Darstellungsziel nicht verfehlen.
30 Paul de Man schreibt dazu: „Ein zweiter Dialog der Gesten verdoppelt den der Worte, aber die Parallelität zwischen beiden ist weit davon entfernt, eindeutig zu sein.“ Vgl. Paul de Man 1979, „Ästhetische Formalisierung. Kleist ‚Über das Marionettentheater‘“, in: ders., Allegorien des Lesens (aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Krumme, mit einer Einleitung von Werner Hamacher), Frankfurt am Main, S. 205–233, hier S. 211 31 Dazu vor allem Hans-Thies Lehmann 2001, „Kleist/Versionen“, in: Günter Blamberger (Hg.), Kleist-Jahrbuch, Stuttgart, S. 89–103; hier S. 90ff. 32 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe 1988, Briefe, Band 3 (Hamburger Ausgabe), Robert Mandelkow (Hg.), München, S. 53 33 Die Bezeichnung „utopisches Ideal einer vollkommenen Körperbewegung“ entnehme ich Beda Allemanns Analyse von Heinrich von Kleists Erzählung; vgl. Beda Allemann 1981/82, „Sinn und Unsinn von Kleists Gespräch ‚Über das Marionettentheater‘“, in: Hans-Joachim Kreutzer (Hg.), Kleist-Jahrbuch, Berlin, S. 50–65; hier S. 61
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Menschliche Tänzerinnen und Tänzer bilden einen Gegenpol dazu, denn sie „zieren“ sich (S. 559), distanzieren sich also von ihren Bewegungen, was dazu führt, dass sie nicht völlig in ihren Bewegungen aufgehen können. Es ist, folgt man der Logik dieses Arguments, das Anorganische, das die Marionette zu einem besseren und unfehlbareren Tänzer macht, als es ein noch so begabter Virtuose sein könnte. Denn die leblose Puppe kann sich nicht durch den Blick der Zuschauer beeinflussen lassen. An dieser Stelle taucht zum ersten Mal in der Erzählung die Erbsündenthematik auf, ein Motiv der zeitgenössischen Theaterästhetik. Es ist die Rede von Missgriffen, die unvermeidlich seien, „seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist“ (ebd.). Das Theater wird in den kompromittierenden Blicken der Zuschauer und den kompromittierten Bewegungen der Darsteller als „gefallen“ reflektiert.34 Die Marionette steht als lebloser Gegenstand außerhalb dieser Dynamik. Herr C. geht davon aus, der Maschinist finde die „geheimnisvolle Linie des Schwerpunktes“, die den „Weg der Seele des Tänzers“ (S. 557) darstellt, dadurch, dass er sich „in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, d.h. mit anderen Worten, tanzt“ (ebd.).35 Der Maschinist kontrolliert lediglich den Schwerpunkt der Marionette, die anderen Glieder aber sind „was sie sein sollten, tot, reine Pendel, und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere; eine vortreffliche Eigenschaft, die man vergebens bei dem größesten Teil unsrer Tänzer sucht“ (S. 559). Es gibt im Marionettentheater vor dem Tanzen keine Seele, die sich irgendwie in Bewegungen manifestieren würde, sondern die Seele, „vis motrix“ (ebd.), entsteht durch und in der physikalischen Bewegung. Die Bewegung der Marionette wird durch den Maschinisten „gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte hinübergespielt, und vermittelst einer Kurbel […] hervorgebracht“ (S. 557), ist also im Ausdruck berechenbar. In der Körperbewegung dringt die bewegungsinitiierende
34 Wild beschreibt, dass es die Aufgabe eines zivilisatorisch orientierten Theaters war, sowohl die Gefallenheit des Theaters als auch die der Zuschauer in der Illusion zu verdecken. Vgl. Wild 2002, S. 132f. 35 Bianca Theisen betont, wie derart der Maschinist „in die Bewegung hinein [verschwindet; M.D.]“; vgl. dies. 1996, Bogenschluß. Kleists Formalisierung des Lesens, Freiburg im Breisgau, S. 50
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Kraft an die Oberfläche und wird sichtbar. Grazie ist dann eben nicht mehr eine lesbare schöne Seele in einem anmutigen Körper, sondern ganz unabhängig von jeder moralischen Gesinnung eine Frage der Einübung und Wirkung.36 In dem poetischen Entwurf, die Marionette solle als Vorbild für den Tänzer fungieren, dekuvriert Kleist tiefsinnig, wie der zeitgenössische Tanzdiskurs die göttliche Schöpfung verkehrt, indem er fordert, der Mensch solle seinen Körper zu einer Puppe oder Maschine machen. Es geht also nicht um eine „anhauchende Belebung des toten Stoffs“, sondern um eine „Entleerung des Körpers von Leben und Geist“.37 Im Bild der Marionette spiegelt sich anthropologisch die Möglichkeit des darstellenden Künstlers, seinen Körper zu einem Medium der Darstellung zu machen und dabei die Wirkung auf den Zuschauer zu beeinflussen. Die Diskussion über die Unvollkommenheit der menschlichen Physis kulminiert schließlich darin, dass Herr C. eine artifizielle Ersetzung des Körpers durch Prothesen erwägt. Herr C. fragt seinen Gesprächspartner, ob dieser von den „mechanischen Beinen gehört“ habe, „welche englische Künstler für Unglückliche verfertigen, die ihre Schenkel verloren haben?“ (S. 558) Der Leser sieht gleichsam vor seinem geistigen Auge, wie vorher unversehrte Körper gewaltsam zerstückelt und die fehlenden Körperteile durch Prothesen ausgewechselt werden. Der Text „verstümmelt“ mit diesen Worten den im Text „anwesenden“ biologischen Körper und rekonstruiert ihn mechanisch. Der neu erschaffene mechanische Körper ist laut Herrn C. zwar eingeschränkt, was den „Bewegungsradius“ angeht, aber im Rahmen seiner Möglichkeiten bewegt er sich doch mit großer Anmut. In der Metapher eines prothesentragenden Tänzers zeigt sich Kleists Erzählung als verzerrtes Echo des klassischen Tanzes, in dem Tänzer im Training einem oft schmerzhaften Drill unterzogen werden, um ein körperliches Ideal zu erreichen. Von dem bedeutendsten Tanztraktat, Blasis‘ The Code of Terpsichore von 1828, war bereits die Rede. Bis heute bildet es die Grundlage des klassischen Balletts und damit des Bühnentanzes überhaupt. Blasis verbindet in seinem Werk zeitgenössische Vorstellungen über Mechanik, Geometrie und Ästhetik zu einem streng definierten Ballettcode. Dem Autor
36 Ruprecht schreibt, Grazie werde in Kleists Marionettentheater-Schrift „pragmatisch: Sie ermöglicht Handlung. Diese Handlungsfähigkeit ist bei Kleist jedoch gleichermaßen beglückend wie bestürzend.“ Vgl. Ruprecht 2007, S. 48 37 So umschreibt Schneider 1998 treffend diese Erkenntnis Kleists; vgl. S. 166
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zufolge sollen Studierende des Tanzes ihre Körper einem geometrischen Bewegungsideal anpassen, einem „imaginären Gerüst von Körper- und Bewegungslinien“.38 Sie sollen diese „Figurenmathemathik des Balletts“39 in ihren Körper integrieren. Dafür müssen sie einzelne Körperteile als Fragmente betrachten und sie drillen, bis sie dem Ideal so gut wie möglich entsprechen. Ähnliche Disziplinierungsmaßnahmen beschreibt Michel Foucault in seinem Werk Überwachen und Strafen von 1976.40 Letztlich zielen sie auf das, was Rudolf zur Lippe in seinem gleichnamigen Werk als Naturbeherrschung am Menschen bezeichnet; er betont, dass der choreographierte Tanz aus einer „geometrisierten“ Bewegung hervorgegangen ist.41 Vor diesem Hintergrund erscheint Kleists Vision eines Prothesen-Tänzers nicht so abwegig. Im klassischen Tanz geht Training zumindest bis zu einem gewissen Grad mit einem Verlust an Menschlichkeit oder wenigstens einer Unterdrückung und Manipulation körperlicher Eigenheiten einher. Kleist durchleuchtet die Widersprüchlichkeit des klassizistischen Ideals, die sich insbesondere in Schillers Anmutsbegriff spiegelt. Der ästhetische Diskurs verschleiert die Künstlichkeit und Theatralik hinter der idealistischen Vorstellung von „natürlicher Grazie“.42
Der Dornauszieher In der zweiten Anekdote erzählt der Ich-Erzähler, wie er einst mit einem jungen Mann badete, mit dem er kurz zuvor in Paris einen Abguss der Statue des Dornausziehers, bei Kleist ist es ein „Splitter“ (S. 561), gesehen hatte. Der Jüngling legte einen Fuß auf einen Schemel, um ihn abzutrocknen, und bemerkte, als er den Blick in einen Spiegel warf, dass seine graziöse Geste der des Dornausziehers ähnelte. Obwohl diese Ähnlichkeit dem Ich-Erzähler ebenfalls aufgefallen war, zog er es vor, „um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen“, den anmutigen jungen Mann zu beschä-
38 Ruprecht 2007, S. 56 39 Brandstetter 2004, S. 57 40 Michel Foucault 1976a, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main, S. 279ff. 41 Vgl. Zur Lippe 1974 42 Dazu vor allem Schneider 1998, S. 157f.
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men und ihm an den Kopf zu werfen, „er sähe wohl Geister!“. Daraufhin „errötete“ dieser und versuchte, seine Geste zu wiederholen und ihre Grazie unter Beweis zu stellen. Der Ich-Erzähler beschreibt, wie er „den Fuß zum zweitenmal [hob; M.D.], um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte vorausehn lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außer Stand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag‘ ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –“.
Der Jüngling verliert in dem Moment seine Grazie und „Unschuld“, in dem er sich der Schönheit seiner Bewegung bewusst wird und versucht, sie zu inszenieren oder zu repräsentieren. Es kommt noch schlimmer, denn der junge Mann fängt an, „Tage lang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn.“ Der Ich-Erzähler berichtet dem Tänzer: „Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte.“ (Alles ebd.)
Obwohl sich das erzählte Ereignis vom badenden Jüngling erst „vor etwa drei Jahren“ vor dem Gespräch zwischen dem Tänzer und dem Ich-Erzähler begeben haben soll (S. 560), wird die Schilderung sprachlich in eine mythische Vergangenheit gerückt: „Noch jetzt lebt jemand, der ein Zeuge jenes sonderbaren und unglücklichen Vorfalls war, und ihn, Wort für Wort, wie ich ihn erzählt, bestätigen könnte“ (S. 561).43
43 Zum Überzeitlichen und Mythischen dieser Episode vor allem auch Walter Silz 1967, „Die Mythe von den Marionetten“, in: Walter Müller-Seidel (Hg.), Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Studien und Interpretationen, Berlin, S. 99–111; hier S. 110 und Gerhard Oberlin 2007, „Gott und Gliedermann. Das ‚unendliche Objekt‘ in Heinrich von Kleists Erzählung ‚Über das Marionettentheater‘ (1810)“, in: Günter Blamberger, Gabriele Brandstetter, Ingo Breuer, Sa-
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Kleist hat nicht zufällig die Statue des Dornausziehers ausgewählt, an die der Jüngling mit seiner Geste erinnern soll. Im Mittelalter symbolisiert sie noch die Erbsünde.44 In der neuzeitlichen Rezeption steht sie für Grazie und Unschuld. Besonders Winckelmann spricht von der „unschuldigen reizenden Schönheit“ und „Naivität“ des „sitzenden Knaben, welcher sich einen Dorn aus dem Fuße ziehet“.45 Es ist sehr auffällig, dass lediglich Kleist anstelle des Dorns den Begriff des „Splitters“ gebraucht. Natürlich ist auch die Statue schon „verletzt“. Während ein Dorn aber noch eine „,intakte‘ Natur“ evoziert, assoziiert man mit einem Splitter Zerbrechen und eine Verletzung des Fleisches.46 Darüber hinaus erinnert der Splitter an das Material der Marionette; man denkt unwillkürlich an einen Holzsplitter, der schmerzhaft in den menschlichen Körper eindringt und ihn zersplittert und verwundet.47
bine Doering, Klaus Müller-Salget (Hg.), Kleist-Jahrbuch, Stuttgart, S. 273– 288; hier S. 281 44 Schneider merkt an, dass der Dorn im Fuß an den biblischen Fluch erinnert, dass die Schlange den gefallenen Menschen in die Ferse stechen solle; vgl. Schneider 1998, S. 169. Mit Bezug auf Hiob 30, 4ff. galt der Dorn als „das Strafmittel dessen, der von der via recta abgewichen ist“. Vgl. Gerhard Kurz 1981/82, „‘Gott befohlen‘. Kleists Dialog ‚Über das Marionettentheater‘ und der Mythos vom Sündenfall des Bewußtseins“, in: Hans-Joachim Kreutzer (Hg.), Kleist-Jahrbuch, Berlin, S. 264–277; hier S. 270. Kurz zitiert an dieser Stelle aus dem Artikel „Dornauszieher“ im Reallexikon der Kunstgeschichte. 45 Winckelmann wird ohne Quellenangabe von Kurz zitiert; vgl. ebd., S. 270f. 46 Vgl. ebd., S. 271 47 Ruprecht vergleicht in diesem Zusammenhang den Splitter als traumatische Gewalt, die in die empfindlichen psychischen Begrenzungen der Skulptur eindringt, mit dem Trauma, dass in Sigmund Freuds Verständnis des Traumas als „Fremdkörper“ in die stabilisierenden psychischen Begrenzungen eindringt: „Trauma as ‚foreign body’ in the psyche is visualised as a fragment of the wooden puppet being incorporated into the human body, making it strange to itself, and turning it into a dysfunctional automaton which cannot quite repeat the original move. [In ‘On the Psychical Mechanism of Hysterical Phenomena’, Freud compares the persistence of trauma to the impact of a Fremdkörper (foreign body) on the psyche, in the translation ‘agent provocateur’, see Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, ed. by James
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Der Jüngling versucht, die Haltung der Statue körperlich zu imitieren. Damit nimmt er Winckelmanns Aufforderung, sich den Griechen nachzubilden, wörtlich, wodurch sich aber im wahrsten Sinne des Wortes ein „eisernes Netz um seine Gebärden“ setzt, welches ihn immer mehr seiner Unmittelbarkeit, seiner „Unschuld“ beraubt, so dass seine Geste immer mehr zur Parodie wird und er am Ende seine körperliche Grazie vollends einbüßt. Kleist stilisiert hier die „allzu exakte Nachbildung des Ideals“ zu einer „Reinszenierung des Sündenfalls“.48 Der junge Mann steigt aus einem flüssigen Element und trocknet sich ab: Dabei „erstarrt“ er „zum steinernen Bild und wird damit zu einem weiteren der allenthalben verbreiteten ‚Abgüsse‘ der Antike“.49 Sein narzisstischer Wunsch, vom Ich-Erzähler gesehen zu werden, hängt eng mit seinem Streben zusammen, zu einem Kunstwerk zu werden.50 Im Hintergrund steht die Vorstellung, alle Kunstwerke würden geschaffen, um betrachtet zu werden; ihnen sei also „ein vorgängiger Blick eingeschrieben“. Darin liege „die Unschuld und Reinheit der Natur und die Gefallenheit der Kunst“.51
Strachey in collaboration with Anna Freud, 24 vols (London: Hogarth Press, 1953–1974), III, 6]“; vgl. Ruprecht 2006, S. 43 48 Wild 2002, S. 126 49 Diese Deutung findet sich bei Schneider 1998, S. 168. Ruprecht schreibt, die Reihe der Abgüsse, die der junge Mann fortsetzen wollte, sei unterbrochen: „die Nachahmung der Wundpflege gerät zur unüberwindlichen psychischen Wunde, verlegt sich vom äußeren zum inneren Schauplatz, auf dem sich fortan das Drama der Scham – der konstitutiven Unangemessenheit eines idealen, einheitsstiftenden Selbstbilds, das nie richtig sitzt – abspielen wird.“ Vgl. Ruprecht 2007, S. 59 50 Ruprecht interpretiert den jungen Mann in Kleists Erzählung als „Laokoon en miniature“. Sie bezieht diesen Begriff aus De Man 1979, S. 221f. Es gehe um eine Verwundung und um den Versuch, ebendieser „entgegenzuwirken, und das […] noch auf eine anmutige Art und Weise […], die den auslösenden Moment vergessen lässt“. Aber ebendies gelinge dem Knaben nicht. Er scheitere „an der Rigidität der normativen choreographischen Matrix: Sein beweglicher Körper, vom Zuschauerblick der intuitiv-sicheren Motorik beraubt, vermag die steinerne Vorgabe nach dem ersten Zufallstreffer nicht adäquat zu reproduzieren“. Vgl. Ruprecht 2007, S. 58f. 51 Vgl. Wild 2002, S. 130
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In dem Moment, in dem der Ich-Erzähler den Jüngling auf sich selbst aufmerksam macht, so dass er sich „mit den Augen des Anderen selbst erblickt“, vollzieht dieser die Reinszenierung des Sündenfalls vollends, er fällt „an und für sich selbst“.52 Selbst Gegenstand seiner Reflexion, wird er
52 Vgl. ebd. Die Dornauszieherepisode ist darüber hinaus eine Replik auf den „Sturz des Nachtwandlers“, den Schiller in seiner Schrift „Über das gegenwärtige teutsche Theater“ schildert: „Der Schauspieler befindet sich einigermaßen im Fall eines Nachtwandlers, und ich beobachte zwischen beiden eine merkwürdige Ähnlichkeit. Kann der letztere bei einer anscheinenden völligen Abwesenheit des Bewußtseins in der Grabesruhe der äußern Sinne, auf seinem mitternächtlichen Pfade mit der unbegreiflichsten Bestimmtheit jeden Fußtritt gegen die Gefahr abwägen, die die größeste Geistesgegenwart des Wachenden auffordern würde […]. Sollte dann bei der größesten Abwesenheit der Perzeption, deren die Illusion den Spieler nur Fähig macht, nicht ebensogut wie dort eine unmerkliche Wahrnehmung des Gegenwärtigen fortdauern, die den Spieler ebenso leicht an dem Überspannten und Unanständigen vorbei über die schmale Brücke der Wahrheit und Schönheit führt? Ich sehe die Unmöglichkeit nicht. Hingegen welcher Übelstand auf der andern Seite, wenn der Spieler das Bewußtsein seiner gegenwärtigen Lage sorgsam und ängstlich unterhält und das künstliche Traumbild durch die Idee der wirklich ihn umgebenden Welt zernichtet. Schlimm für ihn, wenn er weiß, daß vielleicht tausend und mehr Augen an jeder seiner Gebärden hangen, daß ebensoviel Ohren jeden Laut seines Mundes verschlingen. – Ich war einst zugegen, als dieser unglückliche Gedanke: Man beobachtet mich! den zärtlichen Romeo mitten aus dem Arm der Entzückung schleuderte: – Es war gerade der Sturz des Nachtwandlers, den ein warnender Zuruf auf gäher Dachspitze schwindelnd packt. – Die verborgene Gefahr war ihm keine – aber der steilen Höhe plötzlicher Anblick warf ihn tödlich herunter. Der erschrockene Spieler stand steif und albern – die natürliche Grazie der Stellung entartete in eine Beugung – als ob er sich eben ein Kleid wollte anmessen lassen. – Die Sympathie der Zuschauer verpuffte in ein Gelächter.“ Friedrich Schiller 1959b, „Über das gegenwärtige teutsche Theater“, in: ders., Sämtliche Werke, Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert (Hg.), Band 5, München, S. 811–818; hier S. 815f. Beil schreibt, sich auf Schillers eben zitierte Schrift beziehend: „Die anmutige Nachahmung der antiken Statue, die dem jungen Mann zunächst noch gelingt, wird gerade durch die postlapsarische condition humaine zur Absurdität – und damit auch die idealistische Vision vom ‚ganzen‘, mit sich selbst versöhnten
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zum Schauspieler und Zuschauer seiner Geste. Der Spiegel spielt in dieser Anekdote an zwei Stellen eine wichtige Rolle: zuerst in dem Blick des jungen Mannes, der seine graziöse Geste mit der Haltung des Dornausziehers vergleicht; dann darin, dass er „Tage lang“ vor dem Spiegel steht und versucht, seine Grazie wiederzufinden. Im Balletttraining wird der Spiegel intensiv für die Übung und Verbesserung der Bewegungsqualität genutzt. Noverre schreibt, Tänzerinnen und Tänzer sollten den Spiegel oft zu Rate ziehen; er sei ein großer Lehrer, „der uns beständig unsere Fehler zeigen, und die Mittel weisen wird, sie zu verbergen oder abzuschaffen, wenn wir nur ohne Eigenliebe und ohne lächerlichen Eigendünkel vor ihn treten“.53
Der Bär Herr C. erzählt, dass er einst auf dem Landgut eines Edelmannes aus einem Fechtkampf mit dessen Sohn als eindeutiger Sieger hervorgegangen sei. Daraufhin sei er mit der Bemerkung des Verlierers, „daß er seinen Meister gefunden habe: doch alles auf der Welt finde den seinen“ (S. 562), in einen „Holzstall“ geführt worden, wo ein Bär aufrecht an einen Pfahl gekettet stand. Dieser konnte jeden seiner Fechtstöße mit seiner Tatze parieren, ignorierte aber jede Finte: „Aug‘ in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht.“ Der Bär beweist sich „von Natur aus“ als Meister der Körperbeherrschung.54 Herr C. scheint den Bären als Fechtvirtuosen zu deuten. Kleist
Menschen. So verwandelt sich der kurzzeitige Anmutsverlust, wie er sich in Schillers ‚Theater‘-Schrift findet, bei Kleist in ein generelles anthropologisches Stigma, von dem kein reflektierendes Subjekt sich je wieder befreien kann.“ Vgl. Beil 2006, S. 90 53 Vgl. Noverre 1977, S. 176 54 Mareen van Marwyck weist darauf hin, dass in der Renaissance „Fecht- und Tanzmeister […] Bewegungen gleichermaßen als mathematisch exakt analysierbare Abläufe“ begriffen: „Sowohl in der Kampf- als auch in der Tanzkunst wurden geometrische Aufzeichnungssysteme entwickelt, welche die Bewegungsabläufe als mathematisch exakte Prozesse zu definieren suchten und Bewegungen beliebig reproduzierbar machen sollten. Im Zuge dieser Schematisierungsversu-
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schreibt aber „wie der erste Fechter der Welt“ und „als ob er meine Seele darin lesen könnte“ (alles ebd.; meine Hervorhebungen).55 Es geht Kleist meines Erachtens darum, den Leser seines Marionettentheaters auf die Absurdität der Idee des übermenschlich begabten Bären zu stoßen. Herrn C.s Entgegnung „Glauben Sie diese Geschichte?“ (S. 563), die er an den IchErzähler richtet, ist auch an den Leser adressiert. Sie wirft die Frage auf, ob uns im wahrsten Sinne des Wortes „ein Bär aufgebunden“ werden soll.56 Der Bär muss, will er den Unterschied zwischen Finte und echtem Fechtstoß ausmachen, vielleicht gar kein perfekter Leser und Physiognomiker sein, sondern nur das wahrnehmen, was wirklich ist: Entweder der Stoß ist echt, dann muss er parieren, oder es ist kein echter Stoß, und er muss nicht reagieren.57 Der Bär verfolgt keine Darstellungsabsicht und kann seine Reaktionen auch nicht reflektieren.58 Der „Holzstall“ des Bären erinnert an das Marionettentheater, das „auf dem Markte zusammengezimmert“ (S. 555f.) wurde. Man denkt auch unwillkürlich an die sogenannten „Tanzbären“, die von ihren Haltern dressiert (und malträtiert) werden, um ihrem Publikum ein „Tänzchen“ vorzuführen, ebenso aufrecht die menschliche Körperhaltung nachahmend. Wie zuvor in der Marionetten- und in der Dornauszieher-Episode, haben wir es mit einem „Schauspiel“ zu tun, auch wenn vom ersten „‘Augenblick‘ an […] die
che nähert sich die Kampfkunst dem Tanz noch weiter an, da es in beiden Künsten um die Suche nach einer einheitlichen idealen Bewegung ging.“ Vgl. dies. 2010, Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800, Bielefeld, S. 113 55 In der gesamten Studie sind alle Hervorhebungen, soweit nicht anders bezeichnet, im Original. 56 Dazu Oberlin 2007, S. 282, der fortfährt, die Rezeptionsgeschichte lege nahe, dass der Leser jedoch deshalb nicht bereit sei, an der Bärengeschichte zu zweifeln, „weil er sich unbewusst dazu entschlossen haben mag, sie als tiefenpsychologisch signifikante Fantasie zu lesen und damit erst gar nicht der Realitätsprüfung zu unterziehen“. 57 Auch Wild interpretiert diese Passage in diesem Sinne, vgl. ders. 2002, S. 134f. 58 Schneider schreibt, der Bär könne nicht exzentrisch aus seiner Haltung heraustreten, und er könne sich auch nicht expressiv verhalten; vgl. Schneider 1998, S. 174. Zu den Kategorien der „exzentrischen Positionalität“ und „Expressivität“ in Plessners Anthropologie verweise ich auf das 1. Kapitel.
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Positionen in diesem theatralischen Sehfeld ins Gleiten [geraten; M.D.]“.59 Der Bär ist zugleich Schauspieler und Zuschauer, indem er dem Blick Herrn C.s standhält und zurückblickt. Er widerspricht dadurch dem unausgesprochenen Diktat der zeitgenössischen Theaterästhetik, welche die Positionen von Rezipienten und Akteuren festschreibt.60 Es ist bezeichnend, dass Herr C., wenn er den Fechtkampf beschreibt, den Bär „als lesend liest“, denn in seiner bereits zitierten Aussage, „Ich wußte nicht, ob ich träumte, da ich mich einem solchen Gegner gegenüber sah“ (S. 562), sieht er sich selbst in ihm.61 Vor dem Hintergrund der Sündenfall-Thematik, die, wie bereits erwähnt, das klassizistische Theater leitmotivisch begleitete, zeigt sich, dass Herr C. den Bären nicht als instinktgesteuertes und „unschuldiges“ Lebewesen versteht. Damit zeigt sich die Gefallenheit des Herrn C. – und im übertragenen Sinne auch die Gefallenheit der Welt, in der Zuschauer und Darsteller nicht „unschuldig“ sind, da Darsteller immer auch Zuschauer und umgekehrt Zuschauer auch Darsteller sind, „in deren Blicken sich der präexistente Blick konkretisiert; – der Blick, den Adam und Eva introjizierten, als sie nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis ihre Blöße ‚bemerkten‘.“62 Kleist schließt sein Marionettentheater mit der Vision einer Grazie jenseits von fehlendem (Marionette) oder absolutem Bewusstsein (Gott): „Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“ (S. 563) Plessner nimmt die Bärenepisode in Kleists Schrift zum Anlass, um seine anthropologische Konzeption des Doppelaspekts zwischen Leibsein und Körperhaben zu erläutern. Auf ihr baut die erste These dieser anthropologisch-ästhetischen Studie zum Tanz auf, die im folgenden Kapitel expli-
59 So interpretiert Wild 2002, S. 133 diese Episode, und ich schließe mich seiner Deutung an. 60 Ebd. 61 Darauf weist auch Wild hin; vgl. ebd., S. 138f. 62 Vgl. ebd., S. 139. Wild schreibt: „Insofern ist es also unsinnig, entweder dem Schauspieler oder dem Zuschauer die Schuld für den theatralischen Sündenfall zuschreiben zu wollen. Der Versuch, diese Festschreibung fortzuschreiben, hieße, die unausweichliche Gefallenheit des Theaters zu verleugnen – die Gefallenheit, die zum innersten Wesen theatralischer Repräsentation und Performanz gehört.“
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ziert wird. Plessner fügt dem Marionettentheater einen anthropologischen Aspekt hinzu: „So erweist sich in Kleists Erzählung Über das Marionettentheater der Bär dem Fechter überlegen. Mit der Entdeckung seiner selbst, diesem Über-sich-selbsthinaus-Sein, dieser fatalen Présence à soi hat der Mensch seine Freiheit gewonnen und die ungebrochene Sicherheit seiner Animalität verloren. […] Er fällt nicht mit dem zusammen, was er ist: dieser Körper, dieses Temperament, diese Begabung, dieser Charakter, insofern als er sie, sich von ihnen distanzierend, als dieses ihm gegebene Sein erkennt. […] In diesem Sich-selber-präsent-Sein liegt der Bruch, die ‚Stelle‘ möglichen Sich-von-sich-Unterscheidens, die dem Menschen im Zwang zur Wahl und als Macht des Könnens seine besondere Weise des Daseins, die wir die exzentrische genannt haben, […] anweist. Sie ist ein Vorzug und eine Schwäche in einem. Sie exponiert ihn und setzt ihn damit besonderer Gefährdung aus, der er in den Korrekturen und Kompensationen der Kultur auf besonderen Wegen zu begegnen sucht.“63
63 Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, S. 416f.
I Der Tanz und die Künstlichkeit des Menschen – Anthropologische Fundierung
„Wer sich leiblich bewegt, ist niemals völlig Herr seiner Bewegungen, man ist bewegend und bewegt in eins. Diese Bewegungsspaltung wäre nur dann dauerhaft überwunden, wenn der Tanz die Form eines Perpetuum mobile annähme, ohne Anläufe und Abtritte und ohne Schwankungen. Mit der Erreichung eines vollendeten Gleichgewichts würde Herkules sich nicht in eine Schwalbe verwandeln, sondern in ein Standbild.“1
1. Einführende Gedanken Beobachtet man eine Ballerina im Training vor dem Spiegel, die ihre pirouettes wiederholt ausführt, bemüht, beim Drehen stabil ihr Zentrum zu halten, ihr passé schnell in die perfekte Ausdrehung und Höhe zu bekommen und nach drei oder mehr fokussierten Drehungen exakt und grazil zu landen, fühlt man sich unmittelbar an Helmuth Plessners Beschreibungen des menschlichen Körpers in seiner „Dinghaftigkeit“ aus seinem Werk Lachen und Weinen von 1941 erinnert:
1
Waldenfels 2010, S. 233
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„Nur dem Menschen […] ist seine Lage als Körper zugleich gegenständlich und zuständlich gegeben. Er erfährt sich als Ding und in einem – Ding, das sich jedoch von allen Dingen absolut unterscheidet, weil er es selbst ist, weil es seinen Intentionen gehorcht oder jedenfalls auf sie anspricht. Getragen von ihm, umgeben von ihm, zur Wirksamkeit mit ihm und durch es entfaltet, bildet es zugleich einen nie restlos zu überwindenden Widerstand. In dieser vom Menschen stets neu zu vollziehenden Einheit des Verhältnisses zu seiner gegenständlich und zuständlich gegebenen physischen Existenz entdeckt sich ihm sein Körper (Leib) als Mittel, d.h. als etwas, das er gebrauchen kann: zum Gehen, Tragen, Sitzen, Liegen, Greifen, Stoßen usw. Die Fügsamkeit in eins mit der eigenständigen, gegenständigen Dinglichkeit macht den Leib zum Instrument.“2
Anmutig, „getragen“ von ihrem Körper, tanzt die Ballerina, wirkt tänzerisch durch ihren Körper und mit ihm, und doch bildet ihr Körper auch einen „Widerstand“. Kein Ansatz ist wirklich „vollkommen“, keine pirouette „perfekt“. Über den Spiegel beobachtet sie sich wie einen fremden und doch bekannten Gegenstand. Sie scheint in ihrem Körper zu sein, ihr Körper scheint ein Gegenstand im Raum zu sein, und sie scheint ihren Körper gleichsam „distanziert“, über den Spiegel, in seiner zweidimensionalen Reflektion als „bewegtes Bild“ zu erfahren. Sie hat eine Vorstellung davon, wie die perfekte pirouette aussehen sollte; sie kann körperlich antizipieren, wie es sich anfühlen könnte, fehlerlos zu drehen und zu landen. Um sich dieser Idee aber wenigstens asymptotisch anzunähern und ihr körperlich Ausdruck zu verleihen, kann sie nur „Umwege“ nehmen. Sie muss ihren Körper so gut wie möglich „beherrschen“, und ihre Bewegungen offenbaren sich als vermittelt.3 Ihr Körper ist ihr Bewegungsinstrument; und dieses
2
Helmuth Plessner 1982b, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 7, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 201–387; hier S. 246; im Folgenden zitiert als Lachen und Weinen
3
Ohne dieses Konzept zu sehr in Anspruch nehmen zu wollen, lässt sich auf Tanztraining bezogen mit Jacques Lacans psychoanalytischem Konzept des „Spiegelbilds als Bildner der Ichfunktion“ sagen, dass die Wichtigkeit des Spiegels zur Herausbildung einer künstlerischen Persönlichkeit und zum „Feilen“ am künstlerischen Ausdruck nicht zu unterschätzen ist. Lacan schreibt: „Das menschliche Wesen […] hat eine spezielle Beziehung zu dem Bild, welches das
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stößt an bestimmte Grenzen. Immer wieder bricht sie ab, nimmt einen neuen Anlauf, spielt mit verschiedenen Bewegungsimaginationen, die sie ihrem Ziel näher bringen sollen. Ihr Körper ist ihr zugleich zuständlich und gegenständlich gegeben, und in der Bewegungsausführung macht sich dieses Selbstverhältnis als Bruch bemerkbar. Plessner spricht anthropologisch vom Phänomen des Doppelaspekts „von Innen und Außen und der fundamentalen Unmöglichkeit, von einer Erfahrungsstellung in die andere ohne absoluten Bruch zu gelangen“.4 Für den Menschen ist der „Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des eigenen Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt seiner Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und als Körper und als psychophysisch neutrale Einheit dieser Sphären.“ (Stufen, S. 365)
Plessner bedient sich in seiner philosophischen Anthropologie des Begriffs der „Grenze“, um das Phänomen des Doppelaspekts besser fassen zu können. Er geht davon aus, dass das Verhältnis eines Körpers zu seiner Grenze sich auf zweifache Weise zeigen kann. Im ersten Fall beschreibt er die Grenze des anorganischen Körpers, wo die Grenze einen Zwischenraum markiert: „1. Die Grenze ist nur das Virtuelle zwischen dem Körper und den anstoßenden Medien, das worin er aufhört (anfängt), insofern ein Anderes in ihm aufhört (anfängt). Dann gehört die Grenze weder dem Körper noch den anstoßenden Medien allein an, sondern beiden, insofern das Zu-Ende-Sein des Einen der Anfang des Anderen ist.“ (Ebd., S. 154)
seinige ist – eine Beziehung der Kluft, der entfremdenden Spannung. Da schaltet sich die Möglichkeit der Ordnung, der Präsenz und der Absenz ein, das heißt der symbolischen Ordnung.“ Jacques Lacan 1980, Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch II (1954–1955), Norbert Haas (Hg.), Olten, S. 409 4
Helmuth Plessner 1981a, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 4, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 103; im Folgenden zitiert als Stufen
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Im zweiten Fall handelt es sich um organische Körper. In diesem Fall gehört die Grenze für Plessner selbst dem Körper an. „2. Die Grenze gehört reell dem Körper an, der damit nicht nur als begrenzter an seinen Konturen den Übergang zu dem anstoßenden Medium gewährleistet, sondern in Begrenzung vollzieht und dieser Übergang selbst ist.“ (Ebd.)
Für die Ballerina gilt also, dass sie die Grenze ihres Körpers nicht lediglich als Begrenzung im Sinne eines räumlich abgegrenzten Gegenstands neben anderen wahrnehmen kann, sondern sie „vollzieht“ die Begrenzung. Tänzerisch „ist“ sie der Übergang selbst, weil ihre Bewegungen kulturelle Objektivierungen sind, in denen sie sich selbst erlebt und ständig zu anderen Dingen in Beziehung setzt.5 Das hat die Ballerina mit jedem sich bewegenden Menschen gemeinsam. Tanzspezifisch ist nun, dass die Bewegung, die Grenze selbst, die dem Körper angehört, ästhetisch gestaltet und deshalb in einem hohen Grade reflexiv wird. Das gilt im übertragenen Sinne auch von der Grenze ihres Körpers in einem bewegungstheoretischen Kontext. Die Tänzerin kann ihre körperliche Grenze wahrnehmen, aber auch mit ihr spielen, über sie hinaus streben, da sie keine feststehende Entität ist, wie die Grenze des anorganischen Körpers, sondern im jeweiligen Bewegungsvollzug entsteht. Sie erleidet die Grenze nicht, sondern erfüllt sie in der Erprobung ihrer tänzerischen Möglichkeiten, die sie auch ästhetisch thematisieren kann. Von allen sich bewegenden Lebewesen ist es in einem eigentlichen Sinne nur der Mensch, der tanzt und den künstlerischen Tanz entwickelt. Viele Bewegungen tierischer Lebewesen, die an Tanz erinnern oder alltagssprachlich sogar mit tänzerischen Vokabeln beschrieben werden, wie etwa das Signalisierungsverhalten „tänzelnder“ Bienen oder Balz- oder Kampfbewegungen anderer Tiere, sind, soweit wir wissen, vorwiegend instinktgebunden. Auch andressierte rhythmische Bewegungen, z.B. von Pferden in Dressurturnieren, sind nicht als „Tanz“ zu deuten, da Tiere nicht vom Ausdruck ihrer Leibesbewegungen wissen und sich davon auch nicht distanzie-
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Axel Honneth und Hans Joas betonen, dass der Mensch sich in seiner leiblichen Aktion „zugleich als handelnder Körper“ erfährt. Vgl. Axel Honneth und Hans Joas 1980, Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen der Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main/New York, S. 75
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ren können. In menschlichem Tanzen zeigt sich demgegenüber eine freie Verfügbarkeit und Führung von Bewegungen. Diese letztere Bedingung ist Thema dieser Tanzästhetik, die Ansätze der philosophischen Anthropologie erforscht und würdigt, die bisher noch nicht zur Grundlage einer eingehenden philosophischen Theorie des Tanzes aufgegriffen wurden. Menschliche Bewegungen sind schaffend. Bewegungsfindung und –erfindung lässt diese frei werden für Bedeutung. Das rückt das Tanzen auch in die Nähe des Spielens, denn auch dort ist eine Sonderstellung des Menschen gegenüber dem Tier zu beobachten. Das „spielerische“ Verhalten der Tiere ist, soweit wir wissen, Einübung in lebensdienliches Verhalten, während der Mensch sein Spielen von dieser Funktion auch abkoppeln kann. Plessner schreibt, der Mensch erscheine sich in „Selbststellung wie in Gegenstandsstellung, als durchzumachende wie als beobachtbare Wirklichkeit […], indem ich selbst die Wirklichkeit bin.“ (Stufen, S. 371) Das HierJetzt-Sein des Menschen, d.h. sein Aufgehen im Erleben, fällt nicht mehr in den Punkt seiner Existenz: „Sogar im Vollzug des Gedankens, des Gefühls, des Willens steht der Mensch außerhalb seiner selbst.“ (Ebd.) Deshalb kann Plessner die Behauptung aufstellen, Mensch-Sein ist „das Andere seiner selbst Sein“.6 Spielend wird dem Menschen nun dieses „Andere seiner selbst Sein“ bewusst. Wenigstens potentiell ist er, und nur er, fähig, sich selbst in einer alternativen Seinsweise oder in einer anderen Raum-ZeitEbene zu denken, und dies kann er spielerisch erproben. Die Bühne oder der Aufführungsraum dient den Tanzenden als Spielfläche. Man spricht auch von „Proben“, die jeder Aufführung oder Performance7 vorausgehen.
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Helmuth Plessner 1981c, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 5, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 135–234; hier S. 225; im Folgenden zitiert als Macht und menschliche Natur
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Unter „Performance“ verstehe ich mit Peggy Phelan eine kontingente und ästhetische Inszenierungsform, die sich in der Flüchtigkeit der Verkörperung zeigt und nicht unbedingt auf traditionelle theatralische Mittel rekurriert; vgl. dies. 1998, „Introduction“, in: dies., The Ends of Performance, New York, S. 1-15; hier S. 2
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Die Lebensdienlichkeit menschlicher Erfahrungen bzw. Erkenntnisse ist keine notwendige Bedingung spielerischen Verhaltens.8 Auf der Basis ästhetischer Fragestellungen wird der philosophischen Anthropologie in diesem Abschnitt der Tanz als Diskussionsfeld eröffnet. Die vier Thesen, die in den vier Kapiteln dieser Arbeit präsentiert, diskutiert und anhand von Tanzphänomenen anschaulich werden, gründen auf Konzeptionen, die sich in erster Linie auf anthropologische Schriften Helmuth Plessners, Arnold Gehlens und Ernst Cassirers beziehen, die für den Tanz in der Forschung noch nicht bzw. nicht genug fruchtbar gemacht worden sind. Diese anthropologische Herangehensweise an künstlerische Tanzphänomene nimmt ihren Ausgang in der Verschränktheit von Körper und Leib, die Plessner als „exzentrische Positionalität“ des Menschen bezeichnet hat. Diese Verschränkung wird als conditio sine qua non eines expressiven Sich-und-Anderen-Präsent-Seins verstanden, welches für künstlerische Tanzphänomene konstitutiv ist. Diesem Gedanken entspringt die erste These dieser Arbeit: Lebendigkeit des Menschen als körperleibliche Gebrochenheit ist Bedingung der Möglichkeit von künstlerischem Tanz und strukturell gesehen anthropologisches Grundthema jedes Tanzphänomens. Der Mensch gewinnt durch sein Bewusstsein von der Differenz zwischen Körper und Leib und durch seine aktive Beziehung zur Grenze die Freiheit zum Spielen. Der Doppelaspekt der menschlichen Lebensform ist eine anthropologische Voraussetzung für Phantasie und die menschliche Ausdrucks- und Darstellungsfähigkeit. Scheler, Gehlen und Plessner haben gemeinsam, dass sie, in unterschiedlichen Wendungen, die Künstlichkeit des Menschen zum Kern ihrer anthropologischen Theorien gemacht haben. Schelers Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos aus dem Jahr 19289 deutet den Versuch, den Menschen aus seiner „natürlichen“, „biologischen“ Erscheinung heraus zu erklären, als defizitär. Aus dieser Perspektive kann er lediglich als „Verlegenheit“ der Natur, als erblich krankes Tier beschrieben werden, wenn man beispielsweise an seine zurückgebildeten Instinkte denkt. Jenseits von Biologie und Soziologie kann der Mensch aber als „geistiges“ Wesen eine Sonderstellung behaupten, seine Welt und sich zu seinem Gegenstand machen
8
Im 2. Kapitel wird es ausführlicher um den Spielbegriff gehen.
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Max Scheler 1976, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), Werkausgabe Band IX, Späte Schriften, Manfred Frings (Hg.), Bern/München, S. 9–71
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und dadurch Kultur schaffen. Auch bei Gehlen ist der Gedanke der Künstlichkeit des Menschen präsent. Wenn er den Menschen als „biologisches Mängelwesen“ bezeichnet, meint er diesen von Johann Gottfried Herder übernommenen Begriff aus dessen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von 178410 nicht beschreibend, definierend, sondern heuristisch. Wollte man den Menschen biologisch angemessen betrachten, so wäre er als Mängelwesen zu bezeichnen; der Konjunktiv ist entscheidend. Ein Beispiel wäre das sogenannte „extrauterine Frühjahr“. Der Mensch ist aber rein biologisch gar nicht zu fassen, sondern, so Gehlen, „von Natur ein Kulturwesen“.11 Plessner nun geht davon aus, Natürlichkeit sei „eine Aufgabe, die sich auf je verschiedene Weise dem Menschen stellt, wenn er in seiner persönlichen oder gesellschaftlichen Entwicklung seine Existenz als künstlich durchschaut“ (Lachen und Weinen, S. 250). Die Künstlichkeit, von der die Rede ist, wird durch künstlerische Objektivationen bekräftigt. In Tanzphänomenen, die ästhetisch rezipiert werden, ist das auf eine besondere Weise der Fall. Tänzerisch drückt sich nicht nur der Körperleib künstlerisch aus und stellt sich künstlerisch dar. Der Mensch in seiner Körperleiblichkeit ist gleichzeitig Ausführender, Werkzeug und thematischer Gegenstand des Tanzes, und in dieser Vielbezüglichkeit ist er sich selbst und anderen selbstbewussten körperleiblichen Wesen präsent.12 In diesem Kapitel beziehe ich mich besonders auf Plessners philosophische Anthropologie. Es ist sein bedeutendstes theoretisches Anliegen, dass die „Unergründlichkeit“ des Menschen herausgehoben und dieser als „offene Frage“ charakterisiert bleibt.13 Damit wirkt Plessner selbst jener Verge-
10 Johann Gottfried Herder 1965, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 2 Bände, Berlin/Weimar 11 Vgl. Arnold Gehlen 2004a, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (zuerst erschienen 1940 und 1950 tiefgreifend überarbeitet), Wiebelsheim, S. 80 und 122; im Folgenden zitiert als Der Mensch 12 Das Präsent-Sein ist auch für Hans Blumenberg anthropologisch zentral, denn der aufrechte Gang macht den Menschen nicht nur fähig, seinen Sichthorizont zu erweitern, er wird selbst auch für Andere sichtbarer. So exponiert wird der Mensch für Blumenberg zum „Experten“ und „Virtuosen“ der Selbstinszenierung, und die Sichtbarkeit provoziert wiederum den Selbstbezug des Menschen. Vgl. Hans Blumenberg 2006, Beschreibung des Menschen, Frankfurt am Main 13 Dazu vor allem Plessner: Macht und menschliche Natur
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genständlichung des Menschen entgegen, die der philosophischen Anthropologie von vielen Theorierichtungen vorgeworfen wird.14 Er versteht den Menschen mit Nietzsche als „nicht festgestelltes Wesen“ und erklärt: „Wir haben die Gefahren einer Ideologie erlebt, welche den Menschen rein biologisch definieren wollte. Andere Ideologien, die ihn anders definieren, aber genauso festlegen, werden ebenso verhängnisvoll sein. Eine Erkenntnis, welche die offenen Möglichkeiten im und zum Sein des Menschen, im Großen wie im Kleinen eines jeden einzelnen Lebens verschüttet, ist nicht nur falsch, sondern zerstört den Atem ihres Objekts […]. Der homo absconditus, der unergründliche Mensch, ist die ständig jeder theoretischen Festlegung sich entziehende Macht seiner Freiheit, die alle Fesseln sprengt, die Einseitigkeiten der Spezialwissenschaften ebenso wie die Einseitigkeiten der Gesellschaft.“15
Die folgenden Ausführungen befragen Plessners anthropologische Grundannahmen hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf Tanzphänomene bzw. auf Tanzende und ihre Rezipierenden, ihr Verhältnis zu sich selbst und zu ihren Bewegungen. Dabei ist der menschliche Körper der Ansatzpunkt einer anthropologischen Beschäftigung mit dem Tanz. „Philosophische Anthropologie fängt systematisch nicht bei der Innenerfahrung des Leibes, sondern bei der Wahrnehmung des vorgestellten Körpers als grenzrealisierendem Ding an: erst Körper, dann Leib.“16 Aus der Fundierung des Tanzes im menschlichen Körper-Leib-Verhältnis ergibt sich die erste These dieser Arbeit. Gleichzeitig verstehe ich sie als theoretisch-strukturellen Rahmen,
14 Plessner betont: „Wir müssen ihn [den Menschen; M.D.] nicht so [als exzentrisches Wesen; M.D.] begreifen, aber wir können es.“ Plessner: Macht und menschliche Natur, S. 148. Vgl. auch Volker Schürmann 2006, „Positionierte Exzentrizität“, in: Hans-Peter Krüger, Gesa Lindemann (Hg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, Berlin, S. 83–102; hier S. 83 15 Helmuth Plessner 1983b, Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie (1956), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 8, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 117–135; hier S. 134; im Folgenden zitiert als Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie 16 Joachim Fischer 2006, „Der Identitätskern der Philosophischen Anthropologie. (Scheler, Plessner, Gehlen)“, in: Hans-Peter Krüger, Gesa Lindemann (Hg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, Berlin, S. 63–82; hier S. 80
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durch den eine philosophische Befassung mit den hier diskutierten Tanzphänomenen möglich wird. Was bedeutet es, dass, wie Plessner schreibt, der Mensch „das dauernd nach Neuem strebende Wesen“ ist, welches „die Überbietung, den ewigen Prozeß“ sucht, um „sich ins Gleichgewicht erst zu bringen und nicht um es zu verlassen“ (Stufen, S. 395)?
2. Die choreographische Version des Sündenfalls im Marionettentheater und Bewegung als sich selbst präsente „gebrochene Ursprünglichkeit“ Herr C. in Kleists Erzählung „Über das Marionettentheater“, die leitmotivisch in dieser Arbeit als Choreographie und Bewegungsstudie gelesen wird, fordert seinen Dialogpartner dazu auf, das dritte Kapitel des Ersten Buchs Genesis genau zu lesen. Bei Kleist ist diese Stelle nicht weiter ausgeführt. Im inhaltlichen Rahmen des nacherzählten Dialogs präsentiert Kleist mit diesem kurzen Verweis implizit eine physiologische Version des Sündenfalls,17 die ich in ihrer geführten, gerichteten Körperlichkeit als „choreographisch“ bezeichnen möchte. Drei Körperregungen scheinen, nimmt man Herrn C.s Ausspruch an dieser Stelle ernst, ursächlich für den Fall des Menschen aus dem Paradies zu sein. Erstens das Öffnen der Augen respektive Richten des Blicks, um die verbotene Frucht zu sehen, welches ein großes Begehren auslöst; zweitens das Ausstrecken der Hand, um nach der Frucht zu greifen; und drittens das Zulaufen hin zu dem ersehnten Objekt. Mit der Ausführung dieser Bewegungen geht der Mensch „über sich selbst hinaus“, fällt in Ungnade und wird aus dem Paradies vertrieben. Helmut Schneider hat 1998 bereits darauf hingewiesen, dass der Mensch, da er den ausdrücklichen Befehl Gottes, „daß er nicht ausstrecke seine Hand, und breche auch von dem Baum des Lebens, und lebe ewiglich!“ (Buch Genesis 3, 22 in Martin Luthers Übersetzung), ignoriere, „Grenzen des Körpers“ überschreite, „seine Geschlossenheit“ durchstoße und „so seinen ‚Fall‘ in die Entzweiung und Inauthentizität“ bewirke, „seinen Auseinanderfall,
17 Als „Körperversion“ deutet den Sündenfall in Kleists Erzählung schon Schneider, wobei er von lediglich zwei Bewegungen spricht, dem „Öffnen der Augen“ und dem „Ausstrecken der Hand“. Vgl. Schneider 1998, S. 164ff.
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seine Zerstückelung“.18 Der Mensch führt damit genau das aus, welches der Marionette, die in Kleists Erzählung als des Menschen Gegenpart fungiert, verwehrt ist, da sie „mit ihren ‚tot[en], reine[n] Pendel[n]‘ – Gliedern, wie ‚sie sein sollen‘, sagt Herr C. […] – in Übereinstimmung mit Gottes Gesetz, dem gar nicht übertretbaren Gesetz der Schwerkraft“ stehen.19 Ich möchte Schneiders anschließende These, Kleists Version des Sündenfalls ziele „auf nichts Geringeres als die menschliche Gabe der Expressivität, die auf der Differenz eines geistigen Innen und körperlich-materiellen Außen beruht und die man die menschliche ‚Exzentrizität‘ und ‚exzentrische Positionalität‘ genannt hat“,20 unterstützen und für den Tanz präzisieren. Es geht mir darum zu zeigen, wie im Tanz auch die „Utopie des ‚NichtKörpers‘ Marionette“, die, in Schneiders Terminologie, „dieses Konstituens der condition humaine“ negiert, „indem sie die Differenz in ihrer technischen Konstruktion beseitigt“, tänzerisch mit thematisiert wird und ihren eigenen körperlichen Ausdruck findet. Wie schlägt sich in historischen und zeitgenössischen Tanzproduktionen das Verhältnis des Maschinisten zu seiner Puppe nieder, des lebendigen zum toten Körper und des SichBewegens zum Bewegt-Werden? Nicht zufällig wird das Thema Mensch versus Tier bzw. Mensch versus Marionette, welches bei Kleist eine große Rolle spielt, von Plessner selbst zitiert, um nach der Stellung des Menschen in der Welt zu fragen. In seiner Abhandlung Zur Anthropologie des Schauspielers bezieht sich Plessner auf den Kampf zwischen dem Fechter und dem Bären, um zu beleuchten, inwiefern der Fechter, der seinen Leib „beherrscht“, gegen das Tier verliert, welches seinen Leib „durchherrscht“.21 Der Mensch weiß, dass sein Leib
18 Alles ebd., S. 164. Der dekonstruktivistische Ansatz Schneiders ist für die Thematik dieser Arbeit durchaus einschlägig, auch wenn ich dieser Ideologie im Allgemeinen nicht folge. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 165 21 Dazu vor allem Pascal Pilgram 2010, Der Schauspieler als Symbol moderner Kultur bei Simmel, Kracauer und Plessner, Nürnberg, S. 141. Er fügt an: „Stellt sich dem Tier dieser Sachverhalt des Umschlagens ‚vom Sein ins Haben, vom Haben ins Sein‘ als unproblematischer Vollzug dar, ist dem Menschen hier die eigentliche Schwierigkeit seiner Existenzweise gegeben.“
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ihm gleichzeitig zuständlich und gegenständlich gegeben ist. In Lachen und Weinen ist diesbezüglich zu lesen: „Darin ist der Mensch dem Tier unterlegen, weil das Tier sich selbst in der Abgeschlossenheit gegen die physische Existenz, als Inneres und Ich nicht erlebt und infolgedessen keinen Bruch zwischen sich und sich, sich und ihr zu überwinden hat. Sein Körpersein trennt sich ihm nicht von seinem Haben des Körpers.“ (Lachen und Weinen, S. 242)
In Zur Anthropologie des Schauspielers situiert Plessner den Menschen zwischen Natur und Gott und schreibt: „Zwischen Natur und Gott, zwischen dem, was kein Selbst ist, und dem, was ganz Selbst ist, steht der Mensch, der sein Selbst sich präsentiert. Er besitzt weder die ungehemmte Präzision der Marionette bzw. die Instinktsicherheit des Tieres noch die vollkommene Ursprünglichkeit unfehlbarer Verwirklichung. Er ist gebrochene Ursprünglichkeit, die nicht über sich selbst verfügt.“ (Zur Anthropologie des Schauspielers, S. 416)
Es ist für das Thema dieser Studie bemerkenswert, dass Plessner hier genau genommen, ebenso wie Kleist, von der Eigenheit menschlicher Bewegungen schreibt. Er gibt an dieser Stelle Gott das Attribut der „vollkommenen Ursprünglichkeit unfehlbarer Verwirklichung“, denn als das Wesen, welches „ganz Selbst“ ist, kann Gott weder zögern, noch in seinen Verwirklichungen fehl gehen. Der Marionette, die kein Selbst hat, sondern leblose Materie ist, die lediglich den Naturgesetzen unterworfen ist, schreibt Plessner eine „ungehemmte Präzision“ in der Bewegung zu. Man kann hier an Kleist denken, der als großen Vorzug der Marionette hervorhebt, dass sie sich nicht ziere. Das Tier, in Kleists Erzählung der Bär, ist auch kein Selbst, hat laut Plessner aber „Instinktsicherheit“, bzw. die „ungebrochene Sicherheit seiner Animalität“. Der Mensch verfügt über keine der hier aufgeführten Eigenschaften, da er für Plessner zwischen Gott und Natur steht, d.h. zwischen dem Absoluten und dem, was ohne Selbstbewusstsein lediglich Naturgesetzen zu folgen vermag. Der Mensch verfügt nicht über sich. Sein Selbst ist weder absolut noch negiert, sondern hat die Eigenart, sich seinem Selbst zu „präsentieren“. Für den künstlerischen Tanz kann man das so umformulieren, dass der tanzende Mensch seine Bewegungen nicht unein-
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geschränkt instinkthaft oder reflexartig ausführen kann, denn dadurch, dass er sich selbst beobachtet und seinen Körper immer auch sich selbst präsentiert, also, anders gewendet, mit dem Vermögen der Reflexion, hat sich eine Instanz zwischengeschaltet, die eine unvermittelte und ursprüngliche Bewegung in einem strengen Sinne unmöglich macht. Im „Sich-selberpräsent-Sein liegt der Bruch“ und die Anweisung der besonderen Weise des menschlichen Daseins. Diese, das wurde bereits im Vorspann angeführt, „exponiert ihn und setzt ihn damit besonderer Gefährdung aus, der er in den Korrekturen und Kompensationen der Kultur auf besonderen Wegen zu begegnen sucht.“ (Ebd., S. 417) Plessners Wortwahl erinnert an dieser Stelle sehr stark an Gehlens Beschreibung des Menschen als Kulturwesen von Natur aus, von der bereits die Rede war. „Kompensationen der Kultur“ muss hier als genitivus subjectivus gelesen werden. Die menschliche „Gefährdetheit“ wird kulturell kompensiert. Der „Bruch“, der daher rührt, dass der Mensch sich von sich selbst distanzieren kann, zwingt ihn gleichzeitig zur Wahl und macht ihm seine „Macht des Könnens“ klar. Anthropologisch ist mit dem Vorzug der Reflexion gleichzeitig eine Verunsicherung gegeben, denn der Mensch weiß jederzeit, dass er auch anders wählen kann. Was Plessner hier als „Korrekturen und Kompensationen der Kultur“ bezeichnet, sind Möglichkeiten des Menschen, mit seiner besonderen Daseinsform umzugehen. Er fährt damit fort, das Schauspiel als einen Weg zu exponieren, auf dem der Mensch sich diese Situation durchsichtig macht, sie vorstellt und sich dadurch von ihr lösen kann, „im Bilde freilich nur und imaginativ […]. Er gibt der Sich-Präsenz die Form und den Sinn der Trägerschaft der Rolle, der Repräsentation, welche den Träger und Darsteller aus der zufälligen Einheit mit sich in die künstliche Einheit mit dem Dargestellten bringt und im Spiel spielend bewahrt.“ (Ebd.)
Was Plessner hier über das Schauspiel aussagt, gilt entsprechend für den Tanz, der in ästhetischen Zusammenhängen rezipiert wird: Die „SichPräsenz“, von der schon die Rede war, tritt nun geformt, gestaltet auf, und im Schau-Spiel oder in der Tanzpräsentation wird die kontingente und prekäre Selbstbeziehung des Menschen „künstlich“ und spielerisch in eine Einheit mit der Rolle bzw. mit dem Dargestellten transponiert.
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Das bedeutet, dass für den Menschen am Anfang seine Künstlichkeit steht, denn er ist „gebrochene Ursprünglichkeit“, die nicht mit sich selbst zusammenfällt. Scheler, Gehlen und Plessner, darauf wurde bereits hingewiesen, gehen davon aus, dass mit dem menschlichen Leben gleichzeitig das Artifizielle gegeben ist. Die prägnanten Begriffe der philosophischen Anthropologie sind deshalb in der einschlägigen Literatur als „gebrochene und neu vermittelte Lebenskreisbegriffe“ gedeutet worden, die aber „durch das Leben getragen“ bleiben.22 In künstlerischen Objektivationen kann man die Künstlichkeit des Menschen beglaubigt sehen.23 In „darstellenden“ Künsten, Schauspiel, Gesang und Tanz, tritt die Besonderheit auf, dass das Sich-präsent-Sein durch ein künstliches und künstlerisches Sich-undAnderen-präsent-Sein selbstbezüglich thematisiert wird. Tanz erscheint als Ausdruck einer Tätigkeit, welche die eigene gebrochene Situation sinnlich erfassen und verarbeiten kann. Gleichzeitig stellen Tanzphänomene eine körperleibliche Möglichkeit dar, dem Grundbedürfnis des Menschen, nach dem Sinn zu fragen, beizukommen, auch wenn die Sinnfrage nicht befriedigend beantwortet werden kann. In der Terminologie Hermann Ulrich Asemissens, auf den Plessner sich bezieht, fungiert anthropologische
22 „Scheler verfolgt die Kontaktaufgebrochenheit des lebendigen Funktionskreises in der Sphäre des Menschen im Hinblick auf die tatsächliche Chance der unmittelbaren Teilhabe am Anderen der Welt, des eigenen biopsychischen Körperleibes, am anderen Mitlebenden. Plessner hingegen verfolgt im Schwerpunkt die Aufgebrochenheit des Lebenskreises im Hinblick auf den Ausdruck, auf die Modalitäten, in denen Welt im Menschen indirekt erscheint und in denen der Mensch vor anderen erscheint. Gehlen hingegen verfolgt die Unterbrochenheit des rhythmisch gesicherten Lebenskreislaufes in der menschlichen Sphäre im Hinblick auf die Mechanismen der künstlichen Sicherung, die der Mensch im Verhältnis zu sich, zur Welt und zu anderen erarbeiten muss und kann.“ Fischer 2006, S. 77 23 „Die ‚Künstlichkeit‘ des Menschen wird durch die Künste beglaubigt, die seine ‚Plastizität‘ vergegenständlichen, seine Teilhabe an grundlegenden Wertsphären.“ Karl-Siegbert Rehberg 2007, „Begegnung in Bildern. Anthropologische und soziologische Analysen der bildenden Künste bei Helmuth Plessner und Arnold Gehlen“, in: Josef Früchtl, Maria Moog-Grünewald (Hg.), Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten. 100 Jahre „Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft", Hamburg, S. 269–284; hier S. 269
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Reflexion als Korrektiv, das vermag, eine Erklärung sowohl für „das Verlangen nach transzendentaler Geborgenheit und Sinngebung wie die Unmöglichkeit seiner Erfüllung“ zu geben. Letztlich bleibe „dem Menschen wie seine ganze Existenz auch die Bestimmung seiner Bestimmung aufgegeben.“24
3. Tänzerische Verkörperung und die Verschränkung der Leiblichkeit in den Körper Obwohl Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch 1928 von einer „Logik der lebendigen Form“ spricht, bleibt für ihn der Mensch, verstanden als körperlich-geistige Einheit, immer eine offene Frage.25 Er sieht den cartesianischen Dualismus von Körper und Geist in einer Synthese im Begriff des Lebendigen aufgelöst: „Als Körperding steht das Lebewesen im Doppelaspekt ineinander nicht überführbarer Richtungsgegensätze nach Innen (substantialer Kern) und nach Außen (Mantel der eigenschaftstragenden Seiten). Als Lebewesen tritt das Körperding mit dem gleichen Doppelaspekt als einer Eigenschaft auf, der infolgedessen das phänomenale Ding in doppelter Richtung transzendiert, es einerseits über es hinaus setzt (streng genommen: außerhalb seiner setzt), anderseits in es hineinsetzt (in ihm setzt)“. (Stufen, S. 183)
Plessner fährt ein paar Seiten später fort: „Ein Ding positionalen Charakters kann nur sein, indem es wird; der Prozeß ist die Weise seines Seins.“ (Ebd., S. 187) Was bedeutet es, dass er den Prozess als Weise des menschlichen Seins bezeichnet? Plessner schreibt, in seiner Lebendigkeit unterscheide sich der organische Körper vom anorganischen durch seinen positionalen Charakter oder seine Positionalität. Unter diesem Begriff versteht er denjenigen Grundzug des menschlichen Wesens, „welcher einen Körper in
24 Hermann Ulrich Asemissen 1973, Grundprobleme der großen Philosophen, in: ders., Philosophie der Gegenwart II, Josef Speck (Hg.), Stuttgart, S. 177 25 Vgl. vor allem Helmuth Plessner 1983e, Homo absconditus (1969), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 8, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 353–366
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seinem Sein zu einem gesetzten macht“ (ebd., S. 184). Positionalität bedeutet demnach, in Raum und Zeit „gesetzt“ zu sein und die Situation in der „umweltbezogenen Grenze“ durchzuhalten.26 Der Mensch ist Körper (ein Ding unter anderen), im Körper (als Innenleben) und außer dem Körper (indem er seinen Körper reflexiv überblicken kann). Plessner nennt ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, Person. Ein solches Lebewesen „ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.“ (Stufen, S. 365) Innerhalb seiner „Begrenzung“ über sich hinausgehend und „in sich hineinsetzend“ ist der lebendige Körper ein unablässig „im Prozeß begriffener“, ein „sich entwickelnder Körper bis zu seinem Tode“ (ebd., S. 213). Bedeutungsvoll für diese Studie ist, dass der positionale Charakter des Lebendigen unmittelbar an Bewegungsphänomenen anschaulich wird. Das „Körperding“ erscheint hier als ein eigenständiges, „für sich bestehendes“ Wesen, das „gegen“ das Medium gestellt ist, „in“ dem es sich bewegt, und „zu“ dem es von sich aus eine Beziehung aufnimmt, die wiederum im „Gegensinne“, wie Plessner schreibt, zu ihm zurückkehrt. Deshalb ist es nicht nur raumerfüllend, wie andere Körperdinge, „sondern es hat einen Ort, strenger gesagt: es behauptet von ihm aus einen Ort, seinen ‚natürlichen Ort‘‘ (ebd., S. 186), und steht zu diesem raumbehauptend in Beziehung.27 Auf Tanzphänomene bezogen, die ästhetisch rezipiert werden, kann ein raumgestaltendes, für den Raum kreatives Moment festgehalten werden.28
26 So beschreibt es Fischer 2008 und hebt Plessners ausdrücklich vermerkte bewusst vollzogene lebensphilosophische Kehre von Johann Gottlieb Fichtes setzendem und sich selbst setzendem Denksubjekt zum anonym „gesetzten“ Lebenssubjekt hervor. Vgl. Joachim Fischer 2008, „Ekstatik der exzentrischen Positionalität. ‚Lachen und Weinen‘ als Plessners Hauptwerk“, in: Bruno Accarino, Matthias Schlossberger (Hg.), Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie, Berlin, S. 253–270; hier S. 256 27 Dazu vor allem Heinz Witteriede 2009, Eine Einführung in die Philosophische Anthropologie. Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, Frankfurt am Main, S. 54 28 Auch Bernhard Waldenfels schreibt von der Selbstbewegung, sie trage selbst zur Raum- und Zeitbildung bei. Vgl. ders. 2007, „Sichbewegen“, in: Gabriele
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Der Raum wird tanzend körperlich „behauptet“. Somit entfernen wir uns von einer Behältervorstellung des Raumes und der Idee, ein Raum würde durch Tanzende lediglich „erfüllt“ werden. Raumbehauptendes Bewegen impliziert eine ursprüngliche Beziehung zum Raum. In einem phänomenologischen Sinne möchte ich das Raumerleben in den Vordergrund rücken. Schon Edmund Husserl hat in seiner Phänomenologie der raumzeitlichen Wahrnehmungserlebnisse alle sinnlichen Erfahrungen an die Perspektive des Leibes gebunden und lebensweltlich fundiert.29 Gerald Siegmund konnte auch Maurice Merleau-Pontys Gedanken zum Raum für den Tanz fruchtbar machen. Dieser gehe davon aus, die mir als Mensch „prinzipiell gegebene Möglichkeit, mich auf die Zukunft hin zu entwerfen, also neue Bewegungen und Körperhaltungen einstudieren zu können“ bedeute, „dass ich damit auch einen neuen Raum in meinen Körperraum integriere“.30 Wir können uns beispielsweise den Bühnenraum von Pina Bauschs Le Sacre du Printemps von 1978 vor Augen führen. Dieser erscheint als mit Torf bedeckte Spielfläche, als Spiel im Spiel, das die Tänzerinnen, die nacheinander am Anfang des Stücks den Raum mit unterschiedlichen Bewegungsqualitäten und -dynamiken betreten, durch ihre körperlichen Präsenz erst als solches wahrnehmbar machen. Wenn eine Tänzerin am Rand der Spielfläche abrupt stehenbleibt und in die Weite sieht, wird der Bühnenraum nach außen hin begrenzt, aufgeteilt in ein Innen und ein Außen. Wenn eine andere Tänzerin die Arme so weit wie möglich nach oben ausstreckt, während eine dritte sich auf den Boden legt und diesen mit ihrem
Brandstetter, Christoph Wulf (Hg.), Tanz als Anthropologie, Bielefeld, S. 14-30; hier S. 21 29 Vgl. dazu Dirk Quadflieg 2009, „Philosophie“, in: Stephan Günzel (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt am Main, S. 274-289; hier S. 282f. Georg Stenger bezeichnet Tanz in diesem Sinne als „gelingende Raumerfahrung“; vgl. ders. 2008, „Autopoietik des Tanzes – Ein phänomenologisch-anthropologischer Blick“, in: Leopold Klepacki, Eckart Liebau (Hg.), Tanzwelten. Zur Anthropologie des Tanzens, Münster, S. 81-105; hier S. 87 30 Vgl. Gerald Siegmund 2008, „Das Gedächtnis des Körpers in der Bewegung“, in: Leopold Klepacki, Eckart Liebau (Hg.), Tanzwelten. Zur Anthropologie des Tanzens, Münster, S. 29-44; hier S. 32. Er zitiert an derselben Stelle MerleauPonty: „Der Leib ist nicht im Raume, er wohnt ihm ein.“ Maurice MerleauPonty 1966, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, S. 169
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Körper abtastet, ist damit wiederum ein Oben und ein Unten definiert. Auf diese Weise werden in Tanzaufführungen Räume tänzerisch erschaffen und verschoben, bestätigt oder verändert, die für Mittanzende und Rezipierende wenigstens teilweise nachvollziehbar und sichtbar werden.31 Bezeichnend ist, dass der auf diese Weise gestaltete Tanzraum für das Publikum zwischen dem gegenwärtig Wahrnehmbaren und dem, was kommen könnte, schwebt.32 Plessners Begriff der exzentrischen Positionalität, der entscheidende Begriff seiner philosophischen Anthropologie, besagt, dass der belebte Körper Teil der subjektiven Erfahrungswelt des Einzelnen und gleichzeitig ein Objekt im Raum ist. Im Vergleich zur Pflanze und zum Tier, die eine zentrische Positionalität haben, da sie aus ihrer Mitte heraus auf die Welt um sich herum bezogen sind, sich selbst aber nicht betrachten können, ist der Mensch dadurch ausgezeichnet, dass er aus seiner Mitte herausgerückt ist, sich auf sich selbst beziehen kann. Er ist ein Leib und hat durch die Fähigkeit zur Distanzierung einen Körper. „Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.“ (Stufen, S. 364) Dieses Selbstverhältnis stellt im Menschen einen existenziellen Bruch dar. Gleichzeitig ermöglicht die aus der exzentrischen Positionalität herrührende Distanz alle Verhaltensformen, denn sie setzt den Menschen aus seinem unmittelbaren körperlichen Selbstverständnis hinaus:
31 Das vom Förderplan Deutschland unterstützte und im Internet frei zugängliche Projekt Motion Bank, das durch den Choreographen William Forsythe initiiert wurde und an dem inzwischen viele Wissenschaftler verschiedener Disziplinen arbeiten, um mit Hilfe „neuer Medien“ choreographische Wege von Tänzern sichtbar zu machen, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie die Transformation von Bewegung in ein tanzfremdes Medium eine Sichtbarmachung von Tanzräumen besonderer Art ermöglicht. Vgl. motionbank.org (letzter Zugriff 10.04.2014) 32 Vgl. Gabriele Brandstetter 1995, Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt am Main, S. 54 und Kristin Westphal 2008, „Ertanzter Raum. Körper. Bewegung. Raum“, in: Leopold Klepacki, Eckart Liebau (Hg.), Tanzwelten. Zur Anthropologie des Tanzens, Münster, S. 45-64; hier S. 58
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„Wirkliche Innenwelt: das ist die Zerfallenheit mit sich selbst, aus der es keinen Ausweg, für die es keinen Ausgleich gibt. Das ist der radikale Doppelaspekt zwischen der (bewußt oder unbewußt wirksamen) Seele und dem Vollzug im Erlebnis, zwischen Notwendigkeit, Zwang, Gesetz geschehender Existenz und Freiheit, Spontaneität, Impuls vollziehender Existenz.“ (Ebd., S. 372f.)
Plessner spricht in seinem gleichnamigen Werk von 1970 von einer Anthropologie der Sinne,33 in der dieselben uns erst in kulturell erschaffenen Gebilden, wie z.B. der Kunst, „aesthesiologisch“, d.h. in einer wahrzunehmenden Ordnung, zugänglich werden. Erst in dem, was die Sinne zu leisten vermögen, kann sich das ausdrücken, was den Sinnen eigen ist. Transzendentalphilosophisch formuliert, erfüllen die Sinne die Funktion, dem Verstand Material für die Synthetisierung durch die kategorial formende Kraft des Verstandes zugänglich zu machen. Durch diesen aktiven Posten der Wahrnehmung bekommen alle Erfahrungen ihre Ordnung in Raum und Zeit. Die menschliche selbstreflexive Präsenz dupliziert jede Erfahrung in der Erfahrung dieser Erfahrung. Der Mensch hat einen Körper, ist aber gleichzeitig ein Leib als Einheit von Reflexion und Körper, die es ihm wiederum über die Distanz ermöglicht, einen Körper zu haben. Plessner nennt deshalb die „Crux der Leiblichkeit ihre Verschränkung in den Körper“. Diese Verschränkung stellt den Schlüssel zur philosophischen Anthropologie dar (beides Plessner: Anthropologie der Sinne, S. 368). Aus der Gebrochenheit von Leib und Körper heraus ist der Mensch angesichts der unmittelbaren Präsenz seiner Sinne gezwungen zu handeln. Diese Situation ist auch der Grund für die ästhetisch-symbolisierende Wahrnehmung, die für Plessner gleichursprünglich mit der menschlichen Handlung ist.34 Der
33 Helmuth Plessner 1980, Anthropologie der Sinne (1970), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 3, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 317–393; im Folgenden zitiert als Anthropologie der Sinne 34 „Der Mensch findet sich im (objektiven) Körper, im lebendigen Ding als Leib vor, von innen her als Lebenssubjekt in der Welt ihr gegenüber situiert (die Subjekt-Objekt-Relation), ohne dass er mit dieser Binnenperspektive zur Deckung käme. Denn er existiert unter dem Doppelaspekt, sich von innen her als zentriertes Lebenssubjekt an- und auszufühlen und sich doch im gleichen Augenblick […] von der Flanke her als Körper unter materiellen Körpern marginalisiert, de-
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Bruch zwischen Leib-Sein und Körper-Haben, der das Spannungsverhältnis zwischen der leiblichen Materialität auf der einen und der Konstruktion des Körpers auf der anderen Seite beschreibt,35 ist die Voraussetzung für die fundamentale Bedeutung des Körpers als Grund jeglicher Kultur. Es kann deshalb als These formuliert werden, dass Lebendigkeit des Menschen als körperleibliche Gebrochenheit Bedingung der Möglichkeit von künstlerischem Tanz ist und strukturell gesehen anthropologisches Grundthema jedes Tanzphänomens. In der darstellenden Kunst wird der Doppelaspekt zwischen geschehender und vollziehender Existenz noch verstärkt. Tanzende in einer Bühnensituation bewegen sich, reflektieren ihre Bewegungen und empfinden sie zurück. Gleichzeitig wissen sie darum, dass andere sie auch wahrnehmen und ihre Bewegungen mitvollziehen36 und reflektieren.
zentriert, objektiviert vorzufinden – wie ein „Stück Vieh“ (Plessner), wie ein Ding unter Dingen. In diesem Doppelaspekt, in dieser Inkongruenz von Binnenund Außenperspektive vermuten die beteiligten Denker dieser Denkbewegung zugleich das neue Erschließungspotential des Denkansatzes. Denn durch den systematischen Einbezug der Vitalsphäre können nicht nur die scheinbar verkörperungsneutralen Vermögen der Vernunft und der Sprache als Monopol des Menschen, sondern Leidenschaften, Gefühle, die verschiedenen Sinne des Sehens, Hörens, Tastens, Körperhaltungen, das Werkzeug und die Bilderzeugung, das Musizieren und das Tanzen, Lachen und Weinen, die orgiastische Ekstase und das Begraben, alle Bewegungsarten und Ausdrucksbewegungen als welterschließende und menschenweltstiftende Konstituenten entfaltet werden.“ Vgl. Fischer 2006, S. 71 35 Um den Begriff des Spannungsverhältnisses wird es in Kapitel 3 gehen, in dem auf der Grundlage von Ernst Cassirers Symbolisierungsfunktionen für den Tanz ein Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung aufgezeigt wird. 36 In diesem Zusammenhang kann heute auch auf die Entdeckung der sogenannten „Spiegelneuronen“ und des Phänomens der neuronalen Resonanz hingewiesen werden. Spiegelneuronen unterscheiden sich auf den ersten Blick nicht von anderen Neuronen, die unsere Handlungen, Körperempfindungen und Gefühle steuern. Es macht sie aber besonders, dass sie nicht nur erhöht aktiv sind, wenn wir selbst Bewegungen ausführen, sondern auch wenn wir andere Individuen beobachten, welche die Bewegungen ausführen. Man hat erfasst, dass die Aktivität der Spiegelneuronen höher ist, je besser der Beobachtende die Bewegung „kennt“, je besser sie seinem eigenen Bewegungsrepertoire angehört. Genaueres
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Im Tanz ist der ganze Körperleib des Menschen beteiligt, ohne Spezialisierungen bestimmter Organe oder Gliedmaßen (auch in Isolationen, in denen bewusst einzelne Körperteile „still gestellt“ werden). Dieses Ganzheitliche der körperleiblichen Bewegung in Tanzphänomenen macht anthropologisch die besondere körperliche Befähigung des Menschen für Tanz deutlich. Der Mensch ist das Lebewesen, das sich selbst zum einen als Ding unter Dingen fasst, die ein gemeinsames Raum-Zeit-Kontinuum bewohnen, aber sich zum anderen als Mitte wahrnimmt, bzw. seine eigene Mitte als Zentrum wahrnimmt. Dieser Doppelaspekt, der in der Positionalitätsart des Menschen verankert ist, entzieht ihm konstitutiv sein Gleichgewicht. Der Mensch fühlt sich bodenlos und muss sich durch ein kulturelles Schaffen den Boden bereiten, von dem er dann getragen werden kann. Das steht in einer Analogie zur Ballerina, die, um in der pirouette ihr Gleichgewicht zu finden, ihre Mitte „halten“ muss, indem sie in einem Richtungsgegensatz ihren Körper nach oben zieht und gleichzeitig vom Boden abstößt. Der Boden trägt sie, auch wenn sie in der pirouette en pointe so wenig Bodenkontakt hat, dass sie sich gleichzeitig boden- und schwerelos fühlt. Aber sie muss den Raum, den ihr Körper einnimmt, und ihre Präsenz auch behaupten, indem sie zugleich zentriert ihre Mitte aufrichtet und hält und einen Punkt im Raum (oder in der Reflektion im Spiegel) fokussiert (im Tanzvokabular spricht man von einem „Spot“, der zur Orientierung im Raum dient).
4. Der Körper als Werkzeug im Tanz – Natürliche Künstlichkeit, vermittelte Unmittelbarkeit und utopischer Standort Exzentrisch positioniert zu sein bedeutet für den Menschen, exponiert zu seiner zentrischen Positionalität zu sein, d.h., er ist in ein Verhältnis gesetzt zu seinem umweltsituierten Körperleib, zu dessen Sensualität und zur Mannigfaltigkeit seiner Sinne. Mit dem prekären, störbaren Verhältnis zwischen dem Leib, der er ist, und dem Körper, den er hat, tut sich für den Menschen ein „Spielraum“ auf, der, anthropologisch betrachtet, für ihn bedeutet, dass
dazu bei Giacomo Rizzolatti, Laila Craighero 2004, „The mirror-neuron system“, in: Annual Review of Neuroscience 27, S. 169–192
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ein „spielerisches“ Verhältnis zu seinem Dasein sein Verhalten durchzieht.37 Plessner rückt den Lebensvollzug ins Zentrum des Menschseins. Exzentrischer Lebensvollzug ist als ein solcher zu verstehen, der im Vollzug um sich als auch anders sein könnend weiß. Deshalb kann er als „performativ“ bezeichnet werden, im Sinne einer ausführenden und konkretisierenden Tätigkeit. Mit anderen Worten handelt es sich nicht um die bloße Umsetzung einer Vorgabe oder Disposition, sondern exzentrischer Lebensvollzug, der sich selbst zusieht, ist positioniertes Tun in einem „Feld von Möglichkeiten“.38 Reflexivität bezeichnet hier nicht nur diskursive Vorgänge oder kognitive Prozesse, sondern auch einen Grundmechanismus der Sinne. Sie bezeichnet eine Eigenschaft, die den Sinnen selbst zukommt. Jedes menschliche Verstehen und Verhalten ist in der Wechselwirkung zwischen den Sinnen und dem phänomenalen Charakter der Dinge und Lebewesen begründet, die von ihnen getastet, gerochen, geschmeckt, gesehen und gehört werden. Dem Menschen, der sich weder als Einheitliches zu fassen vermag, noch in seiner körperleiblichen Situation eindeutig verorten kann, ermöglicht erst Reflexivität, kulturell und künstlerisch kreativ zu sein und schöpferisch zu wirken. Der Körperleib ist dem Menschen ambigue gegeben, d.h. er erfasst seinen „Leib“ als andersartig als seinen „Körper“. Er ist, wie Plessner schreibt, gezwungen, „mit dem aufrechten Gang ein riskantes Gleichgewicht durchzuhalten und seinen Leib als seinen eigenen Körper zu manipulieren und zu instrumentalisieren“ (Anthropologie der Sinne, S. 369). Aus seinem unmittelbaren Selbstverständnis hinausgesetzt, muss der Mensch „Werkzeuge“ schaffen, die dazu beitragen sollen, Kultur zu ermöglichen. Im künstlerischen Tanz ist der Körperleib selbst ein solches Werkzeug: „Bald steht die menschliche Person ihrem Körper als Instrument gegenüber, bald fällt sie mit ihm zusammen und ist Körper. Wo immer es auf Beherrschung der körperlichen Mechanismen ankommt, beim Handeln und Sprechen, in der Zeichen-
37 Dazu auch Hans-Peter Krüger 2000, „Das Spiel zwischen Leibsein und Körperhaben – Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48, S. 289–317 38 Nachzulesen bei Schürmann 2006, S. 83
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gebung, in Gesten und Gebärden, erfährt der Mensch die Doppeldeutigkeit physischen Daseins.“ (Lachen und Weinen, S. 373)
Dem Menschen kommt das Verhältnis von Leibsein und Körperhaben zu Bewusstsein, welches die conditio sine qua non dafür ist, dass ihm sein Körper als entfremdeter gegeben ist. Ohne diese Entfremdung und Distanz zum eigenen Leib wäre es nicht möglich, Bewegungen wie im Tanz bewusst zu gestalten. Das erklärt die Sonderstellung des Tanzes im Vergleich zu den anderen Künsten. Allein in Tanz, Gesang und Schauspiel ist der Körperleib das einzige „Werkzeug“ der künstlerischen Produktion. Der Tänzer ist nicht auf fremdes Material und dessen technische Produktion und Verwendung angewiesen. Bedeutung wird unmittelbarer als in anderen Künsten aus dem Körperleib heraus geschaffen, was Tanzenden nicht nur ein größeres Maß an Unabhängigkeit schafft, sondern zur Annahme einlädt, Tänzer, Sänger und Schauspieler drückten in höherem Maß sich selbst aus, als es beispielsweise der bildende Künstler in einem „fremden“ Material tut. Man nimmt aus diesem Grund an, dass der Tanz die älteste Kunstgattung sein könnte, da der Mensch in kulturellem Gebaren von sich ausgehen konnte und keiner weiteren Instrumente bedurfte. Ohne eine Ursprungsgeschichte des Tanzes schreiben zu wollen, halte ich diese Annahme durchaus für plausibel. Für die Philosophie der Kunst bedeutet das, Tanz (wie Schauspiel und Gesang) als besonders leibnah zu erkennen. Daraus erklärt sich, warum für die Thematik dieser Studie ein anthropologischer Ansatz gewählt wurde. Im Tanz verwirklicht sich die Instrumentwerdung des Menschen. Tanz lässt mit und in der Bewegung Raum für Spiel, ebenfalls eine menschentypische Kategorie. Und Tanz hat ein starkes selbstbezügliches Moment, ist in ästhetischen Wahrnehmungszusammenhängen „Selbsterforschung“, seit Sokrates das philosophische Motiv schlechthin. Der Körperleib ist Werkzeug des Tänzers, mit dem er sich selbst auf eine besondere Weise ausdrücken kann. Aus der exzentrischen Positionalität des Menschen folgert Plessner eine Expressivität, die er als „Ausdrücklichkeit menschlicher Lebensäußerungen überhaupt” beschreibt (Stufen, S. 399). Expressivität ist ein Vermögen, welches auch Tiere haben, dessen sie sich aber nicht bewusst sind. Deshalb äußern sie leiblich ihre Befindlichkeit in typischen Ausdrucksbewegungen, vermögen aber nicht, diese zu transzendieren, indem sie im Ausdruck Abstand von eben diesem haben. Plessner versteht unter Bewegung eine „in
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dem Verhältnis seines Leibes zur Umgebung vorgezeichnete Aktion”.39 So nimmt man z.B. das Gehen als Ortsveränderung des eigenen Körperleibes wahr. Auch andere Körperleiber werden auf diese Weise wahrgenommen, was Plessner als „Leibumweltrelation“ bezeichnet (Die Deutung des mimischen Ausdrucks, S. 81). Im Tanz zeigt sich das menschliche Bewegungsvermögen in einer interessanten Ausprägung, denn es besteht eine dem Menschen allein verfügbare wechselseitige Bezüglichkeit, die vom besonderen Verhältnis des Menschen zu seinem Körperleib herrührt. Die exzentrische Positionalität befähigt den Menschen erst zu einem Kontakt mit der Welt, doch der Mensch entdeckt auch, wie indirekt und vermittelt seine Beziehungen zu den Objekten sind. Ästhetische Expressivität in gestalteter Bewegung, wie im Tanz, ist eine Möglichkeit, der Welt formend zu begegnen. Diese Ordnung zeigt sich „in der Tendenz, das Flüchtige des Lebens durch Gestaltung aufzubewahren und es übersichtlich zu machen” (Stufen, S. 399). Das geschieht auch in einer „flüchtigen“, ephemeren Kunst, wie dem Tanz. Die ästhetische Wahrnehmung von Tanzbewegungen erhält ihre Dynamik aus der Spannung zwischen der Flüchtigkeit des Gegenstands, Bewegungen können nicht festgehalten werden, und einer offensichtlichen Bewegungsgestaltung und Raumbehauptung in der Ausführung tänzerischer Bewegungen, die Tanz in die Nähe der Architektur rückt, auch wenn die Wege im Raum sich dann in der Phantasie des Rezipienten zusammensetzen und sofort durch neue Bewegungen und Raumwege durchkreuzt werden. Der Tänzer ist raumbehauptend und raumschaffend. Der Film zeigt zwar auch Körperbewegungen der Menschen, aber nicht so unmittelbar wie der Tanz und in einem hohen Maß abhängig vom Stand der Filmtechnik. Plessner kann in seiner Anthropologie der Sinne die körperliche Existenz „als ein Verhalten des Menschen zu sich als Körper und zu seinem Körper, d.h. als Verkörperung“ bestimmen (Anthropologie der Sinne, S. 382). In seiner Untersuchung der Leistungsmöglichkeiten der Sinne stößt er in dem Moment auf den Begriff der Verkörperung, wenn er den Sinnen ihren „eigentlichen anthropologischen Stellenwert“ zuweisen möchte, „den
39 Helmuth Plessner 1982a, Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (1925), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 7, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 67–129; hier S. 78; im Folgenden zitiert als Die Deutung des mimischen Ausdrucks
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sie im Zusammenhang mit dem Organisationsprinzip der auf Expressivität angewiesenen exzentrischen Positionalität des Menschen einnehmen“.40 An dieser Stelle bedient er sich selbst eines Begriffs, der herkömmlicherweise darstellenden Künsten wie Tanz und Schauspiel vorbehalten ist. Dies unterstützt den Gedanken, dass diese Kunstformen auf exemplarische Weise die Verschränktheit von Leib und Körper sichtbar machen.41 Tänzerische Verkörperungen sind Umgangsformen mit sinnlichen Modi, die sich aus der menschlichen Fähigkeit zur Distanzierung ergeben, und die in einem aktiven Gebrauch der Sinne den Körperleib zur Darstellung bringen. Sensomotorisch vermag der Tanz, die „Anthropologie der Sinne“ zu thematisieren, indem er deren Zusammenhang aufzeigt. Als künstlerische Schöpfung, als kreativer Einfall liegt sein Geheimnis, wie Plessner schreibt, „in dem glücklichen Griff, in der Begegnung zwischen den Menschen und den Dingen.“ (Stufen, S. 397) Die künstlerische Gestaltung ist für Plessner, neben Handlung und Sprache, eine Möglichkeit der Verkörperung. Er schreibt, Leibhaftigkeit ist nicht einfach Körper-Sein, „sondern immer auch Körper-Haben, d.h. ein Verhalten der Verkörperung und zur Verkörperung, ein in Handlung, Sprache und Gestaltung Körper gewinnendes Verhalten zu ihm und seinen Gegenständen.“ (Anthropologie der Sinne, S. 383)
Plessner formuliert drei anthropologische Grundgesetze, welche, die These dieses Kapitels stützend, in ihrer Relevanz für die Verkörperung im künstlerischen Tanz betrachtet werden. (1.) Wie schon dargestellt wurde, ist der Mensch in einem konstitutiven Ungleichgewicht, da er, obwohl er aus seinem Zentrum heraus lebt, nicht, wie das Tier, in diesem Selbst aufgeht, sondern seine Mitte gleichsam von außen betrachtet. Aus der Beschreibung dieses Sachverhalts heraus formuliert Plessner das erste anthropologische Grundgesetz, das der natürlichen Künstlichkeit: „Erhalten die Ergebnisse menschlichen Tuns nicht das Eigengewicht und die Ablösbarkeit vom Prozeß ihrer Entstehung, so ist der letzte Sinn, die Herstellung des
40 Nachzulesen bei Pilgram 2010, S. 153 41 Diese These, der ich mich für den künstlerischen Tanz anschließen möchte, hat Pilgram ebd. mit dem Schwerpunkt auf das Schauspiel formuliert.
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Gleichgewichts: Die Existenz gleichsam in einer zweiten Natur, die Ruhelage in einer zweiten Naivität nicht erreicht. Der Mensch will heraus aus der unerträglichen Exzentrizität seines Wesens, er will die Hälftenhaftigkeit der eigenen Lebensform kompensieren und das kann er nur mit Dingen erreichen, die schwer genug sind, um dem Gewicht seiner Existenz die Waage zu halten.“ (Stufen, S. 385)
Hier ist durchaus auch an künstlerische Objektivationen wie Tanz zu denken. Der Mensch ist als „exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos“ (ebd.). Er kann sich nicht, wie das Tier, auf seinen Instinkt verlassen, sondern muss die fehlende „Instinktsicherheit“ kompensieren. Das tut er, indem er seine exzentrische Natur mit einer Kultur umgibt, die er immer wieder neu hervorzubringen hat und die ihm dann auch als eine objektive Größe entgegensteht. Die gesamte Tanzgeschichte lässt sich als Ausdruck dessen interpretieren. Die menschliche Künstlichkeit ergibt sich natürlich aus seiner Exzentrizität. Plessner ist sich der thematischen Nähe der natürlichen Künstlichkeit zu künstlerischen Objektivationen bewusst, wenn er die „Ausdrücklichkeit“ künstlerischer Phänomene herausstellt und betont, dass die Entfremdung des Menschen von sich selbst erst Phantasie und Verstehen möglich macht: „Erleben, Ausdruck, Verstehen bedingen den menschlichen Umgang mit Menschen und Dingen in der Vertrautheit und in der Entfremdung gleichermaßen, aber was in der Vertrautheit unausdrücklich und wie von selbst sich abspielt, wird in der Entfremdung ausdrücklich und strebt zu künstlich-methodischer Gestaltung. […] Aus der Erschütterung geboren, macht die Entfremdung Phantasie, Denken und Anschauen möglich.“42
„Aus der Erschütterung geboren“, ist der Mensch also natürlicherweise künstlich; er steht zu sich selbst in Beziehung und muss sich mit sich selbst und seiner Mitwelt auseinandersetzen, in erster Linie mit seinem „auch anders Sein-Können“, dass er sich z.B. tänzerisch vor Augen führen kann. Jedes Tanzphänomen ist in diesem Sinne ein anthropologischer Entwurf.
42 Helmuth Plessner 1983a, Mit anderen Augen (1953), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 8, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 88–104; hier S. 99; im Folgenden zitiert als Mit anderen Augen
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(2.) Im zweiten anthropologischen Grundgesetz geht es Plessner um vermittelte Unmittelbarkeit. Es wurde gezeigt, dass das erste anthropologische Grundgesetz impliziert, das, was der Mensch erschaffe, um sein Ungleichgewicht zu kompensieren, habe für ihn eine „Objektivität“ (Stufen, S. 397), auf die er sich beziehen könne. Kulturelle Errungenschaften bleiben zwar an den Menschen gebunden, müssen aber in einem gewissen Sinne auch unabhängig von ihm sein. Mit Plessner gesprochen, kann der Mensch „nur erfinden, soweit er entdeckt“ (ebd.). Er führt diesen Gedanken weiter und schreibt, der Mensch stehe „im Zentrum seines Stehens. Er bildet den Punkt der Vermittlung zwischen ihm und dem Umfeld und er ist in diesen Punkt gesetzt, er steht in ihm. D.h. einmal: Seine Beziehung zu anderen Dingen ist zwar eine indirekte, er lebt sie aber als direkte, unmittelbare Beziehung ganz wie das Tier –, soweit er wie das Tier dem Gesetz der geschlossenen Lebensform und ihrer Positionalität unterworfen ist. Und es heißt zum anderen: Er weiß von der Indirektheit seiner Beziehung, sie ist ihm als mittelbare gegeben.“ (Ebd., S. 401)
Das bedeutet, dass der Mensch, soweit er der Positionalität der geschlossenen Lebensform unterliegt, in einer mittelbaren Beziehung zu seiner Umwelt steht, obgleich er diese als unmittelbar lebt. Da seine Positionalität exzentrisch ist, weiß er aber auch von der Mittelbarkeit, und diese Mittelbarkeit ist ihm als Bewusstseinsinhalt gegeben. Mit anderen Worten ist jede Wissensbeziehung in der Richtung des erfahrenden Wissens für den Menschen immer unmittelbar, da er selbst die Vermittlung bildet.43 Plessner betont, dass das Wissen vom Objekt die Vermittlung zwischen sich und ihm ist (Stufen, S. 404). Der Mensch hat an „seiner eigenen Lebensform, die jedem kontemplativen […] und jedem aktiven […] Verhalten gleichermaßen vorausliegt […] die Gewähr für die Objektivität seines Bewußtseins, für das Dasein und die Erreichbarkeit der Realität.“ (Ebd., S. 408) Alles Seiende bietet sich als Erscheinung dar und braucht ein dem eigenen Bewusstsein immanentes Subjekt, um sich zeigen zu können. Dieses immanente Subjekt ist die Bedingung der Möglichkeit einer Beziehung zur Außenwelt. Anders gewendet beruhen für Plessner Immanenz und
43 Dazu Patrick Wilwert 2008, Philosophische Anthropologie als Grundlagenwissenschaft? Studien zu Max Scheler und Helmuth Plessner, Würzburg, S. 105
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Expressivität „auf ein und demselben Sachverhalt der doppelten Distanz des Personzentrums vom Leib.“ (Stufen, S. 409) Sowohl unser Wissen von der Außenwelt als auch die „Ausdrücklichkeit menschlicher Lebensäußerungen“ (ebd., S. 399) sind durch eine Beziehung der vermittelten Unmittelbarkeit gezeichnet. (3.) Das dritte anthropologische Grundgesetz ist das des utopischen Standorts. Der Mensch sucht aufgrund seiner natürlichen Künstlichkeit sein wesenhaftes Ungleichgewicht auszugleichen, indem er Künstliches schafft. Die Gebilde, die er erschafft, tragen konstitutiv den Stempel des Zufälligen und Vergänglichen, ja sogar des Nichtigen. Durch das Bewusstsein der „Zufälligkeit des Daseins“ gelangt der Mensch zur „Idee des Weltgrundes, des in sich ruhenden notwendigen Seins, des Absoluten oder Gottes“ (ebd., S. 419). Das menschliche Dasein, welches aufgrund seiner exzentrischen Positionalität da steht, wo es steht, und zugleich nicht da steht, wo es steht, ist ortlos und hat insofern einen utopischen Standort. In Plessners Worten birgt „die Existenz des Menschen für ihn einen realisierten Widersinn“ (ebd., S. 420f.). Die Suche nach einem Ausweg führt ihn, nach Plessner, zur Religion. Andererseits jedoch vermag der Mensch, Atheismus als Gedanken zu denken. „Die Exzentrizität seiner Lebensform, sein Stehen im Nirgendwo, sein utopischer Standort zwingt ihn, den Zweifel gegen die göttliche Existenz, gegen den Grund für diese Welt und damit die Einheit der Welt zu richten.“ (Ebd., S. 424) Deshalb lässt sich das Absolute nicht wissen, nur glauben (ebd.). Plessner versteht jeden schöpferischen Griff als Ausdrucksleistung (ebd., S. 398), womit gesagt ist, dass der Mensch z.B. künstlerisch die Form für etwas, das schon da ist, zu finden hat. „Dadurch erhält der realisierende Akt, der sich auf die von der Natur dargebotenen Materialien stützen muß, den Charakter der Künstlichkeit. Jede Ausdrucksleistung zerfällt ihrem inneren Wesen und ihrer äußeren Erscheinung nach in Inhalt und Form, in das Was und das Wie des Ausdrucks.“ (Ebd.)
Mit der anthropologischen Kategorie des utopischen Standorts wird also verständlich, dass das Sein des Menschen immer ein „Sein als etwas“ ist, und dass das Moment der Darstellung in die menschliche Seinsweise eingeschrieben ist. Dieses Grundgesetz ist eine radikale Absage an jeden Ver-
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such des Menschen, sich fest in der Welt einzurichten.44 Ich verstehe einen tänzerisch-künstlerischen Entwurf als besonders leibnahe Thematisierung dieses Nicht-festgestellt-Seins, des utopischen Standorts, die sich im Ephemeren der Tanzaufführung zeigt. Wie dieses Thema im Allegro moderato aus dem zweiten Akt von SCHWANENSEE, in Kris Verdoncks I/II/III/IIII und in William Forsythes (N.N.N.N.) umgesetzt ist, wird im 1. tanzpraktischen Exkurs diskutiert, die auch in einem engen Bezug zu Kleists Marionettentheater stehen.
44 Vgl. Gerald Hartung 2003, Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist, S. 364
T ANZPRAKTISCHER E XKURS 1 Das Allegro aus dem 2. Akt aus S CHWANENSEE von Lew Iwanow/Marius Petipa (UA 1877), I/II/III/IIII von Kris Verdonck (UA 2007) und (N.N.N.N.) von William Forsythe (UA 2002) Die klassische Tanztechnik Wenn Kleist in seinem Marionettentheater die klassische Tanztechnik seiner Zeit reflektiert, dann als normierende Kraft und Dressur des menschlichen Körpers, als System, das Versagen produziert.1 Sie wird in den Bildern von Marionetten und Prothesenträgern von ihm als letztlich unmenschlich in Frage gestellt;2 und tatsächlich ist es auch heutzutage noch eine tägliche Realität des Balletttrainings, dass Bewegungen an einem Ideal orientiert werden, welches auf individuelle körperliche Dispositionen oder auf Individualität in der Bewegungsqualität der Tänzerinnen und Tänzer keine oder kaum Rücksicht nimmt. Es wurde bereits auf Blasis hingewiesen, der am Anfang des 19. Jahrhunderts in seinen Tanztraktaten ästhetische Vorstellungen seiner Zeit mit Richtlinien aus Geometrie und Mechanik kombiniert und zu dem Code of Terpsichore zusammenfasst, der bis heute die Körperpraxis des klassischen Tanzes prägt. Dieser schreibt: „I should compose a sort of alphabet of straight lines, comprising all the positions of the limbs in dancing, giving these lines and their respective combinations, their proper geometrical appellations, viz: perpendiculars, horizontals, obliques, right, acute, and obtuse angles, etc., a language which I deem almost indispensable in our lessons.“3
Vielsagend sind auch seine Zeichnungen von Strichmännchen, die genau genommen ein utopisches Ideal von Bewegungen darstellen, dem sich ein menschlicher Tänzer nur asymptotisch annähern kann (Abb. 1). Man denke beispielsweise an ein développé à la seconde, eine Bewegung aus dem 1
Darauf hat bereits Lucia Ruprecht hingewiesen; vgl. dies. 2006
2
Dazu auch Gerhard Neumann 1994, „Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers. Umrisse von Kleists kultureller Anthropologie“, in: Gerhard Neumann (Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, Freiburg im Breisgau, S. 13–30; hier S. 23
3
Blasis 1828, S. 96f.
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klassischen Ballett, bei dem in der „perfekten“ 180 Grad-Ausdrehung der Beine und Füße (von der Hüfte aus gehalten) ein Fuß über den Unterschenkel geführt wird, dann das gebeugte Bein (passé) vom Knie aus seitlich angehoben und in 180 Grad zum Standbein nach oben ausgestreckt wird, wobei sich im „Idealfall“ und nach dem Codex des klassischen Balletts möglichst Schultern und Hüfte gerade übereinander befinden und der Oberkörper gerade bleiben sollte (Abb. 2 zeigt die Primaballerina Sylvie Guillem in der Endpose der Bewegung). Anatomisch ist es gar nicht möglich, diese Bewegung perfekt auszuführen. Und doch ist es beachtlich, wie sehr es einigen Tänzerinnen und Tänzern gelingt, sich diesem „unmenschlichen“ Ideal anzunähern und geometrische Linien in ihren Körpern sichtbar zu machen. An einer Marionette könnte man problemlos ein vollkommenes développé à la seconde ausgeführt sehen. Abb. 1
Abb. 2
Blasis zufolge soll der Körper auf das klassische Schönheitsideal des 18. Jahrhunderts hin modelliert werden, wobei er sich besonders auf Plastiken bezieht (vor allem diejenigen Antonio Canovas) und die Tanzenden auffordert, sich so zu bewegen, dass sie Malern jederzeit als Vorlage dienen könnten. Indem Blasis Schritte und Posen sammelt und ihre möglichen Kombinationen darstellt, schreibt er eine „Grammatik“ des klassischen Balletts, die den Körper als Figur in Bewegung impliziert. Nicht die Kräfte, die von außen auf den Körper einwirken, sondern die Kräfte, die im Körper
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wirken, sind hier zentral. Das wichtigste Element in diesem System der Körperbewegung ist die „Perpendikular“-Linie, nach welcher der Tanzkörper sich ausrichten soll, um ein Gleichgewicht aus dem Zusammenspiel einer stabilen Körpermitte (in zumeist vertikaler Haltung) und mobiler Gliedmaßen zu finden und im équilibre zu beherrschen: „Endeavour to hold your body in perfect equilibrium, never let it depart from the perpendicular line“.4 So soll jede Bewegungsfigur des Balletts einer Linie von Grazie folgen, was Tanzende zugleich zu Poeten und Mechanikern machen soll: „In short, a complete Ballet-Master is at once author and mechanist“.5 Das neoklassizistische Schönheitsideal, welches hier verfolgt wird, ist durch eine größtmögliche Distanz zum Thema Vergänglichkeit, zu Geburt und Tod, gekennzeichnet: „Beauty is typified in the eternal spring of the youthful figure, equally far away from its beginning and its end. It is an androgynous ideal, moulded after slender young men, or pubescent women, displaying contours that hint at least at the visible changes taking place in bodies due to age or procreation.“6
Schönheit und Schmerz Kleist evoziert in seinem Marionettentheater Bilder der Gebrechlichkeit und Fragilität des Körperlichen. Mit dem aufrechten Gang ist der Mensch „anfällig […] für Gleichgewichtsstörungen“.7 Als würde er den modernen Tanz gedanklich vorwegnehmen, taucht das „Fallen“ bei Kleist immer wieder als Topos in seinen Schriften auf, als sei es jeder Bewegung als Möglichkeit eingeschrieben,8 z.B. am Ende des Marionettentheaters, wo er von einem „Zurückfallen in den Stand der Unschuld“ spricht (vgl. Kleist, „Über das Marionettentheater“, S. 563; meine Hervorhebungen), was für sich genommen ein Oxymoron ist.
4
Vgl. ders. 1828, S. 72
5
Ebd., S. 95
6
Vgl. Ruprecht 2006, S. 4
7
Vgl. Gabriele Brandstetter 2007b, „Kleists Choreographien“, in: Günter Blamberger, Gabriele Brandstetter, Ingo Breuer, Sabine Doering, Klaus Müller-Salget (Hg.), Kleist-Jahrbuch, Stuttgart, S. 25–37; hier S. 30
8
Ebd., S. 29f.
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Wie Kleists Marionettentheater, zeigt auch E.T.A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann die Verflochtenheit des Schönen und des Mechanischen im neoklassizistischen Denken. Die Automate Olimpia erinnert an die Mythen der Pandora und des Pygmalion und beschwört Phantasien der Omnipotenz und Unbesiegbarkeit herauf. Aber Hoffmann stellt im Sandmann auch eine Verbindung zum Pathologischen her. In Nathanaels Wiederholungszwang9 und seiner Obsession mit der Puppe wird deutlich, wie das Trauma seiner Kindheit sich in seinem Körper verfestigt hat und in seinen Bewegungen und Handlungen bemerkbar macht. Die subtile Verbindung aus Schmerz und Lust, Macht und Ohnmacht, bringt das Fragmentarische und Verdrängte im Technischen und scheinbar Perfekten zum Vorschein. Insofern würde das klassische Ballett auch eine Form der Selbst-Ermächtigung darstellen, „entailed by the deliberate production of the superior ‚natural‘ body through technique“.10 Die Nähe des trainierten und die Bewegungen beherrschenden Tänzerkörpers zu einer Marionette oder Maschine provoziert, ebenso wie das Bild der Puppe, „Angst-Lust-Phantasien“.11 In der Laokoon-Debatte ist die Verbindung zwischen Schönheit und Schmerz in der klassizistischen Ästhetik besonders deutlich geworden. Eine solche Ästhetik „simultaneously conceals and is dependent on some form of the
9
Freud führte diesen Begriff 1920 in seinem Aufsatz „Jenseits des Lustprinzips“ ein, um den menschlichen Impuls zu beschreiben, für ihn schmerzhafte Situationen zu reinszenieren. Vgl. Sigmund Freud 1975, „Jenseits des Lustprinzips“ (1920), in: ders., Psychologie des Unbewußten, Studienausgabe, Band 3, Frankfurt am Main
10 Diese Verbindung stellt Ruprecht zu recht heraus und betont auch die Nähe zu Freuds Todestrieb; vgl. Ruprecht 2006, S. 13. Kleist und Hoffmann „turn their attention away from the idealisation and its exclusions to the pathological implications of the psycho-somatic unity in showing how pain is written on, and expressed in, the body. In their texts, psychic suffering is reflected in physical appearance and movement“; vgl. ebd., S. 12. Damit steht ihr Ansatz dem Julien Offray de la Mettries entgegen, der in seiner Schrift L’Homme machine die materialistische Sicht des 18. Jahrhunderts repräsentiert, die das Maschinenhafte idealisiert. 11 Vgl Susanne Marschall in http://film-dienst.kim-info.de/artikel.php?nr=151368 &dest=frei&pos=artikel (letzter Zugriff 21.09.2012)
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dynamics of the infliction of bodily pain“.12 Die Expressivität beruht hier gerade auf dem agonalen Moment, nicht auf einer harmonisierten Körperform.13 Die Zeit, in welcher der klassische Tanz sich als Kunstform etabliert hat, macht deutlich, wie sehr eine körperleibliche Problematik vorliegt. Die Tanzpraxis oszilliert zwischen einer Köperkontrolle, in der dieser zum Werkzeug des Tänzers wird, und einem „obsessive surrender to the body, incorporating both the dream and the curse of the machine“.14 Und das gilt nicht nur für den klassischen Tanz, da dieser die Grundlage jeder Form von Bühnentanz bildet, auch (und gerade) dort, wo man sich explizit gegen den klassischen Bewegungskanon entscheidet, wie im Ausdruckstanz oder im freien Tanz. Virtuosität und exzentrische Positionalität Der Mensch macht seinen Körperleib tanzend zum Instrument, mit dem er spielen kann, und kann wiederum dieses Spiel ästhetisch reflektieren und zurückempfinden. Auf diese Weise wird das Spannungsverhältnis zwischen einer unüberwindlichen leiblichen Gegenwart und einem (durch bewusst gewordene Expressivität) konstruierten Körper gerade im Tanz dynamisch. In diesem Zusammenhang, und um im Folgenden drei Tanzphänomene näher zu beleuchten, die das Gesagte vertiefen sollen, möchte ich das Thema Virtuosität ansprechen, welches einem Diktum Theodor W. Adornos nach „die absolute Herrschaft als Spiel; eine Balance am Rande des Gebzw. Misslingens“ ist.15 Virtuosität im Tanz wäre eine Körperbeherrschung, die in einer fast menschenunmöglichen technischen Perfektion, quasi „übermenschlich“, den Zuschauer in Entzücken und Erstaunen versetzt. Dem Rezipienten kommt der Abstand zwischen dem Können des Künstlers
12 Vgl. Simon Richter 1992, Laocoon's Body and the Aesthetics of Pain: Winckelmann, Herder, Lessing, Moritz, Goethe, Detroit, S. 11 13 Vgl. Ruprecht 2007, S. 57 14 Vgl. dies., 2006, S. 14 15 Zitiert nach Brandstetter 2007b, S. 35f. Adorno dürfte an dieser Stelle eigentlich nicht von einer „absoluten“ Herrschaft sprechen, da die Virtuosität eben nicht losgelöst vom Ge- oder Misslingen der Präsentation sein kann und sich nur im uneingeschränkten Gelingen verwirklicht findet. Eine „absolute Herrschaft“, so lese ich das Zitat Adornos, kann nur spielerisch behauptet werden, um eine Unfehlbarkeit zu suggerieren.
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und seinem eigenen unüberwindlich vor. Der Virtuose scheint „die Grenzen des physisch Möglichen in seinem Tun zu überschreiten“, verbirgt seinem Publikum aber zugleich, „worin diese Überschreitung eigentlich besteht“.16 Deshalb steht man dem Virtuosen oftmals ambivalent gegenüber, ist einerseits fasziniert von seinem schier unfassbaren Können, lehnt aber gleichzeitig innerlich ab, dass die Präsentation seelenlos scheint, wie eine Inszenierung des Künstlers,17 nicht seiner Kunst. Vielleicht verführt der Virtuose, wo er überzeugen sollte.18 Eine virtuose Bewegung im klassischen Ballett müsste sich den geometrischen und mechanischen Vorstellungen von Blasis annähern und der Künstlerin oder dem Künstler (wenigstens scheinbar) leicht von der Hand gehen.19 Der Zuschauer müsste sich in seiner aufmerksamen Rezeption innerlich zurücklehnen können und in Sicherheit wähnen, dass er nicht plötzlich durch eine inkorrekte Bewegungsausführung aus seiner Bewunderung herausgerissen wird.20
16 Vgl. dies. 2003, „Der virtuose Starrummel“, in: Arnd Wesemann (Hg.), Die Virtuosen. (Balletttanz. Das Jahrbuch 2003), Berlin, S. 20–33; hier S. 21 17 Auch Brandstetter spricht von einem „Schein der Oberflächlichkeit“ und darüber, dass es dem Virtuosen um Selbstinszenierung gehen könnte; vgl. ebd., S. 22 18 Wiebke Hüster 2003, „Alle Virtuosen sind Verführer“, in: Arnd Wesemann (Hg.), Die Virtuosen. (Ballettanz. Das Jahrbuch 2003), Berlin, S. 12–15; hier S. 14 19 Die Bewegung des Virtuosen wird laut Hüster nicht reflektiert, sondern „durch Wiederholung eingeübt“, so dass sie reflexartig genannt werden könne; vgl. ebd., S. 13f. Hüster zitiert E.T.A. Hoffmann aus seinem Vollkommenen Maschinisten, der schreibt, es gebe „Fälle, wo Dichter und Musiker mit ihren höllischen Künsten die Zuschauer so zu betäuben wissen, dass sie auf alles das nicht merken, sondern ganz hingerissen, wie in einer fremden Welt, sich der verführerischen Lockung des Phantastischen hingeben“. Sie nennt den Virtuosen daher auch den „Vertreter des Dämonischen in der Kunst“; ebd., S. 14. Gleichwohl habe er nichts Utopisches an sich, sondern habe einfach nur seinen Körper besser unter Kontrolle als andere. Hüster fährt fort, der Tanz wende sich deshalb überall dort von der Virtuosität ab, „wo er Botschaften im Sinn hat (Ausdruckstanz, Konzeptkunst, Tanztheater)“. 20 Hüster bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den Begriff „psychical distance“, den Edward Bullough in die englische Literaturästhetik eingeführt hat,
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Brandstetter schildert, wie in der Zeit, in der Kleist sein Marionettentheater schreibt, mit der „Krise der Repräsentation“21 auch der Virtuose immer mehr unter dem Verdacht steht, hinter seinem Vortrag könnte sich ein „gekünsteltes“ Schauspiel verbergen.22 Sie bezeichnet sehr treffend die „Denkfigur“, die dem Virtuosen „seine eigentümliche Faszination“ verleiht, als „das Phantasma der Maschine, durch das dem Virtuosen die Aura des Übermenschlichen und die Erotik des Medialen zuwächst“.23 Das Anorganische, Marionetten- oder Maschinenhafte der virtuosen Darbietung betört und verstört zugleich, ist es doch gerade ein Moment augenscheinlicher Lebendigkeit in der tänzerischen Bewegung des Menschen, mit der dieser sich gleichzeitig dem Toten angleicht: der Marionette oder der Maschine. Brandstetter fährt fort, aus Heinrich Heines Lutezia zitierend, Virtuosität zeuge „ganz eigentlich vom Sieg des Maschinenwesens über den Geist“ und feiere die „Präzision eines Automaten, das Identifizieren mit dem besaiteten Holze, die tönende Instrumentwerdung des Menschen“. Es geht hier also um mehr als das, was Plessner beschreibt, wenn er den Körper in der Verkörperung als Werkzeug der Expressivität bezeichnet. In einer künstlerischen Vision, sei sie nun mit Angst oder Lust oder beidem besetzt, überschreitet der Virtuose in diesem Verständnis sein Menschsein und nähert sich der Marionette oder Maschine an. Die drei Tanzstücke, die ich in den nächsten Abschnitten analysieren werde, reflektieren auf unterschiedliche Weise diese Vision. Dass der Mensch in der Kunst mit seinen Möglichkeiten spielen und darüber hinaus streben kann, liegt in seiner exzentrischen Positionalität begründet. In dem Allegro aus dem zweiten Akt von SCHWANENSEE nähern sich die vier Tänzerinnen mit ihren synchronen Bewegungen der Präzision einer Maschine an. In Kris Verdoncks Performance-Installation I/II/III/IIII ist es eine unsichtbare Maschine, wel-
um anzuzeigen, dass ein Publikum zwar von der Darbietung angerührt sein, aber gleichzeitig in Distanz zu ihr bleiben sollte, „um auf seine eigenen Empfindungen achten zu können“; vgl. ebd., S. 13. Virtuosität aber reiße „den Betrachter aus dieser souveränen Haltung heraus“ und lenke „ihn von sich selbst ab“, sie mache „ihn durch Faszination und die gesteigerte Anforderung an das ‚Mitkommen‘ unfrei gegenüber dem Gezeigten“. Ebd. 21 Vgl. Brandstetter 2003, S. 25 22 Ebd., S. 24 23 Ebd., S. 27
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che die vier Tänzerinnen zu vier Marionetten macht (und auf körperliche Widerstände stößt). Und in William Forsythes (N.N.N.N.) wird der Schwerpunkt, der im klassischen Tanz im Körperzentrum ist, bewusst nach außerhalb versetzt und bestimmt die zum Teil improvisierten Bewegungen der vier Tänzer, die sich, in einer spielerischen Vieldeutigkeit, als Menschen, Marionetten und als eine viergliedrige Maschine präsentieren.
Die „vier kleinen Schwäne“ aus Marius Petipas und Lew Iwanows SCHWANENSEE
Abb. 3
Im ca. zweiminütigen Allegro Moderato aus dem zweiten Akt des 1877 uraufgeführten Handlungsballetts SCHWANENSEE, dem sogenannten „Tanz der vier kleinen Schwäne“ (vgl. Abb. 3), fällt insbesondere die Synchronität der Bewegungsabläufe und die Ähnlichkeit der körperlichen Statur, des Ausdrucks und der Kostüme der vier Tänzerinnen auf. Ihre Blickführung folgt einer komplexen Choreographie, geht aber grundsätzlich in dieselbe Richtung, während ihre Beine, Füße und Arme die sautés und pas de chats präzise und virtuos ausführen. Gerade die scheinbare Leichtigkeit ihrer Bewegungen unterstreicht die Marionetten- oder Maschinenhaftigkeit der Tänzerinnen. Ihre Armposition bleibt die ganze Variation über unverändert und wird nur am Ende (für eine arabesque, auf die dann eine Pose auf einem Knie folgt, also eigentlich für den Applaus) aufgelöst.
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Die tänzerisch anspruchsvollen Bewegungen scheinen in ihrer Maschinenhaftigkeit und technischen Präzision den künstlerischen Ausdruck zu nivellieren. Der Körperleib der einzelnen Tänzerin fügt sich einem künstlerischen Ganzen und tritt in seiner Einzigartigkeit in den Hintergrund. Es geht hier um Virtuosität, darum, einem Publikum, welches die vier kleinen Schwäne zentralperspektivisch betrachtet, das tänzerische Können zu präsentieren. Die Choreographie legt den Tänzerinnen in vielerlei Hinsicht Stolpersteine in den Weg, als sollten sie trotz aller Hindernisse ihre Perfektion unter Beweis stellen. Die Kopfbewegungen entsprechen nicht dem üblichen Ballettcodex, und bei der Nähe der Tänzerinnen zueinander kann es jederzeit passieren, dass sie sich bei einem Fehler in großer Nähe direkt in die Augen blicken. Die Sprünge, vor allem die pas de chats im en dehor, sind in dieser engen Positionierung der Tänzerinnen schwierig und funktionieren nur bei genauer Gleichzeitigkeit der Bewegungen und einer annähernd gleichen Beinlänge und Sprunghöhe. Als erfahrener Zuschauer fühlt man sich geradezu dazu aufgefordert, aufzusuchen, wo sich die vier kleinen Schwäne unsauber und nicht synchron bewegen. Es ist kein Zufall, dass eben diese kurze Choreographie so oft Parodien zum Opfer gefallen ist, betont sie doch gerade die Unmöglichkeit für den Menschen, seinen Körper vollkommen zu einer Marionette des Bewegungsmaterials oder zu einer Maschine zu machen.
I/II/III/IIII von Kris Verdonck „Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben; wir brauchen ihn, um darauf zu ruhen, und uns von der Anstrengung des Tanzes zu erholen: ein Moment, der offenbar selber kein Tanz ist, und mit dem sich weiter nichts anfangen läßt, als ihn möglichst verschwinden zu machen.“ (Kleist, „Über das Marionettentheater“, S. 559f.)
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Abb. 4
In Kris Verdoncks Performance-Installation I/II/III/IIII, uraufgeführt 2007 im Kaaitheater in Brüssel, ist der Bezug zum Allegro moderato aus SCHWANENSEE offensichtlich, da die historische Vorlage zitiert und gleichzeitig ironisch gebrochen wird. Die Choreographie hat vier Teile; erst eine Tänzerin, dann zwei, dann drei und schließlich vier Tänzerinnen (siehe Abb. 4), die sich körperlich sehr ähneln und gleiche kurze schwarze Kleidchen tragen, hängen an einer großen Maschine, deren Mechanismus dem Zuschauer verborgen bleibt, auch wenn man manchmal Motorgeräusche vernimmt und Seile sehen kann, an denen sie wie Marionetten hängen. Die Tänzerinnen bewegen sich synchron, aber durch die Mechanik der Maschine (gegen die ihre tänzerisch geschulten Körper zuweilen anzukämpfen scheinen) und durch das Zusammenspiel mit der Schwerkraft und dem Widerstand ihrer Körper, kommt es oft vor, dass nicht alle vier Tänzerinnen in dieselbe Richtung gedreht sind. Da sie aufgehängt sind, können sie diesen „Fehler“ (als solchen haben die Tänzerinnen, laut Aussage des verantwortlichen Performancekünstlers Verdonck während des Sommertanzlabors 2008, in dessen Forschungsgruppe ich war) nicht selbst körperlich korrigieren. Die Maschine ermöglicht den Tänzerinnen eine Leichtigkeit in den Bewegungen (z.B. im Handstand oder im flachen „Fallen“ auf den Boden), die an das Ideal von Schwerelosigkeit, élévation, im klassischen Ballett erinnert; der Boden wird nur manchmal genutzt, um sich wieder synchron zu den anderen Tänzerinnen zu positionieren. Assoziationen beim Zuschauer reichen von Eindrücken großer Harmonie (Schwerelosigkeit, Fliegen, Körper, welche die Kontrolle abgeben
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können) bis zu Horror-Bildern einer Schlachtbank (Körper als Fleischmassen), des Gehängt-Seins, der „unheimlichen“ (im Sinne von „uncanny“) Übermacht der Maschine, vor welcher der Mensch sich nicht behaupten kann, und der Schreckensvision, dass jederzeit die Maschine die Tänzerinnen in die Höhe ziehen könnte, so dass sie plötzlich von der Bühne verschwinden. Während bei SCHWANENSEE (entsprechend der Konzeption von Blasis) der Schwerpunkt der Bewegung in der Perpendikularlinie des Körpers, also im Inneren der Tänzerinnen, liegt, ist hier der Schwerpunkt verschoben auf einen Bereich außerhalb des Körpers, einen Bereich, der von der Maschine gesteuert wird. Man könnte die Drehungen der Tänzerinnen, die durch die Maschine ausgelöst werden, für perfekte pirouettes halten. Tanzende sind stets bemüht, ihren Körper sehr zentriert um die Linie durch ihren Körper kreisen zu lassen, und sobald nicht mehr genug Schwung vorhanden ist oder sobald die gerade Linie bricht, ist die pirouette beendet. In I/II/III/IIII werden die Tänzerinnen zwar durch die Maschinerie in die Drehung versetzt, aber während sie am Seil hängen entspricht ihre pirouette in der Luft der Perfektion, die das Ballettvokabular zum Ideal macht, wenn es auch nicht (oder nur zum Teil) aus der eigenen Körperbeherrschung und -kontrolle hervorgeht. Der Schmerz, den die Tänzerinnen nach Auskünften des Choreographen gefühlt haben, als sie an der Maschine aufgehängt waren, ist ein Beispiel dafür, wie die Tänzerinnen ihre Körper anthropologisch betrachtet zu Werkzeugen gemacht haben. Es geht dann nicht um lebensdienliche Bewegungen, sondern um einen willentlich herbeigeführten Zustand zum Zwecke der Verkörperung. Die Tänzerinnen erleben sich selbst in der Objektivierung der choreographischen Idee. Sie vollziehen die Grenze ihrer Verkörperung „als Marionetten“, die von der Maschine bewegt werden, im Widerstand ihrer Körper. Die Performance-Installation verweist auf eine unendliche Potentialität menschlicher Bewegungen, indem sie zeitweilig durch die Maschine eine tänzerische Körperbeherrschung erschwert oder unmöglich macht.
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(N.N.N.N.) von William Forsythe Abb. 5
(N.N.N.N.) wurde am 21. November 2002 mit den Tänzern Cyril Baldy, Amancio Gonzalez, Georg Reischl und Ander Zabala uraufgeführt. Die Musik, die nur sehr spärlich im Hintergrund in quietschenden Klängen zu hören ist, stammt von Thom Willems; Bühne, Licht und Kostüme sind von William Forsythe konzipiert. Das Tanzstück (N.N.N.N.) dauert ca. 20 Minuten. Ein Mann steht in Trainingskleidung auf der ansonsten leeren Bühne. Seine Füße sind in einer parallelen 6. Position, sein Blick geht nach links, sein rechter Arm liegt auf seinem linken Oberarm, der seitlich neben seinem Körper hängt. Sein rechter Arm rutscht von seinem linken Arm, er fängt seine rechte Hand, die wie ein fremder Gegenstand völlig spannungslos und schwer wirkt, mit seiner linken Hand auf, lässt sie, wie einen kleinen Ball, mehrmals auf die andere Hand prallen, und klemmt sie sich dann unter seinen linken Arm. Von links hinten betritt ein anderer Mann in Trainingskleidung die Bühne. Sein rechter Arm scheint wie von einem unsichtbaren Draht durchzogen, er bewegt den Arm seitlich in eine Position, in welcher der Oberarm am Torso anliegt, der Unterarm aber zur Seite weg steht. Der Arm bleibt steif in dieser Position. Auch hier scheint es so, als würde der Arm nicht zu seinem Körper gehören. Die beiden Tänzer versu-
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chen unabhängig voneinander, ihre Arme in eine andere Position zu bekommen. Ein dritter Tänzer betritt von der linken Seite in Trainingskleidung die Bühne und geht quer über die Bühne nach rechts. Ein vierter Mann, ähnlich gekleidet, kommt von der rechten Seite auf die Bühne. Bei den beiden Tänzern ist auch jeweils ein Arm schwer und leblos oder wirkt steif. Sie beugen diesen mit ihrer anderen Hand und versuchen, ihn unter den anderen Arm zu klemmen oder ihn seitlich stehen zu lassen. Die Bewegungen der Männer stellen unterschiedliche Versuche dar, aber es ist wie ein physikalisches Gesetz, dem ihre Körper gehorchen müssen, dass ein Körperteil ein besonderes Gewicht oder eine spezielle Konsistenz hat, nach der sich die Tänzer in ihrer Bewegungsführung richten müssen. Die vier Männer stellen sich rechts vorne auf der Bühne nebeneinander auf. Sie beginnen, miteinander in körperlichen Kontakt zu treten. Der dritte von links legt eine Hand auf den Rücken des anderen. In vielen Experimenten berühren sich die Tänzer und probieren dadurch, sich bei gleich bleibenden Kontaktpunkten des Körpers zu drehen und ihre Stellung im Raum zu verändern. Sie vollziehen exemplarisch verschiedene Bewegungen der Contact Improvisation. Teilweise und immer wieder erinnert ihre Art, die Arme ineinander und übereinander zu schlagen, an einen Versuch der Nachahmung der vier kleinen Schwäne aus dem Ballett SCHWANENSEE. Nur etwas ist anders, die Trägheit ihrer Körper, gegen die sie nicht antanzen, sondern der sie zu einem gewissen Grade nachgeben. Die vier Tänzer beginnen, sich im Liegen aufeinander rollend zu bewegen (in der Terminologie der Contact Improvisation spricht man vom „rolling point of contact“). Die Sequenzen wirken immer mehr wie physikalische Reaktionen auf einen Energiereiz, den einer von ihnen durch eine Bewegung ausgelöst hat. Die Energie entsteht beispielsweise dadurch, dass ein Tänzer sich umdreht und einen anderen Tänzer anstößt. Auch pendelnde Kreisbewegungen von Armen und Beinen erinnern an physikalische Gesetze, an die Gravitation und an das Gewicht der Körper – und nicht zuletzt an Kleists Beschreibungen der Körperglieder der Marionette, die wie Pendel, „tot“, an der Puppe hängen und sich von dem Schwerpunkt, den der Maschinist vorgibt, bewegen lassen. Abrupt bleiben die vier Männer stehen. Die Energie scheint den Körpern entwichen zu sein. Der Zuschauer fragt sich, woher ein neuer Energieschub kommen kann. Es bilden sich zwei Zweiergruppen aus. Man denkt
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wieder an Physik und die Anziehungskraft zwischen den Körpern. Die beiden Gruppen probieren unabhängig voneinander verschiedene Möglichkeiten des Körperkontakts. Die Tänzer stellen sich wieder nebeneinander in einer Viererkonstellation auf und bewegen sich mit wechselnden Kontaktpunkten in Bezugnahme aufeinander. Es ist ein spontan wirkendes Aktionsund Reaktionsspiel, in dem die vier Männer sich in immer verschlungenere Positionen begeben und diese wieder auflösen. Vereinzelt tauchen schwingende Arme auf, die den ganzen Körper zum Mitschwingen bringen. Ein Tänzer verlässt links seitlich die Bühne und bringt damit vor allem das fachkundige Publikum, welches das Allegro aus dem 2. Akt von SCHWANENSEE mit (N.N.N.N.) assoziiert, zum Lachen. Ein Mann bleibt rechts hinten ruhig stehen. Die zwei anderen Männer tanzen weiter, der Dritte kommt von hinten dazu. Sie beginnen, aneinander zu zerren, zu rangeln; für kurze Zeit wirken ihre Bewegungen wie eine Balgerei. Sie lösen dabei Impulse aus, die weitergeführt oder umgeleitet werden. Wenn die vorhandene Energie verbraucht ist, und Trägheit sich einstellt, geht von einem Tänzer jeweils ein neuer Bewegungsimpuls aus, von dessen Energie auch die anderen Tänzer sich führen lassen. Zwei Tänzer gehen rechts seitlich von der Bühne. Ein Mann tanzt allein und geht zu Boden. Der Mann, der die Bühne als erster verlassen hat, kommt zurück und hilft dem anderen Tänzer auf. Die Sphärenklänge ertönen nur vereinzelt. Es sind wieder alle vier Tänzer auf der Bühne und geben sich gegenseitig Bewegungsimpulse. Durch leichte Tritte werden Drehungen ausgelöst, Arme und Beine hauen aufeinander. Man hört das Aufschlagen von Körperteilen auf die Haut, man hört die Schritte der Tänzer. Sie haben sich auf den Boden begeben und sitzen Rücken an Rücken. Das ermöglicht ihnen, die kleinsten Regungen des anderen körperlich wahrzunehmen. Kurz darauf sitzen sie asymmetrisch nebeneinander. Dabei machen der erste und der dritte sowie der zweite und der vierte in der Reihe jeweils zu zweit gleiche Bewegungen auf dem Boden. Sie erinnern optisch vage an eine technische Installation. Ein erneuter Versuch der körperlichen Verkettung, der an die vier Schwäne erinnert, löst sich in zwei Zweiergruppen auf. Eine neue Konstellation: Drei Tänzer liegen, der vierte wird stehend durch den Fuß eines anderen Tänzers gestützt. Man hört den Atem der Tänzer. Die Tänzer gehen wieder in Zweiergruppen zusammen, ihre Begegnung wirkt zufällig. Zwei Männer gehen hintereinander. Der vordere streckt beim Geradeaus-Laufen gleichzeitig den Arm nach vorne, der dem
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vorderen Fuß entspricht. Der hintere Tänzer hat seine Hände an den Ellenbogen des Vordermannes und imitiert seine Beinbewegungen beim Laufen. In dieser Konstellation bewegen sie sich vorwärts und rückwärts. Die beiden anderen Tänzer haben sich getrennt und bewegen sich ohne Partner. Auch jetzt scheint die Energie auszulaufen, bis die beiden Männer, die wie eine Maschine hintereinander laufen, wieder losgehen und damit einen Impuls auslösen, der auch die anderen Männer dazu bringt, sich weiterzubewegen. Jetzt bewegen sich alle vier Tänzer wieder als Solisten, treten aber bald wieder in Kontakt, zu einem erneuten, sehr hektischen Versuch einer Viererkonstellation. Ein Tänzer tritt jeweils vor, und die anderen folgen wie in einer Menschenkette seiner Bewegung, ohne die Kontaktpunkte zu den anderen Tänzern zu verlieren (Abb. 5 und 6). Die Bewegungen sind komplexer geworden, die Tänzer heben und stützen sich gegenseitig. Wie in einer plötzlichen Explosion stieben die vier Männer auseinander, zwei gehen rechts nach hinten und zwei links. Gleichzeitig erlischt das Licht. Abb. 6
Der Name dieser Choreographie, (N.N.N.N.), deutet darauf hin, dass es sich um ein Spiel mit Spontaneität und scheinbarer Improvisation handelt, denn der Name des Stückes scheint noch offenzustehen und durch den jeweiligen Abend der Darbietung definiert zu werden. Die Choreographie spielt mit
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Elementen aus der Contact Improvisation.24 Gerade in der Anfangszeit dieser Tanzrichtung ließen sich die Tänzer von physikalischen Experimenten inspirieren. Im Zentrum standen Schwerkraft, Schwung, Reibung, Impuls, Gewicht, Balance, Hebelwirkung usw. Das findet in (N.N.N.N.) eine spielerische Umsetzung, die sich vor allem in den improvisierten Sequenzen zeigt. Von der Physik angeleitet, versuchen die vier Tänzer in einem gruppendynamischen Spiel, neue Bewegungsmuster zu erkunden und auszuprobieren. Dabei folgen ihre Körper physikalischen Gesetzen wie Schwerkraft, Magnetismus und Trägheit, und wirken teilweise selbst wie Maschinen oder Rädchen in einem Getriebe. Auch der Name der Choreographie scheint die Tänzer auf einer Ebene in ihrer Individualität zu negieren. Nur als Rädchen im Getriebe, wäre jeder Tänzer beliebig. Doch dabei bleibt Forsythe nicht stehen. Die Tanzsequenzen sind Impulse, Reaktionen auf die Bewegungen der anderen. Die Bewegungen scheinen energetischen Gesetzen zu folgen; das macht sie einerseits spontan und einzigartig, aber andererseits auch folgerecht und stimmig. In dieser Versuchsanordnung sind die Tänzer wie Billardkugeln, die angestoßen werden und sich solange bewegen, bis die Energie aufgebraucht ist. Dabei geht es, dem Grundvokabular der Contact Improvisation folgend, um Kontakt, Kommunikation und um ein körperliches Zuhören im Bewegungsdialog mit dem Partner bzw. den Partnern. Die Möglichkeiten der Tänzer, die Energie in Bewegung umzusetzen, wirken grenzenlos. Konstellationen zeigen sich dem Publikum als Choreographie, als Bewegungsauswahl, die immer auch anders sein könnte. Die Musik von Thom Willems ist dezent, es ist kein Rhythmus auszumachen, damit kann die Musik den Bewegungen auch keinen Rahmen schaffen. Sowohl die Abfolge der Bewegungen, Hebungen, des Stützens („support und mover“ im Vokabular der Contact Improvisation), des Fallens usw., als auch das Tempo, das sich gerade der Intensität der Bewegungsmuster angleicht, wirken so, als seien sie aus der Situation heraus geschöpft und gestaltet.
24 Das Judson Dance Theatre (Choreographie-Klasse von Robert Dunn: z.B. Steve Paxton, Elaine Summers, Trisha Brown, Lucinda Childs) beginnt ca. 1962– 1964, alltägliche Bewegungen in den Tanz mit einzubeziehen, wie z.B. Liegen, Stehen, Sitzen und Gehen. Yvonne Rainer, Trisha Brown, Steve Paxton und andere gründen 1970 eine Tanzimprovisationsgruppe. Paxton zeigt im Januar 1972 eine Studie über Fallen, Springen und Fangen, die Contact Improvisations heißt, und etabliert damit eine neue Tanzrichtung.
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Ein Assoziationsspielraum wird eröffnet, der bis zu der Frage reicht, woher der Impuls für die erste Bewegung kam, die den Menschen bewegt hat. Die vier kleinen Schwäne sind Ikonen des klassischen Balletts, welche gegen die Schwerkraft anzukämpfen haben. Die Tänzerinnen sollen möglichst leicht und schwerelos wirken. Ihr männliches Pendant in dieser Choreographie lässt die Bewegung gerade aus der Schwerkraft heraus entstehen, und referiert „mit einem Augenzwinkern“ zurück auf das akademische Vorbild. Tänzerische Möglichkeiten werden erkundet, entworfen in verschiedenen körperlichen und räumlichen Positionen, in verschiedenen Gruppierungen und Soli. (N.N.N.N.) wirkt wie eine Übung der Contact Improvisation in Gewichtsaustausch und in der Verschiebung des tänzerischen Zentrums. Aber neben der starken Präsenz physikalischer Fakten, denen die Körper nachgeben und anhand derer sie ihren Körper willenlos der Schwere zu überlassen scheinen, sind die Verknotungen und irrwitzigen Bewegungsmöglichkeiten, die von den vier Tänzern präsentiert werden, auch sehr präzise und virtuos, sehr einfallsreich und humorvoll. Physik und Physis sind im Dialog mit einem Bewegungstrieb und einer Lust des Choreographen an dem Erfinden eines neuen Bewegungsvokabulars, an der Deklination tänzerischer Möglichkeiten, in denen auch für die Individualität und Bewegungsimagination der Tänzer Raum bleibt. Forsythes Choreographie kann ästhetisch in der Tradition von George Balanchines Neoklassik gedeutet werden.25 Das dort entwickelte Ballettvokabular wird bei Forsythe zu einem komplexen und dynamischen Referenzsystem, welches das neoklassische Ballett zu einem Material macht, das in seine Komponenten aufgeteilt und verändert zusammengesetzt werden kann. Dabei referiert Forsythe nicht nur zurück auf die Neoklassik, sondern auch weiter zurück auf die Referenz der Neoklassik auf den Barock usw. Diese Schichten von Wissen und Tradition, die tänzerisch zu einem Körperwissen geworden sind, da seine Tänzer dieses Wissen in ihrem tänzerischen Werdegang praktisch am eigenen Leib erfahren haben, münden in
25 Für Forsythes Arbeit ist besonders das Selbstreferenzielle in Balanchines neuklassischem Ballett wichtig. Balanchine sieht als wichtigsten Faktor im Ballett „die Bewegung selbst, so wie es der Ton ist, der in der Musik wichtig ist. Ein Ballett mag eine Handlung haben, aber das visuelle Spiel, nicht die Handlung ist wesentlich“. George Balanchine zitiert in Helmut Schmidt-Garre 1966, Ballett vom Sonnenkönig bis Balanchine, Velber bei Hannover, S. 327
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eine choreographische Reflexion unserer Zeit, die sich als „work in progress“ versteht und letztlich, da Musik, Text, Bühne, Bewegung, Licht und Ausstattung nebeneinander als Elemente der Komposition zu verstehen sind, auf sich selbst verweist. Die körperlichen Schwerpunkte sind bei den Tänzern verschoben. Dadurch können ihre Bewegungen, an dem Ballettcodex gemessen, oft nicht bis zum Ende ausgeführt werden. So sacken sie in sich zusammen oder müssen ihre Position verändern, auch die im Raum, um eine Bewegung erneut aufzunehmen. Der Choreographie eignet die Aura eines Bewegungsexperiments, als würde Forsythe tänzerische Möglichkeiten ausprobieren und „durchdeklinieren“. Er fügt dem akademischen Tanz auch veränderte Paradigmen hinzu und erkundet tänzerisch, wie sich durch solche Veränderungen Bewegungen verwandeln. So fügt er beispielsweise klassischen Bewegungen, die in der Tradition gegen die Schwerkraft angelegt waren, physikalische Elemente wie Trägheit hinzu, oder der Atem der Tänzer führt die Bewegungen. Dieses organische Element lässt Sequenzen z.B. an einer anderen Stelle enden, als es der Codex vorsehen würde, und betont Forsythes spielerischen Umgang mit der Balletttradition, die er durch seine Innovationen zeitgemäß macht. Auch Gerald Siegmund greift Forsythes Uminterpretation des klassischen Bewegungsvokabulars im Rahmen seiner Analyse einer anderen Forsythe-Choreographie, EIDOS:TELOS, auf und merkt an, dass die „Formen und Figuren des Balletts“ in dieser Konzeption „letztlich nur leere Formen sind, die der Tänzer schauen muss und in deren Abglanz er steht“. Siegmund spricht sogar von einer „imaginär-phantasmatisch wuchernde[n] Konstruktion, die […] ihre substanzielle Leere und damit ihren eigenen Tod als Essenz verbirgt.“26 Lebendigkeit, als Gebrochenheit von Leibsein und Körpersein, ist in dieser Choreographie zu einem Thema geworden. Ex negativo geht es um eben diese Lebendigkeit, wenn die Tänzer ihre Körperglieder zu Pendeln oder „Marionetten“-Gliedern machen oder sich, wie eine viergliedrige Maschine, durch Impulse bewegen lassen, die außerhalb ihrer Körper liegen. Sie erschaffen Bewegungsbilder, sprengen sie wieder und bauen sie verändert an einer anderen Stelle auf. Dieser Umgang mit expressiven Möglichkeiten ist nur einem Lebewesen vorbehalten, das selbstbezüglich sein Auch-anders-sein-Können thematisieren und künstlerisch gestalten kann. Die vier Tänzer beziehen sich hier auf
26 Vgl. Gerald Siegmund 2007, S. 273
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ihre Lebendigkeit, indem sie ihre Körper zu Werkzeugen machen, die gerade Verkörperungsmöglichkeiten erkunden, in denen sie sich leblosen Dingen angleichen. „Todeserfahrung und Lebenserfahrung bilden von allem Anfang an eine Einheit, weil in der Verkörperung die Entkörperung als ihr Gegenzug mit enthalten ist. Im Außenfeld des Handelns gehören ‚Nichts‘ und ‚Leere‘ als Hintergrund und Gliederungsmedium zu dem in zerstreuten Dingen aufgesplitterten Realitätsbild, Kommen und Verschwinden, Machen und Zerstören sind ihre hantierbaren Übergangsweisen, und erst das von unmittelbarem Bezug zur Praxis sich lösende Denken entdeckt an ihnen begriffliche Schwierigkeiten und die Rätsel des Werdens und Vergehens, des Nichts und des Seins.“27
27 Helmuth Plessner 1983d, Elemente menschlichen Verhaltens (1961), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 8, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 218−234; hier S. 230f.; im Folgenden zitiert als Elemente menschlichen Verhaltens
II Zur exponierten menschlichen Bewegungskompetenz
„Es ist viel zu wenig beachtet worden, daß den Menschen eine ganz untierische Fülle von Bewegungsmöglichkeiten auszeichnet. Die uns möglichen willkürlichen Bewegungskombinationen sind buchstäblich nicht erschöpfbar, die Feinfühligkeit der Zuordnungen unbegrenzt. Wir können nicht nur jede beliebige Stelle des eigenen Körpers berühren, sondern jede beliebige Bewegung jeder anderen zuordnen und jede Bewegungsgestalt des einen Gliedes in die eines anderen transponieren.“ (Gehlen: Der Mensch, S. 132)
1. Einleitende Überlegungen Die drei Körperregungen, die im ersten Abschnitt dieser Arbeit auf der Grundlage einer choreographischen Lesart des Sündenfalls herausgearbeitet wurden, finden sich als „Ausgangsmotive“ im wörtlichen Sinne auch in Arnold Gehlens anthropologischen Untersuchungen der „Bewegungsphantasie“ und des „Spiels“.1 Gehlen spricht hier von Auge, Hand und Bewegung. Im Folgenden werde ich die im ersten Kapitel vorgestellten anthropologischen Grundlagen einer Ästhetik des künstlerischen Tanzes in Bezug zu Gehlens Gedanken zur Plastizität menschlicher Bewegungen und zur Be-
1
Erstens das Richten des Blicks auf die verbotene Frucht; zweitens das Ausstrecken der Hand, um nach der Frucht zu greifen; und drittens das Zulaufen hin zu dem ersehnten Objekt.
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wegungsphantasie setzen und zur zweiten These der vorliegenden Arbeit formulieren, dass künstlerischer Tanz sich selbst fasslich gewordenes, rückbezügliches und rhythmisiertes spielerisches Bewegungsphantasieren ist. Mit Gehlens Begriffen, vor allem mit dem der „Bewegungsphantasie“, hat die philosophische Anthropologie einen Diskurs eröffnet, der sich mit Gewinn auf die Tanzästhetik übertragen lässt, drückt er doch ein anthropologisches Vermögen der Bewegungsimagination und -schöpfung aus, ohne welches Tanz als Kunstform undenkbar wäre. Gehlen versteht den Menschen gleichermaßen als Phantasie- wie als Vernunftwesen (vgl. ebd., S. 317), ein besonderer Schwerpunkt liegt in seiner emphatischen Deutung der menschlichen Phantasie. Es gibt wohl keinen Bereich der menschlichen Symbolisierungstätigkeit, keine Sinngebungsinstanz, in der Phantasie sich freier und intensiver äußert und objektiviert als in der Kunst. „Bewegungsphantasie“ kann nirgends eine größere Rolle spielen als in Tanzphänomenen, die in ästhetischen Zusammenhängen rezipiert werden. Im 1. Kapitel wurde schon darauf hingewiesen, dass Gehlen (wie Plessner und Scheler) von einer grundlegenden Künstlichkeit des Menschen ausgeht, die ihm eine, in Martin Heideggers Worten, „Welterschließung“ ermöglicht.2 Im Tanz zeigt sich diese Künstlichkeit im Erfindungsreichtum und in der Variabilität der besonderen Bewegungsfähigkeit des Menschen, denn er vermag es als einziges Lebewesen, seinen Körper tanzend „in Regie zu nehmen“.
2
Vgl. Martin Heidegger 1977, „Der Ursprung des Kunstwerks“, in: ders., Holzwege, Gesamtausgabe Band 5, Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.), Frankfurt am Main
ZUR EXPONIERTEN MENSCHLICHEN BEWEGUNGSKOMPETENZ
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2. Auge, Hand und Bewegung – Gehlens Konzeption der menschlichen Wahrnehmung3 In seinem anthropologischen Hauptwerk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt von 1940 zeigt Gehlen, dass der Mensch im Vergleich zum Tier in seinen Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Bewegungsformen „unspezialisiert“ ist. Das bedeutet, er ist nicht in eine „Umwelt“ eingepasst, sondern „hat eine Welt“, über die er in der Gestaltung seines Verhältnisses zur Außenwelt verfügen kann. In diesem Sinne lässt er sich als „weltoffenes“ Lebewesen bezeichnen, auch wenn dies durch die Tatsache, dass er sich von Beginn seines Lebens an in einer gegebenen Beziehung zur Welt wiederfindet, mit der er sich auseinandersetzen muss, eine gewisse Relativierung erfährt. Gehlen bezieht sich mit dem Begriff der „Weltoffenheit“ auf Scheler, der diese als Wesenszug des Menschen bestimmt hatte, um zu zeigen, dass der Mensch sich mit Gegenständen auch außerhalb ihrer lebenspraktischen Funktion beschäftigen kann. Die „existentielle Entbundenheit vom Organischen“, so Scheler, ermöglicht dem Menschen, eine gegebene Wirklichkeit zum Gegenstand seiner Erkenntnis zu machen.4 Er ist dadurch fähig, sich sowohl auf sich selbst als auch auf die Welt als Ganzes zu beziehen. Für Gehlen bedeutet die „Weltoffenheit“ des Menschen ebenfalls das Potential, sich durch selbst gebildete kulturelle Errungenschaften wie die Sprache auf Abstraktes und Allgemeines wie auch auf Konkretes, etwa motivierte Bewegungen, beziehen zu können. Aufgrund fehlender angeborener Reizselektionsmuster muss der Mensch sich die Muster seines Weltzugangs selbst aufbauen. So verfügt er beispielsweise nicht über die hochspezialisierten Augen eines Raubvogels, die für dessen Beutefang überlebenswichtig sind, für den Menschen aber in vielen Situationen zu einer Reizüberflutung führen würden. Er kann aber eine andere Art intensiven Sehens entwickeln, die gerade in künstlerischen Zusammenhängen wichtig wird: Wir können uns
3
Passagen dieses Abschnitts sind von mir bereits 2008 veröffentlicht worden. Vgl. Malda Denana 2008, „Von der ‚optisch völlig übersehenen Welt’ zum Blick.Spiel.Feld künstlerischer Tanz. Anthropologisch-ästhetische Überlegungen im Anschluss an Arnold Gehlen“; in: Malda Denana und andere (Hg.), Blick.Spiel.Feld, Würzburg
4
Vgl. Scheler 1976, S. 32
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„versammeln“, also disziplinieren, und aufmerksam und fokussiert ein Kunstwerk betrachten. Auch haben Menschen die Kompetenz, sich „künstlich“ Spezialisierungen zu erwerben, sie können Mikroskope bauen und bedienen, mit denen sie „besser sehen“ können. Auf diese Weise kann menschliche Kultur als eine zweite Natur dienen und biologische „Mängel“ kulturell kompensieren. „Welt“ zur Verfügung zu haben bedeutet für Gehlen in erster Linie die Nutzung einer willkürlichen Beweglichkeit des Leibes. Dieser Gedanke ist besonders relevant in Bezug auf die anthropologisch-ästhetische Betrachtung des Tanzes. In der Tanzkunst erschließen wir uns die Welt durch Bewegungen unseres sensorischen Körperleibs. Gehlen spricht von der „Konstruktion einer ganz ungemeinen Beweglichkeit des Leibes, dessen ganze Oberfläche tastempfindlich und Sinnesfläche ist und der sehr weitgehend gesehen wird. Dadurch wird jede mögliche Bewegung reflektiert, d.h. sinnlich zurückgegeben und erfährt unweigerlich sowohl Gegenstände und Widerstände, als sich selbst. Dazu versagt die Natur dem Menschen angeborene fertige Koordinationen, stellt ihm eine vom Tier aus gesehen unvergleichlich lange Reifezeit zur Verfügung und unterstellt die Bewegungsreifung der eigenen Blick- und Tastkontrolle, sie außerdem vorzüglich der Selbstentdeckung des Leibes, d.h. der Gegeneinanderbewegung verknüpfend. Jeder Bewegungsimpuls wird also zum Erwartungsimpuls, er muss Empfindungsfolgen am eigenen Leibe oder an den Dingen, Koordinations- und Erfolgserfahrungen entdecken und damit erwarten lassen.“5
Das Besondere der menschlichen Bewegungen ist, dass sie, wie Gehlen hervorhebt, selbst erlebt und sichtbar, sich selbst fasslich geworden sind und sich dadurch in besonderer Weise kontrollieren und in neue Bewegungsgestaltungen transformieren lassen. Der Begriff des „Erlebens“ impliziert eine Vielfalt an unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten, da jede Bewegung in ihrem spezifischen Handlungszusammenhang zu interpretieren ist. In diesem Sinne sind Bewegungen „Muster der Welterschließung“. Gehlen unterscheidet kategorisch zwischen menschlichen und tierischen Bewegungen. Menschliche Bewegungen sind für Gehlen im Gegensatz zu
5
Arnold Gehlen 1983b, Zur Systematik der Anthropologie (1942), in: ders., Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, Band 4, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Frankfurt am Main, S. 63–112; hier S. 92
ZUR EXPONIERTEN MENSCHLICHEN BEWEGUNGSKOMPETENZ
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tierischen spezialisierten und lebensdienlichen Bewegungen „ausgezeichnet durch eine ganz unvorstellbare mögliche Mannigfaltigkeit, durch einen Kombinationsreichtum“ (Gehlen: Der Mensch, S. 41). Während Tierkinder bereits nach wenigen Stunden oder Tagen über das Bewegungsrepertoire verfügen, das sie zum Überleben brauchen, lernt der Mensch viel länger, seine Bewegungen sind wesentlich differenzierter, er kann sie beeinflussen, er kann aus einer quasi unendlichen Vielfalt von Möglichkeiten wählen und seine Bewegungen frei kombinieren: „Die unbegrenzte Plastizität der menschlichen Bewegungen und Handlungsformen ist also nur zu verstehen von der ebenso unbegrenzten Fülle von Tatsachen aus, vor die ein weltoffenes Wesen zu stehen kommt, und in denen es nun fähig sein muss, irgendwelche auszunützen und einzusetzen.“ (Ebd., S. 42) „Die menschlichen Bewegungsfiguren müssen daher in ungemeinem Maße unangepaßt, aber anpassungsfähig sein, also sowohl unspezialisiert wie plastisch. Diese Notwendigkeit begegnet uns so in ihrer Plastizität. Plastizität bedeutet aber: aus einem noch nicht funktionierenden Fächer von Möglichkeiten ist durch Selbsttätigkeit, im Umgang mit den Dingen, eine Auswahl herauszuheben und eine variable Führungsordnung aufzubauen.“ (Ebd., S. 165)
Die Idee einer „unbegrenzte[n] Plastizität der menschlichen Bewegungen“ ist besonders für tänzerische Bewegungen wichtig, bei denen es gerade um Variabilität und um einen Variantenreichtum geht. Gehlens Definition dessen, was „plastische“ Bewegungen ausmacht, kommt tänzerischen Grundbedingungen sehr nahe: „eingerichtet auf unbegrenzt variable, kontrollierte Zuordnungen, eine jede Neukombination von Bewegungen ist selbstgesteuert, d.h. auf Grund eines mehr oder weniger bewußten Zuordnungsplanes aufgebaut“ (Gehlen: Der Mensch, S. 42). Im Tanz, wie im Sinne Humboldts in der Sprache, haben wir es mit einem unendlichen Verwendungspotential eines endlichen Materials zu tun; in der Sprache sind das einzelne Wörter, im Tanz einzelne Bewegungen.6
6
Für Humboldt steht die Sprache „ganz eigentlich einem unendlichen und wahrhaft gränzenlosen Gebiete, dem Inbegriff alles Denkbaren gegenüber. Sie muß daher von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen, und vermag dies durch die Identität der Gedanken und Sprache erzeugenden Kraft.“ Vgl. Wilhelm von Humboldt 1998, Über die Verschiedenheit des menschlichen
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Diese Unspezialisiertheit der menschlichen Bewegungen macht es notwendig, immer wieder neu aus der Fülle möglicher Bewegungen zu wählen und diese Wahl in bereits bestehende Strukturen zu integrieren. In künstlerischen Tanzphänomenen intensiviert sich dieser Vorgang in vielfacher Weise. Zum einen wird die Bewegungsauswahl durch Choreographen reflektiert und in einem Probenprozess, welcher der Aufführung Wochen oder Monate vorausgeht, ausgetestet und gegebenenfalls wieder verworfen. Das Publikum kann also von einer willentlichen künstlerischen Fügung der Bewegungselemente ausgehen und ist deshalb auf eine besondere Weise bereit, sich zu versammeln, das Phänomen aufmerksam zu betrachten und nach dessen Sinnzusammenhängen zu fragen. Hinzu kommt, dass die meisten Tänzerinnen und Tänzer eine entsprechende Ausbildung absolviert haben, das Publikum weiß also, dass sie eine spezielle Befähigung zur Ausführung der Tanzbewegungen haben oder dass bewusst auf eine solche Befähigung verzichtet wurde. Diese drei Punkte machen deutlich, inwiefern sich in künstlerischen Tanzphänomenen eine Konzentration von Bewegungs-, Reflexions- und Wahrnehmungsprozessen zeigt, die außerhalb der Kunst nicht vorkommt. Daher vermag es Tanz auf eine spezifische Weise, menschliche Handlungs- und Wahrnehmungsprozesse zu thematisieren und anthropologische Fragen aufzuwerfen. Neben der symbolischen Prägnanz, die jeder tänzerischen Geste zukommt und die bewirkt, dass die Zuschauer während und nach dem Wahrnehmungserlebnis über die jeweiligen Sinnzusammenhänge reflektieren, muss auch davon ausgegangen werden, dass eine Freude an der Plastizität der Bewegungen selbst, eine Lust an der Bewegungsvielfalt existiert. In viel stärkerer Weise als bei sozialen oder rituellen Tanzformen, bei denen die ästhetische Formung und Erfahrung nicht im Vordergrund stehen, wird Bewegung im künstlerischen Tanz bewusst und erscheint in konkreten raumzeitlichen Gefügen. Ohne sich auf Tanz zu beziehen, nennt Gehlen das „Zurückempfinden“ der Bewegung als Bedingung, um Bewegungen bewusst einsetzen zu können. Er schreibt: „Der ungeheure Reichtum variabler und plastischer Bewegungen, die der Mensch entwickeln wird, ruht auf dieser Voraussetzung: die Bewegung muss, um bewusst
Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1836), Paderborn, S. 221
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und einsetzbar zu werden, sensorisch zurückempfunden werden, sie muss in einer Hülle wirklicher oder zu erwartender Empfindungen ein ‚entfremdetes Selbstgefühl‘ gewinnen. Da nun die Wahrnehmungswelt durchaus nur durch unsere Bewegung in ihr entdeckt und erfahren wird, so werden uns auch umgekehrt alle Wahrnehmungen in einem Hof von Bewegungschancen erscheinen, sie werden in dem ‚wie‘ ihres Erscheinens zugleich fruchtbare oder nützliche Bewegungsrichtungen andeuten“. (Gehlen: Der Mensch, S. 134)
Gehlen spricht von einem „entfremdeten Selbstgefühl“, von einer Distanz des Menschen zu sich selbst, die das sensorische Rückempfinden von Bewegungen erst möglich macht. Tanz nun ist allein als zurückempfundene Bewegung verstehbar, die wiederum conditio sine qua non einer bewussten tänzerischen Bewegungsauswahl und -gestaltung ist. Der Tänzer erhält körperliche Rückmeldungen seiner Bewegungen. In der Rezeption spielt hauptsächlich die visuelle Wahrnehmung der Zuschauer eine Rolle, aber auch hier kann es, freilich begrenzt, ein körperliches Mitvollziehen der Bewegungen geben, welches über den Blick auf die Tanzenden hinausgeht. Als Zuschauer begegnen wir unseren eigenen Bewegungsmöglichkeiten (und „Bewegungschancen“), die gleichzeitig unsere Wahrnehmung bestimmen. Unsere Körper nehmen Tanzbewegungen unterschiedlich wahr, je nachdem, inwieweit wir als Rezipierende selbst bereits ähnliche Bewegungen ausgeführt haben und uns ihre körperliche Empfindung vorstellen bzw. und daran erinnern können. In Urmensch und Spätkultur von 1956 unterstreicht Gehlen, dass Bewegungsformen rhythmisiert sein müssen, um eine darstellende Funktion annehmen zu können. Rhythmisierung heißt bei Gehlen, dass eine Bewegung artikuliert, akzentuiert und damit prägnant ist (Gehlen spricht auch von „Überprägnanz“). Der Rhythmus spielt im Tanz eine wichtige Rolle, weil dieser strukturell dadurch beschrieben werden kann, „wann sich welcher Bewegungsablauf in welche Richtung mit welcher zeitlichen Ausdehnung ereignet“7. Rhythmus ist gestaltete Zeit. Ihn als Rhythmus wahrnehmen zu können bedeutet, „mitzugehen“, sich auf eine bestimmte Metrik einzustellen und zu antizipieren, in welcher zeitlichen Gestaltung die Bewegungen
7
Vgl. Eckart Liebau, Leopold Klepacki 2008b, „Die getanzte Zeit“, in: dies. (Hg.), Tanzwelten. Zur Anthropologie des Tanzens, Münster, S. 65–79; hier S. 74
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fortgesetzt werden könnten – fortführend, wiederholend, verlangsamend, beschleunigend, in einer Pause oder ganz und gar abweichend.8 Die besondere Prägnanz und Artikulation von rhythmisierten Bewegungen wird gerade im künstlerischen Tanz wahrnehmbar, denn in ihrer Selbstbezüglichkeit können sie in künstlerische Symbolisierungsprozesse überführt werden. Gehlen schreibt: „Die elementarste Form des darstellenden Verhaltens besteht in der bloßen Rhythmisierung irgendeiner Bewegungsform. Dann tritt die Handlung zu sich selbst in ein Verhältnis und drückt dieses Verhältnis in sich selbst aus: in der einfachen Rhythmisierung und der damit gegebenen Überprägnanz ahmt ein Handeln sich selbst nach oder es stellt sich in sich selbst dar, und eine Handlung, die das Verhältnis zu sich selbst durch Überprägnanz artikuliert, erhält damit Symbolfähigkeit.“9
Jedwedes Handeln ist für Gehlen in erster Linie ein Tun, welches mit einer sinnlich wahrnehmbaren Rückmeldung verbunden ist. Dies ist hier von entscheidender Bedeutung, denn nur eine rhythmisierte und als solche rückempfundene Bewegung kann reproduziert, gesteuert, trainiert, präsentiert oder verändert werden. Eine Bewegung, die rückbezüglich ist, die zu sich selbst in Beziehung treten kann, wird symbolfähig und trägt die Möglichkeit der Bedeutungsgenerierung und -verschiebung in sich. Gehlens Begriff der „Überprägnanz“ erinnert an dieser Stelle zumindest an Cassirers Bestimmung der „symbolischen Prägnanz“. Während Gehlen von einer „Überprägnanz“ der Bewegung spricht, in der Wahrnehmung und Artikulation eines Selbstverhältnisses sie symbolfähig machen, bezieht sich Cassirer vor allem auf die Sinnlichkeit des Wahrnehmungserlebnisses. Dieses ist für ihn „symbolisch prägnant“, weil es als sinnlich erlebbares Material gleichzeitig einen „bestimmten nicht-anschaulichen ‚Sinn‘“ artikuliert und
8
Ähnliche Überlegungen stellt Edmund Husserl in seinen Analysen zur Tonwahrnehmung für das Hören an; vgl. ders. 1966, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, in: ders., Husserliana X, Haag, insbes. S. 19-40; ders. 1973, Die Idee der Phänomenologie, in: ders., Husserliana II, Haag, S. 11f.
9
Arnold Gehlen 2004b, Urmensch und Spätkultur (1956), in: ders., Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Band 4, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Frankfurt am Main, S. 145
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„zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt“. Für Cassirer ist die „symbolische Prägnanz“ eine Wahrnehmung, „die Kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ‚Artikulation‘ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben ‚im‘ Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinnganzes, soll der Ausdruck der ‚Prägnanz‘ bezeichnen.“10
Im künstlerischen Tanz kommen der artikulierten, rhythmisierten und rückbezüglichen Bewegung eine besondere Prägnanz und potentiell unbegrenzte Symbolfähigkeit zu. Gehlens Begriff der „Überprägnanz“ impliziert bereits den künstlerische Symbole begleitenden Sinnüberschuss, anders gefasst, eine symbolische Verdichtung,11 welche die ästhetische Wahrnehmung entlastet, indem sie den Rezipienten nicht zwingt, einen eindeutig bestimmbaren Sinn zu entschlüsseln. Dies gilt ebenso für die Gesten im Tanz, wo sich den sinnlich erfahrbaren Gesten ein Sinnüberschuss mit einer besonders großen Bedeutungsoffenheit und -vielfalt anschließt.12 Für Gehlen ist der Aspekt der „Entlastung“ in der Kunst von entscheidender Bedeutung, da der Mensch erst von der Mühe des täglichen Lebens entlastet zur Kunst findet. Für alle Künste macht er geltend, dass es über-
10 Ernst Cassirer 2002c, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Band 13, Birgit Recki (Hg.), Hamburg, S. 195; im Folgenden zitiert als Phänomenologie der Erkenntnis 11 Ich verwende den Begriff der „Verdichtung“ durchaus in einer Nähe zum psychoanalytischen Begriff, der einen seelischen Vorgang meint, bei dem, etwa in Traumsymbolen, einzelne Erinnerungen zu einer Vorstellung verschmelzen. Verdichtung meint hier den Zusammenfall unterschiedlicher Bedeutungsgehalte in einen Symbolisierungsprozess. 12 Umberto Eco spricht in diesem Sinne von einer Bedeutungsoffenheit künstlerischer Zeichen. Vgl. vor allem ders. 1998, Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main
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schüssiger Kräfte bedarf, um Kunst zu schaffen. Gehlens Begriff der Entlastung bezieht sich zunächst auf das menschliche Sehen, bei dem über ein komplexes Zusammenspiel von Körperbewegung, Blick- und Tastwahrnehmung strukturierende Erfahrungsformen aufgebaut werden, die einem „Entlastungsprozess“ gleichkommen. Schon als Kind beginne der Mensch, ein Repertoire von Handlungsweisen zu entwickeln, deren Ziel es ist, dass „wir uns in einer optisch völlig übersehenen Welt befinden, deren Einzelheiten uns zwar durch Gestaltumrisse, Farbwerte, Größendifferenzen, Abschattungen, Verkürzungen usw. nur angedeutet (symbolisch gegeben) sind, jedoch so, daß uns die Umgangs- und Gebrauchswerte rein optisch mitgegeben werden, also die Trockenheit, Materialstruktur, Schwere, Entfernung, ja die ‚Handlichkeit‘ der Dinge. Jedes Ding ist uns dabei aus eigenem früheren Umgang vertraut und potentiell verfügbar, aber es ist zugleich im Bereich eines Fernesinns distanziert und nur angedeutet, oberflächlich wahrgenommen (nie in seiner vollen möglichen Ausgiebigkeit) und trotzdem diese Andeutungen hochsymbolisch verdichtet sind [können sie; M.D.] [...] die möglichen Gebrauchswerte mitumfassen.“13
Sehen ist für Gehlen eine besondere Möglichkeit, die Welt „handlich“ zu erfassen – eine symbolisch strukturierte Welt, in der wir uns auf unseren Gesichtssinn verlassen. Auch wenn Gehlens Formulierung einer „optisch völlig übersehenen Welt“ etwas überzeichnet ist, sagt sie doch im Kern aus, dass uns die Welt in unserem Umgang mit ihr immer schon „kompensiert“ begegnet.14 „Übersehen“ ist hier doppeldeutig: Die Welt kann zwar über-
13 Arnold Gehlen 1983a, Ein Bild vom Menschen (1942), in: ders., Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, Band 4, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Frankfurt am Main, S. 50–62; hier S. 56f. 14 „Weil Gehlen v.a. das Funktionieren des Funktionskreislaufes des Lebendigen im Auge behält, verfolgt er hinsichtlich des Weltverhältnisses des Menschen, wie angesichts der Unterbrochenheit des fraglosen tierischen Lebenskreises nun auf der Höhe des Menschen eine leistungsfähige, funktionierende Ordnung überhaupt neu ‚fest-gestellt‘ werden kann. Ihn interessiert, wie das Lebenssubjekt angesichts einer reizüberfluteten offenen Wirklichkeit und unkoordinierter Bewegungskontingenz ‚handelnd‘, durch ‚Handeln‘, durch Wahrnehmungs- und Bewegungsschleifen freischwebende Wirklichkeitsmomente durcharbeitet und
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blickt werden, gleichzeitig muss dies jedoch mit einer selektiven und dadurch vereinfachenden Wahrnehmung einhergehen. Nach Gehlen kann der Mensch durch den Aufbau strukturierender Erfahrungsformen seine „organbiologischen Mängel“ (Gehlen nennt Undifferenziertheit der Organe, Instinktreduktion und Antriebsüberschüsse) kompensieren. Er beschreibt diesen Prozess der Entlastung als „eine tätige Umarbeitung des Überraschungsfeldes in eine verfügbare und in verdichteten Andeutungen übersehbare Welt von zu erwartenden Eindrücken und Erfolgen“ (Gehlen: Der Mensch, S. 131f.) und fährt fort, Entlastung als „Ablösung vom unmittelbaren Druck der Gegenwart, die Freisetzung und Entfaltung immer höherer und müheloserer Kräfte zur Rückwendung zur Welt, zu ihrer voraussehenden Beherrschung und Ausnützung“ (ebd., S. 132) zu definieren. Auf die Gefahr, dass dieses entlastete Sehen dazu führen kann, nur noch eine Möglichkeit von Verhalten zu wählen, das bloße „Können“, und dass das Wahrgenommene nur noch als Andeutung möglicher Entwickelbarkeit, auf die wir uns aber meist gar nicht mehr einlassen, rezipiert wird, weist Gehlen bereits 1942 in Ein Bild vom Menschen hin (vgl. Gehlen: Ein Bild vom Menschen, S. 60). Es ist das Zusammenspiel von Auge, Hand und Bewegung, das dem Menschen Handlungsmöglichkeiten eröffnet.15 Tast- und Greiferfahrungen werden nach Gehlen durch den Gesichtssinn in symbolisch strukturierte Wahrnehmungswelten transformiert, die in symbolischer Verdichtung Tastund Bewegungserlebnisse enthalten. Wenn wir Dinge sehen, sehen wir nicht nur deren Abbild, sondern wir gewahren im selben Prozess ihre Tastund Bewegungsqualitäten. Ein Grund für die Intensität ästhetischer Tanzerfahrung liegt in diesem Sinne sicherlich darin, dass Rezipierende zugleich visuelle, taktile und
als „übersehbare, andeutungsreiche und dahingestellt-verfügbare Welt‘ […] sichernd aufbaut.“ Vgl. Fischer 2006, S. 78 15 Auch in Helmuth Plessners „Ästhesiologie des Sehens“ tauchen Auge und Hand auf ähnliche Weise auf. Plessner führt in seiner Selbstdarstellung aus, dass er „unter dem Eindruck der modernen Malerei und Musik“ erzwungenermaßen seine Ästhesiologie des Sehens und Hörens revidieren musste und nun – entsprechend Gehlens Theorie der Entlastung – von den den Augen zugeordneten Vermögen aus die Taktilität untersuchte. Dazu vor allem Rehberg 2007, S. 278; zu Plessners Ästhesiologie des Sehens vor allem Fischer 2007, S. 248f.
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mobile Qualitäten „überprägnant“ wahrnehmen. Ein weiterer Grund ist in der „symbolischen Prägnanz“ des Bewegungsmaterials selbst zu finden, in der Koinzidenz einer konkreten sinnlichen Geste mit einem unendlich offenen Sinnpotential. Was aber passiert, wenn Gehlens „optisch übersehener Welt“ künstlerische Tanzdarbietungen gegenüber gestellt werden, in denen sich das Augenmerk gerade auf Bewegungsfeinheiten und deren Plastizität sowie ihre Erfahrbarkeit durch ein Publikum richtet? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. Bisher wurde gezeigt, inwiefern sich Bewegungen im künstlerischen Tanz als sich selbst fasslich geworden, rückbezüglich und rhythmisiert bezeichnen lassen. Dies soll nun um Gehlens Begriffe der „Bewegungsphantasie“ und des „Spiels“ erweitert werden. Da die Bewegungsplastizität bei Gehlen von entscheidender anthropologischer Bedeutung ist, eignet sie sich in besonderer Weise für eine Lesart künstlerischer Tanzphänomene, die „Bewegungsphantasie“ und „Spiel“ als anthropologische Bedingungen für Tanz versteht.
3. Bewegungsphantasie und Spiel im Tanz Wie bereits Platon,16 bezeichnet Gehlen den Menschen aufgrund seiner morphologischen Sonderstellung als „biologisches Mängelwesen“: Seine Entwicklung ist im Gegensatz zu der des Tieres retardiert, seine Instinkte sind reduziert, seine Wahrnehmungs- und Bewegungsstrukturen nicht hochspezialisiert. Diese sogenannten biologischen „Mängel“ werden vom Menschen von jeher durch Kultur oder Künstlichkeit kompensiert. Nach Gehlen ist der Mensch vor zwei Aufgaben gestellt: Er muss sich zum einen die „offene Welt“ praktisch aneignen (vgl. Gehlen: Der Mensch, S. 131), zum anderen muss er „Bewegungsbeherrschung“ entwickeln, wofür ihm eine Fülle von Bewegungsmöglichkeiten zur Verfügung steht: „Die uns möglichen willkürlichen Bewegungskombinationen sind buchstäblich nicht erschöpfbar, die Feinfühligkeit der Zuordnungen unbegrenzt. Wir können nicht nur
16 In Platons Protagoras (Prot. 321c) beispielsweise wird das menschliche Wesen als „nackt, unbeschuht, unbedeckt, unbewaffnet“ beschrieben; vgl. Platon, Protagoras, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher (Hg.) 1855, Platons Werke, Ersten Theiles, Erster Band, Dritte Auflage, Berlin
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jede beliebige Stelle des eigenen Körpers berühren, sondern jede beliebige Bewegung jeder anderen zuordnen und jede Bewegungsgestalt des einen Gliedes in die eines anderen transponieren.“ (Ebd., S. 132)
Um Bewegungen beherrschen zu können, muss der Mensch Bewegungsphantasie ausbilden. Dabei ist, wie für jede Form der menschliche Phantasie, nicht nur das Vermögen unabdingbar, sich auf irreale oder nicht aktuelle Zeiten und Räume beziehen zu können, sondern dazu gehört ebenfalls „die Fähigkeit symbolischen, andeutenden Bewegungsvollzuges, womit wir erst Bewegungen transponieren, ineinander fortsetzen und eine in der anderen intendieren können. Erst dann haben wir ein der unbeschreiblichen Mannigfaltigkeit der Weltumstände gewachsenes und kontrollierbares Handlungskönnen von fast absoluter Plastizität und Variierbarkeit.“ (Ebd.)
Gehlen hebt hier vor allem das Aktivische der „Bewegungsphantasie“ hervor, elementare Bewegungsvorgänge können sich zu komplexen Phantasien steigern, zu Bewegungstranspositionen im Sinne von Umformungen, Variationen oder Bewegungsverschiebungen. Auf den Tanz übertragen lässt sich dies beispielsweise am rond de jambe à terre des klassischen Balletts illustrieren: Aus der ausgedrehten ersten Position der Füße wird ein gestrecktes Bein in ein tendu en avant geführt, bis sich bei maximaler Streckung des Beins und des Fußes nur noch ein Punkt, die Fußspitze des Spielbeins, direkt vor der Ferse des Standbeins befindet, ohne dass das Gewicht sich vom Standbein auf das Spielbein überträgt. Vom tendu en avant aus wird das Spielbein in einem Halbkreis nach hinten geführt, so dass sich die Fußspitze des Spielbeins hinter der Ferse des Standbeins befindet, im tendu en arrière. Die Halbkreisbewegung des rond de jambe à terre kann sowohl nach außen (en dehors) als auch aus dem tendu en arrière heraus in einem Halbkreis nach vorne (en dedans) oder mit angehobenem Bein in der Luft ausgeführt werden (rond de jambe en l’air, en dehors und en dedans). Solche Transpositionen finden sich in allen Tanzformen, sie sind variabel und unbegrenzt, noch nie da gewesene Tanzsprachen mit eigenen Transpositionsregeln können jederzeit neu entwickelt werden. So hat beispielsweise William Forsythe mit seinen Improvisation Technologies eine eigene Tanzsprache geschaffen. Forsythe erweitert dabei Rudolf von La-
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bans Kinetographie, in der dem Tänzer die Vorstellung, sich in der Raumstruktur eines Ikosaeders zu befinden, zur Orientierung dient, um weitere Körperpunkte. In diesem komplexen System können neue Beziehungen zwischen den Körperpunkten geschaffen werden, von jedem Punkt des dreidimensionalen Raums aus können große oder kleine Ikosaeder in unterschiedliche Richtungen imaginiert und tänzerisch bzw. choreographisch genutzt werden. Einzelne Gliedmaßen sowie Ober- und Unterkörper werden zusätzlich in unterschiedliche Richtungen gedreht. Die daraus resultierende Destabilisierung des Gleichgewichts lässt sich als Kommentar zum équilibre des klassischen Balletts interpretieren. Gehlens Begriffe der „Transposition“ und „Variierbarkeit“ evozieren ein spielerisches Element der Bewegungsausführung und -kreation. Menschliche Bewegungen enthalten „eine Unendlichkeit möglicher Variationen“, „die der Mensch im Umgang mit den umgebenden Gegenständen erst herausentwickeln soll, und zwar so, daß jede Bewegungserfahrung Raum gibt für Neukombinationen der Bewegungsphantasie, so daß er schließlich über eine offene Menge beliebig variablen Bewegungskönnens verfügt, in der es Überordnung, Führung, Zusammenspiel, Umsteuerung und Kontrolle gibt.“ (Ebd., S. 42)
Gehlen gibt der Bewegungsphantasie über die Begriffe „Überordnung“, „Führung“, „Zusammenspiel“, „Umsteuerung“ und „Kontrolle“ einen Rahmen, innerhalb dessen sie sich spielerisch betätigen kann; sie kann konkreten Spielregeln folgen, diese aber auch nach Belieben verändern. Für Gehlen bedeutet „Spiel“ „den Aufbau, das Aufbrechen und lustvolle Erleben von Phantasieinteressen, also Prozessen der Kommunikationsphantasie, und vor allem: das Bewusstwerden solcher Interessen, die wesentlich unstabil und wechselnd sind. [...] das ‚nicht festgestellte Wesen‘ mit seiner plastischen, weltoffenen und variablen Antriebsstruktur erlebt sich im Spiel selbst, oder die ‚Unstabilität‘ ist wesentlicher Inhalt des Spiels.“ (Ebd., S. 207)17
17 Gehlen geht an dieser Stelle leider nicht weiter darauf ein, was er unter „dem“ Spiel versteht. Sicherlich kann das von ihm Gesagte nicht für jede Spielart gelten.
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Gehlen betont, dass der Mensch sich spielend selbst erlebt, seine condition humaine spielerisch erkundet. Dies trifft im Kern das Wesen des künstlerischen Tanzes, in dem die menschliche Bewegungsphantasie und Variabilität der menschlichen Glieder bzw. die Plastizität der menschlichen Bewegungen tänzerisch thematisiert und spielerisch erprobt werden. Im weiteren Argumentationsverlauf bezeichnet Gehlen den Inhalt dessen, was er unter „Spiel“ versteht, als eine „Unstabilität“, in der „wechselnde Interessen“ eine entscheidende Rolle einnehmen. Diese Attribute können auf den Spielcharakter von Tanzphänomenen übertragen beispielsweise bedeuten, dass im choreographischen Entstehungsprozess Regeln für die Bewegungsfindung aufgestellt werden, die in einer späteren Produktionsphase aber wieder verworfen oder relativiert werden können. Bewegungselemente können immer wieder neu kombiniert werden, oftmals eröffnen sie alleine über ihre Umstrukturierung neue Bedeutungshöfe für das Publikum. Während im streng klassischen Tanz der Aspekt der spielerischen Bewegungsoffenheit und Flexibilität innerhalb des Entstehungsprozesses in den Hintergrund tritt, wird in einigen Inszenierungen zeitgenössischen Tanzes gerade die Offenheit des Probenprozesses transparent gemacht und bis in die Aufführung selbst hinein kommuniziert. Als Beispiel eignet sich hier erneut der „work in progress“-Charakter von vielen Stücken Forsythes. Bei diesen Tanzperformances werden Zufallsmomente vermehrt einkalkuliert oder Abläufe spontan verändert. Es gibt auch Stücke, in denen es keinen vordefinierten Ablauf gibt, der sich wiederholt zur Aufführung bringen ließe, oder Wiederaufnahmen, die häufig mit der Erstpräsentation kaum mehr Ähnlichkeit haben. Mit Gehlens Terminologie lassen sich diese tänzerischen Bewegungsspiele durchaus als „unstabile Phänomene“ beschreiben, innerhalb derer „Interessen wechseln“ können. Schon Friedrich Schiller betont, dass allein das Spiel es vermag, menschliche Fähigkeiten ganzheitlich hervorzubringen. In seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen schreibt er: „[D]er Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“18 Dieser Spieltrieb manifestiert sich für Schiller sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption eines Kunst-
18 Friedrich Schiller 1962, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Fünfzehnter Brief, Eugen Kühnemann (Hg.), Leipzig, S. 212
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werks. Mit dem Begriff des „freien Spiel[s] der Einbildungskraft“19 stellt Kant in seiner Kritik der Urteilskraft die enge Beziehung zwischen Spiel und Ästhetik heraus. 1939 erarbeitet Johan Huizinga in seiner Studie Homo Ludens20 eine kulturanthropologische Spieltheorie, nach der sich ohne die Lust und Fähigkeit zum Spielen zahlreiche Bereiche der Kultur nicht entwickelt hätten, so etwa die bildende Kunst, die Wissenschaft und die Philosophie. Die Lust und die Fähigkeit zum Spielen zeichnet auch künstlerische Tanzphänomene aus, in denen sich ein Vergnügen an zweckentbundenen und einer eigenen Art von „Stimmigkeit“ folgenden körperlichen Fähigkeiten zeige, das sich in keinem anderen Medium auf entsprechende Weise artikulieren könnte.21 Mit der Rede vom Menschen als dem „nicht festgestellten Wesen“ bezieht sich Gehlen auf eine Formulierung Friedrich Nietzsches in Jenseits von Gut und Böse aus dem Jahr 1884/85.22 Der Mensch findet seine Deutungsmuster für sich und die Welt nicht vorgegeben, sondern muss sie selbst ausbilden. Die menschliche Entwicklung kann sich in verschiedene
19 Immanuel Kant 1974, Kritik der Urteilskraft (1790), in: ders., Werkausgabe, Band 10, Wilhelm Weischedel (Hg.), Frankfurt am Main, S. 132 20 „Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‛ als das ‚gewöhnliche Leben‛.“ Johan Huizinga 1994, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1939), Reinbek bei Hamburg, S. 37 21 Ruth Sondereggers Buch Für eine Ästhetik des Spiels – Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst (Frankfurt am Main, 2000) ist ein aktueller Versuch, den Spielbegriff ästhetisch nutzbar zu machen. Sie plädiert für eine Ästhetik des Spiels, die sich vom ästhetischen Objekt als Gegenstand der Erkenntnis löst und die ästhetische Erfahrung selbst als Spiel mit der „Wahrheit“ begreift. Auf die Hermeneutik Hans-Georg Gadamers und die Dekonstruktion Jacques Derridas rekurrierend und beide Positionen mit Gedanken Friedrich Schlegels vermittelnd, stellt sie in spannender Weise die Eigenlogik ästhetischer Gegenstände heraus. 22 Nachzulesen bei Friedrich Nietzsche 1999, Jenseits von Gut und Böse (1884/85), in: ders., Werke in drei Bänden, Band 2, Karl Schlechta (Hg.), München, S. 563–759, hier S. 623
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Richtungen ausformen, ihr Bewegungsrepertoire ist offen, und es können sich neue, künstlerische Entwürfe herausbilden, die über das zweckgebundene Bewegungsrepertoire von Tieren hinausgehen. Gehlen kann hier hervorheben, dass die Kulturfähigkeit des Menschen sich in Gestaltfähigkeit und Formbarkeit, also einer temporären und relativen „Feststellung“ seiner „nicht festgestellten“ Natur manifestiert. „Im Spiel treffen wir daher die einzigartige menschliche, weltoffene Antriebsstruktur, die sich nach diesen oder jenen Inhalten hin orientiert, oder umgekehrt: die von diesen oder jenen Inhalten ‚besetzt‘ wird.“ (Gehlen: Der Mensch, S. 207) Die potentiell unendliche Offenheit der Bewegungsschöpfung und -erprobung, die sich bei Gehlen aus der „Unstabilität“ des Spiels und seinen „wechselnden Interessen“ ergibt,23 erhält in der künstlerischen Objektivierung des Tanzes eine eigene Art von Wirklichkeit und transportiert zugleich immer auch ein künstlerisches „Statement“ des Choreographierenden. In diesem spielerischen Gestaltungsprozess nun liegt die Möglichkeit der Sinnproduktion, denn um sich selbst „festzustellen“ ist der Mensch auf Deutungsformeln angewiesen. Gehlen definiert in dieser Hinsicht das Spiel als ein sich selbst „fasslich gewordenes“ und direkt erlebbares menschliches Interesse. Er schreibt, die Bewegung müsse „zum Spieler zurückkehren. Was also die Hauptsache ist, ist dies; daß sich an einem solchen Umgangsprozess ein bestimmtes Interesse entwickelt hat und sich selbst faßlich geworden ist. Und damit ist wieder eine entscheidende Eigenschaft des Antriebslebens gesehen: es ist weltoffen, und die Lust am Spiel ist die Lust am Sichentfalten variabler Antriebe von durchaus wechselnder Inhaltlichkeit und Bestimmtheit“. (Der Mensch, S. 207)
Für Gehlen zeichnet sich das Spiel nicht durch „die bloße Funktionslust der Bewegungen“ aus, sondern entsteht zuletzt aus dem „Sicherfahren der Grundeigenschaften der menschlichen Antriebsstruktur, die überschüssig,
23 Gerda Pagel geht in ihrem Buch Narziß und Prometheus. Die Theorie der Phantasie bei Freud und Gehlen (Frankfurt am Main, 1999) fälschlicherweise von einem eingeschränkten Spielraum der Phantasie bei Gehlen aus, bei dem „alles Sich-Versetzen in das Unmögliche, in das Handlungsnegierende, das Reflektierende, das Zögernde und Zaudernde“ ausgeschlossen bleibe, sowie das „spontan-schöpferische Element“. Vgl. ebd., S. 88
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plastisch, weltoffen und kommunikativ ist.“ (Beides ebd., S. 208) Gleichzeitig betont er, dass „der eigentliche Spielcharakter durchaus auf der Seite der Phantasie und der entlasteten Phantasieinteressen zu suchen ist. Natürlich ist die Phantasie der eigentliche Nerv des Spieles – aber noch tiefer gesehen ist das Entstehen, dazu der Selbstgenuss ‚oberflächlicher‘, entlasteter, ganz beliebig wechselnder Interessen des Menschen dieser Nerv.“ (Ebd., S. 206)
Gerade die Entlastung menschlichen Verhaltens von instinktiven Antrieben, z.B. denkende oder praktische Tätigkeiten, ermöglicht nach Gehlen Erfahrungen, die von biologischen Bedürfnissen unabhängig sind. Jede freie, experimentierende Tätigkeit, also auch der künstlerische Tanz, kann demnach unabhängig von jeweiligen äußeren Gegebenheiten ausgeführt werden. Kunst hat eine entlastete Situation zur Voraussetzung, die künstlerische Anstrengung entspricht nicht der alltäglichen. Sie kann gerade dort ihre schöpferische Kraft entfalten und spielerisch sein, wo sie nicht durch Alltagsprobleme belastet wird.24 So können Tanzphänomene mit Gehlen als spielerische Bewegungsphantasien verstanden werden, in denen es gerade darum geht, dass sich das menschliche Interesse an sich selbst konkretisiert und sich selbst anschaulich wird. Viele zeitgenössische künstlerische Tanzperformances unterwandern traditionelle Blickbewegungen und hinterfragen menschliche Seh-, Tastund Bewegungsgewohnheiten. Ausgehend von seinen Überlegungen zum Verhältnis von Auge, Hand und Bewegung unterstreicht Gehlen, „daß nur auf diese ‚reflektierte‘ Bewegungsstruktur bezogen die ‚Objektivität‘ der Dingwelt zur Gegebenheit kommt.“ (Ebd., S. 137) Strukturierte Bewegungen beanspruchen demnach aufgrund ihrer Selbstbezüglichkeit eine gewisse Form von Objektivität. In künstlerischen Tanzphänomenen können einzelne Gesten gesetzt und aus dem Bewegungsfluss separiert, rekombiniert oder wiederholt werden, also rhythmisiert sein. Dies nehmen wir auch als
24 Gehlen hat die Dialektik von Entlastung und Belastung zu wenig hervorgehoben. Kunst ist zwar nur dort möglich, wo eine entlastete Situation vorliegt, sie problematisiert aber auch Alltägliches und fordert Rezipierende heraus, die „optisch völlig übersehene Welt“ genauer zu befragen und nicht in ihrer Selbstverständlichkeit hinzunehmen.
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Rezipierende wahr, wir erkennen einzelne Bewegungen oder Bewegungsfolgen wieder, vor allem, wenn sie choreographisch besonders exponiert sind. Den künstlerischen Tanz als Bewegungsspiel zu begreifen heißt, ihn als Ausdruck der Bewegungsphantasie des Menschen zu sehen.25 Da tänzerische Bewegungen geformt und bewusst sinnlich wahrnehmbar sind, sind sie immer auch als Stellungnahme des Menschen zu sich selbst verstehbar. Der Mensch ist für Gehlen im Vergleich zum Tier so wenig an seine Umwelt angepasst, dass er darauf angewiesen ist, seine Natur zu verändern. Er muss sich sowohl zum Anderen als auch zu sich selbst verhalten. Auf diese Weise ist der Mensch ein kulturelles, d.h. Kultur erzeugendes Wesen, weltoffen und unspezialisiert. Aufgrund der Unangepasstheit an seine Umwelt, eines biologischen „Mangels“, kann der Mensch in sein Leben eingreifen und es stabilisieren, indem er Dinge fixiert und in Form bringt, womit sich auch seine Künstlichkeit als produktive Kraft zeigt.26 Die Setzung tänzerischer Bewegungen in einem künstlerischen Raum thematisiert die Idee der Stabilisierung der menschlichen Position, indem sie einen rezipierbaren und damit objektivierten „Rahmen“ schafft. Im künstlerischen Tanz können auch alltägliche Bewegungen aus ihren Kontexten gelöst und problematisiert werden. Eigenschaften, die wir im gewohnheitsgemäßen Umgang mit den Gegenständen nicht mehr wahrnehmen und hinterfragen, werden gesetzt, geformt und so als Potentiale, als Alternativen bereit gestellt. Arnold Gehlen hat mit seiner anthropologischen Betrachtung des komplexen Zusammenspiels von Körperbewegung, Blick- und Tastwahrneh-
25 Auch Waldenfels beschreibt, wie sich in der Tanzkunst „die Beweglichkeit als solche in Szene“ setzt; sie äußere sich „in Form einer potenzierten Beweglichkeit, in der die Bewegung selbst in thematischer Form bearbeitet wird.“ Waldenfels 2007, S. 29 26 „Gehlens […] These ist nun nicht, daß die Künste etwas ‚Natürliches‘ seien, denn es geht ihm in seiner Anthropologie durchgängig um die unvergleichliche Produktivität, aber auch ‚Riskiertheit‘ des Menschen, um Gegennatürlichkeit und Künstlichkeit als fundamentale anthropologische Gegebenheiten. Aber des Menschen ästhetische und symbolische Leistungen könnten tiefere Ursprünge, sozusagen instinktive Reste zur Voraussetzung haben. Ornamente und Symmetrien spielen in allen Kulturen eine Rolle, ebenso tänzerische Bewegungen oder Formen der Ekstase.“ Vgl. Rehberg 2007, S. 273f.
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mung, mit seinen Konzepten der „Plastizität menschlicher Bewegungen“ und der „Bewegungsphantasie“, menschliche Vermögen beschrieben, die von großer Bedeutung für die anthropologische Bestimmung von Tanz sind und bisher nur ungenügend beachtet wurden.27 Mit Gehlen und Plessner wurde in den ersten beiden Kapiteln ein anthropologisch-ästhetisches Verständnis des Tanzes begründet und innerhalb der philosophischen Anthropologie verortet.28 Im Folgenden soll Ernst Cassirers Systematik der unter-
27 Gehlen wird oft vorgeworfen, er weise der Kunst für das menschliche Leben einen zu geringen Stellenwert zu. Bezugspunkt dieser Kritik ist sein Werk ZeitBilder, in welchem er Gottfried Benn zitiert: „Kunstwerke sind phänomenal, historisch unwirksam, praktisch folgenlos. Das ist ihre Größe“; Nachzulesen in Gottfried Benns Aufsatz „Können Dichter die Welt verändern?“, zitiert nach Arnold Gehlen 1986, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1965), Frankfurt am Main, S. 224. Gehlen möchte hier jedoch nicht sagen, Kunst könne auf die Einstellungen und kommunikativen Verhaltensweisen ihrer Rezipienten keinen Einfluss nehmen. Dass Kunstwerke „phänomenal“ sind, bedeutet, dass sie als unmittelbare Erscheinungen da sind, dass sie sich nicht erklären müssen. Ihr Phänomencharakter wird hier gewürdigt. Wenn Gehlen von einer „historischen Unwirksamkeit“ und „Folgenlosigkeit“ der Kunst spricht, so meint er, dass Kunst nicht unmittelbar politisch sein sollte, d.h. nicht unmittelbar Handlung auslösend. Sie ist ein privilegierter Weltzugang, der frei ist, Faktizität auszuweichen: „In das Soziale, wie man so sagt, gestaltend einzugreifen, ist ihr [der Kunst; M.D.] wie jedermann unmöglich und so erhält sie einen eigentümlich freischwebenden Postulatscharakter.“ Vgl. ebd., S. 223 28 Während für Plessner Exzentrizität als ein zu sich selbst abständiges Verhältnis immer schon in irgendeinem Modus realisiert ist, als „logische Form des Menschseins“, gehört für Gehlen das „Unfertigsein“ des Menschen zu seiner physischen Form, das er durch ein „In-Form-Kommen und In-Form-Bleiben“ zu bewältigen hat (vgl. Gehlen: Der Mensch, S. 32). Plessners Position ist plausibler, da anthropologisch das Menschsein immer schon irgendwie bewältigt ist, wir uns immer schon in einer individuellen Lebensführung vorfinden. Dennoch geht auch Plessner nicht davon aus, die „Unvollständigkeit“ oder „Ergänzungsbedürftigkeit“ des Menschen könne endgültig überwunden werden. Die Verschränktheit von Körper und Leib und der dadurch resultierende Bruch im Menschen, der sich aus seiner exzentrischen Positionalität ergibt, machen ihn zu ei-
ZUR EXPONIERTEN MENSCHLICHEN BEWEGUNGSKOMPETENZ
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schiedlichen Symbolisierungsfunktionen für die Analyse des Tanzes fruchtbar gemacht werden und darüber die dritte These dieser Studie entwickelt werden. Doch zunächst sollen die theoretischen Überlegungen zu Gehlen in einem zweiten Exkurs anhand von Xavier Le Roys Performance SELF UNFINISHED in der Tanzpraxis Anwendung finden.
nem „homo absconditus“, „unergründlich“. Deshalb bleibt ihm, trotz immer schon bewältigter Daseinsweise, sein Leben als Aufgabe gestellt.
T ANZPRAKTISCHER E XKURS 2 SELF U NFINISHED von Xavier Le Roy (UA 1998) Abb. 7
Die Solo-Performance SELF UNFINISHED des französischen Choreographen Xavier Le Roy wurde 1998 in Cottbus uraufgeführt. Die Bühne, auf der sich ein Tisch, ein Stuhl und ein Kassettenrekorder befinden, ist in Neonlicht getaucht, was sie wie ein Labor wirken lässt, in dem Le Roy Bewegungsexperimente an sich selbst durchführt. In diesem Licht werfen Körper und Gegenstände keine Schatten und wirken eigenartig zweidimensional.1 Der Choreograph beschreibt seine Verwendung des Raums in einem Interview mit Jacqueline Caux folgendermaßen:
1
„Das grelle Neonlicht, das schonungslos alles offenlegt, verweigert dem Körper sein Doppel. Es produziert kein erstes Bild des Körpers, sondern schließt ihn in sich ab. Dies wird unterstützt durch Le Roys Blick, der stets nach innen auf seinen eigenen Körper gerichtet ist, der sich in den Faltungen immer nur selbst anschaut, ohne den Kontakt mit dem Publikum oder einem Außen zu suchen. Das unterscheidet Le Roys Verbiegungen von denen der Kontorsionisten oder Schlangenmenschen, die im Zirkus oder anderen Arenen stets den Blick der Menge suchen, um sich bewundern zu lassen.“ Vgl. Gerald Siegmund 2006, S. 385
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„L'espace ne pouvait pas être celui, illusionniste, du théâtre. Le mécanisme des actions devait être visible, transparent, sans secret. J'ai donc choisi de travailler dans un espace blanc, éclairé par des néons – ce qui éliminait des ombres – et de rester dans la frontalité. Dans les pièces précédentes, j'avais cherché à morceler le corps: là, au contraire, l'idée était de préserver sa globalité et de lui faire effectuer de multiples mutations. Je souhaitais que la participation du spectateur consiste à questionner ce qu'il percevait.“2
Den Anfang des Stückes markiert, dass Le Roy zum Tonbandgerät geht und den Startknopf drückt. „Es kommt kein Ton, weil es keinen Sound im Stück gibt – aber die Leute sind durch diese simple Geste trotzdem auf Hören eingestellt. Dieses Hören öffnet auch die Augen. Die Wahrnehmung verfeinert sich.“3 Dramaturgisch folgt das Stück einer Struktur, die sich als Schlaufe bezeichnen ließe: Alle Wege, die Le Roy durchschreitet, nehmen am Tisch ihren Ausgang und kehren wieder zu diesem zurück, auch wenn die Gänge sich in der Wiederholung verändern. Die Sequenzen folgen keiner festgelegten zeitlichen Struktur. Einmal bewegt sich der Choreograph rückwärts laufend in Zeitlupe zur Wand, legt sich auf den Boden und geht wieder entspannt zu seinem Platz zurück. Ein anderes Mal geht er nur zum Tonbandgerät, drückt auf Play und setzt sich wieder hin. Le Roy bewegt sich am Anfang wie ein Roboter oder eine Maschine und macht dazu Geräusche, die an einen Motor erinnern. Er isoliert nacheinander seine Schultern, Arme und Beine und versetzt sie dann in Bewegung, als wollte er das Mechanische an der Motorik des menschlichen Körpers hervorheben. In einer Sequenz zieht er sein langes enges T-Shirt über seinen Kopf und seine Arme, bückt sich, und läuft auf Händen und Füßen hin und zurück. Man glaubt, im Kopf und in den Armen einen Unterkörper zu erkennen, der einen Rock trägt, und der mit Le Roys Unterkörper in der Hose kämpft oder tanzt (vgl. Abb. 7). An einer Stelle bleibt er einfach reglos vor der Wand stehen, in anderen Szenen legt er sich mit dem Gesicht an die Wand gepresst auf den Boden und wirkt wie ein Leichnam. Er zwängt sich in das Tischgestell und kippt es schließlich um. Es ist so, als
2
Vgl. Jacqueline Caux 1999, „Xavier Le Roy: Penser les contours du corps/Body Lines“, in: Art Press 266, S. 19–22; hier S. 20
3
Siegmund 2006, S. 385
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würde der Körper seine „Syntax“ ständig verändern, weil die Gliedmaßen ihre Plätze choreographisch immer wieder tauschen. Es drängt sich der Eindruck auf, Le Roys Körper habe keine Organe oder er könne seine Organe verschieben. In einer Szene ist Le Roy entkleidet und präsentiert dem Publikum im Schulterstand seinen Rücken (Abb. 8). Man imaginiert einen kopflosen Torso, der den Blick für die Schultern und das Becken, für oben und unten, irritiert. Der Zuschauer sieht ein anderes Mal einen Oktopus, dessen verschlungene Glieder sich wieder entwirren und wie Fragmente erscheinen. Durch Blackouts in der Lichtregie wird der Eindruck des Gebrochenen verstärkt. Abb. 8
Le Roy wendet sich in seiner Performance gegen das, was herkömmlicherweise unter „Bewegungsfiguren“ oder Tanz verstanden wird, und stellt dem an einigen Stellen Figuren des Stillstands4 entgegen. Das gilt vor allem, wenn er nach jeder der zehn Sequenzen in der Performance zu dem Schreibtisch zurückkehrt, dort für Sekunden verweilt, bevor er neu ansetzt. 4
Dazu vor allem Gabriele Brandstetter 2000, „Still/Motion: Zur Postmoderne im Tanztheater“, in: Claudia Jeschke, Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung, Berlin, S. 122–136
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Am Ende der Inszenierung geht er wieder zum Kassettenrekorder und drückt auf Play. Diesmal ertönt der Song „Upside down“ von Diana Ross: „you turn me inside out and round and round…“ Der Songtext passt zu den Torsionen, denen Le Roys Körper während der Performance unterzogen wurde. Der Künstler verlässt die Bühne und geht ins Foyer. Le Roys Körperbilder erinnern an Hans Bellmers anagrammatische Puppen (vgl. Abb. 9) und Zeichnungen, vor allem an die surrealistische Puppen-Serie „La Pupée“ von 1935–37 oder die Radierungen „Les Marionnettes“ von 1969, die sich ausdrücklich auf Kleists Erzählung „Über das Marionettentheater“ berufen. Bellmer schreibt: „Der Körper gleicht einem Satz, der uns einzuladen scheint, ihn bis in seine Buchstaben zu zergliedern, damit sich in einer endlosen Reihe von Anagrammen aufs Neue fügt, was er in Wahrheit enthält.“5 Diese Art von Anagrammatik findet sich auch bei Le Roy, aber eher als Spiel mit den Formen und nicht als Suche nach einer Wahrheit. Die Windungen in den Bewegungen eröffnen einen weiteren Bedeutungskontext, wenn man weiß, dass der Choreograph ein promovierter Mikrobiologe ist, der lange Zeit in der Krebsforschung gearbeitet hat. Man denkt dann bei seinen Bewegungsbildern an Wucherungen der Krebszelle, die den Körper zersetzen und seine ursprüngliche Form verändern.
5
Vgl. Hans Bellmer 1962, „Kleine Anatomie des körperlichen Unbewußten oder Die Anatomie des Bildes", in: ders., Die Puppe, Berlin, S. 71–114; hier S. 95. Bellmer beruft sich 1969 in seinen Radierungen „Les Marionnettes“ ausdrücklich auf Heinrich von Kleists Erzählung „Über das Marionettentheater“; dazu Krassimira Kruschkova 2007, „Als tanzten sie nach Kleists Choreographie. Heinrich von Kleist, Antonin Artaud und das Theater der Gegenwart“, in: Günter Blamberger, Gabriele Brandstetter, Ingo Breuer, Sabine Doering, Klaus Müller-Salget (Hg.), Kleist-Jahrbuch, Stuttgart, S. 183–194; hier S. 188
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Abb. 9
Der Körper Le Roys wirkt in SELF UNFINISHED wie eine beliebig formbare Masse, der immer wieder neue Bedeutungen zugeschrieben werden können: ein androgynes Wesen, ein Tier (Oktopus, Hühnchen, Spinne, Frosch), ein deformiertes Monster. Der Titel der Performance impliziert die Unabgeschlossenheit eines Körpers, der in seiner Formlosigkeit immer wieder auf etwas anderes referiert. „Es geht mir gerade nicht darum, Formen zu definieren, sondern vielmehr darum, etwas formlos zu machen" erklärt Le Roy 1999.6 Es geht in SELF UNFINISHED für den Zuschauer nicht darum, die Virtuosität Le Roys in der Kreation und Destruktion von Körperbildern zu bewundern, sondern vielmehr darum, die Instabilität und Unentscheidbarkeit auf der Bedeutungsebene der Figuren auszuhalten und in dieser Unsicherheit auszuharren. Le Roy entnimmt seine Bewegungsfiguren den verschiedenen Stadien der embryonalen Entwicklung, auch wenn sie sich in den fließenden Übergängen seiner Darstellung verändern und 6
Vgl. Xavier Le Roy, zitiert nach Helmut Ploebst 1999, „Das Labor des Dr. Le Roy", in: Falter, Nr. 18, 5. Mai 1999, S. 22
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verlieren.7 Seine Körper(ver)formungen stehen damit im Kontrast zur vertikalen Ausrichtung, von welcher der klassische Tanz den Ausgang der Bewegungen nimmt. „Weil ich glaube, daß es nicht notwendig ist, dem Publikum eine bestimmte Körperlichkeit anzubieten, mit der es sich identifizieren kann in der Art wie: ‚Wow, tolle Körper, fantastisch, was die können.‘ Ich möchte dazu beitragen, solche Identifikationsmuster zu ändern, weil sie fremdbestimmen."8
Für Le Roys Stück NARCISSE FLIP, das im selben Jahr wie SELF UNFINISHED entstanden ist, beschreibt Le Roy seinen choreographischen Ansatz folgendermaßen: „Wir versuchen, Verwirrungen im Körper zu kreieren, die neue Teil-Identitäten enthüllen, die wie multiple Persönlichkeiten zusammengefügt in einer Person erscheinen […]. Wir suchen ein Körperbild, das reduziert ist auf viele einzelne Bestandteile, denen etwas fehlt, was sie zusammenhält. Wir suchen nach dem, was sich zwischen Zerlegung, Abbau, Segmentierung, Zerkleinerung, Atomisierung, Isolation bis hin zur Entmaterialisierung des Körpers ergibt. Wir versuchen, den Körper zu fragmentieren, um ihn von einem globalen Körperbild zu entfernen, damit neue Körpervorstellungen entstehen können.“9
Der Körper als biegsames Material – man denkt an Arnold Gehlens Bestimmung der „Plastizität der Bewegungen“, der „Variabilität der Glieder“, an das spielerische Verhältnis zur Bewegung, welches von Le Roy erprobt wird. Dass die einzelnen Körperformen, die in SELF UNFINISHED durchschritten werden, keine psychologische Dimension haben, deutet darauf hin, dass beim Publikum ein (eigentlich anthropologisches) Interesse an der potentiell unendlich offenen Bewegungsschöpfung besteht, ein Vergnügen an der Formung und Formbarkeit des menschlichen Körpers. In den Bewe-
7 8
Dazu Siegmund 2006, S. 387 Vgl. Xavier Le Roy 1999, „Bin ich ein Insekt? Bin ich ein Mensch?" Ein Gespräch geführt von Eva Karchner, in: Die Zeit, Nr. 36, 1999
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Zitiert von Gerald Siegmund in ders. 2006, S. 370. Siegmund beruft sich auf einen Auszug aus dem Programmblatt anlässlich einer Aufführung von Narcisse Flip 1998 im Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main, die er besucht hat.
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gungsexperimenten in SELF UNFINISHED zeigt sich die Bewegungsphantasie auf eine besondere Art realisiert, denn Le Roy lässt den Zuschauer immer wieder auf Phantasiereisen gehen, was der Körper des Tänzers nun darstellen könnte. Es ist beachtlich, wie gut es Le Roy gelingt, damit auf einer anthropologischen Ebene auch zu zeigen, wie der menschliche Körper sich einer jeglichen Festschreibung entzieht und sich stetig verändert. Indem er die strukturelle Eigenschaft der menschlichen Bewegung, unendlich kombinierbar und variabel zu sein, zum Thema seiner Arbeit macht, hinterfragt er auf einer anderen Ebene Körperbilder, die wir im alltäglichen Leben als faktisch und unveränderbar hinnehmen. Was ästhetisch erfahren und rückempfunden wird, ist die Instabilität und Beliebigkeit solcher Körperbilder selbst. Diese ästhetische Aussage ist in SELF UNFINISHED objektiviert und wird für das Publikum fassbar. Es wird deutlich, dass, wie Gehlen schreibt, „jede Neukombination von Bewegungen selbstgesteuert“ ist (vgl. Gehlen: Der Mensch, S. 42). Aufgrund der Bewegungsphantasie ist die „Plastizität und Variierbarkeit“ unerschöpflich (ebd., S. 132). So wird in SELF UNFINISHED rückbezüglich damit gespielt, wie Menschen „Bewegungen transponieren, ineinander fortsetzen und eine in der anderen intendieren können“ (ebd.).
III Tanz im Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung
1. Vorüberlegung: Thematische Zusammenführung von Kapitel 1 und 2 Der anthropologisch-ästhetische Ansatz Ernst Cassirers, der sich durch seine gesamte Philosophie der symbolischen Formen zieht, in der Auffassung, dass Sinnzusammenhänge und Bedeutungshöfe in Symbolisierungsprozessen im Sinnlichen anschaubar werden, wird in seinem Werk An Essay on Man von 19441 und in den Vorträgen „Language and Art“ I und II von 19422 explizit. Cassirer gesteht der Kunst mit ihren sinnlichen Gestaltungen eine besondere Art der Rezeption zu, denn er erfasst sie zugleich als „Anschauung des Äußeren und Kontemplation des Inneren“.3 Der künstlerische Gegenstand wird in der ästhetischen Erfahrung in eine Distanz gerückt und zur Disposition gestellt. Durch diese reflexive Entfernung in der Rezeption, durch eine aufmerksame Wahrnehmungshaltung, wird die
1
Ernst Cassirer 2006, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of
2
Ernst Cassirer 1979, „Language and Art“ I, II (1942), in: ders., Symbol, Myth,
Human Culture (1944), Hamburg, im Folgenden zitiert als An Essay on Man and Culture: Essays and Lectures of Ernst Cassirer, 1935–1945, Donald Phillip Verene (Hg.), New Haven/London, S. 145–196 3
Vgl. Marion Lauschke 2007, Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft/ Sonderheft 10), Hamburg, S. 188
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„symbolische Prägnanz“4 des ästhetischen Gegenstands als solche bewusst und als bedeutsam wahrgenommen, da dieser sich als geformt zu erkennen gibt. In diesem Symbolisierungsprozess wird die ästhetische Erfahrung immer auch auf sich selbst zurückgelenkt und wird selbstbezüglich. Das macht den spezifischen Charakter von Kunst als einer symbolischen Form aus. Im vorliegenden Kapitel gehe ich für künstlerische Tanzphänomene in ihrer Symbolfunktion von einem Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung aus. Diese dritte These der vorliegenden Studie, die zugleich die anderen beiden Kapitel des ersten Teils in eine Beziehung zueinander setzt, ist die Variation eines Gedankens Cassirers, welcher der Kunst attestiert, ein Gleichgewicht zwischen Ausdruck und Darstellung zu schaffen. Anstelle des harmonisierenden möchte ich, wie sich zeigen wird mit Cassirerschem Gedankengut argumentierend, aber den irritierenden und dynamisierenden Charakter der ästhetischen Wahrnehmung von Kunstwerken hervorheben. In künstlerischen Tanzphänomenen sehe ich ein Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung realisiert. Dieses Kapitel folgt der Idee, dass menschliche Reflexivität, begründet durch exzentrische Positionalität mit den von Helmuth Plessner artikulierten drei „anthropologischen Grundgesetzen“ der vermittelten Unmittelbarkeit, der natürlichen Künstlichkeit und des utopischen Standorts, wie sie in Kapitel 1 diskutiert
4
„Unter ‚symbolischer Prägnanz‘ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ‚sinnliches‘ Erlebnis zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ‚Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. Hier handelt es sich nicht um bloß ‚perzeptive‘ Gegebenheiten, denen später irgendwelche ‚apperzeptive‘ Akte aufgepfropft wurden, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet wurden. Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die Kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ‚Artikulation‘ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben ‚im‘ Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinnganzes, soll der Ausdruck der ‚Prägnanz‘ bezeichnen.“ Vgl. Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis, S. 230f.
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wurden, und die besondere Bewegungsplastizität und Bewegungsphantasie, paradigmatisch anthropologisch untersucht von Arnold Gehlen, wie Kapitel 2 dieser Arbeit gezeigt hat, sich als Voraussetzungen für eine intensivierte ästhetische Erfahrung von tänzerischen Bewegungen erschließen, die in ihrer Koinzidenz den Menschen auf sich selbst zurückwerfen und ihn in einen der Kunst spezifischen dynamischen Prozess der Selbstreflexivität überführen. Mit Plessners anthropologischer Grundlegung, die auf Künstlichkeit und Vermitteltheit des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses den Schwerpunkt legt, sind wir im 1. Kapitel zu einem weitreichenden Verständnis des Verhältnisses zwischen Leib und Körper gekommen, das letztlich die Instrumentwerdung des Körperleibs für tänzerische Bewegung möglich macht. Es wurde die These formuliert, die Lebendigkeit des Menschen als körperleibliche Gebrochenheit ist Bedingung der Möglichkeit von künstlerischem Tanz und strukturell gesehen anthropologisches Grundthema jedes Tanzphänomens. Die Selbstbezüglichkeit der menschlichen Bewegung lässt sich nicht von der exzentrischen Positionalität abstrahieren. Gleichzeitig ist sie auch eine conditio sine qua non der theoretischen Beschäftigung mit dieser Kunstform in ihrer Historizität; ich meine damit die dynamischen Verstehensprozesse, die den künstlerischen Tanz seit seiner Entstehungszeit begleiten. Der Mensch weiß durch seine exzentrische Positionalität von der Indirektheit seiner Beziehung zu den Dingen. Mit der Evidenz der Bewusstseinsakte ist für die exzentrische Positionalität zugleich eine Evidenz der Reflexion auf diese Bewusstseinsakte gegeben. Arnold Gehlens Hervorhebung der exponierten Bewegungskompetenz und Bewegungsphantasie des Menschen, die im 2. Kapitel dieser Studie zu der These führt, künstlerischer Tanz ist ein sich selbst fasslich gewordenes, rückbezügliches und rhythmisiertes spielerisches Bewegungsphantasieren, hebt die Bedeutung der Variabilität der Glieder, der Spielhaftigkeit menschlicher Bewegungen und ihrer Plastizität in den Vordergrund. Gehlen beschreibt, wie wir „jede beliebige Bewegung jeder anderen zuordnen und jede Bewegungsgestalt des einen Gliedes in die eines anderen transponieren“ können.5 Auch bei Gehlen ist von Rückbezüglichkeit der Bewegung die Rede, etwa wenn er, wie im letzten Kapitel erläutert wurde, beschreibt, dass das Bewegungsspiel nicht von einer „bloße[n] Funktionslust der Be-
5
Vgl. Gehlen: Der Mensch, S. 132
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wegungen“ ausgemacht wird, sondern zuletzt von einem „Sicherfahren der Grundeigenschaften der menschlichen Antriebsstruktur, die überschüssig, plastisch, weltoffen und kommunikativ ist“.6 Im folgenden Abschnitt 2 wird es, wiederum auf Plessner rekurrierend, um eine Deutung der menschlichen „Expressivität“ gehen, die eng mit dem Begriff der „Verkörperung“ zusammenhängt. Tänzerische Verkörperung ist Ausdruck eines instrumentell-expressiven Körperverhältnisses. Der Mensch gewinnt tanzend seinen Körper in der Bewegungsgestaltung durch ein „Verhalten der Verkörperung und zur Verkörperung“.7 Es gibt den unwillkürlichen und nicht kontrollierten Ausdruck (z.B. beim Niesen), aber auch Ausdrucksphänomene, wie Plessner vor allem am Beispiel des Lächelns expliziert, in denen der Mensch über seinen Ausdruck spielerisch verfügen und ihn so in „Kunst“ überführen kann. Der 3. Abschnitt behandelt Cassirers anthropologische Theorie der Kunst und seine Unterteilung der Symbolfunktionen in Ausdruck, Darstellung und Bedeutung, mit denen jeweils eine spezifische Positionierung des Menschen zu seiner Vorstellung von „Welt“ deutlich wird. Die ästhetische Erfahrung wird gestaltet, indem Eindrücke in Wahrnehmungszusammenhänge gestellt werden, die sich vor allem den Symbolfunktionen des Ausdrucks und der Darstellung zuordnen lassen. Aber während Cassirer davon ausgeht, Kunst schaffe ein Gleichgewicht zwischen Ausdruck und Darstellung, werde ich meine These des Spannungsverhältnisses zwischen Ausdruck und Darstellung im künstlerischen Tanz ausführen. Im 4. Abschnitt des Kapitels beschäftige ich mich mit der „Schauspielerproblematik“, die ich in eine „Anthropologie des Tänzers“ überführe. Plessner vergleicht in seinem Aufsatz „Anthropologie des Schauspielers“ von 1948 unser gesellschaftliches Rollenverhalten mit der Darstellung des Schauspielers. Er stellt heraus, wie der Schauspieler eine weitere Distanz zwischen seine Persönlichkeit und die verkörperte legt. So erlebt er seine Verkörperung als sachlichen Gegenstand und kann sie trotzdem als Rolle mit seiner eigenen Persönlichkeit kombinieren. Mit anderen Worten hat er, sofern er künstlerisch tätig ist, im Ausdruck Abstand von seinem Ausdruck, was Bedingung der Möglichkeit jeder darstellenden Kunst ist. Denis Diderots Paradoxe sur le comédien, 1830 erschienen, das im Anschluss an
6
Beides ebd., S. 208; meine Hervorhebung
7
Vgl. Plessner: Anthropologie der Sinne, S. 383
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Plessners Text über den Schauspieler auf seine anthropologische Relevanz hin untersucht wird, zeigt die Ambivalenz eines „grand comédien“, wenn er, mit dem Ziel, in der Verkörperung einer Rolle „ein Anderer zu werden“, bei sich bleiben muss und sich nicht als Privatperson in den Affekten der Rolle verlieren sollte. Schließlich ist Abschnitt 5 eine Untersuchung der tänzerischen Symbolisierungsprozesse. Unter den Stichworten „Ausdruck“ und „Form“ möchte ich thematisieren, wie der Mensch sich ein Tanzphänomen in symbolischer Formung als „Gegenstand“ gegenüberstellt. Dieses Unterkapitel leitet gleichzeitig thematisch in das 4. Kapitel dieses Buches über, in dem es um die Bedeutung der tänzerischen Bewegung geht. Der Exkurs im Anschluss an das Kapitel ist eine Inszenierungsanalyse der Tanzperformance DARK MATTERS von Kidd Pivot Frankfurt RM, choreographiert von Crystal Pite. Das Stück, in dem das Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung sehr eindrucksvoll thematisiert und in einer ästhetischen Utopie relativiert wird, stellt eine Verbindung zum japanischen Puppentheater, dem Bunraku, her. Die potentielle Versöhnung von Ausdruck und Darstellung in der Choreographie, das wird sich zeigen, kann das Spannungsverhältnis der Symbolisierungsformen nicht überbrücken; gleichwohl kann sie in der Gegenbewegung und Paradoxie dynamische Verstehensprozesse anregen. DARK MATTERS erscheint als Vision einer Erlösung, die aber in ihrer Mehrdeutigkeit auch eine Unüberbrückbarkeit des Spannungsverhältnisses zwischen Ausdruck und Darstellung thematisiert. Mit der Utopie einer Symbiose von Ausdruck und Darstellung, deren faktische Unmöglichkeit gleichzeitig nicht bestritten wird, nähert sich DARK MATTERS dem Diktum des Herrn C. aus Heinrich von Kleists Marionettentheater an, dass das Paradies „von hinten wieder offen“ sein könnte. Die „Hintertür ins Paradies“ hätte dann in der Möglichkeit der Kunst ihren Ursprung, auf einer fiktiven Bühne eine „performative Wahrheit“ aufzustellen, mit welcher der Sündenfall „wieder gut gemacht“ werden könnte – freilich nur als ästhetische Behauptung in all ihrer Fiktivität.
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2.
Exzentrizität und Expressivität
Expressivität und Wirklichkeitsgestaltung Im Rahmen der Konfiguration von Bedingungen, die für menschliches Verhalten spezifisch sind, so definiert Plessner letztlich sein anthropologisches Vorhaben und trennt es damit von ontologischen und ethischen Fragen (vgl. Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, S. 162), nimmt Expressivität eine exponierte Stellung ein. Dieser Begriff ist bereits im 1. Kapitel als „Ausdrücklichkeit menschlicher Lebensäußerungen überhaupt” (Plessner: Stufen, S. 399) charakterisiert worden. Plessner betont, dass selbst bei „kontinuierlich sich erhaltender Intention“ der Mensch „nach immer anderer Verwirklichung“ drängt (ebd., S. 416). Dies ist umso entscheidender, weil sich die Bewältigung der Wirklichkeit für ein menschliches Wesen nie eindeutig darstellt und nur in Alternativen erfolgt.8 Diese anthropologische Vorstellung findet sich spielerisch vor allem in der darstellenden Kunst bestätigt, in der ästhetisch bedeutsame Wirklichkeiten erschaffen, aktualisiert und zerstört, zitiert und verändert werden. Gerade kulturelle Errungenschaften als Verwirklichungen der Expressivität zeigen den Menschen als existentiell ergänzungsbedürftig.9 Jede Symbolisierungstätigkeit ist ein nicht abzuschließender Akt der Wirklichkeitsgestaltung und Sinnerzeugung, bei dem der Mensch an kein endgültiges Ziel gelangen kann. Plessner schreibt, der Mensch komme „in einem gewissen Sinne nie dahin, wohin er will – ob er eine Geste macht, ein Haus baut oder ein Buch schreibt –, aber diese Ablenkung macht darum sein Bestreben nicht illusorisch und verweigert ihm nicht die Erfüllung. Der Abstand des Zielpunktes der Intention vom Endpunkt der Realisierung der Intention ist eben das Wie oder die Form, die Art und Weise der Realisierung.“ (Stufen, S. 414)
8
Helmuth Plessner 1983g, Der Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie (1973), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 8, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 380–399; hier S. 398
9
„Exzentrische Lebensform und Ergänzungsbedürftigkeit bilden ein und denselben Tatbestand. […] In dieser Bedürftigkeit oder Nacktheit liegt das Movens für alle spezifisch menschliche, d.h. auf Irreales gerichtete und mit künstlichen Mitteln arbeitende Tätigkeit, der letzte Grund für das Werkzeug und dasjenige, dem es dient: die Kultur.“ Plessner: Stufen, S. 385
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Auf künstlerischen Tanz gewendet, könnte man Plessner so paraphrasieren, dass die Form, in der das Tanzphänomen wahrnehmbar wird und sich objektiviert, durch den Abstand der ästhetischen Intention (oder Idee) von der realisierten Inszenierung bestimmt wird. Insofern wäre die Unmöglichkeit, einer ästhetischen Intention in ihrer Idealität als Realisation vollkommen beizukommen, geradezu die Bedingung der Möglichkeit ihrer formalen Gestaltung. Eine tänzerische Inszenierung ist damit weit mehr als ein wiederholter oder wiederholbarer Realisierungsversuch einer ästhetischen Idee. Ihre Form ist die Art und Weise der Realisierung ihrer Intention. Plessner betont, Form sei als solche zu einem konkreten Gegenstand geworden: „Die Diskrepanz zwischen dem Erreichten und Erstrebten ist Ereignis geworden. Aus dem erkalteten Ergebnis ist schon das begeisternde Streben entwichen, als Schale bleibt es zurück. Entfremdet wird es zum Gegenstand der Betrachtung, das vordem unsichtbarer Raum unseres Strebens war. Und da das Streben nicht aufhört und nach Realisierung verlangt, kann ihm das Gewordene als Formgewordenes nicht genügen. Der Mensch muß sich erneut ans Werk machen.“ (Ebd., S. 415f.)
Brigitte Scheer weist im Zusammenhang mit darstellenden Künsten ebenfalls darauf hin, dass es keine endgültige und vollgültige Inszenierung geben kann. Damit sieht sie immer neue Versuche einer gelingenden Inszenierung gerechtfertigt.10 Inszenierungen von Werken in den darstellenden Künsten sind für Scheer wesentliche Formen ihrer Bewahrung (d.h. ihrer „Wahrmachung“ und „Erhaltung“), denn jede Präsentation eines Werks gestaltet einen „Horizont“ des Verständnisses seiner „Wahrheit“. Mit Cassirer gesprochen geschieht das in künstlerischen Symbolisierungsprozessen, in denen das sinnliche Material als grundsätzlich untrennbar von Sinn manifest wird. Es ist vielleicht als das größte Verdienst Cassirers anzusehen, dass er in seiner Kulturphilosophie, besonders dort, wo es um die Kunst geht, jede „Objektivität“ bzw. kulturelle Manifestation als ein „‘dynamisches Inei-
10 Vgl. Brigitte Scheer 2001, „Inszenierung als Problem der Übersetzung und Aneignung“, in: Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt am Main, S. 91–102; hier S. 96f.
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nander‘ von Ausdruck und Form“11 versteht. Wo er von einer „symbolischen Form“ spricht, meint er eine Verbindung zweier Aspekte: formbildender Kräfte und geformter Strukturen und Gestalten.12 Form meint Cassirer also zugleich stabilisierend und aktivisch bzw. prozessual. Das zeigt sich auch in der oft zitierten Definition der symbolischen Form in seinem Vortrag „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“ aus dem Jahre 1923: „Unter einer ‚symbolischen Form‘ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird“.13 Im Vorwort zur ersten Auflage von Idee und Gestalt spricht Cassirer der Idee eine „Kraft der Gestaltung und Formgebung“14 zu. Auf künstlerische Gegenstände angewandt kann man sagen, dass der ästhetischen Idee eine Kraft zukommt, die formbildend gestalterisch wirkt und sich in einem künstlerischen Gegenstand wiederfindet, der seinerseits als symbolische Form und konkreter geformter Gegenstand formbildende Kräfte in ihrer Aktivität und Dynamik spiegelt. Darin ist jeder künstlerische Gegenstand ein dynamisches Ineinander von Ausdruck und Form. Im Folgenden geht es primär um den Ausdrucksbegriff, wie er sich bei Plessner und Cassirer darstellt. Am Ende des Kapitels soll der Formbegriff für den Tanz näher beschrieben und in seiner Objektivität charakterisiert werden, denn Cassirers Formbegriff, der von seinem Ausdrucksbegriff nicht zu trennen ist, ist der Ausgangspunkt für das 4. Kapitel dieser Studie.
11 Ernst Cassirer 2002a, Geschichte, Mythos, in: ders., Nachgelassene Manuskripte und Texte, Band 3, Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois, Oswald Schwemmer (Hg.), Hamburg, S. 256; im Folgenden zitiert als Geschichte, Mythos 12 Dazu vor allem Lauschke 2007, S. 144f. 13 Ernst Cassirer 2003b, „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“ (1923). Aufsätze und kleine Schriften 1922–1926, in: ders., Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Band 16, Birgit Recki (Hg.), Hamburg, S. 75–104; hier S. 79; im Folgenden zitiert als Der Begriff der symbolischen Form 14 Ders. 2001b, „Vorwort zur ersten Auflage von ‚Idee und Gestalt‘“ (1921). Aufsätze und kleine Schriften 1902–1921, in: ders., Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Band 9, Birgit Recki (Hg.), Hamburg, S. 619
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Plessner über Ausdruck Plessner versteht jede Lebensregung, „an welcher das geistige Aktzentrum oder die Person beteiligt ist“ (Plessner: Stufen, S. 410f.) als ausdruckshaft. Jede menschliche Äußerung wird von ihm gleichzeitig als adäquat und inadäquat begriffen. Sofern sie als Lebensregung das Innere nach außen bringt ist sie adäquat, sofern sie aber als faktisches Ergebnis einer Intention unvollkommen bleibt, ist sie inadäquat und gebrochen. Plessner unterscheidet zwei Ausdrucksbegriffe, die ich als den anthropologischen und den ästhetischen bezeichne: Zum einen meint er „Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen“, einen „Zwang zum Ausdruck“, zum „Sich-aussprechen-Müssen“ (ebd., S. 399), der mehr oder weniger stark ausgeprägt sein kann und ganz eng mit der exzentrischen Positionalität zusammenhängt. Zum anderen spricht Plessner von einem Ausdrucksbedürfnis anderer Art, das er mit dem Bedürfnis nach mimischer Darstellung und mit künstlerischen Leistungen verbindet (ebd.). Um ebendiese Ausdrücklichkeit geht es im Zusammenhang mit dem künstlerischen Tanz. Plessner spricht von einem Bedürfnis „nach Darstellung bzw. Wiedergabe erlebter Dinge, beunruhigender Gefühle, Phantasien, Gedanken“ (ebd.) und sieht den Grund dafür „in der Tendenz, das Flüchtige des Lebens durch Gestaltung aufzubewahren und es übersichtlich zu machen“ (ebd.). Künstlerische Darstellung ist in diesem Sinne eine Möglichkeit, das Vergängliche durch Formung zu objektivieren und dadurch intensiver erfahrbar, gleichzeitig auch „bewältigbar“ zu machen. Was bei der bildenden Kunst offensichtlich ist, gilt aber genauso für die sogenannte „ephemeren“ Künste, auch für den Tanz, in dem es gerade um die Überführung und Symbolisierung von Bewegung in ein ästhetisch geformtes Bewegungsgeschehen geht. Bei Cassirer tauchen ähnliche Gedanken auf, wenn er die Funktion symbolischer Formen allgemein dahingehend charakterisiert, dass in ihnen ungeordnete Eindrücke in einen Zusammenhang aus Vorstellungen überführt werden. So lichten sie durch Organisation und Unterscheidung „das dumpfe und ungeschiedene Chaos von einfachen Zuständlichkeiten“.15 In der symbolischen Form der Kunst konstatiert Cassirer eine „Sublimation ursprünglicher Impulse“, die er folgendermaßen präzisiert:
15 Vgl. ders. 1994a, „Der Gegenstand der Kulturwissenschaft“, in: ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), Darmstadt, S. 1–33; hier S. 15
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„Unseren Leidenschaften eine ästhetische Form zu verleihen heißt, sie so zu verwandeln, daß sie ohne Zwang wirksam werden können. Im Werk des Künstlers ist die Macht der Leidenschaft zu einer bildenden, formenden Kraft geworden.“16
Exzentrische Positionalität ist die Möglichkeitsbedingung für darstellendkünstlerisches Verhalten, in dem „ursprüngliche Impulse“ in der Gestaltung sublimiert auftauchen. Auf einer Bühne tritt ein Schauspieler oder Tänzer einem anderen, und damit auch sich selbst, gegenüber, und das, was er darstellt, wirkt auf diesen anderen und von diesem reflektiert wieder auf ihn zurück. So verstehe ich auch Plessners „Reziprozität der Perspektiven“: Der Mensch verfügt über den Sinn, „im anderen ‚sich‘ zu sehen, den Sinn für Spiegelbildlichkeit, kraft seiner zu sich aufgebrochenen Ichhaftigkeit“.17 Als Menschen können wir uns gegenseitig nur über unser Ausdrucksverhalten verstehen, wenn wir einen weiten Begriff des Ausdrucks zugrunde legen, der jede menschliche Entäußerung, sei es in der Sprache oder in Handlungen, als ausdruckshaft versteht. Dabei ist der Begriff der „Mitwelt“ innerhalb von Plessners Konzeption wichtig, die er als „die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfaßte Form der eigenen Position“ definiert. „Die Mitwelt trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird.“ In diesem Sinne spricht Plessner von der „Wir-Form des eigenen Ichs, in dem durchaus einheitlichen Umgriffensein und Umgreifen der eigenen Lebensexistenz nach dem Modus der Exzentrizität“. (Stufen, S. 377) Die exzentrische Positionalität, zu der die Mitwelt gehört, findet ihre Realität gleichzeitig durch die Mitwelt gewährleistet (vgl. ebd., S. 375). Mitwelt kann als „Sphäre des Anderen“ bezeichnet werden.18 Wir teilen
16 Beides ders. 1990, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main, S. 229; im Folgenden zitiert als Versuch über den Menschen 17 Helmuth Plessner 1983f, Trieb und Leidenschaft (1971), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 8, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 367–379; hier S. 371 18 Vgl. Karin Köllner 2006, „Zu Helmuth Plessners Sozialtheorie. Plessners offene Sozialitätskonzeption vor dem Hintergrund von Sartres bewusstseinstheoretischer Intersubjektivitätsphilosophie“, in: Hans-Peter Krüger, Gesa Lindemann
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eine Mitwelt, in der wir den Anderen erfahren und für ihn erfahrbar sind.19 „Exzentrierung bedarf der Erfahrung des Anderen, bedarf der Erfahrung der Mitwelt; diese Erfahrung setzt am Ausdruck der Körperleiber der Anderen an.“20 Dem Menschen ist es bewusst, dass er gesehen werden kann. Exzentrische Positionalität, die bereits als dynamische Existenzweise des Menschen charakterisiert wurde, hat als eines ihrer wichtigsten Momente die Abständigkeit, die Fähigkeit, sich von sich selbst und seinen Handlungen und Gedanken zu distanzieren. Daher trägt das menschliche Ausdrucksverhalten, außer in unwillkürlichen Reflexen, den Aspekt der Darstellung immer schon in sich. Plessner weist darauf hin, wenn er die Nähe der exzentrischen Positionalität zu Situationen beschreibt, in denen der Mensch etwas „vorspielt“: „Worauf beruht denn die Möglichkeit falscher Gefühle, unechter Gedanken, des sich in Etwas Hineinsteigerns, das man nicht ist? Worauf beruht die Möglichkeit des (schlechten und guten) Schauspielers, die Verwandlung des Menschen in einen andern? Woher kommt es, daß weder die anderen Personen, die ihn beobachten, noch vor allem der Mensch selbst immer zu sagen wissen, ob er nicht in den Momenten vollkommenster Selbstvergessenheit und Hingabe doch nur eine Rolle spielt?“ (Plessner: Stufen, S. 371)
Es kann demnach festgehalten werden, dass die Abständigkeit von sich selbst nicht nur „der Möglichkeitsgrund für das darstellerische Moment personaler Identität“,21 sondern ebenso für das Schauspielern und Tanzen als performative Verhaltensweisen ist. „Darstellungsverhalten“, so schreibt Scheer, ist „kein Superadditum der menschlichen Existenz, sondern gerade-
(Hg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, Berlin, S. 274–296; hier S. 286 19 Dazu Matthias Schlossberger 2008, „Von der grundlegenden Bedeutung der Kategorie des Ausdrucks für die Philosophische Anthropologie“, in: Bruno Accarino, Matthias Schlossberger (Hg.), Expressivität und Stil – Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie. (Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, Band 1), Berlin, S. 209–217; hier S. 212f. 20 Ebd., S. 213 21 Vgl. Pilgram 2010, S. 142
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zu eine condition humaine“.22 Die Ausdrucksfähigkeit des Menschen, die eng mit der Wahrnehmung des Anderen zusammenhängt, ist also immer schon geformt und damit distanziert. Es stellt eine systematische Entscheidung dieser Untersuchung ästhetischer Tanzphänomene dar, bei der Selbstwahrnehmung des Körpers anzusetzen, da dieser durch sein sinnlich rückgebundenes Selbstverhältnis tänzerisch zu einem Werkzeug wird. In diesem Rahmen ist die Ausdrücklichkeit des Körpers im Tanz eng mit dessen Darstellung oder Präsentation verbunden. Um als Tänzer Bewegungen variabel gestalten zu können, muss die Beherrschung des eigenen Körpers erlernt werden. Der „Abstand in mir und zu mir“, wie Plessner betont „keine Zerklüftung und Zerspaltung meines im Grunde ungeteilten Selbst, sondern geradezu die Voraussetzung, selbständig zu sein“,23 wird zur Möglichkeitsbedingung der Ausübung darstellender Künste wie des Tanzes. Plessner bringt die menschliche Positionalität und das in der Selbstbeobachtung und im Selbsterleben gebrochene Selbstverhältnis auf den Punkt, wenn er schreibt, das menschliche Lebewesen habe sich selbst, wisse um sich und sei „Ich, der ‚hinter sich‘ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem möglichen Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen den Zuschauer gegenüber dem Szenarium dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstandsstellung zu rückende Subjektpol“ (vgl. Plessner: Stufen, S. 363).
Verkörperung Mit Plessner kann man pointiert sagen, es ist kein Zufall, dass mit dem Begriff der „Verkörperung“ die Arbeit eines darstellenden Künstlers bezeichnet und darüber hinaus das Doppelverhältnis des Menschen zu seinem Körper erinnert wird: „Ein Leib zu sein und einen Körper zu haben, in einem
22 Scheer 2001, S. 91 23 Helmuth Plessner 1983c, Die Frage nach der Conditio humana (1961), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 8, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 136–217; hier S. 190; im Folgenden zitiert als Die Frage nach der Conditio humana
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Körperleib zu stecken, den man beherrschen muß.“24 Der Mensch fällt nicht mit seinem Körper zusammen, sondern verkörpert sich fortwährend.25 Tänzerische Verkörperung ist ein Ausdruck des instrumentell-expressiven Körperverhältnisses. Ich schließe mich Plessners Idee an, dass der Körper in einem „Verhalten der Verkörperung und zur Verkörperung“ in der Gestaltung gewonnen wird,26 und stelle heraus, dass dies in performativen Künsten in einem besonderen Maße der Fall ist, geht es doch gerade um den Körper, der in der Aufführung in seiner Körperlichkeit erfahren wird. Der leibliche Ausdruck wird bewusst eingesetzt und die Verschränktheit von Leib und Körper zur Darstellung gebracht. Der Körperleib fällt in der künstlerischen Darstellung nicht mit sich zusammen, ist von sich selbst distanziert. Die Abständigkeit ermöglicht es den Darstellern, den Körper als „Medium der Darstellung“ selbst in Regie zu nehmen und als Kunstmittel einzusetzen. Im Tanz vollzieht sich, neben der Verkörperung einer Tanzrolle, wie sie oft im Tanztheater oder in Handlungsballetten üblich ist, also in erzählerischen Kontexten, eine Verkörperung im Sinne einer Inkorporierung und Aktualisierung von Bewegungsmaterial. Dementsprechend werden Bewegungen gerade vom geschulten Auge in der Rezeption verstanden und ebenfalls inkorporiert. Die Neurowissenschaften haben zeigen können, dass bei der Rezeption von Bewegungen ein körperlicher Mitvollzug auf hirnphysiologischer Ebene nachzuweisen ist, der umso intensiver ausfällt, je besser der Rezipient die Bewegungsfolge selbst körperlich umsetzen könnte oder kann.27 Hier zeigt sich ein Bewe-
24 Helmuth Plessner 1985, Selbstdarstellung, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 10, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 302–341; hier S. 321 25 Dazu auch Pilgram 2010, S. 170 26 „Leibhaftigkeit ist nicht einfach Körper-Sein, sondern immer auch KörperHaben, d.h. ein Verhalten der Verkörperung und zur Verkörperung, ein in Handlung, Sprache und Gestaltung Körper gewinnendes Verhalten zu ihm und seinen Gegenständen.“ Plessner: Anthropologie der Sinne, S. 383 27 Dabei ist vor allem eine Studie von Emily Cross, Antonia Hamilton und Scott Grafton aus dem Jahre 2006 einschlägig, in der hirnphysiologisch nachgewiesen werden konnte, dass das Anschauen und die Vorstellung von Bewegungen, die man vorher gelernt hat, zu einer vermehrten Aktivierung unterschiedlicher Gehirnstrukturen führen. Die beteiligten Neurowissenschaftler ließen dafür in ei-
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gungsverständnis körperlicher Art. Der Zuschauende kann sich zusätzlich durch seine eigene Bewegungsphantasie an die eigene Ausführung dieser oder ähnlicher Bewegungen erinnern bzw. das, was er sieht, zu seiner eigenen Beweglichkeit in Beziehung setzen. Die artikulierten und präsentierten Bewegungen werden den Tanzenden selbst und ihren Rezipienten fasslich und sinnlich erfahrbar. Verkörperung ist, hier möchte ich Plessner folgen, das Verhalten des Menschen als Körper und zu seinem Körper (vgl. Plessner: Lachen und Weinen, S. 382). Der Begriff der „Verkörperung“ war auch in dem bereits zitierten Gedanken Cassirers wichtig, in dem er von der Wahrnehmungsfunktion der Sinne spricht. Der Symbolbegriff, der alle Phänomene, in denen eine wie auch immer geartete Sinnerfüllung des Sinnlichen sich darstellt, umfassen soll, ist gleichzeitig „Besonderung und Verkörperung“ im Sinne einer „Manifestation und Inkarnation eines Sinnes“ (Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis, S. 109). Plessner und Cassirer ist gemeinsam, dass sie, besonders in einem Darstellungskontext des menschlichen Körperleibes, von einem aktiven Gebrauch der Sinne ausgehen, welcher der menschlichen Fähigkeit zur Abstandnahme von sich selbst geschuldet ist.
nem Zeitraum von fünf Wochen zehn professionelle TänzerInnen unterschiedliche Modern Dance-Bewegungen aus Videoclips lernen. Darüber hinaus gab es eine gleiche Anzahl von Modern Dance-Bewegungen aus Videoclips, die nicht gelernt wurden. Mittels einer funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie wurde am Ende einer jeden Woche die Gehirnaktivität jeweils bei der Aufgabe gemessen, die gelernten und die ungelernten Tanzsequenzen zu beobachten, sich zeitgleich vorzustellen, die Bewegungen auszuführen, und einzuschätzen, wie gut sie die Sequenzen selbst tanzen konnten. Bei der Simulation gelernter im Vergleich zu ungelernter Bewegungen konnte eine erhöhte Aktivierung des prämotorischen Kortex, des frontalen Augenfelds, des supplementär motorischen Kortex, des Gyrus supramarginalis sowie des cingulär motorischen Kortex gemessen werden. Die signifikant höhere neuronale Aktivierung bei der Simulation gelernter Bewegungen zeigte sich auch in den Fällen, in denen die TänzerInnen der Meinung waren, die gelernten und die ungelernten Bewegungen gleich gut ausführen zu können. Vgl. Emily S. Cross, Antonia F. de C. Hamilton, Scott T. Grafton 2006, „Building a motor simulation de novo: Observation of dance by dancers”, in: Neuroimage, 31 (3), S. 1257–1267
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Grenzlagen Um sich Fragen des Ausdrucks und der Darstellung im künstlerischen Tanz zu nähern, ist es lohnend, Plessners Schriften zu befragen, in denen er von den sogenannten Grenzlagen der menschlichen Daseinsweise schreibt. Der Mensch als das Wesen, das vom Doppelaspekt von Körperhaben und Leibsein weiß, ist stets bemüht, zwischen diesen beiden Positionen zu vermitteln, auch dann, wenn er in Situationen gerät, in denen er nicht vermag, eine passende Antwort zu finden, in denen es vielleicht sogar keine „sinnvolle“ Beantwortung im Sinne einer korrespondierenden Geste, Gebärde, sprachlichen Äußerung oder Handlung gibt. Plessner unterscheidet zwei Arten solcher Grenzlagen: Erstens spricht er von unbeantwortbaren und lebensbedrohlichen Situationen wie einer Ohnmacht oder dem Schwindelgefühl. Vor diesen Situationen kann der Mensch als Person nur kapitulieren. Zweitens gibt es Situationen, die zwar unbeantwortbar sind, aber nicht lebensbedrohlich. Plessner geht davon aus, die normale Verhaltensregulation reiche in solchen Situationen nicht aus, und der Mensch verliere das Verhältnis zu seinem Körper. Lachen und Weinen sind für Plessner Reaktionen darauf, dass wir auf solche Grenzen stoßen. Er beschreibt, wie Lachen und Weinen mit der „menschlichen Verhaltensstruktur als solcher“ zusammenhängen und sich dadurch erklären, dass bestimmte Situationen „Verhalten überhaupt von sich aus außer Kraft“ setzen (Plessner: Die Frage nach der Conditio humana, S. 205). Plessner veranschaulicht, wie im Lachen „das beherrschte Verhältnis zum Körper gesprengt“ werde (Plessner: Lachen und Weinen, S. 334). Der Mensch verfällt z.B. durch Situationskomik oder Wortwitz ins Lachen, er gerät hinein und verliert seine Körperbeherrschung. Im Weinen, z.B. aus Gründen der Trauer oder des Schmerzes, „gibt es [das beherrschte Verhältnis zum Körper; M.D.] der Mensch selbst auf“ (ebd.). Er lässt sich ins Weinen fallen, überlässt sich ihm. Aber in beiden Fällen, lachend und weinend, kapituliert der Mensch nicht; denn „von seinem exzentrischen Blickpunkt, seinem personalen Zentrum aus übersieht und bewältigt er auch noch die Situation im Ganzen, seinen ohnmächtigen Verlust der Beherrschung seines Leibes, sodaß er von hier aus zu einer normalen Verhältnisfindung in bewandtnishaften Situationen zurückkehren kann.“28
28 Vgl. Witteriede 2009, S. 71
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Wie Plessner hervorhebt, wird die Desorganisation geradezu zur Antwort des Menschen „auf die Grenzlage, in die er geraten ist, und zur Antwort auf das Unbeantwortbare“.29 Auf Grenzen möglichen Verhaltens gestoßen zu sein, ist eine Erfahrung, die laut Plessner „nicht den Charakter eines aus Überlegungen und Probierversuchen resultierenden Eingeständnisses“ hat, sondern sie steht für ihn „mit der Verkörperung als Instrument der Verhaltensbildung selber in Zusammenhang“ (Plessner: Die Frage nach der Conditio humana, S. 206). Sieht sich der Mensch unbeantwortbaren, aber nicht lebensbedrohlichen Situationen gegenüber, sind in seiner Positionalitätsform strukturell bereits Bewältigungsmechanismen vorgesehen, die ihn, je nach Situation, zum Lachen oder zum Weinen bringen können. Hat eine solche Situation demnach keine angemessene Möglichkeit der Problemlösung, so ist dieser Sachverhalt „für den Menschen von Natur aus in der Verhaltensgestalt seines Körpers bereits gelöst, indem die sich verselbständigende Positionalität ihn durch Krisen seiner Exzentrizität hindurchträgt.“30 Das Außer-sich-Geraten im Lachen und Weinen steht nur einem Lebewesen offen, das sich von seiner physischen Existenz abheben kann und welches das Verhältnis zu sich selbst immer wieder verwirklichen muss. Von der „vermittelten Unmittelbarkeit“, die für Plessner eines der drei anthropologischen Grundgesetze darstellt, war bereits im 1. Kapitel die Rede. Dem Menschen ist durch seine exzentrische Positionalität die Indirektheit seiner Beziehung zu den Dingen, von der er weiß, als mittelbare gegeben, auch wenn er sie, wie das Tier, als direkte, unmittelbare lebt (vgl. Plessner: Stufen, S. 401). Das ist besonders relevant, wenn es um das Thema Ausdruck geht. Im Ausdruck zeigt sich die vermittelte Beziehung, die der Mensch zu sich selbst und zu anderen unterhält. Unmittelbar existieren kann der Mensch nur in der indirekten Form der Vermittlung. Stehen Lachen und Weinen für Plessner paradigmatisch als Grenzfälle menschlichen Verhaltens, in denen sich der Verlust der Selbstbeherrschung
29 Helmuth Plessner 1982e, Ausdruck und menschliche Existenz (1957), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 7, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 435–445; hier S. 442 30 Fischer 2008, S. 258
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als Bruch zwischen der Person und ihrem Körper manifestiert,31 so stellt das Lächeln eine Grenzlage anderer Qualität dar. Plessner bezeichnet es als „Spiegel […] geradezu der menschlichen Position[alität; M.D.]“ (Plessner: Das Lächeln, S. 431) und sieht darin einen ganz besonderen Ausdruck der Menschlichkeit. Im Lächeln zeigt sich, wie der Mensch im Ausdruck gleichzeitig einen Abstand vom Ausdruck erfahren kann: „Wird Lächeln Ausdruck, dann drückt es in jeder Form die Menschlichkeit des Menschen aus. Nicht nur so wie jede Expression bei ihm, auch die ungehemmteste der starken Affekte, noch etwas Menschliches durchscheinen läßt, nicht wie Lachen und Weinen, die als seine Monopole in spezifischen Formen eines Verlusts seiner Selbstbeherrschung zum Vorschein kommen, sondern in aktiver Ruhehaltung und beherrschtem Abstand.“ (Plessner: Das Lächeln, S. 434)
Es ist die gewisse Verfügungsgewalt über das Zeichenmaterial des Ausdrucks,32 die das Lächeln für Plessner besonders auszeichnet, und die es für die Thematik dieser Studie einschlägig macht. Eine Formung und Veränderung des Ausdrucks zum Zwecke künstlerischer Darstellung im künstlerischen Tanz lebt von diesem Abstand vom Ausdruck im Ausdruck. Ein ritueller Tanz, der den Tänzer in einen Trancezustand versetzen soll, wahrt diesen Abstand nicht. Obwohl also willentlich eine Trance herbeigeführt wird, oder z.B. ein Schwindelgefühl bei dem Tanz der Derwische, fehlt in der Trance oder in dem Schwindel ein Abstand zum Ausdrucksverhalten. Plessner interessiert am Lächeln, dass darin der Ausdruck „aus natürlicher Gebärde in die gewollt bedeutende Geste“ gleitet und sich so „die spontane Symbolik zur sublimen Allegorie des beherrschten Leibes“ wandelt (Plessner: Das Lächeln, S. 430). Sein „allegorischer Charakter“ liegt in seiner „bewussten Symbolik“ (ebd., S. 429). So wird das Lächeln von einer natürlichen Gebärde zu einer Geste, die spielend oder spielerisch verwendet
31 Helmuth Plessner 1982d, Das Lächeln (1950), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 7, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 419–434; hier S. 423; im Folgenden zitiert als Das Lächeln 32 Vgl. Helmut Lethen 2008, „Die ‚letzte Karte im Spiel‘ der Souveränität. Stufen von Helmuth Plessners Kategorie des Ausdrucks“, in: Bruno Accarino, Matthias Schlossberger (Hg.), Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie, Berlin, S. 25–36; hier S. 28
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werden kann und dabei, dem beredten Schweigen ähnlich, ihre Vieldeutigkeit entfalten kann (vgl. ebd., S. 429) – „Kunst“ wird, wie Plessner schreibt (ebd., S. 427). Anders als im Lachen oder Weinen, die Plessner als „sinnvolle Fehlreaktionen mit Hilfe eines Bruchs zwischen Mensch und Körper“ (ebd., 432) bezeichnet, wo die Verkörperung also unterbunden wird, tritt der Lächelnde zu seinem Lächeln in ein Verhältnis. Plessner betont, dass durch das Spiel mit dem Ausdruck im Lächeln ein „Reichtum an motorischen Nuancen“ gewonnen wird, „die zu einer unübersehbaren Vielfalt von Regungen passen bzw. an sie angepaßt werden“ (ebd., S. 427). Lächeln wird zu einem „Bedeutungsträger par excellence“ (ebd., S. 431): „In den starken Affekten und in den explosiven Reaktionen des Lachens und Weinens sind wir hingenommen und überwältigt. Jede Distanz zum eigenen Gesicht ist ausgelöscht. Im Lächeln dagegen herrscht ein Gleichgewicht zur eigenen Gebärde, die damit Maskenfunktionen annehmen kann […]. So bewahrt der Mensch seine Distanz zu sich und zur Welt und vermag sie, mit ihr spielend, zu zeigen. Lachend und weinend ist er das Opfer seiner exzentrischen Höhe, lächelnd gibt er ihr Ausdruck.“ (Plessner: Elemente menschlichen Verhaltens, S. 229)
Das Schamgefühl und der Sündenfall (Reprise) Im Lachen und im Weinen ist die konstitutive Distanz des Menschen zu sich selbst gestört, sie sind Ausdrucksformen einer Desorganisation. Die Spannung zwischen Körperhaben und Leibsein ist auch die Bedingung der Möglichkeit von Schamgefühl. Für Scheler ist diese Teil des „Clair-obscur der menschlichen Natur“ und schenkt der Eigenartigkeit des Menschen einen besonderen Ausdruck. In Phänomenologie und Erkenntnistheorie von 1911 schreibt Scheler: „Nur weil zum Wesen des Menschen ein Leib gehört, kann er in die Lage kommen, sich schämen zu müssen; und nur weil er sein geistiges Personsein als wesensunabhängig von einem solchen ‚Leibe‘ erlebt und von allem, was aus dem Leibe zu kommen vermag, ist es möglich, daß er in die Lage kommt, sich schämen zu können.“33
33 Max Scheler 1957, Phänomenologie und Erkenntnistheorie (1911), in: ders., Schriften aus dem Nachlaß, Band 1, Bern, S. 68f.
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Scheler macht die „Unausgeglichenheit und […] Disharmonie des Menschen zwischen dem Sinn und dem Anspruch einer geistigen Person und seiner leiblichen Bedürftigkeit“ (ebd.) zur Möglichkeitsbedingung der Scham. Es ist der Mensch, der nicht mit sich identisch ist und über sich hinaus strebt, das exzentrische Lebewesen, welches in Verlegenheit kommen kann. Die Eigenheit der menschlichen Natur kommt besonders dort zum Ausdruck, wo eine Diskrepanz zwischen der aktuellen leiblichen Situation und einem wie auch immer anders gearteten Anspruch auftaucht, dem nicht beigekommen wurde. Jean-Paul Sartre diskutiert das Schamgefühl im Kontext seiner Phänomenologie des Blicks in seinem Werk Das Sein und das Nichts von 194334 und vertritt die These, Scham werde durch den Blick des Anderen hervorgerufen, selbst dort, wo aktuell kein realer Anderer anwesend ist. „Ich schäme mich über mich vor Anderen“.35 Der Mensch kann sich selbst nie so erscheinen, wie anderen, er kann sich selbst immer nur eingeschränkt zum Objekt werden. Dieser Aspekt lässt sich zu Plessners Konzept der exzentrischen Positionalität in Beziehung setzen, denn als in Exzentrizität lebendes Wesen bleibt der Mensch gleichzeitig auch ein zentrisches Lebewesen, welches sich nicht „von außen“ betrachten kann, obwohl es sich zum Objekt machen kann. In der Scham wird für Sartre der, mit Plessner gesprochen, Bruch zwischen Körper und Leib deutlich: „Die Scham ist [...] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, daß ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt.“36 Dabei ist es für Sartre sogar irrelevant, ob faktisch ein Anderer anwesend ist oder nicht: „Der Andere ist für mich überall anwesend als das, wodurch ich Objekt werde.“37 Er führt diesen Aspekt der Selbstentfremdung aus: „Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieses oder jenes tadelnswerte Objekt zu sein, sondern überhaupt ein Objekt zu sein, das heißt, mich in diesem verminderten, abhängigen und erstarrten Objekt, das ich für den Andern bin, wiederzuerkennen. Die Scham ist Gefühl eines Sündenfalls, nicht weil ich diesen oder jenen Fehler began-
34 Vgl. Jean-Paul Sartre 1993, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943), Hamburg, S. 457ff. 35 Ebd., S. 490 36 Ebd., S. 471 37 Ebd., S. 502
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gen hätte, sondern einfach deshalb, weil ich in die Welt ‚gefallen‘ bin, mitten in die Dinge, und weil ich die Vermittlung des Andern brauche, um das zu sein, was ich bin.“38
Wie Lachen und Weinen kann das Schamgefühl als Ausdruck der für den Menschen konstitutiven Spannung von zentrischer und exzentrischer Existenz verstanden werden.39 Im Rückblick auf die Sündenfallproblematik, die in den ersten beiden Kapiteln, angeregt durch Kleists Marionettentheater, leitmotivisch auftauchte, ist nun ein weiterer Aspekt deutlich geworden, der ein tieferes Verständnis davon ermöglicht, warum es im Sündenfall anthropologisch um exzentrische Positionalität geht. Denn nachdem der Mensch von der „verbotenen Frucht“ gegessen hat, bemerkt er seine Nacktheit und beginnt, sich zu schämen. Der Fall des Menschen aus dem Paradies ereignet sich also zeitgleich mit dem Entstehen des Schamgefühls. Schämen kann sich nur ein Lebewesen, das exzentrische Positionalität hat, ein Wesen, dem eine Distanznahme zum eigenen körperlichen Ausdrucksverhalten möglich ist. Vor diesem Hintergrund ist die Sündenfallgeschichte also ein anthropologischer Mythos von der Menschwerdung, ein evolutionäres Ereignis des Übergangs von der Zentrizität zur Exzentrizität, in der die Zentrizität als eines ihrer Momente beinhaltet ist. Darüber hinaus spielt in der Sündenfallgeschichte auch schon der Andere, der Zuschauer, eine Rolle, denn Adam und Eva stehen voreinander nackt und schämen sich. Gott als die Instanz, die alles zu jeder Zeit sieht, kann als (absolute) Personifikation des jeweils Anderen verstanden werden. Die tatsächliche Anwesenheit eines Dritten ist dann nicht mehr notwendig, denn er ist in der menschlichen Abständigkeit von sich selbst immer mitgedacht. Somit lese ich den
38 Ebd., S. 517 39 Schlossberger weist gleichwohl darauf hin, dass sich Lachen und Weinen und Scham in ihrer Bewegungsrichtung unterscheiden. Während das Schamgefühl eintrete, wenn man aus einem selbstvergessenen zentrischen Bewusstseinszustand herausgerissen werde, verlaufe die Bewegungsrichtung bei Lachen und Wienen umgekehrt: der Lachende oder Weinende verliere die Kontrolle über sich, er verliere seine exzentrische Distanz. Vgl. Matthias Schlossberger 2006, „Die Ordnung des menschlichen Gefühlslebens“, in: Hans-Peter Krüger, Gesa Lindemann (Hg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, Berlin, S. 254–273; hier S. 270
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Fall des Menschen aus dem Paradies auch als Mythos über den Ursprung eines jeden darstellerischen Verhaltens, das ja in der Abständigkeit des Menschen und im möglichen Abstand zum eigenen körperlichen Ausdrucksverhalten gründet. Dass der Körperleib in seinem instrumentalen Charakter erfahren werden kann, ist die Voraussetzung für jede geführte Bewegung und damit für alle darstellenden Künste.40 Nachtrag zum Marionettentheater – Utopien der Auflösung der Differenz zwischen Ausdruck und Darstellung Eben die Abständigkeit zum eigenen Körperausdruck, die den Menschen vor anderen Lebewesen auszeichnet, kann ihm, z.B. in der Scham, zum Problem werden. Kleist erzählt in der Bärenepisode seiner Erzählung, warum der Bär dem Menschen überlegen ist: weil er keinen Abstand zu seiner Verkörperung hat und daher auch keine Darstellungsabsicht verfolgen kann. Der Bär fällt nicht auf die Finten seines menschlichen Fechtgegners herein und gewinnt, weil er nicht exzentrisch aus seiner Haltung heraustreten kann. Schneider betont, dass der Bär bei Kleist als das Mittel einer Körperdarstellung fungiere, „die von jeder eigenen (aus dem ‚Inneren‘ kommenden) Darstellungsabsicht befreit ist und nur ihrem eigenen Gesetz der Selbsterhaltung folgt – gegen das Gesetz des menschlichen Ausdrucks, gegen die Expressivität des ‚Aus-Fallens‘, gegen die Exzentrizität der Selbstdarstellung“.41 Kleist stellt es so dar, dass der Bär die Darstellungsabsicht des Menschen durchschaut, indem er alle fingierten Fechtstöße des Herrn C. auf ein Nichts reduziert, als sei er ein perfekter Leser von Bewegungen. Auf diese Weise gelingt es ihm, ebenso wie der Marionette als unfehlbarem Tänzer, die Differenz des darstellenden Körpers zu negieren.42 Es ist äußerst lohnend, zeitgenössische Tanztechniken hinsichtlich der in ihnen zur Darstellung kommenden Negation dieser Differenz zu befragen. Der moderne Tanz spielt, z.B. in Martha Grahamschen Momenten des fall im Unterschied zum recover, mit solchen unkontrollierbaren Momenten, in denen der Schwerkraft nachgegeben wird, anstelle der Auflehnung gegen sie und einer damit einhergehenden Spaltung gegen uns selbst, wie im klassischen Tanz. Kleistisch gedacht könnte man argumentieren, dass das Para-
40 Dazu auch Scheer 2001, S. 91f. 41 Vgl. Schneider 1998, S. 147 42 Ebd.
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dies auf diese Weise, auch in Momenten des Schwindels oder Taumels, momenthaft performativ „von hinten wieder geöffnet“ wird, in dem Sinne, dass der „Fall“ in die Exzentrizität und somit der Abstand vom eigenen körperlichen Ausdruck übergangen wird, als hätte er noch nicht stattgefunden und als wäre die Exzentrizität einzuholen. Dahinter steht natürlich faktisch ein intensives und langjähriges Training, denn ein Loslassen der Körperkontrolle bedingt eben auf der anderen Seite eine starke Körperspannung und ein Vertrauen in Reflexe. Diese Thematik taucht in dem Abschnitt dieses Kapitels wieder auf, in dem die sogenannte „Schauspielerproblematik“ in Anlehnung an Plessner und Diderot diskutiert und in eine Anthropologie des Tänzers überführt wird. Das Verhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung, in dem sich das prekäre Verhältnis zwischen Leibsein und Körperhaben des Menschen spiegelt, wird in der künstlerischen Darstellung als Spannungsverhältnis kenntlich. Der Mensch mag nach einem Gleichgewicht zwischen Leibsein und Körperhaben streben, aber exzentrische Positionalität macht dieses Streben letztlich vergeblich. Im nächsten Abschnitt wird erörtert, dass Cassirer davon ausgeht, die Kunst ermögliche ein Gleichgewicht zwischen Ausdruck und Darstellung. Ich möchte aber zeigen, wie in künstlerischen Objektivationen das Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung hervortritt, auch und vielleicht gerade dort, wo Ausdruck und Darstellung bzw. die Differenz des Menschen zu sich selbst als ästhetische Utopie versöhnt bzw. aufgehoben scheinen. Dies wird auch im Anschluss an dieses Kapitel im 3. Exkurs an der Tanzperformance DARK MATTERS von Kidd Pivot Frankfurt RM deutlich. Kleist behauptet in der Marionettenepisode seiner Erzählung utopisch eine Art, wie die Differenz zwischen Körperhaben und Leibsein aufgelöst werden könnte. Der Tänzer erörtert die Kontrolle über seine Figur anhand des Beispiels der Marionette in einer Art Verkehrung der göttlichen Schöpfung des Menschen. Während Gott die tote Materie belebt, ihr Leben einhaucht, muss der Tänzer, um einen vollkommeneren Körper zu erschaffen, der für jede Darstellungsabsicht offen ist, den Körper völlig von Leben und Geist entleeren. Ihm kommt also eine gottähnliche Schöpferrolle zu: Er erfindet seinen Körper neu, indem er ihn von jedem Ausdruck befreit und ihn lediglich einem nicht näher definierten objektiven Formgesetz folgen
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lässt.43 Kleist stellt es so dar, als absorbiere die Mechanik der Puppe den Maschinisten gänzlich, während die Verkörperung einer Rolle für einen Schauspieler durch eine Differenz gekennzeichnet ist, da der Schauspieler das Begehren hat, jemand anders sein zu wollen. Es geht nicht um eine Innerlichkeit des Maschinisten, die nach außen getragen wird, sondern um eine rein operative Funktion, in der die „Seele“ des Tänzers erst im und durch den Tanz hergestellt wird; sie ist lediglich in ihrer räumlichen Erstreckung, in der physikalischen Bewegung zu finden (vis motrix), und der Körper wird zu einem bloßen Instrument der Darstellung.44 In der Absurdität eines solchen Anspruchs, bei dem Ausdruck dort angesetzt wird, wo jeder Ausdruck unmöglich geworden ist, zeigt Kleists Erzählung gerade die Spannung zwischen Ausdruck und Darstellung auf, indem sie in ihr verweilt und sie, freilich als ästhetische Utopie, aufzulösen scheint.
3. Cassirers Theorie der Kunst und seine Untersuchungen zu Ausdruck, Darstellung und Bedeutung Allgemeines zu Cassirers Kunstphilosophie Plessner öffnet sich mit seinen anthropologischen Ideen Formen ästhetischer Erfahrung und würdigt in einem kulturphilosophischen Sinne die Bedeutung nicht-diskursiver Erkenntnisformen.45 Einen ähnlichen Anspruch verfolgt Cassirers Philosophie der symbolischen Formen in einer Parallelaktion,46 indem er neben der Wissenschaft andere symbolische Formen wie den Mythos oder die Sprache untersucht. Kunst wird von Cassirer als sym-
43 Dazu vor allem ebd., S. 166f. 44 Ebd. 45 Besonders deutlich wird das in seiner Ästhesiologie des Geistes von 1923, in der er anhand der Verschiedenheit der Sinne zeigt, wie diese auch jenseits kognitiver Leistungen der Orientierung in der Welt dienen. 46 Vgl. Heike Delitz 2005, „Spannweiten des Symbolischen. Helmuth Plessners Ästhesiologie des Geistes und Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 6, S. 917–936. Dazu auch Ernst Wolfgang Orth 1990/91, „Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Vergleich zwischen Ernst Cassirer und Helmuth Plessner“, in: Dilthey-Jahrbuch 7, S. 250–276
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bolische Form betrachtet, als ein spezifischer Bereich der Kultur, in dem eine eigene Logizität und Diskursivität vorzufinden ist. In seinem Vortrag Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum behauptet Cassirer, dass in der Kunst im Vergleich zum Mythos, wo ebenfalls „Gefühl und Phantasie“ als Lebensform dominieren, diese „einen neuen Freiheitsgrad erlangt“ haben.47 Der ästhetische Raum ist im Vergleich zum „reinen Maßraum“ der Wissenschaft (Cassirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, S. 426) als „Lebensraum“ bezeichnet (ebd., S. 422), und Cassirer betont, dass die „schaffende Phantasie“ den individuellen Gebilden der Kunst die „Frische und Unmittelbarkeit des Lebens“ einhaucht (ebd., S. 418). Der Distanzgewinn durch Reflexivität ermöglicht einen besonderen Umgang mit dem Symbolischen, der mythologischem Denken fremd ist.48 Cassirers Kunstphilosophie zeichnet sich dadurch aus, dass der ästhetische Sinn, die im Sinne Heideggers welterschließende Qualität eines Kunstwerks, und die Freude an sinnlichen Gestalten an den sinnlichen Eindruck gebunden bleiben und dessen Wahrnehmung intensiviert ist.
47 Ernst Cassirer 2004b, „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ (1931). Aufsätze und kleine Schriften 1927–1931, in: ders., Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Band 17, Birgit Recki (Hg.), Hamburg, S. 411–432; hier S. 422f.; im Folgenden zitiert als Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum 48 Vgl. Ernst Cassirer 2002b, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken, in: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Birgit Recki (Hg.), Hamburg, S. 302ff., im Folgenden zitiert als Das mythische Denken. Zur eigentümlichen „Autarkie des Ästhetischen“ auch Birgit Recki 2007, „Die Fülle des Lebens. Ernst Cassirer als Ästhetiker“, in: Josef Früchtl, Maria Moog-Grünewald (Hg.), Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten. 100 Jahre „Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft", Hamburg, S. 225– 239; hier S. 228. Lauschke beschreibt Cassirers Ästhetik als „Kompensationstheorie, in der die Kunst bzw. die ästhetische Erfahrung zum einen den Verlust von sinnlicher Unmittelbarkeit und konkreter Erlebnisfülle, den der Mensch durch die Abstraktion des wissenschaftlichen Weltbegriffs erlebt, kompensiert. Zum anderen stellen die individuellen Weltentwürfe der Kunst für Cassirer auch bzw. gerade in nachmetaphysischen Zeiten Orientierungsangebote dar, in denen die Unmöglichkeit einer Theodizee Konsens, das Bedürfnis nach Sinn und Übersicht aber keineswegs verschwunden ist.“ Vgl. Lauschke 2007, S. 311
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Ein Band der Philosophie der symbolischen Formen, der sich mit der Kunst beschäftigt, war von Cassirer geplant und sollte sich an die Bände, die sich jeweils mit der Sprache, dem Mythos und der Wissenschaft beschäftigen (1923–1929 verfasst), anschließen, konnte aber leider zu seinen Lebzeiten nicht fertiggestellt werden.49 Dennoch ist gerade in der Forschung der letzten Jahre deutlich geworden, dass in vielen Schriften Cassirers eine ausgereifte ästhetische Theorie unter anthropologischen Vorzeichen zu finden ist.50 Neben dem 1944 veröffentlichten An Essay on Man, in dem ein Kapitel sich mit der Kunst als symbolischer Form beschäftigt, und den Vorträgen „Language and Art“ I und II von 1942 enthält Cassirers auf 1928 datiertes Konvolut 184a des Nachlasses51 wertvolle Anhaltspunkte für Cassirers kunsttheoretischen Ansatz. Hier sind Vorarbeiten zum 4. Band der Philosophie der symbolischen Formen zu finden, der sich mit Kunst beschäftigen sollte. Cassirer beschreibt ausführlich die Ausdrucks- und Darstellungsfunktion und setzt Kunst in ein Verhältnis zur mythologischen Denk- und Lebensform. Besonders ergiebig für eine anthropologische Tanzästhetik ist die Vorstellung, dass man es in der ästhetischen Erfahrung gleichzeitig mit einer Distanz qua Abstraktion und mit einer Intensivierung
49 Cassirer schreibt am 13.05.1942 an Paul Arthur Schilpp: „Schon im ersten Entwurf der Phil. d. s. F. war ein besonderer Band über Kunst vorgesehen – die Ungunst der Zeiten hat aber seine Ausarbeitung immer wieder hinausgeschoben“. Der Brief, der in der Southern Illinois University Library in Carbondale, Illinois, archiviert ist, wird hier zitiert nach John Michael Krois 1995, „Introduction. L'art, une forme symbolique“, in: Fabien Capeilléres (Hg.), Ècrits sur l'art, Paris, S. 7–26; hier S. 7 50 Lauschke gelingt eine anthropologische Kontextualisierung des ästhetischen Ansatzes in Cassirers Spät-Philosophie, der ich in diesem Kapitel folgen möchte. Lauschke stellt sogar den paradigmatischen Stellenwert der ästhetischen Anschauung für Cassirers Wahrnehmungstheorie heraus, da in der Kunst in einem kreativen Akt Formen erfasst werden. In der Philosophie der symbolischen Formen schreibt Cassirer dieser Idee folgend, dass sich jeder Akt symbolischer Formung bereits in der Wahrnehmung vollziehe. Vgl. Lauschke 2007, S. 82 51 Ernst Cassirer 1995b, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ders., Nachgelassene Manuskripte und Texte, Band 1, Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois, Oswald Schwemmer (Hg.), Hamburg; im Folgenden zitiert als Zur Metaphysik der symbolischen Formen
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der Wahrnehmung eines Gegenstands zu tun hat. Cassirer bezeichnet Kunst als „condensation“, „concentration“ und „intensification“ von Wirklichkeit (vgl. Cassirer: An Essay on Man, 160f.). In dieser Dynamik gelangt der ästhetisch Rezipierende zu einem hohen Grad an Selbstreflexivität durch den Distanzgewinn, der durch Reflexivität im Umgang mit dem Symbolischen in der Kunst gegeben ist: „‚Wir sind in ihm [dem Kunstwerk; M.D.], ‚wir‘ bewegen uns in ihm und mit ihm – und wir werden [uns] damit erst des wahren Ausmaßes unserer Kräfte, unserer Möglichkeiten bewußt – die ‚Wirklichkeit‘ steht vor uns – nicht als ein bestimmter, objektiver aber eben in dieser Objektivität auch eingegrenzter Stoff- und Gegenstandsbezirk – sondern als die Wirklichkeit unseres Ich, die, wie wir gewahr werden, eine unbegrenzte Möglichkeit vorher unbekannter Lebensphänomene und Lebensfunktionen in sich birgt“.52
Der Begriff der Lebendigkeit spielt, wie für Plessner, auch für Cassirer eine große Rolle und wird sogar zur zentralen ästhetischen Kategorie.53 Besonders aufschlussreich ist dabei, dass Cassirer „Leben“ und „Form“ in der Philosophie der symbolischen Formen zusammen denkt: Will man das Leben verstehen, dann als ungetrennt von Form, denn „der Prozeß, in dem das Leben – als geistiges, nicht als biologisches Leben verstanden – sich formt, und der, in dem es sich selbst begreift und weiß, muß schließlich eine Einheit bilden: Ist doch dieses Begreifen nicht das bloß äußerliche Umgreifen einer fertigen, an sich vorhandenen Form, in welche da Leben gepreßt wird, sondern die Art und Weise, in der es sich seine Form gibt, um sie in ebendiesem Akt des Gebens, der tätigen Gestaltung zu verstehen.“ (Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis, S. 217)
52 Cassirer: Geschichte, Mythos, S. 43 53 Dazu besonders Recki 2007. Lauschke hebt hervor, dass Cassirers Rede vom „Lebensgrund“ vermutlich auf den von Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelten und von Alexander Gottlieb Baumgarten übernommenen Begriff des „fundus animae“ zurück geht, der das schöne Denken mit dem lebendigen Denken verbindet. Vgl. Lauschke 2007, S. 71
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Ein Kunstwerk, welches das Leben in einem prägnanten Punkt symbolisiert, wirkt auf den Rezipienten und zurück auf den Produzenten54 und geht damit wiederum in einen Prozess des Lebens und Gestaltens ein. In diesem Sinne schreibt Cassirer, am Ende stehe „nicht das Werk, in dessen beharrender Existenz der schöpferische Prozeß erstarrt, sondern das ‚Du‘, das andere Subjekt, das dieses Werk empfängt, um es in sein eigenes Leben einzubeziehen und es damit wieder in das Medium zurückzuverwandeln, dem es ursprünglich entstammt.“55
Ausdruck, Darstellung und Bedeutung Cassirer beschreibt, wie die symbolischen Formen „zwischen uns und die Gegenstände“ treten, aber „nicht nur negativ die Entfernung“ bezeichnen, „in welche der Gegenstand für uns rückt“, sondern vielmehr „die einzig mögliche adäquate Vermittlung und das Medium“ schaffen, „durch welches uns irgendwelches geistiges Sein erst faßbar und verständlich wird“ (Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form, S. 80). Er unterteilt die allgemeine Symbolfunktion in die Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion, mit denen der Mensch jeweils in einem bestimmten Verhältnis zum Bild der Welt steht, das er erzeugt. Dabei betont er gleichzeitig, dass die Symbolfunktionen sich den symbolischen Formen nicht ausschließlich zuordnen lassen, auch wenn jeweils eine vorherrschende Funktion auszumachen ist. Allgemein gesprochen lässt sich vom Ausdruck über die Darstellung zur reinen Bedeutung eine Distanzierung und Verfestigung ausmachen, mit der eine immer größer werdende Befreiung vom und Reflexion über den unmit-
54 Cassirer schreibt, das Werk selbst entspringe „aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten“. Der Kunstschaffende muss sich in der konkreten Formgebung seines Produkts beschränken, erkennt aber dadurch erst die eigentliche Unbegrenztheit seiner Möglichkeiten. Vgl. Ernst Cassirer 2001a, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, in: ders., Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Band 7, Birgit Recki (Hg.), Hamburg, S. 196 55 Ernst Cassirer 1994c, „Die ‚Tragödie‘ der Kultur“, in: ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), Darmstadt, S. 103–127; hier S. 110; im Folgenden zitiert als Die ‚Tragödie‘ der Kultur
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telbaren Eindruck einhergeht.56 Dabei bleibt im Aufbau der geistigen Welt aber der Zusammenhang der Artikulationsstufen und damit jede Symbolfunktion erhalten. Jeder Akt der Symbolisierung hat seinen Ursprung in einer, transzendentalphilosophisch gedacht, sich selbst gestaltenden Wahrnehmung, deren aktivisches Moment Cassirer besonders hervorhebt.57 Aus der Masse aller möglichen Eindrücke muss der Mensch auswählen und seine Auswahl in einen Wahrnehmungszusammenhang setzen. Cassirer versteht seine Unterteilung der Verarbeitungsebenen der symbolischen Formen in Ausdruck, Darstellung und Bedeutung systematisch als vollständig, und ich möchte ihm darin beipflichten. Diese Gliederung liefert ihm, wie er 1927 in Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie schreibt, „einen allgemeinen Plan der ideellen Orientierung, innerhalb dessen wir nun gewissermaßen die Stelle jeder symbolischen Form bezeichnen können“.58 Das Ausdrucksverstehen wird von Cassirer als Urphänomen behandelt (vgl. Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis, S. 82), da es paradigmatisch für jede symbolische Relation ist und allen weiteren Formungen zugrunde liegt. Ausdrucksphänomene haben „unmittelbar auslösenden Charakter und werden von dem durch sie Berührten nicht als eine Bedeutung tragend begriffen“.59 Cassirer fasst sie als „Wirksamkeit“: Für die „Welt des Ausdrucks“ ist kennzeichnend, dass „ein bestimmtes, klar entwickeltes Ichbewußtsein ihr nicht von Anfang an eignet. Denn alles Erleben – Ausdruck ist zunächst nichts anderes als ein Erleiden; ist weit mehr ein Ergriffenwerden als ein Ergreifen“ (Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis,
56 In nachgelassenen Aufzeichnungen Cassirers von 1928 findet man das Schema a) Ausdruck = „Verstehen“ – „Leben“ b) Darstellung = „Anschauen“ – „Gestalt“ c) Bedeutung = ‚Erkennen‘ – „Gesetz“; vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 6; auch zitiert von Lauschke 2007, S. 165 57 Vgl. Cassirer: Das mythische Denken, S. 42 58 Ernst Cassirer 1995a, „Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie“ (1927), in: ders., Symbol, Technik, Sprache: Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, Ernst Wolfgang Orth, John Michael Krois unter Mitwirkung von Josef M. Werle (Hg.), Hamburg; S. 1–21; hier S. 11; im Folgenden zitiert als Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie 59 Lauschke 2007, S. 169
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S. 83). An einer späteren Stelle führt Cassirer aus, im reinen Ausdrucksphänomen, das besonders im mythologischen Denken vorkommt, „ist eine Weise, ein Modus des ‚Verstehens‘ gegeben, der nicht an die Bedingung der begrifflichen Interpretation geknüpft ist: Die einfache Darlegung des Phänomens ist zugleich seine Auslegung, und zwar die einzige, deren es fähig und bedürftig ist.“ (Ebd., S. 105)
Er spricht in diesem Zusammenhang von der „Transparenz“ des Phänomens (ebd., S. 520). Ausdruck ist für Cassirer der einzige Weg, auf dem die „reine ‚Innerlichkeit‘ des Subjekts […] ‚erscheinen‘, sich ‚offenbaren‘, nach ‚außen‘ dringen kann“ (Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 148). Mit der Darstellung gewinnen die Urphänomene (als Ausdrucksgeschehen) eine reflexive Komponente (vgl. ebd., S. 126). Cassirers Erkenntnisse über die Symbolfunktion der Darstellung sind für eine anthropologische Untersuchung des künstlerischen Tanzes besonders relevant, da er (ähnlich wie Plessner) Darstellung zu einem wesentlichen Teil des Bewusstseins macht, das einen relationalen Charakter besitzt.60 Alle symbolischen Formen gehören für Cassirer „in den Kreis der ‚Darstellung‘“ (Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis, S. 52), insofern sie sich in Symbolen manifestieren, wenn auch in einer je eigenen Dimension (vgl. ebd.). Cassirer spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verschiedenheit des dynamischen Spannungsverhältnisses zwischen dem Inhalt einer Erscheinung als solchem und ihrer darstellenden Funktion“ (ebd., S. 143) und führt diesen Gedanken folgendermaßen aus: „Jeder noch so ‚elementare‘ sinnliche Inhalt ist schon von einer solchen Spannung erfüllt und mit ihr gewissermaßen geladen. Er ist niemals einfach, als isolierter und abgelöster Inhalt, ‚da‘; sondern er weist in ebendiesem Dasein über sich hinweg; er bildet eine konkrete Einheit von ‚Präsenz‘ und ‚Repräsentation‘“ (ebd.).
Jede Darstellung nimmt von der Präsenz ihren Ausgang, aber sie geht darin nicht ganz auf. Und umgekehrt bedarf jede „Anschauung“, jede Präsenz, eines Darstellungsmittels, um sich differenziert auszugestalten. Mit der
60 Ebd., S. 170f.
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Darstellung wird jede Anschauung mehr als reine „Präsenz“, sie beginnt „repräsentativen“ Charakter zu gewinnen (ebd., S. 125). Jede Darstellung ist eine Setzung, mit der ein „‘Gegenstand‘ gewonnen und gesichert“ (ebd., S. 135) wird. Erst in der Symbolfunktion der Darstellung kann es so etwas wie Intersubjektivität geben. Das wechselseitig sich bedingende Verhältnis zwischen Präsenz und Repräsentation ist für Cassirer auch konstitutiv und charakteristisch für jede künstlerische Darstellung. Cassirer verdeutlicht die Darstellungsfunktion in erster Linie an der Sprache. So zeigt er, wie ein „Ich“ sich von den Gegenständen, die ihn umgeben, erst trennt, indem es diese benennt: „Wenn dem Kinde in dieser Weise die Darstellungsfunktion der Namen, wenn ihm der Sachverhalt des ‚Heißens‘ aufgeht, so hat sich damit für dasselbe seine ganze innere Stellung zur Wirklichkeit verwandelt – so ist für es ein prinzipiell neues Verhältnis von ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ entstanden. Jetzt erst beginnen die Gegenstände, die vorher den Affekt und den Willen unmittelbar ergriffen, gewissermaßen in die Ferne zu rücken: in eine Ferne, in der sie ‚angeschaut‘, in der sie in ihren räumlichen Umrissen und nach ihren selbständigen qualitativen Bestimmungen vergegenwärtigt werden können.“ (Ebd., S. 126)
Und nur, weil man zwischen dem „Ich“ und den Gegenständen unterscheiden kann, ist auch die Möglichkeit einer Identifikation gegeben, die Möglichkeit des Wiederfindens von Entsprechungen und Differenzierungen, und damit eine Orientierung in der Welt. Aber Cassirer macht auch ganz klar deutlich, dass der Zusammenhang mit der Ausdrucksfunktion in der Sprache wirksam bleibt, da das „Ich“ an dem von ihm Ausgesprochenen Anteil nimmt. Erst in der nächsten Symbolisierungsschicht, in der Symbolfunktion der Bedeutung, ist „alles ausgelöscht, was […] bloßen Ausdruckswert besitzt“ (ebd., S. 390). Cassirer expliziert das, was er mit Bedeutung meint, an der Mathematik, die für ihn den Bereich der „Darstellbarkeit“ verlässt und als „Symbolismus der Prinzipien“ begreifbar ist (ebd., S. 542). Es geht um eine „gedankliche Einheitsbildung“,61 die komplexe Zusammenhänge verständlich macht (und
61 Ebd., S. 172; darin unterscheidet sich diese Symbolisierungsfunktion vielleicht am meisten von dem, was wir üblicherweise von künstlerischen Phänomenen erwarten.
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auch nur innerhalb dieser verständlich ist), sich aber von Anschaulichkeit entfernt. Cassirer schreibt, keiner der Sätze der Wissenschaft, „keines der einzelnen Stadien in diesem logischen Fortgang, braucht […] einer direkten anschaulichen Interpretation fähig zu sein. Nur als logische Gesamtheit läßt sich die Reihe der Folgerungen auf die Anschauung beziehen und an ihr bewähren und rechtfertigen. Wenn wir daher auch hier wieder das physikalische Denken dem sprachlichen Denken vergleichen wollen, so ließe sich sagen, daß der Fortgang vom ‚Modell‘ zum ‚Prinzip‘ eine analoge gedankliche Leistung in sich schließt, wie sie die Sprache vollzieht, indem sie vom Wort zum Satz fortgeht: Mit der Anerkennung des Vorrangs des Prinzips vor dem Modell gelangt die Physik gewissermaßen erst dazu, in Sätzen statt in Worten zu denken.“ (Ebd., S. 535)
Im Zuge der Auslöschung des bloßen Ausdruckswerts, der in der Reinform der Symbolfunktion der Bedeutung mitgedacht ist, verschwindet auch der Setzende als Individuum. In „objektivierten“ wissenschaftlichen Erkenntnissen treten „Ich“ und „Du“ zurück, auch wenn Cassirer darauf hinweist, dass auch die Wissenschaft nicht umhin kommt, ein „Du“ und damit Intersubjektivität vorauszusetzen (vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 121f.). In einer solchen Art von Begrifflichkeit werden die Zeichen willkürlich, da sie keinen auf ein Individuum zurückgehenden Ausdruckswert haben; sie gewinnen gleichzeitig an Universalität. Cassirer beschreibt den Vorgang, in dem Ausdruckscharaktere sich immer mehr veräußern und schließlich in objektive Merkmale übergehen, als Prozess der Distanzierung. In der Symbolfunktion des reinen Ausdrucks sind „Ich“ und Gegenstand noch ungetrennt (wobei man deshalb hier nur in einem uneigentlichen Sinne von einem „Gegenstand“ sprechen kann). Darstellung bedeutet eine Differenzierung (und gleichzeitig Setzung) von „Ich“ und Gegenstand. In der reinen Bedeutung herrscht eine Distanz zwischen „Ich“ und Gegenstand vor. Für die Sinnstufe der Bedeutung ist Abstraktion auszeichnend: „Denn der Hinweis, der in der Wahrnehmung oder Anschauung nur geübt wird: er soll im Begriff gewußt werden. Diese neue Art der Bewußtheit ist es, die den Begriff, als Gebilde des reinen Denkens, erst wahrhaft konstituiert. […] Erst dort, wo die spezifische Art der ‚Reflexion‘ geübt wird, stehen wir im eigentlichen Bereich
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des Denkens und in dessen Mittel- und Brennpunkt“. (Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis, S. 331)
Alle Symbolisierungsprozesse sind Akte des Verbindens und Unterscheidens. Cassirer versteht den Prozess der Distanzierung als Befreiung. Erst in der Darstellung kann der Mensch in ein Verhältnis zu Gegenständen treten, während er ihnen in der Sinnsphäre des Ausdrucks noch ausgeliefert war. Das wird besonders im Mythos deutlich, der noch in die Symbolstufe des Ausdrucks gehört. Denn mythologische Mächte, die nicht als eigene Schöpfungen erkannt werden, sind übermächtig: „Das mythische Bewußtsein schließt nicht von der Erscheinung auf das Wesen, sondern es besitzt, es hat in ihr das Wesen. Dieses tritt nicht hinter der Erscheinung zurück, sondern es tritt in ihr hervor; es verhüllt sich nicht in ihr, sondern es gibt sich in ihr zu eigen. Das jeweilig gegebene Phänomen hat hier nirgend den Charakter bloß stellvertretender Repräsentation, sondern den Charakter echter Präsenz: Ein Seiendes und Wirkliches steht in ihm in voller Gegenwart da, statt sich nur mittelbar durch dasselbe zu ‚vergegenwärtigen‘.“ (Ebd., S. 75)
In der Symbolstufe der Darstellung kann der Mensch schon Zusammenhänge verstehen. In der Sinnstufe der Bedeutung hat die Reflexivität einen Grad erreicht, in dem die Konstituierung von Zeichen bewusst geworden ist. Die Repräsentationsfunktion kann erst in dieser Sphäre zur vollen Geltung kommen, denn, so schreibt Cassirer, die charakteristische „Einstellung“ des Begriffs besteht darin, dass er „die ‚Präsenz‘ aufheben“ müsse, um „zur ‚Repräsentation‘ zu gelangen“ (ebd., S. 353). Während im Mythos präsentische Phänomene überwiegen und in der Sprache eine Spannung zwischen Präsenz und Repräsentation auszumachen ist, an dieser Stelle ist diese Cassirers Beispiel der Darstellungsfunktion, ordnet er die Wissenschaft der Repräsentation zu.62 Gleichzeitig betont Cassirer mit seinem Begriff der „symbolischen Prägnanz“, dass jeder elementare sinnliche Inhalt nie isoliert ist, sondern immer eine „konkrete Einheit von ‚Präsenz‘ und
62 Dazu auch ebd., S. 181. Ich möchte anmerken, dass Cassirer im Allgemeinen von einer erheblichen Breite der sprachlichen Entwicklung ausgeht, die eine solch eindeutige Zuordnung der Sprache zur Darstellungsfunktion unmöglich macht.
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‚Repräsentation‘“ bildet, und das gilt für alle Formen. Gleichwohl bekräftigt er, dass das „Spannungsverhältnis“ zwischen „dem Inhalt einer Erscheinung als solchem und ihrer darstellenden Funktion […] nicht in allen Gebilden des Bewußtseins in gleicher Prägnanz und Deutlichkeit“ hervortrete (beides Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis, S. 143). Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich nun in der Kunst auf eine besondere Art und Weise. Cassirer vertritt die These, Kunst halte das Gleichgewicht zwischen Ausdruck und reiner Bedeutung, indem in ihr Ausdruck zur Darstellung werde: „Wenn man als die beiden Extreme, zwischen denen alle Kulturentwicklung sich bewegt, die Welt des Ausdrucks und die Welt der reinen Bedeutung bezeichnen kann, so ist in der Kunst gewissermaßen das ideale Gleichgewicht zwischen beiden erreicht.“63
Die Selbstreflexivität der Kunst sorge dafür, dass Kunst in den Bereich der reinen Bedeutung rage. Ich vertrete die These, dass für die Kunstform Tanz ein Spannungsverhältnis zwischen den Symbolfunktionen des Ausdrucks und der Darstellung zu konstatieren ist. Dies werde ich in den folgenden Abschnitten erläutern. Das Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung im Tanz Cassirer schlägt in einer der Philosophie der symbolischen Formen vorausliegenden Studie, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften von 1923, ein alternatives Entwicklungsschema der Symbolfunktionen zu dem von Ausdruck, Darstellung und Bedeutung vor, welches gerade für künstlerische Symbolisierungsprozesse bedeutsam ist und meine These des Spannungsverhältnisses zwischen Ausdruck und Darstellung im künstlerischen Tanz bekräftigt.64 Es sind die Sinnsphären der „In-
63 Ernst Cassirer 2004a, „Form und Technik“ (1930), Aufsätze und kleine Schriften 1927–1931, in: ders., Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Band 17, Birgit Recki (Hg.), Hamburg, S. 139–183; hier S. 180; im Folgenden zitiert als Form und Technik 64 Auf dieses Schema weist auch Christiane Schmitz-Rigal hin; vgl. dies. 2004, „Modi des Symbolischen und plurale Sinnwelten. Zum Verhältnis der symboli-
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differenz“, der „Spannung“ und des „Gleichgewichts“ zwischen einem Bild und seinem Bedeutungsgehalt. Cassirer führt seine Vorstellungen der verschiedenen Sinndimensionen an Mythos, Religion und Kunst aus. Er diskutiert, inwiefern die Kunst sich innerhalb dieses Schemas vor dem Mythos und der Religion auszeichnet. Nur der Kunst gelingt es, laut Cassirer, die Spannung zwischen Bild und Bedeutungsgehalt nicht durch Ausschalten des Bildcharakters aufzuheben, wie es in den Naturwissenschaften üblicherweise vorkommt: „Die künstlerische Anschauung blickt nicht durch das Bild hindurch auf ein anderes, das in ihm ausgedrückt und dargestellt wird, sondern sie versenkt sich in die reine Form des Bildes selbst und beharrt in ihr." (Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 94) Das bedeutet, dass das jeweils sinnliche Erlebnis in der Kunst nicht wegzudenken ist, dass der künstlerische Gegenstand als solcher von Interesse ist, nicht weil er nur auf etwas verweist. Man darf die Formulierung „reine Form“ von Cassirer hier nicht so verstehen, als glaube er, es gebe eine künstlerische Formung, die nicht sinnträchtig ist. Insofern ist seine Formulierung hier ungeschickt. Es geht ihm um das intensive Erlebnis des gestalteten Kunstwerkes selbst, das nicht nur Träger von Informationen ist, sondern auch für sich selbst steht. Für Cassirer eröffnet sich der Kunst eine besondere „Freiheit“ (ebd.) gerade dadurch, dass sie beide Elemente, Bild und Bedeutungsgehalt, integriert und sich in der Spannung zwischen Bild und Bedeutungsgehalt, in einem dynamischen Symbolisierungsgeschehen, bewähren kann, ohne sich deshalb in irgendeiner Weise festzustellen. Kunstwerke verweisen immer auch auf sich selbst. Ich wende den hier verwendeten Spannungsbegriff Cassirers auf den künstlerischen Tanz an und spreche aufgrund des körperleiblichen Bewegungsgeschehens dennoch von Ausdruck und Darstellung. Tanzkunst, so die These, oszilliert im Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung. Beide Symbolfunktionen stehen in einer Wechselbeziehung. Ausdruck meint hier die Art und Weise, in welcher der Körperleib im Tanz als sinnliches Material unmittelbar wahrnehmbar wird, das konkrete sinnliche Erlebnis. Darstellung meint eine ästhetische Formung, eine inhaltliche Bestimmung und Konkretisierung der Bewegungsgestalt.
schen Formen Ernst Cassirers“, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 29/3, S. 249–261, hier S. 256ff. Sie verweist an dieser Stelle auf Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form, S. 91ff.
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Ohne also Cassirers These zuzustimmen, Kunst stelle ein „Gleichgewicht“ zwischen Ausdruck und Bedeutung her – ich halte seine Konzeption des Spannungsverhältnisses für greifender –, pflichte ich ihm für den Tanz insofern bei, als dass dieser in die Symbolfunktion der Bedeutung ragt. Denn je intensiver sich Ausdruck und Darstellung in ihrem spannungsvollen Zusammenspiel aufeinander beziehen, desto selbstreflexiver ist die Tanzbewegung. Freilich spreche ich hier nicht davon, dass Bedeutung im Sinne einer Formelhaftigkeit entsteht, sondern von einer Distanz, die gerade an Sinnlichkeit gebunden bleibt und diese in Reflexivität überführt.65 Jede Kunst ist „ein Weg zu uns selbst“.66 In Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie spricht Cassirer von den Schwierigkeiten, „die Beziehungen festzustellen, die innerhalb der ästhetischen Auffassung und Gestaltung zwischen der Welt des reinen Ausdrucks und der Welt der reinen Darstellung bestehen“ (vgl. Cassirer: Das Symbolproblem, S. 18). Er spricht selbst die Defizite philosophischer Systeme an, die versuchen, das Ästhetische in einem der beiden Pole zu verankern. Es gebe solche, „die die Kunst so ganz im Emotionalen festzuhalten suchen, die sie so völlig in reinen Ausdruckserlebnissen aufgehen lassen, daß darüber das Charakteristische des ästhetischen Gegenstandes fast verloren geht“, und auf der anderen Seite andere, die das Ästhetische „von der Verwurzelung im subjektiven ‚Gefühl‘ ganz loszulösen versuchen, so daß es für sie zu nichts anderem als zu einer bestimmten Grundform der gegenständlichen Erkenntnis wird“ (beides ebd.). Eine Tanzperformance zum einen, die ihren Schwerpunkt auf die Fähigkeiten eines bestimmten Tänzers ausrichtet und beispielsweise seine Persönlichkeit und momentane Befindlichkeit zur Grundlage von Bewegungsimprovisationen machen würde, wäre so wenig gestaltet, dass sie in ihren Interpretationsmöglichkeiten wohl sehr eingeschränkt wäre. In der Darstellung wird eine bewusste Formung erkennbar. Das Geschehen auf der Bühne wird in
65 „Ästhetische Anschauung bewirkt eine Steigerung von Gegenwart, indem sie Wahrnehmung des Gegenstandes und Selbstwahrnehmung zugleich ist. Sie ist nicht ergebnisorientiert, sondern selbstreflexive Begleitung von Wahrnehmungsprozessen.“ Lauschke 2007, S. 266 66 Ernst Cassirer 1994b, „Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung“, in: ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), Darmstadt, S. 34–55; hier S. 54
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sich stimmig, komplexer und allgemeiner, insofern es stärker von den einzelnen Tänzern wegführt. Ein Zuviel an Darstellung könnte man zum anderen z.B. in dem Allegro moderato aus dem zweiten Akt von SCHWANENSEE veranschlagen, das bereits im ersten tanzpraktischen Exkurs besprochen wurde, den „vier kleinen Schwänen“. Es geht hier primär um die Perfektion und Synchronität in der Bewegungsausführung. Die Gestaltung tritt so sehr in den Vordergrund, dass die Tänzerinnen als Individuen austauschbar werden. Cassirer erkennt die zerstörerische Kraft der „Isolierung“ einer Symbolfunktion, und möchte einer „abstrakten Entgegensetzung“ von Ausdruck und Darstellung (ebd.) entgegenwirken. Er stellt heraus, dass in der „ästhetischen Sinnform“ die „zwei Motive“ des Ausdrucks und der Darstellung, „die sich in anderen Sinnformen als trennbar, als relativ unabhängig voneinander erweisen, diese Trennung aufgeben und an ihre Stelle eine reine Wechselbeziehung und Wechselbestimmung treten lassen“ (ebd.; meine Hervorhebungen). Im Abschnitt „Plessner über Ausdruck“ in diesem Kapitel, habe ich auch in Plessners Konzeption die Bezogenheit von Ausdruck und Darstellung aufzeigen können: Passend zu einem tänzerisch-darstellerischen Kontext, spricht er von einem Ausdrucksbedürfnis, das mit künstlerischen Leistungen verbunden ist, und einhergeht mit einem Bedürfnis „nach Darstellung […] erlebter Dinge, beunruhigender Gefühle, Phantasien, Gedanken“ (Plessner: Stufen, S. 99; meine Hervorhebungen). Es ist bemerkenswert, dass „Ausdruck“ als Begriff geistesgeschichtlich erst auftaucht, als der Mensch beginnt, sich selbst als ein die Welt konstruierendes Subjekt wahrzunehmen. Im Altgriechischen gibt es keinen entsprechenden Begriff, und das lateinische „expressio“ taucht nur in rhetorischen Zusammenhängen auf und wird synonym für „enuntiato“ und „significatio“ verwendet, bedeutet also etwas anderes. Im Mittelalter spielt das Wort Ausdruck keine Rolle.67 Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts rückt, bedeutsam für die Semantik des Ausdrucksbegriffs, die Beziehung zwischen dem Innenleben einer Person und den Objektivierungen in der Kultur in
67 Zur Begriffsgeschichte des „Ausdrucks“ vgl. Hans Ulrich Gumbrecht 2000, „Ausdruck“, in: Karl-Heinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 1: Absenz bis Darstellung, Stuttgart/ Weimar, S. 416–431; hier S. 417ff.
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den Fokus. Einer möglichen „Nicht-Kongruenz von Gefühlen und ihren Objektivierungen“ wird durch eine Überwindung von Widerständen („AusDruck“) beizukommen versucht.68 Kant spricht in seiner Kritik der Urteilskraft dem Genie die Fähigkeit zu, „das Unnennbare in dem Gemütszustande bei einer gewissen Vorstellung auszudrücken und allgemein mitteilbar zu machen, der Ausdruck mag nun in Sprache, oder Malerei, oder Plastik bestehen“.69 In der Moderne wird der Begriff „Ausdruck“ von der Psychologie geprägt; es geht dann vor allem um eine Unterscheidung zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Ausdrucksakten.70 Gerade für die Geisteswissenschaften ist es wichtig, sinnlich wahrnehmbare Vorgänge als Ausdrucksgeschehen zu verstehen, weil Intersubjektivität dadurch möglich wird. Seit der Postmoderne impliziert nun der Begriff der Darstellung auch die Existenz eines Nichtdarstellbaren.71 Dabei wird wiederum insbesondere auf Kant rekurriert, der es als menschliches Bedürfnis versteht, „subjektiv die Natur selbst in ihrer Totalität, als Darstellung von etwas Übersinnlichem, zu denken, ohne diese Darstellung objektiv zu Stande bringen zu können“.72 Er fasst diesen Zusammenhang als „negative Darstellung“.73 Bei Adorno und Jean-François Lyotard taucht dieser Undarstellbarkeitstopos wieder auf. Kunst kann der Paradoxie beikommen, ein Nichtdarstellbares darzustellen.74 In zeitgenössischen darstellenden Künsten, so auch im Tanz,
68 Ebd., S. 420 69 Kant 1974, S. 257f. 70 Gumbrecht 2000, S. 424f. 71 Vgl. Wolfgang Welsch 1988, Einleitung, in: ders. (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim, S. 31; zitiert in Dieter Schlenstedt 2000, „Darstellung“, in: Karl-Heinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 1: Absenz bis Darstellung, Stuttgart/Weimar, S. 831–875; hier S. 837 72 Kant 1974, S. 194 73 Ebd., S. 201 74 Vgl. Theodor W. Adorno 1977, Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen. Ohne Leitbild (1951), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 10/1, Frankfurt am Main und François Lyotard 1986, Réponse à la question: qu’est-ce que le postmoderne? (1982), in: ders., Le Postmoderne expliqué aux enfants, Paris, S. 56–59 (Anmerkungen S. 73–75). Einschlägig ist in diesem Zusammenhang aus symbol-
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ist eine steigende Tendenz auszumachen, auf die Darstellungsmittel selbst zu verweisen. Dadurch werden diese Kunstformen selbstreferentieller: Tanzproduktionen verweisen im Allgemeinen weniger auf die Geschichten, die erzählt werden, und mehr auf den tanzenden Menschen in seiner körperleiblichen Konstitution. Ich stimme nun Cassirer darin zu, dass es sich in der Kunst um ein Beziehungsgefüge zwischen der Symbolfunktion des Ausdrucks und der Darstellung handelt, und möchte bei seinen Begriffen bleiben. Jedoch halte ich seinen Schluss nicht für stimmig, wenn er, an dieser Stelle sehr „harmonistisch“, schreibt, erst „das Aufgehen des einen im andern, das ideale Gleichgewicht, das sich zwischen ihnen darstellt, konstituiert das ästhetische Verhalten, wie es den ästhetischen Gegenstand konstituiert“ (ebd.; meine Hervorhebungen). Würden wir ein Werk der darstellenden Kunst, das ein solches Gleichgewicht in sich fasst, als in einem emphatischen Sinne künstlerisch wahrnehmen? Wenn ich für den künstlerischen Tanz die These verteidige, dieser oszilliert in einem Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung, dann meine ich eine Spannungsbeziehung, die eigentlich mit Cassirers ausgleichender Vorstellung kontrastiert. Der Begriff der Spannung ist in meiner Studie ein theoretischer, ästhetisch besetzter Ausdruck. In Abgrenzung zum physikalischen und zum mechanischen Spannungsbegriff, und auch zum Spannungsbogen im Drama, spreche ich von einer Energie zwischen zwei Realisierungsmöglichkeiten der Verkörperung, die als Extreme auf konträren Prämissen beruhen. Kunst bewegt sich auf einer Ebene, in der die zwei Seiten des Ausdrucks und der Darstellung für sich genommen Verfehlungen bedeuten würden, die vermieden werden müssen. Gleichwohl ist jede Ortsbestimmung hier schwierig. Ich spreche nicht von einem Spannungszustand oder -moment, denn das würde eine Statik und Festlegung implizieren. „Oszillation“ meint ein Fluktuieren, eine andauernde Veränderung von Gegebenheiten, ein instabiles Hin und Her, je nachdem, in welchem Bedeutungszusammenhang ein Sachverhalt dargestellt wird. Mit einer solchen Ungewissheit und Unbestimmtheit müssen Produzenten und Rezipienten in der Kunst auskommen – und dies sogar wollen, da es ja nicht um Eindeutigkeit geht. In Kris Verdoncks Performance-Installation I/II/III/IIII, die im ersten tanzpraktischen Exkurs disku-
theoretischer Perspektive Sabine Sander 2008, Der Topos der Undarstellbarkeit: ästhetische Positionen nach Adorno und Lyotard, Erlangen.
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tiert wurde, ist beispielsweise ein solches Alternieren von Bedeutungszuschreibungen erkennbar. Wir sehen die vier Tänzerinnen an Seilen hängen und assoziieren Marionetten und ein „Ausgeliefert-Sein“, wir sehen aber gleichzeitig, wie sehr jede Tänzerin in ihrer individuellen Körperlichkeit der Maschine unwillkürlich einen Widerstand entgegensetzt. Die vier Tänzerinnen sind eben nicht synchron, da sie nur eine bedingte Kontrolle über ihren Körper haben, gerade weil sie an der Maschine hängen, die sie doch eigentlich zu Marionetten machen sollte. Die sich unterschiedlich bewegenden Körperleiber sind eher auf der Ausdrucksseite zu situieren, betonen sie doch die Individualität der Tänzerinnen. Wenn man so will ist aber die ganze Konstruktion, die sich in der Performance-Installation niederschlägt, eher der Darstellung zuzuordnen, da es die Gestaltung des Bewegungsexperiments in den Vordergrund rückt, in dem die einzelne Tänzerin eigentlich austauschbar ist. Es wird anhand dieses Beispiels deutlich, was ich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung meine, in dem der künstlerische Tanz vexiert und eine Ortsbestimmung verweigert. Im tanzpraktischen Exkurs 3 über DARK MATTERS von Kidd Pivot, der sich an dieses Kapitel anschließt, soll die These ausführlicher expliziert werden. Zur anthropologischen Grundlage einer Theorie ästhetischer Wahrnehmung in Cassirers Spätwerk Im Essay on Man schreibt Cassirer, Kunst vermittle uns im Unterschied zur Wissenschaft keinen Einblick in kausale Zusammenhänge der Phänomene, sondern erschließe uns die Welt intuitiv über Formungen und Gestaltungen. Sie ermögliche eine „intuition of the form of things“ (Cassirer: An Essay on Man, S. 156). Cassirer betont die welterschließende Funktion der Kunst: „art gives us order in the apprehension of the visible, tangible, and audible experiences“ (ebd., S. 181). In „Language and Art” II beschreibt er Kunst als „process of intuitive or contemplative objectivation“.75 An einer anderen Stelle hält er fest, Kunst mache „einen neuen Umriß, eine andere Zeichnung und Kontur der Welt deutlich“ (Cassirer: Geschichte, Mythos, S. 255), dabei bleibe sie individuell und speziell, ein nur erlebbares einmaliges Geschehen. Cassirer bekundet, Kunst könne nur als eine „Reihe des Einma-
75 Ernst Cassirer 1979, „Language and Art” II, in: ders., Symbol, Myth, and Culture: Essays and Lectures of Ernst Cassirer, 1935–1945, Donald Phillip Verene (Hg.), New Haven/London, S. 166–195; hier S. 187
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ligen, Einzigartigen“ begriffen werden (ebd., S. 253). Darin unterscheide sie sich von jeder theoretischen Objektivierung, in der normalerweise Verallgemeinbarkeit intendiert ist. Von der Objektivität, vom „Zeugnis-Charakter“ der Kunst, schreibt Cassirer in Form und Technik: „Das vollendete, in die Wirklichkeit hinausgestellte Werk gehört fortan lediglich dieser Wirklichkeit selbst an. Es steht in einer reinen Sachwelt, deren Gesetzen es gehorcht und mit deren Maßen es gemessen werden will; es muß fortan für sich selbst sprechen, und es spricht nur noch von sich selbst, nicht von dem Schöpfer, dem es ursprünglich angehört“ (Cassirer: Form und Technik, S. 179).
Mit künstlerischen Objektivationen wird „den historisch-aktualisierten Lebensformen“ der ganze Bereich „der ‚möglichen‘ Lebensformen“ gegenüber gestellt (vgl. Cassirer: Geschichte, Mythos, S. 31). Dieser Möglichkeitsraum wird konkret erlebbar und gestaltbar (ebd., S. 34). Der Rezipient kann sich im Nachvollzug des Ausdruckswerts eines künstlerischen Gegenstands freiwillig davon bewegen und berühren lassen. Er kann z.B. im künstlerischen Tanz den Prozess begleiten, anstatt seine Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Ergebnis zu richten. Der anthropologische Stellenwert der Kunst für Cassirer zeigt sich auch an den Stellen seiner ästhetischen Theorie, in denen er betont, dass Kunst keinen Absolutheitsanspruch verfolgen müsse oder gar einer metaphysischen Legitimation bedürfe, denn sie wurzelt, ebenso wie andere symbolische Formen, in einer Auseinandersetzung von „Ich“ und Welt. Cassirer versteht die Symbolik der Kunst „als Immanenz, nicht als Transzendenz“ (Cassirer: Versuch über den Menschen, S. 242). Er schreibt auch, Kunst wolle die Welt „im Bilde aufbauen und an ihm festhalten“.76 Als besonderes Merkmal ästhetischer Symbolik betont er, dass hier „das Bild rein als solches anerkannt bleibt, daß es, um seine Funktion zu erfüllen, nichts von sich selbst und seinem Gehalt aufzugeben braucht“ (Cassirer: Das mythische Denken, S. 305). Und an einer anderen Stelle schreibt er dementsprechend, die künstlerische Anschauung blicke nicht „durch das Bild hindurch auf ein anderes, das in ihm ausgedrückt und dargestellt wird, sondern
76 Ernst Cassirer 2003a, Die Philosophie der Aufklärung, in: ders., Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Band 15, Birgit Recki (Hg.), Hamburg, S. 315; im Folgenden zitiert als Die Philosophie der Aufklärung
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sie versenkt sich in die reine Form des Bildes selbst und beharrt in ihr“ (Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis, S. 94). Cassirer unterscheidet den ästhetischen Raum vom Raum der Geometrie; letzterer sei abstrakt und richtungslos, während die ästhetische Auffassung räumlicher Formen in „sinnlichen Elementargefühlen“ ihre Wurzel habe. So führt er das Gefühl für Proportionen und Symmetrie unmittelbar auf das Körpergefühl zurück (vgl. Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form, S. 82). Die Leibzentriertheit dieser Auffassung möchte ich für den künstlerischen Tanz nutzbar machen. Raumrichtungen etwa sind für körperleibliche Wesen nicht gegeneinander austauschbar, sondern mit Empfindungen bzw. Erinnerungen an Körpergefühle verbunden. Cassirer schreibt, Kunst verhelfe dem Menschen durch eine Intensivierung solcher Gefühle zur „vollen Sichtbarkeit seines Leibes“ und befördere eine „neue Autonomie des Menschlichen“ (vgl. Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 89f.), da sie eine Gestaltung und Bewusstmachung der sinnlichen Verfasstheit menschlicher Lebensräume ist. Es ist wichtig festzuhalten, dass der ästhetische Raum trotz seiner sinnlichen Erfahrbarkeit kein Ausdrucksraum ist, sondern die Gestaltung eines solchen. Ästhetische Wahrnehmung richtet sich auf sinnliche Präsenz, und nicht auf den dahinter stehenden repräsentierten Sinn: „Der Ausdruckssinn haftet an der Wahrnehmung selbst, er wird in ihr erfaßt und unmittelbar ‚erfahren‘“. (Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis, S. 76) Aber das Moment der Darstellung in der Kunst, auf das Cassirer immer wieder rekurriert, die Art, wie sinnliche Darstellungsmittel auf Rezipierende wirken, unterscheidet den Raum der Kunst von dem des Mythos, für den Cassirer von einer „völligen Indifferenz zwischen dem Bild und seinem Bedeutungsgehalt“ (Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form, S. 94) spricht. Denn, anders als im mythischen Raum, sind ästhetisch Wahrnehmende der Ausdruckskraft und dem unmittelbaren Eindruck des Ausdrucksmaterials nicht ausgeliefert, die Ausdruckserfahrung ist optional. Sie stehen nicht mehr auf einer Stufe, in der sie sich ihrer eigenen Schöpfung mythologischer Gewalten nicht bewusst sind und unter deren unmittelbarem Einfluss stehen. Cassirer betont den Ausdruckscharakter der Welt und hebt hervor, „alle Wirklichkeit, die wir erfassen“, sei, „in ihrer ursprünglichen Form nicht sowohl die einer bestimmten Dingwelt, die uns gegenüber- und entgegensteht, als vielmehr die Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit, die wir
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erfahren“ (Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis, S. 81f.). Aber „als Inhalt der künstlerischen Darstellung ist das Objekt in eine neue Distanz, in eine Ferne vom Ich gerückt – und in ihr erst hat es das ihm eigene, selbständige Sein, hat es eine neue Form der ‚Gegenständlichkeit‘ gewonnen“ (Cassirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, S. 423).77 Mit Cassirers anthropologischen Gedanken zur Kunst konnte gezeigt werden, wie der Mensch gerade in der ästhetischen Erfahrung seiner selbst innewerden kann, indem er seine Sinneseindrücke intensiver erlebt und sich gleichzeitig von deren Unmittelbarkeit distanziert. Es wird ein besonders hoher Grad an Selbstreflexivität erreicht, der aber, anders in den Wissenschaften, nicht mit einem Verlust von Sinnlichkeit einhergeht. Birgit Recki schreibt: „Es ist dieses Moment von Selbstreflexivität der ästhetischen Erfahrung, durch das sich auch das eigentümliche Ineinander von Distanz qua Abstraktion und Intensivierung erklären läßt. Denn diese Selbstreflexion beruht offenbar auf einer Reflexionsdistanz zum Gegenstand, die das Symbol als solches wahrnehmbar macht und zur Disposition stellt: der Distanzgewinn bedeutet für Cassirer stets einen Zuwachs an Verfügung; doch im Medium dieser Distanz erfolgt zugleich die emphatische Zuwendung zu einem Gegenstand, in welcher der Akt der Aufmerksamkeit als solcher lustvoll bewußt wird, weil jener in besonderem Maße als prägnant empfunden wird – und uno actu mit der Steigerung der Aufmerksamkeit diese auf sich selbst zurücklenkt.“78
77 Martin Seel beschreibt auf eine ähnliche Weise, wie der Mensch in der ästhetischen Wahrnehmung durch das „Vernehmen“ der Gegenwart eines Gegenstands, durch dessen sinnliche Präsenz, seiner eigenen Gegenwart gewahr wird. Vgl. Martin Seel 2003, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt am Main, S. 62 78 Recki 2007, S. 233
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4. Anthropologie des Schauspielers und Anthropologie des Tänzers – Überlegungen im Anschluss an Plessner und Diderot Sich selbst haben, um sich wissen, sich selbst bemerkbar sein und darin „Ich“ sein, der „,hinter sich‘ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem möglichen Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen den Zuschauer gegenüber dem Szenarium dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstandsstellung zu rückende Subjektpol“
– so beschreibt Plessner (vgl. Plessner: Stufen, S. 363) den Menschen, der seine Distanz zu sich selbst über seine expressive Natur lebt. Das wird besonders in den darstellenden Künsten deutlich. Für eine anthropologische Ästhetik des Tanzes ist es deshalb besonders lohnend, sich mit dem Schauspieler zu beschäftigen. Bei dieser Thematik geht es gerade darum, das Verhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung und die Verkörperungsfunktion zu verstehen, die für den künstlerischen Tanz eine entsprechende Rolle spielen. Ohne für einen bestimmten „Schauspielstil“ Partei zu ergreifen, hebt Plessner hervor, dass sich in jeder Darstellung der Mensch manifestiert „auf eine zugleich unmittelbare und vermittelte, natürliche und künstliche Weise. Darum sagen sie uns in einem etwas über den Schauspieler und seine Kunst und über die menschliche Natur, deren Darstellungsfähigkeit als Gabe der Verkörperung im Schauspieler gesteigert hervortritt, als Darstellbarkeit menschlichen Seins durch die Verkörperung sichtbar wird.“ (Plessner, Anthropologie des Schauspielers, S. 409)
Anhand von Plessners und Cassirers Untersuchungen des Ausdrucksvermögens bzw. der Symbolfunktion des Ausdrucks ist bereits deutlich geworden, dass immer eine „Selbstbeziehung des sich zum Ausdruck Bringenden mit[schwingt]“, und dass im „Ausdrucksverstehen“ bereits „ein interaktiver Mitvollzug der Kundgaben des Anderen mit[läuft], ohne sich von diesem Anderen als Anderen zu distanzieren, wie man es durch abständige Beob-
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achtung, z.B. durch sprachliche Reflexion, zu tun vermag“.79 Für den Menschen ist aufgrund seiner exzentrischen Positionalität, er ist zugleich weltoffen und an seine Umwelt gebunden, ein immer wieder neu zu realisierendes Verhältnis zu den Dingen und zu sich selbst gegeben. Der Tänzer nimmt, ebenso wie der Schauspieler, zu seinem Ausdrucksverhalten, zu seiner Expressivität, ein spielerisches Verhältnis ein und bringt es zur Darstellung.80 Insofern kommt der Tätigkeit des Schauspielers für Plessner die Bedeutung eines anthropologischen Experiments zu (vgl. Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, S. 415). Denn als „virtuelle Zuschauer unserer selbst und der Welt“ müssen wir auch im alltäglichen Leben „die Welt als Szene sehen” (ebd., S. 411).81 Mit der Kontrolle über seine bildhafte Verkörperung muss der Schauspieler den Abstand zu dieser wahren (ebd., S. 408). Nur so kann er auch mit seiner Rolle, nicht nur in ihr spielen.82 Dasselbe gilt für den Tänzer,
79 Vgl. Hans-Peter Krüger 2006, „Ausdrucksphänomen und Diskurs. Plessners quasitranszendentales Verfahren, Phänomenologie und Hermeneutik quasidialektisch zu verschränken“, in: ders., Gesa Lindemann (Hg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, Berlin, S. 187–214; hier S. 198 80 Zur Medialität primärer und symbolischer Expressivität Pilgram 2010, S. 160f. 81 Plessner betont, in der Verhältnismäßigkeit ihrer selbst zu sich selbst wiederholten Spieler und Zuschauer die Abständigkeit des Menschen zu sich und zueinander, – „eine Abständigkeit allerdings, die – verführt sie auch zum Spiel und behält sie auch latent Spielcharakter – die Basis seines Ernstes bildet. Denn was ist schließlich dieser Ernst der Alltäglichkeit anders als das Sich-einer-Rolleverpflichtet-Wissen, welche wir in der Gesellschaft spielen wollen? Freilich will dieses Spiel nicht darstellen, es kennt nur Mit-Spieler, d.h. Mit-Menschen, und die Last des Bildentwurfs für unsere soziale Rolle ist uns durch die Tradition, in die wir hineingeboren werden, abgenommen. Trotzdem müssen wir, als virtuelle Zuschauer unserer selbst und der Welt, die Welt als Szene sehen.“ Vgl. Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, S. 411 82 „Die Person, die elementar schauspielert, verdoppelt sich in die Figur, als welche sie öffentlich vor anderen und sich selbst gelten und entsprechend erscheinen möchte, und den Maskenträger, der seine Privatheit vor anderen und womöglich auch vor sich selbst verbirgt. Dies nennt Plessner das ‚Doppelgängertum‘, das nun nicht mehr nur für die anderen erscheint, sondern für die Person
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dessen Körper sein primäres Ausdrucksmedium ist, welches einer bildnerischen Absicht unterstellt wird. Plessner vergleicht den Schauspieler mit dem „anonymen Maskentänzer der ‚Primitiven‘“ und hebt hervor, dass auch der Darsteller einer Rolle „Träger einer Maske“ bleibt, aber dass „seine Maske nicht aus Holz, sondern sein eigener Körper ist. […] Der Darsteller bleibt hinter seinem eigenen Aussehen genauso verborgen wie der kultische Tänzer. Nur mischt er in das Bild der Rolle seine eigene Individualität oder durchtränkt die eigene Individualität mit dem Bild einer Rolle“. (Vgl. ebd., S. 408)
Auch der Tänzer durchtränkt gewissermaßen seine Rolle mit Eigenheiten seines eigenen Körperleibs, den er manipulieren, aber nicht völlig ablegen kann. Auch hier zeigt sich das Spannungsfeld zwischen Ausdruck und Darstellung, in dem die Leibgebundenheit eine große Rolle spielt. Der eigene Körper bleibt unvertretbar – und das gilt sogar für die Verkörperung einer Tanzrolle in einem klassischen Handlungsballett, die auf den ersten Blick austauschbar erscheinen mag. Das Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung meint gerade, dass in einer performativen Aufführungssituation Darstellungsabsicht und Darstellungsmöglichkeit nicht vom je eigenen Ausdrucksverhalten und damit von der je eigenen Körperleiblichkeit getrennt werden können, und auch nicht von der konkreten sinnlichen Erfahrung. Schauspieltheorien verfolgen seit jeher zwei unterschiedliche Ansätze, die mit den Begriffen „kalte“ und „warme Verstellung“ beschrieben werden können. Mit dem Ziel, eine Rolle zu verkörpern und dabei eine mimischgestische Kontinuität zu gewährleisten, kann der Schauspieler zum einen während des Spiels Gefühle wirklich empfinden, indem er sich in die Rolle hineinversetzt. Schwierigkeiten einer solchen „heißen Verstellung“ liegen vor allem darin, dass der Schauspieler weder eine Kontinuität der Rolle garantieren kann, noch sein Schauspiel wiederholbar ist, denn seine Gefühlslage als Privatperson und die Rolle, die er zu verkörpern hat, können divergieren. Zum anderen kann der Schauspieler seine Rolle nach einem Modell verkörpern. Er ist mit seiner Figur nicht identisch, sondern nutzt seinen Körper als Instrument und stellt Empfindungen dar, die mit seinen
selber, insofern sie von sich aus die Differenz zwischen ihrer öffentlichen und privaten Seite aufführt.“ Vgl. Krüger 2006, S. 180
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eigenen nicht identisch sind. In einer solchen „kalten Verstellung“ ist nun Wiederholbarkeit und eine mimische und gestische Kontinuität gewährleistet, da die Rolle durch Selbstbeobachtung kontrolliert und organisiert wird und an ihrem Modell orientiert bleibt, also nicht mit der Person des Schauspielers gleichgesetzt werden kann. In berühmten Schauspieltheorien finden sich beide Ansätze. Das Ideal des „heißen Verstellens“ wird vor allem in Ludovico Riccobonis Schrift Dell’arte rappresentativa von 1728 sowie in Étienne Bonnot de Condillacs Essai sur les conaissances humaines von 1746 vorgestellt. Auch in Rémond de Sainte-Albines Le comédien von 1747 wird von den Schauspielern gefordert, die Gefühle darzustellen, die sie auch wirklich fühlen. Alles andere sei reine Deklamation und könne keinen Zuschauer bewegen. Auch der frühe Denis Diderot, dessen Paradoxe sur le comédien aus seiner späteren Schaffensphase im nächsten Abschnitt genauer untersucht werden soll, teilte diese Auffassung. Die Schauspielästhetik des Regisseurs und Schauspiellehrers Konstantin Sergejewitsch Stanislawski, der davon ausging, der Schauspieler könne nur das verkörpern, was er wirklich erlebe, und müsse daher der Rolle „alle organischen Elemente der eigenen Seele“ zuteil kommen lassen,83 betont die Wichtigkeit eines Körpertrainings, zu dem Ballett, Fechten, Rhythmik und Akrobatik gehört. Körperhaltungen, die für eine bestimmte Gemütslage beispielsweise typisch sind, können für Stanislawski auf die Psyche einwirken und sie beeinflussen. Die avantgardistische Tänzerin und Wegbereiterin des Ausdruckstanzes Isadora Duncan lernte Stanislawski 1907 am Moskauer Künstlertheater (MChAT) kennen und teilte dessen „Forderung nach authentischem emotionalem Erleben auf der Bühne“.84 Während Stanislawski aber die Persönlichkeit eines jeden Schauspielers als „Reservoir authentischer Gefühle“ versteht, das für die jeweilige Rollengestaltung nutzbar gemacht werden kann, ist Duncan nicht an individuellen psychologischen Vorgängen interessiert. Ihre romantisch-mystische Weltsicht verleitet sie dazu, das „Natürliche“ über das Persönliche hinaus
83 Vgl. Konstantin S. Stanislawski 1996, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Teil I. Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens, Berlin, S. 27 84 So in einem Artikel von Claudia Jeschke über Isadora Duncan. Vgl. Claudia Jeschke 1990, „Isadora Duncan in ihrer Zeit“, in: tanz aktuell, Jg. 5, Nr. 8, Berlin, S. 26–35; hier S. 33
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als kosmischen Vorgang zu begreifen, in dem sie, als Isadora Duncan, durch Hingabe an ein universales wellenförmiges Bewegungsgesetz aufgehen kann, wodurch sie Gefühle erzeugen will.85 Die Gegenposition des „kalten Verstellens“ vertritt besonders Francesco Riccoboni, der vom Schauspieler ein Bewussthalten der Distanz zur Rolle fordert und in einer emotionalen Beteiligung Nachteile für die Kunstfertigkeit des Darstellers befürchtet. In diesem Kontext ist besonders das 1750 veröffentlichte und unmittelbar von Gotthold Ephraim Lessing ins Deutsche übersetzte Werk L’art du théâtre zu nennen. Da es Plessner darum geht, die Vielfalt menschlicher Ausdrucks- und Darstellungsmöglichkeiten hervorzuheben, ergreift er nicht Partei für eine Schauspieltheorie, sondern zeigt auf, dass beide Wege dem Menschen als Darstellungsweisen potentiell zur Verfügung stehen: „Man darf die schauspielerische Gestaltung nicht in das Schema einer Alternative: von innen nach außen oder von außen nach innen zwängen. Beide Wege stehen ihr offen und sind zueinander komplementär. Auf beiden Wegen kann die Bildgestaltung entgleisen. Die Geste, eine Spur zu spät, zu übertrieben, wirkt leer und mechanisch, wenn sie sich nicht in das Bild fügt. Das stärkste Gefühl teilt sich nicht mit, wenn es die Darstellungsfläche des Tonfalls und der Bewegung nicht erreicht.“ (Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, S. 408)
Wie anhand des ersten Kapitels dieses Buches deutlich geworden ist, müssen alle Definitionen des Menschen notwendigerweise scheitern. Er geht weder in seiner Körperlichkeit und in seinen Objektivationen auf (z.B. in einem künstlerischen Produkt), noch in seiner Leiblichkeit, denn er kann sich ebenso wenig „als Zentrum seiner selbst – im Rückzug nach innen – erreichen“.86 Die paradoxe Situation, dass jeder Versuch einer reflexiven Selbstbesinnung des Menschen letzten Endes aufgrund seiner Unergründlichkeit fehlschlagen muss,87 ist ein Gegenstand, der sich in der folgenden
85 Ebd. 86 Vgl. Gerhard Gamm 2006, „‘Abgerissenes Bruchstück eines ganzen Geschlechts‘. Philosophische Anthropologie in der Leere des zukünftigen Menschen“, in: Hans-Peter Krüger, Gesa Lindemann (Hg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, Berlin, S. 103–121; hier S. 107f. 87 Ebd.
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anthropologischen Beschäftigung mit dem Schauspieler respektive Tänzer wiederfindet. Dafür vergleiche ich Erkenntnisse aus Diderots Paradoxe sur le comédien, welches 1830, fast fünfzig Jahre nach seinem Tod, veröffentlicht wurde und dessen Entstehung sich über zehn Jahre hinzog, mit Plessners Aufsatz „Zur Anthropologie des Schauspielers“ von 1948. Ich verstehe die Anthropologie des Schauspielers vor der Folie der Fragestellung dieser Studie als Anthropologie des darstellenden Künstlers und diskutiere sie in ihrer Bedeutsamkeit für die Fragestellung dieses Kapitels. Plessners Anthropologie des Schauspielers Plessner parallelisiert in seiner Anthropologie des Schauspielers das gesellschaftliche Rollenverhalten des Menschen mit dem darstellerischen Rollenverhalten des Schauspielers. Er geht davon aus, für den Menschen bestehe ein Zwang, sich in Rollen einzuordnen und diese zu verkörpern. Dieser hat seine Ursache darin, dass der Mensch in seine organische Grenze gesetzt über sie hinaus lebt (vgl. Stufen, S. 183ff.). Befähigt, sich selbst zum Gegenstand seiner Überlegungen zu machen und die eigenen Mängel und Möglichkeiten zu reflektieren, muss sich ein exzentrisch organisiertes Lebewesen „zu dem, was er schon ist, erst machen“ (ebd., S. 383).88 Plessner fährt fort, nur so erfülle er die „mit seiner vitalen Daseinsform aufgezwungene Weise, im Zentrum seiner Positionalität – nicht einfach aufzugehen, wie das Tier, das aus seiner Mitte heraus lebt, auf seine Mitte alles bezieht, sondern zu stehen und so von seiner Gestelltheit zu wissen.“ (Plessner: Stufen, S. 383f.)
Insofern der Mensch sich seine Situation bewusst macht und seine Zukunft gedanklich vorwegnehmen kann, muss er sich entwerfen, um seinem Plan wenigstens möglicherweise entsprechen zu können. In diesem Sinne schreibt Plessner, die exzentrische Daseinsweise sei nur als Realisierung,
88 Dazu passt Friedrich Nietzsches Diktum, „man wird, was man ist, setzt voraus, daß man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist“. Vgl. Friedrich Nietzsche 1980, Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Nachgelassene Schriften: Der Antichrist – Ecce Homo – Dionysos-Dithyramben – Nietzsche contra Wagner, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Band 6, Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hg.), München, S. 293
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oder, anders gewendet, in Expressivität, durchführbar (ebd., S. 384). Jede Realisierung muss dabei hinter der Vorstellung zurück liegen, denn, auch wenn wir über unsere organische Grenze hinaus leben, bleiben wir doch in diese gesetzt. Im expressiven Prozess müssen neue Entwürfe gefasst werden. Hier ist an Plessners Erläuterungen über den utopischen Standort zu denken. Der Mensch muss sich demnach „Bildentwürfe“ schaffen, um das zu sein, was er ist: Er „lebt also nur, wenn er ein Leben führt. So bricht ihm immer wieder unter den Händen das Leben seiner eigenen Existenz in Natur und Geist, in Gebundenheit und Freiheit, in Sein und Sollen auseinander.“ (Ebd., S. 381) Die sozialen Strukturen, in die ein Mensch hineingeboren wird, Traditionen, Normen und Werte, bestimmen sein Rollengefüge und nehmen ihm die Suche nach Bildentwürfen zu einem gewissen Grade ab, indem Pflichten festgesetzt werden, mit denen er seiner Rolle gerecht werden kann (vgl. Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, S. 412f.). An dieser Stelle unterscheidet Plessner drei Stufen des Persönlichkeitsverständnisses: erstens die Existenz an sich, das Dasein, das, was man unter einer „Person“ versteht; zweitens die Wirkung auf die Mitmenschen: demnach gilt der Mensch für andere als „Jemand” mit spezifischen Eigenschaften und Besonderheiten; und drittens ist der Mensch als reines Funktionsbild gefasst, das er von anderen Menschen erhält, ein Bild, innerhalb dessen er sich eigentlich nur begrenzt neu entwerfen kann. Die Persönlichkeit bekommt aber schon im Erwartungsbild der Rolle Entwürfe einverleibt. Jeder Mensch „ver-körpert“ demnach etwas, das er durch andere reflektiert betrachten kann. Insofern „ein jeder ist, aber sich nicht hat; genauer gesagt sich nur im Umweg über andere und anders als ein Jemand hat“ (Plessner: Die Frage nach der Conditio humana, S. 194), wird in der menschlichen Gruppenexistenz die Voraussetzung für Verkörperung und Rollenbewusstsein geschaffen. Der Zwang, sich in Rollen einzuordnen, hat also zwei Ursachen: das soziale Gefüge und die einzelne Persönlichkeit, die aufgrund ihrer exzentrischen Positionalität notwendigerweise immer wieder aus sich selbst heraustreten muss. In diesem Zusammenhang spricht Plessner davon, jeder Mensch verkörpere einen anderen (vgl. ebd., S. 199f.), nicht nur der Schauspieler, denn jeder sei durch seine exzentrische Positionalität fähig, eine andere Person zum Gegenstand seiner Betrachtungen zu machen und eine andere Rolle zu übernehmen.
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Den Schauspieler unterscheidet von anderen Menschen, dass er eine weitere Distanz zwischen seine Persönlichkeit und die verkörperte Persönlichkeit legt. Diese Distanz ist nur scheinbar, da er das Zu-Verkörpernde nicht als Erlebtes, sondern als sachlichen Gegenstand mit Eigenschaften und Fähigkeiten erlebt, und sie trotzdem als Rolle mit der eigenen Persönlichkeit vermischen kann. Der Schauspieler nimmt im Ausdruck Abstand von seinem Ausdruck: „Er selbst ist sein eigenes Mittel, d.h. er spaltet sich selbst in sich selbst, bleibt aber, um im Bilde zu bleiben, diesseits des Spaltes, hinter der Figur, die er verkörpert, stehen. Er darf der Aufspaltung nicht verfallen, wie etwa der Hysteriker oder der Schizophrene, sondern er muß mit der Kontrolle über die bildhafte Verkörperung den Abstand zu ihr wahren. Nur in solchem Abstand spielt er.” (Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, S. 407f.)
Der Schauspieler kann sich zu seinem eigenen Darstellungsmaterial machen. Er verkörpert, wie Plessner schreibt, in „unvermittelte[r] Zugänglichkeit“ (ebd., S. 403), während in der Dichtung und in der bildenden Kunst anders verkörpert wird: „‘auf Umwegen‘ und ‚im Abstand‘, in Wort, Farbe und Form, nicht in Menschen selbst“ (ebd.). Die Persönlichkeit des Schauspielers trägt die Verwandlung und aktiviert sie. Beim Tänzer vermittelt sich das je Eigene des Darstellers durch die Bewegungen des Körpers. Aber der Zuschauer ist sich des gleichzeitigen Abstands des Tänzers von seiner Verkörperung bewusst, auch wenn er diesen Abstand beizeiten gedanklich ausblenden kann. Diderots Paradoxe sur le comédien Diderots Paradoxe sur le comédien89 ist ein stilisierter Dialog zwischen dem „premier“ und dem „second interlocuteur“.90 Die Dialogpartner wer-
89 Diderots Paradoxe sur le comédien wird in diesem Kapitel als Diderot: Paradoxe zitiert nach folgender Ausgabe: Denis Diderot 1995, Paradoxe sur le comédien, in: ders., Œuvres complètes, volume XX, Paris, S. 43–132. Folgende deutsche Ausgabe wird zitiert: Denis Diderot 1964, Das Paradox über den Schauspieler, übersetzt von Katharina Scheinfuß, Frankfurt am Main 90 Der Text wirkt, trotz der scheinbaren Lebendigkeit und Assoziativität der Gesprächsführung, eigenartig leblos. Marco Baschera beschreibt, wie das Gespräch
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den, der lateinischen Übersetzung von „interloqui“ gemäß, welches Dazwischensprecher bedeutet, von Diderot nicht als eigenständige Charaktere präsentiert, sondern gewinnen ihre Kontur im Dialog in ihrer Abgrenzung zum jeweils anderen. Die beiden „interlocuteurs“ reflektieren über eine dramatische Theaterform, welche das Ziel verfolgt, eine Illusion von Natürlichkeit herzustellen. Diese soll es dem Zuschauer erlauben, von der Bühnenhandlung emotional gerührt zu werden, so dass er sie miterleben kann; gleichzeitig soll aber seine Rolle als Zuschauer der Bühnenillusion unreflektiert bleiben. Dafür ist es wichtig, dass der Schauspieler den künstlichen Charakter seines Spiels nicht sichtbar macht, obwohl „sich auf der Bühne doch nichts ebenso abspielt wie in der Natur“,91 „puisque rien ne se passe exactement sur la scène comme en nature“ (Diderot: Paradoxe, S. 45). Der altgriechische Begriff παραδοξος, zusammengesetzt aus „para“, neben oder außer, und „doxa“, Meinung, meint einen Sachverhalt, der entweder tatsächlich oder scheinbar widersprüchlich erscheint.92 Bei Diderot betont der Begriff eine Diskrepanz zwischen dem, was gemeinhin unter Schauspiel verstanden wird, und dem, was im Dialog vorgestellt ist. Es wird sich im Folgenden herausstellen, dass das Paradoxe in seinen Behauptungen selbst durchaus widersprüchlich bleibt, da diese im Dialog relativiert werden. Diderot lässt den „premier“ hervorheben, dass die Natur dem Menschen zwar persönliche Eigenschaften, den Körper, die Stimme usw., gegeben habe, aber zu einer Vervollkommnung könne es lediglich durch Übung und durch den theatralen Habitus kommen:
im Paradoxe die Darstellung der Lebendigkeit immer wieder in sich zurück nimmt: „Es gibt keinen Träger dieser ‚lebendigen’ Rede. Träger ist einzig die Schrift – unstabil im höchsten Maß, auf der Grenze zwischen Leben und Tod, ein Wiedergänger. Einer Marionette gleich trägt der Dialog einen ‚Schwerpunkt der Bewegung‘ […] in sich.“ Vgl. Marco Baschera 1989, Das dramatische Denken. Studien zur Beziehung von Theorie und Theater anhand von I. Kants „Kritik der reinen Vernunft" und D. Diderots „Paradoxe sur le comédien", Heidelberg, S. 36 91 Diderot 1964, S. 6 92 Zur Begrifflichkeit vgl. Heinrich Plett 2002, „Das Paradoxon als rhetorische Kategorie“, in: Paul Geyer, Roland Hagenbüchle (Hg.), Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Würzburg, S. 89–104
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„C’est à la nature à donner les qualités de la personne, la figure, la voix, le jugement, la finesse. C’est à l’étude des grands modèles, à la connaissance du cœur humain, à l’usage du monde, au travail assidu, à l’expérience, et à l’habitude du théâtre, à perfectionner le don de nature“. (Diderot: Paradoxe, ebd.)93
Der nichtsensible Schauspieler, den der „premier“ sich vorstellt, sollte zuallererst ein guter Beobachter seiner Umwelt sein. Er sollte diese studieren und seine Erkenntnisse in die Rollenarbeit eingehen lassen. So entwickelt er eine Idee oder ein Modell seiner Rolle, ein „modèle idéal“, dem er sich in seinem Spiel anzunähern sucht. Das bedeutet, dass das Modell nicht durch die Empfindsamkeit des Schauspielers, sondern durch seine Einbildungskraft erschaffen wird. Auf der Bühne kehrt sich das Verhältnis zwischen dem Schauspieler und seinen Zuschauern um.94 Während er für die Erarbeitung seiner Rolle der Beobachter und Schüler anderer Menschen sein muss, sind diese jetzt seine Zuschauer und Rezipienten. Was der Andere also auf der Bühne sieht, hat systematisch betrachtet bei ihm selbst seinen Ursprung, auch wenn er sich als Rezipient innerhalb des Schau-Spiels freiwillig der Illusion hingibt, er sehe die Rolle, die durch den Schauspieler verkörpert wird. Der Schauspieler ist in der Vorstellung des „premier“: „une glace toujours disposée à montrer les objets et à les montrer avec la même précision, la même force et la même vérité“ (Diderot: Paradoxe, S. 49f.).95 Für Diderots Konzeption im Paradoxe ist es nun entscheidend, dass es dem nichtsensiblen Schauspieler widersprüchlicherweise dadurch gelingt, dieser Andere zu werden, dass er eben kein Anderer wird, sondern, ganz
93 „Es ist Sache der Natur, den Menschen besondere Fähigkeiten zu geben: Gestalt, Stimme, Urteilskraft, Scharfsinn. Durch das Studium der großen Vorbilder, die Kenntnis des menschlichen Herzens, den Verkehr in der Gesellschaft, unermüdliche Arbeit, Erfahrung, die Gewohnheit des Theaters müssen die Gaben der Natur vervollkommnet werden.“ Ebd. 94 „Dans [...] la comédie du monde [...] toutes les âmes chaudes occupent le théâtre; tous les hommes de génie sont au parterre“, vgl. Diderot: Paradoxe, S. 54. „In der […] Komödie der Gesellschaft […] sind alle heißen Seelen auf der Bühne, alle genialen Leute sitzen im Parkett.“ Diderot 1964, S. 12 95 „[E]r ist ein Spiegel, immer bereit, die Gegenstände wiederzugeben und sie mit der gleichen Präzision, der gleichen Stärke und Wahrheit zu zeigen“. Ebd., S. 9
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Plessners Anthropologie des Schauspielers entsprechend, bei sich selbst bleibt. Dieses Paradox bleibt in der gelingenden Schauspiel-Darbietung dem Publikum verborgen. Der Schauspieler soll nicht nur die Rollen spielen können, die seinem Naturell entsprechen. Er soll gerade nicht der empfindsame Schauspieler sein, der nicht von sich selbst als Privatperson absehen kann. Die Distanz zur Rolle wird zu einer conditio sine qua non des Schauspielens: „S’il est lui quand il joue, comment cessera-t-il d’être lui? S’il veut cesser d’être lui, comment saisira-t-il le point juste auquel il faut qu’il se place et s’arrête?“ (Diderot: Paradoxe, S. 49)96 Die Figur kann nur in Abgrenzung des Schauspielers von sich selbst entstehen und muss in einer ständigen Distanz gehalten werden, um wiederholbar zu werden. Der Prozess der Entwicklung und Reproduzierbarkeit der Rolle verlangt viel Übung. Entsprechend fordert eine sichere Bewegungsausführung im Tanz viel Training; nur so können tänzerische Bewegungen in das Körpergedächtnis des Tänzers aufgenommen und für diesen verfügbar werden – als Bewegungsmaterial eines darstellenden Künstlers. Der Dialog beginnt mit „N’en parlons plus“ (Diderot: Paradoxe, S. 43), „Reden wir nicht mehr davon!“97 Dem Leser wird am Anfang des Paradoxe suggeriert, er bekomme einen Ausschnitt aus einem Gespräch mit, das in der Vergangenheit begonnen haben könnte und möglicherweise nach dem Textausschnitt, der als Paradoxe sur le comédien veröffentlicht wurde, nicht abgeschlossen ist. Es ist auch ein Zitat aus dem Theaterstück Dépit amoureux von Jean-Baptiste Molière, das der „premier“ im Laufe des Gesprächs explizit erwähnt. Das bedeutet, dass der Leser ab der Textstelle, in der Molières Theaterstück im Paradoxe genannt wird, rekapitulierend nicht entscheiden kann, ob er den Anfang des Gesprächs als Moliére-Zitat oder als eigene Aussage des „premier“ interpretieren soll. Die Szene aus Dépit amoureux, die der „premier“ zitiert, handelt von einem Adligen namens Eraste, der an der Liebe seiner Ehefrau Lucile zweifelt. Der „premier“ erzählt davon, einer Inszenierung des Theaterstücks beigewohnt zu haben, bei welcher der Schauspieler und die Schauspielerin, welche die Rollen von Eraste und Lucile spielten, im „wahren“ Leben verheiratet waren. Er bekam
96 „Wenn er im Spiel nur er selbst ist, wie soll er je aufhören, er selbst zu sein? Wenn er aufhören will, er selbst zu sein, wie soll er den Punkt finden, an den er sich stellen und aufhören muß?“ Ebd., S. 8f. 97 Ebd., S. 5
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nun als Zuschauer mit, wie die beiden mit lauten Stimmen die Rollen von Eraste und Lucile spielten, „amants tendres et passionnés“ (Diderot: Paradoxe, S. 68),98 sich aber im Flüsterton als Eheleute beschimpften. Im Zuschauerraum, davon geht der „premier“ aus, waren nur die lauten Stimmen zu hören, mit denen die Schauspieler in ihren Rollen sprachen, nicht aber der Flüsterton, mit dem die Eheleute sich stritten. Es wird die Szene in Moliéres Theaterstück aufgegriffen, in der Eraste und Lucile versuchen, sich gegenseitig an Geringschätzung zu übertreffen, sich aber eigentlich mit ihren verletzenden Worten und in ihren Abwertungen ungewollt ihre gegenseitige Zuneigung beweisen. Auf eine interessante Art und Weise vereinigt Diderot hier auf verschiedenen Ebenen einen Dissens der Gefühle. Die bissigen Kommentare, die sich die Eheleute zuflüstern, schließen wie ein Echo an das vorher Gesagte an, indem ein Vers wiederholt wird. Ähnlich wie die beiden Gesprächspartner im Paradoxe, die ihre Identität als „interlocuteurs“ erst durch den jeweils Anderen erhalten, sind auch die Bemerkungen der Schauspieler abhängig von der Rolle des anderen. Man kann argumentieren, dass der Flüsterton im Gegensatz zum klanglichen Körper, der in der lauten Stimme zu vernehmen ist, körperlos ist, insofern im Flüstern alle Stimmen ähnlich klingen.99 Die übermäßige Artikulation um des Verstehens willen rückt das Gesagte als Text in den Vordergrund und distanziert es gleichzeitig von der Individualität der Sprechenden. Der „premier“ behauptet, in einer eigentümlichen Sonderposition gewesen zu sein. Er war nicht außerhalb der geflüsterten Szene, wie das übrige Publikum, denn er hat diese mitbekommen. Er war auch nicht lediglich innerhalb der Flüsterszene, denn er vernahm auch die lauten Stimmen, die an das Publikum gerichtet waren. Man kann sich vorstellen, dass die Schauspieler ihre eigenen Stimmen im Flüsterton als fremd wahrnehmen und so eine Spaltung von sich selbst erfahren.100 In exzentrischer Positionalität betrachten sie somit sich selbst aus einer gegenständlichen Distanz. Der „premier“ ist in seiner Wahrnehmung stark gespalten, denn die Differenz der Stimmen, die sich in seinem Kopf zu einem Ganzen zusammenfügen, macht es schwierig, an irgendeiner Stelle eine Authentizität anzunehmen. Er muss die Situation ständig reflektieren und die andere Stimme gedank-
98
„[E]inem zärtlichen, leidenschaftlichen Liebespaar“; ebd., S. 22
99
Vgl. Baschera 1989, S. 42f.
100 Dazu ebd., S. 43
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lich vorwegnehmen. Der „premier“ spielt dem „second“ diese Szene vor und ist somit gezwungen, seine Stimme vierfach zu verstellen. Innerhalb dieses Systems von Differenzen verschwindet der „premier“; der Leser kann kein eindeutiges Subjekt ausmachen, da nur typographische Markierungen im Text deutlich machen, mit wessen Stimme gerade gesprochen wird. Wie bereits an früherer Stelle erwähnt, ist der frühe Diderot in seinen Ansichten über den guten Schauspieler ein Verfechter der sensibilité, die im 18. Jahrhundert ihre Blütezeit hatte. In der Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers wird „sensibilité“ im Sinne einer moralischen Veranlagung beschrieben als „disposition tendre & délicate de l’âme, qui la rend facile à être émue, à être touchée“.101 Aber schon Le neveu de Rameau (begonnen 1761), ein ebenso wie das Paradoxe in Dialogform geschriebenes Werk über die maßlose Leidenschaft eines gescheiterten Künstlers, trägt stark parodistische Züge, die Diderots Schauspielästhetik relativieren. Im Paradoxe legt der Autor seinem „premier interlocuteur“ in den Mund, Partei für eine „kalte Verstellung“ des Schauspielers zu ergreifen. Interessant ist für eine anthropologische Lesart des Textes, dass dieser, gleichsam selbst anthropologisch motiviert, vom Schauspieler fordert, er solle seine Mitmenschen systematisch studieren, um ihre Empfindungen und Leidenschaften adäquat darstellen zu können. Etwas Schauspielen bedeutet in diesem Zusammenhang, dieses Etwas so grundlegend zu verstehen, dass man es verinnerlicht hat und nach außen tragen kann. Diderot lässt in dem Dialog seinen „premier“ zur Aufgabe des Schauspielers erklären, „de bien connaître les symptômes extérieurs de l’âme d’emprunt, de s’adresser à la sensation de ceux qui nous entendent, qui nous voient, et de les tromper par l’imitation de ces symptômes“ (Diderot: Paradoxe, S. 104): „Die äußeren Erscheinungsformen der erborgten Seele genau zu kennen, sich an die Sinne derer zu wenden, die uns hören und sehen und sie durch die Nachahmung der Erscheinungsformen zu täuschen“.102 Die Bühne stellt in diesem Verständnis einen Zeichenraum
101 Vgl. Albert Soboul 1984 (Hg.), L’Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Textes choisis. Nouvelle édition, revue, augmentée et annotée, Paris, S. 354 102 Diderot 1964, S. 49
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dar, der sich gerade in der Differenz zu alltäglichen sympathetischen Wirkungen darstellt: „On dit qu’on pleure, mais on ne pleure pas, lorsqu’on poursuit une épithète énergique qui se refuse; on dit qu’on pleure, mais on ne pleure pas, lorsqu’on s’occupe à rendre son vers harmonieux, ou si les larmes coulent, la plume tombe des mains, on se livre à son sentiment et l’on cesse de composer“ (Diderot: Paradoxe, S. 79).103
Diderot führt an dieser Stelle die klassischen Argumente für die „kalte Verstellung“ an: Ein Schauspieler müsse, um ein Publikum zu bewegen, selbst unbewegt bleiben. Ein Schauspieler könne nur dann sein Bestes geben, wenn er seine Affekte kontrolliere und mit einem kühlen Kopf seine Rolle darstelle. Wiederholbarkeit und Nachhaltigkeit können nur gewährleistet werden, wenn die eigenen Gefühle keinen Einfluss üben. Das Spiel der Darsteller, die „mit der Seele spielen“, „qui jouent d’âme“, sei „alternativement fort et faible, chaud et froid, plat et sublime. Ils manqueront demain l’endroit où ils auront excellé aujourd’hui“ (Diderot: Paradoxe, S. 49).104 Gerade durch ein Vermeiden von Empfindsamkeit solle Empfindung möglich werden, und zwar in zweifacher Weise: Sie werde durch den „kalten“ Schauspieler dargestellt und in der Rezeption beim Zuschauer geweckt. Die Empfindsamkeit des Spiels wäre also in dieser Schauspielästhetik weder Bedingung der Möglichkeit für die Darstellung von Empfindung, noch wäre sie relevant dafür, ob Empfindungen beim Publikum hervorgerufen werden. Diderot lässt seinen „premier“ anstelle eines empfindsamen für eine Art reflektiertes, berechnendes Spiel eintreten – nach einer Idee, einem inneren Modell für die zu spielende Rolle. Indem sich der Schauspieler nun an diesem Modell orientiere, agiere er quasi als Doppelwesen: als Darsteller und gleichzeitig als sein eigener Zu-
103 „Man sagt, daß man weint, aber man weint nicht, wenn man einen kräftigen Ausdruck sucht, der einem fehlt. Man sagt, daß man weint, aber man weint nicht, wenn man sich darum bemüht, einem Vers Harmonie zu geben: oder wenn die Tränen fließen, entfällt die Feder den Händen. Man gibt sich seinem Gefühl hin und hört auf zu gestalten.“ Ebd., S. 30 104 Ebd., S. 9: „ihr Spiel ist abwechselnd stark und schwach, heiß und kalt, platt und erhaben. Sie werden morgen an der Stelle versagen, an der sie heute geglänzt haben.“
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schauer. Er führe sich selbst wie eine Marionette und richte sich an der Wirkung aus. Die Einwände des „deuxième interlocuteur“ relativieren die Aussagen des ersten und problematisieren sie. Indem der „grand comédien“ im Sinne des „premier“ im Paradoxe frei von Affekten ist, kann er seinen Ausdruck kontrollieren und Schau-spielen. Würde er die Affekte wirklich empfinden, ginge seine Darstellung ihres spielerischen Charakters verlustig. Das bedeutet nicht, dass der nichtsensible Schauspieler keine Gefühle besitzen darf, sondern dass er nicht aus seiner Empfindsamkeit heraus spielen soll, hingegen aus seiner Einbildungskraft. Denn er muss antizipieren können, wie seine Zuschauer auf sein Spiel reagieren werden. „C’est qu’être sensible est une chose, et sentir est une autre. L’une est une affaire d’âme, l’autre une affaire de jugement“ (Diderot: Paradoxe, S. 120). „Gefühlvoll sein ist etwas anderes als fühlen. Das eine ist eine Angelegenheit der Seele, das andere der Urteilskraft.“105 Für die Körperkontrolle, die nicht nur für den Schauspieler, sondern auch für den Tänzer und den Sänger von großer Bedeutung ist, ist eine Distanz zur Rolle unabdingbar. Diese ist nicht gegeben, wenn der Mensch seinen Leidenschaften ausgeliefert ist: „Je m’en souviens, je n’approchais de l’objet aimé qu’en tremblant; le cœur me battait, mes idée se brouillaient; ma voix s’embarrassait, j’estropiais tout ce que je disais; je répondais non quand il fallait répondre oui; je commettais mille gaucheries, des maladresses sans fin […] moi, retiré dans un coin, détournant mes regards d’un spectacle qui m’irritait, étouffant mes soupirs, faisant craquer mes doigts à force de serrer les poings, accablé de mélancolie, couvert d’une sueur froide, je ne pouvais ni montrer ni celer mon chagrin“ (Diderot: Paradoxe, S. 80).106
105 Ebd., S. 60 106 „Ich erinnere mich, daß ich mich dem geliebten Wesen immer nur zitternd genaht habe – mir schlug das Herz, meine Gedanken verwirrten sich, die Stimme erstickte, ich verdarb alles, was ich sagen wollte – ich antwortete mit nein, wenn es ja hätte heißen sollen – ich war linkisch und ungeschickt, lächerlich vom Scheitel bis zur Sohle, […] und ich saß in einer Ecke und bemühte mich, die Augen von einem Schauspiel abzuwenden, das mich in Wallung brachte, erstickte meine Seufzer, preßte meine Fäuste, bis die Gelenke knackten, versank in Schwermut und konnte, von kaltem Schweiß bedeckt, meinen Kummer weder zeigen noch verbergen.“ Ebd., S. 31
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Der „premier“ betont, dass der „acteur sensible“ gerade dann eine besonders gute schauspielerische Darbietung erbringe, wenn er die Kontrolle über seinen Körper und über seinen Ausdruck verliere. Diderot spricht in diesem Zusammenhang von einem „Wahnsinn“ oder einer Entfremdung, „aliénation“ (Diderot: Paradoxe, S. 117), die sich darin zeige, dass er seine Rolle nicht mehr aktiv gestalten könne. Gleichzeitig könne er dies nur momenthaft, was wiederum dazu führe, dass das restliche Spiel im Kontrast umso schlechter erscheine: „Un acteur sensible aura peut-être dans son rôle un ou deux de ces moments d’aliénation qui dissoneront avec le reste d’autant plus fortement qu’ils seront plus beaux“ (Diderot: Paradoxe, ebd.).107 Der nichtsensible Schauspieler, der in Plessners Worten, die gleichzeitig Diderots Konzeption im Paradoxe entsprechen, im Ausdruck gleichzeitig Abstand zu seinem Ausdruck hat, ist nicht identisch mit dem „modèle idéal“, dem er sich mit seinem Spiel anzunähern versucht. Er muss jede Rolle gleich gut darstellen können, demnach liegt in der Unbestimmtheit und beliebigen Bestimmbarkeit des Spiels das eigentliche Vermögen des „grand comédien“. Philippe Lacoue-Labarthe beschreibt das Vermögen, immer ein Anderer sein zu können, als poiesis, als „perpétuel mouvement de la présentation“;108 es ist eine „mimesis productive“109 an die Natur. Was also durch die Beobachtung der „Natur“ geschaffen, aus dieser Beobachtung hervorgegangen ist, wird Kultur, wird Kunst. Die Schauspielerin Clairon, von welcher der „premier“ spricht, passt ihren Körperausdruck dem „fantôme“ oder „modèle idéal“ an, um sich in ihre Figur zu verwandeln: „Sans doute elle s’est fait un modèle auquel elle a d’abord cherché à se conformer, sans doute elle a conçu ce modèle le plus haut, le plus grand, le plus parfait qu’il lui
107 „Ein Gefühlsschauspieler hat vielleicht in seiner Rolle ein oder zwei solche Momente des Wahnsinns, die mit dem übrigen einen um so größeren Mißklang bilden, je schöner sie sind.“ Ebd., S. 57. Auch Philippe Lacoue-Labarthe beschreibt den „homme sensible“ als passiv und seine Rolle erleidend, als „l'être affecté ou ému. Aliéné par conséquent, et mis hors de soi, mais sur le mode de la passivité ou de la passion“. Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe 1986, L’imitation des modernes. Typographies II, Paris, S. 32 108 Ebd., S. 28 109 Ebd., S. 24
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a été possible; mais ce modèle qu’elle a emprunté de l’histoire, ou que son imagination a créé comme un grand fantôme, ce n’est pas elle, si ce modèle n’était que de sa hauteur, que son action serait faible et petite! Quand, à force de travail, elle a approché de cette idée le plus près qu’elle a pu, tout est fini, se tenir ferme là, c’est une pure affaire d’exercice et de mémoire“. (Diderot: Paradoxe, S. 50f.)110
Wenn die Schauspielerin sich dem „fantôme“, dem Rollenideal, durch Arbeit an der Rolle so gut wie möglich angenähert hat, ist die Rolle „vollendet“: Es geht dann nur noch um Übung und darum, sich an das vorher Erarbeitete zu erinnern. Der „premier“ vergleicht die Arbeit an der Rolle mit der eines Bildhauers, der sein „modèle idéal“ in den Stein meißelt (vgl. Diderot: Paradoxe, S. 51). Die große Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers wird von allen darstellenden Künstlern bearbeitet und geformt, so dass sie zum Körper und zur Stimme ihrer Figur bzw. der getanzten Choreographie werden. Der so entstandenen Kunstkörper ist dann objektiviert und wird für den darstellenden Künstler „verfügbar“; er nimmt ihn in Regie. Das Paradoxe eröffnet ein Spannungsfeld zwischen Aktivität und Passivität, zwischen einer Rolle, die ein „kalter Schauspieler“ sich berechnend aneignet und darstellt, indem er seinen Ausdruck beherrscht, und einer Rolle, die ein „heißer“ Schauspieler erleidet, wenn er sich seiner Empfindsamkeit hingibt. Beide Möglichkeiten beruhen anthropologisch auf der exzentrischen Positionalität und sind, wie Plessner in seiner bereits angeführten Anthropologie des Schauspielers beschreibt, expressive Verkörperungsmöglichkeiten. Besonders bedeutsam für eine anthropologische Lesart von Diderots Paradoxe sur le comédien und für die These dieses Kapitels vom Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung, das sich in Verkörpe-
110 „Zweifellos hat sie sich zuerst eine Vorstellung gemacht, der sie sich anzugleichen versucht. – Zweifellos hat sie diese Vorstellung so hoch, groß und vollendet konzipiert, wie es ihr möglich war – aber diese Vorstellung, die sie entweder der Geschichte entlehnt hat oder von ihrer Phantasie als großartiges Phantom geschaffen wurde, ist nicht sie selber: wenn diese Vorstellung nur so groß wäre wie sie selbst, wie schwach und klein wäre ihr Spiel! Wenn sie in intensiver Arbeit sich soweit wie möglich ihrer Idee genähert hat, ist alles fertig. Sich dort zu halten, ist eine reine Angelegenheit der Übung und des Gedächtnisses.“ Ebd., S. 9f.
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rungen der darstellenden Kunst ausmachen lässt, ist eine Textpassage, welche die Dialogform unterbricht (Diderot: Paradoxe, S. 121ff.).111 Unvermittelt tritt ein objektiver Ich-Erzähler auf und stellt damit die Aktualität des Dialogs infrage – ähnlich wie in Kleists Marionettentheater Indizien zu finden sind, dass wir uns in einer fiktionalen oder sogar theatralen Bühnensituation befinden, ist der Dialog bei Diderot plötzlich Teil einer Erzählung. „Nos deux interlocuteurs allèrent au spectacle, mais n'y trouvant plus de place ils se rabattirent aux Tuileries. Ils se promenèrent quelque temps en silence. Ils semblaient avoir oublié qu'ils étaient ensemble, et chacun s'entretenait avec lui-même comme s'il eût été seul, l'un à haute voix, l'autre à voix basse qu'on ne l'entendait pas, laissant seulement échapper par intervalles des mots isolés, mais distincts, desquels il était facile de conjecturer qu'il ne se tenait pas pour battu“. (Diderot: Paradoxe, S. 121)112
Interessanterweise nehmen die beiden Dialogpartner in dem Moment Gestalt an, in dem sie von außen, aus der Perspektive des Ich-Erzählers, dargestellt werden, der sie aber gleichzeitig in eine räumliche und zeitliche Gestalt rückt, wenn er angibt, was er zu jener Zeit wahrgenommen hat. Er beschreibt eine surreale Szene, in welcher der „premier“ und der „second“ die „reale“ Anwesenheit des anderen vergessen und sich voneinander abwenden, aber in der Logik des Dialogs gefangen bleiben und den anderen und dessen Perspektive in Selbstgesprächen als imaginären Gesprächspartner aufnehmen. Damit geht paradoxerweise eine Aufweichung der eigenen Position einher, da die Gegenpositionen von beiden selbst artikuliert werden. Schließlich fallen die „interlocuteurs“ wieder in die Dialogform, und der traumartige Zustand endet abrupt. Diese Darstellungsweise Diderots verdeutlicht die Bedeutung eines aufmerksamen Lesersubjekts und hebt gleichzeitig hervor, dass es „außerhalb des Textes“ nichts gibt. Dies wird
111 Ebd., S. 61ff. 112 „Unsere beiden gingen ins Theater, bekamen aber keinen Platz mehr und gingen in die Tuilerien. Sie liefen einige Zeit schweigend umher. Sie schienen einander vergessen zu haben, jeder sprach mit sich selbst, als sei er allein, der eine laut, der andere so leise, daß man ihn nicht hörte, wobei ihm ab und zu einige abgerissene, aber deutliche Worte entschlüpften, aus denen man leicht schließen konnte, daß er sich nicht für geschlagen hielt.“ Ebd., S. 61
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noch durch die Anrede des Lesers verstärkt: „Les idées de l'homme au paradoxe sont les seules dont je puisse rendre compte, et les voici aussi d'cousues qu'elles doivent le paraître lorsqu'on supprime d'un soliloque les intermédiaires qui servent de liaison“ (ebd.).113 Das „les voici“ spricht den Leser an und macht ihn zu einer Figur des Textes.114 Auch „[n]os deux interlocuteurs“ (ebd.) involviert den Leser in das Textgeschehen: Er wird zu einer Art „confident“ des Ich-Erzählers. Es wird sehr deutlich, dass der Leser einen Beitrag leisten muss, dem Text Sinn zuzuschreiben, besonders dort, wo das Paradoxe mit seiner Form bricht und der besonderen Aufmerksamkeit des Lesers bedarf. Das Selbstgespräch des „premier“ wird plötzlich nur teilweise im Text dargestellt, der andere Teil wird lediglich durch Gedankenstriche angedeutet. Hier muss eigentlich der Leser gedanklich zum „second“ des „premier“ werden und die Leerstellen mit Inhalt füllen. Er ist zur selben Zeit Schauspieler und Zuschauer der Inszenierung des Ich-Erzählers. Diese Spaltung und Identitätsverschiebung findet eine Replik in der Funktion des Ich-Erzählers, der die Macht hat, eine solche Situation zu erschaffen und den Leser in das Geschehen zu integrieren, aber gleichzeitig immer ein Teil des Textes bleibt und außerhalb der Regeln, die dieser aufstellt, keine Existenzberechtigung hat und an den sprachlichen Ausdruck gebunden bleibt. Jedes „Ich“, das Diderots Paradoxe sur le comédien erschafft, inklusive dem des Lesers, ist in sich gespalten und abhängig von anderen Textfiguren. Wie nun charakterisiert der Text Diderots den „nichtsensiblen“ Schauspieler, der in „kalter Verstellung“ seine Rollen verkörpert? Der „premier“ umschreibt ihn zunächst folgendermaßen: „Moi, je lui veux beaucoup de jugement; il me faut dans cet homme un spectateur froid et tranquille; j'en exige […] nulle sensibilité“ (Diderot: Paradoxe, S. 48). „Ich verlange von ihm sehr viel Urteilskraft; er muß meiner Meinung nach ein kalter, ruhiger Beobachter sein. Darum fordere ich von ihm […] keinerlei Gefühl“.115 Der
113 „Ich kann nur die Gedankengänge des Mannes mit dem Paradox wiedergeben. Ich bringe sie so abgerissen, wie sie erscheinen müssen, wenn man in einem Selbstgespräch die Übergänge zwischen den einzelnen Gedanken wegläßt.“ Ebd. 114 In der deutschen Übersetzung geht dies leider verloren. „Les voici“ wäre mir „hier sind sie“ oder „hier haben Sie sie“ richtiger übersetzt. 115 Ebd., S. 8
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nichtsensible Schauspieler löst also Gefühle bei seinen Zuschauern aus, indem er kontrolliert und berechnend spielt. Die Empfindsamkeit seines Publikums wird ein Teil seines Kalküls und steht gleichzeitig dazu im Kontrast. Es ist eigentlich die exzentrische Positionalität, die Diderot im nichtsensiblen Zuschauer veranschaulicht: Dieser hat die Trennung von Zuschauerraum und Bühne in sich aufgenommen116 und sieht sich in der Zuschauerreaktion gespiegelt, „Er hört sich zu, während er euch bewegt“117 – „il s’écoute au moment où il vous trouble“ (Diderot: Paradoxe, S. 55).118 Eine weitere Bestimmung, die der nichtsensible Schauspieler im Paradoxe erfährt, ist, dass er bei allen Auftritten immer „derselbe“ bleiben sollte, „le même à toutes les représentations, toujours également parfait“ (Diderot: Paradoxe, S. 49). Dafür soll er sich eine Art bewegliche Hülle zulegen, die Diderot als „mannequin“, als „masque“ oder als „fantôme“ bezeichnet, und die er auf der Bühne mit der Rolle, die er gerade spielt, beleben soll. Die bewegliche Hülle, die ein konstantes Spiel erst ermöglicht, konstruiert der Schauspieler schrittweise in mühevoller Arbeit an sich selbst, er „se renferme dans un grand mannequin d'osier dont il est l'âme; il meut ce mannequin d'une manière effrayante“ (ebd., S. 123); er „steckt sich in eine Rohrpuppe, deren Seele er ist. Er bewegt diese Puppe auf erschreckende Weise“.119 Diderot lässt den „premier“ anhand der Schauspielerin Clairon beschreiben, wie die Fixierung der Rolle als „fantôme“ sich in ihrem Ge-
116 Vgl. Baschera 1989, S. 54f. 117 Diderot 1964, S. 13 118 Baschera fragt, ob die Selbstzuwendung des Schauspielers sich auf den „Schauspieler“ im Schauspieler oder auf den „Zuschauer“ im Schauspieler bezieht, und sieht eine Spaltung in beiden Möglichkeiten. Er schreibt: „Was diese Mechanik des Positionswechsels unterhält, ist eine ‚Szene des Präsens’, in welcher jedes Theater zur bloßen Figur wird. Diese Szene steht dem Theater gerade nicht zur Verfügung. In ihr vollzieht sich das bloße ‚Da’ einer Darstellung ohne feste Position des Zuschauers und des Schauspielers. Alle historisch gewordenen Formen des Theaters – Einheit des Themas und der Handlung, bestimmte Ausformungen des Theaterraums, Einteilung in Komödie und Tragödie etc. – sind allesamt Versuche, diese Szene zu strukturieren. Das ‚Paradoxe sur le comédien‘ zeigt, wie das Theater von ihr bewegt ist, und wie sie jegliche Einheit des Theaters durchbricht.“ Vgl. ebd., S. 56 119 Diderot 1964, S. 65
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dächtnis vollzieht, wie jedes Detail der Rolle in ihrem Gedächtnis aufbewahrt und jederzeit abrufbar ist. Sie hat dann auf der Bühne gewissermaßen zwei Körper inne, „la petite Clairon et la grande Agrippine“ (ebd., S. 51). Das „fantôme“ steht für das Deutungspotential, das erst in der Verkörperung auf der Bühne mit konkreten Inhalten besetzt wird, auch wenn es, in Cassirers Terminologie, stets symbolisch prägnant ist, insofern sich Sinnhaftigkeit in einem konkreten sinnlich wahrnehmbaren Material findet. In Kleists Marionettentheater, dies wurde bereits im Vorspann diskutiert, stellt sich die Seele des Tänzers durch die Bewegung dar, als vis motrix. In Diderots Paradoxe taucht ebenso der Begriff der Seele auf; diese stellt den Gegenpol zur beweglichen Hülle dar, „l’âme“ im Gegensatz zu „le mannequin“. Die Seele soll das „fantôme“ beleben. Gleichzeitig bleibt bei Diderot immer wichtig, dass die Schauspielerin sich hat; „elle se possède“ (Diderot: Paradoxe, S. 51). Diese Idee zieht sich durch das Paradoxe und erinnert an Plessners Bestimmung des Schauspielers, der nur dann spielen kann, wenn er sich selbst hat und sein eigenes Instrument werden kann. Bei Diderot zeigt sich der Darsteller und Verkörperer einer Rolle von dieser bewegt, ist sogar von dieser Rolle besessen, „c’est l’esprit d’un autre qui le domine“ (Diderot: Paradoxe, S. 110). Er erschafft ein Selbst, das von ihm als Privatperson unterschieden werden kann. Dabei ist es wichtig, dass das „fantôme“ eigentlich lediglich verweist „auf den Theatertext in seiner Aufforderung, gespielt und gesprochen zu werden“.120 Für den Tanz lässt sich entsprechendes beschreiben: Die Rolle, die eine Tänzerin oder ein Tänzer verkörpert, verweist auf ein Bewegungsmaterial, das realisiert und sinnlich erfahren werden muss; es ist symbolisch prägnant. Die Unterscheidung zwischen einer echten „sensibilité“ und einer gespielten wird in Diderots Paradoxe verwischt und relativiert. Diderot legt dem „premier“ in den Mund, die Beherrschung der Rolle durch die Schauspielerin Clairon in der Unbeweglichkeit ihrer Pose zu reflektieren:
120 Vgl. Baschera 1989, S. 58
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„Nonchalamment étendue sur une chaise longue, les bras croisés, les yeux fermés, immobile, elle peut, en suivant son rêve de mémoire, s'entendre, se voir, se juger et juger les impressions qu'elle excitera“. (Diderot: Paradoxe, S. 51)121
Sie hat am Theatertext und an ihrem Körper gearbeitet und ihre Rolle gelernt. Durch zahllose Wiederholungen beherrscht sie diese nun auch körperlich in Mimik, Gestik und Sprache. Sie kann, in ihrer reglosen Pose, innerlich die Rolle spüren und in ihrer Vorstellung spielen. Es ist genau das verkehrte Verhältnis zur Aufführung, denn dort wird sie äußerlich die Zeichen der Erregung darstellen, ohne eine entsprechende innere zu spüren. Dabei hat sich die „masque“ in eine Aufforderung gewandelt, auf diese oder jene Weise wahrgenommen zu werden. Sie ist orientiert an dem Publikum als dem jeweils Anderen. Gleichzeitig steht das Schauspiel der Clairon nicht im Dienste eines anderen Interesses, das sie mit ihrem Spiel verdecken möchte.122 Die Frage nach der Lebendigkeit des Zeichens ist durch diesen Prozess verunsichert. Gesichtsbedeckende Masken dienen und dienten außerhalb des theatralen Umfelds, Überlieferungen nach, ursprünglich der rituellen Anrufung und Visualisierung von Schutzgottheiten oder Ahnen – neben der Funktion der Abwehr böser Geister. Der Maskenträger fungiert in solchen Praktiken als Projektionsfläche einer meist transzendenten Macht. Es ist also eine Identifikation mit dem Dargestellten intendiert.123 Mit apotropäischen, also Unheil abwendenden oder abwehrenden Handlungen gelingen Berührungspunkte mit dem Sterben. Sie ermöglichen einen Umgang mit Übersinnlichem und Unheimlichem. In der Spannung von Anrufung und Abwehr dient die Maske als Repräsentationsmedium. Schon mit ihrer Produktion, oftmals unter strenger Beachtung ritueller Vorschriften, sollen sich Kräfte oder Energien auf die Maske übertragen. In der Darstellung mit der Maske ist aus diesem Grund immer etwas Abwesendes und Unkalkulierbares mit-
121 „Sie kann lässig auf einem Faulbett liegen, unbeweglich, und ihrem Traum folgen, dann wird sie sich hören, sich sehen, sich beurteilen und den Eindruck beurteilen, den sie hervorruft.“ Diderot 1964, S. 10 122 Darauf weist auch Baschera hin; vgl. ebd., S. 60 123 Simone Haag 2009, „,Eine Maske mehr! Eine zweite Maske!‘ Oder: Proteus‘ Masken“, in: Kurt Röttgers, Monika Schmitz-Emans (Hg.), Masken. Philosophisch-literarische Reflexionen, Bd. 11, Essen, S. 147–159; hier S. 149
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gedacht; und das gilt nicht nur für eine Maske, die mit einem Material wie Holz oder Leder hergestellt wurde, sondern auch für die Rolle des Schauspielers, die seine Maske oder sein „fantôme“ ist.124 Die Griechen verwendeten den Begriff προσωπον ursprünglich in der Bedeutung „Gesicht“, später aber auch für die Bezeichnung der Theatermaske.125 Etymologisch bedeutet prósopon das, „was sich den Augen (eines anderen) präsentiert“.126 Der Akzent liegt begrifflich in der Konfrontation mit einem Anderen, in der Beobachtung durch den Anderen, nicht darin, ob es sich um ein natürliches oder künstliches Gesicht handelt: „Prosopon impliziert, dass die Theatermaske für die Dauer der Aufführung einer Figur als Gesicht dient, daher ist ihre Künstlichkeit funktional gesehen irrelevant.“127 Was sich in der Maske zeigt, ist anthropologisch, in Plessners Worten, die „Abständigkeit“ des Menschen (vgl. Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, S. 407), der im künstlerischen Tanz oder im Schauspiel seinen Körper zum Kunstmittel macht – durch die „Darstellung im Material der eigenen Existenz“ (ebd.). Diderot beschreibt im Einüben und Verinnerlichen der Rolle ein weiteres Paradoxon: Die Rolle kann nur in allen Nuancen ins Gedächtnis der Schauspielerin überführt werden, wenn ein hoher Grad an Bewusstheit dies ermöglicht hat, wie ich an einer früheren Stelle formuliert habe, ein quasi anthropologisches Studium der Rolle vorangegangen ist. In dem Moment, in dem das Einüben der Rolle und des Theatertextes beendet ist und die Schauspielerin diese als „fertige“ Einheit ansieht, kehrt sich das Verhältnis um. Das Reproduzieren der Rolle wird im Paradoxe als „rêve de mémoire“ (Diderot: Paradoxe, S. 51) beschrieben, als „fantôme“. Dies ist auch eine Erfahrung, die man im Tanz machen kann. Je sicherer die Bewegungsabläufe sich im Körpergedächtnis wiederfinden, desto traumartiger und „bewusstloser“ können sie ausgeführt werden. Die Illusion einer bewegten Innerlichkeit hat im Paradoxe nur der Zuschauer, der Schauspieler hat ein
124 Zum Unkalkulierbaren in der Repräsentation auch Baschera 1989, S. 64 125 Dazu vor allem Richard Weihe 2004, Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München, S. 99 126 „[…] ‘ce que l’on présente à la vue‘ d’autrui“; vgl. Françoise Frontisi-Ducroux 1995, Du masque au visage. Aspects de l’identité en Grèce ancienne, Paris, S. 19 127 Weihe 2004, S. 100
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Ausdruckskonstrukt entwickelt, welches diese Illusion produziert: „il n'est pas le personnage, il le joue et le joue si bien que vous le prenez pour tel: l'illusion n'est que pour vous, il sait bien, lui, qu'il ne l'est pas“ (Diderot: Paradoxe, S. 56); „er ist nicht die Gestalt, er spielt sie und spielt sie so gut, daß ihr ihn dafür haltet: die Illusion ist euer; er weiß genau, daß er sie nicht ist.“128 An dieser Stelle kommt eine weitere Widersprüchlichkeit zum Tragen: Der Schauspieler kann seinen Ausdruck nur am Eindruck seines Publikums orientieren, den er natürlich seinerseits von diesem ablesen muss. Wie kann er aber den Ausdruck seiner Zuschauer als Eigentliches deuten, wenn er doch bei sich selbst von einer Trennung von Maske und Person weiß? Als Möglichkeit bei den Anderen muss er die Maske negieren, wenn er den Ausdruck des Publikums beurteilen soll. Das Spiel, auf das sich einvernehmlich geeinigt wurde, hat Unsicherheitsmomente, die es in gewisser Weise unkalkulierbar machen und unter Umständen sogar außer Kraft setzen können. Parallelen von Diderots Paradoxe und Kleists Marionettentheater Diderot stellt den nichtsensiblen Schauspieler als Marionette seiner Rolle dar: „Un grand comédien est un […] pantin merveilleux“ (Diderot: Paradoxe, S. 94). Es ist die Differenz des schauspielerischen Ausdrucks von dem, was dargestellt und den Rezipienten präsentiert wird, die das Marionettenhafte des Schauspiels ausmacht, nicht der „Automatismus in der Beherrschung seiner Rolle“.129 Das erinnert an die Bewegungen der Marionette in Kleists Marionettentheater, daran, dass die Glieder der Puppe letztlich nicht vollends durch den Maschinisten kontrolliert werden können. Dieser kann nur den Schwerpunkt der Puppe versetzen, aber die Glieder gleichen Pendeln und sind, lediglich Gesetzen der Schwerkraft folgend, zu einem gewissen Grad unberechenbar. Es gibt immer ein Surplus der Bewegung, das sich der ästhetischen Wahrnehmung eröffnet. Wie bereits an früherer Stelle ausgeführt, gehört zum Menschsein für Plessner, dass es nicht „nackte, sondern verkörperte Existenz“ (Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, S. 414) ist. Ein irgendwie geartetes
128 Diderot 1964, S. 14 129 Vgl. Baschera 1989, S. 66
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„Selbst“ kann der Mensch sich nur erschließen „über den Umweg dargestellter Entwürfe und deren Beantwortung durch ein Gegenüber“.130 Dabei ist es bezeichnend für den Menschen, dass er zu seinen Entwürfen von sich selbst und von dem, was er „Wirklichkeit“ nennt, ein spielerisches Verhältnis einnehmen kann. Diese anthropologische Verfasstheit des nach Nietzsche nicht festgestellten Lebewesens bezeichnet Plessner als „Potentialität“.131 Und während in der Kunst dieser potentielle Charakter offen zutage tritt, tragen wir, wie nicht zuletzt Plessner immer wieder betont, im alltäglichen Leben auch Masken und spielen Rollen, auch wenn dies meistens nicht thematisiert wird: „Wir wollen uns sehen und gesehen werden, wie wir sind, und wir wollen ebenso uns verhüllen und unbekannt bleiben, denn hinter jeder Bestimmtheit unseres Seins schlummern die unsagbaren Möglichkeiten des Andersseins.“132
Die Differenz im nichtsensiblen Schauspieler hebt Diderot in seinem Paradoxe durch eine mehrfache Verneinung hervor, die verdeutlicht, dass der „grand comédien“ alle Charaktere spielen kann und seine Kompetenz in seiner „Bespielbarkeit“ liegt, auch wenn er immer als ein bestimmter Charakter auftritt:133
130 Vgl. Haag 2009, S. 155 131 „Mag hundertmal nach der Idee das Ineffabile individueller Eigenart vom Seinsgrund der Gemeinschaft und damit von allen ihren Angehörigen mit erfaßt sein, tatsächlich durchdringen die Menschen sich doch nie bis auf den Grund, der gar nicht festliegt, weil er ewige Potentialität ist.“ Vgl. Helmuth Plessner 1981b, Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 5, Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker (Hg.), Frankfurt am Main, S. 7–133; hier S. 106 132 Ebd., S. 63 133 Vgl. Baschera 1989, S. 68
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„Un grand comédien n'est ni un piano-forte, ni une harpe, ni un clavecin, ni un violon, ni un violoncelle; il n'a point d'accord qui lui soit propre; mais il prend l'accord et le ton qui conviennent à sa partie, et il sait se prêter à toutes“ (Diderot: Paradoxe, S. 93).134
Der nichtsensible Schauspieler ist in seinem Spiel nicht unbestimmt: In der abermaligen Negation zeigt sich, dass er immer wieder erneut zu den von ihm dargestellten Charakteren in Differenz treten muss. Die Spaltung in ihm tritt zutage, wenn sich dieser Unterschiedenheit ein hoher Grad an Bewusstheit und Konzentration zugesellt, die für Diderot dem „grand comédien“ ebenso zukommt wie das, was er als „Charakterlosigkeit“ beschreibt. Dadurch, dass der nichtsensible Schauspieler in seinem Ausdruck Abstand von seinem Ausdruck hat, ist er in seiner Darstellung beweglich und vielschichtig. Performativität in den darstellenden Künsten ist ein Spiel mit Differenzen: für das Schauspiel zum Theatertext, für die Oper zur Partitur und für den Tanz zum Bewegungsmaterial, wenn man festgelegte Schrittfolgen meint, wie sie in Notationssystemen auftauchen können.135 Diese Ebene erscheint auf einer Bühne immer als etwas, in einer konkreten Ausformung und Gestaltung. Diderot beweist an dieser Stelle in seinem Paradoxe ein Theaterverständnis, das eine Geschlossenheit der Rolle und des Theatertextes verneint. In jeder darstellenden Kunst stellt sich Bedeutung durch die Bühnenrealisation dar und ist in komplexe Artikulations- und Symbolisierungsprozesse begriffen. Die Unterscheidung zwischen sensiblem und nichtsensiblem Schauspieler, die Diderots Paradoxe durchzieht und sich in den Positionen des „pre-
134 „Ein großer Schauspieler ist weder ein Klavier, noch eine Harfe, noch ein Cembalo, noch eine Geige, noch ein Cello, er hat keinen ihm eigenen Akkord, aber er nimmt den Akkord und Ton an, der seiner Rolle entspricht, und versteht es, sich an jeden hinzugeben.“ Diderot 1964, S. 41 135 Zur Verschriftlichung von Tanz in der Spannung zwischen dem Interesse an einer Archivierung und folglich Demokratisierung der Bewegung auf der einen und dem Bewusstsein eines unaustauschbaren, jeweils präsenten Körpers in der Aufführung auf der anderen Seite vor allem Brandstetter 2007a, „Tanz als Szeno-Graphie des Wissens“, in: dies., Christoph Wulf (Hg.), Tanz als Anthropologie, München, S. 84–99; hier S. 85f.
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mier“ und „second interlocuteur“ niederschlägt, stellt sich schließlich selbst als paradox heraus. In Diderots Sprache zeigt sich die Ununterscheidbarkeit und Verunsicherung beider Positionen. Während „sensibilité“ gemeinhin einen Schauspielstil bezeichnet, in dem Gefühlen unmittelbar Ausdruck verliehen wird, und der nichtsensible Schauspieler im Gegensatz dazu alle Gefühle darstellen kann, verwischt Diderots Wortwahl diese Differenz. In einer Definition der „sensibilité“ im Paradoxe deutet er diese als „disposition“ (ebd., S. 89) – eine Formulierung, in der die analytische und die Teile der Figur auseinanderlegende Arbeit des nichtsensiblen Schauspielers anklingt.136 Der „premier“ beschreibt im Paradoxe, wie die Schauspielerin Clairon sich zunächst eine Vorstellung von der Rolle schafft, die sie sich erarbeiten will, und sich nach diesem „modèle idéal“ zu richten versucht. Anthropologisch ist das dadurch möglich, dass der Mensch einen, mit Plessner gesprochen, „utopischen Standort“ einnehmen kann, die Vorstellung von der Rolle idealiter vorwegnehmen und sich anschicken kann, sich dieser Vorstellung anzunähern. In der Darstellung arbeitet die Schauspielerin sich an die Konzeption der eigenen Idee der Rolle heran und blendet sich selbst als Privatperson aus. Sie wird von Diderot als schaffendes Medium einer ihrer Darstellung vorausgehenden konzeptionellen Schöpfung vorgestellt; entsprechend macht der Tänzer seinen Körperleib zum Werkzeug seiner Darstellung, der eben auch eine Idee oder ein „fantôme“ zugrunde liegt. Mit Kleist gesprochen ist die Schauspielerin hier Maschinistin und Marionette gleichzeitig. So reflektiert die Erschaffung der Rolle war, hat sie sich erst einmal geformt, wird die Marionette, obwohl sie ihren Schwerpunkt in der Bewegung des Maschinisten hat, mit ihren unkontrollierbaren Bewegungen zum Werkzeug der Darstellung – Pendel, die der Schwerkraft folgen und nicht mehr manipuliert werden können. Es entspricht der Erfahrung darstellender Künstler, dass eine Rolle, je mehr sie dem Körper einverleibt wurde und „in Fleisch und Blut übergegangen“ ist, desto „bewusstloser“, automatischer ausgeführt werden kann. Man fühlt sich an den Jüngling aus Kleists Marionettentheater erinnert, der sogar in der Problematisierung seiner Erscheinung seine Grazie verliert. Die Reflexion über sein Erscheinungsbild hat ihn zu Fall gebracht und stört sein Darstellungsverhalten. Wie sich in Kleists Erzählung Grazie und Vollkommenheit der Darstellung lediglich
136 Das hebt auch Baschera 1989, S. 72 hervor.
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in den Extremen von absolutem (Gott) und fehlendem Bewusstsein (Marionette) findet, der Mensch also in einer Zwischenposition steht, wird auch bei Diderot die Selbstbezüglichkeit problematisiert und als ambivalent thematisiert. In der Dornauszieherepisode verliert der Jüngling, seine Pose beharrlich vor dem Spiegel rekonstruierend, immer mehr von seiner Grazie. Die sich selbst bewusste Wiederholung seiner Pose entleert diese immer mehr ihrer Anmut und ihres „natürlichen“ Ausdrucks. Auf die Tänzerin übertragen, stellt sich also die Frage, ob das Training vor dem Spiegel nicht ebenso dazu führen kann, den Bewegungen ihre „Beseelung“ zu nehmen und sie zu verdinglichen.137 Gleichzeitig macht die Wiederholbarkeit der Bewegung diese erst ästhetisch gestaltbar, gerade im Schaffensprozess der Choreographie. Kleist weist mit seiner Problematisierung der Reflexion für den darstellenden Künstler darauf hin, dass, anders als in den bildenden Künsten, die gespielte Figur jeder Darstellung kein absolutes Produkt ist. Die Objektivierung bleibt immer an einen agierenden, sich ausdrückenden und darstellenden Körperleib gebunden, der sich zurückempfindet. Somit ist Reflexion zweischneidig: Sie macht die Darstellung erst möglich, ist aber gleichzeitig für ihre Fragilität verantwortlich, die wiederum einen Grund für die Aufmerksamkeit des Publikums und der Akteure darstellt. Als raumzeitliches Phänomen, das als darstellende Kunstform in jeder Aufführung „neu“ erschaffen wird, ist es besonders anfällig für Störungen von außen (in der Rezeption) und von innen (in der Produktion). Dennoch bedarf eine gelungene Aufführung immer wieder neuer Impulse „von außen“. Dieses Außen liegt sowohl in dem beobachtenden Dritten als auch in der den Darstellenden mit der exzentrischen Positionalität gegebenen Distanz zum eigenen Körper. Dass Ausdruck und Darstellung in einem Spannungsverhältnis stehen, macht deutlich, dass es sich anthropologisch eben immer um einen existenziellen Widerspruch handelt, der belebend und irritierend zugleich wirkt und jede Re-Inszenierung rechtfertigt.138 Die Bewegungen der Puppenglieder sind bei Kleist zum einen von der Führung des Maschinisten abhängig, insofern dieser den Schwerpunkt der
137 In der Virtuosität, das wurde im 1. tanzpraktischen Exkurs erörtert, könnte man eine solche Verdinglichung veranschlagen. 138 Forsythe etwa begreift seine Choreographien als „works in progress“ und verändert diese über Jahre hinweg immer wieder. Der ephemere Charakter seiner Kunst ist ein Teil seines Selbstverständnisses als Tanzschöpfer.
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Puppe verschiebt, zum anderen haben sie (als Pendel) ein „Eigenleben“, das der Kontrolle des Puppenspielers entzogen ist. Diese Bewegungen beeinflussen ihrerseits auch das Spiel des Maschinisten. Es kann von einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis ausgegangen werden. Kleist beschreibt die Erfahrung der „Seele“ des Tanzes in der Bewegung der Puppe, nicht in der Darstellungsabsicht des Maschinisten. Was Reflexion der Bewegung genannt wurde, ist demnach nicht unabhängig von der Bewegungserfahrung zu beschreiben. Tanz stellt sich in einem Wechselspiel aus Körperkontrolle und Bewegungsführung auf der einen und einer unkalkulierbaren Differenz zu dem, was letztendlich der Rezeption eröffnet wird, auf der anderen Seite her. Ein ähnlicher Vorgang wird bei Diderot im Paradoxe geschildert. Die Schauspielerin hat eine Darstellungsabsicht, ein „modèle idéal“, und passt ihre Mimik, Gestik und Artikulation dieser Absicht an. Gleichwohl verselbständigt sich ihr Spiel, indem es sich in konkreten sinnlich wahrnehmbaren Bewegungen oder Äußerungen manifestiert und objektiviert, und eröffnet Bedeutungshöfe für die Rezeption. Und nur so kann das Schauspiel wiederum auf die Schauspielerin zurückwirken und ihr weiteres Spiel beeinflussen. Obwohl der „premier“ bei Diderot den Aspekt der Wiederholbarkeit des Schauspiels betont, kann die Clairon nur auf der Höhe ihrer Darstellung bleiben, wenn sie sich ihrerseits in Distanz zu ihrem Spiel befindet, in ihrem Ausdruck gleichzeitig Abstand zu diesem hat, wie Plessner die menschliche Expressivität beschreibt. Auf den Tanz bezogen geht es um die Bewegungsführung, die eine Rückempfindung ermöglicht. Ich erinnere an die in der Tradition von Gehlen formulierte zweite These dieses Buches, Tanz sei sich selbst fasslich gewordenes, rückbezügliches und rhythmisiertes spielerisches Bewegungsphantasieren. Das Wirkprinzip des Tanzes liegt in der Bewegung selbst: Es ist eine Erfahrung, die in der Darstellung gemacht wird, als Wechselverhältnis zwischen Bewegungsintention, Bewegungsführung, und dem konkreten darstellenden Körper. Im folgenden Abschnitt möchte ich meine These von künstlerischem Tanz im Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung bekräftigen, indem ich das komplexe Verhältnis zwischen Symbolisierungsprozessen und ihrer sinnlichen Objektivation in künstlerischen Tanzphänomenen als Manifestation dieses Spannungsverhältnisses zwischen Ausdruck und Darstellung untersuche.
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Symbolisierungsprozesse und ihre tänzerischen Objektivationen – „Ausdruck“ und „Form“ Cassirer beschreibt, wie sich das Bewusstsein durch die Vermittlung von Symbolen aus der „passiven Befangenheit im sinnlichen Eindruck“ lösen kann und fortschreitet zur „Schaffung einer eigenen, nach einem geistigen Prinzip gestalteten ‚Welt‘“ (Cassirer: Das mythische Denken, S. 16f.). Diese Welt, eine „Welt als Vorstellung“, nennt Cassirer das „Ziel“ und den „Ertrag der symbolischen Formen. Es ist das Resultat der Sprache, des Mythos, der Religion, der Kunst und der theoretischen Erkenntnis“ (Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis, S. 320). Der Freiheitsgewinn, den Cassirer im Prozess der Entäußerung von unmittelbaren Eindrücken durch Distanzierung und Reflexion hervorhebt, geht aber mit einer Verfestigung intersubjektiver Ordnungen einher, die gleichzeitig immer mehr individueller Erfahrungen und Eindrücke entbehren muss. Kunstwerken gelingt es, einen anderen Weg zu gehen: Statt Begrifflichkeit zu suchen und nach Eindeutigkeit zu streben, erzeugt Kunst Leichtigkeit und Beweglichkeit (vgl. Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, S. 314), indem sie das Geschaffene in seiner Vieldeutigkeit und in seinem Phänomencharakter bewahrt und würdigt. Gleichzeitig hat auch das Kunstwerk für Cassirer ein „Element von Rationalität“, das er näher bestimmt als „Rationalität der Form“ (Cassirer: Versuch über den Menschen, S. 257). Der Mensch kann sich in der ästhetischen Erfahrung an den Formen erfreuen, die er selbst hervorbringt. Die Formen werden als solche artikuliert und erfahrbar gemacht. Cassirer spricht in der symbolischen Form der Kunst von einer „Empfänglichkeit für das dynamische Leben von Formen“, die sich in einem „dynamischen Prozeß in uns selbst“ (ebd., S. 232) verwirklicht. Es ist gerade die Lebendigkeit des ästhetischen Raums, welche diesen gegenüber anderen symbolischen Formen auszeichnet. Wie auch immer sich das Verhältnis des Menschen zum Bild der Welt gestaltet, das er erzeugt – das unterscheidet für Cassirer letztendlich die symbolischen Formen und ihre Artikulationsstufen –, immer ist ein schon geformter und formender Wahrnehmungsprozess gemeint. Mit Cassirer gesprochen, möchte ich festhalten, dass sich in der Kunstform Tanz eine „Sinnerfüllung des Sinnlichen“ (Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis, S. 105) darstellt, indem sich eine Tanzbewegung, als „Sinnliches in der Art seines Daseins und Soseins“, zugleich als „Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt“ (ebd.). Somit wird
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in künstlerischen Tanzphänomenen die Wirklichkeit in Anschauungen der sinnlichen Formen gedeutet – produktions- wie wirkungsästhetisch. Im auf diesen Abschnitt folgenden tanzpraktischen Exkurs 3 zur Tanzperformance DARK MATTERS von Kidd Pivot Frankfurt RM werde ich diesen Gedanken anhand der Beschreibung von konkreten Tanzbewegungen und konzeptionellen Ideen der Choreographin Crystal Pite aufnehmen und veranschaulichen. Im Kunstwerk ist ein produktiver „Prozeß der Objektivierung“ (Cassirer: Versuch über den Menschen, S. 224f.) gegeben. Wir wenden uns reflexiv unserer eigenen Wahrnehmung zu, und unsere eigene produktive Tätigkeit im Medium formaler Gestaltung tritt in unser Bewusstsein. Dabei haben Objektivierungen in der Kunst einen nicht abzuschließenden Charakter. In ihrer Gegenständlichkeit öffnen sich Kunstwerke individuellen Wahrnehmungs- und Rezeptionsprozessen – und das gilt gleichermaßen für bildende wie für darstellende Künste. Wie alle Objektivationen in der Kunst, wartet auch die geformte Bewegung, die ein Tänzer auf der Bühne ausführt, auf Antwort (Cassirer: An Essay on Man, S. 29). Lauschke schildert den ästhetischen Raum, den Cassirer zu beschreiben sucht, als gekennzeichnet „durch das Ineinander von Ausdrucks- und Bedeutungsraum […], der im Kunstwerk zur Darstellung kommt“. Sie beschreibt die Darstellung der Kunst, „als Darstellung von Ausdruck“, als ein „Sich-selbst-Darstellen“.139 Ich habe in diesem Kapitel zu zeigen versucht, inwiefern ich im Tanz von einem Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung ausgehe. Indem der Ausdruck sich selbst tänzerisch darstellt und körperleiblich in tänzerischen Bewegungen objektiviert, wird er selbstbezüglich und zeigt die Abständigkeit des Menschen von sich selbst als unüberbrückbare Wirklichkeit, die sich in jeder Geste manifestiert. Hier offenbart sich, dass in der Kunst anstelle einer Extensivierung intersubjektiver Bedeutungszusammenhänge eine Intensivierung individueller Erfahrungen steht, in welcher der Mensch in besonderem Maße zu seiner Lebendigkeit in ein Verhältnis treten und sich selbst körperleiblich erfahren kann.
139 Vgl. Lauschke 2007, S. 263
T ANZPRAKTISCHER E XKURS 3 D ARK M ATTERS von Kidd Pivot Frankfurt RM (UA 2009) „Indem sich die Augenscheinlichkeit eines wirklichen Darstellers, der eine wirkliche Person spielt, zwischen den Zuschauer und die dargestellte Person schiebt, wird der scheinbar verringerte […] Abstand zur Figur wiederhergestellt, freilich nur in den Menschen selbst verlegt und als das Verhältnis des Menschen zu sich selbst entdeckt.“1 „What does the unknown look like as a dance? So, I thought of the shadow, and I thought of the character of the shadow as a way to […] give the unknown a kind of character, the quality of movement that it actually has on the ground: this kind of sliding, this very fluent quality, the sense of it being able to morph with any shape that it encounters. So I was looking for that kind of physicality, this combination of something that’s sharp and finite and very shape oriented to something that really flows and moves like water. So, we’ve been working on that kind of physicality.“2
Die Tanzperformance DARK MATTERS der in Vancouver und Frankfurt ansässigen Kompanie Kidd Pivot Frankfurt RM wurde 2009 im Mousonturm Frankfurt uraufgeführt. Für die zwei Akte, zusammen 120 Minuten, hat sich die Choreographin Crystal Pite von Kleists Ausspruch im Marionettentheater inspirieren lassen, dass Grazie entweder bei einem fehlenden, oder bei einem unendlichen Bewusstsein zu finden ist, in einer Marionette oder in einem Gott. Der 1. Akt erzählt, in Bildern von Kreation und Zerstörung, vom Unheimlichen und Unbekannten, die Geschichte einer „zum Leben erweckten“ Puppe und ihres Schöpfers. Akt 2 ist ein zeitgenössisches Tanzstück, das unter dem Eindruck des 1. Teils als Fortführung und Variation derselben Thematik wahrgenommen wird. Pite beschreibt, wie sie
1
Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, S. 411
2
Crystal Pite, einst Tänzerin des Ballet British Columbia und des Balletts Frankfurt, über FRONTIER, das sie 2008 für das Nederlands Dans Theater choreographierte und 2009 zu ihrem Tanzstück DARK MATTERS für ihre Kompanie Kidd Pivot
Frankfurt
RM
umarbeitete.
Vgl.
v=Yt-eVpG8MhI (letzter Zugriff 26.01.2013)
http://www.youtube.com/watch?
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von Bewegungsideen ausging wie „being puppeted, […] being moved by something that’s unseen, being danced”, und damit zu etwas anderem gelangt ist, „something that’s uniquely human and makes us think about what moves us.”3 Im 1. Akt wird eine ca. 45 cm große Gliederpuppe aus Holz im Stil des japanischen Bunraku von vier in schwarz gekleideten Mitgliedern der Kompanie an Stäben geführt. In Gesprächen nach den Performances unterstreicht die Choreographin immer wieder, dass keiner in der Gruppe vorher über irgendwelche Erfahrungen im Puppenspiel verfügte. Sie haben ihre eigene Puppe gebaut und sich selbst beigebracht, sie zu führen, indem sie ihr Wissen vom Körper, von der Schwerkraft, von Gelenken und von Bewegungsmustern eingebracht haben. Die Tänzerinnen und Tänzer bewegen als Puppenspieler gemeinsam diesen einen künstlichen Körper. Pite betont, sich auf Kleist beziehend, dass die Grazie der Marionette in ihrer puren Bewegung und dem völligen Fehlen eines Egos begründet ist. Und auch im 2. Akt nimmt die Choreographin Kleist wörtlich. Die menschlichen Tänzerinnen und Tänzer ahmen Marionetten nach, und dabei scheinen ihre Gliedmaßen wirklich lediglich Gesetzen der Schwerkraft zu folgen. Von einigen „windows of improvisation“ abgesehen, mit denen Pite eine „presence of the unknown“ in die Choreographie integriert, tanzt die Kompanie in Akt 2 so, als würde ein unsichtbarer Maschinist ihre Bewegungen manipulieren. Das letzte Duett des Stücks, in dem die Geschichte des Puppenspielers und seiner Gliederpuppe tänzerisch weitererzählt wird, stellt einen bewegenden Höhepunkt der zeitgenössischen Tanzkunst dar. Das Ende lässt den Zuschauer nicht los, denn es ist irritierend, vieldeutig und sublim. Im Anschluss an die Inszenierungsanalyse möchte ich besonders an dieser letzten Szene ausführen, warum gerade das Spannungsverhältnis von Ausdrucksund Darstellungsfähigkeiten der beiden Tanzpartner für diesen Eindruck verantwortlich ist.
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Crystal Pite über DARK MATTERS anlässlich des 7. Internationalen Festivals des zeitgenössischen
Tanzes
„Capturing
Emotions“;
Biennale
Channel
http://www.youtube.com/watch?v=YxJ-KNmbR-k&feature=related (letzter Zugriff 10.04.2014)
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Dark Matters Akt 1 „Prologue“ Ein Scheinwerfer beleuchtet den Boden und die Wand einer düsteren, altmodischen Werkstatt. Eine Lampe hängt über einem Tisch, an dem zwei Hocker stehen. Auf dem Tisch befinden sich Arbeitsskizzen und hölzerne Werkzeuge. Mechanische Geräusche (von Owen Belton) untermalen die Szene. Eine männliche Stimme aus dem Off (Christopher Gaze) beginnt, in englischer Sprache Verse aus Voltaires Gedicht „Poem on the Lisbon Desaster. Or an Examination of the Axiom ‚All is Well‘“4 zu rezitieren: „What is the verdict of the vastest mind? Silence: the book of fate is closed to us. Man is a stranger to his own research; He knows not whence he comes, nor whither goes. Tormented atoms in a bed of mud, Devoured by death, a mockery of fate. But thinking atoms, whose far-seeing eyes, Guided by thought, have measured the faint stars, Our being mingles with the infinite; Ourselves we never see, or come to know. This world, this theatre of pride and wrong, This frail construction of quick nerves and bones Cannot sustain the shock of elements; This temporary blend of blood and dust Was put together only to dissolve.”
Von der linken Seite tritt ein Mann auf die Bühne (Peter Chu), setzt sich auf einen Hocker und vertieft sich in seine Arbeit. Während der Scheinwerfer von links nach rechts schwenkt, sieht man schemenhaft, wie eine schwarze Gestalt seine Hände nimmt, auf dem Tisch platziert und dann auf der linken Bühnenseite verschwindet. Mehrmals verändern sich Lichtver-
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Gedicht über das Erdbeben von Lissabon, jene verheerende Katastrophe von 1733, welche die Stadt dem Erdboden gleich gemacht hat und deren Zerstörungskraft Philosophen und Dichter gleichermaßen erschüttert und inspiriert hat.
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hältnisse und Raumpositionen, so dass Stunden oder Tage zu vergehen scheinen. Der Mann baut an einer kleinen hölzernen Gliederpuppe, und seine „Schöpfung“ nimmt immer mehr an Gestalt an. Er befindet sich in der Mitte der Bühne und hält in seinen Händen zwei hölzerne Beine, mit Eisenscharnieren, die wie Gelenke funktionieren. Er probiert sie aus, beugt die Beine und hebt sie, wie im Sprung, an. Was wir sehen, ist eine ideale Sprungtechnik des klassischen Balletts: Im plié befinden sich die „Fersen“ auf dem Boden, und im Sprung sind Beine und Füße perfekt gestreckt – und das lediglich bewerkstelligt durch die Schwerkraft der leblosen Glieder. In der nächsten Einstellung hält der Mann seine vollendete Puppe in den Händen und hält sie unter die Lampe. Das Licht geht aus. „The puppet walks” Der Scheinwerfer beleuchtet die Mitte der Bühne, wo der Mann auf dem Boden sitzt und die Gliederpuppe vor ihm steht. Die Puppe wird jetzt, im Stil des japanischen Bunraku, von vier Personen in Ganzkörperanzügen aus schwarzem Samt an Stäben geführt. Der Mann bewegt die Beine der Puppe und bringt ihr das Laufen bei. Bald kann sie die Bewegungen ohne seine Hilfe ausführen. Sie imitiert sogar die Gesten ihres Schöpfers. Was folgt, ist ein zeitgenössisches pas de deux zwischen Mann und Gliederpuppe. Sie schiebt sein Bein zur Seite und beginnt, darauf zu laufen. Er hebt sein Bein ein wenig und legt sich auf den Bauch, damit die Puppe über seinen Rücken laufen kann. Er steht auf und trägt die Puppe wie ein Kleinkind auf seinen Schultern. Dann legt er seine Hände unter ihre Füße und lässt sie auf seinen Händen stehen (Abb. 10). Abb. 10
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Die Puppe wird von ihrem Schöpfer in die Luft katapultiert und fliegt mehrmals wie in Zeitlupe durch den Raum, als würden für sie eigene Gesetze der Schwerkraft gelten. Nach dem letzten Sprung landet sie so, dass sie ihrem Erschaffer bei der Landung um den Hals fällt. Unangenehm berührt, lässt er die Puppe auf den Boden herunter, läuft langsam ein paar Schritte weg von ihr und betrachtet sie. Sie hebt ihre Arme und geht auf ihn zu, wie ein Kleinkind auf seinen Vater. Sie fällt vor ihm auf die Knie und legt in einer Geste der Demut ihren Kopf auf seine Füße. Es wird dunkel. In den folgenden Szenen beginnt die Puppe immer eigenwilliger, sogar aggressiv zu werden. Sie provoziert ihn, indem sie, wie ein Insekt, die Wand seiner Werkstatt hochklettert, als er gerade das Haus verlassen will. Sie hält seine Beine fest, als wollte sie ihn ärgern. Ein Tritt schmettert sie in eine Ecke des Raums. Konsterniert und traurig sitzt sie auf dem Boden. Der Anblick weckt sein Mitgefühl. Er zieht seine Jacke wieder aus und nimmt die Puppe auf den Arm. Aber die Harmonie währt nicht lange. In der folgenden Szene wirft sie seine Arbeitsmaterialien auf den Boden, schaukelt auf der Hängelampe und terrorisiert ihn. Er schlägt die Hände über seinem Kopf zusammen und scheint mit der Situation überfordert zu sein. Wieder Dunkelheit, auf die eine Szene folgt, in der er auf Pappe eine Axt malt. Er hält seine Skizze unter der Lampe hoch, so dass das Publikum sie sieht und ahnt, was er vorhat. Dann tritt die Puppe auf die Bühne. Sie fordert ihn heraus und rüttelt an einer der Stellwände. Er ignoriert sie, so dass sie es noch einmal versucht, diesmal heftiger. Die Wand kippt, so dass der Mann aufstehen und sie wieder hinstellen muss. Er packt wütend die Puppe, drückt sie zu Boden und greift sich einen Hocker, den er auf sie stellt, so dass sie sich windet, aber erst einmal nicht befreien kann. Er geht zurück an seinen Schreibtisch, greift sich eine Schere und schneidet weiter die PappAxt aus. „The puppet escapes” Die Gliederpuppe befreit sich, und die beiden kämpfen miteinander. In der Luft bereitet sie einen Kung-Fu Tritt vor, springt (in grand jetés) auf ihren Schöpfer zu und bringt ihn zu Boden; sie schlägt und würgt ihn. Er befreit sich aus ihrem Griff und tritt sie, so dass sie zu Boden geht, und mit ihr fallen auch die vier Puppenführer um. Samt Gliederpuppe verschwinden diese über die linke Bühnenseite. Der Mann nutzt die Zeit und humpelt zum Schreibtisch, um seine Axt zu holen, dessen Schneide er mithilfe eines
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Messers mit Rillen versieht. Plötzlich taucht die Puppe wieder auf, sie fliegt durch den Raum. Der Mann schlägt mehrmals mit der Axt nach ihr, aber seine Schläge gehen daneben. Er rammt die Axt versehentlich in den Boden und fällt, bei dem Versuch, sie wieder aus dem Boden zu ziehen, auf seinen Rücken. Die Puppe nutzt die Zeit und greift nach der Schere (von einem Puppenführer an die Hand der Puppe gehalten). Dann setzt sie sich auf die Brust des Mannes und sticht vier Mal zu, bis er reglos auf dem Boden liegt. Das Scheinwerferlicht färbt den Boden blutrot. Abb. 11
Entsetzt über ihre Tat, entfernt sich die Puppe von ihrem Opfer. Sie greift sich an den Kopf und kniet auf dem Boden. Schließlich legt sie sich neben ihn, in dieselbe Position. Die Puppenführer legen die Stäbe ab und verlassen die Bühne (Abb. 11). „End of the puppet show” Die Musik stoppt, es wird hell, und die schwarzen Gestalten werden deutlich sichtbar. Einer von ihnen bleibt an einer Stellwand stehen. An dieser Stelle erledigen die anderen Aufgaben, die im traditionellen japanischen Theater dem Kuroko (黒子, wörtlich übersetzt „schwarze Person“ oder „schwarze Kleidung“) zustehen: Als Bühnenarbeiter entfernen sie alle Requisiten, da sie im zweiten Akt nicht mehr benötigt werden. Aber anders als im Kabuki Theater, wo die schwarze Kleidung impliziert, dass der Kuroko nicht Teil der Handlung ist und „unsichtbar“ bleiben soll, ist die Aufmerksamkeit der Zuschauer ganz auf sie gerichtet. Langsam baut sich ein po-
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chendes Geräusch auf. Die Gestalt, die an der Stellwand stand, greift sich die Schere, die noch neben dem Mann liegt, und geht auf die Rückwand zu. Ihr Körper wirft einen deutlich sichtbaren Schatten an die Rückwand. Sie macht erst eine Geste, als würde sie jemandem die Schere in den Körper stoßen, dann wiederholt die Gestalt die Geste so, als würde sie sich selbst erstechen. Jetzt scheint ihr Körper sich im Schatten zu transformieren, dann zu replizieren, wenn von rechts jetzt mehrere Schatten auftauchen. Einer hält ein Banner hoch, auf dem „THIS IS FATE“ zu lesen ist. Der hintere Teil des Banners fällt herunter und wird aufgehoben. Im flackernden Licht ist jetzt aber „THIS IS FAKE“ zu lesen. Nachdem die Szene sich dramatisch zuspitzt und stoßartig immer wieder neue Schattenbilder der Wesen an der Wand erscheinen, geht plötzlich das Bühnenlicht an, als sei die Auführung vorbei. Die Musik ist aus, und die anderen drei schwarzen Gestalten kommen wieder auf die Bühne. Einer wischt die Bühne mit einem Besen und bringt das Publikum damit zum Lachen. Die Gestalten ziehen gemeinsam den Puppenbauer von der Bühne. Als sie die Puppe ebenfalls von der Bühne ziehen wollen, kippt die linke Stellwand. Die Wesen beginnen, sich zu zanken, theatralisch im Kung Fu-Stil wie Ninjas miteinander zu kämpfen, begleitet von Geräuschen, die ihren Handlungen ein komisches Element geben. Eines von ihnen bleibt stehen und führt, begleitet von künstlichen Geräuschen, Kampfschritte aus, die, wie von unsichtbarer Hand, die anderen Wesen auf der Bühne synchron treffen und zu Fall bringen. Plötzlich löst sich eine Wand wie herunter blätternder Stoff von einer Stellwand, und hinterlässt nur noch einen blechernen Rahmen, der auf den Boden kracht. Das gesamte Bühnenbild fällt in einem Chaos in sich zusammen und gibt sich als künstlicher Raum zu erkennen. „Post disaster” und „Duet with the shadow” In der Dunkelheit erscheint erneut ein Scheinwerferlicht, welches über den Bühnenboden fährt, während die männliche Stimme wieder Verse von Voltaire spricht. In den Trümmern erkennt man den Arm von Chu, der unter einer Plane hervorschaut, während mehrmals Schatten durch das Scheinwerferlicht huschen. Eine Gestalt tritt heraus, kniet sich hin, greift langsam nach Chus Hand und zieht ihn unter der Plane hervor. Dieser liegt zunächst reglos auf dem Boden. Dann setzt der Schatten ihn auf, stellt einen seiner Füße auf den Boden und zieht ihn hoch. Es folgt ein Duett zwischen dem Mann und „seinem Schatten“, die manchmal unterschiedlich, manchmal
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synchron tanzen, als handelte es sich wirklich um Chu und seinen Schatten (Abb. 12). Nach wie vor scheinbar fremdgesteuert, geht der Mann mit ein paar marionettenartigen Schritten von der Bühne. Die Gestalt holt unter den Trümmern ein anderes schwarzes Wesen hervor, trägt es bis zur Bühnenmitte und lässt es mit einem lauten Krach auf eine Stellwand aus Metall fallen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das aufgeschreckte Publikum es für einen Menschen aus Fleisch und Blut gehalten. Das Licht geht aus. Abb. 12
Akt 2 „Intermission“ und „Rest of cast enters“ Während das Publikum nach der Pause wieder den Saal betritt, liegt eines der schwarzen Wesen auf dem Boden und bewegt sich, zunächst zur Geräuschkulisse der eintretenden Zuschauer. Sobald alle sitzen, huscht es von einer Bühnenecke zur anderen, krabbelt auf dem Boden; es wirkt gelegentlich so, als versuchte es, mit seinem eigenen Schatten zu verschmelzen. Am hinteren Rand der Bühne bleibt es stehen, und vor dem dunklen Hintergrund sieht man lediglich seine Füße auf dem weißen Boden. Von den Bühnenecken treten vier Tänzer (Eric Beauchesne, Chu, Yannick Matthon und Jermaine Spivey) und eine Tänzerin (Cindy Salgado) auf. Sie laufen aufeinander zu und bleiben kurz reglos voreinander stehen. Dann machen sie eine schnelle Bewegung und drehen Beauchesne auf den Kopf (Abb. 13). Sie verbleiben einen Moment in dieser Position und lösen das Gebilde wieder auf – „tormented atoms“, eine „frail construction“, „put together only to dissolve“.
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Abb. 13
Jetzt beginnen sie zu tanzen, bewegen sich mal gegenseitig, mal scheinen sie alle von derselben unsichtbaren Kraft mobilisiert. Diese löst wie eine Welle einen Bewegungskanon aus. Dann wirft sie alle Tanzenden gleichzeitig zu Boden oder lässt sie synchron eine Geste ausführen, als seien sie Marionetten desselben Spielers. Immer wieder halten sie kurz inne und nutzen dann einen neuen Impuls, um sich gemeinsam in Bewegung zu setzen. Die Stille macht es möglich, Geräusche zu hören, die ihre Körper verursachen, wenn sie über den Boden rutschen oder nach einem Sprung landen. Plötzlich donnert es laut. Alle außer Chu bewegen sich gleichlaufend, während er in einer Körperhaltung verharrt, die alle anderen beim nächsten Donner auch einnehmen. Die zeitgenössischen Bewegungssequenzen zeigen an manchen Stellen Elemente des klassischen Balletts, wie arabesques, sautés oder pirouettes, die virtuos und hyperbeweglich ausgeführt sind. An anderen Stellen geben die Tanzenden der Schwerkraft nach, heben und stützen sich gegenseitig wie in der Kontaktimprovisation. Es gibt oft Momente, in denen ein Tänzer sich ohne Hilfe aus einer Position auf dem Boden nach oben in den Stand ziehen kann, was fast unmöglich erscheint. Das verstärkt die Illusion eines unentdeckten Bewegers und wirkt tänzerisch bisweilen fast artistisch. Die Musik wird, trotz der Donnergeräusche, immer melodischer und der Tanz immer dynamischer. Dann bewegt sich der schwarze Schatten, der an der Bühnenseite stand, in normalem Schritttempo auf die Tanzgruppe zu, die sich in dieser Zeit aus einem curve nach vorne in Zeitlupe in eine gerade Position hochrollt, geht durch die Gruppe durch und verlässt die Bühne auf der rechten Bühnenseite. Das
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Verschwinden des Schattens löst bei der gesamten Gruppe eine längere synchron getanzte Bewegungssequenz aus, die nur an manchen Stellen von kleinen solistischen Eigenheiten durchsetzt ist (Abb. 14). Abb. 14
„Solo Y“ Matthon bleibt zurück, legt sich an die rechte Bühnenseite und verharrt auf dem Boden. Das Licht eines Scheinwerfers, der neben ihn auf die Bühne geschoben wird, und eine Melodie setzen ihn in Bewegung. Er greift sich an den Kopf, wird, stark verlangsamt, auf den Boden geworfen, bewegt selbst seine Beine in die richtige Position, als würde ein Teil seines Körpers zu einem anderen Lebewesen gehören, oder als sei er gelähmt. Er streicht sich hektisch etwas aus dem Kopf, als versuchte er, eine fremde Macht abzuschütteln, und reibt sich die Augen. Dann bewegt er sich, begleitet von sphärischen Klängen, wieder in geschmeidigen Bewegungen über die Bühne. Die Musik stoppt, und auf der rechten Seite erscheinen Cindy Salgado und eine schwarze Figur, die sie an einer Hand hält. Salgado beginnt, wie im ersten Akt die Gliederpuppe auf den Händen von Chu, einen Schritt nach dem anderen auf Matthons Hand, Rücken oder Brust zu laufen, gestützt von einem Puppenführer. Ohne Stütze gelingt es Salgado, auf Matthons Rücken zu balancieren, während dieser sich in den VierfüßlerStand aufrichtet. Der Schatten verlässt die Bühne. Matthon und Salgado tanzen ein lyrisches Duett. Ein Scheinwerfer bewegt sich, wie von Geisterhand, zur linken Seite. Die beiden tanzen weiter, bis sie anfängt, mit langsamen Schritten zur linken Bühnenseite zu gehen, während er sie hält und
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führt und sie sich auf seinem Kopf abstützt. Schlagartig dreht sie sich zu ihm um und fasst mit beiden Händen an sein Knie, während er ruckartig die Hände vor ihr wegzieht. Sie verharren einen Moment in dieser Pose, die an die Sequenz erinnert, in der die Gliederpuppe eigenwillig wurde und ihrem Erschaffer trotzig gegenübergetreten ist. Er schickt eine Wellenbewegung durch seinen Körper, bei der sie sich von seinem Körper löst und stehen bleibt. Matthon geht über die Bühne zur rechten Seite, während sie ihm folgt. Als er nicht mehr zu sehen ist, befindet sich wieder eine schwarze Gestalt hinter Salgado, die ihre Bewegungen imitiert, als sei sie ihr Schatten. Die Tänzerin bleibt stehen und dreht sich vorsichtig zum Schatten um, der mit einer ruckartigen Bewegung an ihr vorbei läuft und im Dunkeln verschwindet. Das Licht flackert, während sie sich wieder zu dem Schatten umdreht, der hinter ihr vorbeihuscht. Sie zuckt wiederholt verängstigt zusammen. Dann geht das Licht aus. „Paper Quartet“ Salgado geht ein paar Schritte, dann kommen von unterschiedlichen Bühnenseiten Beauchesne, Chu und Spivey auf die Bühne, und die vier tanzen ein Quartett, das an vielen Stellen an Forsythes (N.N.N.N.) erinnert, vor allem, was den Körperkontakt am Kopf sowie dynamische Positionswechsel und einen ähnlichen Bodenteil betrifft, und damit auch als Zitat des Zitats der vier kleinen Schwäne interpretiert werden kann (Abb. 15). Abb. 15
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Während sie tanzen, trägt eine schwarze Gestalt eine Bahn aus Papier auf dem hinteren Teil der Bühne von der linken zur rechten Seite, während ein „Papierkruscheln“ zu hören ist. Man erinnert sich an die Wände in der Werkstatt des Puppenbauers, die wie ein papierenes Kartenhaus in sich zusammenfielen und das Desaster auf der Bühne einleiteten. Dann stellen sich die vier in einer Konstellation auf, in der Chu ganz links und Spivey ganz rechts steht. Sie wirken jetzt, besonders durch die unnatürliche Armund Körperhaltung der beiden Seiten, wie eine Maschine. Spivey initiiert viermal eine Bewegung, untermalt von Industriegeräuschen, und sie scheinen jedes Mal durch die anderen beiden Körper, die in Ruhe bleiben, Chu zu erreichen, der mit Bewegungen antwortet. Dann bewegt sich Spivey so, dass er den Körper von Salgado trifft, die neben ihm steht, diese wiederum in einer Kettenreaktion Beauchesne und er Chu, der durch die „Wucht“ der Bewegung von der Gruppe weggeschleudert wird. Beauchesne fällt auf seinen Rücken. Die Maschinengeräusche, die in den kommenden Sequenzen dieser Szene die Bewegungen der Tanzenden begleiten, lassen die Körper einerseits anorganisch wirken, andererseits wirken viele Bewegungen so weich, dass auch das Organische spürbar wird und zu dem Soundtrack einen irritierenden Kontrast bildet. Spivey springt überraschend nach hinten und wird von Matthon (er hat kaum merklich ebenfalls die Bühne betreten) so aufgefangen, dass er – wie die Marionette, die sich im ersten Akt gewunden hat, als sie von Chu festgehalten wurde – mit seinen Gliedern zappelt. Die beiden manipulieren, wie in einem körperlichen Dialog, abwechselnd tänzerische Gesten des anderen, während rhythmische Industriegeräusche zu hören sind. Plötzlich scheint sie etwas gewaltsam auseinander zu treiben, so dass sie den Körperkontakt lösen und gleichzeitig wie von einem Schlag getroffen werden, federn und dann auf dem Bauch liegen bleiben. Es klirrt und knackt. Dann ertönt wieder ein metallenes Geräusch, und beide Körper werden scheinbar wieder getroffen, federn auf den Rücken und bleiben wieder liegen. Chu und Beauchesne, die ebenfalls zu sehen sind, werden von diesen „Schlägen“ in keiner Weise beeinflusst, sie bleiben regungslos stehen und beobachten die Szene. Dasselbe passiert ein drittes Mal; diesmal rollt Matthon auf Spivey. Dieser windet sich und bringt den willenlos wirkenden Körper Matthons damit auf die Füße. Jener torkelt, fällt wieder zurück und landet auf Spivey. Jetzt sieht ihr Körperkontakt fast wie ein Kampf aus, bei dem sich beide auf die Füße bringen. Sie schnellen auseinander, kommen wieder zusammen.
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„Group Transition 1“ Dann kommen alle anderen, Beauchesne, Chu, Salgado und ein Schattenwesen, zu den beiden, so dass sie zu sechst auf der Bühne sind. Zunächst bewegt sich nur Matthon, als würde er von unsichtbaren Fäden gezogen. Spivey liegt auf dem Boden, und die anderen schauen ihn ruhig stehend an. Dann greift er, auf dem Bauch liegend, nach Spiveys Füßen und löst bei diesem eine Wellenbewegung durch den Körper aus, die alle anderen Tänzer und Salgado in Bewegung versetzt. Oft hängt die ganze Gruppe wie eine Kette in verschiedenen Formationen zusammen, und wenn ein Impuls von einer Seite kommt, zieht sich die Dynamik durch alle Körper, wie in einer elektrischen Leitung. Sie erscheinen als Gefüge, das immer wieder, ohne musikalische Untermalung, seine Form wechselt. Dann trennt sich die Gruppe, und alle außer Chu und Beauchesne liegen verteilt auf den Bühnenecken. Ein lauter Donner, mit dem gleichzeitig auch eine dramatisch pulsierende Melodie einsetzt, ‚schlägt‘ scheinbar auf alle Körper ein; sie winden sich und verlassen die Bühne. Die Geräusche, auf die Chu und Beauchesne sich bewegen, klingen wie ein mechanischer Herzschlag. Sie heben sich gegenseitig, stützen sich und beeinflussen mit ihren Bewegungen die des anderen. Irgendwann liegen beide mit Körperkontakt auf der rechten Bühnenseite auf dem Rücken. Die Lichtverhältnisse verändern sich. Es wird dunkler. Salgado tritt auf und läuft von der linken Seite auf die Mitte der Bühne. Beauchesne und Chu sind indessen aufgestanden. Das Licht geht aus. „Solo C“ Es donnert, und die Bühne erhellt sich etwas. Salgado tanzt wie fremdgesteuert, zuckt manchmal bei Donnergeräuschen zusammen und fasst sich verängstigt mit beiden Händen an den Kopf. Es wirkt bisweilen so, als lösten ihre Bewegungen die schallenden Geräusche aus. Sie macht mit ihrem Körper eine Wellenbewegung, während gleichzeitig ein Ächzen und Knattern zu hören ist, als bestünde ihr Körper aus einem anorganischen Material. Sie wird durch die Luft geschleudert, umgeworfen, landet im Kopfstand mit einem Bein in der Luft, richtet sich wieder auf. Das Licht flackert, geht dreimal aus, beim dritten Mal sieht es so aus, als wäre ein großer, unförmiger und bedrohlich wirkender Schatten mit ihr auf der Bühne. Dann wird es wieder dunkel.
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Jetzt sieht man auf der rechten Bühnenseite weiter hinten den Tisch, an dem im ersten Akt der Puppenbauer gearbeitet hat, mit dessen Habseligkeiten. Eine schwarze Gestalt steht dahinter und durchsucht diese nacheinander: das Jackett, das T-Shirt. Gleichzeitig werden auf der linken Seite Chu und Spivey sichtbar, die meistens synchron zur hörbaren Melodie tanzen. Einige Bewegungen entstammen dem Breakdance, wie Körperwellen oder Roboterbewegungen, andere dem klassischen Ballett, wenn die beiden springen, oder im renversé eine attitude machen. Sie werden gleichzeitig hin und her gewirbelt, und ihre Gliedmaßen geben wie Pendel der Schwerkraft nach, dann stolpern sie gleichzeitig und fangen sich wieder. Jetzt ist jeder für sich. Sie bleiben zunächst einige Sekunden reglos liegen und bewegen sich dann aufeinander zu und tanzen wieder unisono. Sie stehen auf und schauen zur rechten Bühnenseite. Nach einiger Zeit werfen sie gleichzeitig ihre Köpfe nach hinten, als hätte etwas sie gestoßen, und ändern ihre Blickrichtung. Erst wirken sie wie Maschinen, dann scheint die fremde Macht sie loszulassen, so dass sie auf den Boden fallen und durch den Schwung nach rechts rutschen. Ein lautes Rauschen lässt die beiden aufschrecken. Sie richten sich auf. Mehrmals winden sie sich synchron rhythmisch, und man hört dabei ihren Atem und ihre Körpergeräusche. Sie kommen jetzt in einen Bewegungsfluss, springen temps levés und drehen sich, bis sie schließlich mit slides in die rechte Bühnenseite rutschen. „Solo E“ Indessen sind Salgado, Beauchesne und Matthon dazu gekommen und rutschen gleichzeitig mit ihnen nach rechts. Die Kraft wirkt auf alle gleichermaßen ein. Sie liegen einen Moment ruhig auf dem Boden, dann werden sie ruckartig zum Stehen gebracht. Alle außer Beauchesne werden durch die unsichtbare Kraft zur linken Bühnenseite geschleudert und bleiben liegen. Während Beauchesne kurze kraftvolle Bewegungen ausführt, die er akustisch mit seinem Mund begleitet, reagieren die anderen manchmal so, als würden sie von einem Seil gezogen werden, dem ihre Körper in sehr natürlicher Art und Weise nachgeben. Einen Augenblick später sind die anderen in ihren wenigen Bewegungen sehr synchron, während Beauchesne, der jetzt nur noch selbst die Geräusche verursacht, zu denen er sich bewegt, weiter sein Solo tanzt. Chu, Matthon und Spivey gehen rechts ab. Salgado bleibt noch länger auf der Bühne stehen und beobachtet reglos Beauchesne, der mit den Zischlauten, die scheinbar seine Bewegungen verursachen, wie
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etwas Anorganisches wirkt, das sich bewegt. Daraufhin macht er plötzlich Kung Fu-Bewegungen, in die Salgado zunächst synchron zu ihm einstimmt. Dann entwickelt sich daraus ein pas de deux. Als die Musik sich verändert und eine Melodie ertönt, hebt der Tänzer die Tänzerin, und sie wirkt wie seine Marionette. Im Anschluss daran wechseln die Rollen wieder. Schließlich wird es dunkler, Salgado und Beauchesne gehen ab. „Aura“ Links auf der Bühne wird das Profil einer Schattengestalt sichtbar, die zur rechten Seite gedreht ist. Rechts ist wieder der Tisch erschienen, der dem Puppenbauer gehört. Jetzt steht dieser neben dem Tisch, zieht seine Hose, sein Hemd und seine Krawatte an. Er setzt seine Brille auf. Dabei wird sein Schatten an die Wand geworfen. Die schwarze Gestalt geht in seine Richtung und beginnt, nach seinem Schatten zu greifen (Abb. 16). Der Mann scheint etwas Unheimliches zu spüren. Er hält inne, geht dann langsam, von Scheinwerferlicht verfolgt, zur linken Bühnenseite. In einem Moment, kurz bevor er die Bühne verlässt, wirft er selbst Schatten und wendet sich der schwarzen Gestalt zu, die sich inzwischen auch zu ihm umgedreht hat. Dann geht er ab. Abb. 16
Die Schattenfigur windet sich, beugt sich nach links, als wollte sie noch immer den Puppenbauer erfassen. Plötzlich hört man ein lautes Knarren, als würde eine Tür aufgehen, aber das Geräusch wird rhythmisch und setzt sich fort. Chu betritt wieder die Bühne. Er wirft sein Jackett und seine Krawatte
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zur Seite, krempelt die Ärmel seines Hemds nach oben und beginnt zu tanzen. Die schwarze Gestalt verlässt rückwärts rechts die Bühne. Chu bewegt sich hypermobil mit fließenden Bewegungen zu den Geräuschen (Abb. 17). Abb. 17
Manchmal scheint er, akustisch untermalt, von einem Schuss getroffen zu werden, und sein Körper reagiert auf den Aufprall. Jetzt ist wieder ein Pulsschlag zu hören. Im Sitzen wird er umgeworfen, umgedreht, wieder aufgesetzt. Das wiederholt sich, und seine weichen Glieder geben federnd nach. Er richtet sich auf und blickt auf seine Hände. Dann wird der Puls immer schneller. Wir sehen, dass er seinen Mund bewegt, als wollte er etwas sagen, während sein Körper immer hektischer auf die Geräusche reagiert. Von hinten taucht eine schwarz gekleidete Gestalt auf, die sein Jackett trägt und ihm hineinhilft, während seine Bewegungen wieder fließender und ruhiger werden. Mit wenigen leichten Berührungen bringt sie ihn dazu, sich zur rechten Bühnenseite zu bewegen. Das Geräusch, das jetzt hinzutritt, erinnert an Soundeffekte, die in Science Fiction Filmen verwendet werden. Chu strauchelt, bewegt sich in Breakdance-Bewegungen weiter nach rechts. Dann zieht die schwarze Gestalt ihm sein Jackett wieder aus und geht damit ab. Er fällt und bleibt liegen – mit seinem Kopf und einem Knie im Boden, die Arme seitlich angehoben.
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„Head Quartet“ Salgado, Beauchesne und Spivey treten von rechts hinten auf und heben Chu nach oben. Es beginnt ein harmonisches pas de quatre, in dem sie ihr Körpergewicht aneinander abgeben, sich stützen und heben. Dann bleiben alle in ihrer Position auf dem Boden liegen, während langsam ein großer schwarzer gestaltloser Schatten von der linken zur rechten Seite die Bühne verdunkelt. Sobald er weg ist, tanzen sie in unterschiedlichen Formationen weiter. Eine schwarze Schattengestalt kommt von rechts dazu, und während alle im Körperkontakt sind, sorgt sie durch eine Verbindung zu den vieren dafür, dass alle nach vorne fallen. Jetzt kommt auch Matthon auf die Bühne, so dass die ganze Kompanie miteinander tanzt, erneut Ketten und Formationen bildet, die gleich wieder aufgelöst werden. Ein wenig später bewegen sich immer nur bestimmte Gruppierungen, während die anderen bewegungslos bleiben. Dann tanzen wieder alle gemeinsam, wobei ihre Körper selbst Schatten werfen und es manchmal so wirkt, als würden diese mittanzen (Abb. 18). Abb. 18
Der Schatten auf der linken Seite auf dem Boden, der wirklich wie ein Schatten eines Tänzers wirkt, steht nach einem Positionswechsel auf und gibt sich als die Schattengestalt zu erkennen. Plötzlich bleiben alle stehen. Nur die schwarz gekleidete Person bewegt sich auf die Gruppe zu, von unheimlichen unverständlichen Sprechlauten aus dem Off begleitet.
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„Solo J“ Außer der Schattengestalt und Spivey gehen alle ab. Die Sprechlaute haben aufgehört. Während Spivey zunächst regungslos mit dem Rücken zu Pite dasteht, gestikuliert diese hinter seinem Rücken mit Armen und Beinen herum. Ein Geräusch veranlasst sie, ihm einen berührungslosen Schlag in den Rücken zu verpassen. Mit kurzer zeitlicher Verzögerung erreicht dieser seinen Körper. Er torkelt und hat keine Gewalt mehr über seine Glieder, die von einer Seite zur anderen pendeln. Er beginnt, sich so zu bewegen, als sei sein Körper anorganisch. Die Musik hat aufgehört, und es ist wieder Gazes Stimme zu hören, die aus dem Off zu Spiveys Bewegungen wiederholt Voltaires Gedicht zitiert: „This frail construction of quick flesh and bones…“ Während die Stimme weiterspricht, steht die schwarze Gestalt an der rechten Bühnenseite und betrachtet reglos den Tänzer. Spiveys klassische Sprünge führt er mit nur wenig Anlauf erstaunlich virtuos und kraftvoll aus, als würde er wirklich von einer unsichtbaren Macht bewegt (Abb. 19). Abb. 19
Die spannungsvolle Musik begleitet jetzt den Sprecher. Sobald dieser seine Rezitation beendet hat, verlässt die fremde Macht Spivey. Er richtet sich auf und geht rechts von der Bühne. Die Schattengestalt geht in moderatem Tempo zur linken Bühnenseite und fängt an, die schwarzen Handschuhe auszuziehen. Pite bewegt ihre Hände und wirkt, trotz des schwarzen Anzugs, sehr menschlich. Sie wirft die Handschuhe links in den Seitenbereich der Bühne, wo sie nicht mehr zu sehen sind. Jetzt macht sie, völlig ohne musikalische Untermalung, die schwarze Kapuzenjacke auf und zieht sich,
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den Rücken zum Publikum, die Kapuze vom Kopf, so dass ihre blonden Haare sichtbar werden, die sie kurz sehr natürlich mit ihren Fingern herrichtet. Sie dreht sich etwas seitlich nach rechts und wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. Dann zieht sie die Kapuzenjacke und ein schwarzes Band am Arm aus und wirft sie ebenfalls an die Bühnenseite. Sie trägt hautfarbene Unterwäsche, die dann gänzlich zu sehen ist, wenn sie sich auch die schwarze Hose auszieht und sie nach links wirft. Sie setzt sich auf den Boden und zieht ihre Socken aus, die auch an der Bühnenseite landen. Dann zieht sie in Ruhe ihre hautfarbenen Knieschützer in Form. „Duet“ Während Pite auf dem Boden sitzt, tritt plötzlich Chu von links auf die Bühne, legt seine Hand zärtlich auf ihre Schulter und kniet sich zu ihr hin. Ihr Ausdruck ändert sich, sobald er sie berührt. Man hat das Gefühl, sie sieht mit ihren zurückgebundenen Haaren und der hautfarbenen Kleidung nicht nur aus wie die Gliederpuppe aus dem ersten Akt, sondern verwandelt sich auch in sie. Der Tänzer nähert sich ihrem Kopf mit seinem und beginnt, ihren Oberkörper etwas nach hinten zu drücken, wodurch er eine Bewegung in ihren Beinen erzeugt. Er gibt wiederholt einen Druck auf ihren Oberkörper, sie zieht die Beine an. Chu fängt an, ihre Beine zu bewegen, ähnlich, wie er es bei der Puppe getan hat, als er ihr das Laufen beibringen wollte. Von dem Moment an, in dem das Publikum Pite wirklich mit der Gliederpuppe identifiziert, wird Eric Whitacres Acapella-Choral „Sleep“ eingespielt, welcher den musikalischen Hintergrund dieses letzten Stücks der Tanzperformance bildet und ganz gespielt wird. Weil Chu immer wieder ihr Brustbein berührt und sie dazu bringt, in ein arch und wieder zurück zu gehen (also das Brustbein in Richtung Decke zu ziehen), bekommt man leicht den Eindruck, er wolle sie (re-)animieren. Dann legt er beide Hände unter ihren Rücken und drückt sie in eine Standposition (Abb. 20).
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Abb. 20
Sie torkelt, aber er stützt sie, so dass sie nicht fällt. Sie lernt das Laufen. Er hebt und trägt sie. Die Bewegungen wirken intim und innig. Pites unschuldiger Ausdruck trägt noch dazu bei. Nachdem die beiden einen Moment auf dem Boden sitzen und sich intensiv anschauen, bietet er ihr seine Hand an, damit sie darauf laufen kann. Sie legt ihren Fuß darauf. Die Interaktionen werden komplexer. Er legt sich auf den Boden, und wir sehen, dass auch sie ihn bewegen kann. Aus einiger Entfernung gibt sie sich den Anschein, über seinen Körper zu streifen, und er reagiert entsprechend mit einer Körperwelle. Wenn sie die Hand etwas hebt, sieht es so aus, als hätte er einen Faden an seiner Brust, und sie sei seine Marionettenspielerin. Jetzt steht Chu wenige Meter von Pite entfernt und beobachtet ihre vorsichtigen, marionettenartigen Schritte. Sie nähert sich ihm und berührt mit ihrem Kopf seine Brust. Er umfasst mit beiden Händen ihren Kopf, dann sie seinen, und als sie mit beiden Armen nach ihm greift, geht er in ein plié, so dass sie ins Leere fasst. Aber er umschlingt gleichzeitig ihren Körper und wirbelt sie durch die Luft. Sie tanzen beide wieder miteinander. Er hält ihren Arm, während sie sich stark nach hinten beugt. Dann rutscht sie weg und torkelt nach hinten. Er läuft ein paar Schritte in ihre Richtung, umfasst ihren Kopf und küsst sie auf den Mund. Erschreckt hebt sie ihre Arme zur Seite, dann gibt ihr Körper nach, ohne dass sie ihren marionettenartigen Ausdruck verliert. Sie legt ihren Kopf auf seine Schulter, und beide tanzen eng umschlungen und stützen sich gegenseitig. Es sind viele kleine Lichter aufgegangen; es sieht so aus, als tanzten die beiden unter Sternenlicht. Der Text des Chorals verstärkt diesen Eindruck: „The evening hangs beneath
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the moon, a silver thread on darkened dune…“ Ihre Bewegungen werden raumgreifender und dynamischer. Dann bewegen sie sich voneinander weg, und als sie wieder aufeinander zu laufen und es dabei einen Moment so aussieht, als würde sie nach hinten fallen und er wolle sie auffangen, macht sie mit ihrem rechten Arm eine große Geste, als würde sie ihm die Schere in seine Brust stoßen (Abb. 21). Abb. 21
Schwer verletzt, hält er sich noch einen Moment an ihr fest, bevor er, von ihr gestützt und gehalten, auf den Boden gleitet. „If there are voices in my mind, a frightening shadow, flickering light, then I surrender on to sleep…“ Sein Körper gibt mehrmals in Zeitlupe dem Fall nach und federt, und schließlich bleibt er leblos auf dem Boden liegen. Sie schaut entsetzt zu, wie das Leben seinen Körper verlässt, und fasst sich hilflos an den Kopf. Sie versucht ihn, auf eine ähnliche Weise wie vorher, zu bewegen, indem sie in einem gewissen Abstand zu seinem Körper darüber streicht, aber er reagiert nicht. Sie legt eine Hand auf ihren Mund, als wollte sie schreien und könne es nicht, bewegt marionettenhaft ihren Kopf in Schmerz von einer Seite zur anderen. Dann kniet sie sich zu ihm und legt ihren Kopf auf seine Brust. Sie umfasst seinen Körper und zieht ihn mit zur Seite, während sie wegrollt und sich ihm dann wieder zuwendet. Einen Moment lang sitzt sie auf ihm wie die Marionette, nachdem sie ihren Schöpfer erstochen hat. Dann rollt sie mit ihm weiter, so dass sein Oberkörper sich auf ihren Beinen befindet. Sie schaut in ihre rechte Hand und nimmt Daumen und Zeigefinger zusammen. Es sieht so aus, als habe sie Nadel und Faden in der Hand.
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Zu den letzten leisen Takten der Musik, näht sie dreimal in dieselbe Stelle seines Oberkörpers. Beim dritten Mal hebt sie die Hand, und sein Körper geht mit. Er ist zu ihrer Marionette geworden. Sie hebt ihn höher und umarmt ihn. Seine Gliedmaßen geben nach, und er umarmt sie auch. Das Licht geht langsam aus. Im Laufe der letzten Einstellung, in der Intimität des dunklen Raums, während nur ein Scheinwerfer die beiden beleuchtet, kann man am Ende den Eindruck gewinnen, beide sind gemeinsam zum Leben erwacht; oder aber, sie sind jetzt beide vereint als leblose Marionetten. Zum letzten Mal wiederholt sich im Choral leise das Wort „sleep“, und das Licht geht aus. Dark Matters und das Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung Crystal Pite hat mit dem Titel „Dark Matters“ eine vieldeutige Metapher für ihre Tanzperformance gefunden. In der Astronomie und Kosmologie wird das Vorhandensein von Dunkler Materie, „dark matter“, hypothetisch vorausgesetzt, um ein Erklärungsmodell für die Gravitation der sichtbaren Materie zu haben. Es ist ein stimmiges Bild, denn die Choreographin hat mit ihren Tänzerinnen und Tänzern an einer Physikalität der Bewegung gearbeitet, welche die Illusion hervorbringt, sie würden von einer geheimnisvollen Macht bewegt. Wissenschaftler gehen davon aus, dass Dunkle Materie aus lichtabsorbierenden Teilchen besteht und deshalb unsichtbar ist; die Ganzkörperkostüme der Puppenführer sind aus angerauhtem Samt, der normalerweise auf der Bühne eingesetzt wird, weil er das Licht in besonderer Weise absorbiert. Während der „Intermission“ in DARK MATTERS wird die tanzende Figur z.B. kaum mehr wahrgenommen, wenn sie sich sehr nah an die dunkle Wand stellt. Aber Pite setzt, in einer ironischen Brechung, in vielen Szenen gerade die Existenz der schwarzen Gestalten in Szene, manchmal um ihnen ein unheimliches Moment zu geben (wie am Ende des „Solo Y“, wenn die Schattengestalt Cindy Salgado erschaudern lässt), manchmal um ihnen dies gerade wieder vorzuenthalten (wie wenn sie aus ihnen in der „End of the puppet show“ kämpfende Ninjas macht). In der Performance steht Dunkle Materie sowohl für das Unbekannte und Zweifelhafte, als auch für ein bewegendes Prinzip, das wir letztlich nicht vollständig verstehen können. Und da es von „matter“ in der Bedeutung von Materie keinen Plural gibt, bedeutet „dark matters“ im Englischen zum einen auch „dunkle Themen“ oder „Angelegenheiten“, zum anderen, dass
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die Dunkelheit „von Bedeutung“ ist. Die schwarzen Gestalten nehmen in der Performance, streng betrachtet, gerade nicht die Funktion eines japanischen Bühnenarbeiters ein, eines Kuroko, der in der Rezeption ausgeblendet werden soll. Sie sind die Titelfiguren. Von der Gliederpuppe im 1. Akt geht eine Faszination aus. Wir nehmen sie aufgrund ihrer minutiösen und grazilen Bewegungen, aber auch aufgrund ihrer quasi „menschlichen“ Entwicklung, als Persönlichkeit wahr – sie wird „geboren“, lernt zu laufen, ist anhänglich, trotzig, aggressiv, schließlich „stirbt“ sie, wenn ihr Erschaffer stirbt (auch das ist stimmig: wenn es keinen Maschinisten gibt, der die Marionette führt, ist diese unbewegt, tot). Gleichzeitig können wir gedanklich nicht ausblenden, dass die Puppe anorganisch ist. Das gibt ihr etwas Unheimliches, denn sie erinnert nicht an Pinocchio, der sich erst nach einiger Zeit von seinen Fäden löst, sondern eher an Frankensteins Monster, an ein Wesen, dass unnatürlicherweise von einem „dunklen Begehren“ erschaffen wurde (ein Schattenwesen führt am Anfang die Hände des Puppenbauers) und das dann vielleicht sogar wie eine tragische Gestalt schuldlos schuldig wird. Voltaires Worte „the book of fate is closed to us“ und das Banner „THIS IS FATE“ implizieren, dass wir dem Schicksal nicht entkommen können, weil der Lauf des Lebens und dessen unumgänglicher Schlusspunkt schon geschrieben stehen. Insofern ist am Ende der Tod des Puppenbauers vielleicht unvermeidlich. Aber DARK MATTERS gibt dazu keine klare Antwort. Vielleicht sorgt auch die Gliederpuppe im 1. und im 2. Akt für Tod und Zerstörung. Wir durften zwischenzeitlich eben auch „THIS IS FAKE“ lesen. DARK MATTERS lässt diesen Widerspruch stehen und überlässt es dem Zuschauer, wie er die Rollen der Gliederpuppe, des Puppenbauers und der schwarzen Gestalten verstehen will. Die Mitglieder der Kompanie Kidd Pivot Frankfurt RM haben gezeigt, dass sie nicht nur ihre eigenen Körper zu Ausdrucks- und Darstellungsmedien machen können, sondern als Puppenspieler auch eine hölzerne Gliederpuppe so zu bewegen vermögen, dass ihre Bewegungen sehr anmutig sind. Es ist bezeichnend, dass in DARK MATTERS Tanz im engeren Sinne eigentlich von der Puppe eingeführt wird: im pas de deux mit ihrem Erschaffer. Im 2. Akt orientiert sich dann die Tanzkompanie an den Bewegungen der Marionette. Und die Tänzerinnen und Tänzer sind ebenfalls anmutig, wenn ihre Glieder der Schwerkraft folgen und ihre Bewegungen an vielen Stellen mechanisch wirken. Auch hier oszillieren die Bedeutungs-
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möglichkeiten: Vielleicht hat Kleist recht damit, dass Grazie vor allem dort zu finden ist, wo Menschen in ihrer Menschlichkeit tänzerisch in den Hintergrund rücken und Bewegung mechanisch und verbindlich wird. Vielleicht fallen wir Zuschauer aber auch nur darauf rein, dass uns eben dies auf der Bühne gezeigt wird. Immerhin handelt es sich bei der Kompanie Kidd Pivot Frankfurt RM um außerordentlich künstlerisch befähigte Tänzerinnen und Tänzer. Es zeugt von tänzerischem Können, wenn sie sich so bewegen, als seien sie fremdgesteuert. Wenn die Zuschauer auch nur eine vage Vorstellung davon haben, wie viel Sprungkraft man normalerweise braucht, um die klassischen Sprünge so virtuos auszuführen wie Spivey, dann verwundert es nicht, warum einige Kritiker DARK MATTERS etwas Artistisches oder gar Akrobatisches bescheinigen. Aber die Darstellungsfähigkeit, die gelungene Umsetzung klassischer und zeitgenössischer Bewegungsmuster, ist nur eine Seite von Spiveys Performance. Die andere Seite ist sein künstlerischer Ausdruck: Sein Körper ist individuell, seine tänzerischen Fähigkeiten herausragend; sein überraschender marionettenartiger Sprung nach hinten in „Paper Quartet“, direkt in die Hände von Matthon, bei dem seine Gliedmaßen zappeln und an die Puppe erinnern, ist künstlerisch so überzeugend und körperlich so spezifisch für ihn, dass er seinen Weg in den kurzen Trailer von DARK MATTERS gefunden hat (Abb. 22). Abb. 22
Das ist ein gutes Beispiel dafür, warum ich im 3. Kapitel nicht von einem Gleichgewicht zwischen Ausdruck und Darstellung ausgehe, sondern von einem Spannungsverhältnis. Müsste der Zuschauer in Worte fassen, was an Spiveys Bewegungen so bestechend ist, wäre es nicht die Harmonie zwi-
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schen seinen darstellerischen Fähigkeiten und seinem künstlerischen Ausdruck. Vielmehr irritiert und fesselt seine Performance den Zuschauer, weil sie zwischen Ausdruck und Darstellung fluktuiert, weil nicht eindeutig entschieden werden kann, ob es vielleicht seine meisterhafte Präsentation der Choreographie ist, die ihn vor anderen Tänzern hervorstechen lässt, oder ob es seine Eigenart und Originalität ist, der Charme seines Bewegungsduktus‘, der seinen Tanz so anziehend macht. Beide Aussagen sind stimmig, und es kommt darauf an, welchen Aspekt seiner Performance wir betonen wollen, welche Perspektive wir einnehmen. Das Spannungsfeld zwischen Ausdruck und Darstellung zeigt sich auf eine ähnliche Weise im letzten Duett von DARK MATTERS, und es wird als Reflexion über den Tanz in der Performance thematisiert. Das pas de deux zwischen Crystal Pite und Peter Chu ist tänzerisch auf höchstem Niveau. Und die besondere Intimität und Zärtlichkeit zwischen beiden Figuren, das gewisse Etwas, das die Szene ausmacht, ist gleichzeitig mit den beiden ausdrucksstarken und herausragenden Tänzerpersönlichkeiten verbunden. Wenn Pite die Rolle der fleischgewordenen Gliederpuppe tanzt, macht ihre unschuldige Mimik beispielsweise den Moment, in dem sie ihn „ersticht“ so widersprüchlich und tragisch. Eben haben sie noch liebevoll miteinander getanzt, und im nächsten Moment ist sie verantwortlich dafür, dass er tot zusammenbricht. Hat sie ihn versehentlich umgebracht? Hat sich an ihrer Mimik nichts verändert, weil sie eine „leblose Puppe“ ist? Wenn sie ihn töten wollte, warum trifft sie sein Tod so schwer? Warum macht sie aus ihm am Ende eine Marionette, um mit ihm vereint sein zu können? (Abb. 23 zeigt, wie sie ihm einen Faden an den Oberkörper „näht“, um ihn bewegen zu können.) Die ganze Situation ist von einer Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit gekennzeichnet.
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Abb. 23
In DARK MATTERS wird auch selbstreferentiell die Manipulation des eigenen Körpers thematisiert, die für jeden Tanzenden unumgänglich ist. Der Tänzer erschafft einen Körper (ein „fantôme“, um Diderots Terminologie im Paradoxe anzuführen), der sein Material ist, das, was er bewegen kann. Das könnte sich im Bild der Marionette manifestieren, die der Puppenbauer erschafft und zum Leben erweckt. In dieser Konstellation wäre die Puppe das „Außen“ und der Erfinder das „Innen“ in Plessners Terminologie. Chu und Pite stünden für die unüberbrückbare Gebrochenheit zwischen Körperhaben und Leibsein im Menschen, die sich auch im Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und Darstellung wiederspiegelt. Dann wäre das erlösende Bild am Ende sozusagen die Utopie einer Versöhnung von Ausdruck und Darstellung, einer Zusammenführung, oder, in Cassirers Worten, eines harmonischen Gleichgewichts. Es kommt nun aber darauf an, zu erkennen, dass diese Vision gerade in ihrer Unhaltbarkeit ästhetisch so interessant und anspruchsvoll ist. Die Gebrochenheit oder Zerrissenheit im Menschen wird „zusammengeflickt“. Im Bereich der Kunst kann so etwas möglich sein und mit seinem Gegenteil, der Unmöglichkeit einer Zusammenführung, oszillieren. Das letzte Bild von DARK MATTERS, die innige Umarmung, setzt gerade das Spannungsverhältnis in Szene. Ausdruck und Darstellung können nicht in Harmonie sein, außer wenn beide, Puppenspieler und Puppe, tot sind. Aber dann ist auch niemand mehr da, der die beiden als Maschinist bewegen könnte.
IV „… wechselseitiges Beben der Potenz im Akt und des Aktes in der Potenz“ – Tanz als Geste, Pathosformel und Symptom
„Man teilt sich nie Gedanken mit: man teilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurückgelesen werden.“1 „La pensée constante du Dialogue est physiologique.“2
1. Vorüberlegung – „Durchgangspunkte“ Die lebendige Bedeutung des „Bestands“ einer Kultur zeigt sich, mehr noch als in den Werken, die sie hervorbringt, in den Deutungsprozessen, in die diese einbezogen sind. In diesem Sinne verstehe ich gerade künstlerische Objektivationen mit Ernst Cassirer als „Durchgangspunkte“, an deren Ende „das ‚Du‘“ steht, „das andere Subjekt, das dieses Werk empfängt, um es wieder in sein eigenes Leben einzubeziehen“.3 Das menschliche Vermögen, qualitativ zwischen wahrgenommenen Gegenständen zu unterscheiden, zeigt sich besonders in der ästhetischen Erfahrung. Das Kunstwerk vermittelt „zwischen Ich und Du, nicht indem es einen fertigen Gehalt von dem 1
Friedrich Nietzsche 1984, „Nachgelassene Fragmente 1887–1889“, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Band 13, Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hg.), München/Berlin/New York, S. 296
2
Paul Valéry über L’âme et la danse, zitiert nach Brandstetter 1995, S. 298
3
Cassirer: Die ‚Tragödie‘ der Kultur, S. 110
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einen auf den anderen überträgt, sondern indem sich an der Tätigkeit des einen die des anderen entzündet“.4 Wir sind sensibel für die sinnliche Qualität der Dinge und stehen in einem kreativen Austausch mit der Welt und unseren Mitmenschen. Ästhetische Wahrnehmung ist möglich, wenn wir bereit sind, uns auf ein Werk als Kunstwerk einzulassen und es als solches wahrzunehmen, wenn wir „ästhetisch eingestellt“ sind. Was das im Einzelnen bedeutet, ist kulturabhängig und wird, im Normalfall unausgesprochen, in jeder Kultur „gelernt“ und spiegelt sich in einem Deutungshorizont wieder, vor dessen Hintergrund wir Kunstwerke interpretieren, ein Hintergrund, der aber auch fortwährend in Symbolisierungsprozessen um neue Bedeutungshöfe bereichert wird. So vermag es das Kunstwerk, mittels sinnlicher Möglichkeiten das menschliche Dasein zu erweitern und Menschen auf einer kulturellen Ebene zu verbinden. Die Historizität von Tanz als Kunstform ergibt sich daraus, dass Formen körperleiblich in konkreten Bewegungszusammenhängen objektiviert, überliefert und in Deutungsprozesse überführt werden, die ästhetisch ausgelegt werden. Was sich künstlerisch artikuliert ist zugleich einzigartig und Teil der kulturellen Erfahrung. Das bedeutet wiederum, das hat Cassirer erkannt, dass jede Kunstgattung nicht nur innerhalb eines Formenkontinuums erscheint, als Fortführung und/oder kritische Bezugnahme auf Überliefertes, sondern auch als „Ausdruck – d.h. als Manifestation eines seelischen Ganzen, dem es angehört“.5 In einer Textstelle, die er nicht weiter ausführt, schlägt er vor, für künstlerische Phänomene die „Formenlehre“ um eine „Ausdruckslehre“ zu ergänzen. Es ist anzunehmen, dass er hier auf Abraham („Aby“) Moritz Warburgs Konzept der Pathosformeln anspielt, die als eine solche verstanden werden kann.6 Im vorliegenden Kapitel möchte ich diese Spur Cassirers für den Tanz weiterverfolgen, um die tänzerische Bewegung näher zu beschreiben. Kapitel 1 und 2 dienten einer anthropologischen Fundierung der tanzästhetischen Thematik, Kapitel 3 einer Beschreibung der zwischen Ausdruck und Darstellung oszillierenden Symbolfunktion tänzerischer Bewegungen.
4
Ebd., S. 111
5
Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 206
6
Vgl. Cassirer: Geschichte, Mythos, S. 82. Dass sich Cassirer mit dieser Textstelle vermutlich auf die Pathosformeln Warburgs bezieht, vertritt auch Lauschke 2007, S. 195
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In diesem Kapitel möchte ich nun abschließend die Tanzbewegung selbst beschreiben. Wenn ich sie im Folgenden mit Giorgio Agamben als Geste, mit Aby Warburg als Pathosformel und mit Sigmund Freud als Symptom charakterisiere, dann, wie die Thesen der vorangegangenen Kapitel, unter einem ästhetisch-anthropologischen Vorzeichen.7 Auch wenn die herangezogenen Wissenschaftler nicht in einem engeren Sinne als Anthropologen bezeichnet werden können, sind ihre im Folgenden ausgeführten Gedanken einer anthropologischen Tanzästhetik zuträglich. Ich möchte die These formulieren, die tänzerische Bewegung trägt Attribute des Gestischen, des Pathosformelartigen und des Symptomhaften, wenn sie auch nicht ganz in diesen Beschreibungen aufgeht. Die Tänzerin Athikté in Paul Valérys Dialog L’âme et la danse aus dem Jahre 19218 tanzt sich in eine Ekstase. Ihr Drehtanz endet damit, dass sie erschöpft zu Boden fällt. Ihre Bewegungen werden von Valéry als „Flamme“ beschrieben, als energetisches Zentrum, welches sich selbst verzehrt. Ich denke ihre Bewegung als tänzerische Geste, die ich wiederum als Pathosformel deute, als ein „Ausdruck inneren Ergriffenseins“ im Sinne Warburgs, bzw. als psychisches Symptom im Verständnis Freuds, als welches ich Warburgs Pathosformel verstehe. Valéry gelingt es mit seinem Dialog, anthropologisch-ästhetische Fragen über den Tanz aufzuwerfen und ihn als ausgezeichnete menschliche Ausdrucksmöglichkeit zu thematisieren. Für den anschließenden letzten tanzpraktischen Exkurs untersuche ich zwei
7
Anhand seiner unveröffentlichten Notizen, die zu den grundlegenden Bruchstücken zu einer pragmatischen Ausdruckskunde zusammengefasst sind, wird deutlich, dass Warburg mit seinem „stilgeschichtlichen Befund“ der Pathosformeln durchaus einen anthropologischen Anspruch verfolgt. Indem er Ausdrucksformen erforscht, fragt er nach der Expressivität des Körpers. Das macht seinen Ansatz für diese Studie einschlägig. Dazu vor allem Cornelia Zumbusch 2004, Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, Berlin, S. 170f.
8
Valéry hat sich detailliert mit dem Phänomen Tanz und der Frage nach einer Ästhetik des Tanzes beschäftigt, auch in seinem Vortrag Philosophie de la danse, den er 1936 in der Université des Annales gehalten hat, in seinem Aufsatz Degas Danse Dessin von 1938, in einem postum veröffentlichten Vorwort zu Serge Lifars Pensées sur la danse 1946 und im 6. Band seiner Cahiers (1894– 1914).
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Tanzstücke, eins aus dem Tanztheater Pina Bauschs, eins aus dem neoklassischen Ballett George Balanchines. Die beiden Choreographien sind in ihrer Besonderheit sehr unterschiedlich: Bauschs CAFÉ MÜLLER ist eines der ersten Stücke der Choreographin, in dem kaum mehr klassische oder moderne Bewegungsfiguren zu finden sind, in dem stattdessen alltägliche Bewegungen wiederholt und überzeichnet werden, um ein kritisches Bild der zeitgenössischen Gesellschaft zu präsentieren. Balanchines Choreographie APOLLO ist, im Kontrast dazu, eine Feier des neoklassischen Balletts, eine Feier der Körperbeherrschung, reflektiert in der Darstellung des Heranreifens Apollos. Ich möchte zeigen, dass, bei aller Eigenheit und Differenz der beiden Tanzstücke, die Beschreibungen der tänzerischen Bewegungen im Sinne der These dieses Kapitels in beiden Beispielen einschlägig ist und sich in unterschiedlichen Gestaltungen tanzästhetischer Erfahrung ausdrückt.
2. Tanz als Geste – Giorgio Agambens Noten zur Geste Es ist nicht selbstverständlich, Tanz als Geste zu verstehen. Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnen wir eine körperliche Bewegung gewöhnlich dann als Geste, wenn sie auf der Grundlage von Konventionen oder aufgrund ihrer Bildhaftigkeit gedeutet werden kann, wenn sie also in diesem Sinne auf etwas hinweist oder zeigt. Etymologisch stammt der Begriff der Geste von lateinisch gestus ab, das so viel heißt wie „Gebärdenspiel des Schauspielers oder Redners“, und zum Verb gerere gehört, „tragen, zur Schau tragen, sich benehmen“. Gesticulus, „pantomimische Bewegung“, und gesticulari, „heftige Gebärden machen“, werden davon abgeleitet.9 Mit „zur Schau tragen“ und dem Gebärdenspiel deutet sich ein Verständnis der Geste als Zeichen an. Dieser Weg, der semiotische, ist aber unzulänglich, wenn die tänzerische Geste gemeint ist. Die Semiotik untersucht „die Sprache, die Mimik sowie andere Modalitäten von nonverbaler Kommunikation und Körpersprache“ und definiert Gestik in einem engeren Sinne als „Ausdruckspotential des menschlichen Körpers mittels der Arme, der Hände und des Kopfes“. In einem weiteren Sinne werden auch andere Zeichen der
9
Vgl. Günther Drosdowski (Hg.) 1989, Duden-Etymologie. Das Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Wien/Zürich, S. 238
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Körpersprache mit eingeschlossen.10 Gleichwohl die tänzerische Bewegung, wie jede andere künstlerische Objektivation, auf Bedeutung angelegt ist und interpretiert wird, da jeder Choreograph intendiert, verstanden zu werden, kann es für die Tanzphänomene, die hier untersucht werden, in einem semiotischen Sinne nicht um Festlegung und Zeichenhaftigkeit gehen. Es liegen im Normalfall keine konventionellen Einigungen vor, vor deren Hintergrund Tanzbewegungen auf eine und nur auf diese Weise verständlich werden. Es gibt Tanzarten, in denen Bedeutungen in einem stärkeren Sinne ausdefiniert sind. Im Bharatanatyam etwa, dem klassischen indischen Tanz, haben auch kleinste Bewegungen der Muskeln festgelegte Bedeutungen, die von den Zuschauern identifiziert und übersetzt werden können. Auch im klassischen Ballett des 18. Jahrhunderts, vorwiegend in Handlungsballetten, finden sich einzelne Gesten, die eindeutige Nachrichten an die Zuschauer aussenden und eine kommunikative Funktion erfüllen: Der Prinz kniet vor seiner Auserwählten, die gute Fee schwenkt ihren Zauberstab. Aber in Tanzbewegungen, die vorwiegend in der abendländischen Tanztradition zu finden sind, sei es im klassischen, modernen oder im Ausdruckstanz, wird Bedeutung zumeist „angemutet“, nicht behauptet. Solche Bewegungen bieten dem Zuschauer einen Anreiz dafür, in einen Prozess einzutreten, in dem es immer ein Surplus an Deutungsmöglichkeiten gibt. Dieser Überschuss ist der des Sinnlichen schlechthin, eine Präsenz, die in einem Zusammenhang nach Sinn suchen lässt, der über das Körperliche hinausgeht. Um näher zu umgrenzen, was das genuin „Gestische“ an Tanzbewegungen ausmacht, ziehe ich Giorgio Agambens kurzen Text „Noten zur Geste“11 heran, der, obgleich an vielen Stellen kryptisch, eine interessante Antwort auf diese Frage gibt. Agamben versteht die tänzerische Bewegung als gestisch, sofern sie als ästhetisches Phänomen rezipiert wird. Sein Anspruch, von der ästhetischen Geste ausgehend Erkenntnisse über das Gestische schlechthin zu erlangen, bleibt fraglich, spielt aber für die Thematik dieser Studie keine Rolle. Für eine Beschreibung der tänzerischen Geste
10 Nachzulesen bei Winfried Nöth 2000, „Gestik“, in: ders., Handbuch der Semiotik, Stuttgart/Weimar, S. 298–304; hier S. 298 11 Der Text ist 1992 erstmals erschienen in der Zeitschrift Trafic (I, 1992). Ich beziehe mich hier auf folgende Ausgabe: Giorgio Agamben 2006, Noten zur Geste, in: ders., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Zürich/Berlin, S. 47–56.
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überzeugen seine Ausführungen durchaus.12 Ausgehen werde ich von seinem Aufsatz „Über negative Potentialität“13, in dem er den Ursprung der Begrifflichkeiten darlegt, die er in seinen Noten zur Geste für den Tanz verwendet, und, bedeutsam für eine ästhetische Fragestellung, das Verhältnis zwischen Möglichem und Wirklichem beleuchtet. In Über negative Potentialität erläutert Agamben, dass er seine Begriffe Akt und Potenz, ενέργεια und δύναμις, von Aristoteles bezieht, der in seinem Werk De anima (417 a 2-9) die Begriffe „Potenz (dynamis)“ und „Akt (energeia)“ kontrastiere und verbinde.14 Mit „dynamis“ meint Aristoteles laut Agamben zweierlei, Potenz und Möglichkeit. Unter der Fragestellung, was wir denn meinen, wenn wir sagen, „ich kann“ oder „ich kann nicht“, was es also bedeutet, eine Fähigkeit, ein Vermögen zu besitzen, deutet Agamben Aristoteles so, dass Potenz für diesen wesentlich als die Möglichkeit ihrer Nicht-Ausübung definiert ist. Er schreibt, diesen referierend: „Die Potenz, um die es hier geht, unterscheidet sich wesentlich von der allgemeinen Potenz, die dem Kind zukommt. Das Kind, schreibt Aristoteles, ist insofern vermögend, als es eine Veränderung durch den Lernprozess wird durchmachen müssen; derjenige, der bereits eine Technik beherrscht, muss hingegen keine Veränderung erleiden, sein Vermögen beruht vielmehr auf einer hexis, die er entweder nicht aktualisieren oder eben aktualisieren kann, indem er von einem Zustand des Nichtim-Vollzug-Seins in einen Zustand des Im-Vollzug-Seins übergeht“15.
Agamben übersetzt Aristotelesʼ Begriff der „hexis“, ἕξις, der „Haltung“ oder „Vermögen“ bedeutet (von „écho“, έχω, haben) mit „Verfügbarkeit
12 Diese Einschätzung teilt Früchtl 2011 in seinem Vortrag „Eine Kunst der Geste. Den Bildern Bewegung und Geschichte zurückgeben“ auf dem XXII. Deutschen Kongress für Philosophie, 11.−15. September 2011, München. Nachzulesen in http://epub.ub.uni-muenchen.de/12392/1/GesteFilm.Muenchen.Fruechtl.pdf; S. 1–8; hier S. 6 (letzter Zugriff 10.04.2014). 13 Vgl. Giorgio Agamben 2008, „Über negative Potentialität“, übersetzt von Emmanuel Alloa, in: Emmanuel Alloa, Alice Lagaay (Hg.), Nicht(s) sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, Bielefeld, S. 285−298 14 Ebd., S. 285 15 Ebd., S. 288
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eines Mangels“16 oder „Souveränität über den Mangel“. Er führt das Beispiel eines Architekten an, der eben auch dann ein Architekt bleibt, wenn er gerade nicht baut.17 Ein Tänzer, wollte man Agambens Idee hier auf den Tanz anwenden, hat also das Vermögen, auch nicht zu tanzen, was aber etwas anderes ist, als wenn er nicht tanzen könnte. Agamben schreibt mit seinen Gedanken dem eine Form, eine Präsenz zu, was nicht aktuell ist. Ich glaube, dass Agamben hier etwas Entscheidendes für den zeigenössischen Tanz trifft. Wenn etwa in neueren Produktionen der Forsythe Company Tänzerinnen und Tänzer eben gerade nicht in einem engeren Verständnis tanzen, eben keine „Tanzbewegungen“ ausführen, ist das qualitativ etwas völlig Anderes, als wenn Nicht-Tänzer nicht tanzen. Die δύναμις des Tanzes, Potenz und Möglichkeit, bleibt bestehen und wird trotz fehlender Aktualität präsent. Ausschlaggebend ist für Agamben in seinen Noten zur Geste nun das Mediale des Tänzerischen. Er schreibt, wenn Tanz Geste ist, dann deshalb „weil er nichts anderes ist als die Austragung und Darbietung des medialen Charakters der Körperbewegungen“.18 Den emphatischen Begriff des Medialen, den er hier verwendet, führt er im Weiteren aus. Er denkt an eine „Mittelbarkeit [medialitá]“, in der das Mittel „[mezzo]“ als solches sichtbar wird. Auch wenn sich in einer solchen Geste ein Verweis auf einen äußeren Referenten andeutet, zeigt sie nachdrücklich auf sich selbst und macht sich selbst als Geste, d.h. als dargebotene Körperbewegung, kenntlich.19 Man
16 Ebd., S. 289 17 Beides ebd. 18 Agamben 2006, S. 54 19 Agambens Schrift ist auch als Reflexion zu Walter Benjamins Verständnis der Geste zu lesen. Benjamin verbindet in seinem Essay zum 10. Todestag von Franz Kafka, 1934 erschienen, Überlegungen zur Geste in Kafkas Werk mit seiner Idee des mimetischen Vermögens. In einer Anmerkung zu seinem Essay schreibt er: „Solche Gesten stellen einen Versuch dar, durch Nachahmung die Unverständlichkeit des Weltlaufs gegenstandslos oder seine Gegenstandslosigkeit verständlich zu machen.“ Vgl. Walter Benjamin 1977, Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, in: ders., Gesammelte Schriften II, Frankfurt am Main, S. 409–438 (Anmerkungen S. 1153–1276); hier S. 1261. Werner Hamacher hebt hervor, wie sich auch bei Benjamin ein starker Selbstverweis der Geste andeutet, der weniger eine Reflexivität meint als ein „Sich-
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könnte sagen, der Mensch tritt in der tänzerischen Geste in ein kommentierendes Selbstverhältnis, in dem der darstellende Körper Medium seines eigenen Erlebens wird. Damit unterscheidet sich Tanz gestisch beispielsweise von der Pantomime, in welcher der Körper mit der Bewegung kommuniziert und etwas anderes als sich selbst repräsentiert. In Agambens Worten ist die Geste „in diesem Sinne Mitteilung einer Mitteilbarkeit.“ Indem sie sich selbst als Mittel offenbart, transzendiert sie sich zugleich und wird mehr als bloß ein Mittel. Sie oszilliert zwischen Akt und Potenz, Verwirklichung und Möglichkeit. Der potentielle Charakter geht in der Ausführung der Geste nicht verloren. Agamben geht davon aus, dass er mit seinem Verständnis der ästhetischen Geste dem Kantschen Diktum einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck seine eigentliche Bestimmung gibt und formuliert dieses um zu einer „Mittelbarkeit ohne Zweck“.20 In einer um zwei Absätze erweiterten Fassung seiner Noten zur Geste resümiert Agamben seine Erkenntnisse folgendermaßen: „Zwischen Möglichkeit und faktischer Wirklichkeit, worin er sich erschöpft, führt der Tanz ein mittleres Sein ein, in dem Potenz und Akt, Mittel und Zweck sich ausgleichen und aneinander hervorbringen. Dieses Gleichgewicht, das das eine im anderen enthüllt, ist keine Negation, wohl aber eine wechselseitige Exposition, nicht Stasis, sondern wechselseitiges Beben der Potenz im Akt und des Aktes in der Potenz. Daher konnte Mallarmé den Tanz der Loie Fuller als eine ‚unerschöpfliche Quelle seiner selbst‘ beschreiben“.21
Wie Johannes Odenthal schreibt, sind tänzerische Gesten, auch er versteht Tanzbewegungen als solche, „Ereignis ihrer eigenen Verkörperung“.22 Ein
Zeigen“ des Gestischen selbst. Vgl. Werner Hamacher 1998, Entfremdetes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt am Main, S. 318f. 20 Beides Agamben 2006, S. 55 21 Die um zwei Abschnitte erweiterte Version von Agambens Text findet sich erstmals in der Übersetzung von Elisabetta Fontana-Hentschel in Jutta Georg-Lauer 1992 (Hg.), Postmoderne und Politik, Tübingen, S. 97–107; hier S. 107. 22 Vgl. Johannes Odenthal 1990, „Ritus und Mythos. Von der Schönheit der Geste. Auszüge aus Gesprächen mit Germaine Acogny und Elsa Wolliaston“, in: tanz
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solches Ereignis bleibt vieldeutig und lässt sich nicht abschließend ergründen, das macht das Künstlerische tänzerischer Gesten aus. Alltagsweltlich werden körperliche Gesten visuell und kinästhetisch innerhalb bestimmter Wahrnehmungskontexte wahrgenommen. Selbst wenn entsprechende Gesten im Tanz vorkommen, entfernen sie sich als ästhetisch rezipierte Phänomene von herkömmlichen Bedeutungskontexten und eröffnen sie einer Sinnbildung, die aus dem sinnlichen Erlebnis selbst folgen soll. Das macht das Gestische einer tänzerischen Bewegung aus.
3. Tanz als Pathosformel und Symptom – Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Sigmund Freuds Psychopathologie des Alltagslebens Unter der von den Herausgebern hinzugefügten Überschrift Abtragung des Kosmos auf einen Teil des Körpers zu Weissagungszwecken. Babylonischer Staats-Sternglaube. Originäre orientalische Praktik zeigt Tafel 1 von Warburgs Bilderatlas Mnemosyne23 fünf Photographien aus unterschiedlichen Jahrhunderten von Lebern aus Ton zum Zweck der Unterrichtung von Wahrsagerinnen.24 Daneben befinden sich Bildertafeln Warburgs aus den Jahren 1926/27 von Orientalisierender Praktik zur Wiederherstellung der antiken Form, die Photographie eines Babylonischen Urkundensteins mit Sternbildern (851–828 v. Chr.) sowie die Abbildung eines Grenzsteins, auf welchem ein babylonischer König zu sehen ist, der eine Sterngottheit anbetet (12. Jahrhundert v. Chr.) und eines weiteren Steins des Königs Assurnasirpal II. Diese 1. Tafel des Mnemosyne-Atlas eröffnet dem Betrachter einen Horizont, der sich zwischen Makrokosmos, den Sternbildern, und Mikrokosmos, dem menschlichen Körper, spannt, und in beiden Fällen geht es um „Deutbarkeit“, um Wahr- und Weissagung durch den Menschen.
aktuell 3–90 (Zeitung für Tanz Theater Bewegung; März 1990, 5. Jahrgang Nr. II), S. 4–9; hier S. 7 23 Vgl. Martin Warnke und Claudia Brink (Hg.) 2000, Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 24 babylonisch, aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts v. Chr. und aus der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr.
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Der von Warburg unabgeschlossene Entwurf zum Mnemosyne-Atlas ist zugleich verbunden mit dem von ihm geprägten Begriff der „Pathosformeln“. Diese ergeben ein Repertoire, das aus Erinnerungszeichen für archaische Ängste und Erregungen, sogenannten „Engramme[n] leidenschaftlicher Erfahrung“, entsteht, in der bildenden Kunst und Literatur der Antike fixiert und in nachfolgenden Zeiten bei der Darstellung menschlicher Körper in unterschiedlicher Weise assimiliert wird.25 Die einzelnen Pathosformeln sind virtuell mehrdeutig, d.h., dass ihr Ausdrucksgehalt nicht festgelegt ist. Er kann sich sogar durch einen Vorgang, den Warburg „Inversion“ nennt, völlig umkehren: „Erst der Kontakt mit der Zeit bewirkt die Polarisation. Diese kann zur radikalen Umkehr (Inversion) des echten antiken Sinnes führen.“26 Pathosformeln stellen gestische Optionen dar, Deutungs- und Verhaltensmuster, in denen sich eine fast paradoxe Situation verwirklicht: Der Begriff des „Pathos“ meint hier bei Warburg das, was für Cassirer in der Vorstellung von „ursprünglichen Impulsen“ mitschwingt, die künstlerisch sublimiert werden: starke Affekte, denen der Mensch sich zunächst ausgeliefert fühlt, die er erleidet. Als „Formel“ nun wird ein solcher Affekt zu einem „Erinnerungszeichen“ verdichtet und inszeniert, als Konvention eingeführt, mit der letztlich ein symbolisches Gedächtnis geschaffen wird. Auf einer Achse zunehmender Selbstentäußerung, haben wir es bei den Pathosformeln mit einer neuen Verinnerlichung zu tun, die sich historisch niederschlägt. Erinnerung findet sich auf eine Art und Weise gestaltet, in der ihre semantische Ausdeutung in ihrer Konkretisierung sich historischen Umgestaltungen und Umdeutungen öffnet. In diesem Verständnis der Pathosformeln, zu dem Warburg gelangt, indem er kunstgeschichtlich Werke der Antike und der Renaissance vergleicht, liegt die Erkenntnis, dass jede Geste neben ihrer Einzigartigkeit im raumzeitlichen Gefüge und als Form individuellen künstlerischen Ausdrucks auch als kulturelle Artikulation zu verstehen ist. Gesten kommt performatives Potential zu, da sie sich immer wieder neu und anders interpre-
25 Vgl. Aby Warburg 1992, „Einleitung zum Mnemosyne-Atlas“, in: Ilsebill BartaFliedl und Christoph Geissmar, Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst, Salzburg/Wien, S. 171–173; hier S. 171 26 Aby Warburg: Notizbuch 1927, zitiert nach Ernst H. Gombrich 1992, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, übersetzt von Matthias Fienbork, Hamburg, S. 338
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tieren lassen und keine fixierten Bedeutungen haben; sie erschließen sich dem Menschen kontextuell. Warburg betont den „Ausdruckswert“ der im Bild dargestellten Geste. „Pathosformel“ ist für ihn jene Geste, in welcher der „Ausdruckswert“ auf ein Höchstmaß gesteigert ist. Der Terminus „Pathosformel“ bezeichnet demnach ein Element eines Gestenrepertoires der Ausdrucksformen maximalen inneren „Ergriffenseins“, wobei das ästhetische Pathos eine „widersprüchliche Kopplung von primärer affektpsychologischer Dimension des Leidens und von Leidenschaft im Sinne habituell konstanter Gemütsbewegungen“27 ist. Pathos als ästhetisch gestaltetes Phänomen entsteht immer dann, „wenn in einer spannungsvollen Kopplung von artikulierten Leiden(schaften) und darauf bezogenen Distanzierungsversuchen die Befreiung von beiden im Durchgang durch dasselbe gesucht wird und beide Momente zu einer hochartifiziellen Konfiguration zusammengefügt werden“.28
Im 3. Kapitel ist, im Anschluss an Cassirer, bereits das Motiv aufgetaucht, dass wir es in der ästhetischen Erfahrung gleichzeitig mit einer Distanz qua Abstraktion und mit einer Intensivierung der Wahrnehmung des ästhetischen Gegenstands zu tun haben. Warburg beschreibt für seine Pathosformel eine entsprechende Dynamik. Anthropologisch relevant ist, hier wie bei Cassirer, dass ein solcher Umgang mit dem Symbolischen den Menschen mit dem Distanzgewinn und der intensivierten Erfahrung gleichzeitig auf sich selbst verweist. Im künstlerischen Akt wird für Warburg ein Gedächtnis geschaffen; das Mnemische, der Denkraum, ist bestimmt von einer Spannung zwischen Intensitäten und Formen. Eben das zeichnet Pathosformeln aus: „Der Entdämonisierungsprozess der phobisch geprägten Eindruckserbmasse, der die ganze Skala des Ergriffenseins gebärdensprachlich umspannt, von der hilflosen Versunkenheit bis zum mörderischen Menschenfraß, verleiht der humanen Bewegungs-
27 So beschreibt es Ulrich Port in einer umfassenden Studie zum Begriff der Pathosformel bei Warburg; vgl. Ulrich Port 1999, „Katharsis des Leidens“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, S. 5–42; hier S. 8 28 Ebd., S. 21
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dynamik auch in den Stadien, die zwischen den Grenzpolen des Orgiasmus liegen, dem Kämpfen, Gehen, Laufen, Tanzen, Greifen, jenen Prägerand unheimlichen Erlebens.“29
Der Begriff der Pathosformel wird von mir für die tänzerische Geste beansprucht, weil sich in dieser durch die künstlerische Gestaltung von Affekten und Intensionen ein Distanzgewinn ereignet hat, der aber nicht vom sinnlichen Material zu trennen ist. Tanz ist also nicht nur dort als Pathosformel zu verstehen, wo er orgiastische Zustände, Leiden(schaften) oder ein Außer-sich-Sein, artikuliert. Es ist geradezu ein qualitatives Merkmal der menschlichen Bewegung, dass ihre Dynamik auch ohne eine Zuspitzung, also bei gemäßigteren Bewegungen, an eine „dämonische Ergriffenheit des Menschen“ erinnert. In der „artifiziellen Konfiguration“ einer tänzerischen Bewegung – Geste, Pathosformel – verbindet sich der Körperleib des einzelnen Menschen mit Körperrepräsentationen der Gattung Mensch, wie sie in „vorgeprägten Ausdruckswerten“ in der Geschichte auftauchen. Um noch deutlicher zu umgrenzen, was für eine Art Geste die Pathosformel ist, und um zu zeigen, inwiefern das Konzept der Pathosformel als Attribut der tänzerischen Bewegung verstanden werden kann, ziehe ich Georges Didi-Hubermans Aufsatz „Dialektik des Monstrums. Aby Warburg und das Paradigma des Symptomalen“30 heran. Dieser versteht die Pathosformel bei Warburg als „psychische Geste“.31 Warburg hatte 1923 den „Zweck seiner Bibliothek“ und seines Werkes insgesamt definiert als eine „Urkundensammlung zur Psychologie der menschlichen Ausdruckskunde“, mit der er eine Stilistik und Symptomatologie der Renaissancekultur zu schaffen suchte. Ich möchte mit dem Folgenden erklären, warum der tänzerischen Geste auch das Attribut des Symptomalen zukommt und werde zunächst den hier verwendeten Symptombegriff erläutern. Das Symptom (von griechisch συμπιπτω, „aufeinanderstoßen“, „zusammenstürzen“ oder „fallen“; im 18. Jahrhundert wird „symptoma“ übersetzt mit „Zufall“, „Ei-
29 Vgl. Warnke und Brink 2000, S. 3 30 Vgl. Georges Didi-Huberman 2004, „Dialektik des Monstrums. Aby Warburg und das Paradigma des Symptomalen“, übersetzt von Elias Torra, in: Barbara Naumann und Edgar Pankow (Hg.), Bilder-Denken. Bildlichkeit und Argumentation, München, S. 203–233 31 Ebd., S. 204
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gentümlichkeit“) wird im psychologischen Sinne allgemein definiert als „ein Verhalten, ein Gedanke oder ein Erlebnis, das mehr oder anderes als nur sich selbst anzeigt“, und „Symptomhandlungen“ dementsprechend als „Handlungen, die mehr und anderes als nur das bewußte und beabsichtigte Handlungsziel andeuten“, denn „[u]nbewußte Motive und Impulse haben an ihrem Entstehen mitgewirkt“.32 Für Freud hat jedes Symptom „mehr als eine Bedeutung“ und dient „gleichzeitig mehreren unbewußten Gedankengängen zur Darstellung“.33 Er expliziert dies an einer späteren Stelle: Ein Anteil der Persönlichkeit weist libidinöse Strebungen ab, die es aber dennoch schaffen, sich ihren Weg zu bahnen, freilich nicht, ohne sich zu entstellen oder Kompromisse einzugehen.34 „Die Umwege sind die Wege der Symptombildung, die Symptome sind die neue oder Ersatzbefriedigung, die durch die Tatsache der Versagung notwendig geworden ist.“35 Das Symptom repräsentiert damit sowohl das Verdrängte als auch das Verdrängende. Bernhard Waldenfels rekurriert
32 Vgl. Walter Toman 1972, „Symptom“, in: Wilhelm Arnold, Hans Jürgen Eysenck, Richard Meili (Hg.), Lexikon der Psychologie, Band 3, Freiburg/Basel/Wien, S. 508f.; hier S. 508. Gudrun Piller verweist auf Michel Foucault und Roland Barthes und unterscheidet zwischen Symptom und Zeichen: „Das Symptom ist das Rohfaktum, das Erscheinende, die Form, in der sich die Krankheit präsentiert; es ist noch nicht semiologisch, noch ohne Bedeutung. Das Zeichen ist das um das organisierende Bewusstsein des Arztes erweiterte Symptom. Indem man es in ein Bedeutungssystem einfügt, wird das Symptom – also über Vermittlung der ärztlichen Sprache – in ein Zeichen umgewandelt. Das Zeichen ist diagnostisch, anamnetisch und prognostisch.“ Vgl. Gudrun Piller 2007, Private Körper: Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts, Köln/ Weimar, S. 221; Michel Foucault 1976b, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main/Berlin/Wien, S. 104; Roland Barthes 1988, Semiologie und Medizin, in: ders., Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main, S. 210–220; hier S. 211f. 33 Vgl. Sigmund Freud 1999, „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“ (1905), in: ders., Gesammelte Werke V, Frankfurt am Main, S. 163–286; hier S. 206 34 Vgl. Sigmund Freud 2000, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17), Studienausgabe, Band 1, Frankfurt am Main, S. 298 35 Ebd., S. 343
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in seinem Aufsatz „Sichbewegen“ von 2007 in einem entsprechenden Zusammenhang ebenfalls auf Freud und schreibt: „Fehlleistungen, die Freud der Psychopathologie des Alltagslebens zurechnet, tauchen dort auf, wo Bewegungskräfte zum Durchbruch kommen, die uns fremd sind, selbst wenn sie aus unserem eigenen Inneren aufsteigen. Die Fremdheit der Selbstbewegung haftet an deren innersten Antrieben.“36
Didi-Huberman möchte nun die Pathosformel in Begriffe einer „psychischen Symptomatologie“ körperlicher Gesten übersetzt wissen, nicht einer Semantik oder gar Semiotik. Semantik würde der Vieldeutigkeit widersprechen, und Semiotik wäre eine Steigerung des Fehlgehens, da Zeichen hier noch abstrakter und beliebiger wären. Warburgs Konzept der Pathosformeln widerspricht jeder Art von Festlegung. Didi-Huberman schreibt, die Pathosformeln sind „die sichtbaren – körperlichen, gestischen, dargestellten, figurierten – Symptome einer psychischen Zeit, die sich nicht auf das einfache Raster rhetorischer, gefühlsmäßiger oder individueller Peripetien reduzieren lässt.“37 Die Pathosformel erscheint als „Geste einer gegenstrebigen Verwirklichung in der Geschichte“,38 und das Symbol als das „konkrete Symptom einer Spaltung, die in der ‚Tragödie der Kultur’ permanent“ geschieht.39 Warburgs kunstgeschichtlichen Studien haben ihn erkennen lassen, so schreibt Didi-Huberman, wie sehr der „Zwang zur Auseinandersetzung mit der Formenwelt vorgeprägter Ausdruckswerte, – sie mögen nun aus Vergangenheit oder Gegenwart stammen –“, für jeden Künstler „die entscheidende Krisis“ bedeutet.40 Pathosformeln stellen nun „körperliche Kristallisationen“ dieser Krisis dar, und Didi-Huberman spricht, man denkt unwillkürlich an Freuds Verständnis des Symptoms, von einer „Dialektik von Verdrängung (‚plastische Kompromißformeln’) und Wiederkehr des Verdrängten (‚Krisis’, ‚Grad der höchsten Anspannung’)“.41 Warburg interessiert sich besonders für Körper, die „den Bewegungen des Pathos ausge-
36 Waldenfels 2007, S. 19 37 Didi-Huberman 2004, S. 205 38 Ebd. 39 Ebd., S. 209 40 Vgl. Warburg 1992, S. 209 41 Didi-Huberman 2004, S. 209
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liefert“42 sind. Er hat „das Symptom zu einem konstanten, konstant offenen Werk der Überdeterminierung gemacht“.43 Es geht ihm also gerade nicht darum, Widersprüchlichkeiten aufzulösen. Ein Beispiel hierfür ist Warburgs Interpretation der „Ninfa“. In Kunstwerken verschiedener Epochen taucht, in unterschiedlicher künstlerischer Ausgestaltung, eine weibliche Gestalt auf, in der Warburg immer wieder diese Figur sieht – als laufe sie „von einer Verkörperung zur anderen, ohne daß irgend etwas versuchen würde, sie für sich in Anspruch zu nehmen“.44 Kunstgeschichtlich können die verschiedenen Realisationen der Ninfa auch gegensätzliche Funktionen erfüllen. Sie verweist nicht auf etwas Konkretes, sondern ist der Verweis selbst; sie zeigt das Potential des Verweisens, das einer genauen und einseitigen Ausdeutung widerstrebt. An einer späteren Stelle in diesem Kapitel wird sich zeigen, dass die Ekstase der Tänzerin Athikté in Valérys Dialog L’âme et la danse in diesem Sinne gedeutet werden kann. Es tauchen Widersprüchlichkeiten auf, die sich einer Auflösung verweigern, und die Trance erscheint als ein „psychisches Symptom“, gleichzeitig als ein „Ausdruck innersten Ergriffenseins“ der Tänzerin, die sich dreht und fällt. Aber gleichzeitig legt ihr Valéry am Ende des Dialogs rückblickend in den Mund, sie sei „in der Bewegung“ gewesen, außerhalb aller Dinge. Ihr Körper war „dem Pathos ausgeliefert“, und in gewisser Weise können ihre Bewegungen deshalb nicht ausschließlich als individueller künstlerischer Ausdruck gelesen werden. Sie werden, wie sich im Weiteren zeigen wird, als „psychisches Symptom“ einer Zeit verstanden, welches sich in konkreten physiologischen Zuständen augenblickshaft manifestiert, um dann in sein Gegenteil umzuschlagen. Die einstmals ergriffene Tänzerin fällt in sich zusammen, sie erscheint plötzlich als schwach und „ausgebrannt“. Der „symptomale Augenblick“ erscheint für Didi-Huberman im „dialektischen Zentrum“ solcher „Polaritäten“,45 wie er anhand des Beispiels der Hysterikerin ausführt, aber es lässt sich ebenfalls auf die Tänzerin in Ekstase anwenden. Die körperlichen Formen zeigen eine solche „plastische Intensität“, dass Didi-Huberman davon ausgeht, der Blick des Zuschauers
42 Ebd., S. 214 43 Ebd., S. 217 44 Ebd. 45 Ebd., S. 223
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sei „gleichzeitig davon gefangen (gefesselt, fasziniert) und daraus entzogen (ausgesperrt)“. Er macht sogar die „visuelle[…] Eindringlichkeit“ dafür verantwortlich, dass „die im Anfall figurierte ‚Situation’ der ‚Unverständlichkeit’ anheimfällt“.46 Dieses Motiv wird auch in L’âme et la danse auftauchen. Die Darstellung der Flamme durch die Tänzerin Athikté versetzt die Dialogpartner (und die Tänzerin) in Sprachlosigkeit. Die visuelle Plastizität macht die tänzerische Geste der Athikté als Symptom kenntlich. Ein zweites Element, welches zum hysterischen Anfall gehört, aber ebenso Athiktés Ekstase charakterisiert, ist, wie Didi-Huberman beschreibt, die „widersprüchliche Gleichzeitigkeit. [...] Zwei widersprüchliche Regungen liegen im Widerstreit in einem einzigen Körper.“47 Wie bereits dargestellt, dreht sich Athikté bei Valéry, sie transzendiert alltägliche Bewegungen in einer für die Dialogpartner erstaunlichen Leichtigkeit, um dann aber doch der Schwerkraft nachzugeben und zu fallen. Ihre Bewegung nach oben war also gleichzeitig eine Bewegung nach unten. Das Symptom, so schreibt Didi-Huberman mit Bezugnahme auf Freud, ist „nicht nur synchron (mehrere Bedeutungen gleichzeitig), sondern auch diachron (mehrere Bedeutungen nacheinander) überdeterminiert.“48 Und es sei nun gerade das „Spiel“ der „zum Nachleben figurativen Formeln“ mit der „Antithese – d.h. ihre Unempfindlichkeit für den logischen Widerspruch, um einen anderen Begriff Freuds aufzugreifen“, der „sowohl ihre Transformationsarbeit als auch ihre Beharrlichkeit“49 zeige, „ihre Fähigkeit zur ewigen Wiederkehr“.50 Athiktés Bewegung als Spiel, Athikté als anwesend und abwesend gleichzeitig, ihr Tanz von der Dialogfigur Sokrates gedeutet als gleichzeitig „alles“ und „nichts“ darstellend – in all diesen Konfigurationen in Valérys Dialog zeigt sich die Ekstase der Tänzerin einerseits in ihrer Beharrlichkeit,
46 Alles ebd., S. 224 47 Ebd., S. 225 48 Ebd. 49 Auf der internationalen Konferenz „À la rencontre de la danse contemporaine. Porosités et résistances“ (Dezember 2007 in Paris, Université Nanterre) wurde in einer entsprechenden Weise mit dem Begriff „résistances“ die Beharrlichkeit und mit „porosités“ die Flüchtigkeit der Gesten im zeitgenössischen Tanz thematisiert. 50 Didi-Huberman 2004, S. 227
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in ihrem Rückbezug auf antike Hetärentänze und Riten, und andererseits wird ihr Tanz im Dialog etabliert als ein „purer Akt der Transformation“. Didi-Huberman fällt auch auf, dass Warburg von einer „Struktur des Pathos“ ausgeht, wie er es etwa für die Gemälde Sandro Botticellis feststellt, und spricht von einer „strukturierenden Macht von visuellen Angelpunkten“, von einer Organisation und einer räumlichen und rhythmischen Verteilung.51 Die formale Gliederung, die visuell erfahrbar ist, der man aber niemals „ganz habhaft“52 wird, spielt bei Pathosformeln eine große Rolle und ist dem Tanz strukturell verwandt. Didi-Huberman spricht in diesem Zusammenhang von einem dritten Strukturelement des Symptoms, der „Verschiebung. [...] Das Symptom verhüllt sich, weil es sich verwandelt, und es verwandelt sich, weil es sich verschiebt. Es bietet sich zwar vollständig dar, ohne etwas zu verbergen [...,] aber es bietet sich immer als Figur dar. Das heißt: als Umweg. Und es ist die Verschiebung selbst, die einem ‚Verdrängten’ die Wiederkehr gestattet. [...] Das Symptom bietet uns einen – direkten, intensiven – Zugang nur zur Organisation seiner Unzugänglichkeit. [...] Das Symptom verschiebt sich, es wandert und verwandelt sich.“53
Etwas bietet sich als „Figur“, als Geste dar, und verschließt sich gleichzeitig einem direkten Zugriff; genau so wird Athiktés Tanz von Valéry beschrieben, denn letztlich verfügen die Dialogpartner über keine adäquaten Worte für eine Beschreibung der tänzerischen Gesten, die sie rezipiert haben. Valéry beschreibt Athiktés Bewegungen als Metamorphose, als Gestaltwechsel, konkret in ihrer sinnlichen Fassbarkeit und flüchtig zugleich. Didi-Huberman bezieht sich schließlich auf Freuds kurzen Artikel von 1916 mit dem Titel „Eine Beziehung zwischen einem Symbol und einem Symptom“54 und schreibt, dass das Symbol üblicherweise darauf angelegt ist, verstanden zu werden, und in dem Moment zum Symptom wird, wo es sich so weit verschiebt, dass es seine ursprüngliche Identität verliert; wo es wuchert, bis es seine Bedeutung erstickt und die Grenzen seines eigenen se-
51 Ebd., S. 228 52 Ebd., S. 229 53 Ebd., S. 230f. 54 Sigmund Freud 1981, „Eine Beziehung zwischen einem Symbol und einem Symptom“ (1916), in: ders., Gesammelte Werke X, Frankfurt am Main, S. 394f.
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miotischen Feldes überschreitet.55 Die Geste in ihrer konkreten sinnlichen Erscheinung macht immer auch die Entscheidung gegen alle anderen möglichen Gesten deutlich, die aber in ihrer Potentialität ein Teil, ein Aspekt davon bleiben. Die tänzerische Bewegung, so formuliere ich zusammenfassend die These dieses Kapitels, hat deshalb Attribute der Geste, der Pathosformel und des Symptoms, weil ihre Präsenz, ihr Sich-Zeigen plastisch intensiviert ist, Widersprüchliches gleichzeitig in sich fassen kann und weil ihre Symbolik insoweit verschoben ist, dass sie in der ästhetischen Erfahrung interpretiert werden muss. Valérys Dialog L’âme et la danse lese ich, wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, als Reflexion über den Tanz, in der sich erstens eben diese Attribute des Tanzes sehr deutlich wiedergespiegelt finden und die diese zweitens in einen anthropologisch-ästhetischen Zusammenhang stellt.
4. Feuer-Tanz, Ekstase und Metamorphose – Paul Valérys L’âme et la danse Es ist kein Zufall, dass die sogenannte literarische Sprachkrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeitlich zusammenfällt mit tanzgeschichtlichen Bestrebungen, welche die klassische Ballettästhetik zu überwinden suchen: dem Ausdruckstanz und dem freien Tanz, dessen bekannteste Protagonisten Loïe Fuller, Isadora Duncan und Ruth St. Denis sind. Fuller gilt als Pionierin des modernen „freien“ Tanzes, und sie ist die „inspiratrice“ der Tanzessays Stéphane Mallarmés, auf die Valéry sich bezieht und aus deren Gedankengut der tanzästhetisch bedeutende Dialog L’âme et la danse geboren wurde. Die Tanzdiskussion, auf die Valéry Bezug nimmt, liegt selbst auf der Schwelle von der danse d‘école, die auf den Bühnen Frankreichs noch sehr erfolgreich war,56 zum freien und zum Ausdruckstanz, die sich als Gegenkonzepte zum klassischen Tanz verstanden. Duncan lehnt die akademische Technik des Balletts ab. Sie nutzt für ihre expressionistische Körpersprache, die sie selbst auf antikes Gedankengut und Lebensgefühl
55 Didi-Huberman 2004, S. 231 56 Die danse d’école erreichte im Jahre 1895 mit einer legendären Petersburger Aufführung des SCHWANENSEE ihren Höhepunkt.
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zurückführt, Untersuchungen menschlicher Gesten von François Delsarte, der von Korrelationen zwischen menschlicher Psyche und Motorik ausgeht. Duncan tanzt barfuß und trägt, an antike Statuen erinnernd, deren Haltungen sie imitiert, ein leichtes Gewand. St. Denis glaubt ihren Stil im östlichen Tanz (Indien und Ägypten) verankern zu können und verleiht dem in ihren Handgesten und Posen Ausdruck. Neben den Ausdruckstänzerinnen ist es aber vor allem Fuller, die den Tanz revolutioniert. Sie trägt meterlange Stoffmassen, unter denen ihre körperlichen Konturen zu verschwinden scheinen. Sie stellt Schmetterling, Feuer, Wolke dar, versucht mit ihren Bewegungsfolgen gerade nicht, eine Geschichte zu erzählen. Es geht in ihren Tänzen um die Bewegung selbst, um die Verwandelbarkeit und Verwandlung ihres Körpers in der Bewegung. Fuller führt auch technische Innovationen auf der Bühne ein, tanzt etwa auf Konstruktionen aus Glasflächen und Spiegeln; aufgrund der komplexen Beleuchtungseffekte in ihren Aufführungen gibt man ihr in den neunziger Jahren in Paris den Namen „fée de l’électricité“. Sie arbeitet choreographisch vor allem mit Torsionen und Krümmungen des Rumpfes, die ihn an die Grenze der Balance führen. Poetologisch und choreographisch thematisiert sich die Krisensituation in einer selbstreflexiven avantgardistischen Ästhetik. Auch die Psychoanalyse gewinnt in dieser Zeit an Bedeutung; als Lehre der Psyche, die stets an den menschlichen Körper rückgebunden ist. In der Wechselbeziehung von Literatur und Tanz erscheinen die Strukturen sinnlicher Erfahrung und ihre symbolische Repräsentation als SinnErfahrung seit der Jahrhundertwende ins 20. Jahrhundert nicht mehr selbstverständlich vermittelbar.57 Charles Baudelaire zufolge hat die ästhetische Moderne eine dreifache Signatur: den Wandel, das Flüchtige und das Zufällige: „la modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent.“58 Da der Tanz sich durch seine Wortlosigkeit besonders dazu eignet, die Problematik einer Zeichenhaftigkeit, die sich dem Rezipienten im Augenblick ihrer Artikulation wieder entzieht, in der Kunst zu thematisieren, inspiriert er viele Literaten. Hier ist neben Valéry an Robert Musil, Rainer Maria Rilke oder Hugo von Hofmannsthal zu denken, dessen Freundschaft mit St. Denis ihn 1907 zu einigen Textentwürfen zu Tanz und
57 Vgl. Brandstetter 1995, S. 18ff. 58 Vgl. Charles Baudelaire 1954, „Le peintre de la vie moderne“ (1863), in: ders., Ouevres complètes, Yves-Gérard Le Dantec (Hg.), Paris, S. 881–920, S. 892
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Theater anregt. Auch Stéphane Mallarmé gelangt zu einer Neubewertung des Ästhetischen. In Fullers Inszenierungen fühlt er seinen poetologische Konzeption eines „beau négatif“ bestätigt. Mallarmé zufolge ist im Tanz die Zeichenproduktion unpersönlich, da der Körper zum Zeichen wird. Die Tänzerin ist deshalb für ihn keine Frau, die tanzt, sondern verschwindet und wird zu einer Metapher, in der die „écriture corporelle“ eine Gestalt findet: „À savoir que la danseuse n’est pas une femme qui danse, pour ces motifs juxtaposés qu’elle n’est pas une femme, mais une métaphore résumant un des aspects élémentaires de notre forme, glaive, coupe, fleur, etc., et qu’elle ne danse pas, suggérant, par le prodige de raccourcis ou d’élans, avec une écriture corporelle ce qu’il faudrait des paragraphes en prose dialoguée autant que descriptive, pour exprimer, danse la rédaction: poème dégagé de tout appareil du scribe.“59
Der Tanz hat in diesem Sinne für Mallarmé kein ausführendes oder sich ausdrückendes Subjekt, sondern konstituiert sich im Akt der Bewegung: „poème dégagé de tout appareil du scribe“. Er betont, dass Zeichen nur dann als solche gelesen werden können, wenn sie sich für einen Zuschauer erfahrbar machen. Er beschreibt die tänzerischen Gesten Fullers folgendermaßen: „Au bain terrible des étoffes se pâme, radieuse, froide la figurante qui illustre maint thème giratoire où tend une trame loin épanouie, pétale et papillon géants, déferlement, tout d’ordre net et élémentaire. Sa fusion aux nuances véloces muant leur fantasmagorie oxyhydrique de crépuscule et de grotte, telles rapidités de passions, dé-
59 „Nämlich: dass die Tänzerin keine Frau ist, die tanzt, aus den miteinander verbundenen Gründen, dass sie keine Frau ist, sondern eine Metapher, die einen der elementaren Aspekte unserer Gestalt, Schwert, Kelch, Blume, etc., in sich fasst, und dass sie nicht tanzt, sie suggeriert vielmehr, durch das Wunder von Raffungen und Schwüngen, mit einer Körperschrift etwas, wozu es ganzer Abschnitte dialoghafter wie auch beschreibender Prosa zu seinem schriftstellerischen Ausdruck bedürfte: Poem, losgelöst von allem Rüstzeug des Schreibers.“ Stéphane Mallarmé 1998, Kritische Schriften: französisch und deutsch. Gerhard Goebel und Bettina Rommel (Hg.), übersetzt von Gerhard Goebel unter Mitarbeit von Christine LeGal, eingeleitet und erläutert von Bettina Rommel, Gerlingen, S. 170 bzw. 171
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lice, deuil, colère: il faut pour les mouvoir, prismatiques, avec violence ou diluées, le vertige d’une âme comme mise à l’air par un artifice.“60
Fullers freier Tanz kann als Inszenierung eines Körpers interpretiert werden, der sich einem direkten deutenden Zugang entzieht.61 Ihr Körper erscheint als Inbegriff einer anhaltenden Metamorphose.62 Fuller selbst schreibt „Je sculpte de la lumière“63 und beschreibt damit die Flüchtigkeit ihres Gegenstands. Indem der Körper der Tänzerin unter den Stoffmassen immer weniger in seinen Formen sichtbar und die Bewegungen abstrakter werden, öffnet er sich einer multimedialen Vermittlung.64 Auch der Film wird durch Fuller zum Medium ihrer neuen Kunst. Mallarmé hat als erster die Bedeutung ihres Tanzes als Symbol bzw. Symptom einer Epoche er-
60 „In dem ungeheuren Bad der Stoffe verzückt sich leuchtend, kalt die Verbildlicherin manch eines Themas des Kreisens, auf das ein weithin gedehntes Grundmuster hinauswill, Riesenblüte und -falter, ein Branden ganz von klarer, elementarer Ordnung. Ihr Hinschmelzen in blitzraschen, ihre grottenhaft dämmernde Knallgas-Phantasmagorie wandelnden Nuancen, hinzucken von Leidenschaften, Wonne, Trauer, Zorn: um derlei in prismatischer Brechung, abrupt oder flirrend zu bewegen, bedarf es des Schwindels einer durch einen Kunstgriff wie bloßgelegten Seele.“ Vgl. Mallarmé 1998, S. 180 bzw. 181 61 Brandstetter spricht von einer „Entmaterialisierung des Körperlichen mit den Mitteln der modernen Technik“. Vgl. Brandstetter 1995, S. 337 62 Gerald Siegmund schreibt über den Tanzstil Loïe Fullers: „Licht und Kostüm entmaterialisieren sie gleichsam im wechselseitigen Spiel, indem sie sie in immer neue, nie stillzustellende und auf eine Gestalt zu reduzierende Formen tauchen.“ Gerald Siegmund 2000, „Biegen und Brechen. De-Formierter Tanz und manieristische Körperbilder“, in: Gabriele Brandstetter, Hortensia Völckers (Hg.), ReMembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung, Ostfildern-Ruit, S. 136–223; hier S. 154 63 Zitiert nach Brandstetter 1995, S. 337 64 Darauf hat auch der Literaturwissenschaftler Alain Montandon in seinem Vortrag über „Das Performative des Tanzes aus Sicht der Tänzerin“ am 9.12.2005 im Rahmen der Tagung „Tanz als Anthropologie“ in der Akademie der Künste in Berlin hingewiesen. Vgl. ders. 2007, „Das Performative des Tanzes aus der Sicht der Tänzerin“, in: Gabriele Brandstetter, Christoph Wulf (Hg.), Tanz als Anthropologie, München, S. 169- 181; hier S. 176
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kannt und beschreibt das Spiel der Phantasie bei der Tanzrezeption folgendermaßen: „Voici rendue au Ballet l'atmosphère ou rien, visions sitôt éparses que sues, leur évocation limpide. La scène libre, sauf gré de fiction, exhalée du jeu d'un voile avec attitudes et gestes, devient le très pur résultat.“65 Paul Valéry hat den Dialog L’âme et la danse – Dialogue socratique par Paul Valéry, der an die Symposienliteratur angelehnt ist, für eine Sondernummer der „Revue musicale“ vom 1. Dezember 1921 geschrieben, in der es um das Ballett des 19. Jahrhunderts gehen sollte.66 Der Dialog ergibt sich inhaltlich daraus, dass Valéry Mallarmés Gedanken zum Tanz als einer „écriture corporelle“ weiterführt und interpretiert. Die Beweglichkeit des Körpers ist in der Beweglichkeit der Sprache reflektiert. Die poetologische Funktion der in dem Dialog dargestellten Tanz-Ekstase ist, dass die Pathosformel der Ek-Stasis zum ästhetischen Modell eines medialen Vorgangs wird, dem der Metamorphose, des Gestaltwandels.67 In Valérys Dialog68 diskutieren der Philosoph Sokrates, der Arzt Eryximachos und der Naturwissenschaftler Phaidros nach einem üppigen Festgelage zunächst über die Nahrungsaufnahme und über diverse Krankheiten. Das Körperliche rückt so ins Zentrum des Gesprächs, noch bevor es, angeregt durch Darbietungen beim Gastmahl, um den Tanz geht. Die drei Männer beschwören gleichsam sprachlich das Auftreten der Tänzerin Athikté,69
65 Mallarmé 1998, S. 181f. bzw. S. 182f. „Nun hat das Ballett die Atmosphäre wieder oder nichts, Visionen, kaum erfaßt und schon zerstoben, deren helle und klare Beschwörung. Die Bühne in Freiheit, Fiktionen preisgegeben, dem Spiel eines Schleiers nebst Attitüden und Gesten entströmt, wird das hochreine Ergebnis.“ 66 Der gesamte Titel des Dialogs lautet: Numéro spécial de la Revue Musicale du 1er décembre 1921: le Ballet au XIXe siècle, Éditions de la Nouvelle Revue Française avec un frontispice de Galanis et trois dessins de Joseph Bernard. 67 Vgl. Brandstetter 1995 68 Der französische Text wird im Folgenden zitiert nach Paul Valéry 1960, „L’âme et la danse“, in: ders., Œuvres complètes, Band 2, Jean Hytier (Hg.), Paris, S. 148–176, die deutsche Übersetzung nach Paul Valéry 1990, Die Seele und der Tanz (1921), Frankfurt am Main, S. 5–38 69 Die Frage nach dem Zuschauer wird von Valéry vor allem in der Philosophie de la danse beantwortet, wo er schreibt: „une partie de notre plaisir de spectateurs est de se sentir gagnés par les rythmes et virtuellement dansants nous-mêmes!“
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die als Verkörperung einer Flamme erscheint und das Feuer als Phänomen der Verwandlung darstellt. Dabei kann Valéry hervorheben, dass die Tänzerin die Möglichkeit hat, mit ihrer Bewegung Metaphern aller erdenklichen Formen und abstrakten Ideen darzustellen. Das Leben aber führt sie immer wieder zurück auf die Begrenztheit des Alltäglichen, die Valéry in seiner Philosophie de la danse als „prose du mouvement humain“,70 als „Prosa der menschlichen Bewegung“71 bezeichnet. Die Tänzerin, die „danseuse“, wird wieder zur „femme qui danse“, sie kehrt zu ihrem eigentlichen Selbst zurück. „Mais comme nous ne pouvons aller à l’infini, ni dans le rêve ni dans la veille, elle, pareillement, redevient toujours elle-même; cesse d’être flocon, oiseau, idée; − d’être enfin tout ce qu’il plut à la flûte qu’elle fût, car la même Terre qui l’a envoyée, la rappelle, et la rend toute haletante à sa nature de femme et à son ami..."72
Valéry verzichtet in seinem Dialog auf Regieanweisungen. Der Leser erfährt lediglich durch das, was Sokrates, Eryximachos und Phaidros sagen, von dem Tanzen der Tänzerinnen. Valérys Sprache evoziert den Tanz, nicht indem er mimetisch schreibt, sondern strukturanalogistisch. Der Tanz entsteht in der Vorstellung des Lesers. Das ist eine Reaktion auf und Bestätigung des Gedankens Mallarmés, dass der Tanz eng mit der Phantasie verbunden ist. Man kann hier auch an den Sprachrhythmus an vielen Stellen des Tanzdialogs denken, der in ästhetischer Evidenz eine Verbindung zwi-
Paul Valéry 1957, „Philosophie de la danse“, in: ders., Œuvres complètes, Band 1, Jean Hytier (Hg.), Paris, S. 1390–1403; hier S. 1400. „Unser Vergnügen als Zuschauer besteht zum Teil darin, sich durch Rhythmen mitgerissen zu fühlen. Und in Gedanken tanzen wir selbst mit!" Paul Valéry 1995, Philosophie des Tanzes (1957), Frankfurt am Main, S. 243–257; hier S. 253 70 Valéry 1957, S. 1397 71 Valéry 1995, S. 251 72 Valéry 1960, S. 151. „Aber da wir nicht bis ins Grenzenlose können – weder im Traum noch im Wachen –, so muß auch es, in ähnlicher Weise, immer wieder es selbst werden; muß aufhören, Flocke zu sein, Vogel, Idee – aufhören, alles das zu sein, was dank der Flöte es sein durfte, denn die gleiche Erde, die es ausgesandt hatte, ruft es zurück und gibt es atemlos seiner weiblichen Natur wieder und seinem Freund...“ Valéry 1990, S. 10
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schen Tanz und Text aufdeckt.73 Die entgrenzenden Bewegungen, die in der Sprache präsentiert sind und den Tanz in bewegten Bildern hervorrufen können, sind in einer interessanten Dramaturgie zum Denken in Beziehung gesetzt. „Par les dieux, les claires danseuses!... Quelle vive et gracieuse introduction des plus parfaites pensées!... Leurs mains parlent, et leurs pieds semblent écrire.”74 Bevor aber die erste Tänzerin auftritt, spricht der Arzt Eryximachos die Verletzlichkeit der Körper der Tänzerinnen an, welches von der Enthobenheit des Tanzes auf dessen körperliche Realität verweist. Er erklärt, die Tänzerinnen „m’appellent pour toute chose. Entorses, boutons, fantasmes, peines de coeur, accidents si variés de leur profession".75 Phaidros beschreibt kurz darauf die vielen visuellen Eindrücke, die er durch den Tanz erfährt, und parallelisiert sie mit einem Traum, da die Bilder, wenn sie entstehen, gleich wieder vergehen und nicht festgehalten werden können: „Mille flambeaux, mille péristyles éphémères, des treilles, des colonnes... Les images se fondent, s’évanouissent... C’est un bosquet aux belles branches tout agitées par les brises de la musique! Est-il rêve, ô Éryximaque, qui signifie plus de tourments, et plus de dangereuses altérations de nos esprits?“76
Sokrates greift Phaidros‘ Gedanken von der Traumhaftigkeit des Tanzes auf. Auch er vergleicht den Tanz mit einem Traum, aber nicht seiner Ver-
73 „Paul Valéry [...] entwickelt ein poetologisches Modell der Komplementarität von Tanz und Text, von Bewegung und Stillstand, von Ekstase und Analyse“; vgl. Brandstetter 1995, S. 293 74 Valéry 1960, S. 151f. „Bei den Göttern, die hellen Tänzerinnen! ... Welche lebendige und anmutvolle Einführung der vollkommensten Gedanken! ... Ihre Hände sprechen, ihre Füße scheinen zu schreiben.“ Valéry 1990, S. 11 75 Valéry 1960, S. 153. „[Die Tänzerinnen; M.D.] rufen mich für alles, Verstauchungen, gewisse Bläschen, Einbildungen, Herzschmerzen, die vielfältigen Unfälle in ihrem Beruf“. Valéry 1990, S. 12f. 76 Valéry 1960, S. 154. „Tausend Fackeln, Vorhallen, die gleich wieder vergehen, Blumengitter, Säulen ... Die Bilder entstehen und schwinden ... Ein Gebüsch ist da, mit schönen Ästen, die alle sich bewegen im Winde der Musik! Gibt es einen Traum, Eryximachos, der mehr Bedrängnisse bedeutet und ein gefährlicheres Angegriffensein unserer Geister?“ Valéry 1990, S. 13
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gänglichkeit wegen, sondern weil er, so hebt Sokrates hervor, gegliedert und geordnet ist: „Âme voluptueuse, vois donc ici le contraire d’un rêve, et le hasard absent... Mais le contraire d’un rêve, qu’est-ce, Phèdre, sinon quelque autre rêve?... Un rêve de vigilance et de tension que ferait la Raison elle-même! – Et que rêverait une Raison? – Que si une Raison rêvait, dure, debout, l’oeil armé, et la bouche fermée, comme maîtresse de ses lèvres, – le songe qu’elle ferait, ne serait ce point ce que nous voyons maintenant, – ce monde de forces exactes et d’illusions étudiées? – Rêve, rêve, mais rêve tout pénétré de symétries, tout ordre, tout actes et séquences!...“77
Die Begriffe „Abwesenheit des Zufalls“, „Traum von Wachsamkeit“ und „Ordnung, Handlung und Abfolge“ weisen darauf hin, dass die Bewegungen, die dargestellt werden, geformt und rhythmisch angeordnet sind, eine wichtige Struktureigenschaft tänzerischer Gesten. Sokrates stellt die Frage nach dem Wesen des Tanzes, welche gleichzeitig eine Frage nach seiner Deutbarkeit ist: „Ô mes amis, qu’est-ce véritablement que la danse?“78 Phaidros und Eryximachos geben unterschiedliche Antworten. Phaidros macht den Tanz an der Vielfalt seiner Erscheinungen fest und hält Athiktés Bewegungen für klar deutbar: er erkennt darin den Inbegriff der Liebe: „Toute, Socrate, toute, elle était l’amour!... Elle était jeux et pleurs, et feintes inutiles! Charmes, chutes, offrandes; et les surprises, et les oui, et les
77 Valéry 1960, S. 154. „Wollüstige Seele! Erkenne hier also das Gegenteil eines Traumes und die Abwesenheit des Zufalls... Aber was ist, Phaidros, eines Traumes Gegenteil, wenn nicht ein anderer Traum?... Ein Traum von Wachsamkeit und Spannung, den die Vernunft selber träumte! – Und was könnte eine Vernunft träumen? Stünde sie so da, diese Vernunft, und träumte, fest aufrecht, den Blick bewaffnet und den Mund geschlossen, Herrin ihrer Lippen – wäre der Traum, den sie träumte, nicht das, was wir jetzt gewahren, diese Welt genauer Kräfte und vorgeübter Täuschungen? – Traum, Traum, aber Traum, der ganz von Symmetrien durchdrungen wäre, ganz Ordnung, ganz Handlung und Abfolge!“ Valéry 1990, S. 14 78 Valéry 1960, S. 161. „Aber was ist denn der Tanz, und was wollen Schritte sagen?“ Valéry 1990, S. 22
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non, et les pas tristement perdus...“79 Eryximachos hingegen widerspricht Phaidros und hinterfragt, ob der Tanz überhaupt etwas Konkretes darstellen kann. Er versteht ihn ästhetisch nicht als Gegenstand einer Repräsentation, glaubt nicht, dass er auf etwas verweist. „Phèdre, à tout prix, prétend qu’elle représente quelque chose!“80 Sokrates löst die Meinungsverschiedenheit zwischen seinen zwei Gesprächspartnern mit einer scheinbar paradoxen Aussage auf. Auf die Frage des Phaidros, ob Sokrates denn glaube, der Tanz stelle etwas dar, entgegnet er: „Nulle chose, cher Phèdre. Mais toute chose, Éryximaque. Aussi bien l’amour comme la mer, et la vie elle-même, et les pensées... Ne sentez-vous pas qu’elle est l’acte pur des métamorphoses?“81 Der Tanz ist für Sokrates nichts Bestimmtes und doch etwas alles Umfassendes.82 Er spricht damit von der Uneindeutigkeit der Sinndimension bei tänzerischen Bewegungen, die wiederum an konkretem sinnlichen Material offenbar wird. Als „l’acte pur des métamorphoses“ hat der Tanz durch Sokrates eine Bestimmung bekommen, die ihn nicht in Abstraktion zu definieren sucht, sondern das körperliche Moment der Bewegung in den Mittelpunkt rückt. Das augenblicklich sinnliche Erlebnis der tänzerischen Gesten Athiktés wird betont, und die Beweglichkeit der Interpretationsmöglichkeiten. Wie in Agambens Beschreibung der Geste tritt sie in ihrer Bewegung in ein kommentierendes Selbstverhältnis, und ihre tänzerische Geste zeigt sich im Gestaltwandel selbst als Mittel. Die Tänzerin steht in einem Verhältnis zu dem, was sie tut. Die Bewegung macht sich nach ihrer Ausführung nicht überflüssig.
79 Valéry 1960, S. 164. „Ganz, Sokrates, ganz und gar war sie die Liebe!... Sie war Spiel und Weinen und alles, was umsonst zu täuschen versucht! Bezauberung, Absturz und Opfer; und Überraschungen, die Ja und die Nein, und die traurig verschwendeten Schritte“. Valéry 1990, S. 24 80 Valéry 1960, S. 164. „Phaidros will um jeden Preis, daß sie etwas darstellen soll!“ Valéry 1990, S. 25 81 Valéry 1960, S. 164f. „Nichts, teurer Phaidros. Aber alles, Eryximachos. Ebensogut die Liebe wie das Meer, und das Leben selber und die Gedanken... Fühlt ihr denn nicht, dass sie der reine Vorgang ist der Verwandlungen?“ Valéry 1990, S. 25 82 Diese Gedanken erinnern an Schopenhauers Ästhetik der Willensmetaphysik, für den Musik der Ausdruck des Ding-an-sichs ist.
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Deshalb kann behauptet werden, das Mittel transzendiere sich in demselben Vorgang, in dem die Geste sich zeigt. Sokrates lenkt das Gespräch auf den Höhepunkt des Dialogs, er benennt den Lebensüberdruss, den „ennui de vivre“, „– cet ennui enfin, qui n’a d’autre substance que la vie même, et d’autre cause seconde que la clairvoyance du vivant. Cet ennui absolu n’est en soi que la vie toute nue, quand elle se regarde clairement.“83 Im Tanz besteht nun für Sokrates die besondere Möglichkeit, wie eine brennende Flamme, die Tänzerin ins Göttliche zu erheben, die Seele zu berühren, und dadurch den „ennui de vivre“ zu überwinden. Es ist, in Warburgs Sinne, die „innere Ergriffenheit“ in der Pathosformelartigkeit ihrer Geste, mit der Athikté den Lebensüberdruss sublimiert. Sokrates geht von der alltäglichen Bewegung aus und führt dann zum Tanz über. Erst in künstlerischen Objektivationen entsteht das, was man mit Cassirer „die Fülle des Lebens“ nennen kann, eine Intensität, die an den tänzerischen Gesten selbst festgemacht ist: „Que si nous comparons notre condition pesante et sérieuse, à cet état d’étincelante salamandre, ne vous semble-t-il pas que nos actes ordinaires, engendrés successivement par nos besoins, et que nos gestes et nos mouvements accidentels soient comme des matériaux grossiers, comme une impure matière de durée, — tandis que cette exaltation et cette vibration de la vie, tandis que cette suprématie de la tension, et ce ravissement dans le plus agile que l’on puisse obtenir de soi-même, ont les vertus et les puissances de la flamme; et que les hontes, les ennuis, les niaiseries, et les aliments monotones de l’existence s’y consument, faisant briller à nos yeux ce qu’il y a de divin dans une mortelle?“84
83 Valéry 1960, S. 167; „den Überdruß mit einem Wort, dessen Stoff das Leben selbst abgibt, und dessen Nebenursache in der Hellsichtigkeit des Lebenden beruht. Dieser absolute Überdruß ist an sich nichts als das bloße Leben, wenn es sich deutlich ins Auge faßt.“ Valéry 1990, S. 28 84 Valéry 1960, S.170. „Wenn es uns einfiele, unsere gewichtige und ernsthafte Lage mit dem Zustand eines Salamanders zu vergleichen, würde sich dann nicht herausstellen, daß unsere gewöhnlichen Handlungen, wie sie nach und nach aus unseren Bedürfnissen hervorgehen, daß unsere Gebärden und unsere gelegentlichen Bewegungen wie ein grober Rohstoff seien, wie eine aus Unreinem gemachte Dauer – während diese Entzückung und Schwingung des Lebens, während diese unübertreffliche Spannung, dieses Hingerissensein in die höchste Be-
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Valéry schafft hier thematisch die Rückbindung an eine frühere Stelle des Dialogs, in welcher der Leser Eryximachos als Arzt kennen gelernt hat, der die Leiden der Tänzerinnen behandelt. Valéry beschreibt in L’âme et la danse, wie die Tänzerin, auch wenn sie momenthaft ihren Zustand transzendieren kann, doch in ihre Körperlichkeit verstrickt bleibt. In ihrem Tanz drückt sich eine Lebendigkeit und Variabilität der Bewegung aus, die im Bild der Flamme ihren Ausdruck findet. Phaidros deutet auf die Analogie zwischen dem gerade von Sokrates Gesagten und der Tänzerin Athikté hin: „Admirable Socrate, regarde vite à quel point tu dis vrai!... Regarde la palpitante! On croirait que la danse lui sort du corps comme une flamme!“85 Sokrates nimmt das Sinnbild der Flamme wieder auf und beginnt einen drei Seiten langen Monolog über die Seele, den Körper und die Flamme der Tänzerin, die ihre zufälligen persönlichen Merkmale in den Hintergrund rückt. Die Flamme verkörpernd, ist die Tänzerin für Sokrates „Chose vive et divine!...“86 Der Leib und die Seele können im Tanz nur augenblickshaft unabhängig und universal sein, sich über die menschliche Beschränktheit erheben: „...Mais il en est de lui comme de l’âme, pour laquelle le Dieu, et la sagesse, et la profondeur qui lui sont demandés, ne sont et ne peuvent être que des moments, des éclairs, des fragments d’un temps étranger, des bonds désespérés hors de sa forme...“87
weglichkeit, deren man fähig ist, die Eigenschaften und Kräfte der Flamme besitzt; und daß alles, was Schande ist, Überdruß, Nichtigkeit und der ganze eintönige Unterhalt des Daseins sich darin aufzehrt, so daß in unseren Augen der Glanz des Göttlichen sich spiegelt, das in einer Sterblichen Platz hat?“ Valéry 1990, S. 31f. 85 Valéry 1960, S. 170. „Bewundernswürdiger Sokrates, schnell, sieh, bis zu welchem Grade du recht hast! ... Sieh die Bebende! Als ob der Tanz wie eine Flamme aus ihr schlüge!“ Valéry 1990, S. 32 86 Valéry 1960, S. 171. „Wacher und göttlicher Gegenstand!“ Valéry 1990, S. 32 87 Valéry 1960, S. 172. „Aber es verhält sich mit ihm [dem Körper; M.D.] wie mit der Seele, für die Gott, die Weisheit und die Tiefe, die man von ihr verlangt, nichts als Augenblicke sind und sein können, Blitze, Bruchstücke einer fremden Zeit, verzweifelte Sprünge aus den Grenzen ihrer Gestalt“. Valéry 1990, S. 34
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Valérys Formulierung von „verzweifelte[n] Sprünge[n] aus den Grenzen ihrer Gestalt“ verweist ihrerseits auf psychologische Vorgänge, ohne diese an der Persönlichkeit der Tänzerin festzumachen. Als Pathosformel wird die tänzerische Geste hier zu einem Teil einer allgemeinen „Psychologie menschlicher Ausdruckskunde“ – als solche versteht Warburg, wie an einer früheren Stelle beschrieben, sein Konzept der Pathosformeln. Wenn die Tänzerin Athikté erscheint, steht das Thema „Tanz als Metamorphose“, als der „reine Vorgang der Verwandlung“ im Mittelpunkt. Valéry schreibt, Athikté mache „den Augenblick sichtbar“, und dieser „Augenblick gebiert die Form, und die Form macht den Augenblick sichtbar“88 – „L’instant engendre la forme, et la forme fait voir l’instant“89. Brandstetter bezeichnet dieses Modell der Metamorphose als „Dialektik von Form und Augenblick reiner Präsenz“.90 Valéry verwendet dafür das Bild des Feuers: „Mais qu’est-ce qu’une flamme, ô mes amis, si ce n’est le moment même? − Ce qu’il y a de fol, et de joyeux, et de formidable dans l’instant même? […] − Voyez-moi ce corps, qui bondit comme la flamme remplace la flamme, voyez comme il foule et piétine ce qui est vrai! Comme il détruit furieusement, joyeusement, le lieu même où il se trouve, et comme il s’enivre de l’excès de ses changements!“91
Schon in der antiken Naturphilosophie gilt das Feuer als Paradigma der Metamorphose. Der Feuertanz der Athikté symbolisiert zugleich Erschöpfung und Schöpfung.92 Er ist, als Symptom, das in einer widersprüchlichen
88 Vgl. Valéry 1990, S. 34 89 Valéry 1960, S. 172 90 Vgl. Brandstetter 1995, S. 285 91 Valéry 1960, S. 171. „Aber was ist eine Flamme, o meine Freunde, wenn nicht der Augenblick selbst? – Das Tolle, das Ausgelassene, das Furchtbare, das der Augenblick enthält! [...] Seht mir diesen Körper, der aus sich springt wie eine Folge sich gegenseitig verdrängender Flammen, seht, wie er niederstampft und mit Füßen tritt, was wahr ist! wie er die Stelle selbst, auf der er steht, in freudiger Wut vernichtet, wie er sich berauscht an der Übertreibung seiner Verwandlungen!“ Valéry 1990, S. 32 92 Auch in Valérys Philosophie de la danse taucht die Metapher der Flamme auf, mit der die Tänzerin verglichen wird: „Notre philosophe peut aussi bien comparer la danseuse à une flamme, et, en somme, à tout phénomène visiblement ent-
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Gleichzeitigkeit Entstehen und Vergehen zum Ausdruck bringt, Geborenwerden und Sterben. 1894 inszeniert Fuller in ihrem „Danse du Feu“ (zur Musik von Richard Wagners „Walkürenritt“) die Metamorphose des Feuers, indem sie sich auf einem Glaseinsatz im Bühnenboden bewegt, der von unten farbig beleuchtet wird. Durch die Stoffmassen ihres Kleides, die in einem Feuer suggerierenden Licht mit den Farben Weißgelb, Orange und Rot angestrahlt werden, wirkt es, als stünde sie selbst in Flammen oder wäre eine Flamme.93 Athikté fällt in der Bewegung dieses Feuertanzes, kommentiert von den drei Männern, in eine Trance, in den Wirbel eines Drehtanzes. Ihre Bewegungen werden von Valéry als Versuche ihrerseits verstanden, die beschränkte Welt des Menschen zu transzendieren:94
retenu par la consommation intense d’une énergie de qualité supérieure.“ Valéry 1957, S. 1396 „Ebenso kann unser Philosoph die Tänzerin mit einer Flamme vergleichen oder alles in allem mit jedem Phänomen, das durch den starken Verbrauch von höherer Energie sichtbar in Gang gehalten wird.“ Vgl. Valéry 1995, S. 249 93 Es gibt keine Quellen, die belegen, ob Valéry diese Inszenierung kannte. Auch gibt es keinen Hinweis darauf, ob Valéry als begeisterter Nietzsche-Leser dessen Gedicht Ecce Homo kannte: „Licht wird alles, was ich fasse,/ Asche alles, was ich lasse./ Flamme bin ich sicherlich [...]“. In einem Brief an Louis Séchan vom August 1930 nennt Valéry als einzige Vorlagen für seinen Dialog L’âme et la danse eine Studie von Maurice Emmanuel über den griechischen Tanz und die chronophotographischen Bild-Serien von Etienne-Jules Marey. 94 „Mais ce détachement du milieu, cette absence de but, cette négation des mouvements explicables, ces rotations complètes (qu’aucune circonstance de la vie ordinaire n’exige de notre corps), ce sourire même qui n’est à personne, tous ces traits sont décisivement opposés à ceux de notre action dans le monde pratique et de nos relations avec lui.“ Valéry 1957, S. 1399 „Doch diese Loslösung von der Umgebung, dieses Fehlen eines Ziels, diese Verneinung erklärbarer Bewegungen, diese vollständigen Drehungen (die kein alltäglicher Umstand unserem Körper abfordert), ja selbst dieses Lächeln, das niemandem gilt – alle diese Züge sind entschieden jenen gegenübergestellt, die unser Handeln in der praktischen Welt und unseren Bezug zu dieser darstellen.“ Vgl. Valéry 1995, S. 252
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„SOCRATE [...] Voyez-vous... Elle tourne... Un corps, par sa simple force, et par son acte, est assez puissant pour altérer plus profondément la nature des choses que jamais l’esprit dans ses spéculations et dans ses songes n’y parvint! PHÈDRE On croirait que ceci peut durer éternellement. SOCRATE Elle pourrait mourir, ainsi... ÉRYXIMAQUE Dormir, peut-être, s’endormir d’un sommeil magique... SOCRATE Elle reposerait immobile au centre même de son mouvement. Isolée, isolée, pareille à l’axe du monde... PHÈDRE Elle tourne, elle tourne... Elle tombe! SOCRATE Elle est tombée!"95
Brandstetter deutet Tanz-Trance, Tanz-Hypnose und Drehtanz als „Muster der suggestiven oder der autosuggestiven Löschung des wachen Bewußtseins [...]; Methoden der Ekstatisierung mittels Bewegung, durch die die Lockerung und Öffnung von stabilen Ich-Strukturen eingeleitet wird, um das Erinnern von archaischen schöpferischen Kräften zu fördern, die ‚normalerweise’ (nach der Theorie der kommentierenden Psychologen) von der Kruste der formalisierten Lebensbedingungen, von den verallgemeinernden Codierungen aller (Körper-)Äußerungen des Subjekts verdeckt und gehemmt sind.“96
Sie fährt an derselben Stelle fort, dabei erscheine gerade durch die „partielle Löschung des kulturellen und des individuellen Gedächtnisses“ in der Trance eine Freisetzung von primär künstlerischen, „aus dem Körper entspringenden Kräften“. Sie bezeichnet daher den Dreh-Tanz, die Hypnose und die Tanz-Ekstase als „Übergänge[…] vom individuellen Ich in trans-
95 Valéry 1960, S. 174. „SOKRATES […] Seht ihr ... Sie dreht ... Ein Körper durch seine bloße Kraft, durch seine Handlung ist mächtig genug, das Wesen der Dinge gründlicher zu verändern, als es jemals dem Geist in seinen Untersuchungen und Träumen gelingt! / PHAIDROS Es sieht aus, als könne das ewig dauern. / SOKRATES Sie könnte sterben in diesem Zustand ... / ERYXIMACHOS Schlafen, vielleicht, einschlafen in einen magischen Schlaf ... / SOKRATES Unbeweglich würde sie ruhn in der Mitte ihrer Bewegung. Ganz für sich, ganz für sich, gleich der Weltachse ... / PHAIDROS Sie dreht, sie dreht ... Sie fällt! / SOKRATES Sie ist gefallen!“ Valéry 1990, S. 36 96 Brandstetter 1995, S. 275
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personale Zustände“.97 Hier werden einige Themen angesprochen, die auch in der früheren Beschreibung der Tanzbewegung eine Rolle gespielt haben: das Transitorische der Bewegung, das Augenblickshafte und Ephemere im Sich-Zeigen der Geste, das Außer-sich-Sein, das die Gebrochenheit von Körperhaben und Leibsein spürbar macht. Es sind Motive, die Valéry in seinem Dialog thematisiert, indem er die Ekstase in der Vorstellung seiner Leser entstehen lässt. Athikté erwacht benommen aus diesem Trancezustand. Der Verfasser überlässt ihr das letzte Wort in seinem Dialog: „Asile, asile, ô mon asile, ô Tourbillon! − J’étais en toi, ô mouvement, en dehors de toutes les choses...“98 Der Dialog endet mit Athiktés Rückerinnerung an ihre Ekstase, an die „absence“, die sie durch ihr Tanzen gespürt hat. Aber es fällt auf, dass sie fast sprachlos ist. Brandstetter schreibt, das Thema der Darstellung von Tanz-Trance ist „[d]as Bewusstsein, daß der Moment der Entgrenzung, die augenblickshafte Aufhebung der Differenz von Subjekt und Objekt, keine Erfahrung von Dauer beinhaltet, daß der Bruch noch spürbarer wird nach dem Verschmelzungserlebnis im transitorischen Prozess der Verwandlung im Tanz“.99
Athikté hat keine Begriffe, um zu beschreiben, was mit ihr geschehen ist, es entzieht sich letztlich einer abschließenden Deutung. Die plastische Intensität ihrer tänzerischen Geste sorgt dafür, dass diese sich zugleich mit ihrem Präsentwerden entzieht, da sich in der Sinnlichkeit ein Bedeutungsüberschuss ausdrückt, der verbal nicht gefasst werden kann. Das Symptomale und Exzentrische der Trance wird in Athiktés Worten deutlich, wenn sie wieder zu sich kommt. Exzentrizität bedeutet, außer sich zu sein. In einem Plessnerschen Sinne ist das Außer-sich-Sein ermöglicht durch das KörperHaben und das Leib-Sein, welche im Menschen einen Bruch auslösen, und das zeichnet die menschliche Positionalität aus. Brandstetter spricht im Zusammenhang mit dem Drehtanz und der Trance von einem „äußerste[n] Augenblickspunkt einer Verwandlung, die im Tanz wie in keiner anderen
97 Ebd. 98 Valéry 1960, S. 176. „Zuflucht, Zuflucht, o meine Zuflucht, o Wirbel! – Ich war in dir, o Bewegung / draußen außerhalb aller Dinge“. Valéry 1990, S. 37 99 Brandstetter 1995, S. 276f.
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Kunst zur Erscheinung eines ganz Anderen, Nicht-Bezeichenbaren wird“.100 Das „ganz andere“, das im Tanz zutage tritt, ist in erster Linie die lebendige Erscheinung selbst, das sinnliche Wahrnehmungsmaterial der Bewegung. Der Zuschauer geht in einer Aufführungssituation körperlich viel mehr „mit der Bewegung“ mit als beispielsweise in einem eher stillgestellten Bild im Film. Das dialogische Denken, welches sich in Valérys Sprache spiegelt, ist wiederum zu der dialogischen Struktur des Tanzes in Verbindung zu setzen, die Valéry in seiner Philosophie de la danse folgendermaßen umschreibt: „dans l’état dansant, toutes les sensations du corps à la fois moteur et mû sont enchainées et dans un certain ordre, – qu’elles se demandent et se répondent les unes les autres, comme si elles se répercutaient, se réfléchissaient sur la paroi invisible de la sphère des forces d’un être vivant.“101
Der Tanz ist bei Valéry anthropologisch eine Möglichkeit des Menschen, mit sich selbst und anderen in einen kreativen Austausch zu kommen. L’âme et la danse ist ein Mitvollziehen des Tanzes, in dem das Bewusstsein nicht nur über die Bedeutung des Tanzes nachdenkt, sondern in der Denkbewegung in einen Dialog mit sich selbst tritt. Er rückt Tanz thematisch in die Nähe zur Psychoanalyse, wenn er in einem seiner Cahiers schreibt, Tanz „könnte darstellen, was wir uns vorstellen, in Kontrast zu dem, was wir können und machen. Also sich dazwischenschieben als Ausdruck des Begehrens, des Ersehnens, des Grollens – AFFEKTIVE BILDER.“102 Als
100 Vgl. ebd., S. 286f. 101 Valéry 1957, S. 1396; „im tanzenden Zustand [sind] alle Empfindungen des Körpers, der zugleich Antrieb wie in Gang Gehaltenes ist, in einer bestimmten Ordnung miteinander verknüpft [...] – daß sie sich gegenseitig Rede und Antwort stehen, als bestünde zwischen ihnen eine Wechselwirkung, eine Widerspiegelung auf der unsichtbaren Wandung der sphärischen Kräfte eines Lebewesens.“ Valéry 1995, S. 249f. 102 Vgl. Paul Valéry 1993, Cahiers/Hefte, Band 6: Kunst und Ästhetik, Poietik, Poesie, Literatur, Gedichte und kleinere abstrakte Gedichte, Themen, Homo, in: ders., Cahiers/Hefte, 6 Bände, Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt (Hg.), Frankfurt am Main, S. 72
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Ereignis ihrer eigenen Verkörperung, oszilliert die tänzerische Geste, in Agambens Worten, zwischen Akt und Potenz, Verwirklichung und Möglichkeit. Auch in der konkreten Ausführung einer tänzerischen Geste geht dieser potentielle Charakter nicht verloren. Bei Valéry wird explizit, dass er ebenfalls eine solche Sphäre des Möglichen voraussetzt. „Die Macht des Menschen wird durch die Tatsache vervielfacht, dass seine gedankliche Reichweite nicht durch seine unmittelbaren Fähigkeiten begrenzt wird – und davon unabhängig ist. Wenn der Geist 1. nur Erinnerung bilden könnte, 2. nur solche Gedanken, die mit Hilfe tatsächlicher, an einer Erinnerung erwiesener Fähigkeiten zustandekommen – dann Animalität. Der Mensch jedoch sondert Mögliches ab und verfügt darüber.“103
In Valérys Darstellung, wie der Mensch das Mögliche in Regie nehmen und formen kann, drückt sich ein anthropologischer Anspruch aus. Er beschreibt die Vorstellungskraft als „Macht“ zur Selbsttranszendenz. Das rückt ihn thematisch nahe an Gehlens Deutung der Phantasie als eines „nicht weiter auflösbaren Urphänomens im Sinne der Fähigkeit, sich resp. sich und die Dinge, mit denen man ein ‚kommunikatives System’ bildet, in andere Lagen zu versetzen, als wir selbst und diese Dinge in Wirklichkeit haben. Wir können sozusagen unser real gegenwärtiges Verhalten in einer Art inneren Stellungswechsels in ein nächstmögliches Verhalten hinein fortsetzen.“104
In Valérys L’âme et la danse zeigt sich Tanz als eine kulturelle Technik, mit welcher der Mensch über sich hinaus streben kann. Als Pathosformeln, als „Engramme innerer Ergriffenheit“, weisen tänzerische Bewegungen über das individuelle Dasein hinaus. Sie ermöglichen Deutungsprozesse, die in Cassirers Terminologie von einem „Ichpol“ zum anderen führen. Die Intensität, die sich in der Präsenz und sinnlichen Fülle der tänzerischen Geste dartut, auch in den Fällen, in denen eine Leiblichkeit präsent wird, die auf eine Virtualität verweist, weil sie gerade als ausgeführte Bewegung nicht aktualisiert wird, ist selbstreferenziell und führt den Menschen letzt-
103 Ebd., S. 554 104 Gehlen: Der Mensch, S. 185
TANZ ALS GESTE, PATHOSFORMEL UND SYMPTOM ǀ
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lich auf sich selbst und auf seine Lebendigkeit zurück. Die Formenlehre wird durch Warburg um eine Ausdruckslehre ergänzt, verstanden als Symptomatologie im Sinne Freuds. Die tänzerische Geste offenbart, in Agambens Worten, ein „wechselseitiges Beben der Potenz im Akt und des Aktes in der Potenz“.105
105 Agamben betont zu Recht, dass Warburgs Mnemosyne eher eine „Repräsentation der Gesten der abendländischen Menschheit […] in virtueller Bewegung“ ist als eine bildwissenschaftliche Arbeit; vgl. Agamben 2006, S. 50f. Für Warburg schreibt sich das kulturelle Gedächtnis in und mit der Geste fort.
T ANZPRAKTISCHER E XKURS 4 C AFÉ M ÜLLER von Pina Bausch (UA 1978) und APOLLON von George Balanchine (UA 1928) „Eine Epoche, die ihre Gesten verloren hat, ist eben deshalb zwanghaft von ihnen besessen.“1
Die Choreographie APOLLON von George Balanchine wird gemeinhin als Geburtsstunde des neoklassischen Balletts angesehen. CAFÉ MÜLLER von Pina Bausch ist eines der bedeutendsten Stücke des deutschen Tanztheaters, welches tanzgeschichtlich als Gegenbewegung zum klassisch-akademischen Tanz verstanden wird, da es Alternativen zu Formalisierungen und Reglementierungen des Körpers sucht, für die der klassische Tanz mit dem Schönheitsideal des 19. Jahrhunderts paradigmatisch steht.2 Im Tanztheater wird, zumeist mit gesellschaftskritischem Impetus, in größerem Maße mit alltäglichen Bewegungen gespielt. Oft werden sie verfremdet, so dass der Aspekt einer Bedeutungsverschiebung evident ist. Das Tanztheater neigt darüber hinaus dazu, anders als die danse d’école, körperliche Besonderheiten, eine für Tanzende ungewöhnliche Größe oder Statur, nicht als Hindernisse für eine tänzerische Karriere zu sehen. Individualität wird in einem höheren Maße unterstützt, nicht nur, was körperliche Charakteristika angeht, sondern auch in den persönlichen Geschichten und lebensweltlichen Schicksalen, die oftmals tänzerisch erzählt werden. Es leuchtet unmittelbarer ein, die These des letzten Kapitels, dass Tanzbewegungen Attribute der Geste, der Pathosformel und des Symptoms tragen, an einem Beispiel des Tanztheaters zu veranschaulichen. Um zu zeigen, dass gleichwohl auch in Bewegungen des klassischen Tanzes die These Gültigkeit besitzt, ziehe ich neben CAFÉ MÜLLER auch APOLLON heran. Es wird in beiden Tanzstücken ein besonderes Augenmerk auf jeweils eine Bewegung gelegt, die ich im Sinne der These deute. 1
Agamben 2006, S. 50
2
Dass auch der klassische Tanz damit sehr einseitig beschrieben wird und sich seit seinem Entstehen stark gewandelt und Innovationen in sich aufgenommen hat, beschreibt der Tanzkritiker Richard Merz 2001 in seinem Essay „Wie kam der Hund zum Tritt? Und wie das klassische Ballett zu seinem schlechten Ruf?“ Vgl. balletttanz 07/2001, S. 18–21
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Pina Bauschs C AFÉ M ÜLLER Pina Bausch hat seit den späten 1970er Jahren und bis zu ihrem plötzlichen Tod 2009 eine besondere Arbeitsweise geschaffen, die sich auch in CAFÉ MÜLLER niederschlägt: Sie entwickelt die Stücke gemeinsam mit ihrem Ensemble, indem sie diesem, von einer Idee ausgehend, Fragen nach Befindlichkeiten und persönlichen Erlebnissen stellt und aus den improvisierten Antworten, die sie handschriftlich dokumentiert, oft erst nach Wochen einzelne Szenen, Gesten oder Sätze wiederholen lässt. Bausch sagt in einem Interview: „Die Schritte sind immer woanders hergekommen; die kamen nie aus den Beinen.“3 So sammelt sie mit ihren Tänzerinnen und Tänzern, die meisten gehören seit Jahrzehnten zur Kompanie, Material zu Themenkomplexen aus Alltagserfahrungen, das sie dann nach ihren Vorstellungen zusammensetzt. Die Stücke, die dann zumeist keinem linearen Handlungsfaden folgen, sondern nach filmischen Montagetechniken arrangiert sind, kreisen meistens um zwischenmenschliche Beziehungen, Nähe und Einsamkeit, Hoffnung und Angst. So ist es auch in CAFÉ MÜLLER, wobei die Choreographin hier wehmütige Frauenarien von Henry Purcell als musikalische Untermalung gewählt hat, die, eine der wenigen Ausnahmen in Bauschs Stücken, nicht fragmentiert oder verfremdet werden, aus The Fairy Queen und Dido and Aeneas. Auch wenn sich Bausch immer mehr von herkömmlichen Bewegungen des klassischen Balletts und des Modern Dance abwendet und mit alltäglichen Bewegungen arbeitet, behandelt sie das Material als Choreographin: „Sie berücksichtigt […] die kompositorischen Faktoren des Tanzes: Die Energie, die Form, den Raum, den Rhythmus. Ihr Schaffen strebt hin zur Genauigkeit und Einfachheit.“4 Bausch schafft Bewegungssequenzen, die oft Kompositionsarten des klassischen und modernen Tanzes aufnehmen und ins Extrem treiben: Wiederholungen von Schrittfolgen, die bei ihr oft aus alltäglichen Bewegungen zusammengesetzt sind, aber wie etabliertes Tanzvokabular benutzt werden; Raumorientierungen wie z.B. das en face, bei
3
Pina Bausch, zitiert nach Norbert Servos 1996, Pina Bausch – Wuppertaler Tanztheater oder Die Kunst, einen Goldfisch zu dressieren, Seelze-Velber, S. 298
4
Vgl. Jean Cébron, Tänzer und Choreograph, zitiert in Susanne Schlicher 1987, TanzTheater. Traditionen und Freiheiten. Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Hans Kresnik, Susanne Linke, Reinbek bei Hamburg, S. 145
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dem Tanzende dem Publikum frontal zugewandt sind, das sie aber gesellschaftskritisch verwendet, um narzisstische Tendenzen der zeitgenössischen Kultur aufzuzeigen.5 Sie bedient sich auch an Stilmitteln aus anderen Sparten, Oper und Theater, und lässt ihre Darsteller sprechen oder singen. CAFÉ MÜLLER ist ursprünglich der Gesamttitel eines vierteiligen Abends, an dem 1978 am Tanztheater Wuppertal neben Pina Bauschs Beitrag drei Tanzstücke der Gastchoreographen Gerhard Bohner, Hans Pop und Gigi-Gheorghe Caciuleanu uraufgeführt wurden. Heutzutage wird nur noch Bauschs ca. 49minütiger Beitrag gespielt, meistens in Kombination mit ihrem SACRE DU PRINTEMPS von 1975. Die vier Choreographen einigten sich auf folgende Rahmenbedingungen: „ein Cafésaal, Dunkelheit, vier Personen, jemand wartet, jemand fällt um, wird aufgehoben, ein rothaariges Mädchen kommt herein, alles wird still“.6 Pina Bausch übernimmt in CAFÉ MÜLLER selbst eine Tanzrolle, und es wird nach einer Beschreibung des Stücks um eine ihrer tänzerischen Gesten gehen, die genauer untersucht wird. Das Bühnenbild zeigt im Hintergrund eine Drehtür aus Glas, im Vordergrund einen unbeleuchteten Cafésaal, in dem unzählige runde Tische und Stühle wahllos verteilt sind. Das Stück beginnt damit, dass im Dunkeln eine Frau (Pina Bausch) im dünnen weißen Hemdchen und barfuß die Bühne betritt. Ihre Augen sind geschlossen, und ihre zuckenden und zurückhaltenden Bewegungen erwecken den Anschein, sie würde schlafwandeln oder befindet sich in einer Trance (Abb. 24 und 25). Ihr Körper wirkt ausgezehrt und zerbrechlich, und ihre Bewegungen wirken wie eine Klage. Dieser Eindruck verstärkt sich, weil gleichzeitig Purcells sehnsüchtige Liebesarien zu hören sind.
5
Dazu ebd., S. 146
6
Vgl. Norbert Servos 2003, Pina Bausch. Tanztheater, München, S. 69f.
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Abb. 24
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Abb. 25
Im Laufe des Stückes taucht noch eine Tänzerin (Malou Airaudo) im Hemdchen und mit geschlossenen Augen auf, die ebenfalls wie in ihrer eigenen Gefühlswelt gefangen scheint. Außerdem sind drei Männer in dunklen Anzügen auf der Bühne (Dominique Mercy, Jan Minarik und Jean Laurent Sasportes). Die verstellte Bühne mit ihren leeren Stühlen, die Menschen vermissen lässt, erschwert raumgreifende Bewegungen der Darsteller. Das gilt in einem besonderen Maße für die beiden Tänzerinnen, die selbstverloren und mit geschlossenen Augen tanzen, Bewegungssequenzen mal synchron und mal nacheinander ausführen. Sie streichen sich mit den Händen über ihre Körper oder rutschen kraftlos an der Wand entlang auf den Boden (Abb. 26). Während die eine im Hintergrund und im Halbdunkel bleibt (Bausch), traut sich die andere in ihrer Trance mehr nach vorne in den Raum (Airaudo). Ein Darsteller (Sasportes) bemüht sich unter großer Anspannung und Konzentration darum, so schnell wie möglich alle Stühle und Tische aus dem Weg zu räumen, damit sie sich nicht daran stößt und verletzt.7 Die Anspannung überträgt sich auf den Zuschauer, der nie weiß,
7
In der Uraufführung wird diese Rolle von Rolf Borzik getanzt, dem damaligen Bühnenbildner und Lebensgefährten Pina Bauschs, der früh einer schweren Krankheit erlag. Norbert Servos schreibt, das Stück „erzählt von Einsamkeit und Zwanghaftigkeit, aber auch von der Suche nach einem anderen Tanz, einem anderen Theater, das keinem schönen Schein mehr verpflichtet ist, sondern den Gefühlen auf den Grund geht“. Der Bühnenbildner schafft hier den Tänzern tatsächlich „Bewegungsspielräume“, die ihnen sonst verwehrt blieben, und das „nicht mehr hinter den Kulissen, sondern auf offener Bühne“. Vgl. Servos 2003, S. 72
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ob es dem Mann (in Abb. 27 links zu sehen) jedes Mal gelingen wird, einen Freiraum für die Tänzerinnen in den Nachthemden zu schaffen, oder ob er zu spät kommen könnte. Abb. 26
Abb. 27
Airaudo begegnet einem der Männer (Abb. 27 rechts), aber das Paar, das sich umarmt und bei einander Halt sucht, wird von einem anderen Mann (Minarik) immer wieder auseinander gerissen. Dann kehrt sich die Situation um: Minarik will das Paar so platzieren, dass er sie auf seinen Händen trägt, winkelt die Arme des Mannes an und legt sie hinein. Aber die Frau rutscht immer wieder von den kraftlosen Armen des Mannes ab, landet auf dem Boden, steht wieder auf und umklammert ihn. Die Sequenz wiederholt sich in zunehmendem Tempo. Schließlich steigt Mercy einfach über sie hinweg und geht zur Seite ab. Immer wieder schlagen Köpfe und Körper an Wände oder auf Tische, wie von einer blinden Energie oder von Wahnsinn getrieben. Die Darsteller sind wie in einem Alptraum, in einer Endlosschleife gefangen, in der sie die Kontrolle über den eigenen Körper verloren haben und wie Marionetten hin und her geworfen werden. Die Figur von Sasportes, der Mann, der geistesgegenwärtig Stühle und Tische wegstößt, um die Tanzenden zu schützen, wird scheinbar von keinem anderen Darsteller wahrgenommen, mit Ausnahme einer rothaarigen Frau mit Stöckelschuhen (Nazareth Panadero), die immer wieder nervös und ängstlich in ihren Mantel gehüllt den Raum betritt und hektisch durch den Raum läuft, als suche sie jemanden oder etwas. Sie beobachtet die anderen und scheint Kontakt aufnehmen zu wollen. Das Geschehen auf der Bühne irritiert sie sichtlich (Abb. 28). Am Ende setzt
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Panadero einer der selbstverloren tanzenden Frauen ihre rote Perücke auf, legt ihr ihren Mantel um die Schultern und verlässt, wie alle anderen Darsteller, die Bühne. Abb. 28
In CAFÉ MÜLLER prallen zwei Welten aufeinander: Zum einen scheint es so, als stünden Bausch und Airaudo, die zwei Tänzerinnen mit geschlossenen Augen, bzw. Airaudo und Mercy, das Paar, das keine Beziehung zueinander aufbauen kann, unter einem Bann oder seien in einem bösen Traum gefangen. Nur Sasportes ist wach und kann sie beschützen. Er stellt ebenso eine Gegenwelt dar, wie die Rothaarige, Panadero, die sich in das Café verirrt hat und keinen Kontakt zu anderen aufbauen kann. Diese beiden Figuren sind als einzige nicht mit diesem Fluch belegt. Da Pina Bausch als erste den Bühnenraum betritt, im Dunkeln, mit geschlossenen Augen, schlafwandlerisch, und nur mit dem dünnen Hemdchen bekleidet, kann man das ganze Stück auch als Traum oder Vision einer Choreographin interpretieren, welche die „Puppen“ für sich tanzen lässt. So interpretiert, oszilliert das Stück in einer Spannung zwischen einer Allmachtsphantasie, dem Wunsch nach Kontrolle, und einer Ohnmacht, da die Distanz zwischen den Darstellern unüberbrückbar und das Gegenüber unerreichbar scheint. Will man das Tanztheaterstück auch als selbstreferentiell, als Reflexion über die Tanzkunst verstehen, dann stellen die Stühle
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und Tische, die den Weg versperren, auch Barrieren für den Tanz dar. Das Stück ist getragen von einer tiefen Melancholie und unerfüllten Sehnsucht nach menschlicher Nähe und Geborgenheit, und nach einem „anderen“ Tanz, dem die Wege offenstehen. „In Pina Bauschs Stücken ist beides sichtbar – der Traum vom Fliegen und die Erdenschwere, die Artistik des freien Körpers und die zugrunde liegende Dressur, die Sehnsucht, aus sich heraus zu gehen und die Angst vor Selbstpreisgabe und Verletzung, die artistische Vollkommenheit und die Gefährdung. Das Risiko dieser Balancen.“8
Ich möchte nun eine Armbewegung bzw. -haltung Pina Bauschs im Besonderen betrachten, die in sich eine Spannung fasst, die zulässt, von einer Geste, einer Pathosformel und einem Symptom zu sprechen. Die Arme der beiden somnambulen Tänzerinnen drücken in CAFÉ MÜLLER eine Sehnsucht aus, was in ganz besonderem Maße für die Geste Bauschs gilt, die in Abb. 29 festgehalten ist. Abb. 29
8
Vgl. Schlicher 1987, S. 153
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Die Geste fällt zunächst im Stück durch ihre „plastische Intensität“ auf. Müsste man eine charakteristische Bewegung von CAFÉ MÜLLER benennen, wäre es vermutlich diese. Die Tänzerin geht wiederholt in dieser Haltung mit geschlossenen Augen vorsichtig in den Raum, als suchte sie Kontakt. Die Geste ist empfangend und drückt eine Offenheit aus gegenüber dem, was auf sie zukommen könnte. Der ausgezehrte Körper der Tänzerin, der zu diesem Eindruck beiträgt, scheint Körperkontakt oder eine Nähe zu ersehnen. Die Geste in ihrer Schlichtheit und Eindringlichkeit ist wie ein Symptom dessen, was in CAFÉ MÜLLER ausgedrückt werden soll. Der Journalist Hervé Guibert schreibt von seiner Sprachlosigkeit, nachdem er das Stück gesehen hat: „Man hat nur wenig von diesem Stück behalten, außer dass es etwas Essentielles ist, von dem man sprechen muss und das hier ausgesprochen wird, ein für alle Mal, besser als je zuvor, so hart und klar, dass man zittert und sprachlos ist, und mit einem Verband ums verwundete Herz aus dem Stück kommt. Tränengebadet.“9
Die plastische Intensität der Geste macht zunächst sprachlos. Das liegt auch daran, dass sie neben ihrer Offenheit auch das Gegenteil dessen ausdrückt. Die gestreckten Arme der Tänzerin sind angespannt, und bei der Art, wie Bausch sie vor ihrem Oberkörper ausrichtet, denkt man unwillkürlich, dass alles, was auf sie zukommen würde, vermutlich abprallen könnte. Sie tanzt sehr in sich gewendet und erinnert an eine Schlafwandlerin, die nicht aufwachen würde, auch wenn jemand direkt vor ihr stehen und sie ansprechen würde. Die Figur, die von der Choreographin getanzt wird, wirkt zuweilen, besonders durch diese Geste, wie eine Vision, vielleicht eine sakrale Gestalt, die nicht in das Hier und Jetzt gehört. Als Symptom zeigt die Geste „mehr als nur sich selbst“. Das scheinbar Überzeitliche der Geste, ihre Künstlichkeit, macht sie zu einer Pathosformel, zu einer Körperrepräsentation der Gattung Mensch, die in einem anderen Zusammenhang auftauchen und in ihrer Bedeutung verschoben sein könnte.
9
Hervé Guibert über CAFÉ MÜLLER, in Le Monde, 28. Januar 1982. Aus dem Französischen von Katharina von Bismarck. Zitiert in Café Müller. Une pièce de/Ein Stück von/A piece by Pina Bausch. Tanztheater Wuppertal, 2010 L’Arche Éditeur à Paris, S. 49
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George Balanchines A POLLON George Balanchines Choreographie APOLLON MUSAGÈTE (seit den 1940er Jahren APOLLON), die er im Jahr 1928 für die Ballets Russes Serge Diaghilevs choreographiert, kann in erster Linie als Nachdenken über das Ballett verstanden werden, das Tanz als einen Akt der Gestaltung und Komposition präsentiert. Es ist der Umgang mit „klassischem Material“, welcher die Bezeichnung „neoklassisches Ballett“ rechtfertigt. Die musikalische Komposition stammt von Igor Strawinsky; das pittoreske Bühnenbild von André Bauchant in der Uraufführung am 28. Juni 1928 im Théâtre Sarah Bernhardt in Paris wich bald einem für Balanchine später typischen blauen Hintergrund ohne Bühnenbild und mit nur wenigen Requisiten. Ähnlich verhielt es sich mit den Kostümen, die seit 1929 durch Kreationen von Gabrielle („Coco“) Chanel ersetzt und für damalige Verhältnisse als sehr reduziert wahrgenommen wurden, Trainings-Kleidung ähnelnd. Der Schwerpunkt der Choreographie liegt ganz klar in den Bewegungen, und Balanchine verlangte von seinen Tänzerinnen und Tänzern ausdrücklich, dass sie einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck beim Tanzen haben und sich auf das korrekte Ausführen der Bewegungen konzentrieren sollten. APOLLON handelt vom Musenführer, der in einem Wettstreit der drei Musen Terpsichore („die Tanzfreudige“, Muse des Tanzes), Polyhymnia („die Hymnenreiche“, Muse der Pantomime und des Schauspiels) und Kalliope („die Schönstimmige“, Muse der epischen Dichtung) die Siegerin bestimmt. Dass Terpsichore, die Muse des Tanzes, den Wettstreit gewinnt, ist schon klar, wenn sie mit der Fingerspitze ihres Zeigefingers den Apollos berührt (Abb. 30), in einer Replik von Michelangelo Buonarrotis berühmtem Fresko „Die Erschaffung Adams“ (zwischen 1508 und 1512), welches Gott darstellt, der Adam animiert. Das frühe Libretto des Balletts umfasst die Geburt Apollos, seine Interaktionen mit den drei Musen und seinen Aufstieg als Gott zum Berg Parnassus. Dieses klassische Tableau erweist sich als Ausgangsbasis für Balanchines Erweiterungen und Veränderungen des klassischen Tanzvokabulars. Die Choreographie kann in der Tradition eines früheren Stückes der Ballets Russes, einer der einflussreichsten Ballettkompagnien des 20. Jahrhunderts, verstanden werden, L’APRÈS-MIDI D’UN FAUNE, 1912 choreographiert vom Tänzer und Choreographen Vaslav Nijinsky. Nach einem gleichnamigen Gedicht Stéphane Mallarmés, erzählt dieses Ballett (getanzt auf Musik von Claude Debussy) die einfache Geschichte eines jugendlichen Fauns, der in einem Wald auf eine Gruppe von
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Nymphen trifft. Der Faun tanzt zwar mit einer Nymphe ein Duett, dort kommt es aber nicht zum sexuellen Akt. Wenn die Nymphe weg ist, wendet sich der Faun in einer offensichtlich autoerotischen Bewegung dem Schal der Nymphe zu. Diese fetischisierte Geste löste in Paris einen regelrechten Skandal aus. Nijinsky hat mit dieser Choreographie nicht nur inhaltlich, sondern auch tänzerisch sein Publikum verstört, indem er ein für seine Zeit sehr radikales Bewegungsvokabular entwickelte, welches stark von der klassischen Balletttradition abwich. In L’APRÈS-MIDI D’UN FAUNE stehen und tanzen der Faun und die Nymphen immer wieder parallel zur Bühnenkante, welches der Choreographie einen „flachen“ und „reliefartigen“ Charakter verleiht. Auch die Bein- und Armhaltung der Tänzer unterstreicht diesen Eindruck. Ihre Füße stehen, ungewöhnlich für Ballettstücke zu jener Zeit, parallel (im Gegensatz zur klassischen en dehors-Drehung der Beine von der Hüfte aus), ihre Arme und Oberkörper sind dem Publikum zugewandt. So bewegen sie sich geradezu „zweidimensional“ von einer Seite der Bühne zur anderen. Abb. 30
APOLLON beginnt inhaltlich dort, wo Nijinskys Faun endet: mit einem dionysischen Akt der Autoerotik.10 Der Gott Apollo steht im Profil in der Büh-
10 Diese Lektüre schlägt Tim Scholl in seinem Buch From Petipa to Balanchine – Classical Revival and the Modernization of Ballet 1994 vor (London: Routledge), S. 79
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nenmitte, die Füße zu einer vierten Position geöffnet, ein Arm ist nach oben gestreckt während der andere eine Laute hält, die an seiner Hüfte abgestützt ist (Abb. 31). Sein ausgestreckter Arm beginnt in großen Kreisen (parallel zum Bühnenrand) zu schwingen, als zupfte er seine Laute.11 Es ist eine Anrufung des Dionysos, nicht nur in diesen ersten Bewegungen des Balletts, auch in der „Wildheit“ und Ursprünglichkeit von Apollos Gesten am Anfang. Abb. 31
Die Choreographie von APOLLON beschwört selbstbezüglich in ihrer Geformtheit und Ordnung die Rückkehr des apollinischen Prinzips in die Kunst.12 Balanchine selbst schreibt dazu: „Apollon I look back on as the
11 „With his flattened pose and unseemly gesture, Balanchine’s Apollo begins where Nijinsky’s Faun left off: the supremely dionysian act that concluded Nijinsky’s work is a point of departure for Balanchine, whose choreography conveys in one terse gesture the ‘wild, half human’ quality of the youth who will acquire ‘nobility through art'“. Ebd. Scholl zitiert an dieser Stelle aus George Balanchine und Francis Mason 1977, Balanchine’s Complete Stories of the Great Ballet, New York, S. 26. 12 „This apollonian return to the certainty of form would manifest itself in several key areas of Russian artistic culture. It would temper the chaotic intensity of symbolist literature, painting, and music; impose a new order upon architec-
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turning point of my life. In its discipline and restraint, in its sustained oneness of tone and feelings, the score was a revelation. It seemed to me that I could dare not to use everything, that I, too, could eliminate“.13 Er bezieht sich damit auf die Komposition Strawinskys, welche ihn zu der Choreographie inspirierte. Strawinsky selbst war wiederum ein Bewunderer des ballet blanc, des puren und abstrakten nicht-narrativen Tanzes (meist in weißen Tutus), welcher zu einem festen Bestandteil der romantischen Balletttradition wurde (z.B. in Szenen aus LES SYLPHIDES oder GISELLE), und ließ sich davon für seine Komposition inspirieren.14 In einem Text über seine Orchestrierungs-Arbeit an Tschaikowskys Musik für die Diaghilev-Produktion von DORNRÖSCHEN 1921 beschreibt Strawinsky sein Verhältnis zur danse d’école folgendermaßen: „It was a real joy to me to take part in this creation, not only for love of Tchaikovsky but also because of my profound admiration for classical ballet, which in its very essence, by the beauty of its ordonnance and the aristocratic austerity of its forms, so closely corresponds with my conception of art. For here, in classical dancing, I see the triumph of studied conception over vagueness, of the rule over the arbitrary, of order over the haphazard. I am thus brought face to face with the eternal conflict in art between the Apollonian and Dionysian principles. The latter assumes ecstasy to be the final goal – that is to say, the losing of oneself – whereas art demands above all the full consciousness of the artist. There can, therefore, be no doubt as to
ture’s style modern; and return choreography to a central place in ballet composition.“ Ebd., S. 81 13 George Balanchine 1982, „The Dance Elements in Stravinsky’s Music.“ Ballet Review 10.2, S. 14–18; hier S.17. Balanchine fügt hinzu: „It was in studying Apollo that I came first to understand how gestures, like tones in music and shades in painting, have certain family relations. […] Since this work, I have developed my choreography inside the framework such relations suggest”. 14 „When, in my admiration for the beauty of line in classical dancing, I dreamed of a ballet of this kind, I had specially in my thoughts what is known as the ‘white ballet’, in which to my mind the very essence of this art reveals itself in all its purity. I found that the absence of many-colored effects and of all superfluities produced a wonderful freshness. This inspired me to write music of an analogous character.” Igor Stravinsky 1962, An Autobiography. New York, S. 135
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my choice between the two. And if I appreciate so highly the value of classical ballet, it is not simply a matter of taste, on my part, but because I see exactly in it the perfect expression of the Apollonian principle.”15
Der Triumph des Einstudierten über dem Vagen, der Regel über dem Zufälligen, der Ordnung über dem Zufall ist das, was Strawinsky am klassischen Ballett begeistert. Im Konflikt zwischen dem dionysischen und dem apollinischen Prinzip, so formuliert er es, in dem das Dionysische ein SichSelbst-Verlieren bedeutet, bringe das klassische Ballett nun gerade das Apollinische auf den Punkt, als „perfect expression of the Apollonian principle“. Das Dionysische steht hier für ein wildes, unbezwingbares und letztlich unkontrollierbares Prinzip. Strawinskys Libretto beschreibt, wie die Muse Terpsichore sich die Gunst des Gottes Apollo ertanzt. Die drei Musen kommen nach Apollos erstem Solo auf die Bühne und bekommen jeweils ein Symbol ihrer Kunstform von ihm ausgehändigt, Terpsichore eine Lyra, Polyhymnia eine Maske und Kalliope eine Schreibtafel. Die Musen tanzen ihre Variationen für den Gott, dann tanzt Apollo seine zweite Variation. Terpsichore kehrt zurück und tanzt, als Gewinnerin des Wettstreits der Künste, personifiziert durch die Musen,16 mit Apollo ein pas de deux. Die anderen Musen schließen sich ihnen an in der Coda des Balletts. Der Ruf des Zeus, Apollos Vater, beendet das Ballett. APOLLON bezieht sich in seinen Bildern gleichermaßen auf das antike Griechenland wie auf das Frankreich des 17. Jahrhunderts, neoklassisch ist daher, wie Strawinsky es beschreibt, eher die Form des Umgangs mit klassischem Material, nicht der Rückbezug auf eine bestimmte Epoche: „There is much talk of a return to classicism nowadays, and works believed to have been influenced by works deemed ‘classical’ are termed ‘neoclassical.’ It is difficult to say whether this classification is in fact justified. Might this not be the result of an investigation more profound (at least in works worthy of attention – works that
15 Ebd., S. 99f. 16 Strawinsky schreibt dazu: „Calliope, receiving the stylus and tablets from Apollo, personifies poetry and its rhythm; Polyhymnia, finger on lips, represents mime […]. Finally, Terpsichore, combining in herself both the rhythm of poetry and the eloquence of gestures, reveals dancing to the world, and thus among the Muses takes the place of honor beside the Musagetes.” Ebd., S. 134
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reveal the visible influence of earlier works) than the simple imitation of a so-called classical language? This does not constitute neo-classicism, since classicism could never be characterized by technical methods (which change now as they do in every period) but rather by the merits of its construction“.17
Die Bezeichnung „neoklassisch” bezieht sich also, in Strawinskys Verständnis, nicht auf die Imitation einer klassischen Formsprache oder auf bestimmte technische Methoden, sondern auf einer grundlegenden Untersuchung klassischen Materials, einer Bemühung, die Strawinsky als Konstruktionsleistung beschreibt. APOLLON rekurriert nicht nur auf die Entstehungszeit des klassischen Balletts im 17. Jahrhundert auf dem Hof Ludwigs XIV., es zitiert diesen selbst, da er 1653, 14jährig, als Tänzer die Rolle des Apollo im LE BALLET DE LA NUIT tanzte, welches ihm den Namen Sonnenkönig einbrachte. Strawinsky schreibt: „Apollo is a tribute to the French seventeenth century, […] the chariot, the three horses, and the sun disc were the emblem of the roi du soleil”.18 Das Ballett Balanchines bezieht sich nur sekundär auf die griechische Mythologie, denn vielmehr verweist das Gespann mit den drei Pferden (versinnbildlicht durch die drei Musen) und die „Sonnenscheibe“ im letzten Bild19 auf einen der wichtigsten „Konstitutionsmomente“ des klassischen Balletts (Abb. 32).
17 Igor Stravinsky 1927, „Avertissement”, The Dominant, 1.2, S. 13–14; hier S. 13f. 18 Stravinsky 1962, S. 10 19 1978 veränderte Balanchine seine Choreographie grundlegend, indem er den Prolog, in welchem die Geburt Apollos dargestellt wurde, wegließ. Für die Wiederaufnahme mit Mikhail Baryshnikov als Apollo 1979 verzichtete er auch auf Apollos erste Variation und choreographierte das Ende des Balletts um. Das Stück endete nun nicht mit Apollos Aufstieg zum Berg Parnassus, sondern mit dem früheren einprägsamen Tableau der Musen in aufsteigenden Arabesken neben Apollo (Abb. 32).
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Abb. 32
Abb. 33
Auch Balanchine äußert sich ähnlich zu diesem Thema: „It [Apollon] wasn’t meant to be Greek, it was meant to be French. Apollo is Louis XIV, le roi soleil, leader of the muses and himself a dancer“.20 Die Choreographie stellt vor allem eine inhaltliche Formung des Materials aus der griechischen Antike und aus dem Ballett zur Zeit Ludwigs XIV. dar; deshalb die Bezeichnung „neoklassisch“. Dabei spielt die Gestaltung wiederum inhaltlich und bewegungslogisch für die Überwindung des dionysischen Prinzips eine Rolle. Das könnte man als zentrales Thema des Balletts bezeichnen.21 Apollo gelingt es im Laufe des Balletts immer besser, dreidimensionale Bewegungen im Raum auszuführen. Während seine erste Variation den Raum eher parallel zur Bühnenkante nutzt, zeigt seine graduelle „Ertanzung“ des dreidimensionalen Raums und die Tatsache, dass er immer mehr die ganze Bühne benutzt, choreographisch den Prozess seiner Reifung. Wenn die Musen etwa die Bühne betreten, dreht sich Apollo in einer attitude, einer Pose, die tänzerisch die Dreidimensionalität des Körpers akzentuiert und körperliches Potential nutzt.22 Die drei Musen stellen sich im Laufe des ersten pas de quatre immer wieder nebeneinander auf (Abb. 33), aber Apollo bricht diese Zweidimensionalität auf und zwingt sie zur Realisierung des räumlichen Potentials ihrer Bewegungen. In dem Maße, in dem Nijinskys FAUNE die Dreidimensionalität des klassischen Balletts ablehnt 20 Dale Harris 1982, „Balanchine: Working with Strawinsky“, Ballet Review 10.2, S. 19–24; hier S. 20 21 „[…] the ballet supplants the dionysian sensuality of Nijinsky’s work with a classical apollonian purity.“ Scholl 1994, S. 98 22 Ebd.
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und durch reliefartige Flachheit revolutioniert, kehrt Balanchine zur Tanzsprache des klassischen Balletts zurück, indem er, ganz offensichtlich in einer Thematisierung seiner choreographischen Gestaltung selbst, das Fundament des klassischen Balletts, welches auf Räumlichkeit ausgerichtet ist, wieder geltend macht.23 Besonders auffällig ist ein Solo Apollos, in welchem er seine Arme wie Herkules in die Höhe streckt und dabei fest im Boden verankert in einer fünften Position steht, welches man als Hommage an die Ballett-Technik lesen kann,24 da diese Fußposition auf dem Prinzip des en dehors basiert und dieses vollendet (Abb. 34). Abb. 34
Balanchine interessiert sich nicht für aufwendige Bühnenbilder, um einen Effekt der Bühnentiefe zu erzeugen, verwendet er lediglich choreographische Mittel. Sein blauer Hintergrund betont seinerseits die choreographische Gestaltung. Diese ist auch das eigentliche Thema des Balletts, und die Tänzerkörper erproben tänzerisch ihre Möglichkeiten: „Balanchine’s comments about Apollo all point to the business of artistic mastery, of shaping and controlling one’s material. It so happens that this is also the theme of the ballet. Apollo traces the god’s life from birth to his ascension of Mount Parnas23 Ebd., S. 99 24 Nancy Goldner 2008, Balanchine Variations, Gainesville, S. 8
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sus. Throughout the ballet Apollo is testing the limits and capabilities of his body. Once he learns to walk (in the first scene), he wants to figure out how forcefully he can swing his arms and legs, how much flexibility is in his back – see how his torso contracts and arches in his first solos – how far he can lean backward without falling down. He experiments even with his hands – clenching them into fists, then opening them. […] He wants to know what makes the lute tick from top to bottom. He cradles it in seemingly endless positions. He looks at it from afar, close up. With a rambunctious windup, he strikes the lute’s strings as though it were a banjo. Later on he makes a sound so soft, he must place his ear against the strings to hear it. When Apollo dances with the three Muses he sports with them as though they were parts of a mobile, first partitioning the trio into groups of two and one, then shaping all three into picturesque poses. He partners them two at a time, one by one, in the air, into the ground. Later on, he appraises them from a critic’s point of view: each of the Muses dances a variation for him, a sort of audition in which they display their artistic wares“.25
Dabei ist die Bühne bei Balanchine nicht fixiert, die Dreidimensionalität muss immer wieder tänzerisch behauptet werden, ein wiederholter Akt der Ordnung tänzerischer Gesten durch Balanchines Choreographie: „Balanchine’s stage is not fixed, but constantly redefined by the movement of the bodies dancing on it. The ballet’s groupings – the constant shifts from single to multiple planes – stress the work’s central priority: the exploration of the space for dance“.26
Terpsichores Solo ist vor allem deshalb den Soli Kalliopes und Polyhymnias überlegen, weil sie den Raum extensiver und intensiver nutzt. So zeigt sie beispielsweise ihren Körper von allen Seiten dem Publikum.27 Das Unbestimmte, Unheimliche des dionysischen Prinzips wird in Balanchines APOLLON durch die Gestaltung distanziert und in das Apollinische umgewandelt. Der Gott Apollo ist am Anfang des Stücks eine ungeformte Persönlichkeit, was sich auch in seinen Bewegungen spiegelt (Abb. 35). Wie ein kleiner
25 Ebd., S. 6f. 26 Ebd., S. 103 27 Vgl. Goldner 2008, S. 8
TANZPRAKTISCHER EXKURS 4 ǀ
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Junge, ein Kleinkind, probiert er Schritte aus, torkelt und fängt sich wieder. In den 30 Minuten wächst er heran und lernt, auch das zeigt sich tänzerisch, dass es auf das Wesentliche ankommt. Es ist nun ganz besonders bemerkenswert, wie innerhalb einer solchen Feier des klassischen Balletts, einer Hommage an Geformtheit und Körperbeherrschung, die Muse Terpsichore an einer Stelle taumelt und dann wieder die Kontrolle über ihre Bewegung findet (Abb. 36). Es ist diese tänzerische Geste, die ich näher betrachten möchte, denn sie ist ein sehr gutes Beispiel für Agambens Diktum, dass eine Epoche, die ihre Geste verloren hat, gleichzeitig von dieser besessen ist. Apollo scheint Ähnlichkeiten zwischen sich und Terpsichore zu sehen, denn er imitiert im pas de deux einige ihrer Schritte. Es wiederholt sich mehrmals, dass sie in ihrem Solo taumelt und dann ihre Körperbeherrschung wiederfindet. Der Gott, der am Anfang des Stückes selbst taumelte und seine Balance suchte, macht nun gerade die Muse zur Siegerin, in deren Präsentation das Gegenteil von tänzerischer Kontrolle anwesend ist, der Taumel. Abb. 35
Abb. 36
Innerhalb einer solchen Choreographie, die, wie in der Analyse deutlich geworden ist, selbstreferenziell den Sieg des Geformten über das Rohe, Formlose feiert, in der es um Kultivierung und Domestizierung geht, ist das Straucheln Terpsichores besonders bemerkenswert und auffällig. Der Taumel ist eine intensive Sensation, das heißt, es ist kaum möglich, ihn zu tanzen, ohne ihn tatsächlich körperlich zu spüren. In der willentlichen Herbeiführung der Bewegung sind die Gegensätze, welche die Geste symptomatisch machen, schon enthalten: ein Straucheln respektive Kontrollverlust und eine tänzerische Behauptung, ein kontrolliertes Ausführen der Bewegung, denn letztlich „fängt sich“ Terpsichore wieder. Die Wiederholung
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dieses Moments offenbart sie als tänzerisches Mittel. Der Zuschauer ist verwundert, dass gerade die Muse des Tanzes um ihre körperliche Kontrolle kämpfen muss, sich für diesen Moment verliert, außer sich gerät. In der Dynamik der Bewegung erinnert der Taumel an eine „dämonische Ergriffenheit des Menschen“ und offenbart sich als Pathosformel. Apollo kürt Terpsichore vielleicht gerade deshalb zur Siegerin des Wettstreits, weil sie taumelt, weil er sie als Lehrerin ansieht. Ihre Geste zeigt, über die mythologische Thematik hinaus, dass Menschen keine Marionetten oder Maschinen sind, sondern angesichts ihrer konstitutiven Gleichgewichtslosigkeit eben auch manchmal straucheln und ihre Balance wiederfinden müssen.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Carlo Blasis, The Code of Terpsichore Bildzitat aus: Gabriele Brandstetter 2004, „The Code of Terpsichore. Carlo Blasis' Tanztheorie zwischen Arabeske und Mechanik“, in: dies., Gerhard Neumann (Hg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg, S. 49–71; hier S. 62 Abb. 2 Sylvie Guillem Quelle: http://www.dance.net/topic/5803549/9/Ballet-Photos-Misc/ Picture-Game-III.html (letzter Zugriff 10.04.2014) Abb. 3 Filmstill aus Schwanensee SWAN LAKE: American Ballet Theatre (2005), DVD, 113 Min., USA, Deluxe Abb. 4 Filmstill aus I/II/III/IIII I/II/III/IIII: Kris Verdonck (2007), DVD, 70 Min., Belgien © Atwodogscompany/Kris Verdonck Abb. 5, 6 Filmstills aus (N.N.N.N.) (N.N.N.N.): William Forsythe (2002), DVD, 24 Min., Deutschland © The Forsythe Company Abb. 7, 8 Filmstills aus Self Unfinished SELF UNFINISHED: Xavier Le Roy (1998), DVD, 54 Min., Frankreich © Xavier Le Roy Abb. 9 Hans Bellmer: Die Puppe. Quelle: http://globelle.net/wp-content/ uploads/hans-bellmer.jpg (letzter Zugriff 10.04.2014) Abb. 10–23 Filmstills aus Dark Matters DARK MATTERS: Kidd Pivot Frankfurt RM (2009), DVD, 120 Min., Kanada, Liberamaedia © Kidd Pivot Frankfurt RM Abb. 24–29 Filmstills aus Café Müller CAFÉ MÜLLER: Pina Bausch Tanztheater Wuppertal (2010), DVD, 50 Min., Frankreich, L‘Arche Abb. 30–36 Filmstills aus Apollon Jacques D’Amboise: Portrait of a great American dancer (1954), DVD, 85 Min., USA, Video Artists International Sämtliche Bildrechte verbleiben bei den Künstlern.