Poetik des zeitgenössischen Tanzes: (übersetzt aus dem Französischen von Frank Weigand) [1. Aufl.] 9783839410684

Die »Poetik des zeitgenössischen Tanzes« gilt seit ihrem erstmaligen Erscheinen 1997 als Standardwerk der gegenwärtigen

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German Pages 340 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Einleitung
Gründe für eine Poetik
Der zeitgenössische Tanz: Geburt eines Projekts
Die Werkzeuge
Der Körper als Poetik
Atemzüge
Die vier Faktoren – Das Gewicht
Poetik der Bewegung
Stile
Die Zeit lesen
Poetik der Flüsse
Der Raum
Die Komposition
Die Werke
Anfänge der Werke (Skizze, Thema, Anliegen, Referenz)
Die choreographischen Werke: Figuren des Erscheinens
Gedächtnis und Identität
Bibliographie
Allgemeine Abhandlungen
Spezielle Abhandlungen über Tanz und Bewegung
Monographien, Essays, Artikel
Quellen der Zitate zu Beginn der Kapitel
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Poetik des zeitgenössischen Tanzes: (übersetzt aus dem Französischen von Frank Weigand) [1. Aufl.]
 9783839410684

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Laurence Louppe Poetik des zeitgenössischen Tanzes

T a n z S c r i p t e | hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 17

2009-06-16 12-27-52 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02f1213048669382|(S.

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Laurence Louppe ist Historikerin, Kunstkritikerin und Schriftstellerin mit Schwerpunkt Ästhetik von Tanz, Choreographie und den Bildenden Künsten. Sie unterrichtete an verschiedenen Kunsthochschulen und Universitäten, u.a. PARTS (Brüssel) und Universität de Québec in Montréal.

2009-06-16 12-27-52 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02f1213048669382|(S.

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Laurence Louppe

Poetik des zeitgenössischen Tanzes (übersetzt aus dem Französischem von Frank Weigand)

2009-06-16 12-27-52 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02f1213048669382|(S.

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Die Publikation wurde gefördert von Tanzplan Deutschland. Tanzplan Deutschland ist eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes.

Ouvrage publié avec le concours du Ministère français chargé de la culture – Centre national du livre. Diese Publikation wurde veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung des französischen Kulturministeriums – Centre national du livre.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009 transcript Verlag, Bielefeld und © Contredanse – publié en langue française par Contredanse, en 1997 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1068-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Vorbemerkung ..........................................................................................

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Einleitung .................................................................................................. Gründe für eine Poetik ............................................................................ Der zeitgenössische Tanz: Geburt eines Projekts .................................

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Die Werkzeuge .......................................................................................... Der Körper als Poetik ............................................................................... Atemzüge .................................................................................................. Die vier Faktoren – Das Gewicht ............................................................ Poetik der Bewegung ............................................................................... Stile ............................................................................................................ Die Zeit lesen ............................................................................................ Poetik der Flüsse ...................................................................................... Der Raum .................................................................................................. Die Komposition ....................................................................................... Die Werke .................................................................................................. Anfänge der Werke (Skizze, Thema, Anliegen, Referenz) ..................................................... Die choreographischen Werke: Figuren des Erscheinens ......................................................................... Gedächtnis und Identität ......................................................................... Bibliographie ............................................................................................. Allgemeine Abhandlungen ..................................................................... Spezielle Abhandlungen über Tanz und Bewegung ............................. Monographien, Essays, Artikel ............................................................... Quellen der Zitate zu Beginn der Kapitel ..............................................

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Vorbemerkung

Die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes stellt eines der bedeutendsten künstlerischen Phänomene des 20. Jahrhunderts dar. In manchen europäischen Ländern wie Frankreich, wo sich seine Existenz erst seit dem Zweiten Weltkrieg dauerhaft wahrnehmbar manifestiert, hat jenes Phänomen eine dermaßen beachtliche Dimension angenommen, dass man es zu den großen kulturellen Veränderungen der zeitgenössischen Epoche zählt. Nachdem der zeitgenössische Tanz seit den 1980er Jahren sowohl vom öffentlichen Interesse als auch von den Institutionen stärker wahrgenommen und unterstützt wird, ist er nunmehr an allen kulturellen Schauplätzen präsent. In intellektuellen oder künstlerischen Kreisen wetteifert er mit den avanciertesten Ausdrucksformen zeitgenössischen Kunstschaffens. In den Alters- oder Geschmacksklassen, die sich von ihm angesprochen fühlen, nimmt er es spielend mit der großen Maschinerie der Medienkultur auf. Er scheut sich auch nicht, sich mit der Rockmusik oder der Scheinwelt des Fernsehens zu verbünden. Im Verlauf weniger Jahrzehnte ist er bei uns zu einer der beispielhaftesten Kräfte der Einbindung und des Ausdrucks von Bewusstsein geworden. Doch hat das quantitative Ausmaß seiner Erscheinungen, seine ›Ausstellbarkeit‹ (ein Ausdruck Walter Benjamins, den wir noch häufiger verwenden werden), niemals wirklich eine ›Kenntnis‹ oder wenigstens eine besondere Sensibilität für seine Anliegen mit sich gebracht. Meist zieht der Zuschauer des zeitgenössischen Tanzes wie ein Vagabund von einer Veranstaltung zur nächsten, ohne dass ihn dabei ein kontinuierlicher Faden mit einem dauerhaften Referenzbereich oder, was zweifellos besser wäre, mit einem künstlerischen Feld verbinden würde, das in der Lage wäre, besondere Empfindungen, Gedanken, Körper- und Bewusstseinszustände hervorzurufen, die die anderen Künste ihm nicht geben können. Stattdessen nähert man sich aufgrund zufälliger Programmgestaltungen

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dem einzelnen zeitgenössischen Choreograhen und manchmal auch dem einzelnen zeitgenössischen choreographischen Werk wie einem isolierten Ereignis an, einem rasch vorüberziehenden spektakulären Objekt unter vielen anderen: Somit wird die Einzigartigkeit zu Gunsten des bloßen Konsums eines kulturellen Augenblicks banalisiert, dessen Charakter des NieDagewesenen genau dadurch ausgelöscht zu werden droht, dass man ihn immer wieder vehement betont. Unser Anliegen auf diesen Seiten ist es, einige Begriffe zur Gesamtheit des zeitgenössischen choreographischen Feldes zu liefern, seiner Gestaltung, seiner Ressourcen und der Modalitäten seines künstlerischen Schaffens. Gleichzeitig geht es uns darum, anzudeuten, zu welcher Art von Empfindung und Wahrnehmung dieses Feld den Zuschauer führen möchte, an welche Schwelle der sensorischen Aufmerksamkeit und der Autonomie des ästhetischen Bewusstseins ein Körper denjenigen geleiten kann, der bereit ist, sich von der Erfahrung einer Geste berühren zu lassen. Diese Unternehmung wird vielen ziemlich fruchtlos erscheinen. Der Tanz, und besonders der zeitgenössische Tanz, vermag die Phantasie jedes einzelnen Menschen ohne den Umweg über einen erklärenden Diskurs anzusprechen. Die Wahrnehmung eines Körpers in Bewegung eröff net jedem seine ganz persönlichen Vorstellungswelten und inneren Bewegungen. Es wäre also ziemlich unangebracht, diese kontrollieren oder ihnen gar eine Richtung vorgeben zu wollen. Der Erfolg zeitgenössischer Tanzauff ührungen beweist für sich alleine die Intensität des Zwiegesprächs zwischen dem Körper des Betrachters und dem des Tänzers, bei dem beide Seiten stetig zu einem gemeinsamen Schatz von Anliegen oder Wünschen beitragen. Besser gesagt: Weit über die Tatsache einer Kennzeichnung als ›Tanz‹ hinaus, gehört die zeitgenössische choreographische Praxis zur Kunst von heute. Sie ist vor allem eine zeitgenössische Antwort auf ein Feld zeitgenössischer Fragestellungen. Für den Großteil ihrer Zuschauer, und zweifellos für die jüngsten und am meisten begeisterten unter ihnen, sind die praktischen Gegebenheiten, die diese Kunst strukturieren, eher unwichtig. Diese Zuschauer sind weitaus mehr von der Kraft fasziniert, mit der sie in die Geisteswelten und Emotionen einbricht, um die sich unsere heutige Zeit dreht. Eine Zeit, die, wie man weiß, großen Gefallen an allem findet, was unmittelbar auf die Gefühlswelt zielt, ohne dies erst noch legitimieren zu müssen. Somit könnte jegliche Auseinandersetzung mit den Begriffen der Gestaltung oder gar der Inspiration des zeitgenössischen Tanzes als Versuch einer Formalisierung verstanden werden, die diesem ›Tanz‹ ein spezialisiertes Terrain zuteilen will. Dabei wird dieser häufig genau des-

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halb zum Objekt der Begierde, weil er sich jedem präzisen ›Genre‹, jedem Abgrenzungsversuch, zu entziehen scheint. Nun verdankt der Tanz jedoch sein Vermögen, die Welt von heute auszusprechen und manchmal auch ihre unsichtbare Seite erscheinen zu lassen, einer Ansammlung von hervorragenden theoretischen und praktischen Werkzeugen, die sich seit der Jahrhundertwende entwickelt haben. Wer dies nicht weiß und den Tanz für eine spontan auftretende künstlerische Erfindung hält, die sich gerade erst offenbart, unterschlägt damit zwei wichtige Elemente: erstens einen riesigen Schatz an ›Arbeit‹: Körperarbeit, Tanzarbeit, die notwendig sind, um die Vorstellungswelt des Körpers erscheinen zu lassen und ihr Lesbarkeit zu verleihen. Und zweitens einen nicht weniger umfangreichen Schatz des ›Denkens‹. Eines Denkens, das sich nicht parasitär von einem anderen Wissen nährt, sondern im Laufe des Jahrhunderts (ausgehend von wenig bekannten und im Übrigen äußerst marginalen Quellen) gestaltet wurde, und das in unseren Augen eine der prägenden Haupterscheinungen des epistemologischen Bruchs darstellt, der, in den Humanwissenschaften ebenso wie im politischen und philosophischen Denken, die gesamten Geistesströmungen unserer Epoche erschüttert hat. Allerdings wird der epistemologische Bruch, den der zeitgenössische Tanz mit sich gebracht hat, bislang noch missverstanden. Wie wir sehen werden, verlangt er, dass der Körper, und vor allem der Körper in Bewegung, gleichzeitig Subjekt, Objekt und Werkzeug seines eigenen Wissens sein soll. Damit von diesem Körper ausgehend eine andere Wahrnehmung, ein anderes Bewusstsein der Welt erwachen kann – und vor allem eine neue Art des Fühlens und der schöpferischen Arbeit. Nun betriff t diese Erneuerung der Wahrnehmung jedoch ebenso den Zuschauer des zeitgenössischen Tanzes wie den Tänzer. Aus diesem Grund wird das Subjekt, das gelegentlich Tanzauff ührungen besucht, trotz der lebhaften Wahrnehmungen, die diese hervorrufen können, höchstwahrscheinlich von der Entdeckung großer, tiefer verborgener Reichtümer ausgeschlossen bleiben. Dabei bedeutet deren Kenntnis keineswegs eine Überladung mit unwichtigen Informationen. Im Gegenteil: Sie kann das Subjekt in die Lage versetzen, seine eigenen Reaktionen besser zu identifizieren, die intellektuelle Schärfe bestimmter Äußerungen zu verstehen und den Nachhall der ästhetischen Erfahrung tiefer zu empfinden. Übrigens sind nicht wir es, sondern das Publikum, die Leser oder Hörer, die uns ihr Bedürfnis nach Zugang zu jenen impliziten Zonen deutlich gemacht haben, die die choreographische Auff ührung oft einsetzt, ohne dabei ihre Verfahrensweisen zu enthüllen. Da ich häufi g in der Situation war, die Arbeit von Choreographen vorzustellen, sah ich mich immer

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wieder mit dem Wunsch unterschiedlicher kultureller Gemeinschaften konfrontiert, mehr darüber zu erfahren. Die Leute brannten darauf, über die beschränkte Ebene einer selektiven Vorstellung hinauszugehen. Sie wollten die Gesamtheit der Referenzen begreifen, die das zeitgenössische choreographische Feld begründeten, in dem das jeweilige Werk gestaltet wurde. Oft hatten sie auch das Bedürfnis, die Geschichte des Werks grundlegender zu kennen. Weit davon entfernt, der Annäherung an das Werk ihre poetische Dimension zu nehmen, verstärken solche Informationen das Interesse an der Kunst und steigern den Grad der Begierde nach ihr. Am allerhäufigsten bekam ich solche Rückmeldungen im Cratère Théâtre d’Alès. Der Verdienst dafür gebührt vor allem dem Team, und ganz besonders Marie-Claire Gelly, die den Tanzbereich betreut. Bei meinem ersten Besuch in Alès im Januar 1993 war ich eingeladen worden, ein paar Worte über die historische Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes zu sprechen. Ich hatte das Vergnügen, einer ersten Gruppe von Zuschauern zu begegnen, die zwar zahlenmäßig beschränkt war, dafür jedoch ebenso offen wie überrascht von der unbekannten Geistesströmung, die sie da gerade entdeckt hatten. Seitdem ist daraus eine kontinuierliche Zusammenarbeit entstanden. Ich hatte Gelegenheit, schätzen zu lernen, dass meine Vorträge, selbst dann, wenn sie aus Anlass der Präsentation von Aufführungen stattfanden, niemals nur als bloße Begleitung eines Modephänomens behandelt wurden. Stattdessen ging es von vornherein immer um das Teilen von Reflexionen, Gedanken und inter-subjektiven Erfahrungen, die es für alle zugänglich zu machen galt. Bis 1996 konnte ich beobachten, wie in der Zuschauergemeinschaft über die Jahre hinweg eine neue Sensibilität entstand – und vor allem ein Schatz gemeinsamer Referenzen, auf deren Basis ein echter Dialog zwischen Künstler, Werk und Zuschauer beginnen konnte. Die Thematiken stärker gegliederter Publikumsgespräche, die von Marie-Claire Gelly oder manchmal von den Choreographen selbst vorgeschlagen wurden, gingen stets über die reinen Werbezwecke hinaus, denen der Diskurs über den Tanz allzu häufig unterworfen ist. Sowohl in den organisierten Diskussionsrunden oder Symposien wie auch bei der einfachen Vorstellung von Werken handelte es sich stets um ehrliche und tiefgreifende Reflexionen (selbst wenn sich diese bei manchen Gelegenheiten nicht in einer ›wissenschaftlich‹ ritualisierten Sprache äußerten). Beispielhaft zu nennen sind in diesem Zusammenhang das Symposium über Notationen im Tanz (im Herbst 1993), das Symposium zur choreographischen Handschrift (im November 1993 mit Christian Bourigault) und das Symposium zum Gedächtnis des Tanzes, der Werke und des Körpers (im März 1994 mit den Carnets Bagouet und Odile Duboc). Man kann sagen, dass sich dieses Buch um jene Begegnungen herum entwickelt hat, dass es ihre Themen wieder aufnimmt, sie vertieft und in stärker systematisierter

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Weise dokumentiert. Somit verdanken die meisten der darin angeführten Überlegungen ihre Inspiration den Anliegen, Fragen und Gesprächen, die im Laufe dieser Begegnungen formuliert wurden. In Alès ist auch das Buchprojekt zur Weiterführung dieser Erfahrungen entstanden, das es ohne die Initiative von Marie-Claire Gelly nicht gegeben hätte. Wiederum in Alès ermöglichte mir ein Residenzaufenthalt den Großteil seiner Niederschrift. Somit verdankt dieses Werk dem Team des Cratère Théâtre d’Alès seine Entstehung und auch die Anregung zu dem Vorhaben. Ich möchte mich dafür bei allen Beteiligten bedanken, vor allem bei Marie-Claire Gelly, deren Präsenz heute im zeitgenössischen Tanz so überaus wertvoll ist, weit über ihre institutionellen Verantwortlichkeiten hinaus: als Verbündete, als Anregerin, als Seele. Dank sei auch den treuen Zuschauern von Alès, die meinen Vorträgen beigewohnt haben und die mich oft durch die Schärfe ihrer Wahrnehmung choreographischer Werke und die Sensibilität ihrer Herangehensweise in Erstaunen versetzten. Die Veröffentlichung dieses Buches durch den Verlag Contredanse ist eine ebenso große Ehre wie Freude für mich. Mit der Idee, das Wissen über Tanz zu teilen, hat sich der Verlag mit der in der internationalen choreographischen Szene bereits wohlbekannten Zeitschrift »Nouvelles de Danse« vorgenommen, Texte zu verbreiten, die die Kenntnis und das Denken dieser Kunst bereichern können. Es handelt sich hierbei um ein bedeutendes Projekt, ein Ziel, dessen Umsetzung heute ebenso notwendig wie schwierig zu erreichen ist. Ich hoffe, ich erweise mich als würdige Erfüllerin meiner Mission. Mein Dank gilt somit Patricia Kuypers und Claire Destrée: nicht nur weil sie mich in ihre Reihe »La Pensée du Mouvement« (»Das Denken der Bewegung«) aufgenommen haben, sondern auch, weil die zahlreichen Gespräche, die wir im Umfeld der Redaktion der »Nouvelles de Danse« führten, stets bereichernd, erhellend und streng bei der Sache waren. Noch mehr möchte ich den Choreographen danken, mit deren Werken oder Lehre ich mich beschäftigt habe, mit denen ich Zwiesprache führen konnte und die durch sich selbst, ihre Präsenz, ihre Gesten, ihre Stimmen, ihre Gespräche und die Erzählungen von ihren Erfahrungen den wertvollsten Anteil zu meiner Inspiration beigetragen haben. Ich danke den Tänzern, die bei mir Tanzgeschichte studierten und heute selbst als Interpreten, Schöpfer, Forscher und Lehrende weithin bekannte Persönlichkeiten sind. Ihr hellsichtiges Bewusstsein, außerordentliche Errungenschaften von der Moderne geerbt zu haben, aber auch ihre

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wunderschöne Erwartung eines zukünftigen Tanzes und ihr Wissen darum, dessen Träger zu sein, haben oft meine Forschung erhellt, unterstützt und meiner eigenen Hoffnung Nahrung gegeben. Unter den Tänzern, die uns heute in Frankreich umgeben, danke ich den ersten, den ältesten (die durch ihre unermüdliche Tatkraft und Entschlossenheit zugleich die jüngsten sind). Ihnen verdanken wir die Existenz einer einzigartigen innovativen Strömung des zeitgenössischen Tanzes, die über mehrere Generationen hinweg zu einem außergewöhnlichen Ausmaß an Sensibilität gelangt ist. Ich werde sie auf diesen Seiten häufig zitieren. Sie sind die ersten, die hier den Tänzer die Modernität eines freien Körpers gelehrt haben, der seine Geste selbst erfindet. Sie haben den zeitgenössischen Tanz, der unter anderen kulturellen Himmeln entstand, auch in unseren Breiten verwurzelt. Die Aufzählung ihrer Namen verbindet sich zu einer Familie von Weltbürgern, die durch die Zufälle von Migration und Bündnissen zusammengekommen ist: Françoise und Dominique Dupuy, Jacqueline Robinson, Karin Waehner, und nicht zu vergessen: der schmerzlich vermisste Jerome Andrews. Von ihnen haben wir den Tanz, doch auch seinen Diskurs; die Freiheit der Geste und die Ausdruckskraft der Geste, die nur gemeinsam erlernt werden können. Ich denke bei der Arbeit oft an diesen doppelten Beitrag: Ihnen verdanke ich es, dass ich den zeitgenössischen Tanz in meiner Sprache denken und beschreiben kann. Einer Sprache, in der er, wie ich hoffe, all seine Worte finden wird… L.L.

Einleitung

Gründe für eine Poetik »Ein Kunstwerk ist gleichermaßen das Organ und der Akt eines Verstehens.« Henri Maldiney »Ein Werk entsteht nur aus der aktiven Begegnung zwischen einer Intention und einer Aufmerksamkeit. Auch die Kunst ist für alle eine Praxis.« Gérard Genette

Die Poetik versucht, zu umreißen, was uns an einem Kunstwerk berühren, auf unsere Sensibilität einwirken und einen Widerhall in unserer Vorstellung finden kann. Das heißt: die Gesamtheit der schöpferischen Verfahren, die ein Werk hervorbringen und ihm Sinn verleihen. Gegenstand der Poetik ist nicht nur die Betrachtung des Feldes, in dem das Fühlen die gesamte Erfahrung bestimmt, sondern auch die Veränderungen dieses Feldes. Wie derjenige der Kunst, ist ihr Gegenstand gleichzeitig auf Seiten des Wissens, der Affekte und des Handelns angesiedelt. Doch hat die Poetik auch noch eine weitaus einzigartigere Aufgabe: Sie sagt nicht nur, was ein Kunstwerk mit uns macht: Sie lehrt uns, wie es gemacht ist. Anders gesagt zeigt sie uns, welchen Weg der Künstler einschlägt, um zu der Schwelle zu gelangen, von der aus sich der künstlerische Akt der Wahrnehmung darbietet. Dort, wo unser Bewusstsein sie entdeckt und mit ihr zu vibrieren beginnt. Doch damit ist der Weg des Werks noch nicht zu Ende: Er wird durch Echos und Nachhalle bereichert und verändert. Denn die Poetik schließt die Wahrnehmung in ihren eigenen Prozess ein. Sie bricht dadurch, wie wir noch mehrfach wiederholen werden, mit der Dichotomie zwischen handelnder und aufnehmender Instanz und »devek-

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torisiert«, um mit Gérard Genette zu sprechen, die traditionelle Sicht der Kommunikation als einer Einbahnstraße.1 Damit stellt sie das Kunstwerk in den Mittelpunkt einer ›Arbeitsteilung‹. Man hat die Poetik als Untersuchung der Antriebe definiert, die eine emotive Reaktion auf ein Bedeutungs- oder Ausdruckssystem begünstigen. Roman Jakobson hat sie durch die Untersuchung der Faktoren, die die ›emotive‹ Funktion der Sprache konstituieren (im Gegensatz zu den denotativen oder referenziellen Funktionen), als erster auf den Bereich der Linguistik angewandt. Die poetische Funktion hat die Besonderheit, dass sie in immanenter Weise das doppelte Eingreifen einer künstlerischen Position (ein hypothetisches oder reales Subjekt des Schöpfungsakts) nach sich zieht. Dies geschieht in enger Beziehung zu dem Gegenüber, das sie im Zentrum der ästhetischen Reaktionen in seiner Sensibilität zu berühren gedenkt (diesen Faktor der Sensibilisierung, der noch vor jeder konstruktiven Konzeptualisierung wirksam wird, werde ich häufig ›Ästhesien‹ nennen). Jedes Kunstwerk ist ein Dialog. »Die sogenannte emotive oder ›expressive‹ Funktion, die allein auf den Sender ausgerichtet ist, zielt auf den direkten Ausdruck der Haltung des Sprechers demgegenüber, wovon er spricht.«2 Jener ›Ausdruck‹ der Haltung des Subjekts äußert sich nicht unbedingt durch die Anwesenheit des grammatikalischen Subjekts in der Aussage, sondern durch eine Grundsatzentscheidung von emotiver Tragweite, die eine Dynamik der ›Haltungen des Subjekts‹ ins Spiel bringt. Bezugsgröße ist dabei das Kunstwerk als gemeinsamer Erfahrungsbereich mit einem Anderen. Dies hat zur Folge, dass jede Poetik des Verbs in der Sprache den Bereich einer Präsenz eröffnet. Für den Tanz (und, wie nach und nach deutlicher werden wird, für die Bewegung des menschlichen Körpers im Allgemeinen) sieht die Situation nicht wesentlich anders aus. Sie ist nur auf die Spitze getrieben und in gewisser Weise entblößt: Das Subjekt liegt unmittelbar in seiner Bewegung. Es verfügt nicht über Instrumente zum Ersetzen seiner Präsenz, wie dies in der Sprache der Fall ist. ›Die Haltung des Subjekts‹ fällt mit dem Subjekt selbst zusammen und gibt sich völlig in der Geste hin. Daher hat jede Bewegung automatisch einen expressiven Wert3, selbst wenn sie sich nicht die ›Expressivität‹ zum 1 | Gérard Genette: Esthétique et poétique, Paris: Seuil 1992, S. 8. 2 | Roman Jakobson: »Linguistik und Poetik«, in: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Frankfurt a.M. 1971, S. 147; siehe auch G. Genette: Esthétique et poétique. 3 | Mit dem Adjektiv »expressiv« verweisen wir auf den Begriff »Expression« (Ausdruck), und nicht auf den der »Expressivität«. Der Ausdruck kann im allgemeinen Sinne als intransitive Verwendung von signifi kantem Material

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Ziel setzt. Wie man sehen wird, ist jede Geste, selbst wenn sie die Ausführung einer ›Überlebensaktivität‹ (wie die Anhänger Labans die funktionale Geste bezeichnen) zum Ziel hätte, dadurch nur umso mehr an die Symbolik des Körpers gebunden, den sie durch ihre Handlung ins Spiel bringt. Man versteht somit, dass eine Kunst wie der Tanz, der, wie die Lyrik in der Sprache, darauf abzielt, die Aktivität der Faktoren, die das Emotive tragen, in der Geste zu entwickeln, noch mehr als die Poetik der verbalen Äußerung mit den allertiefsten Wurzeln des Individuums verbunden ist, die einer gestischen Äußerung ihre Farbe verleihen können. Der Tanz, den man als Lyrik des Körpers betrachten kann, intensiviert diese Beziehung und macht sie exemplarisch. Das heißt, dass sich dort, mehr als anderswo, die Doppelpräsenz Tänzer-Zuschauer, die auch eine Begegnung zwischen Körpern ist, in einem intensivierten Dialog aktualisiert. Dieser Dialog ist aus drei Gründen prägend für die Entstehung der Ästhesien: Erstens schließt er eine Begegnung in Zeit und Raum ein. Zweitens kann diese Begegnung nicht aufgeschoben werden. Und drittens bringt sie selbst eine Wahrnehmungserfahrung in der Dauer und im Raum mit sich, ein Durchlaufen dieser Erfahrung. Eine Poetik des Tanzes, und besonders des zeitgenössischen Tanzes, dessen theoretische Prinzipien extrem reichhaltig sind, hat den Vorteil, dass sie die Maschinerien jener außergewöhnlichen Situation untersuchen kann. Sie tritt, wie ihr Name es anzeigt, ins Tun (auf Griechisch »poiein«) ein. Somit versteht sich die Poetik als eine Untersuchung über geteilte Erfahrungen und darüber, wie diese die sinnliche Wahrnehmung verändern – sowohl die des Tänzers als auch die des Zeugen seines Tanzes. Dies bedeutet auch, dass die Poetik des Tanzes nicht auf ihren Untersuchungsgegenstand beschränkt bleibt: Dadurch, dass der Tänzer sein gesamtes Sein in seine Geste legt, entsteht im Tanz das Kunstwerk aus der Materie des Selbst. Und zwar sogar, wenn ästhetische Gründe zu einer Entscheidung für Bereiche des Austauschs, des Widerhalls oder der Depersonalisierung führen, was im zeitgenössischen Tanz häufig der Fall ist: Um dem Joch der klassischen ›Mimesis‹ zu entgehen, werden Bereiche der Verdoppelung, der Dezentrierung oder des Zufalls angesprochen, in welchen das Subjekt frei zirkulieren kann. Nun betriff t aber der Tanz in einem noch verschwommenen und kaum von den ästhetischen Wissenschaften erforschten Sektor der Expressivität ebenso die Ontologie wie die Kunstphilosophie. Er betriff t die Gesamtheit der Humanwissenschaften. Und somit liegt das Wesentliche der Poetik des Tanzes wahrscheinlich weniger in verstanden werden, die nicht auf ein konkretes Ergebnis oder eine semantische Anwendung abzielt.

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einem ästhetischen Ansatz wie dem unseren, als in dem Wissen über die Bewegung und in den Formen der Analyse, die sowohl die Funktionen der Bewegung als auch ihre Ziele betrachten. Die Kinesiologie und die unterschiedlichen Methoden der Bewegungsanalyse sind für die Untersuchung der Tanzkunst noch unentbehrlicher, als es die Linguistik für literarische Untersuchungen ist. Wir nehmen also mit dieser Unternehmung einer ›Poetik‹ nur eine kleine Nische in der Gesamtheit des choreographischen Wissens ein. Denn die Autorin dieser Zeilen beherrscht nicht alle dieser überaus fruchtbaren Ansätze (auch wenn sie gelegentlich einige ihrer Sichtweisen benutzt). Und damit sei bereits im Vorfeld auf die Bescheidenheit und die Grenzen dieses Versuchs einer Poetik des zeitgenössischen Tanzes hingewiesen. Zwar muss der zeitgenössische Tanz zu seinem Verständnis einer eingehenden reflexiven Untersuchung durch die Bewegungswissenschaften unterzogen werden. Doch hat er selbst sich in seinem Denken und seiner künstlerischen Ausrichtung im Gefolge dieser Wissenschaften gestaltet, und manchmal sogar innerhalb ihrer Untersuchungen. Diese Seiten werden häufig nur die Indizien eines solchen Weges versammeln, wie flüchtige gestische Partikel aus dem unablässig gärenden Makrokosmos des zeitgenössischen Tanzes. Ihr einziger Ehrgeiz ist es, eine schnelle Route durch einige Elemente dieser Kunst zu zeichnen, die ihre Begründung oder ihre weitere Entwicklung geprägt haben, und die Prinzipien einer Betrachtungsweise zu skizzieren, die zum besseren Verständnis der Werke beitragen soll. Die Herangehensweise wird eine ›poetische‹ sein, was bedeutet, dass sie nicht nur die Kenntnis der Erscheinungsformen des Tanzes einschließen wird, sondern auch die seiner Praktiken. Man versteht die Kunst der Bewegung nur, wenn man ihr Wissen miteinbezieht und sich selbst ein Stück weit in ihre Tätigkeit mit einschließt: in jenes ›poiein‹, wo die Gestaltungsprozesse bereits mit der gesamten künstlerischen Komplexität beladen sind, zu deren Sichtbarmachung sie dienen. In der kommentierenden Literatur über Tanz lassen sich, wie anderswo auch, stimmige Herangehensweisen finden, die eine Beurteilungsinstanz außerhalb des Tuns einnehmen, die das Tun rezipiert, seine Figuren analysiert, seine Codes und Erscheinungen aufzeigt und sich in gewisser Weise damit beschäftigt, die Zeichen prüfend zu vergleichen. Diese Vorgehensweise, für die es heutzutage hervorragende Beispiele gibt, hat besonders im Gefolge von Susan Leigh Foster4 sehr starken Auftrieb erhalten. 4 | Susan Leigh Fosters Werk Reading Dancing, Bodies and Subjects in American Modern Dance: Los Angeles, Berkeley: Univ. of California Press 1986, wird auf diesen Seiten häufige Erwähnung finden. Zum Thema Wahrneh-

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Sie ist im Wesentlichen ästhetisch und mehr noch semiologisch. Sie baut auf den Reaktionen eines isolierten Empfängers auf und analysiert seine Wahrnehmungen am Ende der Kette des traditionellen Dispositivs Sender-Botschaft-Empfänger. Der ›poetische‹ Ansatz impliziert ein anderes Schema der Arbeitsteilung. Dem Subjekt der Analyse wird dabei kein fester Standpunkt zugewiesen. Es ist aufgefordert, unablässig zwischen dem Diskurs und der Praxis hin- und herzuwandern, dem Fühlen und dem Tun, der Wahrnehmung und der Umsetzung. Dies ist beinahe der einzig mögliche Weg, um das Denken einer Kunst zu berühren: Es gilt also, nicht nur das Endprodukt zu betrachten, sondern auch, welche Produktion im Werk selbst am Werk ist. In Anlehnung an Paul Valéry erinnert Henri Meschonnic daran, dass »es Theorie nur in der und durch die Praxis gibt.«5 Der Blick auf und die Aufmerksamkeit für das Werk führen in eine Zeitlichkeit, die zwar nach dessen Fertigstellung liegt, es aber dennoch durch eine lange Meditation auf der Grundlage seiner Prämissen (die geheime Absicht, die Entstehung des Materials, die Wahl des Arbeitsgeräts, die Gestaltungsprozesse) neu überprüft. Zweifellos wird diese Phantasiereise des Subjekts oft im Nachhinein in der Analyse des Werks konstruiert. Dabei hat das Subjekt an diesem Werk doch entscheidenden Anteil, und sei es auch nur, weil seine eigenen Ästhesien innerhalb des Dechiff rierungsprozesses aktiv sind. Die Ästhetik als Denken emotiver und sensitiver Erfahrungen wird somit zu einem Akt des ›Verstehens‹, wie Maldiney sagt, da nun die Aufmerksamkeit für das Werk Zugang zu den Wegen verleiht, die zu seiner Existenz geführt haben. Die Poetik impliziert also, was Meschonnic in Bezug auf den Platz des Betrachters »die Zerstreuung des Subjekts«6 nennt: Anstatt als bloße Figur gesehen zu werden, gegen die die Zeichen auf ihrer Reise prallen, wird das Subjekt als handelnde Instanz verstanden, die zwischen den Schichten zirkuliert. Somit ›verkörperlicht‹ sich das Subjekt durch seine Aufmerksamkeit ebenso, wie sich das Werk durch seine Untersuchung materialisiert. Die analytische oder poetische Aufmerksamkeit ist daher kein bloßes Durchleuchten mit dem Blick. Der ganze Körper ist daran beteiligt. Was Meschonnic über die literarische oder allgemein künstlerische Aufmerksamkeit sagt, triff t noch weitaus mehr auf die Aufmerksamkeit für das choreographische Werk zu. Denn dabei wird der Körper dessen, der seine Aufmerksamkeit aufwendet, explizit als Körper angesprochen, weit über mungsverfahren siehe auch Judith Lynne Hanna: The Performance-Audience Connection, Austin: Univ. of Texas Press 1983. 5 | Henri Meschonnic: Les états de la poétique, Paris: PUF 1985. 6 | Ebd. Siehe auch: Jacques Derrida: Dissemination, Wien: Passagen 1995.

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die bloße optische Dimension hinaus, da eine weit größere Anzahl unterschiedlicher sensorischer Kanäle stimuliert wird. Doch interessiert uns diese im Falle des Tanzes vielleicht noch stärker wörtlich zu nehmende Verkörperlichung zunächst nur insofern, wie sie es erlaubt, noch tiefer in die Verfahrensweisen einer jeden Poetik einzudringen: Verfahrensweisen einer Sensibilität, die unmittelbar von ihrem Untersuchungsgegenstand berührt wird, sich selbst in die unterschiedlichen Etappen ihres Fühlens einschließt, dieses Fühlen und seine Erscheinungsformen durch die Erfahrung des Werks neu bearbeitet und sich dadurch selbst konstituiert. In seinem Kommentar zu Paul Valérys berühmter »Introduction au cours de poétique« (»Einführung in die Poetik«) erwähnt Dominique Dupuy jenes poetische Lesen der Bewegung in »einem Ereignis, das eine Erscheinung ist.«7 Die Aufmerksamkeit wird somit in jene Erscheinung aufgenommen. Anders gesagt, ist die Arbeit der Geste sowohl für den Ausführenden als auch für den Zeugen eine Erscheinung: »Tanzen, das bedeutet, zu zeigen, was der Tanz mit mir macht«, sagt Stéphanie Aubin.8 Es geht also um Körper, die von dem, was sie tun oder lesen, durchdrungen und berührt werden. Die Zerstreuung jedes möglichen Lesevorgangs (und wahrscheinlich auch des lesenden Subjekts) geschieht im Tanz in exemplarischer Weise durch alle Dimensionen der Erfahrung hindurch. Die tänzerische Bewegung prägt ihre Spur sowohl dem Körper, der sie hervorbringt, als auch dem Körper der sie empfängt, ein. Eine Poetik des Tanzes muss somit im Bereich des Übergangs zwischen diesen unterschiedlichen Polaritäten angesiedelt sein. Sie sollte selbst dieser Bereich des Übergangs sein; der schwingende Zwischenraum, in dem der Austausch von Körperzuständen ausgehandelt wird. Hubert Godard spricht sehr richtig von »einem einzigartigen Tänzer für einen einzigartigen Zuschauer.«9 In diesem Sinne macht der extreme und beispielhafte Charakter der Situationen, die sie anregt, die Poetik des Tanzes zum Musterbeispiel einer jeden Poetik. Wir verstehen ›Poetik‹ in dem Sinne, dass das Lesen eines Werks dazu dient, die Ästhesien in seinem Inneren in Bewegung zu versetzen. Doch kann ein solches Lesen auch einen kognitiveren Ansatz einschließen, eine Interpretation, die sich auf den ›Sinn‹ richtet. Unnötig zu sagen, dass wir mit dem Begriff ›Sinn‹, vor allem im zeitgenössischen Tanz, weit von einer 7 | Dominique Dupuy: »La mesure des choses« in: Marsyas Nr. 26, Juni 1993, S. 59-60. 8 | Mündliche Quelle: Text von Stéphanie Aubins Lecture-Performance »Signature«: Teil der Veranstaltung »L’art en scène« der Compagnie Larsen, Paris: Cité Internationale 1994. 9 | Hubert Godard: »Le déséquilibre fondateur« in: Art Press, Sondernummer »Les vingt ans d’Art Press«, Herbst 1992, S. 143ff.

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Narrativität entfernt sind, die sich damit begnügen würde, die Anwesenheit eines Referenten zu enthüllen. Der Sinn ist vielmehr jenes ungenannte Ziel, das der Tanz befragt, ohne es zu beschreiben. Daher schlägt Sally Gardner den Parallelbegriff einer ›Hermeneutik‹ des Tanzes vor. Damit ist weniger die traditionelle Definition der ›Hermeneutik‹ als einer Interpretation oder vielmehr Übersetzung eines rätselhaften, unzugänglichen ›Textes‹, dessen Codes unlesbar bleiben (weil sie aus einem heiligen oder esoterischen System stammen), in eine allgemein zugängliche Sprache gemeint. Sondern eine Hermeneutik in dem Sinn, den ihr die philosophische Strömung im Gefolge Heideggers verliehen hat, die »den Platz des interpretierenden Subjekts als von zentraler Wichtigkeit für die Gestaltung eines Sinns zu Grunde legt« und somit in der Lage ist, »einen Prozess des Dialogs und nicht der Anwendung einer Interpretationsmethode auf einen Gegenstand« herzustellen.10 Dieser Dialog äußert sich in einem Geflecht sensorischer Beziehungen zwischen dem Tänzer und seinem Zeugen. Er ist veränderlich, instabil, zerfällt in eine Vielzahl unterschiedlicher Details und ist an eine Erfahrung gebunden, die sich nur schwer verallgemeinern lässt. Man versteht nunmehr, dass die ästhetische oder poetische Annäherung an den Tanz ein komplexes Unterfangen ist. Sie ist zugleich relativ selten. Tatsächlich sind die meisten ernstzunehmenden Diskurse, die heutzutage über den Tanz gehalten werden, eher von kognitiven Verfahrensweisen geprägt: Sie artikulieren sich meist auf der Grundlage des Fachwissens, das im Tanzbereich entstanden ist und ihm angehört – und das man nach einem hässlichen Anglizismus, für den es in unserer Sprache leider keine Entsprechung gibt, ›spezifisch‹ getauft hat. Zu diesem Fachwissen gehören die Analysen von Choreographie, die im zeitgenössischen Tanz entstanden sind, wie zum Beispiel die unterschiedlichen Typen der Bewegungsanalyse. Eine wichtige Rolle spielen auch die Grundlagen zur Betrachtung der choreographischen Komposition durch unterschiedliche künstlerische Schulen, die selbst wiederum theoretische und praktische Kriterien zur Tanzkonstruktion entwickelt haben. Kriterien, die es erlauben, den Tanz unmittelbar im Prozess seiner Entstehung zu analysieren. Wigman, H’Doubler, Humphrey, Nikolais, Cunningham und Rainer gehören zu jenen Theoretikern der Komposition, deren Liste noch lange nicht abgeschlossen ist. Allerdings nur, wenn unsere aktuellen Choreographen weiterhin gewillt sein werden, ihre Ideen weiterzugeben und ihre Arbeitsweisen zu beschreiben, und wenn Theoretiker die Gelegenheit erhalten, in 10 | Sally Gardner: »Hermeneutics and Dancing« in: Writings on Dance Nr. 10, Herbst 1994, S. 37-39, S. 37.

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unterschiedlichen Verfahren zu analysieren, was die Materie einer Kompositionsschule ausmacht. Im Moment müssen wir jedoch bemerken, dass durch die Unterbrechung der theoretischen Beschäftigung mit Tanz (zu Gunsten einer außerordentlichen Inflation spektakulärer Produktionen und des Werbejargons, der diese unterstützt) die Gefahr besteht, dass der Vorrat an Ressourcen aufgebraucht wird, oder dass Werkzeuge, die man nicht mehr erneuert, sondern nur noch benutzt, zu permanenten Errungenschaften werden. Dabei ist es heute dringend notwendig, sie weiterzuentwickeln und in andere Bereiche zu führen. Es gibt auch andere Werkzeuge der Annäherung, die durch Analogie aus Wissensgebieten außerhalb des Tanzes entliehen wurden (aus den Humanwissenschaften, der Philosophie oder der Semiologie), und deren Anwendung sich oft als erhellend erweist. Heutzutage werden die interessantesten Untersuchungen über den Tanz massiv von dieser Art von Diskurs heimgesucht. Und jene, die unsere Aufmerksamkeit wecken, ziehen aus der Phänomenologie, der Herangehensweise der Strukturalisten oder der Poststrukturalisten (auf die sich die angelsächsischen Kritiker gerne beziehen) oder der Psychoanalyse lacanscher oder kleinscher Prägung wertvolle Schlüssel für den Zugang zu einem anderen Körperdenken. Dies löst jedoch keineswegs die knifflige Frage, inwieweit jene Denkwerkzeuge, die außerhalb der Theorie und der Praxis des Tanzes stehen, auf ihn angewandt werden können. Auch wir vermögen darauf keine eindeutige Antwort zu geben; doch zieht uns das Feld, darin eingeschlossen das historische Feld, in dem der zeitgenössische Tanz entstanden ist, vor allem durch seine extreme Einzigartigkeit, wenn nicht sogar Undurchlässigkeit, an. Es handelt sich um einen Block aus Erfahrungen, für die es keine Vergleichsmöglichkeiten gibt, deren Äußerungen von einem anderen Ort stammen, als dem, durch den sich die anerkannten Verfahren des Denkens und des Wissens für gewöhnlich nach außen hin abgrenzen. Gewiss besteht eine große Nähe zwischen dem zeitgenössischen Tanz und den anderen künstlerischen Praktiken: So enthüllen historische Untersuchungen unablässig die Bedeutung des Dialogs zwischen den modernen Tänzern und den Avantgardebewegungen. Ein weiterer Dialogpartner sind die Humanwissenschaften, die sich für den Platz des Subjekts in der Erfahrung interessieren, was auch dessen Infragestellung einschließt. All diese ästhetischen oder anthropologischen Ansätze können sich mit dem Denken des Tanzes überschneiden. Keiner davon kann es ersetzen. Sie sind in der Lage, es zu beleuchten, zu bereichern und seine Verbreitung zu begünstigen – ebenso wie das Denken des Tanzes im Gegenzug sie beleuchtet oder ganze Bereiche von Körperwissen enthüllt. Doch bedeutet jeder Versuch des Verbergens oder der Unterordnung von Gedanken, die im Bereich der Choreographie entwickelt wurden, eine beträchtliche

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Verwässerung des Denkens des bewegten Körpers und macht daraus eine Disziplin, die parasitär aus anderen Verfahren schöpft. Dabei sind die Originalität und Autonomie dieses Denkens äußerst tiefgreifend. Die furchterregendste dieser Vereinnahmungen rührt von einer anthropologischen Sichtweise her, die das Vermögen der anthropologischen Analysen ignoriert, die der Tanz selbst hervorbringt, und deren kognitives Feld durch die Forschungen in den Bereichen der Tanzanthropologie oder der Bewegungsanalyse ständig beträchtlich bereichert wird. Meistens geht es darum, den Tanz und besonders den Körper, der ihm als Instrument dient, in einen sozio-kulturellen, historischen Kontext zurückzuführen. Dabei wird versucht, ihn als Ausdruck einer Umgebung zu sehen, die ihn hervorbringt, ihm seine Formen vorschreibt und ihm die Rolle eines Zeugen der Reproduktion vorherrschender Figuren zuweist. Diese Analysefamilie stützt sich in der Hauptsache auf choreographische Äußerungen, die bereits vergangen sind oder außerhalb des zeitgenössischen Bereichs liegen. Sie wird gefährlich, sobald der kreative Akt, wenn er nicht den Vorschriften der Tradition gehorcht, als bloße Widerspiegelung allgemeinerer Probleme der Epoche betrachtet wird. Das Einschreiben des Körpers in allgemeine gesellschaftliche Verhaltensweisen oder pathologische Phänomene lässt den Kommentar über den Tanz noch leichter in einen neo-positivistischen Diskurs abgleiten, der den tanzenden Körper auf einen symptomatischen Körper reduziert. In der Beschäftigung mit dem zeitgenössischen tanzenden Körper geht die Tendenz eher in die entgegengesetzte Richtung (vor allem bei den besten angelsächsischen Kommentatoren). Es gilt, das choreographische Werk nicht mehr wie ein bloßes Objekt zu analysieren. Man betrachtet es im Gegenteil wie eine Lesart der Welt an sich, wie eine bewusst hergestellte Informationsstruktur, ein Instrument zur Beleuchtung des zeitgenössischen Bewusstseins. Manchmal sogar als eine Waffe im Kampf gegen Ungerechtigkeit oder stereotypes Denken, als Erscheinung eines Bewusstseins, das sich auflehnt, sich engagiert, protestiert oder gar anprangert. In jedem Fall wird der Tanz glücklicherweise keineswegs als ein Epiphänomen angesehen, das in kausalistischer Weise mit einer Gesellschaft verbunden wäre, als deren spontanes Produkt er, verblendet von der Ideologie eines Augenblicks, seine eigenen Ziele und Vorbilder vergessen würde. Zwei wichtige Elemente des Tanzes in unserer Zeit haben diese Art des Ansatzes besonders begünstigt; erstens ein gewisser narrativer Aspekt, der ein leichtes Lesen diskursiver Themen, Figuren und mehr oder weniger metaphorischer Bearbeitungen von Meinungsäußerungen erlaubt. Zweitens die Tatsache, dass sich die Tänzer, besonders außerhalb der Grenzen von Frankreich und Belgien (die in dieser Hinsicht ein isoliertes und einmaliges Aben-

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teuer erleben), Seite an Seite mit anderen universitären, kulturellen, künstlerischen oder kunstnahen Strömungen in militanten Kämpfen unter anderem für die Rechte ethnischer oder sexueller Minderheiten eingesetzt haben. Somit besteht der Ansatz der Kritik vor allem darin, die bei solcherlei Vorgehensweisen angewandten künstlerischen Mittel ordnungsgemäß zu registrieren und zu analysieren, ja sogar zu interpretieren. Vor allem geht es darum, sie einzuschätzen, um ihre gleichermaßen ideologische und künstlerische Effizienz und Relevanz zu beurteilen. Von nun an geht die theoretisch-kritische Annäherung an den Tanz, wie Gay Morris sehr richtig bemerkt hat, über die Frage hinaus, »wie der Tanz untersucht und analysiert werden soll«, zu Gunsten einer Beschäftigung mit dem »Platz des Tanzes in Kultur und Geschichte.« 11 Anders gesagt, geht es nicht so sehr darum, was auf den Tanz einwirkt, sondern darum, worauf der Tanz selbst einzuwirken beginnt: die menschliche Umgebung, in der er seine Möglichkeiten entwickelt, und über die er ein Wissen (und eine Interpretation) anbietet. Noch deutlicher stellt Susan L. Foster den Tanz als ein aktives Mittel zu Dechiffrierung dar: »Die Choreographie ist psychisch. Sie ist kritisch, historisierend. Sie liegt auf diesen Seiten ausgebreitet wie ein Werkzeug des Denkens, eine Physik des Geistes.«12 Im Vorwort der Textsammlung Corporealities präzisiert Foster, dass sich für sie wie für ihre Mitautoren die Annäherung an den Körper und die Physikalität durch die Suche nach dem vollzieht, was in diesem Körper Sinn schaff t.13 Dies bedeutet, dass wir trotz aller unterschiedlichen Sichtweisen und Methodologien auf jenen kraftvoll inspirierten Seiten immer noch den tanzenden Körper entdecken, der als Leseinstrument im kulturellen und historischen Bereich operiert. Jene Perspektiven, die in den allermeisten Fällen von Künstlern stammen, die wie Foster oder Franko gleichermaßen Theoretiker und Praktiker sind, zeugen von der Entschlossenheit, den Tanz nicht nur zu einem Gegenstand sondern zu einem Werkzeug des Nachdenkens über die Welt zu machen – und vor allem über den politischen und gesellschaftlichen Kontext, innerhalb dessen der tanzende Körper auftritt. Unsere Suche ist eine andere. Vermutlich weil auch unser Beobachtungsfeld ein anderes ist und teilweise unseren Blick bestimmt. Die Analyse des Tanzes ist, wie jede Analyse von Kunst, dazu aufgerufen, an der proble11 | Gay Morris: Moving Words re-writing Dance, London: Rout ledge 1996,

S. 12. 12 | Susan L. Foster: Corporealities, Dancing, Knowledge, Culture and Power, London: Routledge 1996. 13 | Ebd., S. 11.

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matischen Materie zu arbeiten, die im Werk selbst und durch das Werk aufgeworfen wird. Im Bereich des Tanzes geht dies noch weiter: Der Typ von Wahrnehmung, den eine choreographische Produktion anbietet, ist zugleich vielfältig und intim. Vielfältig, weil es neben dem Blick vor allem die kinästhetischen Sinneseindrücke sind, die uns mit einem Werk in Verbindung bringen, mit den Wegen zu seiner Entstehung, seinen Zielen und seinem Sinn. Intim, da bei der Betrachtung von Schichten taktiler Empfindung das Verhältnis zwischen der Analyse und den angesprochenen Wahrnehmungskanälen stärker unser geheimstes Inneres betriff t, also mehr das gleichermaßen Sensorische und Emotionale, als das, was sich unmittelbar in übliche rationalisierende Begriffe übersetzen ließe. Und wenn ein scheinbar weiter gefasster (kultureller, künstlerischer) ›Kontext‹ jenes langwierige Fortschreiten des Körpers durch das Erscheinen einer Geste erhellen kann, muss dieser ›Kontext‹ hergestellt und mit der Materie verbunden werden, der er Farbe verleiht oder die er hervorruft.14 Gewiss verdient diese Ansicht eine eingehende erneute Überprüfung. Wie man seit Laban und den (zwar indirekten aber doch mit ihm verbundenen) Weiterführern seiner Arbeit, wie Bonnie Bainbridge Cohen, weiß, werden unser Weltverständnis und unser kritisches Bewusstsein ebenso stark (wenn nicht sogar stärker) durch die sensorischen Kanäle aktiviert, wie durch die diskursiven Wege der denotativen Kommunikation.15 Das heißt, dass der Tanz auch auf den Körper der Person einwirkt, die über ihn schreibt. Dass sich aus der Gesamtheit der Bewegungen, der choreographischen Prozesse, die gesehen, verinnerlicht und vor allem in der Praxis erfahren wurden, schließlich der Ort unserer Wahrnehmung herausbildet. Dass jene umfangreiche rezeptive ›Aktivität‹ des kritischen Körpers (das, was Deleuze in der Logik der Sensation die ›konstituierende Passivität‹ nennt?) das mehr oder weniger kontrollierte Spiel seiner Ästhesien und die Art und Weise, wie sie in den sprachlichen Ausdruck übergehen, weitgehend bestimmen wird. Wie die leichte Berührung einer Woge von Eindrücken, die einen Körper an die Ufer der Sprache spült. Gleichzeitig muss der Körper die Blindheit und Ungeschicklichkeit dieser Sprache erkennen: Das 14 | Vgl. Roger Copeland: »Beyond Expressionism, Merce Cunningham’s Critique of the Natural«, in: Janet Adshead/June Layson (Hg.): Dance History an Introduction, London: Routledge 1983, S. 182-197. Copeland erinnert zu Recht daran, wie unverzichtbar die Kenntnis der Geschichte der Kunst des 20. Jahrhunderts für das Verständnis von Cunninghams Denken und Grundsatzentscheidungen ist. 15 | Siehe Rudolf von Laban in: Lisa Ullman (Hg.): The Mastery of Movement, London: Mac Donald & Evans 1960 und Bonnie Bainbridge Cohen: Spüren, Fühlen, Handeln, Düsseldorf, Zürich: Walter 1998.

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Sprechen über den Tanz wird zu sehr von seiner unmittelbaren Erfahrung erschüttert, um wirklich seiner eigenen Legitimität sicher sein zu können. Daher kann ich nur aus der Umgebung heraus, in der ich lebe, vom Tanz sprechen: ausgehend von dem problematischen Feld des Theaters und von dem, was mein eigener Körper dort an vielfachen Spannungen, an Jubel oder an Zerrissenheit durchläuft. Dies macht bereits im Vorfeld eine Vielzahl beschwichtigender Vorreden nötig, die daran erinnern sollen, dass ich mich selbst nicht aus meinen eigenen Äußerungen ausklammern kann: weder bei der Auswahl der Untersuchungsgegenstände, die zwangsläufig mit der Willkür eines persönlichen Werdegangs zusammenhängen, noch was den relativen (doch zugleich tief in der individuellen Empfindung verwurzelten) Charakter angeht, von dem ausgehend sich ein Diskurs über den Tanz als Hin- und Herbewegung eines kognitiven und sinnlichen Austauschs zwischen zwei oder mehreren Körpererfahrungen rechtfertigen ließe. Deshalb vermag ich weder meine Sichtweise noch die Modalitäten meines Ansatzes an das Modell der angelsächsischen Kritiker anzupassen, obwohl ich sie bewundere und mit Begeisterung gelesen habe. Dafür gibt es zwei Gründe: Der eine hängt mit der Perspektive zusammen, die ich bewusst einnehme und vehement verteidige: Es geht mir darum, den ›Sinn‹ des choreographischen Akts nur ausgehend vom Material selbst und den Körperzuständen, die ihm als Instrumente dienen, zu begreifen – und zwar weitaus mehr als durch die symbolische Äußerung choreographischer ›Bilder‹ oder durch die Maschinerie einer Ideologie, die einzig und allein durch die figuralen Elemente wirkt, die sie hervorbringt. Der zweite Grund hängt mehr mit den dringenden Bedürfnissen eines kulturellen, gesellschaftlichen und universitären Kontextes zusammen, der kaum über die wirklichen Inhalte der Tanztheorie und das riesige konzeptuelle und praktische Arbeitsgerät Bescheid weiß, das diese in den letzten hundert Jahren hervorgebracht hat. Daher erschien es uns als eine unverzichtbare Aufgabe, die Äußerungen der Poetik im zeitgenössischen Tanz herauszustellen, zu versammeln, und an ihre Einsätze zu erinnern. Im Übrigen fordert der Gedanke einer ›Poetik‹ dazu auf, die eigenen Ressourcen, die sich eine Praxis gewählt hat, wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Somit wird der Tanz selbst durch seine Arbeit, die er ständig neu verrichtet, ihre Ausrichtungen bestimmen. Häufig wird dabei die Rede von ›Tanzarbeit‹ sein, wobei das Wort Arbeit (»travail«) in seinem ursprünglichen Sinne verstanden wird, also weder als Leiden, noch als asketischer Voluntarismus (nichts beherrscht die Philosophie des zeitgenössischen Tanzes weniger als jene beiden Einstellungen), sondern als das Vermögen des Körpers, aus seiner eigenen Materie die Quellen seiner größten Energie hervorzubringen. Wie bei der Arbeit

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des Gebärens, interessiert uns das Vermögen des Körpers, Lebendiges aus seiner eigenen Materie auszuscheiden. Die Beschränkung der Analyse auf den Bereich des Wahrgenommenen, in dem der Dialog mit dem Körper des Tänzers tatsächlich begonnen hat, wirkt sich ganz automatisch auf die Bandbreite der Referenzen aus, auf deren Grundlage wir den Leser einladen werden, einige Wahrnehmungen mit uns zu teilen. Ein Großteil wird aus dem Bereich des zeitgenössischen französischen Tanzes stammen. Dabei wurde innerhalb dieses Feldes, ausgehend von den Reaktionen der Autorin, eine Art persönlicher Auswahl vorgenommen. Manchmal geschah dies fast unwissentlich – was als ausreichender Beweis dafür gelten kann, wie stark die Wahrnehmung des Tanzes von einer Hingabe der gesamten Person an die Anwesenheit des choreographischen Ereignisses abhängt. Nun liegt aber das wichtigste Element der Fülle, als die wir den zeitgenössischen Tanz heute erleben, vermutlich in dem vielgestaltigen prismatischen Charakter seiner einzelnen Splitter. Es ist ziemlich schwierig, aus hundert Blumen, die im Gefolge eines Tanzes erblüht sind, der neu ist und in der Lage, den zeitgenössischen Körper zu äußern, ein repräsentatives Beispiel auszuwählen, ohne dabei alle anderen in den Schatten zu stellen. Doch ist eine Zusammenschau des zeitgenössischen Tanzes nur in der notwendigerweise provisorischen Form einer Enzyklopädie oder eines Verzeichnisses möglich, das ständig auf den neuesten Stand gebracht werden muss. Man wird hier nicht alle Namen erwähnt finden, die es verdienen würden – doch soll dadurch niemand abgelehnt oder gar missachtet werden. Auch bekümmert sich die Auswahl nicht besonders um institutionelle Hierarchien oder solche der Mediatisierung. Stücke von bescheidenem Bekanntheitsgrad, die getanzt wurden, ohne um sich selbst Aufhebens zu machen (bei denen aber die Entdeckung neuer Wahrnehmungen gerade deshalb umso wahrscheinlicher ist) enthüllen manchmal ganze Flächen vom Rätselhaftesten, was der Tanz in sich verborgen trägt, während angesehene, mediatisierte und hymnisch gefeierte Werke nur die mechanische Ansicht eines wohlangewandten spektakulären Systems beizutragen haben. In der Tanzästhetik ist eine ›gelungene‹ Auff ührung oft weit weniger wert als ein verlorener Splitter, der wie ein Meteorit einen Augenblick des Tanzes durchschlägt, und in dem sich das entlädt, was in den Körpern von Tänzer und Zuschauer berührt wurde. Wir alle sind auf der Suche nach solchen ›Sternstunden‹ und nach der unauslöschlichen Spur, mit der ihr flüchtiges Vorüberziehen unsere Geschichte prägt. Ich plädiere für eine Poetik dieser Echos, die über das Subjektive hinausgehen. Man wird somit leicht verstehen, dass in einer Untersuchung, die sich einer Vielzahl von Gegenständen widmet, gewisse choreographische Arbeiten außen vor bleiben müssen. In den meisten Fällen reicht deren Bekanntheitsgrad aus, um sie gegen ein Schweigen gefeit

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zu machen, das ihnen nichts von dem Getöse nimmt, das um ihren Wert gemacht wird, und von der Wertschätzung, die man dafür haben kann. Dagegen sind die Werke und Autoren, denen ich den Vorzug gegeben habe, diejenigen, mit denen ich Gelegenheit hatte, einen Dialog zu führen: einen Dialog des Sprechens, des Gedankenaustauschs, der durch die Umstände des Lebens begünstigt wurde, aber auch durch Freundschaft, Wertschätzung und eine gemeinsame Sensibilität. Der wichtigste Dialog bleibt selbstverständlich derjenige, der zwischen Tanz und Wahrnehmung entsteht: das Denken, das sich mittels einer Bewegung in das Bewusstsein des Zeugen überträgt. Doch verändern die ausgetauschten Ideen, Erfahrungen, und Worte den Verlauf dieses Dialogs und bereichern ihn durch die Bewegung einer Vielzahl weitaus feinerer Empfindungen. Heißt das, dass eine Poetik neutral sein kann? Nein: Die Berufung der Poetik ist gewiss nicht mehr, wie zu Zeiten von Aristoteles oder Horaz, durch die Notwendigkeit vorgegeben »eine Sammlung von Regeln, Empfehlungen und Vorschriften« zu liefern, wie sie bereits Paul Valéry 16 kritisiert hatte, der seinerseits eine ›poiétique‹ vorschlug und dabei auf dem griechischen Ursprung des Wortes, der sich auf das ›Tun‹ bezieht, beharrte. Unter diesem ›Tun‹ muss man die Lebhaftigkeit eines Projekts verstehen, dem es weitaus mehr um Dynamik als um Regulierung geht. Genauso wenig wie die Poetik nach Paul Valéry sieht der zeitgenössische Tanz ein normatives oder zensorisches Programm vor. Im Übrigen wäre es ein krasser Widerspruch, den zeitgenössischen Tanz an einen kanonischen Hintergrund binden zu wollen. Weder für das Werk noch für die Interpretation gibt es im zeitgenössischen Tanz eine übergeordnete Instanz, die irgendeine einzigartige Referenz durchsetzen oder den Akt in die lange historische Folge von Erscheinungen einordnen würde, durch die man ihn vergleichend beurteilen könnte, wie dies in der Musik oder im Theater der Fall ist. Sally Banes erinnert zu Recht daran, dass dieser bewertende Ansatz unter Ballettomanen absolut gebräuchlich ist, wo sich das kritische Urteil ausschließlich auf die Interpretation eines bestimmten Augenblicks richtet, und zwar immer in Beziehung zum Bild früherer Interpretationen.17 Hier wird man, wie ich hoffe, nichts dergleichen finden: Denn der Gedan16 | Paul Valéry: Variété II, Paris: Gallimard, 1928. Neuauflage mit einem Vorwort von Dominique Dupuy mit dem Titel »La mesure des choses« in: Marsyas Nr. 26, Juni 1994, S. 61. 17 | Sally Banes: »On your Fingertips: Writing Dance Criticism«, in: Writing Dancing in the Age of Post Modernism, Middletown, Conn.: Wesleyan Univ. Press 1994, S. 269-283.

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ke der Bewertung (der so wichtig in unserer ›Expertenkultur‹ ist) ist den Dynamiken des zeitgenössischen Tanzes fremd. Bedeutet dies, dass keine qualitative Annäherung an diesen Bereich denkbar ist? Gewiss nicht: Der Wert eines Werks, einer Sprache, einer Bewegung lässt sich in Bezug darauf einschätzen, inwieweit sie Fragen stellen, bereichern und erschüttern. Dazu ist Kohärenz, Engagement und eine ausgeprägte Beherrschung der Prozesse notwendig. Doch kann man mehr oder weniger überzeugt, mehr oder weniger mitgerissen sein. Es geht hier nicht um einen Schiedsspruch, sondern um eine eventuelle Zustimmung. Allerdings ist nicht gesagt, dass jede Äußerung tatsächlich zu einer Zustimmung führt. Es ist nicht sicher, dass die dargebotene Geste zu dem passt, was wir von einem körperlichen Erscheinen erwarten, oder dass das übermäßige Aufwenden von Verfahren oder Effekten die stillschweigende Vereinbarung eines Dialogs zwischen meinem Körperbewusstsein und dem Tänzer zufriedenstellen kann. Auf beiden Seiten können Blockaden und Verhärtungen das Zirkulieren dieses Dialogs verhindern. Doch drängt sich dieses Zirkulieren nicht auf. Es sollte niemals durch emotive Schocks oder andere Mechanismen, die die Vorstellungswelt des anderen unterjochen, Gewalt auf die zitternde Schwelle ausüben, hinter der Kinästhesien erwachen, und auf das Verstehen, das durch diese möglich wird. Es geht hier nicht um Verschmelzung, auch wenn der zeitgenössische Tanz dazu auffordert, sich dem Tänzer innerhalb der Erfahrung, die ihn durchdringt, anzuschließen. Es geht um Empathie – und nicht um ›Kommunikation‹. Man weiß zum Beispiel, dass Cunninghams Tanz nicht kommuniziert. Er hat die Billigung des Zuschauers nicht nötig. Seine Stimmigkeit ergibt sich aus dem Vermögen einer Kunst ohne Mystifizierung, die all ihre Parameter ohne jede List ›ausstellt‹, und aus der wirklichen Hingabe des Tänzers, der sich auf die Komplexität eines für ihn unvorhersehbaren Geschehens einlässt. Und wenn wir damit einverstanden sind, reicht dies aus, um uns in einem wachen und interessierten Zustand zu halten, ohne dass jemals gewaltsam unsere Zustimmung eingefordert würde. Somit lässt Cunninghams Kunst niemand unbeteiligt, selbst ein Publikum, das kaum in die Geheimnisse der zeitgenössischen Kunst eingeweiht ist. Im Übrigen hat der zeitgenössische Tanz nie ein homogenes künstlerisches Programm der Form postuliert. Dafür, und genau da berührt seine Poetik andere Gebiete des Denkens und des Urteilsvermögens, hat er stets ›Werte‹ unterstützt. Das Miteinbeziehen dieser Werte könnte sehr leicht zu einem gewissen Abgleiten führen und in einen militanten Akt verfallen. An sich ist jener Militantismus, der einer der Antriebe der künstlerischen Avantgarden war, heute nicht zwangsläufig sinnlos. Doch verlangt die Poetik, dass man darüber hinausgeht, dass man den Werten die Möglichkeit gibt, Kunst zu schaffen, das heißt, unbekannte Werte hervorzubringen, über die unsere

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provisorischen Schiedssprüche keinerlei Einschätzungsgewalt haben. Allerdings kann sich die Poetik ihre Lage und den historischen Ort, von dem aus sie sich äußert, nicht aussuchen. »Sie ist kritisch«, bemerkt Meschonnic, »weil ihre Lage kritisch ist.« 18 Jene Kritik, der sich die Poetik aussetzt, ist nicht bloß die Äußerung ihrer eigenen Sicht auf den Kontext ihrer Epoche. Sie ist genau das, was sie weit über diese Epoche hinaus in die Bereiche einer ›Ereignis-Erscheinung‹ schleudert, wie es Dominique Dupuy nennt, für die das gegenwärtige oder vergangene Werk nur ein erster Entwurf ist. Die Sprache der Poetik strebt auf eine Offenheit zu, ohne dabei jedoch deren Genese im Geringsten verändern oder orientieren zu können. Sie bietet keine Normen oder Kanons an, wie die klassische Poetik, sondern befragt auf unbegrenzte Zeit das Feld des Möglichen. Meschonnic schreibt weiterhin: »Es liegt also ein Stück Utopie in der Poetik, das heißt ein Stück Zukunft.« Im Namen dieser Utopie, jenes zeitgenössischen Tanzes, der stets im Werden ist, wird man mir verzeihen, wenn ich manchmal normativ bin. Ich bin es nicht im Namen formaler Kriterien oder ästhetischer Grundsatzentscheidungen, sondern im Namen der Werte selbst, die mich mit dieser Kunst verbinden und die meine Hoff nung auf ihre Weiterentwicklung und ihre Anerkennung im heutigen Denken unterstützen. Die Dauerhaftigkeit der ›Werte‹ und die Unmöglichkeit, ihren noch verborgenen Sichtbarkeitsmodus zu antizipieren, sind übrigens die Erklärung für gewisse ahistorische Grundsatzentscheidungen, die man hier finden wird. Seit der Jahrhundertwende sind im zeitgenössischen Tanz zahlreiche Schulen und Strömungen aufeinander gefolgt. Zumindest solange der zeitgenössische Tanz der Avantgarde entstammte, legte jede von ihnen von Generation zu Generation eine mehr oder weniger gemeinschaftliche geteilte Sichtweise mit unterschiedlichen Graden der Polemik an den Tag, die mal mehr, mal weniger öffentlich diskutiert wurde. In manchen Generationen, wie derjenigen der 30er Jahre, wo sich die introvertierte Ästhetik des Ausdruckstanzes einer Wigman und Kurt Jooss’ Verständnis vom Tanz als Diskussionsforum einer öffentlichen und objektiven Kunst gegenüberstanden, war die ästhetische und ideologische Konfrontation eindeutig sichtbar. Ebenso bei den Brüchen zwischen den amerikanischen Generationen der 40er und 50er Jahre, bei denen es um die Ablehnung des ›modern dance‹, seiner institutionellen Modelle und seiner Herstellungsrezepte ging. (Eine Diskussion, die sich gut auf unsere heutigen Problematiken übertragen ließe, zum Beispiel in Bezug auf den Kult des perfekten spektakulären Produkts und seiner Kodifizierung.) Heute sind uns 18 | Henri Meschonnic: Les états de la poétique, Paris: PUF, coll. »Ecrits«

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jene kreativen Strömungen, die das Jahrhundert durchzogen haben, durch Filmaufnahmen und Dokumente leicht zugänglich, und besonders durch die Repertoirepraxis oder die Arbeit an den ›Körpern‹, die die jeweilige Kunst verlangte. Doch ist es uns nicht mehr möglich, uns historisch in sie hineinzuversetzen, geschweige denn, uns einen Bereich in der Vergangenheit auszusuchen, dessen Forderungen wir uns ausschließlich zu Eigen machen könnten: Der unermessliche Reichtum, den jede Bewegung, jede Strömung der Moderne zu bieten hat, verbietet es uns, manche von ihnen zu Gunsten von anderen zu verwerfen. Wer mir auf diesen Seiten folgen will, ist zu einer Reise durch Zeit und Raum und durch die unterschiedlichen Schulen eingeladen, und zu dem ständigen Versuch, deren Denken und Beiträge zu versammeln und die unendlichen Ressourcen, die uns die Moderne vererbt hat, wie zersplitterte, zuweilen halb vergessene Fundstücke aufzulesen. Es handelt sich nicht um ein Erbe, das sich in Kapital umwandeln oder wie Güter auf bewahren ließe, sondern im Gegenteil um ein dialektisches Erbe, in dem jeder Beitrag hinterfragt, überarbeitet, verschoben, verworfen, neu überprüft, manchmal ausgelöscht, und schließlich in Tiefen vorangetrieben wird, mit denen man nicht mehr gerechnet hätte. Es ist zum Beispiel frappierend, wie sehr die gegenwärtige Begeisterung für Trisha Brown unter den europäischen Tänzern wieder grundlegende ›Werte‹ des zeitgenössischen Tanzes in Umlauf gebracht hat. Werte, die man fast vergessen hatte: die Erfahrung des Körpergewichts, die Flüssigkeit einer kontinuierlichen Bewegung, die Nicht-Vorwegnahme einer entstehenden Geste usw. Doch dieses Mal verleihen das Denken der Choreographin und ihre ästhetische Entschlossenheit jenen ›Werten‹ eine breitere Resonanz, eine Glaubwürdigkeit, eine unermesslich reiche künstlerische und reflexive Dimension. Sie werden zum Aufruf, zum Ideal, zur unendlichen Schwelle eines stetigen Fortschreitens. Der andere Vorteil jener Reisen durch die Körperzustände ist, dass man dadurch mit einer linearen, oft naiv fortschrittsgläubigen Sichtweise auf die Tanzgeschichte bricht, die heute kaum mehr zulässig ist.19 Das heißt mit der Idee einer zielgerichteten Tanzgeschichte, die durch das Verwerfen der Unreinheiten (wie der Narrativität) und den anschließenden Triumph der zeitgenössischen Vollkommenheiten nach und nach zum Lichte emporsteigen würde… Eine solche Sichtweise hatte für den Kritiker Clement Greenberg, der in der US-amerikanischen Kunst der 50er Jahre die eindeutige Verwirklichung eines Avantgardeprojekts sah, durchaus ihren Sinn (obwohl seine Perspektive heute heftig umstritten ist). Heutzutage sind der Fortschrittsglaube und die idealisierende Theorie jenes modernistischen 19 | Vgl. Nathalie Schulmann: L’histoire de la danse, Mémoire de Licence, Univ. Paris VIII 1992 (unveröffentlicht).

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Denkens jedoch kaum mehr angebracht. Unsere gegenwärtige Epoche neigt dazu, die Radikalität von Verfahren durch ein Universum von Bildern und Fiktionen zu überdecken. Man weiß heute sehr wohl, dass jede Etappe oder abweichende Verzweigung der Kunst neue Materialien oder neue Fragestellungen enthüllt, welche häufig zum mehr oder weniger unwiederbringlichen Verlust anderer Qualitäten führen. Cunninghams dezentrierter Raum gibt (übrigens ganz bewusst, auf seiner Suche nach einer Präsenz in der Ebene, in Analogie zum Anti-Illusionismus in der Malerei) die Poetik der Dreidimensionalität auf, die bei Graham und Limón so bestimmend war. Im Tanz gibt es blitzschlagartige Durchbrüche, die ihrer Zeit weit voraus sind, ebenso wie Regressionen, halbherzige Ausbesserungen und Augenblicke der Kapitulation – auch wirkliche Entscheidungen, so wie in diesem Beispiel. Und eine Entscheidung zu treffen bedeutet oft, etwas zu verwerfen, wütend zu zerreißen, oder erstaunt wiederzufinden, was in einer früheren Epoche verdrängt wurde. Jedermann weiß heute um die tiefgreifende Beziehung zwischen den 20er und 30er Jahren und der radikalen Tanzerneuerung in den USA der 60er Jahre. (Die gleichzeitige Eroberung der Moderne in Frankreich würde es verdienen, ihnen zur Seite gestellt zu werden.) Es ist durchaus stimmig, dass Cynthia J. Novack das Auftreten der ›contact improvisation‹ in die Nähe der Anfänge des modernen Tanzes in Deutschland rückt, da all diese Momente »experimentelle Strömungen [waren], die ursprünglich nicht formalisiert waren und im Wesentlichen in einer Bandbreite von Prinzipien oder Ideen über die Bewegung, die man erforschte, bestanden.«20 Es handelt sich also um eine (vollkommen bewusste) periodische Rückkehr jenes reinen Augenblicks des körperlichen Nullpunkts, wo alles wieder völlig neu erfunden werden kann. Dies kann unter anderem zur Aufgabe der beschränkten Sichtweise eines kontinuierlichen Erzählfadens führen und dazu einladen, zwischen den Körperzuständen wie zwischen Verkörperungen der Geschichte zu navigieren, die weit tiefer gehen, als es die Etappen einer scheinbaren Chronologie vorschreiben. Alle Schwankungen und Momente des Widerhalls sollten mit jenem Geschichtsbewusstsein verbunden sein. An dieser Stelle kehrt die von Dominique Dupuy vorgeschlagene Idee der ›Anbindung‹ wieder,21 mit dem feinen Unterschied, dass diese ›Anbindung‹ nicht mehr nur historisch ist. Indem sie Verwandtschaftsverhältnisse herstellt, auch solche, die vielleicht geheim sind, kann sich die Anbindung in Zeit und Raum durch Ko-Präsenzen und plötzliche Bündnisse von Körpern 20 | Cynthia J. Novack: Sharing the Dance, Contact Improvisation and American Culture, Madison: Univ. of Wisconsin Press 1990, S. 23. 21 | Dominique Dupuy: »Le maître et la mémoire«, in: Saisons de la danse Nr. 241, Dezember 1992, S. 43-44.

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vollziehen, die einander niemals begegnet sind. Von einem Körper zum anderen hallt etwas wider, weniger durch das, was sie tun, als durch einen Körperzustand, den es zu lesen, zu dechiffrieren gilt: jene Nachhut der Bewegung, jener unsichtbare Bereich des Körpers, der zugleich seine Genese und sein Sem ist, und der sich mir sogar bei meinen Zeitgenossen entzieht. Wie eine latente Kraft, die sich mir nähert und mich ergreift, ohne dass ich ihre schwankende Identität klar erkennen könnte. Hier hat die Geschichte keinen Einfluss mehr. Außer beim Erfinden einer anderen Geschichte, der vielleicht einzig wahren: einer Geschichte der geheimen Übergänge und der Augenblicke des Wiederauflebens. Manche Leser werden mir vorwerfen, keine Unterscheidung zwischen den Etappen der Modernität im Tanz bis in die heutige Zeit hinein vorzunehmen. Dass ich zum Beispiel nicht zwischen dem, was ›modern‹ ist und dem, was ›zeitgenössisch‹ oder vielleicht gegenwärtig ist, unterscheide. Manche Tänzer, mit denen ich befreundet bin und die ich sehr schätze, werden es mir verübeln: wie Merce Cunningham und Trisha Brown, für die jegliche Annäherung an den ›modern dance‹ undenkbar ist, da sie selbst seine Verwandlung in eine selbstgefällige Institution bekämpft haben. Ihr gesamtes Werk ist eine einzige Ablösung von vorangegangenen Elementen, die sie unaufhörlich in Frage stellen. Dies ist die Art von Vorwurf, für die ich am empfänglichsten bin, weit mehr als für die der Anhänger einer offiziellen Geschichtsschreibung. Doch werden sie mir verzeihen, dass ich darauf beharre: Für mich gibt es erst einen zeitgenössischen Tanz, seitdem zu Anfang dieses Jahrhunderts die Idee einer nicht überlieferten gestischen Sprache aufkam. Genauer gesagt, finde ich durch alle Schulen hindurch vielleicht nicht dieselben ästhetischen Grundsatzentscheidungen (was in dieser Arbeit nach und nach seine Wichtigkeit verloren hat), wohl aber dieselben ›Werte‹: Werte, die manchmal sehr gegensätzlich behandelt werden, doch die durch diese Behandlungen hindurch immer noch erkennbar bleiben (was Françoise Dupuy sehr treffend die »Grundlagen des zeitgenössischen Tanzes« nennt): die Individualisierung eines Körpers und einer Geste, für die es kein Vorbild gibt, und die eine Identität oder ein Vorhaben ausdrücken, die durch nichts zu ersetzen sind. Die ›Produktion‹ (und nicht Reproduktion) einer Geste (ausgehend von jedermanns eigener Empfindungssphäre – oder einer tiefgehenden und bewussten Zustimmung zur Grundsatzentscheidung eines anderen). Die Arbeit an der Materie des Körpers, der Materie des Selbst (die sich in subjektiver Weise oder im Gegenteil über die Alterität vollzieht); die Nicht-Vorwegnahme der Form (selbst wenn, wie bei Bagouet oder Lucinda Childs, im Vorfeld choreographische Pläne festgelegt werden), die bedeutende Rolle der Erdanziehungskraft als Antrieb der Bewegung (egal ob man mit ihr spielt oder sich

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ihr hingibt). Auch moralische Werte wie die persönliche Authentizität, der Respekt für den Körper des anderen, das Prinzip der Nicht-Arroganz, die Forderung nach einer Lösung, die ›stimmig‹ und nicht bloß spektakulär sein soll, die Transparenz und der Respekt für die angewandten Prozesse und Verfahren. All diese Kategorien sollen auf den folgenden Seiten eingehend behandelt werden, so dass ich an dieser Stelle nur sehr skizzenhaft auf sie und die mit ihnen verbundenen Verfahren eingehen kann. Wichtig ist zunächst nur, dass sich diese ›Werte‹ nicht geändert haben. Dass, wenn sie verschwinden, etwas Zeitgenössisches erlischt oder verloren geht, das heutzutage bestenfalls durch Formalismen oder modellhafte Vereinfachungen auf der Grundlage reproduzierter Errungenschaften ersetzt wird. Dass sich die Werke oder die Entwicklungen, die uns heute interessieren, alle in der ein oder anderen Weise auf diese Grundlagen stützen. Man kann sogar noch weiter gehen und behaupten, dass ihre künstlerische Leistung in der Art und Weise besteht, wie sie diese Rückbesinnungen vollziehen (selbst wenn sie scheinbar die Ziele dieser Grundlagen verschieben). Dennoch schlage ich trotz dieser nicht-linearen Sichtweise auf das Jahrhundert der Tanzmoderne eine Unterscheidung vor, die nicht unbedingt historisch ist, auch wenn sie eine gewisse Diachronie einführt: zwischen dem, was ich die ›große Moderne‹ nenne und der gegenwärtigen Epoche. Die große Moderne verweist auf einen Schöpfungsrahmen, innerhalb dessen der Choreograph, Tänzer und Denker nicht nur eine Auff ührungsästhetik erfindet, sondern einen Körper, eine Praxis, eine Theorie und eine Bewegungssprache. Es handelt sich um die Familie der ›Begründer‹ (die die Angelsachsen ›the originals‹ nennen), die mit Isadora Duncan beginnt, und deren letzte Vertreter jene Künstler im Amerika der 60er Jahre sein könnten, die aus dem berühmten Kontext der Judson Church stammten. In Frankreich waren es wagemutige Erneuerer einer Sprache, die sie vielleicht nicht ›geschaffen‹ hatten, aber für deren Auftauchen sie gewissermaßen ›aus erster Hand‹ verantwortlich waren. Sie gaben diese Sprache auf eigene Gefahr und eigenes Risiko weiter, und zwar in Verbindung mit einem theoretischen Denken, das stark genug war, um die geringste Grundsatzentscheidung zu legitimieren und ihr eine Grundlage zu bieten. Dieser ›großen Moderne‹ kann man die gegenwärtige Fülle von Produktionen gegenüberstellen, die zwar außerordentlich reichhaltig und fruchtbar ist, sich jedoch allzu oft auf die Ausarbeitung einer spektakulären Formel beschränkt, ohne den Weg über die Neuerfindung einer Sprache und eines Werkzeugsystems zu gehen, das deren Gestaltung ermöglichen würde. Manche Kritikerschulen haben diese Generationen in mehr oder weniger ungefährer Weise ›nouvelle danse‹ (›neuer Tanz‹) getauft (ein Ausdruck, der im Laufe des Jahrhunderts seit den 20er Jahren mindestens dreimal wieder aufgegriffen wurde…). Auch wenn wir den gleichermaßen

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historischen und künstlerischen Abstand zumindest latent aufrechterhalten, werden wir im Folgenden häufiger Elemente oder Wahrnehmungen miteinander verknüpfen, sobald es ähnliche Erscheinungen und aufeinander widerhallende Körperzustände erlauben, im Hinblick auf eine choreographische Frage Geschichtlichkeiten zu versammeln, die zwar disparat erscheinen, sich jedoch mit denselben Anliegen beschäftigen. Diese Studie wird keine neue Methodologie des Blicks auf den tanzenden Körper anbieten. Zumeist werden wir uns damit begnügen, Konzepte zu benutzen, die bereits die Tänzer selbst in Bewegung gesetzt haben, insbesondere im Gefolge von Laban und seiner Schule. Man wird dies besonders bei der Verwendung der labanschen Bewegungsfaktoren als Analysegrundlage sehen. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens befinden wir uns in einer ›Poetik‹. Daher empfiehlt es sich, dass die Analyse des zeitgenössischen Tanzes die innersten Antriebe durchleuchtet, die ihm Körper und Denken verliehen haben. Bei dieser Gelegenheit wird der uneingeweihte Leser das Ausmaß der praktischen und theoretischen Arbeit begreifen, durch die sich die Tanzmoderne im Laufe des Jahrhunderts gestaltet hat. Zweitens glauben wir, dass es der vorrangige Sinn des Tanzes ist, aus dem Körper zu lesen, der ihn hervorbringt, und der sich selbst im Tanz hervorbringt. Dass sich die klare oder unklare Intention des poetischen Akts im Tanz durch die Bewegung äußert: als ein Verfahren, das sowohl Körperzustände als auch Denkzustände hervorbringt. Unserer Meinung nach ist man in der Annäherung an jenen körperlichen Schatz einer Poesie, die unablässig am Entstehen ist, (zumindest unseres Wissens nach) noch nie so weit gekommen wie Laban in seiner Beschreibung der Modalitäten des ›effort‹ (›Antrieb‹). Das heißt: in der qualitativen Verteilung der Bestandteile der Bewegung und ihres Einsatzes, der ›inneren Haltungen‹ und des intersubjektiven Zirkulierens, aus dem sich die Poetik, sowohl des Akts als auch seines Lesens entspinnt, wie sie besonders die Weiterführer seiner Arbeit vertieft und vervollständigt haben. Natürlich könnte man sich zu Recht fragen, welche Art der Neuerung diese Seiten denn bringen können, wo sich doch die Analysekriterien oder die vom tanzenden Körper abgelesenen Informationen auf Konzepte beziehen, die in der Geschichte der choreographischen Moderne bereits seit langem enthüllt sind. Unsere Entscheidung wird, auch wenn sie ihre Begrenzungen zugibt, von mehreren dringenden Erfordernissen bestimmt: Zum einen gilt es, wie bereits erwähnt, dem nicht-tanzenden Leser den unermesslichen theoretischen Reichtum zur Kenntnis zu bringen, und dessen notwendige und unter großen Mühen etablierte Werkzeuge zur (glaubwürdigen) Offenbarung eines körperlichen Akts, die die Tanzauff ührung vielleicht Kraft ihrer Erscheinungen vor ihm verbirgt. Der andere Grund ist, dass die kaum bekannten oder zuweilen

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sogar in der choreographischen Welt selbst gering geschätzten Ressourcen des zeitgenössischen Tanzes von jeder neuen Generation sowohl auf praktischer als auch auf theoretischer Ebene neu erprobt oder entdeckt werden, ohne jemals in einem Feld dauerhafter Errungenschaften ihren Ursprung zu finden oder sich verwurzeln zu können. Aus diesem Grunde entwickeln sie sich nur wenig weiter. Dabei kann sich eine Weiterentwicklung im Denken des Tanzes heute nur durch die Berücksichtigung des Erbes der Moderne vollziehen, durch die Berücksichtigung eines Wissens, das auch die vollzogenen Brüche mit einschließt. Ohne dieses Wissen kann der Tänzer oder Theoretiker mit nichts brechen – vor allem nicht mit dem erwähnten Erbe, dessen bereits erprobte Figuren er häufig unwissentlich wiederholt, ohne jedoch die großen Sprengkräfte erneut zu durchlaufen, die ihn die Spaltung oder den Abstand erleben lassen könnten, die es zu vertiefen gilt. Die hier erwähnten Analysemethoden haben nichts Definitives – unter der Bedingung, dass man sie klar zur Kenntnis nimmt. Vieles hat sich in den Körpern weiterentwickelt, und es wäre heute an der Zeit, Betrachtungsweisen zu entwickeln, die stärker an die gegenwärtige Sensibilität angepasst sind. Es wäre an der Zeit, auf einer tiefergehenden Ebene neue Wahrnehmungen und neue Wege der Analyse zu erforschen. Doch leider kann ein solches Projekt erst dann durchgeführt werden, wenn die theoretischen und praktischen Errungenschaften des Tanzes erkannt und verstanden worden sind. In dieser Hinsicht wurde in Frankreich sehr viel Zeit vertan, und die unbewusste Übernahme bereits seit langem erforschter Konzepte oder die bestürzende Kümmerlichkeit der Ansätze, die an deren Stelle treten sollen, zeigen deutlich das Ausmaß dieses Verlustes. Somit muss sich diese Abhandlung darauf beschränken, Anhaltspunkte zu bieten, obwohl wir schon im Weitergehen begriffen sein könnten, in einem Denken in Bewegung, einem Denken des Tanzes, das sich durch die Praxis und die Werke weiterentwickelt. Zwar sind heutzutage andere Lese-Kriterien am Werk, und Dank gebührt den zahlreichen angelsächsischen Theoretikern, die bereits in diesem Vorwort erwähnt wurden. Doch vollzieht sich ihre Beobachtung, wie bereits gesagt, in einem anderen Bereich als dem unseren – und vor allem mit einer anderen Zielsetzung: Aus möglicherweise historischen Gründen stützt sich ihre Sichtweise mehr auf das, was in der choreographischen Arbeit Struktur, Bedeutung, und manchmal Metapher schaff t. Wir dagegen ziehen es vor, bei der Intimität der Geste und der Entstehung der Bestandteile des Werks zu verweilen. Da, wo das Werk arbeitet und sich konstruiert, da, wo es sich aussetzt und Risiken eingeht. Doch auch da, wo es uns berührt, und manchmal da, wo es uns hinführt. Auf die Gefahr hin, dass man am Ende dieser Wanderung durch die neuen Körperzustände die

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Entstehung einer neuen Poetik erhoff t, die wir nur bescheiden angekündigt haben werden. Da der Ort, von dem aus wir uns äußern, gleichermaßen bescheiden und mühsam ist, verwenden wir Quellen unterschiedlicher Art. Man wird einerseits, neben unseren eigenen Betrachtungen, aus den Werken großer Choreographen oder großer Theoretiker entliehene Zeugnisse und Zitate finden — in den meisten Fällen von tanzenden Theoretikern, die bei weitem am besten über ihr Geschäft Bescheid wissen. Andererseits verwenden wir auch die Untersuchungen der hellsichtigsten nicht-tanzenden Theoretiker. Dabei greifen wir selbstverständlich nur auf Gedanken zurück, die die Erfahrung des Tanzes erhellen und bereichern können. Leider sind nur wenige dieser Referenzwerke auf Französisch zugänglich. Außerdem haben wir die Gesamtheit der Äußerungen über den Tanz ausgewertet, die sich auf mehr oder weniger edlen, mehr oder weniger haltbaren, mehr oder weniger zugänglichen Medien in Umlauf befinden: mündliche Gespräche mit Tänzern, Ausschnitte aus Video-Kommentaren, Programme von Aufführungen oder Workshops, punktuelle Veröffentlichungen, die oft sehr erhellend waren, Dokumente, Handzettel… Ein ›armseliges‹ Material, im Gegensatz zu dem Reichtum und dem Auf blitzen von Sinn und Begehren, den es in sich birgt, und der überbordenden Fülle von Gesten und Präsenzen, die dadurch ausgelöst werden. Diese Enthierarchisierung des Mediums kann auch als Zeugnis dafür gesehen werden, an wie wenigen Orten der tanzende Körper die Spur seines Denkens einschreiben kann. So gestaltet sich das ›Tun‹ des Tanzes: durch tausend verstreute Echos, die ein unklares Projekt hie und da zu ›verfestigen‹ vermag, ohne Beschränkung und ohne Gesetz, wie Konglomerate unterschiedlicher Bewusstseins- und Vorstellungswelten. Dergestalt ist auch die Aufmerksamkeit für den Tanz: ein Auflesen von Bruchstücken, kurz auf blitzenden Visionen, Verdichtungen und Wahrnehmungsspuren. Aus diesen Äußerungen ergeben sich keine Erklärungen, geschweige denn definitive Schlüssel oder Rezepte, die unmittelbar Zugang zu einem Werk verleihen könnten, sondern ein Rauschen von Körpern und Stimmen, die gemeinsam einen lebendigen und vielschichtigen Text gestalten. Einige seiner Splitter haben wir hier zu versammeln versucht.

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Der zeitgenössische Tanz: Gebur t eines Projek ts »Der moderne Tanz ist die individuelle Suche nach einer individuellen Vision.« Anna Sokolow

Was also ist der zeitgenössische Tanz (nachdem wir uns weigern, die allzu kleinliche Unterscheidung zwischen modern und zeitgenössisch vorzunehmen)? Gewiss keine bloße Mutation gestischer Codes im Vergleich zu anderen Ausdrucksweisen im Tanz, auch wenn sich bestimmte gewollte oder ungewollte Konstanten feststellen lassen.22 Sicherlich auch keine Frage von Vokabular oder Form, die sich wie jede beliebige äußere Form von außen erfassen ließe, auch wenn die Bewegung seit der Jahrhundertwende einer Behandlung unterzogen wurde, die zuweilen ähnliche körperliche Färbungen hervorbrachte. Die Frage des zeitgenössischen Tanzes liegt anderswo. Der große Kritiker John Martin, der seit Ende der 20er Jahre Zeuge der Entstehung des amerikanischen ›modern dance‹ war, hat sie als erster enthüllt. Was im ›Neuen Tanz‹ (ein Ausdruck, der damals in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten gebräuchlich war) zählte, war nicht »Wie sieht es aus?« (»What it looks like«), sondern »Was sagt es?« (»What does it say?«).23 Diese Sichtweise beschränkte den Tanz nicht auf die Überbringung einer Botschaft, sondern betrachtete ihn losgelöst von seiner rein spektakulären Erscheinung. Doch was sagte dieser neue Tanz? Etwas, das gleichzeitig sehr zart und unermesslich groß war: Er sprach vom Handeln und vom Bewusstsein des Subjekts in der Welt. Dies ist sicherlich das Ziel aller Künste. Doch ist es auch die letzte Grenze, durch die sich die Materialität dieser Künste selbst aufzuheben vermag. Nun hat aber der Tänzer kein anderes Hilfsmittel zur Verfügung, als das, was ihn als Subjekt in der Welt bezeichnet und vor allem verortet: seinen Körper und dessen Bewegung als Ort eines Verfahrens extremer Nähe, das nicht 22 | Besonders bei Laban in einem seiner ersten Werke: Choreographie, Jena: E. Diederichs Verlag 1926. Vgl. die Analyse dieses Verfahrens durch Vera Maletic in Body, Space, Expression, Den Haag: Mouton de Gruyter 1984. Jene Aufstellung von Wechselbeziehungen findet sich in den Untersuchungen aus jüngerer Zeit wieder, die alle choreographischen Erscheinungen historisch und geographisch neu aufrollen. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Untersuchungen von Janet Adshead in Dance Analysis, Theory and Practice, London: Dance Books 1988, sowie der ausführliche Korpus von Epochen und Medien, den Susan L. Foster in Reading Dancing verwendet. 23 | John Martin: The Modern Dance, New York: A.S. Barnes 1933, frz. Übers. von J. Robinson, Arles: Actes Sud 1992, S. 27.

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in einen vorgefertigten (verbalen) Code hineinprojiziert wird. Der Tänzer verfügt über nichts weiter als über die Materie seines Selbst, um daraus ein signifi kantes24 Universum, eine lesbare Vorstellungswelt, aufzubauen. Er verändert nichts, gewinnt keine Macht über die Dinge der Welt, auch wenn er zu ihnen in Beziehung tritt. Der moderne Tanz wird jene Kunst sein, deren Wesenskern und bewusste Absicht es ist, mittellos zu sein. Umso mehr, weil er, außer einer sehr kurz zurückliegenden Tradition, über keinerlei Tradition verfügt. Im Gegenteil: Denn genau durch die Ablehnung jeglicher Tradition gestaltet sich zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit eine Geste, die nicht überliefert ist, und die nicht die exemplarischen Werte einer Gruppe übernimmt. Somit hat die Revolution des zeitgenössischen Körpers nicht nur einen künstlerischen sondern auch einen stark ausgeprägten anthropologischen Aspekt. Eine seiner Traditionen, »die einzig wahre Tradition«, wie es Carolyn Brown, die getreue Partnerin von Merce Cunningham, ausdrückt, »ist es, ausgehend von seinen eigenen Ressourcen alles neu zu beginnen.«25 Im zeitgenössischen Tanz gibt es nur einen einzigen wahren Tanz: denjenigen, der jedem selbst gehört (Isadora Duncan schreibt in The Art of the dance: »Der gleiche Tanz kann nicht zwei Personen gehören.«). Die zeitgenössischen Techniken, deren Verinnerlichung sich äußerst schwierig und langwierig gestaltet, sind vor allem Wissens-Instrumente, die den Tänzer zu dieser Einzigartigkeit hinführen. Der moderne und zeitgenössische Tänzer verdankt seine Theorie, sein Denken und seine Begeisterung nur seinen eigenen Kräften. Auch wenn mittlerweile gewisse Verfahren der Avantgarde (unter anderem die ›Performance‹) die Idee eines vollkommenen Zusammenfallens von Subjekt und Werk mit dem Tanz teilen, weist dieser die Besonderheit auf, dass er seine Materie und die Möglichkeiten jener Materie unmittelbar aus der Anstrengung heraus absondert, durch die er sich selbst hervorbringt. Dabei gibt es keinerlei übergeordnete Instanz, kein von vornherein aufgezwungenes Gesetz. Aber dafür eine Geschichte. Diese Geschichte fällt mit der Geschichte unseres Jahrhunderts zusammen. Nicht nur aus chronologischer Sicht: Der Tanz hat die Strömungen, Fragestellungen und Katastrophen des Jahrhunderts geteilt. Geht man in seiner Geschichte zurück, wie man ein Rinnsal 24 | Wir werden diesen Ausdruck stets in dem Sinn verwenden, den ihm die Linguistik saussurescher Prägung zuweist: als materieller Träger eines Signifi kats und konkrete Grundlage der Gestaltung eines Zeichens. 25 | Carolyn Brown in Dance Perspective, Sondernummer über Merce Cunningham, Winter 1968. Nachdruck in: James Klosty (Hg.): Merce Cunningham, New York: Limelights 1986, S. 20.

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zu seiner Quelle zurückverfolgt, so gelangt man dabei niemals an einen Punkt der Versorgung, einen Sektor, an dem ein dauerhafter Energiekreislauf ständig neue Kräfte hervorbringen würde, sondern im Gegenteil an einen Pol, der alle Kräfte fortreißt. Wie ein Vakuum, das es unablässig neu zu durchschreiten gilt, um einen neuen Körper zu erfinden. Jenes Epizentrum des Fortreißens ist, wie man sehen wird, kein Gedächtnisverlust. Im Gegenteil: Denn nur durch seine Bewusstheit widersetzt sich das Erbe des zeitgenössischen Tanzes den Strategien der Vereinnahmung. 1989 hatte Dominique Dupuy im Verlauf eines bedeutenden Symposiums in Arles die Ausdrücke ›Gedächtnis‹ und ›Vergessen‹ aneinander gekoppelt. Die Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen ist von grundlegender Bedeutung: Das Gedächtnis ist nämlich kein Wert an sich. Es muss in jedem Augenblick neu gedacht, neu bemessen werden. Das Gedächtnis hat nur einen Wert, wenn es sich dialektisch und hinterfragend der Ideologie des Vergessens entgegenstellt. Denn das Vergessen breitet seine Asche aus: die Überreste uneingestandener Unterwerfungen und bereitwillig angenommener Formalismen. Es lässt die unerfüllten Hoffnungen auf Freiheit in heimlichen Kapitulationen erstarren. Das Vergessen ist eine der Kräfte der Systeme, die über die Körper herrschen: Es setzt die Modelle des Augenblicks als unumgänglich durch, indem es alles, was außerhalb von ihnen liegt, in die Unsichtbarkeit abdrängt. Das Gedächtnis ist (wenn es einen Nutzen hat) das genaue Gegenteil einer Kraft, die Modelle hervorbringt und fi xiert: Zu Gunsten eines vergänglichen Körpers kann es das Abreißen der Verbindung und den Verlust der Identifikation durch Spiegelung bewirken. Jener Körper verankert seinen Ursprung niemals in einer vorgegebenen Essenz oder einengenden Form, sondern konstruiert (oder dekonstruiert) sich in der Geschichte. Als ein sich ständig fortentwickelnder Geschichts-Körper wird er von der Geschichtlichkeit ergriffen und durch seine eigene Zeit hindurchgetragen. Aus diesem Grund hat die Thematik des Gedächtnisses ihren Platz in einer Annäherung an die Poetik des Tanzes. Das Gedächtnis ist eines der Instrumente der Poetik, eine Ressource der Poetik eines Körpers, der von jeder etablierten Autorität abgeschnitten ist. Gleichzeitig ist es auch die Äußerung eines Wissens, das nur dem zeitgenössischen Körper eigen ist. Dies verleiht dem Bewegungs- und Körpergedächtnis seine gleichermaßen existenzielle und kognitive Dimension. Denn genau, weil all die Körper, die den zeitgenössischen Tanz geschaffen haben, noch um uns sind, lassen sich diese Überlegungen wie vom lebendigen Kern der Bewegung ausgehend anstellen. Wie bereits erwähnt, sollte man statt der Bezeichnung »Gedächtnis« eher den deleuzeschen Ausdruck »Ko-Präsenz«26 26 | Gilles Deleuze hat dieses Konzept vor allem in seinem Werk Das ZeitBild. Kino II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, entwickelt.

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verwenden. Schließlich herrscht in unserem Inneren ein ständiges Vibrieren von Bewegungen, die nur aus einer anderen Zeit herüberkommen, um die unsrige gründlicher hinterfragen zu können. »Die Vergangenheit ist immer Gegenwart, und außerdem gibt es keine Vergangenheit«, behauptete Martha Graham.27 Man muss in diesem Zusammenhang einigen Tänzern für ihre Arbeit danken: den Tänzern des Quatuor Knust und der Compagnie Icosaèdre, die die Wiederaufnahme von Choreographien aus den 20er bis 60er Jahren zum Anlass für eine dringende Neubelebung der umstürzlerischen Erfindungen der Moderne nehmen – und nicht für eine Feier des Kulturerbes einer künstlerischen Ordnung, die manche gerne begründen würden. Der zeitgenössische Tanz wurde genau wie das Kino gegen Ende des 19. Jahrhunderts geboren. Und wie das Kino ist er eine neue Kunst, die plötzlich aufkommt, auch wenn ihr Statthalter, der menschliche Körper, das älteste aller Medien ist. Geradezu sinnbildlich kündigt sich das gleichzeitige Auftreten der Bewegungen von Körper und Licht im Werk von Loïe Fuller an (Bewegung eines Körpers im Licht und Verwendung von Projektionen). Diese Gleichzeitigkeit baut zuweilen auf denselben Grundlagen auf: der Entstehung der Biomechanik und der Entdeckung der Zwischenphasen der Bewegung, wie sie beispielsweise die Chronophotographie enthüllt. Neue Bewegungen, die nirgendwo verzeichnet sind, tauchen auf, da die Zwischenbereiche, die durch ihr schnelles Öff nen und Schließen das Rätsel aufrecht hielten, endlich ihre Falten lüften. »Die Seltsamkeit der Bilder«, schreibt Marey, »rührt daher, dass sie extrem vorübergehende Zustände des Gesichts festgehalten haben, Bewegungen, die in der Natur durch allmähliche Übergänge ineinanderfließen, und von denen keine uns je isoliert erscheint.«28 Mysteriöse, unscharfe Erscheinungen, stets am Rande der Sichtbarkeit. Unzulässig sogar, so groß ist der Verstoß des Körpers gegen die Verfertigung seines eigenen Bildes, und mehr noch gegen die traditionellen Normen dieser Verfertigung. Marey schreibt weiter: »Könnte das Hässliche das Unbekannte sein? Und würde die Wahrheit unsere Blicke schmerzen, wenn wir sie zum ersten Male sehen?«29 Und so treten immer neue Körperzustände auf, für die es teilweise bis heute noch keine Klassifizierungmöglichkeiten gibt: so wie im Fall jener Madeleine G., deren Nachnamen wir nicht kennen. Jene Französin stellte 27 | Zitiert in: M. Horosko (Hrg.): Martha Graham, the Evolution of her Dance Theory, New York: A capella Books 1982. 28 | J.-E. Marey: Le mouvement, 1894, Neuauflage Nîmes: J. Chambon 1994, S. 194. 29 | Ebd., S. 195.

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noch vor den Auftritten der Duncan ihren Körper im Zustand der Hypnose auf deutschen Bühnen zur Schau. Die ›modern dance‹-Historikerin Eugenia Casini-Ropa sieht darin einen der Anfänge des zeitgenössischen Tanzes:30 ein Körper des Abgrunds, ein Subjekt, das der Wahrnehmung der anderen nur sein eigenes Fortgerissenwerden darbietet. Denn, wie man wohl bereits vermutet hat, gilt es die Geschichte der Ursprünge des zeitgenössischen Tanzes nicht in der Tanzgeschichte zu suchen. Sie liegt in den Randbereichen jener Geschichte, wie sie auch in den Randbereichen jeder identifizierbaren Repräsentation liegt. Deshalb ist es sinnvoll, sich vom dem in den Codes gesellschaftlicher Sichtbarkeit gesehenen und inszenierten Körper zu entfernen, wie ihn heute die Geschichte der Repräsentationen beschreibt, oder die Geschichte der Bühnenbilder, die mit ihnen verbunden werden, auch wenn sich einige ernsthafte und erhellende Untersuchungen mit diesem Aspekt beschäftigt haben. Zwar sind in Bezug auf die Quellen, die Methodologien und die allgemeine Geschichte der Bewegung über den Tanz hinaus große Fortschritte gemacht worden. So kann man sich einer so glaubwürdigen Sozialanthropologin des Tanzes wie Judith Lynne Hanna bei ihrer Analyse der Körpercodes des 19. Jahrhundert anschließen. Auch wenn ihre Untersuchung von der unvermeidlichen nordamerikanischen Obsession für ›gender‹-Fragen geprägt ist – was sich jedoch in diesem Fall, angesichts der Geschlechterkonflikte auf dem Schlachtfeld der akademischen Ballettbühne, für ihren Gegenstand als absolut relevant erweist.31 Doch gehört jene Bühne, auf die Hanna abzielt, nicht zur Geschichte, und noch nicht einmal zur Genealogie des zeitgenössischen Tanzes, der mit dem sogenannten ›klassischen‹ Tanz nur eine zufällige und ziemlich verspätet einsetzende Beziehung unterhalten wird. Zu Anfang verbindet ihn mit dem Ballett weder Abstammung noch Konflikt. Sein Ort ist ein anderer. Im Übrigen hat der zeitgenössische Tanz, was seine Ursprünge angeht, ganz andere Rätsel zu entwirren. Er entsteht nicht aus dem Tanz, sondern aus einer Abwesenheit von Tanz. Die Persönlichkeiten, die über ihn wach30 | Eugenia Casini-Ropa: La danza e l’agitprop, Bologna: Il Mulino 1981,

S. 9-18. 31 | Judith Lynne Hanna: Dance, Sex, Politics, New York: Dance Horizons 1990. Was die Dechiff rierung der Geschichte der Geste und des Körpers angeht, kann man sich auch auf Jan Bremmer/Hermann Roodenburg (Hg.): A Cultural History of Gesture, Ithaca, New York: Cornell Univ. Press 1992 beziehen. Dieser Band versammelt Untersuchungen der französischen Geschichtsanthropologie (z.B. Jean Claude Schmitt) und der hervorragenden angelsächsischen Strömung der Tanzanthropologie.

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ten, zumindest jene, zu denen wir historisch Zugang haben, wie Dalcroze, waren nicht einmal Tänzer, sondern Visionäre, die den Tanz im Verlauf ihrer eigenen Suche entdeckten. In der Verschiebung von Schopenhauers binären Gegensätzen ahnte Nietzsche eine Kunst ohne Darstellung voraus, die wie die Musik mehr auf Seiten eines ›Willens‹, eines reinen Verlangens ohne Bild stehen würde. So spricht er in Die Geburt der Tragödie von einem »grundlosen Willen«. Just in diesem Moment des abendländischen Denkens tritt wie eine Geistererscheinung der Tanz auf, als erste Verdichtung der Vorstellung eines möglichen Körpers. Doch ist es ein absoluter Tanz, der sich auf keinen existierenden Stil bezieht – oder der gar, was auf das Gleiche hinausläuft, nach dem Bild eines seit Anbeginn der Zivilisation verloren gegangenen (dionysischen) Körpers gestaltet ist. Man muss das Kapitel »Der Tanz« in Richard Wagners Das Kunstwerk der Zukunft noch einmal lesen. Dort wird der Tanz als Hingabe des gesamten Subjekts an den Akt verstanden. Er ist die Dramaturgie des Seins, die Kunst der Künste. Doch, wie Wagner weiß, existiert jener Tanz nicht. Auf der dekadenten, traurig galanten Ballettbühne sieht er nur eine lächerliche Karikatur davon, die er selbst aus seinem Konzept des ›musikalischen Dramas‹ ausgeklammert hat. Daher lautet seine Schlussfolgerung: »O herrliche Tanzkunst! O schmähliche Tanzkunst!«32 Somit gestaltet sich auf der Grundlage der gleichzeitigen Repräsentation einer Abwesenheit und eines unmöglichen und ersehnten Erscheinens jene Umgebung von Vorstellungen und Empfindungen, die noch nicht einmal als Wiege, geschweige denn als genealogische Referenz für den zeitgenössischen Tanz dienen kann. Stattdessen dämmert dort etwas Ungedachtes herauf, durch das der Körper seine eigene Geschichte neu erfinden könnte. Keine andere künstlerische Moderne verfügt über eine Disziplin, die sich selbst durch das Fehlen eines Erbes keineswegs disqualifiziert, sondern im Gegenteil gerade dadurch definiert. Darin liegt das einzigartige Schicksal dieser verwaisten Kunst, die sich selbst aus dem Nichts gebären musste. Die gezwungen ist, sich eine weit entfernte, immer wieder unterbrochene Abstammungslinie zu suchen oder womöglich zu erfi nden. Der Grund dafür liegt vor allem in der Geschichte der Körper-Subjekte, die man im Sinne von Michel Foucault mehr als Symptome denn als Zeichen verstehen muss. Jene Geschichte des Subjekts gemäß der Kategorien seines Wissens und der Äußerung seiner ›Selbstpraxis‹, wie sie Foucault in seinem Zyklus »Sexualität und Wahrheit« angekündigt hatte, ist zugleich 32 | Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft, in: Werke, Schriften und Dichtungen, Berlin: Directmedia Publ. 2004 (Digitale Bibliothek FU Berlin), S. 115. Siehe auch Isadora Duncan: The Art of the Dance, New York: Theatre Arts 1928.

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eine Geschichte der ›Körper-Objekte‹ im Zwischenraum verschiedener medizinischer oder disziplinierender Rechtsprechungen und erzählt von einem Körper, der weder über eine eigene sichtbare Gestalt verfügt, noch sich in irgendeine spektakuläre Darstellung individueller oder gesellschaftlicher Beziehungen hineinprojizieren könnte. Foucault weist darauf hin, dass sich die Unterdrückung und die disziplinierende Regulierung mehr auf die ›Kräfte‹ als auf die ›Zeichen‹ richten (Und eben diese Kräfte werden jenes ungenannte Material sein, dem sich die gesamte Arbeit des zeitgenössischen Tanzes widmen wird.).33 Aus der ›Kraft‹ wird der zeitgenössische Tanz einen grundlegenden ästhetischen Antrieb machen, der die Sichtbarkeitsmacht des ›Zeichens‹ überdecken und überwuchern wird. Er wird der im Zwischenreich der Nicht-Signifi kanz unterdrückten ›Kraft‹ ihren eigenen Zugang zum Symbolischen verleihen. Somit bedurfte es der großen Unterdrückungsmaschinerie, die die Geschichte des 19. Jahrhunderts prägt, und der Bruchstellen eines Körpers, der dabei war, sich zu verlieren, um das Un-Gesehene der Kraft implodieren zu lassen. »Ende des 19. Jahrhunderts hatte das abendländische Bürgertum endgültig seine Gesten verloren«, behauptet Giorgio Agamben.34 Und in diesen Verlust, könnte man ihm als Echo antworten, zieht die herrschende Klasse alle Körper hinein, über die sie mittels der Dispositive der Produktion gebietet. Körper, die ebenfalls verstümmelt sind, und deren Geste die vehement voranschreitende Industrialisierung in parzellenartige, repetitive Einsatzmodule zerlegt und so das Verschwinden eines umfassenden Körpersubjekts besiegelt, das über ein reiches und vielfältiges Beziehungsgeflecht zur Welt und zu sich selbst verfügte. Doch ausgehend von diesem Feld der fortschreitenden Vernichtung werden, häufig unter dem Einfluss des Vitalismus, in den Vereinigten Staaten wie in Deutschland, den vorrangigen Heimatländern der krankhaft übersteigerten Industrialisierung, Reform-Strömungen entstehen. Jene Strömungen werden als Rahmen, manchmal auch als Unterstützung der theoretischen und praktischen Gestaltung des zeitgenössischen Tanzes dienen, dessen Anfangsformen häufig eine starke Nähe zur Therapie aufwiesen. Der Tanz wird versuchen, den Verlust der Gesten zu beheben, aber auch diesen Verlust ›festzuhalten‹. In diesem Sinne steht er auch dem Kino, wie Agamben es begreift, sehr nahe.

33 | Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Der foucaultsche Begriff vom »Zugriff auf den Körper« nimmt dort eine zentrale Rolle ein. 34 | Giorgio Agamben: »Notes sur le geste«, in: Traffic Nr. 1, Januar 1990, S. 31-36, S. 33.

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Doch weitaus früher, mitten im 19. Jahrhundert, tritt mit François Delsarte eine Persönlichkeit von essenzieller Bedeutung auf den Plan. Im Rahmen eines Ansatzes, dessen Gegenstand nicht die historische Exegese ist, können wir hier nicht die Frage nach der ›wirklichen‹ Bedeutung Delsartes stellen: Wir kennen ihn nämlich durch eine Reihe von ›récits fondateurs‹ (›Gründererzählungen‹), die ihm eine wichtige Rolle bei der Genese des modernen Tanzes zuschreiben. Der überzeugende Eindruck jener Berichte, die theoretische Stimmigkeit, von der sie, von Stebbins bis Shawn, Zeugnis ablegen, tragen immer mehr zu einem prägnanten Bild seiner Persönlichkeit bei.35 Außerdem zeugen einige von Delsarte überlieferte Texte, die kürzlich in ihrer Originalsprache (dem Französischen) wiederveröffentlicht wurden, vom Ausmaß seiner Intuition und seines Denkens über den Körper.36 Als Sänger, Schauspieler und Lehrer für Rhetorik und Musik unter der Herrschaft Louis-Philippes sah er sich selbst als Theaterreformer. Obwohl er später seinen Platz im Pantheon der Theater-Theoretiker fand, ist sein Bekanntheitsgrad heutzutage eher bescheiden. Heute bringen die scheinbare Unklarheit seines Denkens (für den, der nichts über Bewegung weiß) und eine gewisse esoterische Verpackung seines Diskurses das in Misskredit, von dem sich viele weigern, es als Denken zu bezeichnen. Wir werden hier nicht Delsartes Beitrag zur Schauspieltheorie oder zur Vokalkunst untersuchen. Schließlich beschäftigen sich bereits zahlreiche Studien mit diesem Aspekt. Vielleicht können wir jedoch einen erneuten Blick auf Teile eines ursprünglichen Projekts werfen, das so tief verschüttet liegt, dass es sich unseren modernen Referenzen37 weitgehend entzieht. Im Übrigen baut fast der gesamte moderne Tanz auf Regionen auf, die aus der offiziellen Geschichtsschreibung verbannt sind, jenen Randbereichen des Denkens, wo Körper umherirren, die keinen Namen gefunden haben – und vor allem kein legitimes oder legitimierendes Aushängeschild, das im großen Verzeichnis der Ideen auf sie hinweisen würde. Delsarte hatte nichts von einem Tänzer (Kannte er, der bei der Uraufführung von »Giselle« dreißig Jahre alt war, überhaupt den Zustand jener Kunst zu seiner Zeit?). Die Fragen, die Delsarte stellte, hatten nichts mit 35 | Vgl. Genevieve Stebbins: Delsarte’s System of Expression, 1885, Neuauflage New York: Dance Horizons 1977 und Ted Shawn: Every Little Movement, a Book about François Delsarte, Pittsfield, Mass.: Eagle Printing 1954, Neuauflage New York: Dance Horizons 1974. 36 | Vgl. Alain Porte: François Delsarte, une anthologie, Paris: IPCM 1992. 37 | Unter anderem Beyond Stanislavski, les fondements du mouvement scénique, Mitschriften des Kongresses von Saintes, 1991, unter der Leitung von JeanMarie Pradier, Saintes: Rumeur des Anges-Maison de Polichinelle 1992.

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dem gewohnten Bereich des Tanzes zu tun. Dafür hinterfragte er radikal die Rolle, die Körper und Bewegung in Bezug auf die symbolische Funktion des Subjekts spielten. Eine vollkommen unpassende Frage für jemand, der zur Zeit des Bürgerkönigs und späteren Bürgerkaisers lebte. Mehr noch: eine anachronistische Frage. Doch hatte Delsartes ahistorischer Diskurs weit mehr mit der Frage des Tanzes zu tun als manche spektakulären Erscheinungen seiner Zeit. Auch heute wirkt das Reden über den Tanz im Vergleich zu anderen Diskursen immer noch wie eine seltsame Außenseiter-Disziplin, es sei denn, es unterwirft sich übernommenen Axiomatiken. François Delsarte war ein ›zurückgebliebenes‹ Individuum, das in einer Zeit außerhalb der Geschichte steckengeblieben war. Und das unvermittelte Auftauchen eines anderen Körpers kann nur in jenen Randbereichen des anerkannten Denkens oder der anerkannten Historizität geschehen. Seine starke Religiosität trieb ihn zu uralten Bereichen der Konzeptualisierung hin. Dies erlaubte es ihm, sich von seinem eigenen Jahrhundert zu entfernen und in eine Zeitlosigkeit einzutreten, in der wir selbst unsere eigenen Problematiken widerhallen lassen können. Die Wissenschaft der Geste, eine bestimmte Lesart des mit dem Ausdruck verbundenen Körpers in Bewegung gehörten also für eine gewisse Anzahl von Fragen zu einer anderen Zeit. Für andere Fragen gehörten sie zu einer Zeit, die erst noch kommen würde. Delsarte hat, vielleicht ohne es zu wissen, das Bindeglied geschaffen. Heutzutage beschäftigen sich zahlreiche Untersuchungen mit der klassischen Rhetorik und der gestischen Praxis in der Rede- und Darstellungskunst seit der Zeit des italienischen Barock. Für deren bemerkenswerteste zeichnet Marc Fumaroli38 verantwortlich. Ihr muss man das Beispiel eines Forschers wie Dene Barnett zur Seite stellen, der gleichzeitig auch Schauspieler und Tänzer ist und es verstanden hat, jenes alte Fachwissen körperlich umzusetzen. Man weiß, wie wichtig jene ›Gestik‹, die bis heute in mancherlei Hinsicht geheimnisvoll bleibt, in den Tanzauff ührungen des 18. und 19. Jahrhundert war. Die Abhandlungen über die »Eloquenz des Körpers«, wie der schöne Titel eines Aufsatzes des Abbé Dinard aus dem Jahr 1715 lautete, finden sich in einer hervorragenden Untersuchung des Semiotikers Marc Angenot39 wieder. Es gibt so viele spannende Zeugnisse jener Körpertechnik, die sich dauerhaft in fast allen ›liberalen‹ Ausdrucksdisziplinen verbreitet hatte, die schließlich von der Malerei abgelöst wurden. Gegenwärtige Theaterhistoriker erinnern sich vor allem an das Werk des Berliners Johann Jakob Engel: Die Ideen zu einer Mimik, die posthum als Idées sur le geste, l’action théâtrale (»Ideen zur Geste und der 38 | Marc Fumaroli: L’école de silence, Paris: Flammarion 1993. 39 | Marc Angenot: »Traités de l’éloquence du corps«, in: Sémiotica Nr. 8, 1973, S. 60-78.

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theatralischen Handlung«) ins Französische übersetzt wurden, fassen in mancherlei Hinsicht all das zusammen, was zuvor entwickelt worden war. Von der Rhetorik der Gesten für das Deklamieren und die Eloquenz der Abbés Barry und Le Faucheur, bis zur Abhandlung über die Pantomime des ›dancingmaster‹ John Weaver und den ›Handlungen‹ Noverres. Wie könnte man im Übrigen vergessen, dass der Begriff ›Handlung‹ (›Actio‹) selbst nichts anderes als ein wichtiger Teil der Rhetorik ist? Ein Konzept, das von Noverre zwar in einen naturalistischen Kontext überführt, aber nicht wirklich verändert wurde. Noverre muss, genau wie Diderot und Lessing in den historischen und ästhetischen Rahmen der ›Mimesis‹ eingeordnet werden. Delsarte dagegen geht über diesen Rahmen hinaus. Es ist jedoch unverzichtbar, daran zu erinnern (zu kurz an dieser Stelle), in welchem höchst traditionellen, um nicht zu sagen bereits überlebten Bereich der Echos und Referenzen sich für Delsarte das Problem des ›Ausdrucks‹ stellte, wie es die Delsarte-Schülerin Genevieve Stebbins formuliert. Denn sonst kann man Delsartes Revolution nicht begreifen und nicht verstehen, was sich bei ihm im Denken der Bewegung ›abgelöst‹ hat. Halten wir noch einmal fest, bevor wir weiter fortfahren, dass die Entwicklung eines neuen Denkens über den Körper auf dem Wege des ›Ausdrucks‹ geschah. Oder vielmehr, um eine präzisere Terminologie zu gebrauchen: auf dem Wege der Vermittlung eines Signifi kats, das heißt, in der Tiefe des Signifi kanten selbst. Diese Wandlung ist umso bemerkenswerter, da nun die Frage nicht mehr mit der Expressivität des Körpers verbunden ist, sondern mit dem Sinn selbst, dessen Funktion der Körper verschieben kann. Mit Hilfe von Bildern und Kommentaren (die in ihrer Gesamtheit äußerst interessant sind) untersucht Engels Abhandlung jede ›Disposition‹ gemäß der Theorie der ›Leidenschaften‹, die mit der klassischen Mimesis und ihren Mechanismen der Nachahmung übereinstimmt. Ebenso wie Weaver rund fünfzig Jahre zuvor unter dem Titel jeder ›Leidenschaft‹ die gestische Sequenz beschrieben hatte, durch die sie sich äußerte. 40 Zahlreiche Beschreibungen beschäftigen sich mit der Erforschung der Körpersprache, doch bleibt die verbale Äußerung dabei stets die zentrale Bezugsgröße, als grundlegendes Syntagma, dessen enunziative Anordnung die pantomimische Bewegung auch in ihren am wenigsten in verbale Ausdrücke übersetzbaren motorischen Ausprägungen beibehält. Der Grund dafür ist, dass die Körpersprache ursprünglich in zahlreichen Ausdruckspraktiken, von der Redekunst bis zum Gesang, und sehr wahrscheinlich auch im Tanz, die ausgesprochenen oder gesungenen Worte begleitete, sie aber nicht ersetzte. 40 | John Weaver: »The History of the Mimes and Pantomimes«, London 1727, in: Richard Ralph (Hg.): The life and works of John Weaver, London: Dance Books 1985, S. 754-755 und 762.

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Dies verleiht in unseren Augen der Beziehung, die der Tanz und wahrscheinlich auch andere Künste mit dem Unsagbaren unterhalten, etwas Dramatisches. Der Beziehung zu jener Grenze der Sprache, die die Poesie ständig berührt, doch die die menschliche Bewegung durch das Anrufen anderer Bewusstseinsschichten zu überschreiten vermag. Nun ist aber zur Zeit der Klassik, als in bestimmten dem Schweigen verpflichteten Künsten wie der Malerei oder der Pantomime nur noch der körperliche Ausdruck übriggeblieben ist, das Wort noch weitaus präsenter, da es sich für immer in die Geste, die sich nicht von ihm zu lösen vermag, einprägt, und Fleisch wird. Susan Foster hat, wie vor ihr der bereits erwähnte Marc Angenot, in einer kürzlich erschienenen Untersuchung 41 jenen Punkt aufgezeigt, an welchem sich in unserer Kultur der unumkehrbare Bruch zwischen motorischer Aktivität und verbaler Sprache vollzogen hat, die sich fortan gegenseitig ausschließen sollten. Nachdem der Körper nun nicht mehr an der Redefunktion beteiligt ist, sieht er sich dazu verurteilt, sie aus der Ferne zu reproduzieren. Veranlasst somit jener zur Zeit der Aufklärung eintretende Moment, als die körperliche Funktion weit außerhalb der verbalen Grenzen der Rationalität gedrängt wird, nicht nur die Bewegung, sondern auch die anthropologische Ausrichtung des Blicks auf sie dazu, ihr einen anderen Ort, eine andere Bewusstseinsschicht außerhalb der Begrenzungen des Logos zuzuweisen? Und erweckt er dadurch nicht die innerste Essenz der tänzerischen Geste zum Leben, die darin besteht, sich in ein Universum zu entfernen, das dem Verbalen fremd ist? Im Grunde befindet sich Delsartes Denken am Schnittpunkt dieser beiden Problematiken: einer sehr alten, die mit dem klassischen Denken über die Lehre der Expressivität verbunden ist, und einer anderen, neuen, noch kaum durchschaubaren, kaum identifizierbaren, die aus der Bewegung eine Welt für sich macht. Eine Welt, wie sie Laban beschreiben wird, die sich bewusst für das Schweigen entschieden hat. Somit entspricht Delsartes Schwanken zwischen diesen beiden Strängen jener Doppelbewegung, die man unablässig im zeitgenössischen Tanz wiederfindet: wo zwar auf der einen Seite der Wille zum Bruch mit den Konventionen steht, doch auf der anderen Seite ein weitaus stärkerer Wille zum ›Verschweißen‹ mit dem, was schon immer bewusst oder unbewusst existiert hat: dem unterschwelligen Kontinuum des Menschlichen, das weitaus älter ist als alle vorgefertigten Codes. 42 Keh41 | Susan L. Foster: »Textual Evidances« (sic!), in: Ellen Goellmer/Jacqueline Shea Murphy (Hg.): Bodies of the Text, Rutgers University Press 1995, S. 231-246. 42 | Isadora Duncan: The Art of the Dance, S. 62: »Der Tanz der Zukunft wird eine neue Bewegung sein, die sich aus der gesamten Evolution der Menschheit ergibt.«

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ren wir zur ersten Reihe jener Fragestellungen zurück: Delsarte antwortet auf sie, indem er das Feld ihrer Formulierung berücksichtigt, sie aber gleichzeitig aus diesem Feld herausreißt (und genau darin liegt seine ganze Genialität). Was wird er also entdecken? Dass der Körper eine Sprache jenseits der Sprache besitzt. Einen Bereich der Zeichenproduktion, den er in seltsam prophetischer Weise ›semiotisch‹ nennt. Eine Sprache, die aus kaum erforschten Tiefen stammt, zu denen weder das Wort, noch die üblichen Codes des menschlichen Wissens Zugang haben. Somit wäre der Körper eine ›andere Bühne‹, auf der sich ein existenzielles Drama abspielt, in dem die Geste nicht mehr der mimetische Träger eines bereits strukturierten Referenten ist, sondern im Gegenteil ein Ausdruck (wenn nicht sogar ein Bestandteil) dieser Bühne, die sie zugleich eröffnet und liest. Unter den spärlichen verbliebenen Schriften Delsartes zeigen die außerordentlichen ›épisodes révélateurs‹ (›Offenbarungsepisoden‹), wie er durch eine rein empirische Aufmerksamkeit (eine Aufmerksamkeit, für die es zu diesem Zeitpunkt weder Vorbild noch Theorie gibt) an die Schwelle dieses geheimnisvollen Lesens geführt wird. Dies zeigt sich zum Beispiel in seiner Betrachtung der Rolle der Schultern, als (»pathischem«) Bereich sinnlicher Wahrnehmung, in dem sich komplexe Empfindungskonstellationen festsetzen, vor allem jene kaum merkliche ›Bewegung zu etwas hin‹, die an der Grenze der Wahrnehmungsschwelle liegt, durch die sich das affektive Subjekt nicht nur ausdrückt, sondern auch konstituiert. »Die Schulter ist nämlich buchstäblich das Thermometer der Leidenschaft, sowie der Sensibilität. Sie ist das Maß ihrer Vehemenz, sie zeigt ihren Wärme- und Intensitätsgrad an.« 43 Doch liegen jene thermischen Veränderungen, ebenso wie die Zwischenräume des Körpers, die Marey enthüllte, zur Zeit von Delsartes Untersuchungen an der äußersten Grenze des gesellschaftlich Sichtbaren. »Denn wie viele Dinge liegen in jenen leichten Schwankungen verborgen, die sich dem Vulgären entziehen.« Die Schulter zeigt nicht nur den wirklichen Grad der affektiven Mobilisierung an, der scheinbar an anderen Körperstellen leichter ablesbar ist (dem Gesichtsausdruck zum Beispiel, doch reagiert dieser nicht bereits gemäß der Raster in Verzeichnissen erfasster Ausdrücke?), sondern lenkt vor allem die körperliche Antwort, indem sie den Rumpf in einer nach innen gewölbten Neigung vorwärts zieht. Ein noch rätselhafteres Beispiel ist das Abspreizen des Daumens, sobald der Körper die unmittelbare Nähe des Todes erahnt. Delsarte sieht darin einen Hinweis auf ein extrem ausgeprägtes Vorahnungsvermögen, das er sogar von Leichen ablesen wird. Was, wenn ein Körper,

43 | François Delsarte in: A. Porte: François Delsarte, une anthologie, S. 80-

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den der ›Geist‹ verlassen hat, noch durch dieselbe unauslotbaren Kraft spräche, die auf die Sphäre unserer Gesten einwirkt? In solchen Verfahren, und nicht in einer simplen Reform oder gar einer Revolte in Bezug auf den Umgang mit der Bewegung, muss man die Wurzeln des zeitgenössischen Projekts des Tanzes sehen: Hier wird ein Körper entdeckt, der in sich einen einzigartigen Symbolisierungsmodus außerhalb aller vorgefertigten Raster und Kriterien trägt. Der zeitgenössische Tanz verdankt seine Existenz einer neuen Auffassung von Körper und Bewegung (vom Körper in Bewegung), auf die all seine Theoretiker, angefangen mit Laban, wieder zurückkommen werden. Die Entdeckung einer, wie es Hubert Godard ausdrückt, »unerhörten Geste« 44, die die Bedingung ihrer Existenz nur sich selbst verdankt, ist nicht ohne die Veränderung der Sicht auf den Körper denkbar, die sich mit dem Anbruch der Tanzmoderne vollzog. Doch weit über die Natur einer Geste hinaus, gibt es die Auffassung einer gleichzeitig unerreichbar fernen und doch so nahen Schwelle, die Nietzsche ›Hinterwelt‹ nannte, 45 und die jene Geste, wenn schon nicht verbreiten, so doch wenigstens anzeigen könnte. Ein Universum, dessen ungewisse Außenwand allein die Bewegung des menschlichen Körpers zu berühren im Stande war, auch wenn es einigen Dichtern gelungen war, im Körper die Anwesenheit ›ungenannter Kräfte‹ (Novalis) zu erahnen. Was uns von den ›Gründererzählungen‹, den Texten von Tänzern, die sich auf das Erbe Delsartes berufen, insbesondere jene des großen Choreographen, Lehrers und Theoretikers Ted Shawn, in Erinnerung bleibt, ist vor allem die Beziehung zu der dem analytischen Bewusstsein unbekannten Welt, die die symbolische Geste im Gegensatz zur mimetischen Geste unterhält. Diese Welt gilt es durch ein absolut einzigartiges Verfahren zu erforschen. Delsarte hat ein System und sogar eine ›Methode‹ mit hochinteressanten Beobachtungs- und Forschungspraktiken hinterlassen, die in ihrer Suche nach einer Aufmerksamkeit für den Körper durch den Körper selbst ihrer Zeit erstaunlich weit voraus war. Es ist im Übrigen bedauerlich, dass der Großteil von Delsartes Kommentatoren sich an seine wenigen geschriebenen Texte hält und nicht an den reichen Schatz von Übungen, den die Delsarte-Schülerin Genevieve Stebbins46 hinterlassen hat. Wenn man 44 | Hubert Godard: »Le geste inouï«, in: Dansons, Januar 1993. 45 | Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Stuttgart: Reclam 2006,

S. 44. 46 | G. Stebbins: Delsarte’s System of Expression. Stebbins’ künstlerische Nachkommenschaft verdient heute eine neuerliche Untersuchung. Neben der Bedeutung ihrer eigenen Arbeit muss der Einfluss auf die Münchner Schule der Bewegungsanalyse hervorgehoben werden, den sie durch ihre Schülerin

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die Beschreibungen dieser Übungen liest, stellt man, ebenso wie bei der Lektüre von Ted Shawns viel später verfasstem aber grundlegenden Textes »Die Anwendung der Wissenschaft Delsartes auf die Kunst des Tanzes«, fest, dass man das, was jene delsarteschen ›Erzählungen‹ der großen Figur des Mythos zuschreiben, als ›Grundlagen‹ des zeitgenössischen Tanzes betrachten kann: vor allem die Bedeutung des Rumpfes. Die Tatsache, dass die Körpermitte als motorisches Zentrum der Bewegung bloßer Segmente vorgezogen wird, ist nicht nur eine Frage der ›Verschiebung‹ von Körperzonen, auch wenn sich diese Verschiebung in der Praxis als extrem wichtig erweisen wird. Es ist vor allem die Aufwertung eines asemischen Ortes, eines neuen Antriebs für den Sinn, der tiefer gelegen ist als die Körperextremitäten, an denen sich die Beziehung der Geste zum Verbalen (zumindest zur Bedeutung) in übertriebener Weise zur Schau stellt. Jenem ›Rumpf‹ dagegen, in dem die Eingeweide wohnen und der nur wenig beweglich erscheint, wird keine unmittelbar lesbare Produktion von Semen in Bezug auf den tieferen Sinn zugewiesen. Damit ist er das ›poetische‹ Organ par excellence. »Der Rumpf muss zum sensibelsten und ausdrucksvollsten Körperteil werden.« 47 Um seine Offenbarungsmöglichkeiten zu vervielfachen, muss man all seine Zwischenwände öffnen und aufmerksam dem Pulsieren seiner Gewebe lauschen. Vor allem gilt es, dem Verlauf der Wirbelsäule zu folgen, die die Kette unserer Konstitution und unserer Kontinuität ist, nicht nur auf der Ebene des Skeletts, sondern auch auf den Ebenen von Gefühl und Ausdruck. Daher ist es wichtig, dass der Rücken von den Halsknochen bis zu den Lenden hinab frei ist, »damit sich in der Wirbelsäule keine Blockade dem Fließen einer reinen Sukzession entgegensetzt«. Dieser erstaunliche Satz über die Bedeutung der ›Sukzession‹ zur Eröffnung einer stetigen Weitergabe des Flusses kündigt die kontinuierliche Rückenbewegung Trisha Browns an, wie wir sie heute bewundern können. 48 Er weist ebenfalls darauf hin, dass die Schüler Delsartes das Hedwig Kallmeyer ausübte, die selbst wiederum Lehrerin von Elsa Gindler und Laban war. Interessante Aufschlüsse über jenen Einfluss finden sich in den Cahiers de l’Association des Élèves du Dr. Ehrenfried. Ich danke Nathalie Schulmann für ihren Hinweis auf die Existenz dieser Dokumente. 47 | Ted Shawn: Every Little Movement, a Book about François Delsarte, Kapitel 4, S. 79-90. 48 | Die »Sukzession« die in bestimmten deutschen Praktiken, besonders jener der Hellerau-Laxenburg-Schule, die heute noch von Françoise Dupuy unterrichtet wird, von äußerster Bedeutung war, wurde trotz ihrer poetischen und existenziellen Wichtigkeit häufig vernachlässigt. Sie ist ein wesentliches Element, das sich in allen Techniken im zeitgenössischen Tanz entwickelt hat, vor allem bei Humphrey-Limón.

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Pathische weitaus mehr schätzten als das Semische. Ein anderes wichtiges Element ist die Betonung der Bedeutung des Körpergewichts, das nunmehr nicht nur als Faktor jeglicher Art der Bewegungsaufnahme gesehen wird, sondern als qualitative Handlungsinstanz einer neuen Poesie der Schwere. Diese Poesie wird vom gesamten System der Erdanziehungskraft (Körper und Erde) unterstützt, »um tiefgründige Dynamiken von Sinn, eines Gefühls von großer Masse und von großem Gewicht in Bewegung zu setzen«. Hier zitiert Shawn Isadora Duncan, für die die schönsten Bewegungen immer nah am Boden waren. Zum Schluss erwähnt der berühmte Lehrer, kaum weniger überraschend, Stebbins’ »von der Anspannung bis zur Nullspannung gehende Dekompositionsübungen« 49 und nähert sie an den deutschen Begriff ›Spannung‹ an, den wir aus Dalcrozes Übungen herauslesen können. Es ist hier gewiss nicht unser Ziel, die Rechtmäßigkeit dieser Zuschreibungen zu überprüfen, geschweige denn, in Shawns Referenzen die nachträgliche Projektion irgendeiner Doktrin zu vermuten. Stattdessen geht es uns darum, das nahezu unmittelbare Transpositionsvermögen dieser Referenzen innerhalb eines Projekts zu enthüllen, in dem die gesamte Materie des Wesens Sprache wird. Die Tatsache, dass der Körper mittels seiner Stofflichkeit, seiner Schwankungen und Stützen eine eigene Poetik finden kann, ist gleichbedeutend mit der Erfindung des zeitgenössischen Tanzes. Eine Sprache zu erfinden bedeutet nun nicht mehr, sich eines bereits existierenden Materials zu bedienen, sondern dieses Material selbst hervorzubringen, dabei zugleich künstlerisch seine Genese zu rechtfertigen, und das Subjekt bei dieser Unternehmung als gleichzeitigen Hervorbringer und Leser seiner eigenen Materie miteinzubeziehen.

49 | T. Shawn: Every Little Movement, S. 34 und 85.

Die Werkzeuge

Der Körper als Poetik »Glücklich der Tänzer, der über das beredsamste, wunderbarste Werkzeug von allen verfügt: den menschlichen Körper.« José Limón »Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.« Friedrich Nietzsche

Tänzer zu sein, das bedeutet, sich für den Körper und die Bewegung des Körpers als Bereich der Beziehung zur Welt zu entscheiden, als Wissens-, Denk-, und Ausdrucksinstrument. Es bedeutet ebenfalls, der ›lyrischen‹ Beschaffenheit des Organischen zu vertrauen, ohne sich jedoch auf eine präzise Ästhetik oder Formgebung zu beziehen: Die neutrale Geste oder der neutrale Körperzustand (der absichtlich unbetont ist und seine Wirkung ausgehend vom Fehlen eines ›Plans‹ entfaltet) haben genauso eine eigene lyrische Qualität wie die angespannte, nach räumlichen oder musikalischen Gegebenheiten ausgerichte Geste. Denn sie arbeiten vor allem an den organischen Bedingungen jenes poetischen Erscheinens. Wenn ihre Arbeit Früchte trägt, wird der Körper zu einem wundervollen Werkzeug des Erkennens und Fühlens. Doch geschieht dies nicht völlig von alleine: Es ist schwierig, das Körpermaterial, oder wie Jerome Andrews sagte, den ›Knochenhaufen‹, kennenzulernen und in einem umfassenden Bewusstsein seiner selbst zu verankern. Der Tanz erfordert eine niemals endende Arbeit an der Weiter-

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entwicklung dieses Bewusstseins. Auf diesem Weg erhellen sich Wissensgebiete, enthüllen sich Orientierungsmöglichkeiten, drängen sich Grundsatzentscheidungen auf. Im Tanz ist derjenige ein großer Künstler, der sich unabhängig und bewusst für einen bestimmten Körperzustand entschieden hat: Deshalb erscheinen uns jene Vertreter der Großen Moderne, von Duncan bis Wigman, von Hawkins bis Cunningham so bedeutend, da sie jenseits aller Vorbilder, oder sogar jenseits jedes bereits bestehenden Instrumentariums, ihre eigene Leiblichkeit erfanden. Zwar ist der Tänzer von heute mit einer Bandbreite bereits vorgezeichneter Spuren konfrontiert (im besten Falle solchen, die zu einer Problematik hinführen), vor deren Hintergrund es naiv wäre, zu behaupten, man erfände oder nähme gar einen unbekannten Körper in Besitz. Doch bleiben die gewaltigen Schätze des Erbes der Moderne bestehen, die unerschöpflichen, sich ständig wandelnden Reichtümer der Praktiken, der Körperphilosophien, der unterschiedlichen Lehren, auf deren Grundlage der heutige Tänzer vielleicht keinen neuen Körper mehr erfindet, doch dafür, in etwas bescheidenerer Weise, versuchen kann, zu verstehen, zu verfeinern, tiefer zu schürfen, und vor allem, seinen Körper zu einem hellsichtigen und einzigartigen Projekt zu machen. Von ihm ausgehend kann er eine eigene Poetik erfinden, die meist auf einer Absicht auf bauen wird, der der Körper und seine Bewegung Stofflichkeit verleihen, ohne dass sie unbedingt hinterfragt, geschweige denn wahrgenommen werden müsste, außer in untergründiger Weise. Doch interessiert uns genau dieses Untergründige, das den körperlichen Text schmiedet. Denn in diesen Bereichen des Impliziten spielt sich der gesamte Sinn des choreographischen Akts ab. Sich dem Körper annähern und ihn verstehen? Seinen eigenen, den der anderen? Gewiss gibt es dafür Untersuchungs- und Analysemethoden. Wir haben Jerome Andrews zitiert: Sein Wissen über den Körper war grenzenlos und speiste sich aus vielfältigen Quellen. Und doch hielt er zwischen sich und dem Körper einen Abstand des alarmierten Misstrauens aufrecht, als bliebe trotz aller genauen Beschäftigung stets etwas unauslotbar Unbekanntes übrig.1 Um die Geheimnisse des Knochenhaufens zu begreifen, benutzte Andrews vor allem die Pilates-Technik: Darin entdeckt und konstruiert sich der Körper durch die Praxis von statischen oder beweglichen Stützen, die sich durch das Verschieben der Platten und Hebel einer Maschine er-

1 | Jerome Andrews in: FORWARD AND BACKWARD (R: N+N Corsino, Frankreich 1992). Das Wort »carcasse« (»Knochenhaufen«), das Jerome Andrews häufig benutzt, erscheint im Text seiner zahlreichen jedoch leider unveröffentlichten Vorträge. Der einzige veröffentlichte Vortrag wurde in Marsyas Nr. 26, Juni 1993, S. 45-48, abgedruckt.

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geben, deren Elemente hin- und hergleiten können.2 Bei der Arbeit mit dieser Maschine, »wird der Körper« nach Aussage von Dominique Dupuy wie bei anderen Methoden zum Erlernen des Körper-Selbsts »in eine Situation am Rande der Leere gebracht; er ist nicht von vornherein konstruiert und ausgerichtet. Er befindet sich in einer Art Abwesenheit, einer Art Stille, aus der heraus alles entstehen kann.«3 Bei jeder Erforschung des Körpers ist ein solch konzentriertes meditatives Schweigen nötig, in dem sich das Körpersubjekt auf die Suche nach sich selbst begibt. Dies kann eine Suche nach dem anderen in sich selbst oder nach sich selbst im anderen sein (dabei fungiert die Maschine als jener wartende und fragende andere Körper). Die Praktiken zur Beobachtung des Körpers im Tanzstudio vollziehen sich oft zu zweit. Dabei enthüllt mir der Körper des anderen durch seine Stützen oder sogar durch seine eigene taktile oder visuelle Beobachtung meinen eigenen Körper. Diese Erforschung richtet sich nur selten auf das anatomische Bild oder die anatomische Gestalt, sondern weit häufiger auf Empfindungen und Intensitäten. Dennoch schließen der zeitgenössische Tanz und zahlreiche Techniken, die ihn begleiten, ein ›Sehen‹ des Körpers in Bewegung durch sich selbst oder durch die ›Augen‹ des anderen ein: In einer Untersuchungs- und Therapietechnik wie der Rolfing-Methode ist die ›Kontur‹ des Körpers von großer Bedeutung. Für die ›Ideokinese‹, ein Körperdenken, dessen Widerhall im Körper selbst spürbar ist, bringt die Übung der ›Visualisierung‹ das ›Körperwesen‹ (›être-corps‹) hervor. Diese ›Visualisierung‹ ist nicht unmittelbar optischer Art: Sie erfordert die Aktivierung einer inneren Sehfähigkeit, in der Organismus und Vorstellung, Körper und Geist ineinander übergehen. Wie ihr Name schon sagt, verbindet sie die Bewegung mit der Idee – eine höchst poetische Begegnung zwischen einem verinnerlichten Körperzustand und einer Idee, fast in dem Sinne, wie Mallarmé sie verstand: als ein Idee-Werden des Körpers, das dessen Bewusstsein öff net. Irene Dowd, eine der Anregerinnen dieses heute in fortschrittlichen USamerikanischen Tanzkreisen weit verbreiteten Ansatzes, weist darauf hin, dass »alle Strukturen der posturalen Ausrichtung, der gesamte Gebrauch und die Entwicklung der Muskeln von unserem Nervensystem angeleitet und koordiniert werden. In anderen Worten: von unserem Denken. Daher ist eine ›Übung‹ für den Geist nötig, die ihm beibringt, den zukünftigen 2 | Vgl. Dominique Dupuys Beschreibung der Pilates-Maschine in: »Faire machine avant«, mit Zeichnungen von J.-P. Schneider, in: Nouvelles de Danse Nr. 17, Oktober 1993, S. 36-37. 3 | Dominique Dupuy: »Le corps émerveillé«, in: Marsyas Nr. 16, Dezember 1990, S. 31-33, S. 32.

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Körper oder die zukünftige Geste in seiner Vorstellung zu lesen. Die Formbarkeit des Geistes ermöglicht die Bewegung. Wer sich die Machbarkeit einer bestimmten Bewegung durch den menschlichen Körper vorstellen kann, kann auch lernen, sie durchzuführen.« 4 Die Idee dieses ›Lernens‹ zielt gewiss nicht auf einen Rekord oder irgendeine akrobatische Leistung ab, auch wenn die ›Komplexität‹ einer Bewegung von der Visualisierung durchdrungen und bestimmt sein kann. Wie man vermutlich bereits verstanden hat, führen die zeitgenössischen Techniken subtilere Kriterien ein, die es durch ihre Qualität und besonders ihre Einzigartigkeit zu begreifen gilt. Hierzu schreibt Irene Dowd: »Es gibt weder ein richtiges (right) Bild, noch eine richtige Haltung, geschweige denn eine richtige Bewegung. Es gibt eine Art und Weise, zu funktionieren, die einen in einem bestimmten Augenblick gleichzeitig zur Einheit und zur Offenheit führt.« Kerngedanke von Dowds Denken ist vor allem die Transformation, das Eintreten des Körpers in Bewegung in sein Werden. Der zeitgenössische Tanz hat den Spiegel aus dem Studio verbannt, um nicht mehr vor dem altbekannten Hintergrund der Selbstbespiegelung zu arbeiten, durch die unserer Körper eine stets gleiche Idealvorstellung der Erscheinung endlos reproduzieren würde. Doch geschah dies auch, um das Körperschema der mörderischen und unmittelbaren Macht optischer Kriterien zu entziehen. Selbst wenn ›Sichtweisen‹ den Körper rekonstruieren und transformieren können, müssen sie sich dafür mit anderen sensorischen Feldern verbinden und weiterentwickeln. Um die Architektur des Körpers zu begreifen, verbündet sich das Sehen hier (sogar im Denken von Irene Dowd, wo es zu einer inneren Sicht auf die Ausrichtung des Körpers wird) mit dem im zeitgenössischen Tanz am stärksten ausgeprägten Sinn: dem Tastsinn. Somit kann die Hand oder jeder andere Körperteil zum Auge werden. Und die tastende Handfläche wird zum Blick. Eine wichtige, besonders von Trisha Brown verwendete Übung ist das ›tracing‹: Ein Tänzer erkundet mit dem Tastsinn all seine Körperteile, als gelte es, ihren Zusammenhalt neu zu überprüfen: den Sitz der Eingeweide und der Energien, doch auch die Umrisse, die äußere Hülle der Haut. Es handelt sich um eine Übung, die gleichzeitig dem Bereich des Sehens und dem des Zeichnens entstammt. Als würde ich die Partitur meines Körpers gleichzeitig zeichnen und lesen, indem ich meine Hand gleichermaßen blind und sehend über Wölbungen, Höhlen, Zwischenräume, Unebenheiten und Rundungen wandern lasse. Diese Landschaft ist zugleich ein Text, der in seiner Entfaltung gemäß der (aus Merleau-Pontys Das Auge und der Geist übernommenen) dualen Kategorien des Sichtbaren-Ertastbaren, Berührten-Berührenden, Sehenden und 4 | Irene Dowd: Taking Root to Fly, New York: I. Dowd publ. 1981, Neuauflage Contact Ed., Articles on Functionnal Anatomy, 1995, S. 3 und 5.

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Gesehenen, das gesamte lyrische Potenzial enthält, dessen unmerkliches Auftreten von der leichtesten Bewegung ausgelöst werden kann. Diese Betrachtung der Körperstruktur soll uns noch einmal all das ins Gedächtnis zurückrufen, was die Tanzmoderne innerhalb dieser Körper ›verschoben‹ hat. So vielgestaltig und manchmal divergent diese ›Verschiebungen‹ auch waren, waren sie doch stets von der verzweifelten Notwendigkeit bestimmt, einen einzigartigen Körper zu erschaffen oder neu zu erschaffen, von dem ausgehend eine physische Identität Sinn schaffen konnte. Um Körper neu zu erfinden, hat der zeitgenössische Tanz damit begonnen, sowohl ihre Anatomie als auch ihre Funktionen neu zu durchdenken und umzuverteilen. Dies führt uns somit von vornherein, sogar auf historischer Ebene, zu der wesentlichen Vorstellung eines Körpers, der nicht gegeben ist, sondern den es zu entdecken, ja sogar zu erfi nden gilt. Wir haben gesehen, welche Vorrangstellung dem Rumpf seit den Anfängen der Moderne als wichtigstem Ausdruckszentrum eingeräumt wurde. Der Rumpf ist der Sitz der Funktionen und der Eingeweide, der Stamm, das Tier in uns, das allzu lange in den Randbereichen des Sinns festgehalten worden war. Die Tanzmoderne wird es ihm erlauben, sich auszudrücken, zu singen, sogar zu schreien, aus der finsteren Sprachlosigkeit auszubrechen, in der ihn die Geschichte der Körper eingesperrt hatte. Dies geschieht zu Ungunsten der Extremitäten, die bis dahin als privilegierte Ausdruckswerkzeuge galten, und die es nun zu verbannen gilt: erstens wegen ihrer para- oder post-linguistischen Verdopplungen und zweitens, da die Extremitäten, ebenso wie die im Gesicht liegenden Kommunikationsorgane, unsere Greifinstrumente bilden, und damit die Instrumente unserer Macht über die Objekte oder über die Körper. Dies gilt besonders für Hände und Arme. Der menschliche Daumen erlaubt durch symmetrischen Gegendruck das Aufnehmen von Materie und ermöglicht dadurch ihre Transformation. In der Tat wurden all diese von Leroi-Gourhan beschriebenen evolutorischen Faktoren lange Zeit sowohl auf der Ebene der Produktion als auch auf der Ebene der Repräsentation verwertet. Die mimetischen oder rein expressiven Möglichkeiten des Gesichts oder der Extremitäten wurden in den Praktiken des ›Spiels‹ (Theater, Kino, Pantomime) ausgiebig ausgebeutet. Ob gemäß einer naturalistischen oder nichtnaturalistischen Ästhetik spielt dabei kaum eine Rolle. Doch hat der zeitgenössische Tanz, wie bereits erwähnt, die Aufmerksamkeit auf die nicht-semischen Bereiche des Homo sapiens gelenkt. Anders gesagt: auf die Bereiche, die keinen Diskurs kontrollieren. Bezeichnenderweise handelt es sich bei diesen Bereichen um Körperoberflächen oder Körpermitten, denen jegliche Fähigkeit zur Intervention fehlt oder genommen wurde (Bauch, Thorax, Rücken, Nacken, Schultern…). Der zeitgenössische Körper

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ist ein Körper, der historisch durch seinen Verzicht, sich der Dinge zu bemächtigen, geprägt ist, und der sich selbst seiner eigenen Unfähigkeit hingibt. Er ist ein immanenter Block, der sich hartnäckig weigert, Funktionen des Zugriffs auf die Wirklichkeit und auf eine Mechanik des Sinns wieder einzuführen. Die Entscheidung für die Asemie und den Verzicht auf die Ausübung von Macht führt nicht zur Aufgabe der bis dahin privilegierten Bereiche sondern zu deren Verfremdung: Sie sind von der großen Wende, der großen Arbeit an der Ent-Hierarchisierung der Rolle der Glieder betroffen. Angefangen mit dem Kopf – zumindest dem Kopf als Träger des Gesichts, der nun nicht mehr der gebieterische und unbewegliche Sitz von Blick und Sinn und der Äußerung von Sprache ist. Vor allem muss er nun dem Körper die expressive Rolle überlassen, die die Gesichtsmimik allzu sehr für sich beansprucht hatte. »Natürlich ist das Gesicht der Spiegel aller Ereignisse, doch sollte es sich nicht über seinen Stand hinaus durchsetzen, und nicht das ersetzen wollen, was im Körper geschieht«, bemerkte Hanya Holm.5 Und wenn der Kopf nicht die Expressivität des gesamten Körpers ersetzt, wird er selbst Körper, Gewicht und Materie. In den Soli von Kreutzberg kann er wie eine Kugel rollen, wie ein Gegenstand, den man seinem eigenen Schicksal überlassen hat. Maskiert (von Marcel Janco, wie nebenbei bemerkt sei) wie auf jenem berühmten Photo von Sophie Taeuber, das 1916 in der Galerie Dada aufgenommen wurde, verdreht er sich wie ein grimassierendes Anhängsel, das bereit ist, sich vom Körper zu lösen, und das die Neigung der Tänzerin kaum in seinem Sturz nach hinten aufhalten kann.6 Doch kann der Kopf auch ganz alleine zur Bühnenfigur werden: Er kann Körper werden und durch einen Tanz der Grimassen oder der übersteigerten Mimik das gesamte choreographische Projekt in sich versammeln. Dies sieht man im gesamten deutschen Ausdruckstanz und in besonders intensiver Weise bei Valeska Gert.7 Auch die oberen oder unteren Glieder können sich von ihren Funktionen ablösen, verkümmern oder 5 | Hanya Holm in: Jean Morisson Brown (Hg.): The Vision of the Modern Dance, Princeton: Univ. of New Hampshire Press, Princeton Books 1975, S. 7282, S. 81. 6 | Vgl. Ausstellungskatalog Sophie Taeuber, MNAM, Paris, Nov. – Dez. 1990, S. 58. 7 | Vgl. zu Valeska Gerts »Gesichtern« die Untersuchung von Maïté Fossen in: Empreintes, écrits sur la danse Nr. 5, März 1983. Wie man feststellen wird, behaupteten sich das Gesicht und besonders der Mund bereits bei den deutschen Dadaisten als eigenständige choreographische Orte, die manchmal, aber nicht immer, vom Vortrag von Texten begleitet wurden. Siehe Schwitters übertriebenes Minenspiel beim Vortrag der »Ursonate« (Merzheft Nr. 22, Dresden, 1932) oder auch die Grimassentänze Raoul Haussmanns. Vgl. zu Letzterem:

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verschwinden: zangenartige Arme bei Taeuber, oder Stümpfe bei Dore Hoyer, Beine, die in zahlreichen Tänzen über den Boden rutschen oder geschleift werden, der zum Lieblingsort der zeitgenössischen Choreographie wird, und wo der Fuß seine frühere Hauptfunktion als Stütze praktisch nicht mehr erfüllt. Dieses Prinzip wird in der ›contact improvisation‹, die ganz wesentlich darauf beruht, dass die Stützfunktion über den gesamten Körper verteilt wird, intensiviert und ins Extrem getrieben. Im japanischen ›Butoh‹ stößt man häufig auf die immer wiederkehrende Figur von Beinen im Embryonalzustand: Ihrer Berufung als Gehwerkzeuge beraubt, geben sie sich wie ohnmächtige Kinderbeine einem ziellosen Zucken hin, das von dem am Boden ausgestreckten Körper ausgeht. Der zeitgenössische Tanz hat die menschliche Anatomie und sogar die elementaren Körperfunktionen neu überprüft, manchmal sogar aus dem Zusammenhang gerissen oder verfremdet, um so, jenseits der zulässigen und erkennbaren Erscheinungen, all die anderen möglichen Körper herbeizurufen, jene poetischen Körper, die durch die Transformation ihrer eigenen Materie im Stande sind, die Welt zu transformieren. Denn der anatomische Körper, der dem Kanon eines einzigen Ideals gehorcht, so wie ihn die klassische Ästhetik glorifizierte, bedeutete die Auslöschung aller anderen möglichen Körper. Die Kunst der Moderne wird jener Fülle zur Unsichtbarkeit verdammter Leiblichkeiten die Schleusen öffnen, angefangen mit Rodin (und den wimmelnden Gestalten seiner »Höllenpforte«) und dem Expressionismus in der Malerei. Wenig später auch durch den Tanz eines Nijinsky, der ein ganzes Spektrum von abweichenden Erscheinungen erfindet und die Materie ausgehend von den Wurzeln des Un-Gesehenen in eine neue Ordnung bringt. Diesem Un-Gesehenen, das Nijinsky den Randbereichen des Körpers abgerungen hat, vermochte die individuelle, einsame Inspiration eines Genies die vorübergehende Form eines Ausbruchs zu geben. Das Verdienst des zeitgenössischen Tanzes, seine ›Arbeit‹, wird es sein, Techniken und Verfahren auszubilden, um durch den lebendigen Körper selbst Zugang zu diesem Un-Gesehenen zu finden. Und so wie es Kreutzberg in »Der ewige Kreis« tut, so wie es Meredith Monk gleichzeitig durch Geste und Stimme tut, all die anderen schwachen, lächerlichen oder wahnsinnigen Körper erscheinen zu lassen, die die Geschichte und die Welt unserer Wahrnehmung entzogen und machmal sogar auf die Müllhalde der Existenz geworfen haben. Ebenso führt uns das bloße Erforschen der Körperlandschaften als unbegrenztes Gewebe, das in sich seine eigenen SinnMutationen verborgen trägt, dazu hin, in uns die Anwesenheit eines ›anderen Körpers‹ zu lesen, den die geringste Bewegung zum Erscheinen brinChr. Phillips: »Dans l’antre chaotique de la bouche«, in: Ausstellungskatalog Raoul Haussmann, Musée-Château de Rochechouart, 1995, S. 79-89.

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gen kann. So entstehen häufig durchsichtige ›Figuren‹, flüchtige Passagiere bestimmter choreographischer Handschriften (Wigman, Kreutzberg, Linke, Monk, Bagouet, Trisha Brown), leichte Schatten, denen die Choreographie manchmal nicht einmal die nötige Existenzdauer, mimetische Konsistenz oder Dichte verleiht, die notwendig wären, um in eine ›Erzählung‹ einzutreten. Ihr Erscheinen ist nur mit der notwendigen Metapher für eine Geste oder einen Zustand verbunden. Somit kann ein Körper, sogar in seiner anatomischen Definition, die vielfachen Schichten eines Möglichkeitsraums durchscheinen lassen, den der sogenannte ›eigene‹ Körper nicht enthält. Denn der Körper im Tanz beschränkt sich nicht auf eine gegebene Architektur, sei sie auch noch so subtil, geschweige denn auf ein abgeschlossenes Volumen, dessen letzter Umriss die Haut wäre: die ›Grenze zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich‹, wie es Didier Anzieu ausdrückt.8 Auch wenn die Haut eine wichtige Schnittstelle zwischen Subjekt und Welt bildet, beschränkt sie sich für den Tänzer nicht darauf, eine Topologie des Selbst zu umschließen. Erstens weil die Verortung des Selbst im Wesentlichen über die Erdanziehungskraft geschieht, wie Bonnie Bainbridge Cohen durch ihre berühmte Formulierung »Durch mein Gewicht weiß ich, wo ich bin« klarmacht. Zweitens weil die Haut im Übrigen einen Informationsreichtum enthält, der über jene bloße Eigenschaft der Schnittstelle hinausgeht: Mit einem Zitat des Nô-Meisters Zeami erinnert Hubert Godard daran, dass es ebenso Tänze der Haut wie Tänze der Knochen und des Fleisches9 gibt. Die Haut ist ein Wahrnehmungsgebiet, das den Körper mit allen Punkten des Raums in Beziehung bringt. Sie fungiert nicht als Verschluss, als Verpackung des Bündels der Organe, sondern im Gegenteil als Öffnung und bringt Volumen hervor. Die Praxis der ›contact improvisation‹ lehrt uns, dass die Haut durch ihre Ausbreitung und ihre taktilen Fähigkeiten die Antriebe der Dreidimensionalität in sich trägt. Denn genau diese Räumlichkeit ist im zeitgenössischen Tanz von wesentlicher Bedeutung, da sie den Körper innerhalb seiner eigenen Bewegung für die Welt öffnet. Indem er ›den Raum wie ein Bildhauer bearbeitet‹, wie es Laban verlangt, schreibt der Körper der Bewegung von Anfang an sein eigenes Relief ein. Dieses Relief meißelt sich durch die Hin- und Herbewegung zwischen Spannungen und Gegen-Spannungen ein, die in dynamischen Bahnen die Verwerfungen der Körpermaterie herausarbeiten. Wichtiger als der Begriff des anatomischen Körpers ist das, was Laban ›Kinesphäre‹ oder gestische Sphäre nennt: der Raum der un8 | Didier Anzieu: Le Moi-Peau, Paris: Dunod 1985, S. 106. 9 | Hubert Godard: »La peau et les os«, in: Bulletin du CNDC Nr. 4, Juli 1989, S. 8.

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mittelbaren Nähe, dessen Ränder ich mit meinen Gliedmaßen berühren kann. Die Kinesphäre umfasst den gestischen Raum ohne Fortbewegung. Darin gestaltet sich das Körper-Sein. Denn der Körper ist darin weder eine zentrale noch eine isolierte Materie: Er bringt sich durch das Gestische hervor, das ihm seine eigene Identität offenbart. Für Hubert Godard ist es »die Geste, die den Körper in jedem Augenblick erschaff t.«10 Somit könnte sich ein Körper möglicherweise ausgehend von der gestischen Sphäre in einem unendlichen und ständig erneuerten Zeugungsakt neu erfinden. In diesem Fall wäre die Poetik des Körpers nur ein Unterkapitel der Analyse der Bewegung, die ihn hervorgebracht hat. Nun ist aber das, was im Körper Poesie schaff t, keine morphologische Präsenz, und noch nicht einmal ein gegebenes Volumen, das aus dieser Morphologie durch eine konstante und glatte Sphäre der Bewegung entstünde: Jene Sphäre existiert nur durch ihre Turbulenz, durch die schrillen und durchschlagenden Auswirkungen der ›Spannungen‹, die sich darin entwickeln, die Ausrichtungen, die darin vollzogen werden. Es ist eine zitternde, von Blitzen durchzuckte Sphäre in Bewegung, eine Dynamosphäre, wie es Laban nennt, in der jede Spannung das Ergebnis eines motorischen Vorstoßes darstellt. So definiert Kandinsky in Punkt und Linie zu Fläche den Punkt ausgehend von den schockartigen Funken, die die Finger von Gret Palucca wie bei der Berührung zweier entgegengesetzter Energien im Raum entzündeten. Doch auch hier wird etwas eingegrenzt; ein Volumen ordnet sich, selbst wenn es magnetisch ist, stets um eine innere Einbuchtung herum an. Lassen sich der Körper und sein kinesphärischer Raum auf eine messbare Sphäre beschränken, an deren Außenwänden die Spannungen enden und verebben? Im Gegenteil: Der choreographische Raum lehrt uns die Grenzenlosigkeit des kinesphärischen Körpers, dessen Existenz in jeder Richtung über eine rein dimensionale Bewertung hinausgeht. Er lehrt uns auch, dass der expansive Charakter der Kinesphäre die poetische Kommunikation eines Körperzustands bis ins Unendliche ausdehnen (oder zusammenziehen) kann. Auch die Phänomenologen haben genau erkannt, dass unsere Erfahrung der Welt und das Geflecht der Beziehungen, die wir mit ihr unterhalten, nicht abgrenzbar sind, da der Körper genau durch die Unendlichkeit, die durch die Bewegung eröff net wird, existiert und sich verortet. In dieser Hinsicht wird man sich an den Begriff der Kinesphäre bei Laban erinnern. Der Körper tritt nicht in eine Vorzeitigkeitsbeziehung zu seiner eigenen Bewegung. Es gibt keine vorrangige ›Körper‹-Substanz, sondern eine Verschränkung von Interferenzen und Spannungen, durch die die Umgebung

10 | Hubert Godard: »À propos des théories d’analyse du mouvement«, in: Marsyas Nr. 16, Dezember 1990, S. 19-23.

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in die Konstituierung des Subjekts miteinbezogen wird. Vera Maletic 11 verdanken wir einen erhellenden Vergleich zwischen Laban und den drei großen Namen der Phänomenologie, Straus, Buytendijck und Merleau-Ponty 12: »Es wird nun eine vergleichende Untersuchung der vorangegangenen Betrachtungsweisen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit vom Blickpunkt einer thematischen Entscheidung aus unternommen. Alle vier Autoren teilen die Sicht einer gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Körperbewegung und Raum […] Das Interesse für die räumliche Ausrichtung, das in den existenziellen Fundamenten des Menschen, wie dem Feld der Anziehung, der Struktur des Körpers, dem Anziehungszentrum in Beziehung zur Organisation und zum Potenzial der Bewegung, wurzelt, ist diesen vier Autoren gemeinsam.« Vera Maletic nähert jene zwei Sichtweisen der Kinesphäre als eines nicht abgeschlossenen, ›offenen‹, Körpers, der die unendlichen Vibrationen seiner Taktilität durch den Raum schallen lässt, aneinander an. Straus erklärt: »Da die Zone von drei Kilometern, die wachsen oder abnehmen werden kann, unseren Körper wie eine Grenze umgibt, verliert der Raum seinen statischen Charakter, öff net sich unendlich weit vor uns, dehnt uns aus oder drückt uns zusammen.« Laban formuliert es folgendermaßen: »Die Konzeption einer Kinesphäre, die sich im Vergleich zur normalen Kinesphäre zusammenzieht oder ausdehnt, erlaubt die Beschreibung unzähliger Variationen in Metamorphosen.«13 Vera Maletic bemerkt abschließend über die Rolle des Tanzes als Überprüfungsbereich und die beispielhafte Rolle des Körper-Raums: »Natürlich stellt der Tanz das wahrhafte Modell dar, durch welches der Bewegungsraum des expressiven Körpers am eindeutigsten sichtbar wird.« Somit könnte genau diese Expansivität das choreographische Projekt hervorbringen: Die sensorischen und lyrischen Qualitäten des Körperraums, den der Choreograph einsetzt, gestalten durch ihre Beziehung zur Kinesphäre der Tänzer den Kompositionsrahmen. Denn der choreographische ›Text‹ entsteht immer aus der Zwiesprache einer Beziehung, dem Zusammenspiel zwischen Körpern, auf dem Cunningham so sehr besteht. Durch die Zwiesprache zwi11 | Vera Maletic: Body, space, expression, S. 189-199. 12 | Nur zur Erinnerung: Erwin Straus: Vom Sinn der Sinne, Berlin Göttin-

gen Heidelberg: Springer 1978.; Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Das Sichtbare und das Unsichtbare, De Gruyter 1964; Friedrich Jacobus Johannes Buytendijk: Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung, Berlin: Springer Verlag 1956. 13 | Rudolf von Laban zitiert nach: Vera Maletic: Body, space, expression. Die Zitate sind entnommen aus: Erwin Straus, englische Ausgabe, Phenomenology and Psychology, S. 154, und Rudolf von Laban: Choreutik. Grundlagen der Raumharmonielehre des Tanzes, Noetzel: Wilhelmshaven 1991, S. 42.

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schen seinem Körper und dem des Tänzers, also am Schnittpunkt dessen, was man später ›die persönlichen Sphären‹ nennen wird, wird der Choreograph zum visionären Leser der Kinesphäre des anderen. Er erkennt ihre Spannungslinien, geheimen Einschreibungen und Schattierungen der Vorstellungswelt, die er durch die Mäeutik einer (ebenso legitimen wie geheimnisvollen) Geste der Unsichtbarkeit zu entreißen vermag. Doch existiert jene Geste, genau wie die choreographische Inspiration, nur in jenem Zwischenraum der Körper, der dem choreographischen Material Rahmen und Konsistenz verleiht. Was für ein Körper steht auf dem Spiel? Es ist von wesentlicher Bedeutung, sich diese Hauptfrage im Vorfeld jeder Lektüre eines choreographischen Projekts zu stellen. Wird diese Dimension weder in das choreographische Schaffen noch in das Lesen miteinbezogen, bildet sich auf Dauer ein erheblicher Bereich von Ungedachtem heraus, der die Glaubwürdigkeit eines Anliegens stark beeinträchtigen und seine Wahrnehmung blockieren kann. Die Annahme eines neutralen Körpers, von dem ausgehend sich jedes beliebige choreographische Motiv äußern ließe, läuft dem gesamten Projekt des zeitgenössischen Tanzes zuwider. Und schlimmer noch: Sie trägt dazu bei, einen verborgenen Bodensatz zu erhalten, der jeden Versuch einer Annäherung mit Blindheit schlägt. Einer gleichermaßen ideologischen wie ästhetischen Blindheit, die einen der schlimmsten Irrtümer über das Anliegen des Werks nach sich zieht, selbst wenn dieses unter dem äußeren Anschein verborgen liegt. Dennoch vollziehen sich die Annäherung an das choreographische Werk und leider auch dessen Beurteilung nach wie vor häufig auf der Grundlage einer undifferenzierten Wahrnehmung des Körpers. Meist beschränkt sich die Betrachtung des Tanzes nämlich auf die Analyse expliziter Figuren oder Äußerungen, manchmal sogar des künstlerischen Zubehörs und der Hilfsmittel, die zu deren Herausarbeitung nötig sind. Dabei vergisst man, dass dieser Körper, den man als verborgen betrachtet, das gesamte choreographische Projekt ausmacht (auch wenn jenes Projekt nach und nach auch andere Zutaten einschließt). Und wie es scheint, hat sich der heutige Choreograph diesem Blick angepasst und liefert nur mehr Handschriften, die auf Körpereffekte setzen, auf die Eindrücke und gegenständlichen Schatten, die einer Bewegung innewohnen. In solchen Auff ührungen entsteht der Sinn nicht mehr im Körper selbst und in den vom ihm hervorgebrachten Vorstellungswelten, sondern anderswo. Kurioserweise ist diese Herangehensweise sehr archaisch, denn sie bringt uns in eine Zeit zurück, in der das Wissen, das sich während der gesamten Geschichte der Tanzmoderne ansammeln sollte, noch unbekannt war. Was man damals nicht sah, war eben, dass die modernen Körper vielgestaltig waren und dass ihre Identität über die ästhetische und

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sogar über die philosophische Wahl ihres Autors entschied. Im ersten Drittel des Jahrhunderts hat der moderne Tanz durch seinen ständigen Bruch mit den erlaubten Bewegungen für so großes Erstaunen gesorgt, dass man ihn in seiner Gesamtheit als ›einen‹ sah. Interessanterweise schreibt sogar Martha Graham,14 dass vor den Bennington-Workshops in den 30er Jahren zwischen den Leiblichkeiten, die die verschiedenen Akteure der choreographischen Revolution ins Spiel brachten (Humphrey, Holm, sie selbst), kein Unterschied gesehen wurde. Die Sommer-Workshops, die (manchmal während der gleichen Tageshälfte) unterschiedliche Lehren und Herangehensweisen an den Körper nebeneinanderstellten, setzten dieser Blindheit ein Ende. Die beachtliche Menge der Workshopteilnehmer konnte, egal ob sie Tänzer waren oder nicht, innerhalb ihres Körpers selbst feststellen, wie unterschiedlich die Grundsatzentscheidungen eines jeden Choreographen waren, wie sehr jeder von ihnen einen ›Körper‹ begründete, aus dem seine gesamte Kunst entsprang. Der moderne Tanz erschien nicht mehr wie ein homogenes Ausdrucksfeld, sondern im Gegenteil wie eine heterogene und zutiefst individuelle Vision, die stets mit der Erfindung eines einzigartigen nicht reduzierbaren Körpers begann. Rund dreißig Jahre später sollte Selma Jeanne Cohen dies mit der Formulierung »Der moderne Tanz ist eine Perspektive«15 zum Ausdruck bringen. Eine Fülle von Perspektiven, von denen jede einzelne ein anderes Körperdenken anzubieten hat. Kehren wir in die Zeit von Bennington zurück: Dort gab es den Humphrey-Körper, der an den Zwischenräumen des Instabilen, dem unendlichen Nachgeben des Thorax in der Aufforderung zum Sturz arbeitete. Den angespannten und dem Willen unterworfenen Graham-Körper mit seinen starken EnergieVariationen in der Systole des Einatmens. Den Holm-Körper, in dem es bereits jene Wanderung des Zentrums durch den ganzen Körper und die Punkte der Weitergabe von Intensität gab, die man deutlicher lesbar bei ihrem Schüler Nikolais wiederfinden sollte. Auch Susan L. Foster schlägt vor, ein Raster der Lesarten des Körpers einzuführen, ausgehend von dem ›Sinn‹, den jeder einzelne der bedeutenden Vertreter der Moderne, von Graham bis zur Generation der Judson School (hier vertreten durch Deborah Hay), dem Körper verlieh: von der bloßen Äußerung motorischer Fähigkeiten bei Cunningham bis hin zum Vermittler zwischen Ich und Welt bei Graham.16 Jene absolut unverzichtbare Lesart kann noch weiter getrieben werden. Denn es reicht heutzutage nicht mehr aus, den Körper als 14 | Martha Graham in: Marianne Horosko (Hg.): Martha Graham, her Theory and Training, New York: A capella books 1989. 15 | Selma Jeanne Cohen: Modern Dance, Seven Statements of Belief, New York: Dance Horizons 1969, S. 14. 16 | S.L. Foster: Reading Dancing, S. 42-43.

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Vehikel des Sinns zu betrachten und dann seine Semananalyse durchzuführen: Man muss das organische Gebiet betrachten, in dem sich diese Semantik gestaltet, die impliziten Voraussetzungen, die darin Bereiche der Erscheinung öffnen. Es gilt, zu untersuchen, wie sich die Wahrnehmung des Zeugen mit dem Körper des Tänzers verwebt und so mittels der Wahrnehmung eines anderen Körpers den eigenen Körper konstruiert. Dies könnte dazu verleiten, die Ästhetik des Tanzes durch die Materie seiner Gestaltung begreifen zu wollen. So ließe sich auch die Geschichte der choreographischen Kunst denken, die sich in der Tat weniger in Bezug auf formale Entscheidungen oder schöpferische Grundsatzentscheidungen weiterentwickelt hat, als im Bezug auf (sichtbare oder unsichtbare) Entscheidungen für Körperzustände: Daher erkennt Cynthia J. Novak (nach Würdigung der bereits erwähnten fosterschen Raster) eine historische Bruchstelle zwischen dem mit einer Absicht verbundenen Körper der ersten Jahrhunderthälfte, den man als ›voluntaristisch‹ bezeichnen kann (einem Körper, den Novak als ›expressiv‹ qualifiziert, nicht weil er versucht, sich auf irgend eine narrative Figur außerhalb seiner selbst zu beziehen, sondern weil er, sogar in einer nicht-gegenständlichen Ästhetik, danach strebt, ein Wollen, eine intensivierende Qualität zu transportieren) und dem von Eric Hawkins im philosophischen Kontext der ›kinetic awareness‹ entdeckten Körper, einem ›phänomenologischen und objekthaften Körper‹,17 von dem ausgehend die gesamte Avantgarde der 60er Jahre ihren Weg finden sollte. Denn der neutrale Körper Cunninghams, ein vorüberziehender Zeuge in den Visionen der Welt, der von keinerlei Affekten oder Werturteilen besetzt war, und der ›Aufgaben‹ unterworfene Körper der Judson Church benötigten jenes ›körperliche Potenzial‹ von Hawkins’ Philosophie, um ein Werk zu schaffen, oder um zumindest ihre Prinzipien zu behaupten. Wir sind hier noch weit von der Gestaltung der Grundbedingungen einer ästhetischen Sprache oder der Kodierung in einem Register entfernt, sondern befinden uns an der ›Basis‹ dessen, was wirklich eine ›Entscheidung‹ im Tanz ist. Heutzutage wechseln die Körper häufig zwischen verschiedenen Zuständen hin und her, und es scheint, als sei die historische Bresche zu Gunsten einer Poetik der ›Indifferenz‹, die die historischen Brüche zwischen den Körpern nicht mehr kennen will, geschlossen oder überbrückt worden. Als gebe es eine Versöhnung oder Verdrängung der Frage »Was für ein Körper?«. Alles hat sich vermischt, und meist zirkulieren innerhalb der tanzenden Körper verschiedene sichtbare oder unsichtbare Körper wie geheimnisvolle Wellen, deren körperliche Referenzen ineinander übergehen oder einander überlagern. Im Sinne einer ›poe17 | Cynthia J. Novack: Sharing the Dance, Contact Improvisation and American Culture, S. 31.

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tischen‹ Lesart liegt das Wesentliche im Ablesen der Indizien – und nicht der Zeichen, die auf einer rein gegenständlichen Identifikation gründen. Dieses Lesen geschieht nicht als mechanische, lineare oder kausalistische Annäherung an Genealogien und Abstammungsverhältnisse, sondern als Annäherung an die Spuren, die wie Reflexe eines vorübergezogenen Körpers sind, der einen Zustand oder eine plötzliche Emotion ausgelöst hat. Die glaubhaftesten Künstler, jene, denen man zugestehen kann, dass sie vielleicht nicht neue, aber wenigstens bewusste und erfinderische Wege zurückgelegt haben, stellen die technischen Mittel, die sie übernommen haben, deutlich zur Schau. Es kann sich dabei (fast) um Referenzen, wenn nicht sogar um Zitate handeln. Die ganz großen Künstler lassen den Körper des Interpreten als Textualität sprechen, die die Gedanken und Diskussionen widerspiegelt, durch die man sich innerhalb eines choreographischen Projekts über die körperlichen Grundsatzentscheidungen verständigte. So ist beispielsweise der Beitrag von in ›contact improvisation‹ geschulten Tänzern ein wesentlicher Bestandteil von Trisha Browns Ästhetik, ohne den jene erstaunliche, fast prismatische Brechung in vielfach unterschiedliche und verstreute Ausrichtungen in den Raum hinein nicht möglich wäre. Das Schreiben vollzieht sich somit im und durch den Körper des Tänzers, durch sein Wissen und seine Überzeugungen in Bezug auf die Philosophie des Körpers. Einmal mehr gerät der Begriff vom ›Interpreten‹ als bloßem Vermittler des Werks ins Wanken. Denn die choreographische Schöpfung ist nicht mehr jene einzigartige und ursprüngliche Tat eines ›Autoren‹, wie im Falle der meisten Kunstwerke. Im Körper und der Sensibilität des Choreographen zirkulieren mehrere Körper, werden mehrere Körper beschworen. Und diese Körper vervielfachen sich im Dialog mit den Körpern der Tänzer, die selbst von vielgestaltigen persönlichen Geschichten durchdrungen sind. Bei Dominique Bagouet gibt es dagegen eine Art geisterhafter Erinnerung, eine halb ausgelöschte Reminiszenz an die ›body parts‹, die Nikolais’ Praxis besonders schätzte, die die Extremitäten des Tänzers in den Phasen der Wiederaufnahme oder des Loslassens der Muskelspannung in Wellenbewegungen versetzte. Mit dem feinen Unterschied, dass der carlsonsche Unterricht (von dem Bagouet unendlich profitiert hat) vehement auf dem Zirkulieren des Zentrums besteht (Nikolais’ ›travelling center‹), das aus jeder Gliedmaße einen eigenständigen Körper macht oder vielmehr die Intensität eines ganzen Körpers in jeder einzelnen Extremität konzentriert. Bei Bagouet gestaltet sich die ebenso häufige periphere Geste entweder durch eine aufmerksame Präzision oder durch eine Aufgabe der Muskelspannung. Oft steigert sich der Bewegungsfluss, um dann fragend innezuhalten, als trage die Geste das Rätsel einer Frage ohne Antwort in sich. In beiden Fällen handelt es sich vielleicht weniger um eine Reise des Zentrums als um eine Reise der Seele. Doch ›gab

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sich‹ Bagouets Geste dem Tänzerpartner durch die Qualität des Stoßens ›hin‹,18 die allerdings verändert und anders ausgerichtet war. Und jener Partner behandelte sie zumeist im Einklang mit dem, was wir später im Text als persönlichen ›Stil‹ (oder körperliche Signatur) bezeichnen werden. Es handelt sich im zeitgenössischen Tanz also um eine Situation des Ineinandergreifens, in der mehrere Körper einander am Schnittpunkt eines gestischen Augenblicks begegnen. Das, was durch die Weitergabe einer ursprünglichen Lehre erschienen ist, verschiebt sich, löst sich auf oder bleibt wie ein schwankender Schatten nicht in den Körpern, sondern zwischen den Körpern zurück. Wie ein körperlicher Text, der sich selbst auslöschen und zerstören muss, um neu entstehen zu können. Dieser Text bleibt sogar in seinem Scheitern und in den Verzerrungen, die das Unwissen (oder das Verbergen durch übertrieben spektakuläre Prozesse) den unterschiedlichen Lernverfahren und kreativen Antrieben aufzwingen kann, stets lesbar. Zwar wirken die Werkzeuge der machtvollen Leseverfahren des Körpers, die zur Zeit der Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes gestaltet wurden und Zugang zu dessen tiefen Antrieben verschaffen, auf unsere Wahrnehmung ein und versetzen sie in Alarmbereitschaft. Sie vervielfachen dadurch sowohl die Vermittler des Lesens, als auch den überbordenden Reichtum an Sinneserfahrungen, der sich daraus ziehen lässt. Dennoch berührt der Körper des Tänzers, sogar ohne es selbst zu wissen, durch den zeitgenössischen Tanz, in dem die Aktivitäten eines unmittelbaren Austauschs zwischen Körpern stetig intensiviert werden, den Körper eines jeden Zuschauers, hält mit dessen Kinesphäre Zwiesprache und bereichert ihn durch eine ständig erneuerte Erfahrung – vorausgesetzt, dass der Rezeptionsraum, in dem diese Kontakte stattfinden, nicht blockiert und verhärtet ist. Jenes Übergreifen zwischen den Körpern vollzieht sich auf einer sehr feinen, fast unmerklichen Ebene. Denn die Gesamtheit des Körpers ist keineswegs eine deutliche Erscheinung. Es gibt sehr wirkungsvolle Bereiche, die wie ein bloßer Nimbus, wie das Vorüberziehen einer Aura sind, durch die der Körper des Tänzers die Kinesphäre des Anderen berührt. Unter jenen lebhaften verborgenen Elementen wurde das posturale Element sowohl von den Humanwissenschaften als auch von den choreographischen Wissenschaften am genauesten identifiziert. Doch obwohl sich seine Existenz und Funktionsweise offenbart haben, ist es trotzdem kaum fassbarer geworden. Zur gleichen Zeit wie die Wahrnehmung der Gewichtstransfers die Kinästhese anregt, spricht die posturale Muskelspannung das Bewusstsein des Zuschauers an und ruft in ihm 18 | Isabelle Ginot: »Fissures, petites fissures«, in: Dominique Wahiche (Hg.): La danse, naissance d’un mouvement de pensée, Paris: Armand Colin 1989, S. 152-153.

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einen lebhaften Widerhall hervor. Die Laban-Schülerin Martha Davies verweist auf die traditionellen Tänze, die innerhalb von Gesellschaften praktiziert werden, die noch gemeinsame Wertmaßstäbe haben und erinnert daran, dass »der Tanz die posturalen Grundsatzentscheidungen einer Gruppe verstärkt.«19 In der zeitgenössischen Kunst, die die Individualisierung der Grundsatzentscheidungen durchgesetzt hat, baut sich die posturale Beziehung als Verschmelzen oder Konflikt eines individuellen Tänzers mit einem individuellen Zuschauer auf. Sie äußert sich nicht unbedingt durch das Sehen einer Geste sondern durch jenen unklaren und unerklärlichen Kontakt, der im Zwischenraum zweier Wahrnehmungen das Erzittern des poetischen ›Kerns‹ auslöst. Die Frage ›Was für ein Körper?‹, die jedes choreographische Werk stellt, hat weit über den Bereich des Tanzes hinaus ihre Berechtigung. Vor allem führt sie durch ihre Geschichte, die unterschiedliche ›Körper‹ aufgeboten hat, von denen jeder das Angebot eines Denkens über den Körper war, zu einer Relativierung: Sie erlöst von der Präsenz eines absoluten, universellen und eindeutigen Körpers, eines konzeptuellen Gespensts, dessen essenzialistische Sichtweise von manchen Abhandlungen über den Tanz seltsamerweise immer noch aufrechterhalten wird. Dabei besteht doch im Gegenteil der ganze Sinn des zeitgenössischen Tanzes darin, sich von dem Gespenst eines ursprünglichen Körpers zu befreien. Es dürfte inzwischen begreiflich geworden sein, wie sehr die Tanzarbeit die lange Suche nach einem ›Werden‹ des Körpers einschließt. Bei jenem Prozess der SelbstWerdung durch den Körper stehen dem Individuum, das sich auf diese Suche macht, ob Tänzer oder nicht, zahlreiche Techniken des Bewegungsverständnisses (u.a. die bereits erwähnten Alexander-, Feldenkrais- und Pilates-Techniken) hilfreich zu Seite. Doch dauert die Vorstellung von einer primitiven Animalität des menschlichen Körpers häufig im Namen einer Unterscheidung zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ fort. Dieses Gegensatzpaar bringt unter anderem die Gefahr mit sich, die Natur in Bezug auf die Kultur als vorzeitig zu betrachten. Kein Wunder, dass dieses Verfahren in den 30er Jahren von dem neo-klassischen Kritiker André Levinson vehement aufgegriffen wurde. Im Namen einer bestimmten Sicht des klassischen abendländischen Tanzes hielt Levinson den Gegensatz zwischen ›Natur‹ und ›Künstlichkeit‹ zu Gunsten der letzteren aufrecht und machte die akademische Tänzerin gleichzeitig zu deren Sinnbild und Illustration (eine Sichtweise, die viele klassische Tänzer heute sehr entschieden und nicht ohne Grund zurückweisen würden). Als würde dem Bereich des Menschli19 | Martha Davies in: Irmgard Bartenieff/Martha Davies/Forestine Paulay: Four Adaptations of the Effort Theory, New York: Dance Notation Bureau 1972, S. 44.

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chen – und damit auch des Symbolischen – in schicksalhafter Weise der organische Charakter des Körpers entzogen, der in uns noch einen Rest wilder Materie aufrecht erhält. Die Theorie des ›ursprünglichen Körpers‹ motiviert noch eine Reihe weiterer Ansätze, die alle gleichermaßen schwierig zu verteidigen sind. Da gibt es jene ›naive Fetischisierung‹, die der Tänzer Christophe Wavelet20 zu Recht verdammt, der die Äußerung ›DER Körper‹ für inakzeptabel erklärt. So als hätte man es auf der einen Seite mit einer chaotischen und unkontrollierten Immanenz zu tun und auf der anderen mit einer platonischen, archetypischen und unveränderlichen Entität. In beiden Fällen verbietet es eine seltsame Schranke, mit der Reflexion oder mit irgendeinem theoretischen oder praktischen kognitiven Verfahren an den Körper zu rühren. Eine wirkliche Analyse der Körperzustände, die eine spezifische Axiomatik beinhalten würde, gilt somit als unnötig, da ja ›der‹ Körper als universeller, voll und ganz identifizierter, wenn nicht sogar unter Kontrolle gebrachter Begriff gesehen wird, der sich in jedem Fall von selbst versteht. Für diesen Körper wäre das Erlernen von Techniken oder performativen Verfahren eine Art besonderer Zusatz, der ihm das Siegel der Zivilisation und sogar der Kreativität verliehe. Doch unterschlägt diese Lesart gerne den materiellen Aspekt des Körpers, den es in der Sorge um eine ständige Erfahrung zu bearbeiten, zu denken und zu erleben gilt. Jenen ›Knochenhaufen‹, von dem Jerome Andrews spricht, ein komplexes aber reichhaltiges Material, ein außerordentliches Werkzeug des Bewusstseins und der Sensibilität, das nicht vom Denken unterschieden, geschweige denn ihm gegenübergestellt werden kann, da es einen fruchtbaren Boden für dessen Entfaltung und Erforschung darstellt. Der zeitgenössische Tanz hat ganz explizit einen Ausweg aus jenen traditionellen Dualismen vollzogen. Für ihn denkt der Körper und bringt Sinn hervor. Oder vielmehr tragen Körper, Reflexion und Poetik einander gegenseitig auf derselben Reise davon und treiben sich in einer stetigen Hin- und Herbewegung gegenseitig an, gemäß jener Sichtweise, die mit den holistischen Lehren Kallmeyers und Dalcrozes Theorie der inneren Musikalität beginnt. Rund zwanzig Jahre nach den Anfängen des zeitgenössischen Tanzes gesellen sich auf einer vielleicht weniger synthetischen Ebene (und vor allem ohne das Vorhaben einer Anwendung) die anthropologischen Disziplinen zu den Erforschungen der Tänzer. So wie Marcel Mauss’ Idee vom Körper als einer ›Montage‹, in der die physiologischen Faktoren nur eine Reihe von körperlichen Determinanten konstituieren. Was wir für Körperfunktionen halten, sieht Mauss als ›Techniken‹, die be20 | Christophe Wavelet: »Quel corps, quelle transmission, quel enseignement?«, in: Marsyas Nr. 34, Sommer 1995, S. 39-44.

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reits Repräsentationssysteme in sich tragen.21 Als die Tänzer und Theoretiker des amerikanischen Tanzes Mauss’ Denken lange nach seinem Tod anlässlich der um 1973 vorgenommenen Übersetzung seiner Werke ins Englische entdeckten, waren sie fassungslos über die Parallelen zu den Theorien der Nachfolger Labans. Denn der Tanz arbeitet, auf der Ebene des Denkens und der materiellen Gestaltung, an der Erscheinung eines Körpers, der nicht von vornherein gegeben ist. Oder vielmehr arbeitet er an einer Vielzahl von Körpern, von denen jeder einzelne wie eine geheime Partitur die unermessliche Bandbreite seiner Möglichkeiten und poetischen Schattierungen enthält. Laban nennt dies ›die körperliche Signatur‹. Eigentlich gibt es, mehr noch als Körper, Körperzustände, ›körperliche Augenblicke‹, wie Hubert Godard22 sagen würde, die durch Zeiten, Kulturen und Individuen hindurch ihre Beschaffenheit ändern. Ihre Beschaffenheit variiert gemäß der individuellen Dispositive einer Situation oder der Antwort auf eine andere Situation. Es handelt sich nicht nur um ein Feld von Interferenzen, sondern um ein Feld, das in der Lage ist, diese Interferenzen zu organisieren. Tanzen würde somit bedeuten, das sensorische Netzwerk lesbar zu machen, das die Bewegung in jedem Augenblick hervorruft und das wiederum durch sein Echo auf sie einwirkt. Auch hier wäre der Sinn kein hinzugefügter Wert sondern eine semiotische Funktion, die der Körper wie ein ständiges Potenzial in sich verborgen trüge. Michel Bernard sieht genau diese Semiotizität als Auslöser der existenziellen Körpererfahrung (und nicht irgendeine zeitlich vor ihr liegende oder in ihr verborgene übergeordnete organische Instanz): »Sowohl durch seine Form als auch durch seine Motrizität hat der menschliche Körper seine Realität von seiner semiotischen Funktion ererbt.«23 Wir persönlich würden lieber von einer ›lyrischen Funktion‹ sprechen, die aus der Präsenz des Körpers, der Veränderung seiner Gewebe und seiner Flüssigkeiten entspringt. Vermutlich ist es die Beunruhigung darüber, die Leiblichkeit, ihr Wissen und ihre Poetik irgendeiner mechanischen oder rein biologischen Sichtweise unterworfen zu sehen (oder zumindest in Repräsentationsweisen eingespannt, die dem Determinismus nahestehen), die eine ganze Denkströmung im Tanz dazu veranlasst hat, nach Wegen zu einer Befreiung des Körper-Selbst von jeglicher kausalistischen Abhängigkeit zu suchen. Jene Suche spukt noch immer durch die Tanzmoderne, vor allem durch 21 | Vgl. Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990 (siehe insbesondere Kapitel 6). 22 | Hubert Godard: »Le déséquilibre fondateur«. 23 | Michel Bernard: L’expressivité du corps, recherches sur les fondements de la théâtralité, Chiron: Paris 1986, S. 235.

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die Arbeiten der großen Nietzscheaner (Laban, Humphrey…), die nach einer Entfesselung der motorischen Fähigkeiten strebten, um den Körper in eine ausschließlich symbolische Dimension zu überführen. Anders als man glauben könnte, hat jene Unternehmung des Sich-Losreißens nicht zu einer Verleugnung der organischen Tiefen des Körpers geführt. Im Gegenteil: Durch die gründliche Erforschung der intimsten Antriebe des Gewichtstransfers sind beide auf eine Ahnung von jener verschütteten Poetik gestoßen. Matthias Alexanders24 Entdeckung einer unmittelbaren Nähe zum ›self‹, die es zum Beispiel erlaubt, verkümmernde Automatismen im Zaum zu halten, hat den Weg zur einer neuen und heiteren Autonomie des Körperbewusstseins freigemacht. Doch liegt der überzeugendste – und auch demonstrativste – Ausdruck jenes Strebens auf Seiten Cunninghams und der amerikanischen Bewegungsrevolutionäre der 60er Jahre: vor allem in der durch John Cage angeregten Verwendung von Zufallsprozessen bei der Suche nach einer Undeterminiertheit des Körpers. Noch bevor er sich für die ›indeterminacy‹ entschied, löste Cunningham in seinem im radikalen und bewegten Kontext des Black Mountain College entwickelten »Untitled Solo« jeden Versuch einer ›Verkettung‹ auf: als könnte der Körper, dadurch, dass er sich dem Gesetz entzieht, eine neue Ordnung erfinden, die ihn vor der traditionellen Sichtweise eines schicksalhaft gegebenen Körpers bewahren würde. Nach und nach wird Cunningham sein System weniger demonstrativ und auch weniger schmerzhaft gestalten. Als verpflichte das Teilen der Herausforderung des »Untitled Solo« mit anderen dazu, ihnen die Blessuren jener ersten inneren Kämpfe zu ersparen. Cunningham weist darauf hin, dass die Dissoziation des Körpers (zum Beispiel in Unter- und Oberkörper), ein wesentlicher Bestandteil seiner Technik, niemals gegen die Gesamtheit des Körpers und die Ansammlung strahlenförmig von der Wirbelsäule ausgehender Bewegungen gerichtet ist.25 Denn der Organismus ist bei der Eroberung der Freiheit des Körper-Seins kein Feind: Er ist im Gegenteil ein Verbündeter, der dabei hilft (und sei es auch nur durch die bereitwillige Nachgiebigkeit der Wirbel), wirkungsvollere und erfinderischere Möglichkeiten zur Befreiung zu finden. Denselben (scheinbaren) Widerspruch finden wir in den Erfahrungen, die die Rebellion der Judson Church vorbereiteten: Dort befreit die Verwendung unterschiedlicher Behinderungsverfahren (aufgezwungene Aufgaben, beschränkende Hilfsmittel usw.) das Körperschicksal von seiner gesamten biologischen und psychologischen Erblast. 24 | D. Caplan: »The Alexander Technique«, in: Contact Quarterly Band X Nr. 3, 1985, S. 31-33. 25 | Merce Cunningham: »The Function of a Technique for Dance«, in: Walter Sorrel: Dance has many Faces, New York: Dance Horizons 1952.

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Jener ebenso verzweifelte wie wütende Versuch, den Kausalismus abzuschaffen, der den ›biologischen‹ Teil des Selbst gefangenhält, wendet sich gegen jegliche Bindung der Bewegung an eine Vorherbestimmung, und sei sie auch nur anatomischer Art. Die Tänzergeneration der 60er Jahre wollte sich gegen ein deterministisches Gesetz auflehnen, das letztendlich nur Ausdruck einer von überholten Repräsentationssystemen mehr oder weniger durchgesetzten Rechtsprechung war. »Wir fingen an, Systeme zu erforschen, die die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung ausschalten (knock out) sollten«, schreibt Anna Halprin. »Wir benutzten Gegenstände und Hilfsmittel, wir benutzten den Raum auf deterministische Art und Weise. Ich wollte diese Elemente isolieren, mit einem System arbeiten, in dem sich all dies von der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung befreien könnte.«26 Und wie ließe sich ein solches Vorhaben realisieren, ohne zunächst den Weg einer Arbeit am Körper einzuschlagen, dem Bereich, in dem es den Kasualismus zu eliminieren galt? Anna Halprin beginnt damit, dass sie Körperteile isoliert, sie sich bewegen lässt, ohne sie zu einer Kontinuität zu verketten, die einen von vornherein gegebenen ›Weg‹ bestimmen würde. Dann stellt sie gemäß serieller Partituren Bewegungslisten auf und überlässt die Verwendung jener Bewegungen dem Zufall; so wird der Körper als nicht von der Biologie vorherbestimmte Partitur ganz von selbst gleichermaßen zu einem Schreiben der von Cage und Cunningham ererbten ›indeterminacy‹, doch auch des ›unpredictable‹, das für die Tänzergeneration der 60er Jahre ein wichtiger Begriff war. Denn das ›Unvorhersehbare‹ wird stark durch die Geschichte des ›Ich‹ vorherbestimmt, dem in der Improvisation ein bereits in ihm eingeschriebenes gestisches Gedächtnis entschlüpft. Aber gleichzeitig verschieben die Praktiken der Undeterminiertheit das Eingreifen des Subjekts dergestalt, dass sie jenes Gedächtnis auslöschen. Halprins Partituren, ihre Improvisationen über Beschränkungen, ihre endlosen Wiederholungen ein- und desselben Akts, bis durch die Erschöpfung des Tänzers und die zunehmende Lockerung der Kontrolle ein unerwarteter Zustand der Geste auftritt, sind Werkzeuge, durch die sich jene beiden Konzepte kombinieren lassen. Sie machen den Körper nicht zu einem Bruch mit dem Subjekt, sondern zum Schauplatz einer neuen Suche nach ihm. Nichts von all dieser Freiheit eines ›undeterminierten‹ Körpers wäre ohne das Körperwissen möglich gewesen, das sich seit den Anfängen des Jahrhunderts etabliert hatte: ohne die Beobachtung der Gewebezustände an den unterschiedlichen Stellen der Muskulatur, und unter anderem auch ohne den Feldenkrais-Unterricht, den Halprin besuchte; anders gesagt: oh26 | Yvonne Rainer: »Yvonne Rainer interviews Anna Halprin«, in: TDR. Band X Nr. 2, Winter 1965, S. 145-178, S. 144.

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ne das Aufspüren unzähliger möglicher ›Wege‹, von denen ausgehend ein umherirrendes Bewusstsein die organischen Bahnen in ihrer Tiefe erforschen kann, um ihnen ein Versprechen der Freiheit und nicht der Unterwerfung abzuringen. Der Körper wird vor allem das sein, als was man ihn denkt, als was er selbst sich denkt und das, wohin er uns führt. Auch wenn uns heute derartige Verfahren der Erhellung fernliegen und der tanzende Körper heute mit seinen Schatten, seinen Undurchsichtigkeiten und seinem Vergessen (in Form von Metaphern) spielt, bleibt er in den Praktiken und im Denken des zeitgenössischen Tanzes dennoch stets jener »Weiser«, den Nietzsche angekündigt hatte.

Atemzüge »Aus der tiefsten Tiefe der Arbeit seiner Kehle, da, woher der Atem kommt, wo er seine Anfänge nimmt, woher das Drama kommen muss, von woher, welch ein Zufall, jede Handlung erscheint.« Charles Olson »Denn er [der Atem] ist der geheimnisvolle große Meister, der unbekannt und ungenannt hinter allem und in allem wirkt – der seinen stummen Befehl an die Funktion der Muskeln und Gelenke weitergibt – der anzufeuern und aufzulockern, aufzupeitschen und zu bändigen weiß – der den rhythmischen Gliederungen die Zäsuren setzt und die Phrasierung der fließend bewegten Abläufe beherrscht – der darüber hinaus aber auch Ausdrucks-Temperaturen im Wechselspiel ihrer rhythmisch-melodischen Farbigkeiten reguliert.« Mary Wigman

Nichts ist so beeindruckend, wie in der vollkommenen Bewegungslosigkeit jenseits jeden willentlichen Eingreifens die tiefe Bewegung zu beobachten, die sich ständig in unserem Inneren vollzieht; das Heben und Senken des Zwerchfells durch jene Welle der Ausdehnung und des Verschließens, die den Brustkorb abwechselnd weitet und zusammenpresst. Wenn wir aufmerksamer sind, wenn wir dem Weg des Atems bis ans Ende dieser Druckbewegung folgen, fühlen wir, wie der gesamte Rumpf bis zum Sakrum hin durchströmt wird und wie beim Einatmen der Kopf von einem Luftschwall überschwemmt wird. Denn der gesamte Körper wird unablässig durchlüftet und vom Atem durchdrungen. Der Atem offenbart nur die Passagen;

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er erlaubt es der Erfahrung, die inneren Hohlräume zu berühren und zu erkennen. Der Körper, den er enthüllt, ist ein Durchbruch, und kein Block. Eine Leere, keine Fülle. Weit über die physischen Empfindungen hinaus, verweist er auf die Geographie der Landschaften des Körpers. Jene Geographie ist ein umfassender Raum, der Innen und Außen miteinander verbindet, deren vereinigte Lichter der Körper nur reflektiert. In diesem Sinne ist der Körper ein Übergang, eine durchlässige Wand zwischen zwei Weltzuständen – und nicht etwa eine undurchsichtige, volle, undurchdringliche Masse. Der Atem macht den Körper des Tänzers zu einem ›Filter-Körper‹, durch den die Sinneseindrücke gesiebt werden und wo sich nach und nach wesentliche Bruchstücke von Wissen ablagern. Darin liegt die Empfindung eines Mechanismus, der gleichzeitig ein Mechanismus des Ursprungs und des Werdens ist: Er führt uns ständig vom Loslassen des Gewichts zu seinem Festhalten, vom Vorher zum Nachher, von der Leere zur Fülle des Zugriffs auf die Außenwelt, der Rückgabe der Dämpfe, die unser Körper der Welt entzogen hat. Doch gleichzeitig kommt dieser Körper mit den großen Elementarströmen der Winde oder Fluten in Einklang, die den Lauf der Dinge dahinströmen lassen und das gesamte Universum auf ihrer Fahrt davontragen. Man begreift, warum die alten Kulturen dem Atem in ihren Mythen und Praktiken eine bestimmende Rolle einräumten. Das Segel, das im Wind klatscht, erinnert uns Michel Serres, ist äußerlicher Ausdruck einer pneumatischen Leiblichkeit, zu der die Takelage des Schiffes gehört, die das Netz der Muskelfasern darstellt.27 Einmal mehr hat der zeitgenössische Tanz weniger danach gestrebt, einen Bruch zu vollziehen, als danach, das Kontinuum der großen Kräfte wiederzufinden (das dem Tanz in der formalistischen Dürre einer frivol gewordenen Kunst verlorengegangen ist), das den alten Zivilisationen im Orient und rund um das Mittelmeer Nahrung gab. Außerdem sucht der Tanz nach dem ›anthropologischen Kontinuum‹ zwischen den unterschiedlichen Körperfunktionen, deren Gleichgewicht der Atem aufrecht erhält. Einmal mehr wird der Tänzer in jener organischen Funktion eine Quelle der Vorstellung entdecken. So wie der Atem in uns das Vibrieren der Stimme hervorruft, lässt er auch das Schleudern der Geste widerhallen. Und wenn man zwischen dem einen und dem anderen einen Abstand bezeichnen müsste, dann läge dieser nur, wie Maldiney sagt, im Unterschied zwischen den jeweiligen Verortungsverfahren.28 Aus dem Atem (›respiration‹) macht der Tänzer durch die poetische Körpererfahrung eine ›Inspiration‹ (Einatmung). Die Phrasierung der Geste wird in ihrem Ablauf, ihrer Qua27 | Michel Serres: Le contrat naturel, Paris: Grasset 1990. 28 | Henri Maldiney: L’art, l’éclair de l’être, Paris: Comp’act 1993, S. 45 und

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lität, ihrem ›Kern‹ vom Ausatmen angestoßen. Die Bewegung dagegen, ihr Ausdruck, baut auf dem Akt des Einatmens auf. Mary Wigman sieht in der Atmung eine abgelenkte doch zugleich ausdruckvolle Behandlung des Zeit-Raums: »Wenn der Tänzer in feierlich-gemessenem Schreiten den Raum durchmißt, so geben seine tiefen und ruhigen Atemzüge seiner Haltung und Gangart das Gepräge einer in sich selbst ruhenden Sammlung und Geschlossenheit, und wenn er sich mit Hilfe einer unablässig auf und ab federnden Bewegung in den Zustand einer flackernden Erregtheit versetzt, die nicht nur den Körper, sondern das ganze Sein ergreift, so gibt es für ihn keinen ruhigen Atemzug mehr. Er atmet vielmehr in der gleichen Vibration, die ihn als Ganzes durchbebt.«29 Selbstverständlich erweist sich die Notwendigkeit des Ein- und Ausatmens als grundlegend wichtig für den Sprung, so wie für jeden physischen Einsatz mit dem Charakter einer Entladung. Hier trägt die Kraft des Atems zur luftig leichten Erscheinung des Akts bei, wobei die atmosphärischen Bewegungen, die den Tänzer in die Höhe tragen, den pneumatischen Variationen entsprechen, denen der Körper als Instrument dient. Indem er vom Luftanhalten bis zur Wiederaufnahme des Atems zur erdverbundenen Schwere niedergeht, gleicht er aus seinem tiefsten Inneren heraus den Meteoren: »[Setzt der Tänzer zum Sprung an,] so jagt er den Strom seiner Atemkraft blitzschnell von unten nach oben, von den Füßen an aufwärts durch den Körper, um ihn im Augenblick des Abstoßens vom Boden anzuhalten und so lange zu ballen, bis er den Höhepunkt seines Sprunges erreicht und fast schon überschritten hat. In diesen wenigen Sekunden seiner äußersten Anspannung und Atemballung aber hat er sich wirklich aller Erdenschwere enthoben, wird zum Geschöpf der Luft und scheint durch den Raum zu fliegen oder zu schweben. Erst mit dem Absinken der Sprungkurve strömt der Atem wieder in den sich gleichzeitig entspannenden Körper zurück und gibt den Tänzer nach seinem kurzen Höhenflug der Erde wieder zurück.«30 Jener Beschreibung von Mary Wigman kann man Nijinskys ›Sprung‹ annähern, wie ihn Paul Claudel bei ihrem Treffen in Brasilien erlebte. Jene strahlende Begegnung zwischen dem Dichter der »Fünf großen Oden« und dem Tänzer brachte einen der schönsten Texte hervor, die jemals über Tanz geschrieben wurden, und den Dominique Dupuy mehrfach zitiert: »Er brachte den Sprung, das heißt den Sieg des Atems über das Gewicht.«31 29 | Mary Wigman: Die Sprache des Tanzes, München: Ernst Battenberg Verlag 1963/1986, S. 11. 30 | Ebd., S. 11f. 31 | Paul Claudel: »Art Poétique«, in: Oeuvres Complètes, Gallimard, La Pléiade, zitiert in: Dominique Dupuy: »L’alchimie du souffle«, in: Marsyas Nr. 32, Dezember 1994, S. 31 und 35.

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Übrigens hat der zeitgenössische Tanz niemals eine verbindliche ›Atemmethode‹ fi xiert. Man erkennt wohl in dem (grundlegenden) Text von Mary Wigman, wie der Körper in Bewegung gemäß einer spontanen Abmachung mit seinem Atem lebt, die nicht in die Form genau formulierter Beschränkungen gepresst werden muss. Jener Standpunkt ist nicht völlig unbeeinflusst von einem gewissen Skeptizismus gegenüber dem allzu unmittelbar organizistischen Aspekt der Atemdisziplinen, die sich nicht in einem poetischen Bemühen um die Erneuerung des Sinns äußern. Mechanisierende oder dissoziative Techniken werden ebenfalls von Jacques Garros in Frage gestellt, dessen Forschungen und Lehren über den Akt der Atmung in der französischen Tanzwelt wohlbekannt sind.32 In dieser Hinsicht zitiert Hubert Godard zu Recht Matthias F. Alexander »der gegen jede direkte Atemarbeit war, sondern für ein stärker geschärftes Bewusstsein der Selbstwahrnehmung«. Dennoch wurden, wie Godard fortfährt, durch den Gebrauch seiner Methode bemerkenswerte Verbesserungen der Atemtechnik entdeckt.33 Daher ist das Bewusstsein für den Atem und seine Ressourcen für den zeitgenössischen Tänzer wichtiger als ein ritualisiertes Studium. Die (geschulte) Atempraxis verschränkt sich mit den Bedürfnissen und Qualitäten der Geste. Manchmal ist es die Geste, die als sichtbare Seite der Praxis die innere Atmung offenbart: Durch das Schleudern (von Schleiern, von Gegenständen) als funktionellem Aspekt des Schwungs gelang es Dalcroze, wie auch Humphrey in »Soaring« (1924), den Impuls eines auslösenden Atems sichtbar zu machen. Hier finden wir erneut das berühmte Streben nach einem ›anthropologischen Kontinuum‹, das den zeitgenössischen Tänzer über das Körpergedächtnis mit den grundlegenden Gesten verbindet: Alle Arbeitsbewegungen, die auf jenem Typ der Akzentuierung gründen, insbesondere der Gebrauch von ›Werkzeugen, die durch Schwungperkussion wirken‹ (wie es im ethnologischen Jargon heißt) wie Sense, Sichel, Bumerang usw., finden ihre Kraft im Atem. In Régine Chopinots »Végétal« (1995) werden die Handlungen des Schleuderns in genau diesem grundlegenden Sinne eingesetzt. Sie beziehen ihre Poesie ebenso aus dem Atmen der Tänzer wie aus dem Verstreuen und schimmernden Davonfliegen der Blätter, die der Bildhauer Andy Goldworthy auf der Bühne angehäuft hat. Doch muss jenes Bewusstsein für den Atem immer wieder neu überprüft, durchdacht und erspürt werden. Deshalb hat der zeitgenössische Tanz in allen Etappen seiner Geschichte als Hilfsmittel oder Reflexionsgegenstand 32 | Jacques Garros: »L’acte respiratoire est le chemin«, in: Marsyas Nr. 32, S. 53-56. 33 | Hubert Godard: »Le souffle, le lien«, in: Marsyas Nr. 32, S. 27-31.

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auf die großen Techniken des Orients oder des Mittelmeerraums zurückgegriffen, für die die Atmung die physische und metaphysische Quelle jeder umfassenden Suche des Wesens darstellt. Sehr schnell nahmen die modernen Strömungen des Bewegungsstudiums die Errungenschaften und den Reichtum an sensorischen und intellektuellen Kenntnissen wahr, die die orientalischen Wissenschaften in ihrer langen Tradition entwickelt hatten: von Rudolf Steiners »Eurythmie« in Deutschland bis zu den YogaTechniken, die die Denishawn-Schule an die kalifornische Küste importierte. Somit hat das pneumatische Denken des Orients großen Einfluss auf die Körper ausgeübt, ihre inneren Höhlungen tiefer gegraben und den Gedanken Frische eingehaucht – weit mehr als durch die offenkundig orientalischen Formen, die Ruth St. Denis in ihren Tanz aufnahm. Vermutlich hat der Orient den abendländischen Tänzer am meisten durch jene Atemübungen geprägt, bei denen er unsere Bronchien, Kehlköpfe und Nasenhöhlen durchdrang, die in der Disziplin des ›Pranayama‹ so meisterhaft gesteuert werden. Diese Prägung erstreckt sich bis in die pneumatische Architektur unserer Körper hinein. Die Geschichte jener Beziehungen lässt sich von den ersten Entdeckungen indischer Techniken um die Jahrhundertwende bis hin zur Ankunft bedeutender asiatischer Meister wie Miro Ito verfolgen. Sie reicht von der Entdeckung der Kampfkünste und der Bedeutung des ›Aikido‹ in den 60er Jahren bis hin zu dem Einfluss, den die Gedanken des Sufi-Dichters Mawlana über den kreisenden Atem bei einigen amerikanischen Tänzern wie Laura Dean oder Franzosen wie Alain Buffard hinterlassen haben, der lange Zeit Interpret von Larrieu war. Gerade Buffards ›Atemphrasierung‹ ist durch Mawlana in kaum zu vernachlässigender Weise geprägt. Schon bei den Studenten der Denishawn-Schule war die Treue zum Atem und besonders zum Geist des Yoga offensichtlich. Vor allem bei Graham, für die die Lungenbewegungen die zwei alternierenden Phasen der Bewegung und ihres Ausdrucks bestimmen. Der Atem zeigt jene grundlegende Wechselbewegung durch tatsächliche Veränderungen der Körpermaterie an. Getrud Shurr, eine von Grahams Partnerinnen der ersten Stunde, beschreibt das fortschreitende Entziffern jenes körperlichen Rätsels in äußerst erhellenden Worten: »Wir entdeckten, dass sich beim Ausstoßen des Atems unser Skelett bewegte, der Beckenknochen nach hinten glitt, dabei immer noch die Ausrichtung Schultern-über-Hüften beibehielt, während das Nervensystem die Höhe der Sitzposition absenkte. Beim Einatmen der Luft nahm das Skelett wieder seine ursprüngliche Position ein, in die es durch eine Kontraktion in der Reihenfolge Hüften-Wirbelsäule-Schultern zurückkehrte. Die Muskeln bewegten sich gemeinsam mit dem Skelett […] In der Entspannung

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kehrten die Muskeln in ihre Ausgangsposition zurück.«34 Die Grundlagen der Graham-Technik entstammen also einer »neuen Einstellung zur Physikalität, ausgehend vom Atemprozess.« In der Kunst von Doris Humphrey spielt der Atem eine ganz andere Rolle. Bei ihr weist die Poesie alternierender Zustände, in der sich die Geste als Erschütterung der Statik zwischen Sturz und Aufschwung manifestiert, den Schwankungen des Gewichts eine größere Bedeutung zu. Den zutiefst melodiösen Charakter ihrer Kunst, der auf dem modulierenden Wechselspiel zwischen Lungenvolumen und Körpermasse beruht, beschreibt ihr Schüler José Limón liebevoll als eine Folge von Atmungen, die gemeinsam dem Körper seine Linie verleihen: »Sturz und Aufschwung – Atmung – Innehalten – Spannung und Entspannung – Atemphrasierung – Atemrhythmus. Immer der Atem. Sie bewegte sich wie eine Gazelle.«35 Dieselbe Metaphysik des Atems findet sich bei Cunningham, für den der Fluss der Dinge, des Wassers, der Luft und das Vergehen der Spiegelungen des Seins das Grundgewebe einer ›Passage‹ bildet, in der die Atmung ihre Zwischenräume erzittern lässt. Darin zeigt sich der Einfluss eines relativistischen Materialismus, dessen Wurzeln ebenso auf Seiten von Demokrit und Lukrez zu suchen sind, wie auf Seiten der Zen-Philosophie und ihrer Öff nung für die vielgestaltige Fülle des Möglichen. Für Cunningham bedeutet die Atmung ein Alternieren der Zeitdimensionen. Sie wird per Definition zur Erfahrung jener vielgestaltigen Zeit im Körper und steht somit beispielhaft für die endlose Arbeit des Tänzers, der an der Schwelle einer Zeitenwende »täglich die alten Erfahrungen erneuert und nach neuen sucht.«36 Noch tiefer geht der Ansatz eines Membrankörpers, wie er im Denken und der Lehre von Jerome Andrews praktiziert wurde und heute von Dominique Dupuy weitergeführt wird. Die drei horizontalen Membranen des Beckens, des Brustkorbs und des Schädels sind, wie Dominique Dupuy bemerkt, alle gleichermaßen Grenzen und Vermittler, die zugleich zum gleichmäßigen Durchströmen und zur Filtrierung dienen. Zu jener Aufzählung der wichtigsten Membranen kommen die anderen Filtergewebe hinzu und die Haut der Fußsohlen, die die Tänzer als »Bauch des Fußes«37 bezeichnen. Die Arbeit an jenen Durchgangsorten führt zu einer zirkulatorischen Körperpraxis mit ständigem Funktionswechsel. Diese Erfahrung 34 | M. Horosko (Hg.): Martha Graham, the Evolution of her Theories and Training, S. 37-38. 35 | José Limón zitiert in D. Lewis: The Illustrated Technique of José Limón, New York: Haper & Row 1989, S. 18. 36 | Merce Cunningham: »Function of a Technique for Dance«, in: Walter Sorell: The Dance has Many Faces, S. 34-38. 37 | Dominique Dupuy: »L’alchimie du souffle«, S. 32.

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erinnert stark an den ›organlosen Körper‹, ein Bild das, wie wir nicht vergessen sollten, Gilles Deleuze und Félix Guattari aus dem »nach dem Atem ausgerichteten« Körper Antonin Artauds38 entwickelt haben. Von allen Phasen der Atmung schenkt Dominique Dupuy der Ausatmung die meiste Aufmerksamkeit, nicht nur weil sie der Entladung der Geste Nahrung gibt, sondern weil sie mit der Empfindung der Luft als bloßem Vorüberziehen und somit mit der Erfahrung von Verlust verbunden ist: »Die Luft ist kein Eigentum: Man nimmt sie in sich auf, aber man kann sie nicht behalten. Sie wird durch den Prozess des Ausstoßens und durch die Betonung, die man ihr verleiht, wieder hergegeben und geht erneut verloren.«39 (Indem man der Betonung in der Poetik des Atems eine Bedeutung zuweist, erinnert man zwangsläufig an die Verbindung zwischen den Membranen und dem Gewicht, das es in zahlreichen Handlungen, bei denen die inneren Filter verkleinert, gekräuselt und zurückgezogen werden, hochzuheben, zu drücken und durch Verdrehen zusammenzupressen gilt.) Durch jenen Verlust der Luft kommt es zum Verlust des Atems, der Atemlosigkeit, einem Ausdruck der Atmung, der sich der bewussten Kontrolle entzieht. »Denn in der Atemlosigkeit liegt eine innere Leidenschaft«, schreibt Dominique Dupuy weiter, »deren absichtliches Hervorrufen interessant sein könnte«, 40 so sehr katapultiert jener Erschöpfungszustand den Körper in einen Zustand, in dem er sich, wie am Rande der Trunkenheit, tiefgreifenden Erschütterungen überlässt. Im Übrigen offenbart sich uns die Macht der pneumatischen Maschinerie stets in der Atemlosigkeit: Durch die ununterdrückbaren Wellenbewegungen des panischen Zwerchfells werden Körper und Bewusstsein vollkommen mobilisiert. Dies äußert sich in Spasmen und einem bis zum Kontrollverlust bebenden Brustkorb. Die Tatsache, dass die Erfahrungen intensiver Zustände, die zur Atemlosigkeit führen (beschleunigte oder heftige Bewegungen, Emotionen usw.) mit entscheidenden Lebenssituationen zusammenhängen, macht den Tanz zu einer Art Experimentierbühne unseres Seins. Meditativer ist die Erfahrung der Intervallstadien zwischen Ausdehnung und Kontraktion der Membranen, jenen mehr oder weniger langen Augenblicken des Luftanhaltens (bei vollen oder leeren Lungen, je nach der Qualität des gesuchten Zustands). Genau an diesem Ort des Dazwischen, am Kreuzungspunkt der entgegengesetzten Strömungen, erwacht das Mâ der japanischen Zen-Philosophie, das mehr eine Auflösung oder ein Abgleiten 38 | Gilles Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 14. 39 | Dominique Dupuy: »L’alchimie du souffle«, S. 33. 40 | Ebd.

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als eine Überlagerung ist. Dominique Dupuy schreibt weiter: »Schließlich führt uns das Ausatmen zur Leere, dem Mâ der Atmung. Jener Augenblick der ausgehaltenen Leere hat nichts mit dem stockendem Atem, dem AußerAtem-Sein zu tun. Es ist ein Augenblick äußerster Wachheit, in dem die Zeit stehenbleibt und man sich in der Erwartung befindet, ›einen weiteren Augenblick zu erleben‹.« 41 Der Atem-Akt ist vermutlich eine der seltenen Situationen, in der man sich der Dualität von Leere und Fülle in experimenteller Art und Weise annähern kann und durch die sich jene Dualität als körperliche Entscheidung im Tanz einsetzen lässt. Obwohl er seine Suche im Zeichen des Mâ ansiedelte, gelang es Hideyuki Yano, jene Annäherung an die Leere zu einer Poetik zu machen, die zwar ihre Wurzeln in der körperlichen Erfahrung behielt, diese jedoch transzendierte, fast auslöschte und nur ungreif bare Variationen von ihr in Erinnerung behielt. Yano machte die Leere zu einem Gestaltungsrahmen der Vorstellungswelt, innerhalb dessen jeder Tänzer dazu aufgerufen war, nach seiner eigenen Bresche, seinem unerreichbaren Punkt zu suchen. Manchmal forderte er seine Interpreten auch auf, eine ›Figur‹ als Splitter eines umherirrenden Bewusstseins zu erarbeiten, wie er selbst es gerne ausgehend von mythisch aufgeladenen Texten tat. Auch Meredith Monk erfindet oder entdeckt vielmehr durch ihren Atem eine Welt unbekannter ›Figuren‹, die in den geheimnisvollen Geographien der Körperzustände schlummern oder verschüttet sind. Vom Tanz her kommend und dann an den Experimenten der Judson Church beteiligt, hat sie innerhalb der Präsenz des Körpers, der Stimme und des Gesangs neue Zustände des Zeit-Raums erfunden. Es handelt sich um eine narrative Kunst, die sich vollkommen der (voreiligen) Einordnung unter die nicht-gegenständlichen Künste der Avantgardebewegungen entzieht und im Grunde eine ›Rückkehr‹ zur Theatralität ist. Meredith Monk enthüllt uns ein Theater der gleichmäßigen Komposition ohne einen Augenblick der Krise oder der Neuausrichtung. Dies ist ein guter Beweis dafür, dass es im Tanz weniger um die Beziehung zur Narration geht, als um Verfahren zur Organisation von Spannungen. Ihre Gruppenstücke, die wie »Education of a Girlchild« (1972) häufig auf einer Ästhetik der ›Figur‹ auf bauen, sind ausgehend von Bewegungen komponiert, und vor allem ausgehend von einer beeindruckenden Kunst der Präsenz singender und tanzender Interpreten. Doch stützen sich die Rollen der Interpreten und die Verteilung der Figuren im Wesentlichen auf eine Klaviatur von Singstimmen, vom kristallklaren bis hin zum samtigen oder rauen Timbre, die ihre künstlerische Kraft hauptsächlich aus jener tiefgehenden Präsenz des Körpers schöpfen, wobei die Entwicklung von Räumen, Zeitlichkeiten 41 | Dominique Dupuy: »L’alchimie du souffle«, S. 33.

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und Stimmungen quasi statisch bleibt. Die Atemarbeit liegt nicht nur im Gesang. Sie wird sichtbar. Für Monk konstruiert sich die Stimme durch das und mit dem gesamten Wechselspiel zwischen der Fülle und der Leere des Körpers, dem ganzen Dasein, so einfach und entspannt es auch sei, ohne dass künstlich etwas hinzugefügt werden müsste. Für sie gehört die Stimme zur Geste und entsteht vor allem durch ein Körperbewusstsein, das dem tanzenden Körper eigen ist: »Die tanzende Stimme, so beweglich wie die Wirbelsäule.« 42 Jener Atem durchströmt die Geste, die in der Zeit mit den Augenblicken des A-capella-Gesangs abwechselt oder ihnen entspricht. Gesänge und Gesten beschwören einen unlesbaren Text ohne jede Referenz; dennoch scheint das extatische unverständliche Sprechen, das als Text dient, sehr schnell auf einen Sinn zu verweisen. Die Vokalisen, Kehl- und Vibratolaute sind wie ›Sprach‹-Elemente, durch die sich Handlungen, Emotionen und Charaktere abzeichnen. Doch vor allem machen sie noch stärker deutlich, wie in Monks Arbeit der gesamte Körper vom Atem durchströmt wird. Es handelt sich nicht um eine spektakuläre Inszenierung der Stimme, sondern um ein ›Theater‹, das sich von ihr ausgehend konstruiert. Jenes Theater entsteht durch die unterschiedlichen Intensitäten und Qualitäten jeder einzelnen Stimme, und auch innerhalb der Stimme einer jeden Interpreten-Figur. Meredith Monks Theater an der Grenze zwischen Konzert und Bühnenhandlung, zwischen Tanz und Installation, ist ein Theater der Membranen, das einer seltsamen Erinnerung an Wesen und Dinge einen Körper zu verleihen scheint. Eine Archäologie von Körperzuständen, wie sie in ihrem Film »Book of days« (1987) über eine jüdische Gemeinde im mittelalterlichen Okzitanien enthalten ist. Auch in »Dolmen« (1978), einer träumerischen, vollkommen handlungsfreien Beschwörung übriggebliebener Materialien, Gegenstände und Körper, die in einen Zustand jenseits der Zeit einzutreten scheinen, findet die Geste unter Führung der Stimme nach und nach ihren Platz in einer Art vorsprachlichem Gedächtnis. 43 Dank neuer orientalischer Einflüsse, besonders durch die Kampf künste, konnte der Atem in mehr oder weniger spektakulärer Weise auf den perkussiven Aspekt einer Geste einwirken oder das Zusammenziehen des Gewebes zu einem unveränderlichen Zustand des Widerstands begünstigen. Besonders deutliche Beispiele dafür sieht man in bestimmten Produktionen, die der japanischen ›Butoh‹-Strömung entstammen, wo der orien42 | Meredith Monk: »Notes on the Voice«, Nachdruck in: Sally Banes: Terpsichore in Sneakers, Boston: Houghton & Miffl in 1980, Neuauflage Univ. of Wesleyan Press, 1987, S. 166-167. 43 | Siehe die Beschreibung von Monks Lehre in: Louise Steinman: The Knowing Body, Boston: Shambala Press 1985, S. 73-74.

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talische Verweis wesentlich stärker ausgeprägt ist, als es die geographische und kulturelle Herkunft der Tänzer rechtfertigen würde. Die athletische Akrobatik, die die Tänzer der Gruppe Sankaï Juku häufig einsetzen, beruht auf komplexen Atemtechniken. Dominique Dupuy zitiert Amagatsus »auf die Bühne Fallen«, seinen »Sturz der ganzen Länge lang nach hinten« als einen besonders mitreißenden Moment. Dieser Sturz ist mit dem Anheben des Zwerchfells verbunden und illustriert »das Auslösen einer inneren Bewegung von unerhörter Intensität und Heftigkeit«, das Dominique Dupuy ein wenig später als »wahrhaften Sturz« bezeichnet, der mit dem Auf- und Absteigen des Atems zusammenhängt. Manchmal ruft der Einsatz der Atmungsenergie impulsive Gesten hervor, die in ihrer Intentionalität an gewisse Bewegungsabläufe orientalischer Kampfsportarten erinnern. Durch eine Ästhetik der Verzweiflung macht sich der Körper zur Ausscheidung, als wolle er sich jeglicher Zweckgerichtetheit oder jeglicher Gestaltung von Sinn entziehen. Dies war auch eine der zutiefst nihilistischen Wurzeln des Tanzes von François Verret, insbesondere in seinem denkwürdigen Duo »Tabula Rasa« mit Alain de Raucourt: einem Tanz von Männern, die bis ans Äußerste ihrer eigenen Bewegung getrieben wurden, die sich in der keuchenden Energie einer unvollendeten Geste auflöste. Ein organischer Exzess, der keinen anderen Widerhall als das Ausleben seiner eigenen Spasmen zuließ. Verrets gesamtes Werk und auch die Arbeiten anderer Künstler, die zeitweise von ihm inspiriert waren (von Diverrès bis Monnier), sind durch diesen Akt des Risses entstanden. Das von den Kampf künsten entlehnte Handwerkszeug, ihre erbitterte Behandlung des Konflikts und des Atems bis in das Stoßen der Geste hinein, haben entscheidend zur Gestaltung der französischen Tanzästhetik der frühen 80er Jahre beigetragen. 44 Man sieht hier noch einmal, wie ein gestalterischer Antrieb, der von der Moderne geduldig hervorgebracht und angewendet wurde, im Verlauf der späten 70er Jahre und noch mehr in den 80er Jahren zu einem unmittelbaren Ausdrucksmittel wurde. Dramatisiert, als akustischer oder optischer Effekt genutzt, ertönte der Atem völlig unverstellt. Einerseits zeugte dies von einer Ablehnung der diskret unterdrückten Atemlosigkeit des akademischen Tänzers, der stets angewiesen war, die Maschinerie seines Körpers zu verbergen. Andererseits dokumentierte es auch den Willen dazu, die animalische oder wilde Konnotation dieses Körpers auszubeuten, die klangliche Analogie zu Seufzern oder den ›Un-Stimmen‹ starker Gefühle 44 | Zur Untersuchung dieser Elemente vgl. Jean Pomarès: »De la formation à la création«, in: Parcours, cahiers publiés par la Direction Régionale des Affaires Culturelles, Provence-Alpes-Côte d’Azur, Winter 1995.

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wie Schmerz, Wut, Schrecken und sexueller Lust. Vielleicht ging es auch, wie bei Joëlle Bouvier und Régis Obadia, um die Wiedererweckung einer freudschen ›Urszene‹, wo der Körper sich an der Schwelle zu etwas Verbotenem befindet und sie durch den Tanz permanent überschreitet. All diese Meinungen sind stimmig und haben im Tanz der 80er Jahre die raue Symphonie der Atemklänge ertönen lassen. Man wird später noch sehen, wie sehr dies die Beziehung zwischen Tanz, Körper und Klang geprägt hat. Unabhängig von jenen Figuren der semantischen Anwendung bleibt der Atem eine existenzielle Praxis der Körperkonstruktion. Den Atem des Tänzers zu lesen bedeutet nämlich, unabhängig davon, wie dieser Atem eingesetzt wird, von diesem Atem mitgerissen zu werden, sich von einem Hauch ergreifen zu lassen, der alle Körper in dieselbe Verausgabung oder in dasselbe Innehalten versetzt. In dieser Hinsicht verbreitete Daniel Larrieus in einem Schwimmbecken getanztes »Waterproof« den Eindruck, man halte gemeinsam mit den Interpreten die Luft an und stellte eine mächtige Empathie zwischen dem Atem der Zuschauer und den leeren Lungen des Tänzers her, der wie eine Blase ohne jeden organischen Inhalt bald hierhin bald dorthin getrieben wurde. Somit wird der Nicht-Atem, bei leeren oder vollen Lungen, zu einer Art Ballast, der sich auf das Gewichtsempfinden, das mit der Erdanziehung verbundene Gewebe des Zuschauers auswirkt und zur Übertragung von Wahrnehmungen und Zuständen führt. Durch die Einwirkung des Nicht-Atems wird die Zeit zu einer ebenso feinen wie durchgängigen Spannungslinie. »Waterproof«, ein großartiges Werk der 80er Jahre, führte zu einer völlig neuen Erfahrung von Dauer: einer amphibischen Dauer zwischen Luft und Wasser, zwischen der kristallenen Kälte der Abgründe und der feuchten Wärme eines Schwimmbeckens. So kann aus der tiefgreifenden Trennung der Atemzustände eine unfehlbare Poetik entstehen, eine reine Empfindung des Nicht-Darstellbaren, deren Ausdrücke sich dem Sehsinn entziehen.

Die vier Fak toren – Das Gewicht »Man denkt den Körper nicht, wenn man ihn sich nicht als schwer denkt.«

J.-L. Nancy Labans Genialität bestand vor allem darin, den Körper ›in Bewegung‹ zu betrachten, und nicht einen idealisierten unbeweglichen UrsprungsKörper, dem die Bewegung ihre Antriebe nachträglich einprägen würde. Das Bindewort, das den Ausdruck ›Körper‹ an den Ausdruck ›Bewegung‹ knüpft (wie übrigens auch an den Ausdruck ›Tanz‹), sollte immer ›in‹ sein

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und nicht ›und‹. Ausgehend von einer solchen Überlegung gelang es Laban in einem ersten Schritt, die vier bewegungskonstituierenden Faktoren zu enthüllen. In einer zweiten Etappe entwickelte er den Begriff des ›effort‹, der äußerst nützlich für die Wahrnehmung des poetischen Antriebs einer Bewegung ist. Für die Schüler Labans gestaltet sich der Körper als ›Beziehungsgeographie‹ 45 ausgehend vom inneren Drang (inner impulse), eine Beziehung nach außen zu kehren, und mehr noch, sie zu symbolisieren. Man darf darin nicht die Vorrangstellung einer Beziehung zwischen Innen und Außen sehen, die sich auf einen Prozess der Veräußerlichung des ›Ich‹ als eines kontinuierlichen und abgeschlossenen Wertes beschränken würde. Das ›Ich‹ ist im Tanz in ständiger Bewegung. Denn es ist gleichzeitig Objekt und handelnde Instanz des Zirkulierens von Beziehungen. Die von Laban aufgezählten vier Faktoren sind in gewisser Weise die ›Schlüssel‹ (im musikalischen Sinne) zu diesem Zirkulieren. Die vier Faktoren sind die sensiblen Vektoren dieser Gestaltung: Gewicht, Fluss (das heißt Intensitätsgrad der Muskelspannung), Raum und Zeit. Unter jenen vier Faktoren nimmt der wichtigste, das Gewicht, eine Sonderstellung ein: Es ist zugleich das Agens und das Patiens der Geste. Jede Bewegung definiert sich durch einen Gewichtstransfer. Labans Kinetographie hat daraus ab den 20er Jahren eine offene Einheit gemacht, die jedem motorischen Akt als Grundlage dient. Doch das Gewicht wird nicht nur transferiert: Ausgehend von seiner eigenen Empfindung nimmt es selbst Transfers, Konstruktionen und Symbolisierungen vor. Die anderen Faktoren dienen dazu, das Gewichtsempfinden qualitativ zu definieren und je nach den unterschiedlichen körperlichen Farbgebungen zu verteilen. Eigentlich existieren die vier Faktoren nicht an sich: Sie werden nicht vom Gesichtspunkt ihrer eigenen Substanz aus begriffen, sondern ausschließlich durch die Beziehung, die wir mit ihnen unterhalten können. Jene Bedingung seines Denkens wird Laban durch die Entwicklung der ›effort‹-Theorie in eine eindeutige Form bringen. Raum, Zeit und sogar Gewicht existieren erst, wenn ich aus ihnen ein kompliziertes Geflecht miteinander verschränkter Grundsatzentscheidungen webe. Diese Grundsatzentscheidungen sind das Leben selbst: Sie sind gleichzeitig Aktivitätsund Ästhesie-Vektoren (drives). Nichts ist aufschlussreicher, als die Gestik von Depressiven oder Schizoiden in labanscher Kinetographie aufgezeichnet zu sehen, in der sich die Verkümmerung der Faktoren abzeichnet: segmentarische Bewegungen, denen jegliche Beziehung zum Raum und jegliche posturale Grundlage fehlt, die bei den Schizophrenen noch nicht 45 | Irmgard Bartenieff und Dori Lewis schlagen diesen Begriff in Body Movement Coping with the Environnement, New York: Gordon & Breach 1980, vor.

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einmal entwickelt werden kann; solcherart sind im Allgemeinen die Beobachtungen, die Bartenieff aufzeigte, als sie die Bewegungen von Patienten ›notierte‹, bevor sie die Tanz-Therapie als Öffnung für den Bereich des Zwischenmenschlichen praktizierte (das heißt vor allem für den konstitutiven Bereich des Subjekts). Selbstverständlich sind auch ›gesunde‹ Subjekte nicht unbedingt im Einklang mit dem Bewusstsein der vier Faktoren. Eine vergleichbare Athrophie kann auch unsere Beziehungen zu Raum, Zeit, unserem Körpergewicht und den Variationen der Energieintensität verkümmern lassen. Dies führt zu einer Verminderung der Sensibilität und der Kinästhesie, und somit zu jener Art körperlicher Taubheit, die für Musik und für die Künste des Raums unempfänglich macht. Und noch weitaus unsensibler für den Tanz, der ja mit dieser »Beziehungsgeographie« spielt. Von den vier Faktoren ist das Gewicht also der wichtigste. Dennoch wird es vom Großteil des Publikums kaum wahrgenommen, da es nicht Teil der etablierten Axiomatik zur Beurteilung von Geistes- oder Kunstwerken ist. Während unsere übergeordneten Sinne (das Gehör und besonders der SehSinn) als Kanäle eines idealisierenden Denkens betrachtet werden, wird dem Tastsinn, den man zu den untergeordneten Sinnen zählt, keine solche Möglichkeit zugestanden. Nun richtet sich aber die Veränderung im Umgang mit dem Gewicht, unserem eigenen wie dem der anderen, ganz wesentlich an den Tastsinn. Das Bahnbrechende an Labans Denken war nicht nur, dass es den Umgang mit dem Gewicht zum Schauplatz einer symbolischen Konstruktion machte, die ebenso bedeutend wie die Konstruktionen der Klänge, der Wörter, der Linien und der Farben war. Revolutionär war Laban vor allem dadurch, dass er noch in seinen letzten Lebensjahren die Grundsatzentscheidungen des Gewichts zur (vor ihm ungedachten) Wurzel aller kulturellen Prozesse erklärte, und zwar sowohl auf der Ebene des Individuums als auch auf der Ebene der Gruppen. 46 Die Bedeutung des Gewichts ist eine der großen Entdeckungen des zeitgenössischen Tanzes: Gewicht nicht nur als Faktor der Bewegung, gemäß einer vereinfachend biomechanischen Sichtweise, sondern als wichtiger poetischer Antrieb. Dies geschieht zunächst durch eine ›Zustimmung‹ zum Gewicht: »Eine der wichtigsten Entdeckungen des modernen Tanzes«, erklärt Cunningham, »ist der Gebrauch der Erdanziehungskraft ausgehend vom Körpergewicht. Das heißt, dass der Körper, im Gegensatz zu dem Körper, der die Erdanziehungskraft leugnet (und sie dadurch bestätigt), indem er sich in 46 | Rudolf von Laban/F.C. Lawrence: Effort, London: Mac Donald & Evans 1947. Darlegung der Theorie in: Lisa Ullman (Hg.): The Mastery of Movement, London: Mac Donald & Evans 1960.

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die Höhe schwingt, der Erdanziehungskraft gehorcht, indem er zu Boden geht.« 47 Das Gewicht zu akzeptieren und mit ihm wie mit einem lebendigen und produktiven Material zu arbeiten, war ein Grundprinzip der Tanzmoderne. Besonders ausgeprägt ist dies in der Lehre und der Kunst, die der deutschen Schule entstammen: Für die Wigman-Schülerin Karin Waehner zum Beispiel ist das Gewicht nicht nur ein künstlerischer Antrieb, sondern ein Thema, ein Forschungsgegenstand, der für sich alleine eine kompositorische Herangehensweise rechtfertigt. (Genau wie sich ein Nikolais-Workshop thematisch mit der ›motion‹ beschäftigen könnte.) Der Umgang mit dem Gewicht, bei dem das Subjekt entweder sein eigenes Gewicht auf sich nimmt oder sich im Gegenteil der Erdanziehungskraft hingibt, bezeichnet die zwei Pole, die im Wesentlichen die Poetik des Gewichts artikulieren. Der von Doris Humphrey erwähnte ›vertikale Tod‹ 48 bezieht seine Statik aus einer Fixierung des gesamten Gewichts durch die Spannmuskeln: Er ist eine Arbeit des Aufrechterhaltens durch ›kontinuierliche Anpassungen‹ des gesamten Körpergewebes. Um ihn zu verlassen, um das Gewicht freizugeben, gibt es zwei Figuren: das Schwingen (swing) und den Sturz (fall). Im Gegensatz zu der rein mimetischen Interpretation des Sturzes durch tanzfremde Beobachter, besonders durch die Anhänger der Lehre Bachelards, die ihn in das ›nächtliche Reich‹ der Vorstellung einordnen, 49 hat der Sturz hier nichts von einer Grablegung, da er ausgehend von der Vorstellungswelt des Körpers geschieht. Er ist im Gegenteil eine Befreiung vom ›vertikalen Tod‹, da das Körpergewicht seiner eigenen Neigung nachgibt. Diese Neigung ist immer nahe an einem Schwingen (und somit an einem Rhythmus), das nicht auf halbem Wege unterbrochen wird. Jede Bewegung ist ein aufgeschobener Sturz, und die Art und Weise, wie man diesen (im Übrigen vollkommen erwünschten) Sturz aufschiebt, macht die Ästhetik der Geste aus. Über die Poetik des Sturzes gibt es zahlreiche Texte, angefangen mit jenen von Doris Humphrey. Sie sind Teil eines schönen Korpus, der den Sturz und seine Auswege (den Aufschwung, das Aufspringen) mit jener Poetik des Schwankens verbindet, die im zeitgenössischen Tanz so wichtig ist. »Ein Spiel des Zirkulierens rund um die Achse der Schwerkraft«, schlägt Hubert Godard vor und ver-

47 | Merce Cunningham: »Space, Time, Dance«, in: Transformations, New York 1952. 48 | Und das folgende Zitat: Doris Humphrey: Die Kunst, Tänze zu machen. Zur Choreographie des modernen Tanzes, Wilhelmshaven: Noetzel 1985, S. 122. 49 | Gilbert Durand: Structure anthropologique de l’imaginaire, Paris: Bordas 1969, S. 127-146.

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tritt dabei das Denken eines »Wertes, der nur ein Wert des Zögerns sein kann.«50 Der Sturz, eine Art Leitmotiv des zeitgenössischen Tanzes, findet seine Vollendung im Umgang mit dem Boden. Auch für dieses Element liefert Karin Waehner eine Erforschungsarbeit und wichtige Vorschläge: der Boden als Stütze, als Liebespartner, als abstoßende Gestalt. Man kann sich unter Entspannung all seiner Streckmuskeln wie ein absolutes Gewicht in den Boden sinken lassen und dabei die Stützfläche die gesamte ihr hingegebene Gewichtsmaterie qualitativ wie quantitativ auf sich nehmen lassen. Manchmal entziehen sich Stützen dem Akt der Hingabe; dann kommt es zum Drama. So wirft sich in einem berühmten Duo aus Pina Bauschs »Café Müller« eine Frau einem Mann in die Arme, der sie nicht auff ängt. Sie fällt, als tue sich unter ihr die Erde auf. Doch ist der Boden an sich nicht nur der Ort, auf dem man liegt. Wie Odile Roquet sagt, ist er unser mächtigster Verbündeter gegen die Erdanziehungskraft.51 Eine Oberfläche, von der man sich abstoßen kann, doch die auch trägt und in uns Erinnerungen an eine Zeit wachruft, als unser Körper gehalten wurde, da er der Schwerkraft noch keine Architektur entgegenzusetzen hatte und sein weiches biegsames Rückgrat in den Schutz des mütterlichen Körpers schmiegte.52 Hier gibt sich ein Körper dem Boden hin, was jedoch keineswegs Unterwerfung bedeutet. Jene Bodenarbeit, bei der sich der Körper denkt und sich verliert, sich hingibt und den Boden in Besitz nimmt, der sich wiederum ihm hingibt, führt durch die Ruhestellung der Streckmuskeln zu außerordentlichen Bewegungsqualitäten. Zahlreiche Praktiken, aber auch zahlreiche Ästhetiken greifen darauf zurück. Es gibt Tänze, die vollkommen am Boden stattfinden, wie Trisha Browns »Accumulations« (ab 1970). Es gibt die ›Passagen am Boden‹, die zwangsläufig in fast jeder Tanzpraxis vorkommen. Jene ›Passagen‹ können Rollbewegungen sein, durch die sich der Körper vom Boden losreißt, sich fasst, die Kontrolle über sich aufgibt, und erneut kippt. Sie sind im initiatorischen Sinne des Wortes ›Passagen‹ zu verstehen, denn die Rückkehr zur Erde als erster Schritt zur Wiedereinleitung einer möglichen Vertikalität ist für den Tänzer ebenso unverzichtbar wie für den Riesen Antaios, der mit der Erde verschmolz, um neue Kraft aus ihr zu ziehen. Dennoch sind sie es, die nach Humphreys Poetik den 50 | H. Godard: »Le déséquilibre fondateur«, S. 145. 51 | Odile Rouquet: La tête aux pieds, Paris: Recherche en Mouvement 1991, S. 79. 52 | Vgl. Bonnie Bainbridge Cohen: »Perceiving in action«, in: Contact Quarterly 1984.

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›rebound‹ ermöglichen, da sich die objektive Vertikalität des Körpers in der Beziehung zwischen Auf- und Absteigen nur in Form eines ›Aufsteigens‹, wie der Titel eines ihrer Stücke (»Soaring«, 1924) lautet, rechtfertigt. Die (grundlegenden) Dynamiken des Auf- und Absteigens hängen eng mit dem Gewicht zusammen. Sie sorgen für seine Elastizität, ermöglichen ihm eine Reise zwischen zwei entgegengesetzten Polen und halten das Ambivalenzverhältnis von Sturz und Aufschwung aufrecht. Humphrey und Trisha Brown arbeiten in diesem Sinne. In Frankreich verfolgen Hervé Robbe und Odile Duboc Ästhetiken der Biegsamkeit, in denen sich die Elastizität des Raums durch den Bogen des Innehaltens erfindet. Doch lassen sich weder das Gewicht noch die anderen Faktoren isoliert betrachten. Der zweite prägnante Faktor, der ganz besonders auf die Poetik des Gewichts einwirkt, ist der Fluss. Während das Gewicht das Elementarmaterial der Bewegung darstellt, ihren Gegenstand, ihren Antrieb, ihre innere ›Aufladung‹, ist der Fluss im Grunde noch mehr mit dem ›Modus‹ des Umgangs verbunden. So sehr, dass Nikolais, als er den Begriff der ›motion‹ entwarf, gewiss an den labanschen Fluss als qualitatives Agens dachte, das in der Lage ist, einer gestischen Erfahrung Farbe zu verleihen, sie zu aktivieren und zu beleben. Je nach den Grundsatzentscheidungen des Flusses wird der Gewichtstransfer sehr unterschiedlichen Widerhall haben. Im ›gehaltenen‹ Fluss, das heißt bei stärkerer Anspannung, wird das Gewicht zu einem stetigen Strömen. Laban, bezeichnet dies in der ›effortshape‹-Lehre durch die Handlung ›Gleiten‹. Odile Dubocs Stück »Projet de la Matière« (1994), das vermutlich eines der wichtigsten im französischen Korpus der letzten Jahre ist, benutzt das Gewicht in starker Anspannung. Das Gewicht wird also durch ein stetiges Gleiten gesteigert, in das sich die Bewegung des Körpers unablässig hineinsinken lässt. Allerdings schloss die Beziehung zu den Skulpturen von Marie-José Pillet, von denen später noch die Rede sein wird, eine Kombinatorik ein, die den Modalitäten des Gleitens von Außen her eine Form vorgab. Es handelt sich um einen vollkommen neuen Umgang mit dem Gewicht im Werk von Duboc, in dem der Gewichtstransfer sonst für gewöhnlich ohne jegliche Anspannung vonstatten geht. In einer langsamen Anziehung, die sie zum Boden hinführt oder sie an eine Wand gestützt zurückhält, deren Vertikalität die Beziehungen zu einem möglichen Boden nur verschiebt, folgt die Bewegung dem Körpergewicht, bis sie in einer besonders bewundernswerten Art und Weise mit ihm verschmilzt. Doch führt diese Kombinatorik, in Dubocs Handschrift wie anderswo, automatisch zu einem besonderen Umgang mit den anderen Faktoren. Wer einer solchen Figur den Vorzug gibt, neigt zunächst dazu, mit der Zeit eine Verbindung langsamer Kontinuität zu knüpfen, da das Zirkulieren des Gewichts durch die Intensivierung der

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Muskelspannung zurückgehalten wird. Und genau wie die Zeit durch das Dahinströmen des Gewichts zu einer hör- und fühlbaren Materie wird, bringt der Widerstand des Körpers einen dichten Raum hervor, in dem der Körper ohne Unterlass seine eigenen Spuren abliest, einen rezeptiven Raum, dessen taktile Eigenschaften sich vervielfältigen können: Die Bewegung kann somit elastische oder starre, flockige oder flüssige Räume hervorbringen, je nachdem welche Qualitäten bei der spezifischen Verteilung der Muskelspannung und der Wirkung auf die Widerstände am Werk sind, zu denen ihre Intensivierung führt. Extrem unterschiedlich erscheinen die Faktoren in ihrer wechselseitigen Beziehung, sobald das Gewicht in einen freien Fluss ohne Rückhalt katapultiert wird, wie es in der Regel im brownschen ›release‹ der Fall ist, und auch, wie bereits erwähnt, in den meisten Stücken von Duboc. Dort sieht man, wie das Element der Erdanziehungskraft völlig ungebremst in einen dezentrierten Raum geschleudert wird. Die Zeit wird, wenn nicht schnell, so doch zumindest (was aus ästhetischer Sicht umso wirkungsvoller ist) in eine Art unentrinnbare Beschleunigung versetzt, welche gemäßigt, aufschoben, oder im Gegenteil in wundervollen Modulierungen beschleunigt oder phrasiert werden kann: Momente des Innehaltens, unregelmäßige Betonungen. Nun ist jene Beschleunigung aber keineswegs von physischer oder mechanischer Art: Die Fallgesetze der Körper und ihre bestimmende Einwirkung auf die Vektoren von Zeit und Raum gilt es an der Schwelle zum Körperdenken zu vergessen. Trisha Browns erste Arbeiten, die berühmten »Equipment Pieces«, bestätigen dies bis heute.53 Indem der Körper das Gesetz umgeht, das die Grundlage des Sturzes bildet, erfindet er einen neuen Sturz von existenziellem Rang, dessen Verfahren sich von vornherein auf das Poetische richten. Daher kann man in unterschiedlicher Art und Weise und gemäß unterschiedlicher Ziele in den Sturz eingreifen. Durch die Variation der Faktoren Fluss und Zeit spielt Humphrey eine ganze Reihe von Stürzen mit zurückgehaltenen oder freien Neigungen und extrem unterschiedlichen Aufschwüngen durch. In der ›contact improvisation‹, die eine unendlich konzentrierte Arbeit mit dem Gewicht ist, lässt Steve Paxton die ›Gelegenheit‹ (im etymologischen Sinn von ›occasion‹, die das Unvorhersehbare geschehen lässt) eingreifen: Dies läuft manchmal darauf hinaus, den Fluss frei zu lassen, manchmal im Gegenteil darauf, die Anspannung zu vergrößern, um die taktile Wahrnehmung zu schärfen. Der ›contact‹ 53 | Zur Beschreibung von Browns »Equipment Pieces«, insbesondere des berühmten »A Man Walking Down the Side of a Building« (1968) siehe die photographischen Kommentare von Sally Sommer in: Michael Kirby: »The New Theatre, Performance Documentation«, in: The Drama Review Band 55, Sept. 1972, S. 135-141.

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wird zwischen zwei Partnern ausgeübt. Die Idee ist dabei, sich durch ein kontinuierliches Aufeinander-Stützen zu bewegen und dabei stets einen Kontaktpunkt oder eine Kontaktfläche zu behalten. Ausgehend von jenen großen Wellen des gegenseitigen Stützens wird die Bewegung erfunden, angeboten, empfangen und verschenkt. Dies geschieht in einer Improvisation, bei der das Subjekt dem Transfer seines eigenen Gewichts in den von der Erdanziehung bestimmten Tastsinn des anderen die gesamte Initiative überlässt. Da es sich somit um ›Wege‹ des Einverständnisses zwischen den zwei Körpern handelt (pathways), bemerkt Paxton, dass »jene Wege besser wahrgenommen werden, wenn die Muskelspannung stark genug ist, um die Glieder zu strecken, jedoch nicht so stark, dass sie die Empfi ndungen des Fortgeschleudert-Werdens (momentum) oder der Trägheit überdecken würde.«54 Jenes leichte Anwachsen der Muskelspannung wird es der Bewegung erlauben, sich in einem weichen und kontinuierlichen Rhythmus zu entwickeln, auch wenn plötzliche Spasmen oder Umschwünge sie manchmal stören. Dadurch verändert sich nicht nur die Beziehung zur Zeit: Der Raum zwischen den aneinander klebenden Körpern, der zunächst begrenzt scheint, wird hie und da größer. Die Umgebungswahrnehmung des Tänzers erweitert sich. Der Raum dehnt sich wie eine undifferenzierte Umgebung um ihn aus, in der, wie Kent de Spain bemerkt, die territorialisierende Identifizierung der Gegenstände verschwindet.55 Dadurch dass seine Kinästhesie bis in in den Kern seines Gewichts hinein angesprochen wird, nimmt der Zuschauer sehr schnell an jener Erweiterung des visuellen Horizonts teil. Ein anderer beispielhafter Umgang mit den vier Faktoren vollzieht sich in Trisha Browns »Set and Reset« (1983): Dort führt das Loslassen des Körpers in einen freien Fluss zu einer multidimensionalen Simultaneitätsbeziehung zum Raum, einer schnellen ›Zeit‹. Doch sieht man deutlich, dass die Zeit hier nicht alleine auf dem Spiel steht und genauso gut überhaupt nicht auf dem Spiel stehen kann. Sie ergibt sich vollkommen aus den Modulierungen des Gewichts-Loslassens. Der Eindruck von Schnelligkeit, den jenes kleine Stück verbreitet, liegt zum Großteil am Vorhandensein von Schwüngen wie dem Loslassen und dem FortgerissenWerden des Körpers im Raum. Das unkontrollierbare Katapultieren des Gewichts durch den Körper ruft jene Plötzlichkeit des Ereignisses hervor, die sich automatisch mit der Qualität des ›sudden‹ aus den Kategorien der labanschen ›effort‹-Lehre verbindet. So wechseln die vier Faktoren ihre gegenseitigen Einflüsse ab, die ih54 | Steve Paxton: »Contact Improvisation«, in: Selma Jeanne Cohen (Hg.): Dance as a Theatre Art, New York: Dodd-Mead 1972, S. 222-227. 55 | Kent De Spain: »More Thoughts on Science and the Improvising Mind«, in: Contact Quarterly, Winter-Frühjahr 1994, S. 58-63.

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nen von Fall zu Fall eine andere Farbe verleihen, je nachdem, welcher von ihnen sich verändert. Doch kann ein Faktor auch erlöschen. Wie, wird man sich fragen? Befindet sich der Tänzer nicht stets in Zeit und Raum, und hat er nicht immer ein Gewicht und eine Muskelspannung? Vermutlich. Doch sind die Faktoren, wie bereits erwähnt, nicht als Dinge oder Kategorien an sich zu verstehen: Laban und seine Schüler bestanden auf dem rein relationellen Charakter ihrer Erscheinung in unserer Erfahrung. Doch welche poetische Wirkung können solche Elemente erzielen, wenn wir die Beziehung zu ihnen abbrechen? Die Praxis der ›effort-shape‹-Lehre erlaubt ein ›Versetzen in Ruhestellung‹, indem man die Beziehung zu einem der Faktoren abbricht. Dies geschieht zumeist durch eine bestimmte Kombinatorik der drei anderen. So löst die Figur ›kontinuierliche Zeit – gehaltener Fluss – intensives Gewicht‹, wie sie in »Projet de la Matière« oder in Browns »Accumulations« zum Einsatz kommt, die Beziehung zum Raum auf. Der Körper tritt mit seiner eigenen Materie, seiner Zeit, seiner inneren Faser in Zwiesprache. Gewiss können diese Beziehungen innerhalb einer Komposition oder sogar einer Sequenz miteinander abwechseln und sich durch eine unendliche Bandbreite von abgestuften Mutationen bewegen, denen die ›effort-shape‹-Lehre den hübschen Namen ›shades‹ gegeben hat.56 Dort befinden wir uns natürlich im Herzen der Poetik des Tanzes, dort, wo die subtilen Modulierungen von Körperzuständen ständig innere Lichter hervorrufen, deren unzählige Reflexe die Bewegung zu enthüllen versucht. So schön, so verführerisch sie auch in ihren Anwendungen und poetischen Verzweigungen sein mag, kann die Theorie der vier Faktoren und noch mehr ihr Gebrauch in der ›effort-shape‹-Lehre (die, wie wir nicht vergessen sollten, weniger eine Bewegungstheorie als vielmehr eine Poetik anbietet) für uns keinen Moment absoluter Vollkommenheit darstellen. Zwar ist ihre Kenntnis von grundlegender Bedeutung, doch ist sie nur eine Etappe auf der Suche nach einem ›choreographischen Material‹ von viel umfassenderem Rang, das auch viel verstreuter ist und sich den festen Rahmen der Verteilung entzieht. Jenes ›choreographische Material‹ steht an unserem theoretischen Horizont, ohne dass wir im Moment die Modalitäten einer Annäherung erahnen könnten. Möglicherweise liegt es weniger in den Bewegungen und den Körperzuständen als in den Spielen des Dazwischen, in denen der ›Kern‹ einer Sprache Gestalt annimmt. (Wobei sich jenes ›Dazwischen‹ selbstverständlich nicht auf einen Topos der Beziehung zwischen Körpern beschränkt.) Doch haben die vier Faktoren selbst uns bereits gelehrt, wie sehr sich eine Sprache durch das Netz der 56 | I. Bartenieff/D. Lewis: Body Movement Coping with the Environnement,

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Beziehungen gestaltet, das sich verwebt, knüpft und auflöst, durch die ungreif bare Stofflichkeit, die nicht nur ›zwischen‹ den Körpern zirkuliert, sondern ›zwischen‹ der gesamten qualitativen Bandbreite der Dispositive. Nur durch eine umfassende, gleichermaßen körperliche und philosophische Arbeit an der Erneuerung des theoretischen Handwerkszeugs kann es uns gelingen, jenen Weg zum Unbekannten weiterzugehen, einen Weg, den der zeitgenössische Tanz schon so oft zurückgelegt hat. Stets liefert er dabei erhellende Praktiken (weitaus eher als Darstellungsformen), deren Durchlaufen unverzichtbar ist, ohne jedoch jemals einen Anhaltspunkt für das Ende der immerwährenden Forschung zu hinterlassen. Noch einmal: Weit entfernt davon, ausschließlich Anhaltspunkte zu geben, ist die Theorie des zeitgenössischen Tanzes dazu aufgerufen, die Grenzen ihrer Forschungsgebiete zu erweitern und manchmal auch zu verschieben. Als wirke der tanzende Körper bereits auf die Bereiche des Fühlbaren ein, in denen das Bewusstsein nach und nach erwachen und die vorweggenommenen Spuren seiner eigenen Entdeckungen wiedererkennen könnte.

Poetik der Bewegung »In gewissem Sinne ist es eine andere Art, zu denken, doch eine Art, die Ideen hervorbringt, die man in der Unbeweglichkeit unmöglich begreifen könnte.« Kent De Spain

Zu allererst eine terminologische Frage: Soll man im Falle des Tanzes von Bewegung oder von Geste sprechen? Ein Text von Isabelle Launay hat die Frage bereits aufgeworfen,57 doch ist es nützlich, darauf zurückzukommen und andere Problematiken zu entwickeln. Halten wir fest, dass die Tänzerin Sylvie Giron die grundlegende Funktion beider unter dem Thema des ›Einsatzes‹ zusammenfasst: »Es ist verwirrend, sich klarzuwerden, dass eine Geste, eine Bewegung alles andere zum Einsatz bringt.«58 Im Grunde ist es genau jener Wert der ›Mobilisierung‹, um einen Lieblingsausdruck von Bartenieff zu verwenden, der für uns an der Geste wichtig ist. Für Bartenieff ist nämlich der allerkleinste von einem Behinderten durchgeführte Gewichtstransfer ebenso intensiv, reich und erschütternd wie ein Tanz, da die Mobilisierung des gesamten Wesens dafür nötig ist. So erinnert sie 57 | Isabelle Launay: »La danse entre geste et mouvement«, in: La danse, art du XXe siècle, Lausanne: Payot 1990, S. 275-287. 58 | Sylvie Giron in: Laurent Barré (Hg.): L’œil dansant, Centre National Chorégraphique de Tours, 1995.

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daran, dass das Potenzial einer Bewegung weder von ihrem Ausmaß noch von ihrer Natur abhängt, sondern von dem, was sie zum Einsatz bringt. Darin liegt die Tiefe der Poetik. Auch wenn man es, wie oft in den besten Momenten des französischen Tanzes, mit einer ›unscharfen‹ (Stéphanie Aubin) Geste zu tun hat, die absichtlich losgelöst, unbetont und leer ist, liegt darin doch ein poetischer Einsatz. Selbst wenn dieser in negativer Art und Weise behandelt wird, wie gewisse unbetonte Gesten aus der Zeit der Judson Church (die ›markierten‹ Bewegungen, die in mehreren Werken, von Paxtons »Transit« bis zu Rainers »Trio A«, verwendet werden). Jede Betrachtung, die außer Acht lässt, dass das gesamte Selbst in der Geste zum Einsatz kommt, ist im Grunde bloße Literatur. Janet Adshead versucht einen morphologischen Ansatz über eine Reihe von Figuren, die sie als grundlegend betrachtet: Kurven, Drehungen usw.59 Doch verzichtet sie letztendlich darauf, zu Gunsten der Raster der labanschen Beschreibungskriterien für den ›Akt‹, den berühmten Listen, die verfasst wurden, um die exemplarischen Kombinatoriken des ›Antriebs‹ zu katalogisieren. Man wird ihr also dieses terminologische Zwischenspiel verzeihen. Die Variation zwischen Geste und Bewegung fällt mit bedeutenden Ansätzen (oder sogar ästhetischen Wahrnehmungen) im Denken über den Tanz zusammen. In der allgemeinen Akzeptanz hat die Geste eine Intention, ein Leben, während die Bewegung auch durch einen menschlichen Automatismus, die Einwirkung eines Gegenstands oder eines nicht-menschlichen Mechanismus ausgelöst werden kann. Man kann auch sagen, dass die Bewegung den gesamten Körper betriff t, während die Geste, zumindest in ihrer sichtbaren Gestalt, nur ein Bruchstück davon ausmacht. Dies macht die Bewegung umfassender, nähert sie dem Posturalen an und verleiht ihr ein interessanteres unbewusstes poetisches Potenzial als der bruchstückhaften Geste, deren äußere Form auf einer klar geäußerten Entscheidung beruht. Zwar bezieht sich die Geste, im Sinne einer Bewegung, die nur einen Teil des Körpers betriff t, mehr auf die Extremitäten und weniger auf die als asemisch betrachteten zentralen Bereiche, die, wie bereits erwähnt, eigentlich den tieferen Sinn des zeitgenössischen Tanzes hervorbringen. Doch kann man auch mit den Extremitäten asemisch verfahren: Dann werden die Hände oder Beine zu Orten der Ausbreitung oder des Verlöschens einer Bewegung, die ihren Ursprung anderswo hat. »Die Hand löst sich von ihrer Vergangenheit, von sensorischen Erfahrungen, die sie belasten könnten. Sie ist da, noch da, und dann plötzlich nicht mehr. Niemals wird sie. Es geht also darum, an eine Jungfräulichkeit des expressiven Handelns zu glauben, an ein völliges Fehlen von Gedächtnis«, schreibt Éliza59 | Janet Adshead: »Discerning the Form of a Dance«, in: Dance Analysis: Practice and Theory, London: Dance Books 1988, S. 41-59, S. 44.

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beth Schwartz über die Hand bei Merce Cunningham.60 Doch wird jene Neutralisierung der Bereiche, die traditionell für die mehr oder weniger hinzugefügte Expressivität und Verzierung reserviert sind, bereits seit den Anfängen der Moderne praktiziert. »Die Hand und die Handgelenke sind keine hübschen Ornamente, sondern aktive Endstellen der zentralen, vom Atem getragenen Bewegung, der Geste, die in die Gesamtheit der Form integriert wird. Sie tragen zur Äußerung einer gestischen Sprache bei.«61 Man findet dieses Zurücknehmen einer Spezialisierung der Hände und Arme in der seltsam erstarrten Armbewegung von Doris Humphrey. Die Arm- und Beinbewegungen, die bei Dominique Bagouet so präsent sind, stammen aus einer ganz anderen Genealogie: Der ganze Körper führt auf sie hin, genau wie bei den ›body parts‹, die bei Nikolais oder auch Carolyn Carlson das ›travelling center‹ empfangen. Eines der verwirrendsten Elemente von Bagouets Sprache war es, jener Bewegung ihre zentrale Bedeutung zu nehmen und sie zum Vorüberziehen eines kaum gestreiften Rätsels zu machen, einer Geste, die sich selbst in Frage stellt, ohne ihr Geheimnis preiszugeben. Nicht weniger bewunderswert und ebenso rätselhaft ist der Fingertanz von Dana Reitz, in dem sich die gesamten Schwankungen einer vom Tai-Chi inspirierten Reise des Gewichts äußern, »und dabei«, wie Deborah Jowitt schreibt, »nah am Körper kleine in Schleifen und Kreisen verlaufende Handgesten ausbilden, die sich gemäß ihrer eigenen Dynamik fortsetzen; mit kleinen Verdrehungen, plötzlichen Betonungen, Augenblicken des Loslassens und Stürzens.«62 Eigentlich werden hier die Bewegungen des gesamten Körpers beschrieben, doch auf eine ganz kleine Organisationseinheit angewandt. Man könnte also von Gesten (gesture) sprechen, indem man auf einer extrem deutlichen Aussageskala das Posturale (posture) sprechen ließe: zwei Konzepte der Bewegungsanalyse, die einander im Denken zahlreicher Theoretiker als entgegengesetzt gegenüberstehen.63 Die Geste ist vor allem 60 | Élizabeth Schwartz: L’expressivité de la main en danse contemporaine, mémoire pour le diplôme d’État en kinésiologie, Paris: IFEDEM 1994 (unveröffentlicht). 61 | Ebd. 62 | Deborah Jowitt: »Dana Reitz«, in: The Drama Review 24-IV, 1980, S. 22-33. 63 | Parallel zu den Arbeiten des Psychologen Henri Wallon über die posturale Muskelspannung haben die Nachfolger Labans die Begriffe »posture« und »gesture« betrachtet und einander gegenübergestellt. Ihre Arbeiten verbinden die Ansätze des Anthropologen Warren Lamb (Posture and Gesture: an Introduction to the Study of Human Behaviour, London: Duckworth & Co 1965) mit der Laban Movement Analysis. Heutzutage setzt Hubert Godard jene

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sichtbarer Ausdruck einer körperlichen Genese, die unsichtbar ist, aber dennoch die Intensität des gesamten Körpers trägt. Erinnern wir uns an die schöne Formulierung von Martha Graham in ihren Notebooks: »Movement is the seed of gesture« (»Bewegung ist der Keim der Geste«). Am Ende dieses Streits um Bezeichnungen werden Laban und Nikolais nacheinander jedermann zufrieden stellen, indem sie sich beide für eine dritte terminologische Lösung entscheiden. Um die 30er Jahre herum zog Laban den Begriff der ›Aktion‹ jenem der Bewegung vor – und manchmal sogar dem des Akts. Im Rahmen des Tanztheaters 64 kann der Tänzer somit die Bühne der menschlichen Gesten, und damit die Geschichte, als handelnde Instanz bewohnen. ›Geste‹ bezeichnet hier, wie in mancher Hinsicht der brechtsche ›Gestus‹, nicht nur die ›Geste‹ als vollendeten Akt, sondern auch die historische ›Geste‹, als Widerhall einer Äußerung, die das Ereignis in die Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft einordnet (bzw. bei Brecht in die Dialektik der Geschichte). Nikolais dagegen fasst im Konzept der ›motion‹ sowohl die bewusste Geste als auch das Bewusstsein von der Geste zusammen. »Als Kunst ist der Tanz die Kunst der ›motion‹, und nicht der Bewegung.«65 Die ›motion‹ ist das Bewusstsein der ›Wegstrecke‹, all unserer Wegstrecken, egal ob sie durch unseren gesamten Körper führen oder nur durch die Knöchel eines Fingers, ob sie sichtbar oder unsichtbar sind. Sie richtet sich auf die Bewegung als Durchlaufen ihrer eigenen Erfahrung. ›Tanz‹ entsteht, wenn jene Erfahrung des In-Bewegung-Seins und die Qualitäten des Durchspielens der ›motion‹ stärker sind als alle anderen Parameter, sei es der Handlung oder des künstlerischen Schaffens. »Wenn ich zwei Stunden darauf verwende, meine Hand bis zum Kopf zu heben«, schreibt der Meister sehr treffend, »ist dies vielleicht tödlich langweilig, aber es wird Tanz sein.«66 Jene Bemerkung verbirgt unter ihrem humorvollen Anschein eine tiefe Wahrheit: Der Tanz als Poetik der Bewegung erhält seinen Wert weder durch deren Originalität, noch durch ihre äußerliche Form im Zeit-Raum, sondern durch die Intensität der Erfahrung, von der sie getragen wird (und die sie mit sich trägt). In dieser Hinsicht ist das von Nikolais angeführte Beispiel äußerst passend: Jenes langsame Heben der Hand zum Scheitel des Kopfes ist nicht nur eine Geste ohne jeden funktionalen Zweck und daher per Definition ›expressiv‹. Sie ist auch durch ihre Langsamkeit und ihren Ablauf vollkommen metaphoÜberlegungen zur Rolle der posturalen Muskelspannung bei der Entstehung der tänzerischen Bewegung fort (vgl. allgemeine Bibliographie). 64 | Auf Deutsch im Text, Anmerkung des Übersetzers. 65 | Alwin Nikolais: »Nik, a documentary«, in: Dance Perspective Nr. 48, Winter 1971, S. 19. 66 | Ebd.

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risch für das, was eine ›Wegstrecke‹ ist, auf der das körperliche Bewusstsein vollkommenen Einsatz findet: das Gewichtsempfinden, das aufmerksame Bewusstsein dafür, was sich gerade ereignet. Aus dieser Situation hat Murray Louis eine überzeugende Sequenz seines Films MOTION67 entwickelt: Man sieht darin eine banale, triviale Geste (das Heben der Hand, um sich den Kopf zu kratzen), die durch das bloße Bewusstwerden der gerade ablaufenden Erfahrung buchstäblich in einen künstlerischen Akt verwandelt wird. Wie Jacqueline Robinson sehr richtig aufzeigt, hat es der moderne Tanz zum ersten Mal in der Geschichte jedermann erlaubt, seine eigene Geste zu finden: »Eine zutiefst originelle Geste«, würde Hubert Godard68 sagen. Dies hat den Ausbruch aus dem zuvor erwähnten ausgewählten Vokabular nicht nur ausgelöst, sondern buchstäblich erzwungen. In dieser Hinsicht fügt sich der Tanz in das gesamte Projekt der Moderne ein, das impliziert, dass jeder Schöpfer eine neue, vollkommen persönliche Sprache zu seinem Gebrauch erfindet (auch wenn dieser Horizont einer persönlichen Sprache heute illusorisch erscheinen und von einer modernistischen Utopie zeugen mag). Wir schließen uns Maurice Blanchot an, der dies mehr als eine Forderung (oder Hoffnung) verstand, denn als eine auf Beobachtungen fußende Tatsache. Im Tanz bedeutet die Erfindung einer Sprache somit nicht mehr, ein bereits existierendes Material zu handhaben, sondern genau dieses Material selbst hervorzubringen, und dabei zugleich seine Genese künstlerisch oder theoretisch zu rechtfertigen. Sicherlich wirft für den Tanz als Kunst der Bewegung die Genese eines für den Künstler einzigartigen Materials andere, tiefergehende Probleme auf, da dessen Hervorbringung ebenso riskant ist wie die Konfrontation mit ihm. In dem Sinne, dass die Bewegung, die mit der Geschichte des Subjekts, seiner Identität, verbunden ist, ihre Freiheit und Unabhängigkeit der gesellschaftlichen Einrichtung des Körpers abringt, die weit schwerer auf den Hemmungen und Regulierungen menschlicher Verhaltensweisen lastet, als auf der reinen Erfindung von Formen und Substanzen im Universum der darstellenden Künste. Somit überrascht es nicht, dass die Erfi nder der Tanzmoderne, wie Isadora Duncan, auf Verhaltensweisen des persönlichen Aufstands zurückgreifen mussten oder die Unterstützung ästhetischer Strömungen benötigten, die auf dem heftigsten individuellen Auf begehren auf bauten: wie im Falle der deutschen Tänzer, die allesamt durch den Expressionis67 | MOTION gehört zu einem Zyklus von vier Filmen, die Murray Louis 1980 drehte: THE ART OF DANCE. Siehe auch: Murray Louis: Inside Dance, New York: St Martin’s Press 1981. 68 | H. Godard: »Le déséquilibre fondateur«, S. 143.

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mus unterstützt und ermutigt wurden, von der Dresdener Bewegung »Die Brücke« bis hin zum Dadaismus des Cabaret Voltaire und der Galerie Dada in den Jahren 1915 und 1916. Ein etwas provokatives Anliegen der Schule Labans war es, die sogenannte ›Schönheit‹ der ausgewählten Gesten durch übertriebene Trivialität zu entheiligen. Dies rückte seinen Ansatz zweifellos in die Nähe der Betreiber der Galerie Dada, die die abendländische Kultur und ihre Traditionen als überholt und lächerlich anprangerten. Man versteht die Bewunderung eines Arp oder eines Hugo Ball für jene neuen brüsken Erscheinungen eines namenlosen Körpers. Denn da sie sich auf das Subjekt selbst bezogen, waren sie vermutlich weitaus transgressiver als die nihilistischen Methoden zur Dekonstruktion künstlerischer Objekte, egal ob es sich um Gedichte oder Gemälde handelte. Sophie Tauebers Choreographie in der Galerie Dada (»Der Gesang der Seepferdchen und der fl iegenden Fische«, um 1917), die »voller Erfindungsgeist, Launen und Seltsamkeiten« war, und wo »jede Geste scharf und spitz in Hunderte von Einzelteilen zerlegt wird«,69 veranlasste ihren Bewunderer Hugo Ball dazu, selbst an einem labanschen Tanz teilzunehmen, dessen Gestik absichtlich durch »die symmetrischen Bewegungen, den stark betonten Rhythmus, die krankhafte, bewusst verhässlichte Mimik« entwürdigt wurde (Hugo Ball über die Ausstellung, die die Zeitschrift »Der Sturm« in der Galerie Dada veranstaltete und die Auff ührung nach einer Idee von Kokoschka, an der Marcel Janco, Kandinsky und Labans Tänzerinnen beteiligt waren). Ohne die solidarische Versammlung von Tänzern um ein Denken herum, ohne das Bündnis mit den Avantgardebewegungen und ihren gleichermaßen politischen und künstlerischen Forderungen, wären die Künstler der Moderne zur Isolation eines Nijinsky verdammt gewesen, der erschreckend wenig Unterstützung von seiner Umgebung erhielt, als er versuchte, die auf seinem Körper lastenden Siegel kanonischer Regelungen aufzubrechen. Eine solche Einstellung gilt in jeder Gesellschaft als Akt schwerwiegender Entfremdung von den kollektiven Codes, durch die sich die Angebrachtheit oder der Sinn einer Geste der Anerkennung durch die Gruppe versichern. Sowohl Laban als auch Marcel Mauss haben darauf hingewiesen, dass der Verrat an der Gemeinschaft der Gesten (mehr noch als jede linguistische Dissidenz) das schlimmste Zeichen für das Verlassen der Norm ist. Die Tatsache, dass sich der Körper in der Darstellung befindet, also in der Situation einer symbolischen Antwort auf den gesellschaftlichen Körper, macht diese Überschreitung nur schlimmer. Denn somit begnügt sich das Subjekt nicht damit, seine eigene Bewegung dem Gesetz der Gemein69 | Hugo Ball, zitiert in: Ausstellungskatalog Sophie Taueber, Paris: MNAM, Nov.-Dez. 1990.

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schaft zu entziehen. Es gefährdet auch die Bewegung des Zuschauers und droht, sie mit sich in ein analoges Davontreiben zu reißen. Dies erklärt die geradezu hysterischen Verdammungen, die sich auf die Modernität des Körpers richteten und es auch in jüngerer Zeit immer noch tun.70 Wie man sich vorstellen kann, waren diese Angriffe in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch weitaus heftiger. Man erinnere sich an den Ekel, den ein bestimmtes deutsches Publikum angesichts von Mary Wigmans Solos der Jahre 1919-1920 empfand – »eine krankhafte Besessenheit«, »ein dämliches Auskugeln der Gelenke«71 –, auf die sogar manche Intellektuellen erschreckt reagierten. Ähnlich erschüttert war die Reaktion der Pariser Intelligenzia auf die Auff ührung von Valeska Gert, als diese 1931 im Théâtre des Champs-Elysées auftrat.72 Jene Tänzerin, die den Berliner Kabaretts entstammte und gelegentliche Partnerin oppositioneller Bildhauer wie Huelsenbeck war, hat in besonderer Weise zum Untergang und sogar zum Zerfall eines nach gesellschaftlichen Codes konstituierten Körpers beigetragen. Die berühmte Schlägerei zwischen André Breton und Yvan Goll, zu der es damals kam, zeigt, wie das Unzulässige des Körpers sogar jene erschüttern konnte, die vorgaben, der »beunruhigenden Seltsamkeit« zugeneigt zu sein. Erfindungsgeist, Mut, gewiss. Die Tanzmoderne ist ein Abenteuer. Sie ist auch eine Öffnung. Eine Öffnung für alle möglichen Bewegungen, von denen keine mehr verboten ist. Eine Erweiterung, die in der Menschheitsgeschichte mindestens ebenso revolutionär ist, wie die erste Befreiung, von der wir weiter oben sprachen. Der Tanz ist nämlich eine Kunst, die traditionell darin bestand, aus der Masse der motorischen Möglichkeiten eine Anzahl erlaubter Figuren auszuwählen. Obwohl der Tanz häufig als eine Kunst angesehen wird, die mehr Bewegung einschließt als die Handlungen des Alltagslebens, ist er gemäß der Gesetze der Tradition im Gegenteil 70 | Noch 1988 durften im Programm eines staatlichen Rundfunksenders (France-Musique) zeitgenössische Tänzer vollkommen ungestraft als »Abschaum, der barfuß in improvisierten Theatern tanzt« bezeichnet werden. Dabei sei darauf hingewiesen, dass das Wort »Abschaum« (»raclure«) dem antisemitischen Wortschatz der französischen Rechtsextremen der 20er- und 30er Jahre entstammt. 71 | Äußerungen der Berliner Presse aus den Jahren 1919 und 1920 über die Gastspiele von Mary Wigman. Zitiert in Maggie Odom: »Mary Wigman, the Early Years, 1915-1925«, in: The Drama Review, 24 IV, Dezember 1980, S. 8192, S. 84. 72 | Maïté Fossen (Hg.): Empreintes Nr. 4, Sondernummer »Valeska Gert«.

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eine Kunst der Subtraktion, die, wie Laban sagt, »eine restriktive Bandbreite erlaubter Motive«73 bietet. Tanz ist somit ein restriktiver Akt, dessen Zweck es vor allem ist, Systeme der Repräsentation zu verteilen und zu ordnen. Der Tanz als »Körpertechnik«, wie es Mauss formulierte, aber auch als Kunst, besteht nach Meinung der Anthropologin Judith Lynne Hanna »in einem System der Bewegungsklassifizierung, einem kumulativen Ensemble von Regeln, oder einer Bandbreite von erlaubten motorischen Motiven.«74 Natürlich geht es den Anthropologen oder Volkskundlern, die sich mit dieser Frage beschäftigen, vorrangig darum, die Kriterien zu finden, die zu dieser Auswahl und damit zu dieser Einschränkung führten. Es handelt sich hier um einen kurz skizzierten Ansatz, den man bei bestimmten Anthropologen wie Judith Lynne Hanna oder Alan Lomax findet. Ohne ihre ernsthaften und erhellenden Arbeiten abqualifizieren zu wollen, müssen wir dennoch zugeben, dass sie nicht die Schärfe der Analysen Labans und seiner Nachfolger besitzen, für die sich die Beziehung der Bewegung zum gesellschaftlichen Kontext in einer tiefgreifenden Dynamik äußert, die sich nicht durch eine bloße Annäherung an mimetische Formen beschreiben lässt. Ohne jenem Typ der Analyse vorgreifen zu wollen, der sich auf die konstituierenden Faktoren der Bewegung richtet, lässt sich dennoch auf eine große Gemeinsamkeit hinweisen, die jene Forscher enthüllt haben, die sich vor allem in den Vereinigten Staaten mit den Beziehungen zwischen Tanz und Anthropologie beschäftigten: Innerhalb einer Gruppe werden Verfahren der Fortbewegung und der individuellen Gestik bevorzugt, deren motorische Symbolik mit einer Produktivität oder einer Aufwertung verbunden ist, die von der Gruppe anerkannt werden75. Ein solches Verfahren ist zum Beispiel die Rotation nach Rang und gesellschaftlichem Status in den Tänzen Amazoniens, die mit der Verteilung der Samenkörner in den provisorischen Gärten des Regenwalds zusammenhängt. Der Tanz ordnet sich regelmäßig um eine Rotationsachse herum an und überwältigt nicht zuletzt durch seine raffinierte Einfachheit. Denn für welche räumlich-motorische Option sich die Gruppe auch entscheidet, stets liegt in ihrer Auswahl eine besondere Schönheit. Was erschüttert uns so sehr an den traditionellen Tänzen, vom gestampften Dreiertakt der Bourrée bis zu den wellenförmigen Beckenbewegungen der Solomon-Inseln? Es ist ihr offenkundiges Vermögen, auf ergreifende und geheimnis73 | Rudolf von Laban in: The Mastery of Movement, S. 122. 74 | Judith Lynne Hanna: To Dance is Human, a Theory of Non-verbal Communication, Austin: Univ. of Texas Press 1979, S. 31. 75 | I. Bartenieff/F. Paulay: »Cross-cultural Description of Dance«, in: Four Adaptations of the Effort Theory, S. 61-71. Vgl. auch R. Lange: The Nature of Dance, London: MacDonald & Evans 1975.

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volle Art und Weise ein grundlegendes Ziel zu berühren, eine Absicht, die stichhaltig und vollkommen ›richtig‹ auf die Fragestellung einer menschlichen Gruppe antwortet. Die traditionellen Tänze, die als akademisch gelten (und häufig kaum akademischer sind als gewisse populäre Stile), präzisieren die im Allgemeinen vorgenommenen Auswahlen auf theoretischer, kanonischer und erziehungstechnischer Ebene, systematisieren sie stärker und gestalten ihre Verteilungsstrukturen rationaler (was sie dabei an Lesbarkeit, an Garantien permanenter technischer Meisterschaft gewinnen, verlieren sie oft an Kraft und emotionaler Qualität…). Auch wenn sie sich jenes Erbes bewusst sind, und besonders des menschlichen Potenzials, das damit verbunden war, verfolgen die Vertreter der Moderne dennoch ein ganz anderes Streben. Wie wir gesehen haben, führt ihr Schicksal, oder besser ihre Berufung, die individuelle Erfindung, häufig zu einem Bruch mit den Anliegen der Gruppe führt (auch auf die Gefahr hin, ausgestoßen zu werden). Ihr Bewusstsein verlangt, dass die Gesamtheit der möglichen Bewegungen, ohne jeden Ausschluss, in sein schöpferisches Universum eintreten kann. Seine Aufgabe wird es sein, sie nach seiner eigenen Logik zu behandeln. Doch wie soll man das gewaltige Rohstoff vorkommen finden, in dem die unbekannten Bewegungen verborgen liegen? »Wie dem Tanz seine Bewegungen abringen?« Christine Bastin stellt diese Frage heute in Bezug auf die Lyrik, die ein Erscheinen von Worten in der Sprache ist.76 Doch weiß die Tänzerin nur zu gut, dass ihr Tanz als ›Sprache‹ (als kodiertes und zusammenhängendes Ensemble von Referenzen) nicht existiert und dass kein sekundäres Äußerungssystem jene Geste bewahrt, die sie selbst dem Unbekannten des Körpers abringen wird. Zwei Verfahren aus den Anfangstagen des zeitgenössischen Tanzes sind für uns von Bedeutung: das von Dalcroze und später das von Laban. Dalcroze suchte nach den Antrieben des rhythmischen Phänomens im Körper, um den Körper seiner Meisterschaft zu berauben und ihn dem Schwung einer unmöglich zu begreifenden Geste zu überlassen, die nicht vom Wollen kontrolliert wurde. Es genügt, dass in einer ›rhythmischen‹ Situation (das heißt ein plötzlich von außen einwirkendes zufälliges Ereignis, ein Kontrast) das Energiezentrum berührt wird, damit jenes Wollen in mir zusammenbricht und in einem unfallartigen Tumult die Kohorte der motorischen Reaktionen auftritt, die weder Form noch Namen haben. Dalcroze verstand sehr schnell, dass er auf etwas Grundlegendes gestoßen war: eine Art riesiges nächtliches Reservat, das alle Möglichkeiten des Körpers enthielt. Doch wollte er daraus keine Ästhetik entwickeln. Seine 76 | Christine Bastin in: Mon Oeil Nr. 11, Paris: Compagnie Christine Bastin, Frühjahr 1996.

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›rhythmische‹ Vision war kein Tanz, denn er hatte sich verboten, auf der Grundlage der freigelegten Materialien ein symbolisches Repräsentationssystem auszuarbeiten. Auch wenn heute jener undifferenzierte Schatz des Körpers ganz eindeutig als radikalster Bestandteil der Tanzmoderne erscheint. Anschließend eröffnete Laban die Möglichkeiten der Bewegung als unendliche Kombinatoriken des Gewichtstransfers und vervielfachte sie. Dadurch, dass das Gewicht, das am wenigsten objektivierbare, am wenigsten darstellbare Element in der Kunst, ins Spiel kommt, entgeht man all den apollinischen Vorgaben der ›mimesis‹ in Bezug auf die etablierte Form und ihre Darstellung und Reproduktion. Man wohnt ebenfalls dem Tod der Begrenzungen im Tanz bei. Die tänzerische Bewegung kennt keine Grenzsteine, weder in ihrer Definition, noch in ihrer äußeren Form oder ihrem Gradmesser. Das Konzept einer alle möglichen Bewegungen umfassenden Kinesphäre, die der Raum ist, den der Körper mit sich trägt, oder besser, innerhalb dessen er sich konstruiert und konstituiert, ist die Begegnung all der möglichen motorischen Ereignisse, die die Möglichkeiten des Gewichtstransfers und die Qualitäten oder Ausrichtungen von Spannungen unterscheiden. Zwar wird Laban sie gemäß seiner ›Skalen‹ einteilen, doch wird er sie niemals abgrenzen oder kodifizieren. Im Gegenteil: Das Ikosaeder, das zwanzigflächige Vieleck, welches das vielgestaltige Auftreten der Dynamiken in den möglichen Richtungen zusammenfasst, ist vor allem die räumliche Darstellung einer unendlichen Anzahl möglicher Gesten, die zwar in ihren unterschiedlichen Qualitäten analysiert, doch niemals durch eine äußere Form oder gar durch die formale Anpassung an eine Vorgabe begriffen werden können, da sie sich einem solchen Verfahren durch den bloßen Grad ihrer Potenzialität entziehen.77 Inmitten jenes riesigen Korpus von Bewegungen, die, wie Isadora Duncan sagte, schon seit jeher existieren, gibt es natürlich auch erratische Bewegungen, die wir in uns tragen und die oft anderen Gesten innewohnen, ohne sich durch sie vollständig zu enthüllen. Dies sind unter anderem die ›Phantombewegungen‹, von denen Laban in bewundernswerter Weise spricht. Wir werden auf jene rätselhaften Horizonte der Geste zurückkommen, und darauf, wie die Bewegung das zu lesen vermag, was ihr selbst unbekannt ist. Doch wie genau kann man sie erscheinen lassen? Der zeitgenössische Tanz schließt, wie bereits gesagt, keine Gestualität aus. Außerdem enthält das Leben einen unermesslichen Reichtum an bereits vorhandenen Bewegungsfiguren. Im Alltag verwenden wir zwei Bewegungstypen: die Ur-Bewegungen, die die universellen Handlungen betreffen, die für jedes beseelte und animalische Verhalten auf der Welt 77 | Rudolf von Laban: Choreutik, Kapitel X.

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notwendig sind: sich erheben, sich niederlassen, gehen, hüpfen, sich hinlegen, fallen, trampeln usw. Genau solche Figuren nahmen die Pioniere des modernen Tanzes, wie Isadora Duncan, eilig in ihre choreographische Sprache auf und verliehen ihnen dadurch einen Status, der jeder künstlerischen Bewegung gleichwertig war. Das einfache Gehen, das Zu-Boden-Sacken, der Sprung, das Hüpfen, sind vollwertige Teile eines Vokabulars, das sie mit anderen weniger als ›natürlich‹ wahrgenommenen Bewegungen (Schwung beim Bücken, Akzentuierung beim Gehen usw.) mischt. Später werden die Tänzer andere grundlegende Verhaltensfiguren hinzufügen, die mehr mit dem gesellschaftlichen und materiellen Leben zusammenhängen: sich hinhocken, sich setzen usw., wie es Cunningham oft beim Spielen mit einem Stuhl tut. Vergessen wir nicht, dass die Ur-Bewegungen bei dieser Art der Verwendung nur selten als Mimetik geläufi ger Gebrauchsgesten eingesetzt werden. Wie wir sehen werden, bilden diese Gesten eine zweite Gruppe, die mit dem Gebrauch, manchmal auch der ›Reproduktion‹ von Alltagsgesten zusammenhängt. Genau deshalb werden die Ur-Bewegungen einer eingehenden Erforschung unterzogen, da sie körperliche Handlungen ins Spiel bringen, die mit den ältesten Verhaltensweisen unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung zusammenhängen. Die erste Arbeit, die sich mit ihnen beschäftigt, und die sehr früh in der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes begonnen hat, besteht darin, sie zu hinterfragen und ihre wirklichen Dynamiken zu begreifen. Denn im Tanz besteht die Modernität oft darin, das in Frage zu stellen, was dem Körper angeboren oder eingeschrieben zu sein scheint. Daher beginnt die Ausbildung des Tänzers nach Isadora Duncan mit einem mehrwöchigen praktischen und künstlerischen Studium des Gehens. In Frankreich lieferte uns Élisabeth Schwartz ein eindrucksvolles Beispiel für ein langsames Voranschreiten zu den Chören von Glucks »Iphigenie in Aulis«. Dalcrozes ›rhythmischer‹ Ansatz hat es erlaubt, aus jenem ›Gehen‹, einer scheinbar elementaren Fortbewegungsart, die Hauptfiguren der Mobilität herauszulesen. Françoise Dupuy kommt auf diese Bestandteile zurück: »Beginnt der Tanz nicht in dem Moment, wenn jenes Gehen in seiner Zeit, seinem Raum, seiner Energie soweit beherrscht wird, dass es etwas anderes erzählen kann als bloß die alltägliche Identität, die es trägt oder die von ihm getragen wird? […] Derjenige, der tanzt, muss das Aufstützen seines Fußes auf dem Boden beherrschen, die Art und Weise, wie er diesen Fuß vom Boden abhebt und wie er jenen Körper innehalten lässt, den er unterstützt oder der ihn unterstützt.«78 (Aufstützen, Erheben, Innehalten – handelt es sich dabei nicht um grundlegende Elemente, die zum Schatz des poeti78 | Françoise Dupuy: »Pas de danse«, in: Marsyas Nr. 18, Paris: IPMC, Juni 1991, S. 40-41.

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schen Werkzeugs im Tanzes beitragen?) Jene Neubetrachtung der ältesten und elementarsten Aspekte unserer Bewegungen hat selbstverständlich auch eine wichtige theoretische Dimension. Manchmal wird das Aussehen der Ur-Bewegung im gegenwärtigen Gebrauch zum Forschungsfeld. Mit dem Ziel, sie zu identifizieren und aus den symbolischen Formen herauslösen, in denen man sie wiederfindet. Um bei dem Sachverhalt des ›Gehens‹ zu bleiben, weist zum Beispiel Michèle Rust auf das ›camminar‹ des Tango als Ur-Element des Tanzes hin, das im Übrigen jenen Tanz, der sehr wichtig für die Geschichte der choreographischen Formen ist, zu einer der stimmigsten Arten des Umgangs mit den großen Basisbewegungen macht. Ein andere Forschungsspur besteht hingegen darin, unabhängig von den aktuellen Mechanismen eine vergessene oder transformierte Ur-Form zu verfolgen. So sieht Laban in einem berühmten Text den Ursprung all unserer Gesten in zwei Archetypen, aus denen sich seiner Meinung nach alle Äußerungen der menschlichen Bewegung entwickelt haben: dem ›gathering‹ (›Schöpfen‹), der konzentrischen Bewegung, die den Gegenstand zum Subjekt bringt, und dem ›scattering‹ (›Streuen‹), das sich durch den Abstand zwischen dem Subjekt und seinem Gegenstand äußert.79 Nach Laban handelt es sich um zwei Bewegungen, die bereits zu Beginn der menschlichen Erfahrung existiert haben, um zugleich die Befriedigung der Bedürfnisse und die Verteidigung zu gewährleisten. Er glaubt, dass diese Bewegungen immer noch in uns eingeschrieben sind und auch allen anderen Bewegungen innewohnen, die in gewissem Sinne nur ihr an andere Zustände angepasstes Durchspielen sind. Jene zwei archetypischen Bewegungen bezeichnen für Laban das Gerüst der ersten Spannungsachsen (Spannung und Ballung 80), auf denen sich der Körper im Raum konstruiert hat, und von Anfang an das ausgeprägt und hervorgebracht hat, was er die ›Kinesphäre‹ nennt. Somit würden nicht nur alle Bewegungen des Alltagslebens gewissermaßen als Variationen von jenen zwei antithetischen Figuren abstammen. Auch die unterschiedlichen Tänze auf der ganzen Welt wären Beispiele für den Umgang mit ihnen. Deren symbolische und künstlerische Bedeutung ließe sich nach dem Grad der Schlüssigkeit dieses Umgangs bemessen. Später wurden andere Herangehensweisen an die Ur-Gesten in anderen theoretischen Rahmen vorgeschlagen. Für Frankreich lassen sich zum Beispiel die Untersuchungen von Pierre Philippon zitieren, der die Gesten nach einer Bandbreite von Haupthandlungen einteilte (Werfen, Stoßen, Schneiden usw.) und dabei gleichzeitig eine praktische Arbeit zur Erforschung der Funktionsweise und Strukturierung jener Gestik anbot. 79 | R. v. Laban in: The Mastery of Movement, S. 120-121. 80 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Übers.

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Anscheinend bezieht nämlich jede der Handlungen, die durch jene motorischen Verhaltensweisen ins Spiel gebracht werden, ihre Kraft aus einem Ensemble von grundlegenden Verhaltensweisen. Worin besteht der Unterschied zwischen einer Ur-Geste und einer alltäglichen Geste? Für viele Tänzer und tänzerische Strömungen gibt es da keinen Unterschied. Das, was die Angelsachsen ›pedestrian movement‹ (›Fußgänger-Bewegung‹) nennen, schließt Bewegungen ein, die außerhalb jedes definierten choreographischen Kontextes liegen. All diesen Bewegungen gemeinsam ist ein als ›natürlich‹ bezeichneter Amplitudenwert und das Fehlen von Akzentuierung, was ihnen den unbetonten, diskreten Charakter verleiht, der in unserer Kultur die Alltagsgesten auszeichnet. Und mit genau diesen Qualitäten sind sie aufgefordert, im Tanz zu erscheinen. Oft versuchen sich von Choreographen erfundene Bewegungen, die in diesem Sinne nicht ›alltäglich‹, das heißt nicht funktionell sind, an jenen Qualitäten, die sich der Emphase der tänzerischen Bewegung verweigern. Man hat dies unter anderem an den vertrauten kleinen Handbewegungen der französischen Tänzer gesehen, die dazu dienten, die musikalisierte und verstärkte Entfaltung der Bewegung zu dämpfen. Oft mag dieser Rückzug in Bezug auf die Dimensionen des Tänzerischen als Weigerung erschienen sein, sich durch den Tanz des Raums zu bemächtigen und sich zu entfalten. Hätte dies womöglich eine Gefahr für die Integrität des Subjekts bedeutet, und für die Beherrschung seiner Kinesphäre? Ich persönlich definiere die Alltagsgeste gemäß des Gebrauchs, der von ihr gemacht wird, und der eben auch ihre Tragweite und Qualität verändert. Cunningham geht, setzt sich, läuft und zieht sich sogar auf der Bühne aus (in »Walkaround time«, 1968). Doch haben jene Gesten (abgesehen von den Wegstrecken in ›gegangenen‹ Schritten, die dazu dienen, einen ›Platz‹ im Raum des Tanzes einzunehmen) keinen Gegenstand, sondern beziehen sich auf ebenso intransitive wie elementare Verhaltensweisen. Nikolais’ Bemerkungen in Bezug auf die ›motion‹ sind unter anderem nützlich für eine Unterscheidung zwischen Theater und Tanz. Die ›mimesis‹ der Handlung verlangt eine Verwendung der etablierten Erkennungscodes, ohne sich um die hervorgerufenen Qualitäten zu bekümmern. Der Tanz dagegen untersucht die Verteilung des Gewichtstransfers, die Akzentuierung usw. und entdeckt plötzlich auch die grundlegenden Qualitäten des Akts, die sich dem Naturalismus entziehen: Schneiden, Schlagen, Werfen sind für den Tänzer wesentliche Schemata, deren Gehalt im Hinblick auf die Wurzeln des Akts analysiert werden muss. Die Divergenz der Ansätze von Theater und Tanz hat, wie man sieht, weniger mit Definitionen als mit den Praktiken selbst zu tun. Man muss hier noch einmal den Wert der ›Tanzarbeit‹ unterstreichen, die den Gehalt der Akte bis in ihre Grundlagen hinein befragt.

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Ein von Susan Foster aufgeworfenes Problem, das für die Semiologie des Tanzes im Allgemeinen und für seine Beziehung zum Theater von einigem Interesse ist, ist der Aktualisierungsmodus zwischen ›reflektierten‹ (reflexion) und imitierten (imitation) Bewegungen.81 »Imitierte Bewegungen« sind das, was ich ›gespielt‹ nenne: Bewegungen mit einer stärker gehaltenen Muskelspannung, deren Akzentuierung und Umfang in der Regel stärker ausgeprägt sind. Sie sind mehr dem theatralen Akt eigen und haben nichts ›pedestrian-Artiges‹. ›Pedestrian-artig‹ ist das, was uns wegen seiner ausdruckslosen Qualität interessiert. Bewegungen, die wie rohe und unbearbeitete ›Fundstücke‹ wirken, wie es die Anhänger der ›junk art‹ eines Rauschenberg ausdrücken würden, der in seine Werke Abfälle einbaute, genau wie sein Freund Cunningham triviale Gesten in seinen Tanz: Abfälle sichtbarer Gestalten, denen die theatrale Intensität entzogen worden war. Stumpfe Bewegungen, aufgegebene, leblos gewordene Funktionalitäten, die zurück in die Bereiche des Vor-Symbolischen verwiesen werden. Eine andere interessante Achse, die übrigens bei den Improvisationen einer Karine Waehner zum Einsatz kommt, ist die Denaturalisierung der Alltagshandlung, indem man sie verlangsamt, ihr einen Widerstand im Raum verleiht und sie so zu einer andersartigen, nicht-mimetischen Erfahrung der Geste macht. Jene Verfremdung der Geste kann mit Hilfe von Objekten geschehen, die aus der praktischen Umgebung herausgelöst werden, der sie angehören, oder die, im Gegenteil, durch ein körperliches Verfahren wieder integriert werden, das plötzlich den Kontext unlesbar macht. Eine der schönste Alltagsgesten ist die von Susanne Linke, als sie sich in ihrem Stück »Im Bade wannen« auf den Toilettensitz setzt: eine stumpf gewordene, erloschene Geste, die durch das Fehlen von Akzentuierung und Umfang und ihren besonders trivialen, intimen und unspektakulären Inhalt schon fast keine Geste mehr ist. Sie ist die einzige naturalistische, allerdings stark in Richtung auf das Nicht-Mimetische ausgearbeitete Anwendung (die sich auch im Uneingestehbaren äußert) in einem Solo, in dem alle anderen Gegenstände, die zur Ausstattung des Badezimmers gehören, ›gegen den Strich‹ benutzt werden: So wird zum Beispiel die Badewanne zu einer bloßen Wand des Gleitens und der Selbstbefragung. Doch spielt jene ›Geste‹ in den Entscheidungen des zeitgenössischen Schaffens weniger als Vokabular, als lexikalisches Motiv eine Rolle, als durch die Perspektive ihrer Behandlung. Im Übrigen ist die Einführung der Alltagsgeste und der Ur-Geste als bloßes lexikalisches Element der Gestik längst zum festen Bestandteil neoklassischer Verfahren geworden. Zu den freiesten und natürlich auch erfindungsreichsten Schöpfungen kann man die mechanischen oder einfach bloß ›pedestrian-artigen‹ Bewegungen von 81 | S.L. Foster: Reading Dancing, S. 75-76.

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Massines »Parade« rechnen, zumindest so weit dies aus der auf die Erinnerungen des Autors gestützten Rekonstruktion des Werks durch das Jeoffrey Ballet ersichtlich ist. Man kann Nijinskis »Jeux« zitieren, und den wagemutigen »Train Bleu« seiner Schwester Bronislava, in die Gesten aus der Welt des Flirts, des Alltags und des Sports eingebaut sind. Man kann die Abschluss-Sequenz von Balanchines geheimnisvoller »Ivesiana« zu Charles Ives’ erstaunlicher Partitur »Central Park in the dark« anführen, in der sich eine Vorwärtsbewegung auf den Knien wie eine Pilgerfahrt zu den dunklen Göttern der urbanen Nacht vollzieht. Die ›Pedestrian-Artigkeit‹ nicht qualifizierter, unverbundener Gesten ist darin absolut. Trotz der Verbeugung vor der Kunst dieser freien und inspirierten Genies dürfen wir sie, schon aus bloßem Respekt für die Identität ihrer Projekte, nicht im Nachhinein in die Prozesse des zeitgenössischen Tanzes integrieren. Denn dies war weder ihre Entscheidung noch die von ihnen eingeschlagene Richtung. Wird eine Alltagsgeste in ein zeitgenössisches Projekt eingebaut, impliziert dies, wie bereits erwähnt, bestimmte durchgängige Grundsatzentscheidungen: Sie übernimmt dann nicht die Rolle eines Motivs oder einer erkennbaren Figur, sondern die theoretische und praktische ›Funktion‹, die ihr in der allgemeinen Ökonomie einer Poetik und eines Prozesses zugewiesen werden. Vor allem muss die ihr zugewiesene Rolle über die bloße Ausbeutung zu spektakulären und punktuellen Zwecken hinausgehen. Die Alltagsgeste wird im zeitgenössischen Tanz gemäß unterschiedlicher Modalitäten verwendet, die die zwei Möglichkeiten der Ausrichtung vorgeben, auf die Susan Foster hinweist: die einer ›imitierten‹ oder die einer ›produzierten‹ Geste. Wenn sich einer von Pina Bauschs Tänzern setzt oder die Beine übereinanderschlägt, ›imitiert‹ er eine wirkliche Handlung. Also spielt er. Übrigens ist der Bewegungsfluss intensiv, was im allgemeinen die Anwesenheit des ›Spiels‹ beweist. Man befindet sich, wie Jean-Louis Schefer aufzeigt, im Reich der ›Repräsentation‹, das vor allem das der ›Übertreibung‹82 ist. Die Bewegung wird also keineswegs in gleicher Weise eingesetzt wie in Anne Teresa De Keersmaekers »Rosas danst Rosas« oder gar wie in Cunninghams »Antic Meet«. Merken wir mit Michèle Febvre an, dass bei Bausch die Bewegung, auch wenn sie zunächst einmal imitativ ist, ständig denaturiert, unterbrochen oder verfremdet wird83 (z.B. wenn J.A. Endicott in »Walzer« einen Apfel Stück für Stück wieder ausspuckt, obwohl sie ihn doch essen zu wollen schien). Noch ein 82 | Jean-Louis Schefer: »Figures de mutants«, in: Traffic Nr. 1, 1989,

S. 38. 83 | Michèle Febvre: Danse contemporaine et théâtralité, Paris: Chiron, collection »La Librairie de la Danse« 1995, S. 81-84.

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Beispiel aus »Walzer« ist die berühmte Prozession der Armgesten in zwei nach Männern und Frauen getrennten Reihen. Jedes Geschlecht nimmt die zuvor als Paar vollzogenen Streichelbewegungen wieder auf, die nun ohne das Objekt ihrer Umarmung zu vollkommen ungegenständlichen gestischen Konstruktionen werden (die überdies rhythmisch, d.h. anders akzentuiert ausgeführt werden). Man sieht daher, dass eine Erwähnung oder Untersuchung der Alltagsgeste nur von Interesse ist, wenn sie innerhalb eines bestimmten Verfahrens oder einer bestimmten Ästhetik identifiziert werden kann. Und nur, wenn sich ihre Qualitäten auf der Ebene der Gestaltung und der symbolischen Komplexität kaum von jeder beliebigen anderen ›tänzerischen‹ oder ›erfundenen‹ Bewegung jenseits jeglicher, auch einer scheinbaren, Funktionalität unterscheiden. Sogar ihr mimetischer Charakter kann jeden Moment verdoppelt oder überkodiert werden – oder im Gegenteil entleert, entschärft oder verfremdet. Abgesehen davon verstrahlt sie alle Schattierungen der ›Palette der Rückbindungen‹ und besitzt für den Tänzer von heute keinen größeren oder geringeren ›Wert‹ als eine Geste, die sich als rein poetisch versteht. In den experimentellen Tänzen der Judson Church wurde die Alltagsgeste beispielsweise eingesetzt, um gemäß einer äußerst minimalistischen Ästhetik eine nicht intensivierte, unbetonte, gleichförmige und neutrale Bewegung hervorzubringen. Dies entsprach der Theorie einer unakzentuierten Äußerung, aus der jegliche Spannung, jeglicher Wunsch nach intentionalem oder kategoriellem Auftrumpfen verbannt sein sollte, was im Übrigen ebenso für die Skulpturen eines Judd oder eines Bob Morris galt. Das Ablegen der Kleider vor dem Schlafengehen, das Zubereiten von Kaffee, das Öffnen und Schließen einer Tür sind in zweifacher Hinsicht interessant: Sie nähern sich dem ›Nicht-Tanz‹ an, der reine Aktion ohne irgendein Ziel, geschweige denn einen choreographischen ›Effekt‹ sein möchte, und somit der Performance, wo die Geste nicht wegen ihres Gehalts, sondern einzig und allein als Mittel zur Hervorbringung eines bestimmten Akts ausgeführt wird: Man kann also beispielsweise den Raum durchqueren, um einen Partner zu erreichen (Klaus Rinke) oder um die bedrückende Enge des Raums auszumessen (Acconci). Die gleiche Handlung kann vollzogen werden, um über eine zurückgelegte Strecke Aufschluss zu erhalten (Joan Jonas) oder um eine zwanghafte Wiederholung zu begehen (Bruce Naumann). Es handelt sich, wie Nikolais sehr treffend klarstellt, um Gesten, die einzig und allein im Hinblick auf ihre Endphase ausgeführt werden. Ihre Bedeutung liegt nur in ihrer Vollendung, die ihnen die gewünschte Zweckhaftigkeit und vor allem ihre Banalität verleiht. Es ist das Gegenteil seiner Sicht der ›motion‹, einer Bewegung, die in der Gesamtheit ihres Ablaufs hervorgebracht und empfunden wird, und bei der jede einzelne der aufeinanderfolgenden Phasen die gleiche Wichtigkeit

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für das Bewusstsein hat, das vollkommen von seiner eigenen qualitativen Erfahrung erfüllt ist. Nimmt man ihr die Intention, ähnelt die Alltagsbewegung einer tänzerischen Bewegung, der jegliche Spannung entzogen wurde. So beschränkte sich der (damals gerade erst zwanzigjährige) Steve Paxton in seiner bereits erwähnten Komposition »Transit« darauf, seine Choreographie zu markieren. Unter ›Markieren‹ verstehen Tänzer das Reproduzieren einer Form ohne Energieaufwand, einen Typ von Aktivität, der beim Proben praktiziert wird, um das Gedächtnis zu trainieren, ohne den Körper zu ermüden. Dies demonstriert in eindrucksvoller Weise, wie sehr jene Strömung alle Elemente des Tanzes hinterfragte, einschließlich derjenigen, die uns als die grundlegendsten erscheinen, wie zum Beispiel die Präsenz und Intensität, die für den Tanz notwendig sind. Yvonne Rainer prangert den krampfhaft übertriebenen Aspekt des Akts an (»Warum müssen wir so intensiv sein?«, fragt sie ironisch). »Transit«, das mit einer nicht-gegenständlichen Bewegung arbeitete, war ein ›Nicht-Tanz‹, ebenso wie die Tänze der Alltagsbewegungen. Denn was bei der Definition einer tänzerischen Bewegung zählt, sind vor allem deren qualitative Bestandteile, und nicht deren dynamische Qualität. Im Grunde ist die Bewegung an sich wertlos. Der Nicht-Tanz war eigentlich ein Hyper-Tanz, denn er verzichtete auf den oberflächlichen Charakter der Formen, um durch deren Abwesenheit, die (Leere der) Intensitäten erscheinen zu lassen, durch die allein unsere Geste existiert. Im Gegensatz dazu hat der französische Tanz der 80er Jahre das entwickelt, was man die graphische Geste genannt hat: ein kleines, bruchstückhaftes Motiv ohne wirkliche Funktionalität, das sich ausschließlich an den Extremitäten äußert. Es gäbe über diese heute wieder aufgegebene Fragmentierung einiges zu sagen. War es eine Weigerung, einen gesamten Körper in Besitz zu nehmen, die vielleicht durch die Angst vor einer übermäßigen Zurschaustellung motiviert war? Verstand sich die Geste also als Rückzugsstrategie in einer Äußerung, die punktuell, ausweichend und vor allem losgelöst sein wollte? Als Möglichkeit, die Emotion zu regulieren und sie in einer glatten makellosen Ästhetik einzuschließen, die im Stande war, jeglichen Angriff auf die Integrität eines umfassenden Körpers abzuwehren? Diese Angst vor dem Zuviel war typisch für eine Zeit, über deren Ideologie es einiges zu sagen gäbe. In den meisten Fällen lag es auch an der Unfähigkeit der nach dem strengen klassischen Modell ausgebildeten Tänzer, den Körper außerhalb der Achse zu behandeln. Somit war die fragmentarische Geste die einzige Ressource für sie, um einen allzu homogenen Körper zu verzerren oder zu entkoppeln. Bedeutete dies auch eine (vermutlich illusorische) Möglichkeit, dort die Spirale rotieren zu lassen, wo sich nur der Pfeiler erhob? Wir vermögen dem Leser über eine so kurz

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zurückliegende Periode nur wenige Interpretationen zu liefern, die weit mehr tastende Annäherungen an einen noch blinden Fleck sind (und sei es auch nur, weil sie noch zutiefst die Geschichte unseres eigenen Körpers betriff t und die des Diskurses, der heute noch sowohl auf das Schema dieses Körpers als auch auf dessen unbewusstes Bild einwirkt). Doch muss man ›die kleine Geste‹ zu allererst bei jenen betrachten, die sie eingebracht haben (Larrieu, Bagouet) und ihr ihre Existenzberechtigung verliehen haben. Es besteht nämlich ein großer Unterschied zwischen ihrer ergreifenden Vision eines Universums, die sich auf das diskrete Streifen eines sich kontrahierenden Raums beschränkt, und in der die Innerlichkeit, die innere Emotivität ununterbrochen hinterfragt wird, und der rein formalen Mimetik ihrer Epigonen, die sich allzumeist an der Peripherie des Körpers, wie auch an der Peripherie der Intention ansiedelte. Mittels seltsamer Verschiebungen des Maßstabs fungierte die ›kleine Geste‹ als Wegbereiterin. Zunächst ist ihre sichtbare Amplitude nicht unbedingt das, was ihre wirkliche Wegstrecke bestimmt: Eine Geste betriff t, auch wenn sie begrenzt erscheint, die Gesamtheit des Körpers. Die Bewegungstheorien von Feldenkrais bis Bartenieff lehren uns, dass auch die winzigste Modulierung ihre tiefe Quelle innerhalb einer Gesamtheit hat. Für Bartenieff drücken die Befindlichkeiten des Schulterblatts auch noch der kleinsten Fingerbewegung ihren Stempel auf. Doch kehren wir zu Bagouets Handgeste zurück: Sie funktioniert häufig als ein Schaffen von Raum. Zu Beginn von »Assaï« stehen die ›zwei Akkrobaten‹ einander mit den Handflächen gegenüber, wie um zwischen sich den Raum zu öff nen, ihm Konsistenz und Mobilität zu verleihen. Als intensive Ansammlung von Elementen des Tastsinns kann den Extremitäten ein größerer taktiler Wert zugemessen werden, der mit den Richtungen und Dauern gleichermaßen poetische wie sensorische Beziehungen unterhält: wie ein Streifen oder Streicheln. Ebenso kann sich auch ihre Fähigkeit, die Haut der Dinge zu spüren, über den gesamten Körper ausdehnen, zu jenem ›Tanz der Haut‹, von dem Dominique Dupuy spricht.84 Der Körper des Tänzers wird zu einem Tastorgan. Jede einzelne seiner Falten besitzt die Sensibilität des am stärksten wahrnehmenden Fingergliedes oder der aufmerksamsten Lippe. Somit faltet und entfaltet eine kleine oder große Geste die Sinnseindrücke gemäß vielgestaltiger Prismen an allen Wänden, allen Rändern der Kinesphäre. Da es im Tanz in erster Linie darum geht, mit Bewegung in ihren unterschiedlichen qualitativen Modalitäten umzugehen und sie als solche zu analysieren, musste man wohl oder übel Raster für das Lesen entwickeln, die ihrerseits durch analytisches und überlegtes Wissen zu Antrieben der Produk84 | Dominique Dupuy: »Danser outre«, in: Io, revue internationale de psychanalyse Nr. 51, Levallois 1994, S. 45-55.

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tion werden. Nach der labanschen Theorie der ›vier Faktoren‹ wirkt die Bewegung nämlich zugleich auf Raum und Zeit ein. Allerdings geschieht dies ausgehend von Elementen, die nur ihr eigen sind: dem Körpergewicht und der Intensität der aufgewandten Muskelspannung. Nachdem das Gewicht von Laban und dem gesamten zeitgenössischen Tanz als wesentliches Element entdeckt worden war, hat sich von vornherein eine Hierarchie in der ästhetischen Beurteilung durchgesetzt: Alles was dem Gewicht einen maximalen Handlungsspielraum einräumt, wird dem poetischen Projekt der Moderne im Tanz naheliegen. Durch ihre Qualität des ›Loslassens‹, der pendelartigen Fortbewegung eines unkontrollierten oder ständig durch seine eigene Energie zurückgeschleuderten Gewichts, werden die Tänze von Duncan, Palucca, Dore Hoyer, Humphrey, Limón, Hawkins, Jerome Andrews, Trisha Brown oder Steve Paxton immer diejenigen mit der größten poetischen Gewalt sein, weil sie der Umgang mit dem Gewicht beherrschend prägt. Am wichtigsten ist also das Gewicht, dann der Fluss (das Variieren der Muskelspannung). Raum und Zeit sind keine eigenständigen Elemente: Wieder einmal liegt in ihnen kein ursprünglicher Wert. Nichts existiert außerhalb der von ihm eingegangenen Beziehung. In dieser Bewegungsarbeit oder Bewegung als Arbeit entdeckt Laban gegen Ende seines Lebens die Maschinerie des Gewichtstransfers, die er ›effort‹ nennt. Während sich Labans Arbeiten der ersten Schaffensphase, in der er sein erstes Notationssystem, die Kinetographie, ausarbeitete, mit der Beziehung der vier Faktoren untereinander beschäftigten, löst sich der theoretische und begriffliche Ansatz, den er in seinem englischen Exil vervollkommnete, davon ab. Nun erkennt er in der ›Arbeit‹ der Bewegung die Triebkraft jeglicher Symbolik, im Tanz, aber auch in den Gesten, die mit handwerklicher oder industrieller Produktion verbunden sind (wäre der Tanz also wieder einmal der effizienteste Modus, um der ›Repräsentation‹ zu entgehen?). Daher rührt jene erstaunliche neue Lesart der Geste: nicht als Entwicklung einer Dynamik, sondern als Dispositiv eines Entstehens. ›Effort‹ bezeichnet nicht nur die Bewegung, sondern deren ›Antrieb85‹. In gewisser Weise liefert die ›effort-shape‹-Theorie die Modi der Instrumentierung noch lange vor der Instrumentierung selbst. Interessanterweise sieht auch Julia Kristeva einen (rhythmischen und poetischen) ›Prä-Signifi kanten‹, der das Subjekt dazu prädisponiert, in die Sprache einzutreten.86 Jene ›Palette der Rückbindungen‹ ist ein wichtiges Element im Tanz, sowohl für das Lesen als auch für die Produktion der Geste. Im Kontext des heutigen Tanzes besteht Hubert Godard besonders darauf und weist jenem 85 | Auf Deutsch im Text, Anm. d. Ü. 86 | Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 32.

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Raum der Vorbereitung eine prägnantere poetische Bedeutung zu als je zuvor. Daher sieht er den ›Auftakt‹ (›anacrouse‹) als ersten, wenn auch negativen Entwurf der Geste (ein plötzliches Nachlassen der Muskelspannung, ohne welches keinerlei Bewegung entstehen könnte), der der Gesamtheit des gestischen Projekts seine ›Farbe verleihen‹ wird. Hubert Godard sieht darin überdies einen privilegierten Übergang zur Anbindung der Geste an das ›Semantische‹, einen Zwischenraum, in dem ›sich‹ die Essenz der Geste im Gegensatz zu vielen ihrer Figuren ›nennen‹87 kann. Jener bedeutende Aspekt der ›Vor-Geste‹ ist nicht ohne Beziehung zu den Verfahren der ›Visualisierung‹, die von den unterschiedlichen Arten des Körperdenkens der Moderne entwickelt wurden. Für Feldenkrais sind die aktivsten Bewegungen, welche am ehesten eine Metamorphose des Wesens herbeiführen können, die inneren oder ›minimalen‹ Bewegungen, die von der Welt der Vorstellung beherrscht werden.88 Die vorherige ›Visualisierung‹ einer künftigen Bewegung zeichnet bereits deren Verlauf und Schwung auf den Wegen des Körpers vor.89 Somit reichert sich die Bewegung mit der gesamten inneren Reise an, die ihr für einen Augenblick eine sichtbare Gestalt verleiht. Kann man von einem ›Augenblick vor der Geste‹ sprechen? Nein, denn an jenem Endpunkt einer Lesart des Poetischen geht es nicht mehr um Vorzeitigkeit oder Nachzeitigkeit in einem linearen Begreifen, da dies stets die Gefahr mit sich bringt, den sensorischen Reichtum der Erfahrung auszutrocknen. Stattdessen geht es eher um eine Fortbewegung mit dem Tänzer durch die Verzweigungen der Rückbindung. Irmgard Bartenieff tat dies nicht nur durch ihre Wahrnehmung des Tänzers, sondern durch ihren Blick auf das menschliche Leben im Allgemeinen, indem sie im Vorübergehen die innere Musik aufnahm, die jeder von uns durch das stetige Neuausrichten der Rückbindung, die uns mit der Welt verbindet, in sich trägt. Ihr Lesen des »inneren Bewegungsimpulses« (the inner impulse to move) macht sie auf jene Gesten des Lebens aufmerksam, die uns umgeben. »Noch vor jeder sichtbaren Äußerung konnte man innere Impulse an den Vorbereitungen arbeiten sehen«, sagt sie über ein auf der Straße rennendes Kind: »Zunächst ein innerer Impuls hin zum Raum, der es umgibt, und dem, was in diesem Raum vorhanden ist. Dann hin zum Empfinden seines eigenen Gewichts, und seiner Kraft, seiner In87 | Godard: »Le déséquilibre fondateur«, S. 144. 88 | Die Erfahrung der Mimimalbewegungen spielt eine wichtige Rolle in der Lehre der Feldenkrais-Praxis. In Frankreich ist sie vor allem durch den Ansatz von Claude Espinassier bekannt. Siehe auch: M. Feldenkrais: Bewusstheit durch Bewegung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968. 89 | Irène Dowd: »Ideokinesis, the nine lines of movement«, in: Contact Quarterly VIII-2, 1983, S. 38-46.

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tention und seiner Zweckrichtung. Als drittes, hin zum Empfi nden der Zeit, als Dringlichkeit der Entscheidung. All jene Vorbereitungen interagierten mit dem Bewegungsfluss, dessen innere Schwankungen zwischen Freiheit und Kontrolle variierten. Solche inneren Überprüfungen bieten eine Kombinatorik aus Kinästhesie und Analyse, die gleichzeitig durch mehrere Register des Bewusstseins hindurch erscheint.«90 Dieser Text erinnert nicht nur an die impulsive Anpassung an die »vier Faktoren«, sondern unterstreicht die netzartige Komplexität jener Etappen der ›Vorbereitung‹, aus denen am Kreuzungspunkt zwischen Verlangen und Kontext-Kenntnis die Geste entsteht. Durch diese vielgestaltige qualitative Öffnung lässt sich von nun an die Verlagerung des Körpergewichts als handelnde Instanz eines kognitiven und sensiblen Bereichs verfolgen, der zum Körper gehört. Wie man sieht, verweist die Wahrnehmung, oder besser, das poetische Lesen der tänzerischen Bewegung auf das Lesen jeder Bewegung. Als Mobilisierung des Seins. Als Ausdruck eines Verlangens, das in der Welt am Werk ist, und das, auch wenn es bislang nicht bemerkt wurde, das große Palimpsest menschlicher Intentionen nicht weniger geprägt hat. Der Tanz ist stets mehr als nur eine bloße Bühne, die jener unschätzbar wertvollen uralten Ablagerung sichtbare Gestalt verleiht. Doch ist die zeitgenössische Geste nicht nur ein Sammelbecken, für das, was es schon gibt. Sie muss in erster Linie all jenen bislang unbekannten Bewegungen einen Weg bahnen. Die sogenannte Praxis der ›authentischen Bewegung‹, die sich heute in den Vereinigten Staaten entwickelt, strebt danach, im Körper des Tänzers eine Geste hervorzurufen, die sowohl uns als auch ihm selbst unbekannt ist, und für die es bislang weder ein Vorbild noch ein wirkliches Existenzkriterium gibt. Trotz ihrer Neuheit erinnert diese Technik ein wenig an Nikolais’ Theorie der ›einzigartigen Geste‹, einer ebenso unvorhersehbaren wie vollkommen notwendigen Geste, die keine zuvor entwickelte Form zu erfassen vermag, und die in der Vorstellung des Körpers schlummert, bis sie plötzlich durch die Macht der Tanzarbeit enthüllt wird.

90 | I. Bartenieff/D. Lewis, 1980, S. 51.

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Stile »Die kostbarsten Nuancen des Stils können erst nach einem vollständigen Studium des rhythmischen Gehalts der Haltungen und der spezifischen Verteilung des ›effort‹ begriffen werden.« Rudolf von Laban

Jeder von uns, sagt Laban, hat einen ›Stil‹, der darin besteht, wie er sich der Umgebung oder den anderen gegenüber äußert. Die Alltagsgesten und der Umgang mit der unmittelbaren Umgebung lassen ›Qualitäten‹ erscheinen, die zwar nicht unsere Beziehung zur Welt konstituieren, aber sie, was vielleicht noch wichtiger ist, zum Schillern bringen. Um jedes Wesen herum liegt eine Spiegelung, die seinem Körper und seinen Gesten entspringt. Diese Spiegelung komponiert‹ wie der Nimbus eines unsichtbaren Leuchtens. Der Tänzer macht sich körperlich bewusst, dass auch andere über jenes bunt schillernde Bündel existenzieller Register verfügen, das er bei sich selbst benutzt, und das ihn bei seiner Entwicklung unterstützt und ihr Sinn und Tragweite verleiht. An sich scheint der Stil im Tanz etwas Vages und Ungreif bares zu sein. Er ist nämlich das, was der Zuschauer am unmittelbarsten wahrnimmt, was am schnellsten auf seine Sensibilität einwirkt. Der Stil ist vollkommen unabhängig von jeglicher formalen Gestaltung: Er liegt nicht im Vokabular und auch in keinem der lexikalischen Parameter der choreographischen Handschrift, sondern innerhalb des Funktionierens dieser Handschrift. Er begnügt sich damit, die Wege zu bestimmen, durch die wir den ›Kern‹ der Bewegung erfassen werden. Der Nô-Meister Zeami spricht vom ›Modus‹ der Bewegung, im musikalischen Sinne. Doch spricht er auch von ›Stil‹ (mit allem nötigen Vorbehalt einem übersetzten Ausdruck gegenüber, der aus einem weit entfernten Kontext stammt), einem ›absoluten Stil‹, ohne Geste. »Er [der Stil] ist wie die Vögel, die vom Winde getragen mit ausgebreiteten Flügeln dahinfliegen, ohne sich zu bewegen. Genau dies ist es, was man den Modus des Tanzes nennt.«91 Jener Modus, jener ›absolute Stil‹, wäre somit die Seele des Tanzes selbst, die sich in luftiger Art und Weise, in verborgenem Innehalten, an den Grenzen zwischen Beweglichkeit und Unbeweglichkeit aufhält, diesseits und jenseits der Geste, und somit wahrscheinlich in ihrem Herzen. Susan Foster führt mehrere Definitionen für den Stil an, die alle interessant und anregend sind: Die erste besteht darin, das Material von der 91 | Zeami: Die geheime Überlieferung des Nô, Frankfurt a.M.: Insel 1986,

S. 93.

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Art und Weise des Umgangs mit ihm zu unterscheiden. Am Beispiel von Grahams Sprache beobachtet sie, wie Hawkins oder Taylor Elemente davon übernehmen konnten und ihr dadurch eine vollkommen unterschiedliche Farbgebung verliehen.92 Dieselbe Bemerkung träfe auch auf Sokolow zu, die vielleicht die erste war, die ein bereits gestaltetes Vokabular (Graham) ›nahm‹, um es im Sinne ihrer eigenen Botschaft einzusetzen, ohne sich darum zu bekümmern, einen neuen, einzigartigen mit jener Botschaft zusammenhängenden Körper zu erschaffen. In diesem Sinne ist Sokolow in unseren Augen die große Schwester der französischen Choreographen, die im Gefolge der 70er Jahre auftraten und ebenfalls ein Handwerkszeug benutzten, das schon für den Gebrauch durch ihre eigenen Projekte und ihre eigenen Träume bereit stand. Es versteht sich von selbst, dass Sokolow die grahamsche Sprache in ein etwas engagierteres, tragischeres und irrationaleres Licht rückt, als es in diesem Stil ursprünglich der Fall war. Wir finden hier die fostersche Unterscheidung zwischen Sprache und Stil wieder: »Der Stil fegt die Gesamtheit des Vokabulars eines Tanzes beiseite, indem er ihm eine kulturelle und individuelle Identität verleiht. Während sich das Vokabular darauf beschränkt, die Anzahl und die Art der Bewegungen in einem bestimmten Tanz zu begrenzen und ihre ›discreetness‹ zu bestimmen.«93 Somit wäre der Stil etwas Expansives, Offenes, und der Begriff des Vokabulars bliebe selbst im zeitgenössischen Tanz restriktiv. Man sieht das choreographische Material hier noch als Auswahloperation präsentiert, ausgehend von der unendlichen Anzahl möglicher Bewegungen. Foster formuliert jene Definition des Stils mehrmals als ›Option‹, also als Ausschluss fremder Elemente, die seine Identität verändern würden. »Eine stilistische Entscheidung im Tanz impliziert, dass ein Schatz von Möglichkeiten zu Gunsten bestimmter Bewegungsstrukturen verworfen wird, die dem, der sie ausführt, einen erkennbaren Charakter und eine signifi kative Identität verleihen.«94 Hier vollzieht sich die Annäherung an Stil und Vokabular also im Sinne einer ›Präferenz‹. Diese Präferenz ist jedoch weitaus tiefgreifender. Sie bezieht sich mehr auf geheimere und auch wesentlichere schöpferische Schichten in der Geschichte des Subjekts (oder in der Geschichte einer Gruppe). Es geht ihr nicht darum, was die Bewegung ist, sondern wohin sie sich neigt und in welche sensorischen Gebiete sie uns führt. Für uns stellt Labans Herangehensweise an den Stilbegriff im Kontext der ›effort-shape‹-Lehre einen der Höhepunkte der ästhetischen Reflexion im 92 | S.L. Foster, S. 76-88. 93 | Ebd., S. 91. 94 | Ebd.

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Tanz dar. Sie fordert eine vollkommene Empathie mit dem Körper des anderen ein und somit das Teilen subtiler Erfahrungen, die mich durch die geringste ihrer Erscheinungen an das gesamte Spektrum der Entscheidungen des Tänzers binden: manchmal durch ein vorübergehendes Auf blitzen an der Schwelle zu einer Bewegung, manchmal durch das reine DaSein einer Geste, die gerade in meiner Gegenwart und in der Gegenwart des Tänzers geschieht. Wie gesagt, äußert sich für Laban die künstlerische Entscheidung nicht durch die faktische Identität eines Elements (einen Bestandteil der Bewegung oder die Bewegung selbst), sondern durch die Beziehung, die sie etabliert. Bei der Untersuchung der vier Faktoren (Gewicht, Fluss, Raum, Zeit) werden wir feststellen, dass keiner von ihnen auf eine Vision dessen, was Raum, Zeit usw., ist, verweist, die im Übrigen essenzialistisch und substantivistisch wäre. Darin liegt die Theorie des ›effort‹ (Antrieb95), als Passage der Qualitäten jenes Gewichtstransfers, welche meine Handlungen und Wahrnehmungen konditionieren. Wie wir gesehen haben, handelt es sich bei jener ›Konditionierung‹ nicht um irgendeinen Determinismus, sobald ich meinen Körper nicht mehr in Begriffen von biologischer Fatalität denke, sondern im Gegenteil als Akteur meines symbolischen Universums, dessen Operationen den Bereich meines Denkens und meiner Vorstellung ständig neu gestalten und bereichern. Ich verorte also meine Identität durch das Verhältnis zwischen der Reise des Gewichts und den Parametern der Erfahrung. Sie wird sich durch Grundsatzentscheidungen in Bezug auf die Welt behaupten, durch die Modalitäten jener Beziehungen. Jene Grundsatzentscheidungen zeigen sich, lange bevor überhaupt eine Handlung unternommen wird, in den ›inneren Haltungen‹ (inner attitudes), jener inneren Geste, die das gesamte Gepräge meines Wesens trägt und die zu Gunsten dessen erscheinen kann (oder nicht), was Bartenieff in ihrer Theorie als ›innere Bewegungsmotivation‹ (inner impulse to move) kategorisiert96 hat. In diesem Impuls pulsiert bereits eine unglaubliche Menge von Informationen und affektiven Dispositionen, noch bevor überhaupt eine Geste entworfen ist.97 Laban hat in einer ein wenig didaktisch anmutenden Art und Weise die Äußerungen jener möglichen Beziehungs-Dispositive schematisch zusammengefasst: Meine Beziehung zum Raum kann direkt oder indirekt sein, meine Beziehung zur Zeit plötzlich oder kontinuierlich, meine Beziehung zum Fluss frei oder angespannt. Das Gewicht als Qualität (und eben nicht als quantitative 95 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü. 96 | I. Bartenieff/D. Lewis: Body Movement Coping with the Environnement,

S. 51. 97 | Vera Maletic: On the Aestetic Dimensions of the Dance, a Methodology for Researching Dance Style, Ohio: Ohio State Univ. Phd. 1980 (unveröffentlicht).

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Maßeinheit) kann sich zwischen den Kategorien von leicht und schwer bewegen. Zwischen diesen Parametern existiert eine unglaubliche Menge von Überschneidungen, Zwischennuancen und möglichen Kombinatoriken. Diese Raster beschreiben die Bewegung nicht. Sie ›qualifizieren‹ sie nur. Jene Art und Weise der Beschreibung dessen, was Laban den ›Stil‹ nennt, das heißt unsere großen Beziehungs-Optionen (durch die Kombination der ›drives‹), erschien ihm nach und nach wichtiger als die Protokollierung der Bewegung als einer in Raum und Zeit sichtbaren Handlung. Die äußere Form einer Geste ist weit weniger wichtig als die tiefgreifenden Optionen, die sich in ihr verwirklichen. Daher erwähnt die zweite Notation, die Laban nach seiner Flucht aus Deutschland in England entwickelt hatte, und die eng an den Begriff des ›effort‹ gebunden ist, nur noch qualitative Dispositive, die mit den ›inner attitudes‹ zusammenhängen. Gegen Ende seines Lebens, als das Exil und die visionäre Suche nach dem Sinn der Bewegung ihn vollkommen vom Tanz entfernt haben, interessiert sich Laban nicht mehr dafür, was der Tänzer oder der ›Bewegende‹, tut, sondern dafür, was in seiner Bewegung liegt – und sogar noch vor der Bewegung, in ihrer Initiationsphase, wo sich die qualitativen Schattierungen auf bauen. Denn besonders durch den stilistischen (qualitativen) Aspekt jener Beziehungsdispositive wird eine Bewegung, tänzerisch oder nicht, zum Träger dessen, was Laban die moralischen oder philosophischen ›Werte‹ (values) nennt, die uns im wahrsten Sinne des Wortes ›begeistern‹ (›animieren‹). Unser Denken in Bewegung (und die Bewegung unseres Denkens) hängt weder von irgendeiner Absichtserklärung ab, noch vom Vokabular, noch von der Ästhetik, die einem bestimmten Universum eigen ist. Die ›Werte‹, die von unseren Intentionen getragen werden, siedeln sich in den Randbereichen des Sichtbaren an und können oft durch eine Geste, das Aushalten einer Dauer oder eine Orientierung im Raum erscheinen. Der Stil ist nämlich ihr Subtext, das heißt, ihr wahrer Text, den man unter der choreographischen Sprache rauschen hört. Die Bewegungsanalyse, und ganz besonders die Analyse gemäß jener labanschen Sichtweise des ›Stils‹, lässt sich auf das Lesen eines choreographischen Werks anwenden, auf den Tanz eines einzelnen Tänzers, auf eine choreographische Schule, oder auf eine ganze Gesellschaft. Grundlage sind dabei nicht nur ihre symbolischen motorischen Aktivitäten, sondern all ihre Handlungen, Produktionsweisen usw. Bleiben wir für den Augenblick beim Lesen des Tanzes. Es ist an anderen – Tänzern, Forschern, Anthropologen –, zu beobachten, wie jenes Lesen Zugang zum Lesen der körperlichen Handlungen des Menschen im Allgemeinen verleiht, ob sie nun von Symbolisierungs-Prozessen betroffen sind oder nicht. Die Beziehung zu den wichtigsten Bausteinen der Bewegung, dem Gewicht und dem Fluss, geht der Ausbildung des Stils voraus. Man kann

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sagen, dass jene beiden Faktoren sich über den relationellen Aspekt hinwegsetzen, um sofort den Akt hervorzubringen. Sie sind seine Materie, sein Antrieb und seine Verpackung. Wie bereits festgestellt, hängen die radikalsten Einsätze des Tänzers immer mit der Entscheidung für eine bestimmte Muskelspannung zusammen. Daher ist im zeitgenössischen Tanz die Befreiung der Muskelspannung zum Banner einer ganzen Körperfamilie geworden (Duncan, Humphrey, Hawkins, Brown…), bei der sich das Loslassen als absolute Grundbedingung für den Tanz durchsetzt. Das heißt, für jede Bewegung, die nicht aus dem bloßen Strömen des Gewichts entsteht, und die sich weigert, sich nach einer formalisierten Konzeption auszurichten. Für Eric Hawkins, der dies in zahlreichen Texten besonders deutlich gemacht hat, »sind nur die entspannten Muskeln zur Sensibilität in der Lage«, wie ihn Nicole Walsh zitiert.98 Hubert Godard geht in seiner Betrachtung der Arbeiten von Hawkins und Trisha Brown noch weiter und analysiert die Grundsatzentscheidungen der Muskelspannung, insbesondere den ›free flow‹, als Verweigerung jedes Bündnisses mit einer Ideologie der Verhärtung, die versuchen würde, die Körper zu fesseln, indem sie die freie Bewegung des Gewichts behindert (durch ein Abschnüren des Flusses oder eine übermäßige Anspannung). Von Hawkins bis Brown (und in Frankreich bei Aubin) sind die Entscheidungen über den Fluss Bestandteile des Stils. Der Stil trägt somit dazu bei, den Körper ideologisch und historisch zu verorten. Im Falle des ›free flow‹ handelt es sich um einen körperlichen Humanismus der Gewaltlosigkeit, eine Weigerung, autoritäre Verfahren anzuwenden, oder gar solche, die von der Vorstellung eines sich durch seine Anspannung selbst behauptenden Körpers fasziniert sind.99 Doch lassen sich auch noch andere stilistische Haltungen beobachten, deren Aufzeigen für den ›Leser‹ des Tanzes kaum weniger wichtig ist: zum Beispiel der Stil im Umgang mit dem Raum. Laban gibt uns einen ersten Schlüssel zum Lesen dieser Beziehung: Sie kann direkt sein, das heißt über die Konvergenz der körperlichen Ausrichtung funktionieren, oder indirekt, wenn man sich dem Raum gleichzeitig über mehrere unterschiedliche Ausrichtungen annähert. Diese Beziehungsqualität ist für uns grundlegend für den Stil, egal, ob es sich um das Verhalten im Alltag, die Kunst des Tänzers oder die Handschrift eines Choreographen handelt. Cunningham ist zum Beispiel direkt, Trisha Brown indirekt. Odile Duboc nimmt eine äußerst interessante Zwischenstellung ein: zwischen einer Direktheit des Körpers, die vermutlich von ihrer ursprünglichen Ausbildung in klassischem Tanz herrührt, und einer Indirektheit der Fortbewegung, 98 | Nicole Walsh: »Eric Hawkins, signification du geste dansé«, in: Mireille Arguel (Hg.): Danse, le corps en jeu, Paris: PUF 1992, S. 132-144, S. 136. 99 | Godard: »Le déséquilibre fondateur«.

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die den Raum in spiegelnde Facetten zerlegt. Zahlreiche Tanzcompagnien haben sich in dieser Frage nie auf eine Grundsatzentscheidung geeinigt. Dies hat nicht unwesentlich zu dem beigetragen, was man kritisch als die ästhetische Uneinheitlichkeit im Tanz der 80er Jahre bezeichnen könnte. Man kann dies jedoch auch als den großen Reichtum einer Vielgestaltigkeit betrachten, die die Körper niemals vereinheitlicht oder gar durch Befehle geordnet hat, und wo der Interpret oft weit mehr ›Meister des Stils‹ ist als der Choreograph. Besonders durch den Stil, das heißt durch das Spektrum der Schattierungen in seiner Beziehung zur Welt, gewährleistet er den Übergang zwischen dem choreographischen Anliegen und der Sensibilität des Zuschauers. Er kann in hermeneutischem Sinne zum Interpreten des Textes werden, den er mit seinem Körper ›übersetzt‹. Aber auch, wie Emmanuelle Huynh sagt, im Sinne von jemand, der ›dazwischen‹ reist. Der Interpret nimmt eine Position zwischen dem Choreographen und seinem Text ein, zwischen sich selbst und dem, was er zeigt. Mir gefällt vor allem die Idee, dass der Interpret jener ›Zwischenraum‹ ist, jene Passage, durch die der Sinn des Textes zirkuliert.100 Nun ist aber der eigentliche choreographische ›Sinn‹ das, was die ›Werte‹ des Textes (und nicht nur seine Figuren) trägt, und was beim Zuschauer ›Antworten‹ und, wie es Laban formuliert, ›innere Haltungen‹ provoziert. Kurz gesagt: all das, wodurch das Denken des Körpers berührt wird. Gewiss sind auch andere Variationsparameter vorstellbar. Man kann sogar sagen, dass die künstlerische Arbeit darin besteht, gleichzeitig mit Sprache und Stil ein System zur Bewertung dieser Ausdruckskategorien anzubieten. Halten wir fest, dass Laban, noch lange bevor er das Konzept des Stils im Kontext der ›effort‹-Lehre entwickelte, vorschlug, die Geheimnisse des Stils in der Behandlung der Übergänge zwischen den Schlüsselhaltungen aufzuspüren. Indem er den Begriff der Bewegung durch den der Spannung ersetzt, enthüllt sich ihm nach und nach die für den zeitgenössischen Tanz grundlegende Idee, dass die wichtigsten Phasen die Übergangsphasen sind. Gegen Ende seines Lebens wiederholt Laban in The Mastery of Movement, dass es jene Übergangsphasen sind, die die Abdrücke von Stil und Sinn tragen.101 Indem er Informationen über jene körperlichen Optionen vermittelt, unterhält der Choreograph oder Tänzer eine wichtige Beziehung mit dem Zuschauer. Wie Laban sagt, wecken die von der Bewegung getragenen ›Werte‹ beim Zuschauer Mechanismen der Zustimmung und Ablehnung, die bei ihm eine im wahrsten Sinne des Wor100 | Emmanuelle Huynh: »Réflexions sur l’interprète«, in: Écritures du corps, Lille: cie Le Marietta Secret 1992. 101 | Vgl. Laban in: The Mastery of Movement, Kapitel 4, S. 122.

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tes ›kritische‹ Arbeit in Form einer aktiven und bewussten körperlichen ›Antwort‹ auslösen (vielleicht die einzige wirkliche kritische Arbeit, die sich mit dem Tanz beschäftigen sollte). Übrigens wird Laban in den Jahren 1924 bis 27 auf genau dieser Feststellung einer möglichen Erweckung des Zuschauerbewusstseins für das, was er später die ›tieferen Werte‹ (deeper values) nennen wird, seine Theorie des Tanztheaters102 als Bühne eines historischen Bewusstseins der menschlichen Handlungen auf bauen. In der Tat werden wir durch das Spiel einer Dramaturgie der motorischen Option »zu einer neuen Anschauung des Weltgeschehens [hingeführt], die zu uns von dem inneren Weg spricht, den ein Charakter einschlägt.« 103 Die in der Ästhetik des Tanztheaters überaus wichtige ›Figur‹ wird somit, wie Vera Maletic schreibt, zur »Verkörperung der Werte und Haltungen.«104 Im Tanz kann eine ›Bühnenfigur‹ nur im Bewusstsein der Verwendung eines Stils entstehen, oder in wissenschaftlicherer Weise, gemäß der labanschen Verfahren, indem mein Körper grundlegende Optionen verwendet, die nicht von mir selbst stammen. Somit ist eine unglaublich eingehende stilistische Lektüre dessen, was eine ›Bühnenfigur‹ sein könnte, nötig, um zu einer ›physischen Fiktion‹ zu gelangen. Einzig um diesen Preis kann ›ich‹ ein anderer werden. Die ›Bühnenfigur‹, die in den Werken, die zwischen Tanz und Theater angesiedelt sind (z.B. bei Gérard Gourdot, Joseph Nadj, Nicole Mossoux-Patrick Bonté usw.), so wichtig ist, kann nicht mehr als das Ergebnis eines ›Spiels‹ betrachtet werden. Sie ist eine qualitative Verwandlung, die die Definition des Subjekts in ihren Grundfesten erschüttert. Dabei stellt sich die Frage, wie groß die Bedeutung der ›kritischen‹ (stilistischen) Aktivität der Reise der intimen Optionen des Wesens im Verhältnis zu den bloßen Effekten der Darstellung und der Manipulationen der Vorstellungswelt sein wird. Nun streben aber manche Künstler genau jenen Zusammenbruch der Vorstellungswelt an, der jegliche subjektive Identität implodieren lässt. Genau dies macht die Kraft und Radikalität einer Arbeit wie der von Mossoux-Bonté aus, die das Sein durch Figuren der dramaturgischen Erfindung ständig an die Grenzen des Zerberstens treibt. Durch die Art und Weise, wie Trisha Brown bestimmte Figuren ihrer jüngsten Stücke behandelt, lassen sich einige vollkommen unterschiedliche und der labanschen Sichtweise viel näherstehende Begriffe erfassen: unter anderem die diff use Verkörperung des ›little man‹ in dem 1992 mit der Compagnie Bagouet erarbeiteten »One story as in falling«. Dagegen zielte in derselben Company der überaus wichtige Umgang mit der ›Büh102 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü. 103 | Rudolf von Laban: Ein Leben für den Tanz, Dresden: Carl Reißner 1935, S. 216. 104 | Vera Maletic 1984, S. 140-141.

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nenfigur‹ in »Saut de l’ange« keineswegs darauf ab, die stilistischen Qualitäten der einzelnen Tänzer zu verschieben, sondern im Gegenteil darauf, sie zu bejahen. Hier entstand die Bühnenfigur aus einer erstaunlichen Gleichsetzung des Selbst mit seiner Rolle. Durch jenes »Wir spielen, wir selbst zu sein«, jene Betonung der individuellen ›Stile‹ der Tänzer, war das Stück im Grunde vielleicht nur eine Inszenierung dieser Stile. Jene in der französischen Choreographie der 80er Jahre sehr verbreitete Ästhetik des »Wir spielen, wir selbst zu sein« hat gewiss sehr schöne Stücke hervorgebracht, wie »Chacun appelle« von Jacques Patarozzi (1984), wo die ›Präsenz‹ des Interpreten als absolutes Gewebe einer existenziellen Poetik behandelt wird. Solche Situationen sind Ausnahmefälle und hängen unendlich stark mit der Qualität, der Authentizität und dem Einsatz des Tänzers zusammen. Denn die Entscheidung für eine Arbeit an ›Persönlichkeiten‹ ist gefährlich: Sie kann zu einem Verfahren des ›casting‹ 105 führen und gibt schwerfälligen Ästhetiken Nahrung, die mehr auf das ›Bild‹ abzielen als auf die Feinheit der Präsenz. Dennoch hat der Zustand der Begnadetheit, in welchem sich Interpreten wie Maïté Fossen oder Dominique Mercy zweifellos befanden, zu einer spontanen Gleichsetzung von ›Stil‹ und ›Wesen‹ geführt, als unmittelbarem, gleichsam unerklärlichen Ausdruck einer einzigartigen Persönlichkeit, die auf der Bühne einen poetischen Körperzustand durchlebt. Wir haben von Arbeit gesprochen. Die Arbeit am Stil ist langwierig: Sie vollzieht sich dadurch, dass sich ein Körpersystem langsam von einem anderen durchdringen lässt. Nach Aussage seiner ehemaligen Interpretin Dominique Noël hatte Dominique Bagouet eine Vorliebe für Tänzer, die wie ›Schwämme‹ funktionierten und eine Poetik des Körpers wie durch einen Kapillareffekt absorbieren konnten.106 Doch benötigt ein Schwamm Zeit, um sich vollzusaugen und seine Umrisse und seine Konsistenz zu verändern. Eine so bemerkenswerte Tänzerin wie Viviane Serry sagte während eines Bagouet-Repertoire-Workshops, dass sie zwar die Bewegung, aber nicht den ›Stil‹ weitergeben könne, da sie nicht lange genug in der Company geblieben sei.107 Diese Bemerkung ist von tieferer Bedeutung: Sie weist darauf hin, dass man Zeit braucht, um einen Körperzustand zu 105 | Dieser Ausdruck, der auf ein Gespräch mit Jean Pomarès zurückgeht, findet sich wieder in: Laurence Louppe: »Piège pour un espoir«, in: Art Press Nr. 163, April 1992. 106 | Dominique Noël: Redebeitrag zum Symposium »Mémoire de la danse, mémoire des œuvres, mémoire des corps«, Alès, März 1993 (mündliche Quelle). 107 | Viviane Serry: Workshop-Präsentation der Carnets Bagouet, Théâtre Contemporain de la Danse 1994 (mündliche Quelle).

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durchdringen und sich von ihm durchdringen zu lassen. Nun wird der ›Stil‹ aber in der choreographischen Gemeinschaft erarbeitet, und zwar nicht nur als Gestaltwerdung der Kinesphäre des Choreographen, sondern als Netz von Beziehungen, das nach und nach innerhalb der Gruppe entsteht. Deshalb kann das Wichtigste an der choreographischen Handschrift, das was Bartenieff die ›körperliche Signatur‹ (bodily signature) nennt, und was wir durch den Ausdruck ›der Kern‹ anzudeuten versuchen, nicht anders weitergegeben oder zumindest geteilt werden, als durch ein Teilen jener Erfahrung selbst. Die Arbeit mit einem Choreographen erinnert mich an die jener Ethnologen, Bewegungsforscher und Tänzer, die, um in ein gestisches System einzudringen, lange Zeit in einer Gesellschaft verbringen und solange die Gesten der Einwohner nachahmen, bis sie die Rhythmen und Dynamiken verinnerlicht und alle Schattierungen des ›effort‹ begriffen haben. Erst dann können sie darüber Schlüsse ziehen, wie eine solche Kultur ihre Vorstellungswelt oder ihre sozialen Beziehungen auf der Grundlage der Körpererfahrung und des Teilens dieser Erfahrung entwickelt. Doch was bedeutet auf zeitlicher Ebene die Übernahme eines ›Stils‹ durch einen Tänzer, angesichts ganzer Gesellschaften, die Jahrhunderte gebraucht haben, um sich mittels der Anordnungen des ›effort‹ durch einem signifi kativen Körperzustand nach außen hin abzugrenzen – und um diesen Körperzustand all ihren Mitgliedern als Verhaltensweise der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft aufzuzwingen108? In diesen Fällen gelten vollkommen andere Dauern. Um im Inneren des Tanzes zu bleiben, das heißt, bei der symbolischen Überführung solcher Beziehungen in künstlerische Prozesse, zitieren wir die bemerkenswerte Analyse der Tänzerin Judy Van Zile über einen ihrer Studienkollegen, der aus Java stammte und zum Studium nach New York gekommen war. Irmgard Bartenieff fasst ihre Analyse folgendermaßen zusammen: »Der Tänzer«, schreibt sie, »beherrschte die Form und Struktur, sah aber immer noch javanesisch aus« und ging somit vollkommen an dem vorbei, was den moderne Tanz in den Vereinigten Staaten ausmachte. Eine Analyse des ›effort‹ konnte sich dann dem ›Stil‹ annähern, den die javanesische Kultur durch einen spezifischen Umgang mit den Variationen des Flusses vorgab. Es handelte sich um winzige Variationen, die dem Fluss eine gewisse Einebnung verliehen und es ihm nur erlaubten, sich in langsamen Schwankungen von ›bound‹ zu ›free‹ oder umgekehrt vorwärts zu bewegen. Während im US-amerikanischen ›modern dance‹ der Stil oft abrupte Wechsel von ›free‹ zu ›bound‹ einschließt. So wirkte sich der Stil der untergründigen Schwankung jenes 108 | Vgl. besonders Lomax/Bartenieff/Paulay: »Dance, Style, and Culture«, in: Folk Song Style and Culture, New York: AAS Publ. 1968.

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Tänzers auf die Form und Struktur der Bewegung (die er doch eigentlich beherrschte) aus, und zwar so sehr, dass ihr expressiver Sinn dadurch vollkommen verfremdet wurde.109 Ich möchte daraus zwei Betrachtungen ableiten: Die erste berührt die Kraft jenes Stils, den man oft für flüchtig oder weniger unmittelbar prägend für den Sinn hält als die Handschrift selbst. Dabei trägt doch vermutlich der ›Stil‹ als Gesamtheit der Beziehungs-Dispositionen des Körpers die gesamte Botschaft des Tanzes in sich, in einem Infra-Text, dessen Lektüre berücksichtigt werden muss. Die zweite, vielleicht schwerwiegendere Betrachtung betriff t die Erfahrungen kultureller Vermischung, wie sie sich heutzutage in einer Meinungsströmung beobachten lassen, die gleichzeitig den Begriff der Identität, und den der Alterität, den der ethnischen Identität und den ihrer Auflösung favorisiert. Man sieht, was vor sich geht, wenn man innerhalb desselben Körpers Faktoren aneinanderreiht oder gar vermischt, die nicht zuvor analysiert wurden. Die Kenntnis oder Inszenierung der Körper dieser Welt kommt nicht ohne jene von Bartenieff beschriebene extreme Feinarbeit aus, die den Ort eingrenzt, an dem ein Repräsentationssystem am Werk ist. Jene Frau, die freiwillig aus dem damaligen Nazi-Deutschland ins Exil ging, wusste dies vermutlich. Es ist die einzige Möglichkeit, um die Geschichte der Körper vor dem Risiko der Blindheit oder der Anpassung zu bewahren. Außerdem dürfen stilistische Vorgaben innerhalb einer Kultur, einer bestimmten künstlerischen Strömung oder einer Tanzcompagnie erst dann als absolut und selbstverständlich betrachtet werden, wenn sie derart eingehend beleuchtet wurden, dass der Interpret den angebotenen körperlichen Verfahren bewusst zustimmen kann.

109 | Zitiert in Bartenieff/Lewis, S. 176.

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Die Zeit lesen »Stellt sich eine Bewegung zwischen Dingen und Personen ein, dann stellt sich immer auch ein Wechsel oder eine Veränderung in der Zeit ein, das heißt in einem offenem Ganzen, das sie in sich schließt und in das sie eingehen.«

Gilles Deleuze »Ich erinnere mich. Ich erinnere mich daran, wie ich jenes wahnsinnige Bedürfnis verspürte, in dieser Achse zu bleiben und wie ich, gegen jene Flut von Bewegungen, Verben, Energien und verzweifeltem Sinn ankämpfend, den Entschluss fasste, mit der Zeit zu spielen. » Odile Duboc

Im Verlauf einer choreographischen Erfahrung sind sowohl Tänzer als auch Zuschauer dazu aufgerufen, zu Akteuren und Zeugen der Zeit zu werden. Für John Cage entsteht und verschwindet der Klang »im Unterschied zu einer Skulptur« in der Zeit. Dieses Verschwinden hat seinen Wert vor allem als Zeugnis von der Existenz der Zeit, als Faden, als Vektor der Ausführung und Vollendung einer Handlung. Die Beziehung zur Zeit ist einer der heikelsten der vier Faktoren: derjenige, der zu den meisten Meinungsverschiedenheiten, und manchmal auch Auseinandersetzungen, geführt hat. Die Problematik der Zeit ist eine der Hauptfragen des zeitgenössischen Tanzes. Manchmal ist sie fast ausschließliche Inspirationsquelle, manchmal im Gegenteil Gegenstand äußersten Argwohns. Laban mochte die Zeit nicht. In seinen letzten Texten, als sein Denken visionäre Ausmaße annimmt, vollzieht er eine erstaunliche Gegenüberstellung von Raum und Zeit: Als Ort der Gleichzeitigkeit kann der Raum das Zufällige empfangen. Die Zeit dagegen wird als Ort der Abfolge immer Verkettungen, und somit Kausalitäten mit sich bringen. Schlimmer noch: »Die Kultur hat, indem sie der Zeit eine übertriebene Aufmerksamkeit zuteil werden ließ« (eine übertriebene Aufmerksamkeit, die durch die Produktionsweisen der industriellen Zivilisation bedingt war?), »in uns die Kenntnis des Raums verkümmern lassen. In unseren frühesten Erinnerungen lallt noch ein Wissen über die Natur des Raums (instinktives Wissen). Doch haben wir es durch eine übertriebene Verehrung der Zeit verloren oder zumindest geschwächt (kasualistisches Wissen).«110 Mary Wigman legt 110 | Laban in: Vision of Dynamic Space, S. 19.

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ein ähnliches Misstrauen an den Tag: Für sie ist die Zeit ein von außen vorgegebenes Schema, das nicht wie der Raum vom tanzenden Körper hervorgebracht wird: »Zeit, Kraft und Raum, das sind die Elemente, aus denen der Tanz lebt. Im Dreigestirn dieser elementaren Kräfte aber ist der Raum der eigentliche Wirkungsbereich des Tänzers, der ihm gehört, weil er ihn gestaltet.«111 Im Gegensatz zum Raum ist die Zeit kein poetisches Hilfsmittel im wörtlichen Sinne, da sie kein ›poiein‹ hervorruft, das die Bewegung mit der Materie konfrontiert: »Wie die Musik, so hat man auch den Tanz eine ›Zeitkunst‹ genannt. Das ist richtig, sofern man sich dabei auf seine meßbaren, zählbaren und in der Zeit kontrollierbaren rhythmischen Abläufe bezieht. Aber es ist nicht alles! Und es wäre doch wohl graue Theorie, wollte man die Rhythmen des Tanzes einzig und allein vom Element der Zeit her bestimmen. […] In gleichem, wenn nicht in noch zwingenderem Maße als die Zeit wirkt sich im Tanz aber auch das Element der Kraft aus – die dynamisch Bewegte und Bewegende, in der das tänzerische Leben pulsiert.«112 Für Wigman hat die Musikalität der Bewegung nämlich nichts mit der Zeit zu tun. Getreu ihrem ersten Meister Dalcroze (wie sie es oft ist, ohne es einzugestehen) sieht sie den poetischen Rhythmus der Bewegung als körperliche Inbesitznahme von Schichten des Raums, als eine Reihe von Reibungen, langsamen Kollisionen und Spannungen, durch die die Bewegung in ihrem Lauf die Präsenz von Seelen und Körpern wahrnimmt. Durch zufällige Begegnungen mit der bewohnten Umgebung, das langsame Durchdringen der Massen und das Streifen vorüberziehender Dämpfe verankert sich das Verstreichen der Zeit körperlich-organisch in der zurückgehaltenen oder befreiten Spannung des Körpers. Diese Verankerung erhält ihren Rhythmus durch die Arbeit an den Widerständen, die intensiven Entschleunigungen, die Augenblicke des Innehaltens und des Loslassens und durch die Energieaufnahme beim Einatmen. Der Körper selbst erfindet (oder sprengt) seine eigenen Begrenzungen und bringt eine Vielzahl von Hindernissen hervor, die seinen Schwung hemmen (und somit die Dauer modulieren). Doch ist das zufällige Ereignis, der Zusammenbruch, zwischen einer Spannung und einer Gegenspannung im Inneren des Körpers, niemals ein Bruch, sondern eher ein Übergang. Dalcroze schreibt dazu: »Der Rhythmus ist das Produkt des Ankämpfens gegen einen Widerstand und der Anstrengung, die man aufwendet, um einen Bruch des Gleichgewichts zu vermeiden, ein Kompromiss zwischen zwei entgegengesetzten Kräften.«113 Wie organisiert der Rhythmus in jenem ›Kompromiss‹, der alle Bestandteile der Bewegung 111 | Mary Wigman: Die Sprache des Tanzes, S. 12. 112 | Ebd., S. 10-11. 113 | Émile Jaques-Dalcroze: Rhythmus, Musik und Erziehung, Göttingen: Kallmeyer 1977.

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umfasst, seine Transaktionen? Durch den Raum, der zur Schöpfung und Partitur körperlicher Dauern geworden ist? Laban wird erneut genau dieselbe Frage nach dem Rhythmus als Gegensatz zwischen den kontrastierenden Materien des Körpers, der Spannung und der Entspannung stellen, die näher an dem Begriff des Flusses (Anspannung-Abspannung114) liegen, den er 1926 in einem seiner ersten Werke, »Gymnastik und Tanz«, entwickelt hatte. Somit gibt es im Tanz, in der Phrasierung der Bewegung, keine ›Zeit‹ an sich, sondern nur Anspannungen und Verkrampfungen an Polen widerstreitender Intensitäten. Vielleicht kann man deshalb sagen, dass der wigmansche Tänzer »das Kleid der Zeit webt.« Cunninghams Sichtweise der Zeit ist dem genau entgegengesetzt. Für ihn ist sie die wertvollste Materie und sogar das Anliegen. Cunninghams Tanz setzt eine Offenbarung der Zeit frei. In seinen Kompositionsklassen hielt er stets eine große Eieruhr in die Höhe, um die von indiskreten Referenzen entleerte Dauer anzuzeigen, die die Tänzer in Aktion durchlaufen sollten. Viola Farber war eine der ersten, die sich selbst während der Studioarbeit dabei ertappte, dass sie die Bemerkung »Das ist eine Minute zu lang« als rein qualitativen Kommentar verstand, und zwar ungeachtet des gesamten Inhalts der Äußerung. »Merce war vollkommen da und vollkommen in der Bewegung.«115 Für Cunningham wird die Zeit nämlich nicht einfach der Bewegung hinzugefügt, sondern geht aus der Essenz der Geste hervor. »Verändert man die Zeit, verändern sich auch Raum und Bewegung«,116 schreibt Carolyn Brown und zitiert dabei folgende Workshop-Übung: »Man führt drei Phrasen in zwei Minuten aus, dann in einer, dann in dreißig Sekunden. Und dann sieht man, wie die gesamte Bewegung ihr Wesen und ihre Qualität vollkommen verändert.« Zu diesem Zweck ist es wichtig, die Zeit (und die Bewegung) von jeglichem von außen vorgegebenen Rhythmus zu befreien. Außerdem muss man sie von dem gesamten in ihr vorhandenen anekdotischen Material lösen, das ihren Verlauf narrativ, anspielungsreich oder gar emotiv – und genau dadurch parasitär – machen könnte. Carolyn Brown: »Merce arbeitete mit der Stoppuhr, denn er dachte, der Rhythmus käme vom Wesen der Bewegung selbst und vom Wesen der Bewegung bei einem bestimmten Tänzer.« (Ein bewundernswerter Satz: Durch die Bewegung, die sie entstehen lässt, ist die Zeit der inspirierte Ausdruck eines individuellen Bewusstseins.) Die Struktur und das ›Zählen‹ bleiben in der 114 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü. 115 | Viola Farber in: James Klosty (Hg.): Merce Cunningham, New York: Limelights 1989, S. 33. 116 | Und das folgende Zitat: Carolyn Brown in: Dance Perspective, Winter 1968, S. 22.

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Bewegung und ihrem Ablauf als Bezugspunkte für die durch die Verteilung von Betonungen hergestellte Zeitkonstruktion lesbar. Doch werden sie dem von einer homogenen Haltung ergriffenen Körper nicht immer durch Veränderungen des Schwerpunkts oder gar durch Veränderungen der Muskelspannung angezeigt. Dies entspricht für den Choreographen der langwierigen (und bis heute niemals völlig abgeschlossenen) Unternehmung, die Affekte und ihre Spannungsbezüge auszulöschen, weniger aufgrund ihres referenziellen Charakters, sondern weil sich ihre spasmische Dynamik gegen die Lesbarkeit der Zeit wendet: Wie sein Freund, der Dichter Charles Olson steht Cunningham in der Tradition des heraklitschen Materialismus. Für ihn ist die Zeitmaterie ein Verrinnen und der Tanz wie ein Gewässer. Und der Körper des Tänzers badet nicht zweimal im selben Fluss. Denn er ist nicht im Stande, die Zeit aufzuhalten. Daher rührt die Wichtigkeit der ›Dauern‹, als Phasen, als Strukturen ohne Inhalt. »Die Zeit ist nützlich, wenn man eher die längeren Sequenzen betrachtet, als die kleinen Besonderheiten von Rhythmus und Betonung.« 117 Bereits in einem seiner ersten Stücke, »Root of an Unfocus« (1944), hatte Cunningham eine affektive Referenz gegen Strukturen ausgetauscht, die keinen anderen Gehalt als ihren zeitlichen Rahmen hatten. »Der Tanz handelte von Angst. Er begann mit dem Bewusstsein einer der Figur fremden Präsenz, und endete nach der Entwicklung in der Zeit mit einem kriechenden Abgang aus dem Lichtkegel.«118 Durch den befreienden Einsatz zeitlicher Strukturen findet Cunningham einen Ausweg aus der Psychologie und den damals üblichen Kompositionsnormen des modernen Tanzes: »Das Stück war in drei große Sektionen eingeteilt. Jede Sektion war in Bezug auf ihr Tempo durch eine Dauer von 8-10-6 Schlägen (beats) strukturiert. Die Zeitstruktur war eine rechtwinklige Matrix, so dass die erste Sektion 8 auf 8 gab, die zweite 10 auf 10, die dritte 6 auf 6. Der Tanz dauerte fünf Minuten (1,5min–2,5min–1min).« Durch die Verwendung zufälliger Kompositionsmethoden wird die Behandlung der Zeit als wertvollste poetische Materie nach und nach stärker spürbar. Eines Tages veranstaltete Merce Cunningham gemeinsam mit Cage einen Workshop über Zufallsmethoden: Das einzige ausgewählte (und somit untersuchte) Element war die Zeit: Vier Minuten, die jeden Tag um eine weitere Minute erweitert wurden, bis eine endgültige Länge von fünfzehn Minuten erreicht war. Ziel der Arbeit war es, der Zeit einen expansiven Charakter zu verleihen, der auf alle anderen Bestandteile des Schöpfungsakts übergreifen sollte. 117 | Merce Cunningham: »Un processus de collaboration entre la musique et la danse«, frz. Übers. in: Revue d’Esthétique, Sondernummer John Cage, 1980, S. 157-168. 118 | Ebd., S. 157-168.

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Es ist seltsam, festzustellen, dass die Zeit, die für Laban den Stempel deterministischer Verkettungen trug, bei Cunningham im Gegenteil der Vektor zur Befreiung vom Kausalismus sein wird. Jene spiegelbildliche Konvergenz hinsichtlich der Fragen der Verkettung, der Notwendigkeit und des Zufalls führt Vera Maletic auf die Begegnungen der beiden Künstler mit der Bewegung des Dadaismus zurück: Labans Begegnung mit dem Cabaret Voltaire und der Galerie Dada in den Jahren 1915 bis 1917 und Cunninghams Begegnung mit dem Denken Duchamps, das durch den Einfluss von Cage und dem I-Ging bereichert und verändert wurde. Bei den deutschen und schweizer Dadaisten, von Richter bis Schwitters, wandte der moderne Tanz bereits sehr früh ›Collage‹-Techniken an und setzte in unterschiedlicher Weise den Zufall ein. Darauf verweist auch Cunninghams Mitstreiter Remy Charlip und ordnet die Verwendung des ›chance-process‹ in eine ›historische‹ (und sogar politische) Strömung der Entkoppelung ein.119 Bei Laban verdankt die Erforschung des unbekannten Raums durch die Diversität der ›Skalen‹ ihren spielerischen Aspekt vielleicht der Begegnung mit den Dadaisten. Bei Cunningham wird die Idee des räumlichen ›Spiels‹ und die Idee einer Unendlichkeit jenseits jeder menschlichen Psychologie fast vollständig von den ›chance-processes‹ getragen. Vera Maletic schreibt: »Die Verwendung der Zufallsmethoden führt nicht nur zu dem persönlichen Gewinn, seine eigene Vorstellungskraft von Klischees zu befreien. Durch sie nimmt der Tänzer-Choreograph Cunningham eine universelle Sichtweise der Zufallsverfahren an. Sie verschaffen ihm Zugang zu den elementaren Ressourcen, die den gemeinsamen Polaritäten des motorischen Impulses entspringen. Diese Ressourcen sind weitaus reicher als seine eigene Erfindungsgabe, weit universeller menschlich als seine individuelle Praxis. Laban hatte ähnliche Anliegen. Im Gegensatz zu der mechanischen und dekodierten Bewegung, die aus dem Tänzer eine Marionette machte, behauptete er den Vorteil eines räumlichen Spiels von Rätseln, das unbekannte Formen erweckte, die durch das ›Spiel des Raums‹ aus unseren instinktiven Flüssen entstanden. Ausgehend von den Richtungen und besonders den Spannungspunkten, aus denen sich das Ikosaeder als Bündelung aller in der Kinesphäre möglichen Bewegungen ergab, schlug Laban eine Art Schachspiel vor, in dem alle möglichen Strecken zurückgelegt werden konnten.« 120 Gewiss ist man, wie Vera Maletic noch einmal bemerkt, näher an der Improvisation und damit an Entscheidungen, die durch das Dispositiv des Ich ausgelöst werden, als an den körperlichen Handlungen, die bei Cunningham, jenseits jeglichen 119 | Remy Charlip in: R. Kostelanetz (Hg.): Merce Cunningham, Dancing in Space and Time, Pennington (NY): A capella books 1992, S. 40-43. 120 | V. Maletic: Body, Space, Expression, S. 142-143.

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Einflusses der subjektiven Sphäre, durch einen Würfelwurf vorgegeben werden. Laban befindet sich noch in der destruktiven Krise der Schemata, die die Industriegesellschaft dem Individuum aufgezwungen hatte: Er kämpft im Inneren eines effizienten Räderwerks, das gleichermaßen vom Körper des unterdrückten Arbeiters und vom positivistischen Denken angetrieben wird, und versucht, ihm ein anderes Bewusstsein abzuringen. Cunningham, der in einer späteren Epoche lebt, hat sich bereits über den Horizont unserer Kultur hinaus entfernt. Dem Zeit-Raum von Dichte und Hindernissen, auf den der wigmansche Körper einwirkte, setzt er die zeitlich begrenzte Mechanik von Flüssigkeiten entgegen. Das Wasser ist für ihn gleichermaßen kontinuierliches Milieu und Verwandlung, eine ›Impermanenz‹, um es mit einem dem I-Ging nahestehenden Konzept auszudrücken.121 Ist es vielleicht das, was im Tanz, wie auch anderswo, die Vertreter der Moderne von denen der Postmoderne unterscheidet? Letztere entziehen sich der Geschichte: Sie lassen deren linearen und vektoriellen Charakter hinter sich. Nach Cage und Cunningham werden die Künstler der Wiederholung kommen, für die die Zeit nicht mehr existiert oder sich zumindest nicht mehr wiederherstellen kann, da die Wiederholung ihr Verstreichen zerstört. Diese Entdeckung eines nicht-abendländischen Zeitverständnisses unter dem Einfluss von Cage und Meister Suzuki ist von großer Bedeutung für die ›Disposition‹ der Ereignisse. Wir übernehmen an dieser Stelle das von François Jullien in seiner Meditation über den chinesischen Geschichtsbegriff entwickelte Konzept, das dem zweckgerichteten Denken Hegels122 zuwiderläuft. Bei Cunningham führt die ›Disposition‹ nicht zur Vorstellung notwendiger Verkettungen. Im Gegenteil: Bei ihm überwindet die Aneinanderreihung von Elementen unter dem Einfluss des Zufalls, gemäß einer rein dispositionellen Verteilung, auf natürliche Weise das Joch einer Zeit, die homogene Blöcke einrichtet. Denn der Zufall verändert nicht nur die Wahrnehmung des gestischen Ereignisses, sondern auch die der Zeit, in der es auftritt, und zerstört die Sichtweise einer Verkettung. »Ein kausales Gesetz schreitet nur mit Sicherheit voran, soweit es gegen Störungen geschützt ist«, bemerkt Bachelard in Bezug auf die Einrichtung der Dauern.123 Cunninghams Genialität bestand darin, Dauern einzurichten, die dem Unvorhersehbaren und der Unbestimmt121 | Merce Cunningham: »Un art impermanent«, frz. Übers. in: Tel Quel Nr. 17, Frühjahr 1964, Nachdruck in: Isabelle Ginot/Marcelle Michel: La danse au XXe siècle, Paris: Bordas 1995, S. 135. 122 | François Jullien: La propension des choses, Paris: Gallimard 1990, Kap. 6, S. 210-211. 123 | Gaston Bachelard: La dialectique de la durée, erste Auflage 1950, Neuauflage PUF, coll. Quadrige, S. 57.

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heit vollkommen ausgesetzt waren. Die ›Tanzarbeit‹ stellt Verbindungen zwischen unterschiedlichen Zeit- und Körpermomenten her. Von Laban über Wigman bis hin zu Cunningham setzt sie die körperlichen Herangehensweisen an die Zeit miteinander in Beziehung oder stellt sie einander wie deleuzesche ›Ebenen der Immanenz‹ 124 gegenüber. Anders als in den anderen Künsten, wie z.B. dem von Deleuze erforschten Kino, sind jene ›Ebenen der Immanenz‹ nicht nur Faktoren der Fabrikation: Sie sind entblößte Zeit, die der Körper in ihrer Matiere selbst ausstellt. Jene entblößte Zeit ist kein kategorielles Element mehr: Sie existiert an sich und appelliert als sensibles Gewebe an die Wahrnehmung. Seit Man Ray für seine »Élevages de Poussières« Staub auf Marcel Duchamps »Grand Verre« anhäufte, ist die Frage nach der Zeit nicht mehr nur den Ausdrucksformen eigen, die traditionellerweise unter dem Etikett ›Künste der Zeit‹ eingeordnet werden. Seitdem Beuys organische Materialien wie Honig oder Fett ins Spiel brachte, oder seit den sich verwandelnden Farben von Jean-Pierre Bertrand usw., weiß man, dass die sogenannten bildenden Künste die Zeit als handelnde Instanz evolutiver Werke miteinbezogen haben. Doch handelt es sich hierbei um eine physische oder biologische Zeit, die gemäß ihrer eigenen Gesetze wirkt, und nicht um eine erschaffene, komprimierte, ausgedehnte, von den willentlichen Entscheidungen eines Subjekts, das seine Zeit erfindet, ›produzierte‹ Zeit. Denn um die Zeit zu erfinden, muss man selbst deren Materie ausscheiden. Es gilt, die Figuren der Zeit zu erschaffen (Dauern oder Unmittelbarkeiten, zeitweilige Dynamiken, oder Schichten, denen jegliche Dynamik fehlt) und die Zeit dadurch zu einer poetischen Kraft zu machen. Dies führt uns unweigerlich zu der fatalen Verknüpfung, die in allen Traditionen zwischen Tanz und Musik vorgenommen wird und sie zu zwei Seiten ein und desselben dynamischzeitlichen Phänomens gemacht hat. Es wird hier nicht darum gehen, diese gewaltige Problematik zu behandeln, die eine eigene Untersuchung verdient, sondern darum, auf einige Figuren ihrer Doppelbeziehung zur Zeit und der sich daraus ergebenden isomorphen Werkzeuge hinzuweisen. Zu Beginn des Jahrhunderts war für manche Künstler nichts so unannehmbar wie jene schicksalhafte Beziehung. Das willkürliche Gebot der Tradition und die Verkümmerung der Beziehung zwischen den beiden Künsten hatten die Pioniere der 10er und 20er Jahre dazu veranlasst, die Verwendung von Musik radikal abzulehnen, da sie eine Zeit aufzwingt, die nicht von der Bewegung geschaffen ist (auch wenn, wie Dalcroze bemerkte, am Anfang eines jeden in Klänge übersetzten Rhythmus eine ursprüngliche 124 | Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 87.

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muskuläre Erfahrung steht). Für Cunningham dagegen ist die Begegnung von Musik und Tanz nicht zu fürchten. In Stücken wie dem 1951 am Black Mountain College uraufgeführten »Untitled Event«, wo sich eine Kunst der Aneinanderreihung zeigt, die nicht nur der Kunst des ›happening‹ sehr nahesteht, sondern sich auch als Erbe der dadaistischen Collage-Praxis erweist, »kann« die Musik nach Meinung des Choreographen ohne direkte Verbindung zum Tanz »etwas Interessantes beitragen.«125 Es liegt darin kein Risiko und auch keine Garantie. Jede Beziehung zwischen den beiden Elementen ist ein Produkt des Zufalls oder der Laune des Zuschauers bzw. Zuhörers. Die einzige Verbindung ist die Zeit. Und genau diese »Poetik der Gleichzeitigkeit« enthüllt, wie Daniel Charles126 schreibt, die reine Wahrnehmung der Zeit. »Vielen Menschen fällt es schwer, zuzugeben, dass der Tanz abgesehen von der Zeit und den zeitlichen Einteilungen nichts mit der Musik gemeinsam hat«,127 sagt Cunningham. Doch geht es nicht genau darum, jene Zeit, auf ihren reinen Verlauf reduziert erscheinen zu lassen? Im Gegenteil: Sobald Musik und Tanz allzu deutliche dynamische Verbindungen miteinander unterhalten (das nachdrückliche Zusammenführen der Höhepunkte, das heißt grob gesagt, die ärmlichste aller möglichen Beziehungen) oder anekdotische, illustrative und redundante Beziehungen, verschwindet die Zeit und man gerät in eine dichte und erzwungene Bewegungslosigkeit mit erstarrten, trägen Zeitbildern. Die Herangehensweise der französischen Tänzer an die Zeit war ganz anders, auch wenn sie, einmal mehr, die von den großen Deutschen und Amerikanern eingerichteten theoretischen und praktischen Werkzeuge benutzten. Eines der Elemente, das uns in Bezug auf die Organisation der Zeit sicherlich am stärksten berührt, ist der Begriff der ›Phrasierung‹. Als grundlegender Bestandteil der Bewegungsästhetik ist er dem Faktor Zeit dennoch nicht besonders untergeordnet. Die Phrasierung hängt ebenso von der Verteilung des Gewichts und der Energie der dynamischen Kräfte ab wie von der Zeit selbst. Doch tritt die Phrasierung für uns in eine derart syntagmatische Sichtweise des Ablaufs und der Dauer ein,128 dass die zeit125 | Merce Cunningham: Le danseur et la danse, Paris: Belfond 1980,

S. 156. 126 | Daniel Charles in: Revue d’esthétique, Sondernummer John Cage,

S. 123-138. 127 | Merce Cunningham: Changes, notes on Choreography, New York: Something Elses’s Press 1969. 128 | Unter »Syntagma« versteht man in der Linguistik den Ablauf einer Äußerung in der Zeit, im Gegensatz zum »Paradigma«, das die Gesamtheit der von der Äußerung aufgeworfenen Konnotationen bezeichnet. Man kann

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liche Dimension wichtiger wird als alle anderen. Dies gilt vor allem für die frankophone Kultur, die für schwankende Modulierungen weniger durchlässig (und dadurch geradezu ärgerlich kleinlich) ist. Nicht dass die ›Phrasierung‹ das bevorzugte Charakteristikum irgendeines nationalen KörperKulturerbes wäre: Ihr Charakter ist universell. Vielleicht entsteht er durch den Atem, die Wechselbewegungen der Membranen, denen jede Bewegung ihre Farbgebung, wenn nicht sogar ihre Entstehung verdankt. »Water Study« von Doris Humphrey, das wir bereits häufiger zitiert haben (so aufschlussreich ist jenes Stück von 1928 für das Denken des zeitgenössischen Tanzes) schöpft die allgemeine Phrasierung des Körpers und der Welt aus den großen Wellen des Atems. Judith Kerstenberg, Kinderpsychologin und ebenfalls Laban-Schülerin, rückt die Phrasierung in die Nähe zu unseren frühesten Erfahrungen mit regelmäßigem oder plötzlichem und verärgertem Pulsieren (das Saugen des Säuglings zum Beispiel, oder auch die plötzlichen und absichtlichen Kontraktionen bei emotionalen Krisen).129 Könnte es sein, dass die Tatsache, dass unsere unakzentuierte Sprache uns eine eher metaphysische als empirische, eher fließende als stockende Erfahrung der Zeit verleiht, in Frankreich seit den Anfängen des zeitgenössischen Tanzes zu der dringenden Notwendigkeit geführt hat, ihre Betonungen wiederherzustellen? Man denke nur an die große französische Tänzerin Françoise Michaud, nunmehr Dupuy, die von den Lyoneser Rhythmikerinnen, die seit Beginn der 30er Jahre in Frankreich praktizierten, in die Geheimnisse der Phrasierung eingeweiht wurde.130 Etwas könnte damals also den Grund des französischen Tanzes, ›den Humus‹, wie Dominique Dupuy sagt, durch die Zuhilfenahme des Pulsierens der Membranen aufgewühlt haben. Die Phrasierung, die weit mehr als ein isomorphes Element von Tanz und Musik ist, besteht in der sensorisch-motorischen Organisation der Dauern, ihrer inneren Beseelung, die ihnen eine einzigartige Zeitlichkeit einhaucht. In ihrem Tanz und ihrer Lehre praktiziert Françoise Dupuy eine Kunst der Phrasierung, die sie über die anderen poetischen Dimensionen des Tanzes erhebt, indem sie den Impuls den Körper berühren lässt und ihn der Synkope eines endlosen reaktiven Stockens ausliefert. Es handelt sich um eine Atemkunst, die den gesamten Körper sagen, dass das Syntagma ein Vektor der Abfolge ist und sich auf den Rhythmus auswirkt. Das Paradigma dagegen wirkt sich als Vektor der Gleichzeitigkeit auf den Sinn aus. 129 | Judith Kerstenberg: »The Rule of Movement Patterns in Development. Part One: Rythms of Movement«, in: Psychoanalytical Quarterly Nr. 34, New York 1964, S. 1-36. 130 | Jacqueline Robinson: L’aventure de la danse moderne en France, 19301970, Paris: Bougé 1990, S. 137-142.

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zum Spasmus werden lässt. Jener Körper der Hingabe, des Schwungs und des Zwischenraums schwingt für uns auch in anderen Formen mit: so zum Beispiel in Odile Dubocs stets zurückgehaltenem Beinahe-Sturz, der die Zeit auf multidirektionalen Bahnen mit vielfachen Variationen von Geschwindigkeit und Richtung räumlich macht. In ihrem »Projet de la Matière« (1993) dagegen überdehnt sich die Zeit durch den Gewichtsstrom der Körper, und der Raum und die Stützflächen bilden durch die Aufmerksamkeit für Kontakte und Stürze nach und nach Körper heraus. Eine weitere Musikerin einer Zeit, die sich in einem flüssigen Schwingen des Loslassens von Gewicht abspielt, ist Stéphanie Aubin. Bei ihr bietet der Umgang mit einem Kontinuum von Zeit, Gewicht und Muskelentspannung eine Unterstreichung der Phrasierungen mit kleinen Synkopen, die die Flüssigkeit der kontinuierlichen Bewegung stetig neu auslösen. Wie bei ihrer Lehrerin Trisha Brown begünstigt die Freiheit des Beckens die Ausbreitung des Kontinuums. Doch geht es bei Brown vor allem um das Gewicht und seine Wanderschaft durch aufeinanderfolgende Stöße. Für Aubin dient das Wandern des Schwerpunkts in erster Linie dazu, die Phrasierung zum Singen zu bringen. Bei ihr gibt es eine Art Äußerung, die sich ein- und wieder ausrollt. Der Körper wird auf dem Kamm der rhythmischen Wellen davongetragen. Somit ergibt sich die Phrasierung im Tanz durch das Zusammenfließen der drei anderen Faktoren (Gewicht, Raum, Muskelspannung) in der Zeit. Die Phrasierung verteilt die Verwandlungen von Materie: die Spannungen, Entspannungen und Momente des Innehaltens, die die Betonungen eingrenzen. Sie organisiert die Stadien des Wartens, die Brüche, Beschleunigungen oder Verlangsamungen. Durch die kontinuierliche Aufrechterhaltung der Muskelspannung, die progressiv sein kann oder nicht, wird die Zeit verlangsamt (und der Raum verdichtet sich). Die Zeit wird zu einem weichen, elastischen, biegsamen Material, das in seiner poetischen Verteilung keinerlei physikalischen Gesetzen mehr unterworfen ist. Somit kann sich das Fallen der Körper, das sich in den Augen mancher noch als Beziehung zwischen der Fallstrecke, dem Gewicht und der Form des Objekts defi nieren lässt, im Tanz in ein traumwandlerisch langsames Strömen wie in »One story as in falling« verwandeln, das Trisha Brown für die Compagnie Bagouet entwarf (1992): Die Bewegung behält das Schwindelgefühl des Fallens bei (das sie durch die Hingabe des Körpers an die erreichten Geschwindigkeiten, doch nicht an die Beschleunigung erhält). Und da die Zeit ›wirklich‹ ein Bestandteil der Bewegung ist, verleiht ihr jene Phrasierung ebenso wie die äußere Form der Geste ihre Qualität und Essenz. Zwei Gesten, die auf morpho-kinetischer Ebene vollkommen unterschiedlich sind, können sich durch die Phrasierung verbinden (oder umgekehrt). Man versteht vielleicht, was bei der Phrasierung auf dem Spiel steht. Daher rührt das extreme Interesse

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daran, ohne Musik auszukommen, das heißt ohne eine von außen suggerierte Phrasierung. Der Tänzer, der ohne Musik auskommt, tritt tiefer in seine Phrasierung ein. Ohne Musik wird der Körper vollkommen für die Modalitäten des Ablaufs der Geste verantwortlich, und man sieht unmittelbar, wie sich der Tänzer dabei engagiert. Die Tänzer der großen Moderne (Duncan, Laban, Humphrey, der Tanz der 60er und 70er Jahre) wollten auf die Musik verzichten, zunächst zweifellos, um sich den traditionellen Schemata zu widersetzen. Doch auch, weil sie in ihrem eigenen Körper die rhythmischen Ressourcen der Stille vernommen hatten. Daher sagte Duncan: »Jene Tänze waren von keinerlei Musik begleitet, sondern schienen aus dem Rhythmus unhörbarer Musiken zu entstehen.« 131 Jene radikale Einstellung ging gegen Ende der 70er Jahre bei Dana Reitz mit der Suche nach einer reinen Bewegungsphrasierung einher, an der sie auf der Basis kleiner Zeitzellen arbeitete, die wie poetische Äußerungen von der Bewegung und dem Atem getragen wurden, der bei ihr die Bewegung hervorbrachte, wie er ihre Stimme hervorbringen könnte. Doch noch heute, im Gefolge des Tanzes der 80er Jahre, gibt es in fast allen zeitgenössischen Choreographien Passagen der Stille. Dies gilt erstaunlicherweise besonders für Arbeiten, in denen die Musik nicht als Begleitung, sondern als ästhetischer Partner, als Vorlage oder Spiegel fungiert, wie zum Beispiel bei Anne Teresa de Keersmaeker. Manchmal dient die Musik auch als Resonator, der einem unermesslich großen gemeinsamen Symbolvorkommen entstammt: Dies ist bei der Verwendung von Pascal Dusapins Komposition »Assaï« durch Dominique Bagouet der Fall. In dem gleichnamigen Stück setzt die Musik erst im dritten ›Tableau‹ mit dem Auftreten der rätselhaftesten Figuren ein, wie um die Gewalt der Fragestellung durch die Gewalt der Klänge zu steigern. Man kann sagen, dass der Choreograph zwischen Stille und Lärm eine andere ›Partitur‹ erfi ndet, eine andere musikalische Komposition mit unterschiedlichen Phrasierungen und Dauern und unterschiedlichen Beziehungen zum Klang. Er wird selbst zum ›Autor‹ der stummen Sequenzen, der Momente des Atemholens, der Zeitintervalle, in denen die Musik verschwindet. Dann kann in den Körpern alles stehenbleiben oder sich im Gegenteil intensivieren. Und genau da erscheint die ›allgemeine Phrasierung‹ des Werks oder der choreographischen Sprache: Sie ist gleichzeitig flüssig (durch die musikalische Linie der Bewegung) und stockend (durch die Verknappung der Geste). Bei Daniel Larrieu finden wir eine subtile Kunst der Phrasierung auf zwei parallelen Spuren. Bei Hervé Robbe ist die Phrasierung biegsam und ausgewogen, bei Bernardo Montet dagegen durcheinander geworfen und unterbrochen. In jenen Beispielen stellt die Phrasierung jedoch nur ein poetisches Ele131 | I. Duncan: The Art of the Dance, S. 102.

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ment aus der Bandbreite der Materialien dar, die beim Auf bau der choreographischen Handschrift und der Poetik der Bewegung ins Spiel kommen. Manche Künstler machen die Phrasierung im Gegenteil zum wesentlichen Generator aller choreographischen Ressourcen: Odile Duboc geht von einer ›inneren Musik‹ aus, die wie ein ursprünglicher Puls funktioniert, und aus der sich nach und nach Lauf bahnen mit ihrer ganzen Palette vielfacher Ausrichtungen herausbilden werden, einem ganzen Spiel körperlicher und räumlicher Instabilitäten. Ihr ehemaliger Interpret George Appaix geht von einer textuellen Phrasierung aus, als wohnte gewissen Antrieben der Sprache auch eine zeitliche Matrix inne, aus der der Körper eine gemeinsame Äußerung zwischen Prosodie, Interpunktion und Bewegung herauslesen kann. Der Text, zum Beispiel Verse von Homer, die in stark skandierter Form vorgetragen werden, und über die Appaix seit mehreren Jahren ein umfangreiches ›work in progress‹ webt, dient gleichzeitig als Impuls und rhythmische Prägung, die sich erstaunlicherweise von einem Stück zum nächsten verbreiten und entwickeln und dabei in einem äußerst komplexen raum-zeitlichen Spiel von Synkopen oder Verspätungen immer mehr aus der Metrik ausbrechen. Ausgehend von jener kurzen Annäherung an die Phrasierung im Tanz lässt sich der Reichtum der unterschiedlichen Umgänge mit ihr ermessen. Doch muss man auch sehen, wie gefährlich es für sie ist, sich in der Nachbarschaft eines von Vornherein auf mechanische und regelmäßige Pulsschläge eingestellten Klangs zu befinden, wie es leider in zeitgenössischen Tanzauff ührungen viel zu oft der Fall ist, um auf simple Art und Weise die nervöse Reaktion des Zuschauers anzuregen, anstatt ihn zu einer wirklichen Erfahrung der Zeit zu führen. Dennoch wurde die Phrasierung wegen ihrer Prägnanz und vor allem wegen ihres Lyrismus von den Avantgarden radikal verdammt, wie alle Elemente, deren Lyrismus über das einfache Auftreten einer gestischen Äußerung hinausgeht. Bevor wir weitergehen, erinnern wir daran, dass auch die Phrasierung nicht von dem großen Unternehmen der Zerstörung und der Infragestellung der Elemente des Tanzes durch die Tänzer der Judson Church verschont blieb. In der Gleichungstabelle der negativen Verfahren, die parallel vom Tanz und der minimalistischen Bildhauerei geführt wurde, ordnet Yvonne Rainer die Phrasierung unter die Kategorien ein, die es im Hinblick auf »die Rolle der Hand des Künstlers« »auszulöschen oder einzuschränken« gilt.132 Dies bedeutet im Grunde eines der tiefgrei132 | Yvonne Rainer: »A Quasi Survey of Some Minimalist Tendencies in the Quantitatively Minimal Dance Activity Midst the Plethora or an Analysis of Trio A«, in: Work 1961-1973, Halifax (NS): Nova Scotia College of Art and Design 1974, S. 63.

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fendsten Verfahren zur Entpersonalisierung des Tanzes: Die Phrasierung wird zu einem ›specific movement‹ gemacht, das genau wie im Falle des ›specific object‹ soweit wie möglich dem Zugriff der künstlerischen Geste entzogen wird. Das Ziel sind elementare Materien oder Formen, die von jeglichem Projekt oder jeglicher Erzählung befreit wurden, die sie an etwas in der Erinnerung oder der Geschichte des Individuums Vorangegangenes binden würden. Zur Unterstützung dieser Sichtweise bot Yvonne Rainer in »Trio A« eine Folge von unverbundenen motorischen Figuren an, von denen jede einzelne mit einer Ur-Bewegung oder einer alltäglichen Bewegung (fallen, sich erheben, sich anziehen usw.) verknüpft werden konnte, deren Ablauf sich zumindest zu Anfang in einem unbetonten Energiefluss vollziehen sollte, ohne dass dadurch die Zeit gestört oder durch das geringste dynamische Zufallsereignis ›behandelt‹ würde. Durch dieses Verfahren gelang es der Choreographin, einer Bewegungs-Zeit, die ihrer undurchdringlichen Existenz überlassen ist, ihren künstlerischen ›Stempel‹ zu entziehen. Doch mehr noch: Ist die Phrase, die die Einheit bildet, über die die Phrasierung funktioniert, nicht in gewisser Weise die sinnbildliche Zelle jeder Erzählung? Bilden die Verteilungen von Dynamiken nicht ›Episoden‹, indem sie den choreographischen Text in ein Syntagma gießen und so aus jeder Dauer eine geäußerte Fiktion machen? »Der Großteil des abendländischen Tanzes, der uns vertraut ist, lässt sich durch eine bestimmte Verteilung von Energie charakterisieren: Maximale Entfaltung bei der Attacke zu Beginn einer Phrase, Wiederaufnahme am Ende, mit einer Art Pause in der Mitte.«133 Wie man später sehen wird, trägt jener dynamische Bogen der Phrase in sich den gesamten kompositorischen Schwung, der je nach den unterschiedlichen Epochen der Ästhetik im zeitgenössischen Tanz betont, angewandt, oder im Gegenteil geleugnet und in Frage gestellt wird; doch gibt es zwischen jenen Etappen keine lineare historische Entwicklung. Das was »Trio A« verweigert, indem es Ereignisse mit einer eingeebneten Dauer und dynamischen Intensität aneinanderreiht, hat der zeitgenössische französische Tanz inzwischen wieder hundertfach neu investiert. Die erschütterte, unregelmäßige, heftige Phrasierung von Catherine Diverrès, der Wechsel zwischen Momenten des Innehaltens und plötzlichen Katastrophen bei Anne Teresa de Keersmaeker übernehmen jenen Umgang mit der Phrasierung in einer neuen Ästhetik. Einer Ästhetik, in der der Höhepunkt, weit davon entfernt, die Informationen im Umgang mit einer durch Kontraste gesättigten Dauer anzuhäufen, im Gegenteil eine Art Leere berührt, eine Art von neuem Gefühl der Vergänglichkeit, der Vernichtung des Akts. Als ob die Begegnung zwischen Gewicht und Zeit, durch die Laban den Rhythmus definiert, mehr zur Verpuff ung eines 133 | Ebd.

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in der Dauer konstruierten Diskurses führte, als zur Beherrschung einer Zeit, in die sich der Tänzer hineinstürzt, wie eine freiwillige Beute, die sich Chronos durch die Verschwendung der Geste und die Dynamik der Phrase noch mehr hingibt, als durch ihre Dauer. Die Phrasierung wirkt auf das Fortlaufende ein, sogar wenn sie kontrastiert wird. Doch äußert sich das diskontinuierliche Zeitempfinden weit mehr durch den Zwischenraum, den Moment des Innehaltens oder durch die Unmittelbarkeit, die zu Brüchen und Ausnahmen und manchmal zu Blendung oder Schwindel führt. Es kann vorkommen, dass sich die Zeit selbst entleert und zum bloßen Warten auf einen unsichtbaren Augenblick wird. Jenes Warten ist keine bloße wertlose Abkoppelung. Es erinnert an die chinesische Sichtweise der ›mittleren Leere‹, die Henri Maldiney folgendermaßen kommentiert: »Die mittlere Leere ist nicht lückenhaft. Sie ist nicht das Ergebnis eines Fehlens von Fülle. Sie liegt mitten in der Fülle, eine große Leere des Anfangs und des Endes…«134 Ganz bestimmt liegt darin das gesamte poetische Potenzial des ›Auftakts‹, des Augenblicks, der dem Erscheinen der Geste vorausgeht, in dem sich in einem Bruchteil von Zeit das enthüllt, was Bartenieff ›inner impulse to move‹ nennt, mit dem gesamten Dispositiv, der gesamten ›Palette der Rückbindungen‹, die sich auf baut. Der Begriff des ›Auftakts‹, der bereits bei Dalcroze vorkommt, wurde unlängst von Hubert Godard neu überprüft und bereichert. Von jener »kurzen Passage des Zusammensackens, die jenem absolut grundlegenden Augenblick des gestischen Auftakts entspricht«, behauptet er: »Die Vor-Bewegung ist ein leerer Bereich, ohne Fortbewegung, ohne segmentarische Aktivität. Und dennoch hat sich hier schon alles entschieden: das gesamte poetische Potenzial, die Farbgebung der Handlung.« 135 Er sieht die Auftakt-Phase nicht nur als Einrichtung einer körperlichen ›Semantik‹, sondern als Bedingung für die poetische Öffnung, als »Potenzialität, die unterschwellig in der Geste vorhanden ist.« 136 Während der Auftakt ebenso wie die ›Visualisierung‹, die sich darin vollzieht, das Zirkulieren der inneren Bewegungen vorskizziert, ist Nikolais’ ›momentum‹, das gleichzeitig Schwung oder Stoß, aber auch Intervall des Vorwärtsstürzens ist, nicht weniger interessant. Denken wir daran, dass im Englischen der Ausdruck ›momentum‹, trotz seiner Ähnlichkeit mit dem französischen ›moment‹ (Moment) nichts Zeitliches bezeichnet: Er gehört zum lexikalischen Apparat der Dynamiken. Doch benötigt seine Aktualisierung eine besondere Zeit, einen Zwischenraum, ein Rückbindungsscharnier. Für Steve Pax134 | Henri Maldiney: L’art, l’éclair de l’être, Paris: Comp’act 1992, S. 157. 135 | Godard: »Le déséquilibre fondateur«, S. 145. 136 | Ebd.

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ton ist das ›momentum‹ auch »der Intervall zwischen zwei entgegengesetzten Spannungen«. Für ihn handelt es sich weniger um eine Zeit des Bruchs als um eine Zeit des Wartens: um jenen Augenblick, in dem sich bei einem ›contact improvisation‹-Experiment die Entscheidungszentren leeren, um es dem Körper zu erlauben, von seinem eigenen Gewicht und dem des anderen geleitet, eine unerwartete Richtung einzuschlagen (sich aufstützen, gleiten, kippen usw.).137 Der Poetik des Tanzes ist besonders an diesen Gelenken des Oszillierens gelegen. Entweder durch jenes unendlich kurze (doch entscheidende) Stadium des Innehaltens zwischen Sturz und erneutem Erheben, das Doris Humphrey sehr schätzte. Oder durch das Einverständnis eines Paxton zum völligen Verlust der Achse, indem man sein Gewicht in das Gewicht des anderen entleert. Genau in diesem Moment, sagt Paxton, »erscheint« eine neue »Zeit, die nicht messbar ist, und die keine präzise Dauer hat.« Die Zeit, sagt er später, äußert sich durch die endrokrine Reaktion auf den Verlust des Gleichgewichts und führt zu »einer großen Ausdehnung der Zeit […] Diese Art von Phänomen bezeichnet man als ›Empfinden der Zeit‹: die Tatsache, durch unsere Modalität des Zeitempfindens zum Wiederaufstehen zu gelangen.«138 Natürlich fällt diese neue Wahrnehmung der Zeit mit einer anderen Wahrnehmung von Körper und Gewicht in Beziehung zum Raum und zur Sicht auf die Gegenstände der Welt zusammen: Denn wenn der Kopf beim Stürzen oder Abgleiten ständig in Bezug auf das Körperzentrum desorientiert wird, werden alle Dimensionen der Bewegung außerhalb ihres gewöhnlichen Bewusstseinsbereichs erfasst. All diese Zeitintervalle, in denen der Schwung oder Einsatz ausgehend von einem Dispositiv der Rückbindung sichtbar werden, lassen den Tänzer wie den Zuschauer die Wichtigkeit des ›Augenblicks‹ spüren, den jene Verfahren herauf beschwören, manchmal auch hervorrufen: der Augenblick als einzig möglicher Rahmen für die Erscheinung des Unbekannten, wie ein Bruch in der Erfahrung. Wie Odile Duboc Bachelard zitiert, handelt es sich um die einzige zeitliche Dimension, die als solche einen Platz im Gedächtnis einnimmt.139 Der Tänzer arbeitet am Augenblick, aber auch ›im‹ Augenblick. Die völlige Präsenz im Augenblick, ohne Verzögerung oder fi xierende Antizipierung macht ganz allein die Qualität eines Tanzakts aus. Sie ist ebenfalls ein wesentliches Element der ›Präsenz‹ des Tänzers. Die ›Präsenz‹ kann als Qualität des ›Da-Seins‹ gelesen werden (was sich aus einem topologischen Verständnis des Seins ergäbe), als das, was eine Person durch die kommunikative 137 | S. Paxton: »Contact Improvisation« in: Dance as a Theater Art, 1974. 138 | Ebd., S. 224. 139 | Gaston Bachelard: »L’intuition de l’instant«, zitiert in: Odile Duboc: »L’épreuve du temps«, in: Les Cahiers du renard Nr. 15, Herbst 1993.

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Kraft ihres Selbst in der Beziehung zu anderen ausstrahlt. Jene Kraft der gleichermaßen spannungsgeladenen und räumlichen Aura, die der Körper gleichzeitig verbreitet und organisiert. Doch verweist dies auch auf die dringende Notwendigkeit für den Tänzer, in der Gegenwart präsent zu sein (chronischer Begriff ). Ohne die ›Präsenz‹ teilt sich nichts von der Unmittelbarkeit des Akts mit, der tiefgreifenden Wechselwirkung zwischen der Geste und dem Wesen des Augenblicks, der sie hervorbringt (und die ihn hervorbringt). Die Präsenz im Augenblick lässt sich, wie Odile Duboc vorschlägt, als ›bewusster Augenblick‹140 definieren. Bei ihr und ihren Tänzern löst das Bewusstsein des In-der-Zeit-Seins einen Zustand außerordentlicher Präsenz aus: Dort hält der Körper, der seine eigene Fülle bearbeitet, die Zeit in der Schwebe. »In den Stücken, die Duboc auf der Straße choreographiert hat, teilen die Tänzer, die bei dieser Gelegenheit ›Fernands‹ getauft wurden (um sie besser mit dem Gewöhnlichen zu verschmelzen) mit den NichtTänzern die alltäglichen Räume der urbanen Wegstrecken. Gekleidet wie sie, animiert wie sie. Und dennoch anders. Warum? Weil sie in einer anderen Zeit sind. Sie selbst sind diese andere Zeit… Sie sind, was die anderen so selten sind: in ihren Handlungen präsent, sogar bei der Handlung, den Bürgersteig auf der anderen Straßenseite anzusteuern.«141 Das absolute Zusammenfallen der Geste mit dem Augenblick, oder auch mit der Dauer ihrer Entwicklung (im nikolaisschen Sinne der ›motion‹ als Durchlaufen einer sensorisch-motorischen Erfahrung) ist eine der Grundlagen des zeitgenössischen Tanzes. Es wäre müßig, zu versuchen, eine Bedeutung in Form einer hinzugefügten Fiktion über jene zeitlichen Bewusstwerdungen des Körpers zu legen, die zugleich als Zeit- und als Sinnsplitter auftreten. Jene ›Präsenz‹, die dem Tanz, aber auch anderen ›Praktiken des Augenblicks‹ eigen ist, wird nach Meinung des Psychoanalytikers Claude Rabant, »durch die Energie einer stets vollkommen erneuerten Aktualität verursacht.«142 Vielleicht rührt der Glaube an die Vergänglichkeit des Tanzes von dieser Vereinigung des tänzerischen Akts mit dem Augenblick seiner ›Aktualität‹ her, so als sei die Bewegung für immer in die Gegenwart eingeprägt, eine Gegenwart, die niemals wiederkehren kann. »Was wird wiederkehren? Alles außer der Gegenwart, der Möglichkeit einer Präsenz«, schreibt Maurice Blanchot in Le Pas au-delà. Denn im Augenblick der Geste ist es nicht so sehr die Bewegung selbst, die vergänglich ist, sondern das 140 | Odile Duboc: »L’épreuve du temps«. 141 | Laurence Louppe: »Le danseur et le temps«, in: L’art en scène/première, Paris: Cie Larsen 1994, S. 7. 142 | Claude Rabant: Inventer le réel, le déni entre perversion et psychose, Paris: Denoël, coll. »L’espace analytique« 1992, S. 34.

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Auf blitzen der Begegnung, das ungreif bare Erzittern mehrerer gekreuzter Wahrnehmungen zwischen Körper und Blick. Die Sicht der tänzerischen Bewegung als ›vergänglich‹ entspringt der Erfahrung des tanzenden und noch mehr des schauenden Subjekts in seiner Ergriffenheit. Die Bewegung weiß nichts von den dimensionalen Kategorien der Zeit und den linearen Darstellungen, die wir daraus machen. Sie entwickelt sich in der Zeit, die sie erschaff t, oder vielmehr in jenem ›Ganzen‹, nach dem von Deleuze auf das Kino angewandten Konzept einer multidimensionalen Umgebung. Sie »taucht« zwar ein, »um sich darin zu verlieren«, aber auch, um zu überleben. Denn, der Zeit ausgeliefert, erfindet die Bewegung darin alle poetischen Faktoren neu: Räumlichkeiten, Anspannung, Modalitäten des Gewichtstransfers und die Einwirkung von Paradigmen und Brüchen auf die Referenzen. Alles dient ihr dazu, die Dauer wie eine Materie spürbar zu machen und den Augenblick wie die Offenbarung eines Auf blitzens, das immer wieder von Neuem beginnt. Die ›Tanzarbeit‹ an der Zeit entringt Chronos seine verschlingende Macht über die Körper. Indem er ›sich‹ in der Zeit ›verliert‹, gestaltet der Tänzer eine Art ›Gegen-Schicksal‹, das mit der Bereitschaft verbunden ist, eine Bewegung ohne äußere Kontrolle auf ihren Ausgang zustreben zu lassen.

Poetik der Flüsse »Was bewirkt, dass eine Bewegung sich von einer anderen unterscheidet, ist nicht so sehr die Artikulierung der unterschiedlichen beteiligten Körperteile, wie der Unterschied in der Energieintensität.« Yvonne Rainer

1. Die Spannungen als Poetik Wenn wir vom Faktor Zeit in der Bewegung sprechen, bringt uns dies über die Begegnung von Zeit und Energie in der Phrasierung direkt zu den Qualitäten, die Laban mit dem schönen Begriff des Flusses verbindet. Émile Jaques Dalcroze hat als erster auf die Bedeutung der Veränderungen der Muskelspannung hingewiesen, und zwar bereits ganz zu Beginn seiner Praxis der ›Eurhythmik‹, die er ab 1905 auf den Körper anwandte. Seine Genialität bestand darin, zu begreifen, dass die Modulierungen des Muskelgewebes durch ihren Gehalt die erste Beziehung sind, die wir mit dem Symbolischen unterhalten und dass sie ebenso wie alle anderen Ausdruckswerkzeuge Raum und Zeit konstruieren. Ebenso setzt sich Dalcrozes Kunst zum Ziel, »unmittelbare Beziehungen zwischen der äußer-

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lichen Musik und jener zu schaffen, die in jedem von uns erklingt, die nur der Nachhall unserer individuellen Rhythmen ist, unserer Kümmernisse, unserer Freuden, unseres Wollens und unseres Könnens.« 143 Wir werden uns hier nicht nur für die Unmittelbarkeit der rhythmischen Umsetzung des inneren Lebens in körperliche Entladungen interessieren, sondern auch für den Körper als Vektor des »grundlosen Willens«, den Nietzsche in der Geburt der Tragödie ankündigte. Jede Erscheinung der Vorstellungswelt ist nur die materielle Äußerung des ›inneren Gesangs‹, der noch mehr als die ›Darstellung‹ der Welt unsere Spannung zu ihr hin ist. Dies hatte Dalcrozes Freund, Schüler und Mitarbeiter Adolphe Appia vollkommen begriffen, als er schrieb, dass, die neue Sicht der Bewegung »nichts um sich duldet, was nicht vom verkörperten Rhythmus herrührt.«144 Raum, Gegenstände und Licht werden vor allem die Reflexe sein, die als Körperzustand und -funktion in den Raum des Rhythmus projiziert werden: Atem, Wechsel der Stützen usw. Denn der Rhythmus ist der Raum des Austauschs zwischen den Signalen, die die plastische, klangliche und symbolische Umgebung liefert, an den Körper, der sie aufnimmt, zurücksendet und durch die Register seiner organischen Reaktionen umwandelt: »Die plötzlichen oder vorbereiteten Attacken, die fortlaufenden oder plötzlichen Verhärtungen oder Erweichungen, die heftigen oder ruhigen, leichten oder brutalen Rhythmen finden ein Echo in allen unseren Gliedern…« 145 Jene Echos äußern sich vor allem durch Veränderungen der Muskeltextur, jenes Gewebes faseriger Intensität, das unseren Körper gleichzeitig zum Klangkörper, zum Instrument und zum Bogen des inneren Gesangs macht. Denn vergessen wir nicht, dass der Rhythmus nicht die regelmäßige (oder unregelmäßige) Rückkehr einer periodischen Prägung ist, als die man ihn oft definiert. Er ist in mancherlei Hinsicht das Gegenteil davon. Der Rhythmus impliziert eine tiefgreifende Umwandlung der Materie, eine dynamische Störung der Substanzen und der Energien. Man darf nach Dalcroze »den Rhythmus, der der Beseeler des Körpers ist«, nicht mit dem »Takt« verwechseln, »der nur dessen Regulator ist.« 146 Die Arbeit der Muskelspannung ist die erste Umgebung, durch die sich der Körper abrupt verändert und durch die er beseelt wird. Wenn die dalcrozesche ›Methode‹ in unabgeschwächter Art und Weise unterrichtet wird, besteht sie zunächst darin, das Subjekt mit den Katastrophen von Raum und Zeit zu konfrontieren: mit Hindernissen und Unebenheiten, die bei ihm Veränderungen von 143 | Émile Jaques-Dalcroze: La musique et nous, Genf: Slatkine 1981. 144 | Adolphe Appia: Œuvres complètes Band III (Écrits dalcroziens), Genf: L’Âge d’Homme 1988, S. 152. 145 | E. Jaques-Dalcroze: Rhythmus, Musik und Erziehung. 146 | Ebd.

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Gewicht und Stützen, Stolpern und Neuanfänge hervorrufen, durch die es den eminent heftigen Lauf der rhythmischen Gewebe verspürt. Dies rückt die rhythmische Erfahrung in die Nähe der Variationen der emotionalen Erfahrung und des emotiven Lebens des Subjekts, die Pierre Kaufmann als »Störung der Funktionen der Anpassung an eine Umgebung« sah, durch die das Subjekt in langen Übungen und Improvisationen sein plötzliches Hochschnellen neu erfindet und die Abgründe seiner Vorstellungswelt in seine körperliche Poetik integriert. Doch werden die Verwandlungen der Beschaffenheit der Welt vor allem im Körper selbst spürbar. Eines der wichtigsten Elemente des Rhythmus ist die Nuance, worunter alles zu verstehen ist, was eingesetzt wird, um die Intensität des Klangs zu verändern: sforzando, crescendo, decrescendo. Dalcroze entdeckt ihre Wurzel in den großen Erfahrungen der Veränderung der Muskelspannung: Intensivierung oder Nachlassen, mit ihrer Dauer, ihrer Modulierung. Durch seinen Umgang mit der Nuance gibt er der Instrumentalmusik den Körper zurück, den sie verlassen hatte, um verschiedene organologische Substitute zu bewohnen. Ganz allgemein verdient Dalcrozes Unternehmung heute mehr denn je unsere Aufmerksamkeit, nicht nur aufgrund seiner Entdeckungen, sondern auch im Hinblick auf seine Untersuchungsmethode: jene eingehende Neuüberprüfung des Körpers, um darin den Urzustand der musikalischen Phänomene aufzuspüren, als trage der Körper die Gesamtheit der künstlerischen Ausdrucksformen und das Geheimnis ihrer Hervorbringung in sich verborgen. Denn anders als man gemeinhin glaubt, hat Dalcroze keine ›Mimetik‹ oder ein System zur körperlichen Aufnahme klanglicher Phänomene begründet. Er entdeckt im Gegenteil den Gesang der Welt in dem, was verkörpert wird. Er verleibt nicht in den Körper ein, sondern zieht aus diesem Körper Schlüsse. Er schöpft aus der körperlichen Reaktion eine andere Musik, Klangfasern mit ihren Dehnungen, ihrem Knacken, ihren Brechungen und ihrem Körperschall. Auf dem Weg zum Rhythmus als Puls des Lebens entdeckt Dalcroze in der Kollision der Körper mit dem Ort der Dinge und in der Kollision der Körper mit den Orten des Körpers (der Anpassung an das Umfeld?) den Tanz. Einen Tanz, den man als ursprünglich bezeichnen kann, unabhängig von jeglicher anatomischen Verortung, der jenseits jeglicher gestischen Aussendung liegt, die durch ihre Umrisse identifizierbar wäre. Dalcroze versteht also, dass die Nuance in uns liegt: Sie ist das Zu- oder Abnehmen der Muskel- und Nerventextur, auf die sich die geringste Verkrampfung, der geringste emotive Übergang auswirkt, sie zum Schwingen oder zum Zusammenbruch bringt. Und all dies hat einen Sinn. Es gibt also einen inneren Gesang der Muskelspannung. Diese bedeutende künstlerische Offenbarung, die Laban (der sich nicht immer darum bekümmerte, seine Quellen zu benennen) später übernahm, finden wir heute in einer ver-

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tieften Reflexion wieder, die sich mehr auf die Notwendigkeiten des heutigen Tanzes bezieht: den Arbeiten von Hubert Godard. Dieser bedeutende Praktiker und Theoretiker entdeckt eine Parallele zwischen der Rolle der Muskelspannung im Tanz und den Theorien Henri Wallons über den Dialog der Muskelspannung als erstem körperlichen Ausdruck des Kindes, das affektive Verbindungen mit dem Gegenstand seiner Liebe knüpft.147 Schon für Dalcroze war die Veränderung der Muskelspannung die poetische Hauptsprache des Körpers und die Hauptsprache dessen, wonach er über den Körper hinaus suchte: der Musik als höchster Kunst, wie man sie zwischen 1905 und 1910 begreifen konnte. Nicht nur weil Dalcroze ursprünglich Musiker war und er die Frage nach dem Körper ausgehend von der musikalischen Erfahrung stellte, sondern weil wir uns damit im Gefolge Nietzsches befinden, in einem Augenblick der Geschichte, wo die Musik zum Vorbild für den möglichen Ausweg aus den Künsten der Mimesis wurde. Diese Rolle sollte sie übrigens auch für Kandinsky spielen, der damals an der Abfassung von Das Spirituelle in der Kunst arbeitete. Heute hat sich die Problematik ein wenig verlagert. Der Tänzer sucht die Musik nicht jenseits seiner Geste, sondern in seiner Geste selbst; und die Hauptelemente seiner inneren Musik setzen sich aus dem ›Gesang‹ der Muskelspannung, ihren Variationen und Abstufungen von der Unbetontheit bis zur Verkrampfung zusammen. Äußerst unterschiedliche theoretische und praktische Verfahren haben sich jener Musikalität der Muskelspannung bedient, die eines der mächtigsten und intimsten Elemente des choreographischen Kerns ist. Unserer Meinung nach ist jedes einzelne von ihnen Träger einer einzigartigen Poetik, die durch die Entscheidungen des Körpers zuweilen große Teile einer Ästhetik definieren kann. Laban sieht dies, als er den ›flow‹ zu einem der vier wichtigen Elemente seines Bewegungsdenkens macht. ›Flow‹, der Fluss, verweist auf den Begriff des ›Fließens‹, der so wichtig im labanschen Denken ist, da sich für ihn das gesamte Universum im Fluss befindet: Durch den Fluss spielt das Gewicht seine Veränderungen durch. Dies macht ihn zur Existenzbedingung für alle Formen und Kräfte, die uns umgeben. Wie soll man nicht an die Etymologie des Wortes ›Rhythmus‹ denken, die Benveniste mit der griechischen Ur-Bedeutung aus dem 4. Jahrhundert verbindet, in der ›ruthmos‹ auf ›Form‹ verweist, das heißt auf die Art und Weise, wie ein Körper in der Welt ›fließt‹?148 Laban unterscheidet zwei Zustände des ›Flusses‹: frei (free) und ›gebunden‹ (bound). Die Qualität des Flusses liegt übrigens nicht im Zu147 | Godard: »Le déséquilibre fondateur«, S. 144-145. 148 | Emile Benveniste: Problèmes de linguistique générale, Paris: Gallimard 1966, Neuauflage coll. Tel 1993, Band I, Kap. XVIII, S. 333.

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stand des Nachlassens oder der Intensität der Muskelspannung, sondern im Übergang zwischen diesen beiden Zuständen, im Intervall ihrer Modulierung. Der zeitgenössische Tanz hat sich ausgiebig mit diesen Intervallen beschäftigt: Entweder indem er sie wie Wellen des Übergangs von der Leere zur Fülle ausdehnte (was man in der Übung der ›swings‹ sieht, den berühmten Schaukelbewegungen der Technik von Doris Humphrey). Oder im Gegenteil, indem er sie durch das Aussparen einer Bewegung verkürzte, das den Körper sofort von einem Zustand der Muskelspannung in den nächsten versetzte, als ein schnelles Ergriffen-Werden, ein Bruch zwischen zwei Zuständen: Diese Figur kommt auf der zeitgenössischen Bühne häufig vor und ist im Allgemeinen dazu bestimmt, starke Empfindungen hervorzurufen, aber auch Brüche in der Linearität. Bei Bagouet zum Beispiel kämpft die Aussparung der Muskelspannung, die ab »Crawl de Lucien« (1985) immer häufiger wird, gegen die psychologisierende und deskriptive Versuchung eines kontinuierlichen Ablaufs an. Eine Bewegung, die mit einer bestimmten Muskelspannung begonnen wird, wird dann mit einer anderen fortgesetzt, so dass der der Zuschauer einen Riss in der Kontinuität der Phrase wahrnimmt. Oft vollzieht sich die Intensivierung langsam und gehalten, das Loslassen jedoch schnell, wie die Öffnung eines Ventils, das den ›Überschuss‹ entweichen lässt: jenen ›verfemten Teil‹, dem die Intensivierung der Muskelspannung oft als körperliche Metapher dient, mit langsamem Nachlassen oder extatischem Anwachsen der Muskelspannung. An dieser Stelle muss man erneut Doris Humphrey und ihre philosophische Sicht auf das Leben würdigen, die die langsamen Figuren des Aufsteigens der Schnelligkeit des Abfallens gegenüberstellt. Diese Struktur lässt sich im Auftürmen und Zusammenstürzen der Wellen, in der Dauer des Lebens und der Schnelligkeit des Todes, der Zunahme der sexuellen Anspannung und dem plötzlichen Zusammensacken des Orgasmus beobachten. Jenes letzte Gegensatzpaar bildet vermutlich den zentralen Antrieb all ihrer Stücke. Die Idee des ›verfemten Teils‹ liefe hier auf den Akt der unmittelbaren Verausgabung jeglicher gespeicherten Intensität hinaus. Der Auftakt, jene unsichtbare aber präsente Verwandlung, jener Augenblick der Leere, aus dem alles Symbolische entspringt, ist vermutlich das Tiefgreifendste, was Musik und Tanz den anderen Künsten zu enthüllen haben. Er ist vielleicht die Atmung oder jene leichte Systole von Abwesenheit, aus der jede Vorstellungswelt entspringt. Deshalb ist der Umgang mit dem Fluss ein wichtiger Antrieb des Tanzes, dessen philosophische Konsequenzen unendlich sind. Mehr noch als durch alle anderen Bestandteile der Bewegung berührt der Körper des Tänzers den Körper des Zuschauers durch den Lyrismus der Muskelspannung und wirkt durch die Verwandlungen ihrer Konsistenz auf ihn ein. Wenn der Gewichtstransfer

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den Körper des anderen auf symbolischer Ebene, fast auf derjenigen einer repräsentativen Konstruktion (und sei sie auch nicht-gegenständlich), anspricht (und ›ihn ausspricht‹), bedeutet die Modulierung der Muskelspannung nichts: Sie singt. In diesem Fall unterhält sie eine rein musikalische Beziehung zu unserer Kinästhesie und entführt uns durch das Spiel unseres eigenen Zusammenzuckens in die lyrischste Region des Körperbewusstseins. Die Entscheidung des Choreographen wird es somit sein, sich poetisch zu jenem Lyrismus zu positionieren: ob er daraus den Zwischenton eines unbetonten Körpers zieht oder im Gegenteil den Höhepunkt eines Körpers, der zur maximalen Intensität des Flusses getragen wird. Zitieren wir zu diesem Thema zwei Beispiele von seltener Stimmigkeit: das von Trisha Brown (auf das wir ein wenig später noch einmal zurückkommen werden), wo der freie Übergang zwischen den Zuständen der Muskelspannung einen bewundernswerten Lauf der Flüsse ermöglicht. Und die Arbeit von Odile Duboc: die fließende Qualität ihrer befreiten Bewegung, deren Beben von kaum wahrnehmbaren Scharnieren zusammengehalten wird. Am Kreuzungspunkt dieser beiden Stilistiken der Muskelspannung begegnet man Stéphanie Aubins Musikalität mit ihrer doppelten Freiheit in den leichten und kontinuierlichen Veränderungen des Flusses. Nicht ohne Grund bemerkt der Theaterwissenschaftler Jean-Marie Pradier, dass Zustände extremer Muskelspannung für den Schauspieler leichter zu halten sind. Dieser wird es stets vorziehen, starke Gefühle ›darzustellen‹, die ein Anwachsen der Spannung nötig machen: die heftigen Leidenschaften, die im Theater ›gespielt‹ werden, wie Wut, Überraschung usw. Pradier vergleicht jene intensiven Spannungszustände (die von flachen Atemzügen begleitet werden) mit den Zuständen muskulärer Entspannung, die mit tiefen Atemzügen verbunden sind: So werden zum Beispiel die Zustände der Zärtlichkeit oder Verliebtheit von den Schauspielern weitaus seltener angewandt.149 Liegt dies an der technischen Schwierigkeit, in jene Zustände zu gelangen, oder an der Scheu davor, sich in einem wehrlosen Körperzustand auf der Bühne zu zeigen, gewissermaßen ohne den schützenden Panzer der Muskelspannung? Das gleiche Problem stellt sich auf der Tanzbühne: Eine Neigung, den ›bound flow‹ als Hilfsmittel einer ins Extreme getriebenen leidenschaftlichen existenziellen Spannung zu verwenden, oder im Gegenteil als Selbstverteidigung gegen die allzu buchstäbliche Verwendung einer Emotion, veranlasst die Choreographen häufig dazu, nur mit Körperzuständen zu arbeiten, in denen der Fluss während der gesamten Phrase oder sogar während des gesamten Stücks mit der gleichen Intensität gehalten wird. Das Gleiche lässt sich im Theater 149 | Jean-Marie Pradier: »Le théâtre des émotions«, in: Evolutions psychanalytiques Nr. 7, 1990, S. 20-26.

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über das berühmte ›overacting‹ der 70er Jahre sagen, das den Schauspieler veranlasste, sich in extremen körperlichen und stimmlichen Spannungszuständen zu einem affektiven Referenten zu äußern, der extrem gemäßigt, um nicht zu sagen, banal war. Dieses Verfahren führte nicht nur schnell zur Monotonie (im wahrsten Sinne des Wortes) und zur Konvention, sondern zeugte vor allem meist von der mangelnden Arbeit an den körperlichen Antrieben. Die Auswahl und die Qualität des Flusses sind nämlich nicht stabil. Es ist das Reich der Spannungen, ihrer durch die Bewegung modulierten Übergänge, das den Wechsel der Flüsse zum Singen bringt. In zahlreichen Stücken unterhält der Fluss des Körpers eine souveräne Beziehung zu den anderen Bestandteilen des choreographischen Akts. Die Grundsatzentscheidungen der Muskelspannung werden in all diesen Fällen zu Operateuren des Raums, der Dauer und auch des Denkens. Erinnern wir hier an die außerordentliche Wichtigkeit der Arbeit an den Spannungen im Tanz. Die Spannungen sind nicht unmittelbar in der Form sichtbar, doch leiten sie die Kraftlinien, die die Bewegung ausmachen. Durch ihren Intensitätsgrad, ihre Regelung von Zeit und Raum und ihre Wirkung auf die Dynamiken wohnen sie jedem gestischen Ausdruck inne. Die kontinuierliche Spannung bis hin zur erstarrten Intensivierung des Körpers war eines der Hauptwerkzeuge, mit denen der ›Ausdruckstanz150‹ Ungeduld und innere Revolte ausdrückte und unterdrückte Instinkte hervorbrechen ließ. Doch ist die Spannung nicht isoliert: Sie unterhält eine unendliche Anzahl von magnetischen Kontakten mit dem Raum, die Entladungen entzünden und den Körperraum im Auf blitzen der Dynamosphäre in Schwingungen versetzen. Sie ist auch nicht homogen: Laban erinnert daran, dass jede Spannung durch eine mehr oder weniger lesbare Gegenspannung ausgeglichen wird, genau wie jeder Bewegung der Schatten einer Gegenbewegung (shadow movement) innewohnt. Der Körper ist stets vielschichtig, auch in seinen Intentionen und seinen Intensitäten, den ineinander verschränkten Spannungen und Gegenspannungen, die das innere Projekt vor eine ständige Zerreißprobe stellen. Daher sind die berühmten labanschen ›Skalen‹ eine quasi musiktheoretische Übung, die es erlaubt, entgegengesetzte Spannungszustände in unterschiedlichen Figuren der Richtung, der Höhe, der Fläche, und mit der gesamten qualitativen Bandbreite der Hingabe an die Erdanziehung durchzuspielen. Sehr zu Unrecht sieht eine vereinfachende Sichtweise der labanschen Übungen die Skalen als eine rein schulmäßige Anwendung an. Dabei liegt darin eine (praktische) Sicht auf die komplexe Heterogenität des Körpers, die sich nicht in einer einzigen perspektivistischen Erfassung auflösen lässt. Ganz allgemein bildet die systematische Arbeit an den Spannungen, unabhän150 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü.

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gig von jeder äußeren Form und jeder konstruierten Bewegung, eine Betrachtungsweise des Körpers als Hervorbringer der ›Kräfte‹, die nach und nach den Rhythmus des Zeit-Raums annehmen. Dieser kann erst entstehen, wenn die Wege der Spannungen in allen Richtungen erkundet sind – selbst wenn man sie dabei verwirft, wie im Falle der Philosophie des ›release‹. Doch gehört der ›release‹ selbst zum Bereich der Spannung. Er ist eines ihrer Register, wenn auch ein negatives. Nun führt aber gerade die übermäßige Anspannung durch ihr Nachlassen zur völligen Entspannung des Körpers, genau wie der ›release‹ durch die Verweigerung des Spannungshaften erdacht wurde. So wie historisch gesehen die Intensivierung des Spannungshaften im modernen Tanz der ersten Jahrhunderthälfte (die übrigens mit ästhetischen Strömungen wie dem Expressionismus zusammenhing, wo es genau um das verzweifelte Ausreizen von Spannungen ging) nötig war, um zu Hawkins’ ›klarem‹, entspannten und objekthaften Körper zu gelangen, den in den 60er Jahren zahlreiche Epigonen übernahmen. Die Reise von einem Spannungszustand zum nächsten erweist sich als umso notwendiger, da sich die Entspannung oft als einziges Register aufzudrängen scheint, ohne dass man genau untersucht hätte, was gleichzeitig ihr Gegenteil und ihr erstes Teilstück ist: das Spannungshafte, nicht als verhärtendes Halten des Körpers, sondern als Variation der Texturen, als Irrfahrt der Anspannungen, als Gestaltwerdung der ›ungenannten Kräfte‹ (wie es Novalis formulierte) die der zeitgenössische Tanz enthüllt hat. Doch geht die ›Enthüllung‹ der Kräfte (die für uns eine wesentliche historische, um nicht zu sagen ›politische‹ Bedeutung hat) automatisch mit einer Aufgabe einher: Es gilt, mit jenen Kräften bewusst umzugehen, um ihnen Sinn zu verleihen, und um lesbare Figuren hervorzurufen. Daher rührt Dalcrozes Arbeit an den ›Dissoziationen‹, die innerhalb ein und desselben Körpers divergente Spannungszustände anordnen, was den Körper zu einer Art polyphonem Instrument macht, einem Material mit vielfachen Nuancen, eine Art Gemälde, das von gegensätzlichen Farben bebt. Man kann in diesem Zusammenhang auch Limóns ›oppositions‹ zitieren, die auf Spannungen und Gegenspannungen auf bauen und den Körper durch widersprüchliche raum-zeitliche Optionen desorganisieren. In beiden Fällen, wie auch bei den erwähnten labanschen ›Skalen‹, reicht ein einziger Körper oder eine einzige Grundsatzentscheidung nicht mehr aus, um das Spiel der Spannungen zu versöhnen. Der Körper wird im Gegenteil zum Feld der Konfrontation oder der Entregelung der Kräfte. Als sei jeder unserer Körper für sich alleine eine Seite in der Geschichte seiner Kräfte, die durch das Nachlassen ihrer Anspannung zu unmerklichen Zeichen der ›Motilität‹ (Beweglichkeit) des lebendigen Wesens werden und plötzlich das Ausmaß einer bis dahin unlesbaren Textualität annehmen.

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Den ersten körperlichen Grundsatzentscheidungen, die wesentliche Träger des ›Sinns‹ sind, lässt sich nämlich kein Denken des Tanzes als metaphorische Figur oder narrativer Zusatz hinzufügen. Hubert Godard liest aus der Gestaltung der muskulären oder posturalen Spannung die gesamte ideologische oder sogar politische Hervorbringung eines Tanzes ab. Trisha Browns »Primary Accumulation« (1971) ist ein Zeugnis der legendären Epoche des amerikanischen Radikalismus der 60er und 70er Jahre. Ihre »Accumulations« gehören zu einem ›Zyklus‹ (wie sie selbst gerne die unterschiedlichen Etappen ihres Werks bezeichnet), der absolut zeitgleich mit den prägendsten Arbeiten der minimalistischen Bildhauerei von Carl André oder Donald Judd entstand. Jener Kunst ging es darum, affektive oder formale Auff älligkeiten einzuebnen, das Eingreifen in Materie und Sinn zu reduzieren, sowie auf Spannungen zu verzichten, die Kategorien und Werte hierarchisch einteilten. Also wurden Verfahren des Auslöschens oder der Einebnung entwickelt, um das Werk vor einer Überfrachtung durch allgemein als künstlerisch identifizierte Attribute (Einzigartigkeit, Glanz usw.) zu bewahren. Zu solchen Verfahren gehörten unter anderem: banalisierende Wiederholung, Neutralität, Einfachheit und Nüchternheit der Materialien, die Verwendung minimaler Abstufungen und die Beruhigung der angesprochenen Wahrnehmungen. Es ist frappierend, wie der Tanz diese Ästhetik vorweggenommen hat, durch seine Fähigkeit, auf die Textur der Muskelspannung einzuwirken, sie implodieren zu lassen, aus dem Körper einen Ort der völligen Neutralisierung der Spannungspunkte zu machen, und ihn in einer neutralen Verteilung ohne jede lokale Akzentuierung einzuebnen. Vor allem macht er begreiflich, dass die Form nicht durch eine Struktur von außen vorgegeben wird, sondern sich aus einer inneren Organisation der Spannungen ergibt, die die Materie verteilt. Daher erinnert Trisha Browns am Boden liegender Körper, der sich jeglicher formalen Gesetzgebung entzieht, und dessen Ruhe und Entspannung zu Beginn der »Accumulations« durch keinen Punkt der Sammlung des Gewichts gestört wird, an die aufgehängten oder liegenden großen Filzgebilde von Robert Morris: träge Materien, die über keinerlei Punkt der Neuausrichtung verfügen. (Jene Werke zeugen von dem, was der Künstler selbst Anti-Form nennt.) Wie in Trisha Browns Körper gibt es dort nur ein Strömen der Materie, das sich unabhängig von jeder Architektur in gleichmäßiger Verteilung auf den gesamten Boden stützt, einen Ort der Gewichtsverteilung, an dem es weder Ausrichtung noch Aufrichtung gibt. Es kann nämlich keine Form ohne den Einsatz einer Spannung geben, die die Verteilung der Gravitationsströme organisiert. Auf symbolischer Ebene geschieht dies durch Simone Fortis ›Rückkehr‹ zu dem archaischen Körper des Neugeborenen, das überhaupt nichts von einer Gewichtskonstruktion weiß und sich als bloßer Fluss dem Druck der

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mütterlichen Gefäßwand anvertraut, einer Schnittstelle, die das verbindet, was noch kein Körperschema ist. Krabbeln, sich rollen und wie Tiere oder kleine Kinder den stützenden Druck der Öberflächen spüren, »die internen Beziehungen zur Masse.« 151 Dies waren Hauptaktivitäten einer Kunst, der jede Vertikalität fern lag. Ein anderer Einfluss für die Entstehung von Trisha Browns unakzentuiertem Körper in den »Accumulations« war Elaine Summers Arbeit an der Eliminierung der Spannungspunkte (die man später ›release technique‹ nennen sollte). Im Geiste ihrer Lehrerin Elsa Gindler 152 erforschte sie zunächst die einzelnen Elemente des Körpers getrennt voneinander und anschließend ihre Gesamtheit. Man muss sich an all dies erinnern, wenn man Browns Solo betrachtet: Seine Tiefe, seine geheimnisvolle Dichte und seine watteartige Gedämpftheit rühren vor allem von der unermesslichen Ablagerung von Wissen und quasi historischem Gedächtnis her – und nicht nur von der Suche nach einem ›Effekt‹. Ebenso wie der ›politische‹ Sinn, den dieser Tanz der Entsagung im Augenblick der anti-imperialistischen Krisen der Intellektuellen und Künstler Nordamerikas bekam, nicht ohne das Bewusstsein und die unendliche Arbeit an einem Körperzustand möglich gewesen wäre. Jener Verzicht auf jegliche Selbst-Konstruktion kam einem Rückzug aus der Geschichte gleich. Er war die einzige erlaubte Strategie für Körper, die sich mit keinem System mehr identifizieren konnten. Jener Tanz am Boden setzt sich, wie bereits gesagt, aus Bruchstücken serieller Bewegungen zusammen, die vollkommen unverbunden erscheinen, aber in Wahrheit unablässig den gesamten Körper vernetzen. Am erstaunlichsten ist die Sanftheit jener Äußerung, da sich die Bewegung vollkommen ohne Intensivierung der Muskelspannung vollzieht, als stiege sie von einem genichteten Ort des Körpers auf. Jede Bewegung kann entweder winzig klein in ihrem Habitus (ein einfaches Drehen des Kopfes), oder breit in ihrer Entwicklung angelegt sein (der Weg des einen Beins über das andere, ausgehend von der Hüfte mit diagonaler Rotation des Beckens), doch liegt darin keinerlei Versuchung einer Neuausrichtung: und zwar weder in Bezug auf die Dauer noch auf die Akzentuierung. Die Vereinheitlichung der Muskelspannung verweist auf einen Körper ohne Hierarchie, in dem jedes Element gleichzeitig isoliert von und solidarisch mit unendlichen Verbindungen existiert. Wie die Choreographin selbst erklärt, erlaubt es die Nicht-Vertikalität, »die Beine zu be151 | Simone Forti: Handbook in Motion, Halifax: Nuova Scotia Press 1966. Siehe auch Sally Banes: Terpsichore in Sneakers, S. 33. 152 | Ann Sergeant-Wooster: »Elaine Summers: Moving to Dance«, in: The Drama Review Nr. 24, Dez. 1980. Nach Aussage der Autorin war eines der Ziele des »release«, sich »langsam mit einem Minimum an Spannung zu bewegen«, S. 59-70.

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freien« und sie nicht wie einen Träger, »sondern wie den gesamten Rest des Körpers zu behandeln.«153 Jene »befreiten Beine« haben in dem Solo einen flachen Spannungszustand, der auf ein reines Strömen verweist, auf einen Körper, der sich damit begnügt, in der Welt zu »fließen«, ohne sie in Besitz zu nehmen oder sie zu beherrschen. Eine Welt der Utopie, in der der Körper ruht und sich durch einen Zusammenbruch am Boden von seinem eigenen Gewicht befreit. Heute, lange nach den minimalistischen Debatten über die Notwendigkeit der Serie und der phasenverschobenen Wiederholung, fasziniert uns daran vor allem die friedliche Stille und die Qualität jeder Bewegung. Sie nehmen uns so sehr gefangen, dass wir die zarte Hypnose dieses Körpers teilen, der sich in keinerlei Konflikt befindet. Die choreographischen Lesarten, die die Praxis der labanschen »EffortShape«-Lehre erlaubt, erinnern uns daran, dass das Fehlen von Spannung und vor allem das Fehlen eines strukturierten Dispositivs zum Gewichtstransfer die Beziehung zum Raum unterbrechen und sie in einen ›Ruhezustand‹ versetzen. Es gibt hier nämlich keinen Raum im strengen Sinne. Die »Accumulations« entführen uns auf innere Bahnen. Der Dialog zwischen der Empfindung der Muskelspannung und der Dauer nimmt, wie ein langsames Strömen aufeinanderfolgender Bewegungen, den Platz des Raums ein. Um es noch einmal zu sagen: Der politische Aspekt ergibt sich aus diesem Fehlen jeglichen Territoriums. Hingegeben wie eine liegende Statue drückt sich der Körper nur durch die letzten Antriebe jenes unakzentuierten und stummen Spannungszustands aus. In den 80er Jahren kultivierte eine wichtige Strömung des französischen Tanzes den ›gebundenen Fluss‹ (bound flow), der unter anderem zu einer Starre des Rückens führte, dem keine Arbeit der Sukzession die für die Beweglichkeit des Rumpfes notwendige Entspannung einprägte. Es ging dabei zweifellos um eine Verstärkung der schützenden Außenwand, die der Rücken in Bezug auf die bebende und verwundbare Schnittstelle der Vorderseite des Körpers darstellt, die, wie man weiß, die Organe der Kommunikation und im Prinzip auch des Sinns in sich trägt. (Man musste schon Trisha Brown heißen, um den Mut zu haben, sich in einem Tanz des Rückens zu exponieren, mit all dem Erzittern und Entspannen, das aus jener Wand nicht eine Begrenzung, sondern eine poetische Geographie der Hingabe macht.) Für die französischen Tänzer entsprach dies vermutlich einem Bedürfnis, sich selbst zu verteidigen, sich in einen schützenden Panzer zu hüllen. Dieses Bedürfnis erscheint in seinem Eingeständnis ebenso rätselhaft wie erschütternd. Jene Verfahrensweise, gleichsam von Innen heraus über die Spannungen zu herrschen, sie in Körperregionen 153 | Siehe Trisha Browns Kommentar zu den »Accumulations« in: Sally Banes: Terpsichore in Sneakers, S. 83.

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zu lenken, die gleichzeitig meditativ und gebunden waren, führte häufig zu parzellenartigen Poetiken einer noch vor dem Aufprall innehaltenden Geste. Zwar wurde das tänzerische Ereignis durch eine solche Verknappung verfeinert, doch führte sie auch zu einem Mangel an Hingabe, einem permanenten Zurückhalten des Akts und der Inbesitznahme des Raums. Deshalb ist man angesichts einer immer deutlicheren Befreiung des Spannungssystems durch die Körperzustände der 90er Jahre (den mehr oder weniger abgesicherten aber zutiefst poetischen Gebrauch der Werkzeuge des zeitgenössischen Körpers) gewissermaßen beruhigt. Auch wenn jene Rückwendung zu einer anderen Geschichte gehört, oder vielmehr zu dem, was noch nicht Geschichte ist, sondern nur jener vergängliche Augenblick, wo die Werke in einer Zeit, die noch nicht vorgezeichnet ist, aus sich selbst erblühen. Doch können sie bereits in einer ›historischen‹ Differenz gedacht werden, die den Verwandlungen der Körperzustände mehr verdankt als einer unmittelbar interpretierbaren Veränderung, einer Differenz, die sich nicht durch die Sichtweise des Körpers, des gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und geographischen Kontexts äußert. Zahlreiche Choreographen lassen heute durch eine weitaus weniger starre oder verhärtete Variation der Spannung erneut jenes Beben flüchtiger Schattierungen aufscheinen. Es gibt nichts Schöneres, als zum Beispiel eine einfache Armgeste, die mal kraftvoll eine Masse Luft anheben, oder im Gegenteil gemäß der leichten Laune eines inneren Luftzugs dahinschweben kann. Angesichts solcher Tänze scheint es, als habe die Geschichte einen Umweg gemacht, um schließlich die dringende Notwendigkeit zu enthüllen, die Spannungen als ein wesentliches Material des poetischen zeitgenössischen Feldes zu behandeln.

2. Die Betonung Die Betonung gehörte lange Zeit zum Handwerkszeug von Konzepten, die man für rein musikalisch hielt, bis Dalcroze und dann Laban zeigten, dass sie vor allem zu den Körpererfahrungen gehörte: zum inneren Loslassen des Gewichts oder dem Spannungsmechanismus, der in einer Bewegung zum Einsatz kommt. Wie gewöhnlich hat die menschliche Vorstellung zahlreiche Elemente, die aus den Tiefen ihrer organischen Erfahrung aufstiegen, in den Klang projiziert, genauso wie in das poetische Wort und in die Prosodie. Im Kontext des Gesangs behaupten einige Leute, dass die Betonung, mit der eine Bewegung, ein Wort oder eine musikalische Phrase versehen werden, um einen zeitlichen Höhepunkt herauszuheben, auf die Körperachse einwirkt. Ihrer Meinung nach folgt die Betonung dem zentralen Schacht des Körpers, also dem Verdauungstrakt, und übt dabei in einer Bewegung des Ausscheidens einen Druck auf die Membranen aus,

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als versuche sie, den Anus zu erreichen. Diese Theorie, die von gewissen biologistischen Ansätzen aufrechterhalten wird, ist nicht uninteressant in Bezug auf den Wert, den der genito-anale Charakter zweifellos auf der symbolischen Ebene des Pulsierens hat, und seiner Verwendung in der Musik, dem Tanz, der mündlichen Überlieferung und allen Künsten, die mit Dynamiken arbeiten (ohne zu berücksichtigen, dass es auch Betonungen in der Malerei, im Kino, und besonders in der Bildhauerei gibt). Doch lässt sich im Tanz kein körperliches Verfahren, selbst in mimetischer oder metaphorischer Weise, auf eine physiologische Funktion zurückführen, ohne den Weg über ein extrem komplexes System von RepräsentationsVermittlern zu nehmen (das uns nur der kinesiologische Ansatz begreiflich machen kann). Da das Thema ohnehin schon umfangreich genug ist, werden wir uns damit begnügen, die Praxis und die Rolle der Betonung im Bereich des Tanzes zu betrachten. Die Betonung kann durch den gesamten Körper geschehen, und zwar durch das Loslassen des Gewichts innerhalb einer Bewegung, das eine dynamische Störung anzeigt. Man kann eine Betonung provozieren, wie es Dalcroze tat, indem man ein Hindernis oder eine Unebenheit auf dem Weg des Subjekts platziert: Die jähe Begegnung mit einem Möbelstück oder dem Abfallen einer Treppenstufe rufen in unserem Körper eine Betonung hervor. Heutzutage werden diese Methoden nicht mehr im Training angewandt und sind praktisch aus dem Wissen und Gedächtnis verschwunden. Doch sind sie bei vordergründigem Einsatz immer noch geeignet, um auf der Bühne dramatische ›Kollisions-Effekte‹ (zwischen einem Tänzer und einem Stuhl, zwischen zwei Tänzern usw.) zu erzeugen. Die Betonung kann ebenfalls auf die Achse oder sogar auf das Körperinnere einwirken. Dabei ruft sie vorübergehende Momente des Einbrechens hervor, die sich je nach der Ästhetik der Körperzustände durch Tausende von möglichen Routen äußern. Bei Trisha Brown äußert sich die Betonung ganz bewusst durch das System der Muskelspannung, wie eine leichte Zerstreung, die sofort wieder unter Kontrolle gebracht wird. Bei Dominique Dupuy herrscht ein Denken des Zwerchfells oder vielmehr der Membranen, die wie Filter inmitten des tiefen Zirkulierens sind: Die Bewegungen des Absorbierens und Ausscheidens, oder des Ein- und Ausatmens treffen sich, gehen ineinander über, und erschaffen so einen Körper aus der Symphonie der Spasmen. Der Körper, der hier entsteht, wird nicht durch das Auftürmen seiner eigenen Massen konstituiert, sondern öffnet sich für einen Übergang. Es ist ein ein Körper, der um Höhlungen herumirrt, wie ein Maler um einen inneren Raum, der sich nach und nach in eine Landschaft verwandelt. Theorie und Praxis des deutschen Tanzes haben dem Lesen der Betonung einen einzigartigen Stellenwert eingeräumt. Im Denken Labans ist der Platz der Betonung wichtiger für die Struktur als die Modi des Bewe-

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gungsablaufs.154 Er begründet nicht nur ihre Qualität, sondern verleiht ihr Sinn und symbolische Tragweite. Betrachtet man die Bewegung anhand der drei Phasen ihrer Ausführung (initial, transitorisch, terminal), wird der Platz der Betonung in jeder dieser Phasen zum Träger einer anderen Qualität. In der Initialphase gibt die Akzentuierung den ›Impuls‹. Die Geste wird vom Affekt dominiert und unterhält eine emotionale Beziehung zum Raum. Eines der ersten qualitativen Elemente, durch das Laban versucht, den neuen Verlauf der unendlichen Anzahl der von der Moderne erfundenen Bewegungen zu ›lesen‹, ist der ›Ausschwung‹ 155. Wird die Betonung in der Terminalphase, dem Aufprall, gesetzt, verleiht dies der Geste einen stärker ›monstrativen‹ Wert und valorisiert den Sinn oder die Intentionalität (gemäß der gebräuchlichen Verwendung des Wortes). Labans Schüler Kurt Jooss und sein Mitarbeiter Sigurd Leeder räumten beide der Dynamik der Betonung eine wesentliche Rolle ein, nicht nur in ihrer Ästhetik, sondern auch in ihrer Trainingstechnik, in der der Faktor der Akzentuierung den gesamten Körpereinsatz auslöst und nach sich zieht.156 In Kurt Jooss’ Choreographien führt der Platz der Betonung die Lektüre des Zuschauers zur Intention der Erzählung hin. Sie ist einer der Pfeiler des Tanztheaters 157, in dem die Bewegung nicht nur eine dramatische Fabel trägt, sondern auch das kritische Bewusstsein des Zuschauers wecken will.158 Denn schließlich ist die Betonung das, was am stärksten auf die Kinästhese einwirkt: Intensiver als jede andere körperliche Erscheinung nimmt der Zuschauer jenen ›Druck‹ auf die Konsistenz der Materie wahr, der die Entwicklung jeder Äußerung in den Künsten der Zeit durch unwillkürliche Spasmen erschüttert. So wird im ersten Tableau von Kurt Jooss’ »Grünem Tisch« die stets an ihrem Ausgang bezeichnete Geste häufig zweimal betont. Zuerst im Ausschwung159, was ihr ihre Biegsamkeit und ihre Breite verleiht. Und dann in der Terminalphase, wie um die eitle und demonstrative Rhetorik der um den Verhandlungstisch versammelten Kasperlefiguren ironisch zu verstärken. Unterstrichen durch die clowneske Anmutung der weiß behandschuhten Hände, verleiht die auf die Extremitäten gelegte Betonung 154 | In seinen Texten erwähnt Laban die Betonung kaum. Doch haben wir durch die Weitergabe seiner Lehre, sowohl durch den wigmanschen Ausdruckstanz (auf Deutsch im Text, Anm. d. Ü.) als auch durch die Methoden von Jooss und Leeder, von der Bedeutung ihrer Verwendung erfahren. 155 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü. 156 | Jane Winearls: Modern Dance, the Jooss-Leeder Method, London: Adam & Charles Black 1978, S. 24 u. 78. 157 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü. 158 | Laban in: Mastery of Movement. 159 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü.

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ihrem stummen Diskurs eine lächerliche Emphase. Somit bringt im Tanztheater160 die Geste selbst ihre eigene Kritik hervor. Die Betonung spielt dabei gleichzeitig die Rolle des Bewegungsimpulses und des Kommentars ihrer selbst. Obwohl er ihre Anliegen nicht immer verstand (d.h., körperlich verstand), wurde der französische Tanz der 80er Jahre durch die Unbetontheit von Cunninghams Kunst stark erschüttert. Für Merce Cunningham wie für Jooss (das heißt, für zwei Großmeister, die ihre Bewegungen um philosophische Entscheidungen herum artikulierten) ist die Rolle der Betonung von höchster Wichtigkeit, sowohl im Umgang mit der Zeit als auch mit der Poetik der Bewegung. Doch stellt die Betonung für Cunningham etwas Negatives dar. Sie verleiht privilegierten Zeitmomenten einen höheren Wert und führt so die Hierarchie zwischen den unterschiedlichen Bestandteilen des künstlerischen Auf baus wieder ein. Genau diese Hierarchie, sowohl in Bezug auf die in der choreographischen Auff ührung eingesetzten Ausdrücke, als auch in Bezug auf die Verteilung der Informationen in Körper und Raum, bekämpfte er ohne Unterlass. Cunningham suchte nicht nur nach einer demokratischen Gleichheit zwischen den Faktoren, die auf der choreographischen Bühne agieren, sondern vor allem nach einer unakzentuierten Zeit ohne Riss, jener Zeit der ›Impermanenz‹, in der das Zufallsereignis stattfinden sollte, ohne durch den Determinismus des Loslassens von Gewicht herbeigeführt zu werden. Wenn es bei ihm eine Betonung gibt, dann wird sie am ehesten in der Attacke gesetzt, im Augenblick einer Richtungsänderung: Dies macht die Betonung eher zu einem Faktor des Raums als zu einem Faktor der Dynamik – und zwar durch eine bloße Modulierung des Zufälligen, wie sie die Hexagramme des »Buches der Wandlungen«, des I-Ging artikulieren, das von der Wandlung nur den ›internen Prozess der Dinge‹161 enthüllt. Jene neue Sichtweise einer vollkommen unmarkierten Zeit, die nur in der Kurve und durch die Kurve ihres eigenen Fließens funktioniert, ist bereits in John Cages Denken und Musik am Werk und setzt sich in der gesamten von dem Komponisten beeinflussten Strömung fort. Die Repetitivität in Bewegung und Klang erlaubt es, die Dynamiken in einer unbeweglichen, unveränderbaren und unveränderten Zeit zu neutralisieren. Dies geschieht zu Gunsten der periodischen Rückkehr einer zellularen Einheit, die keine Interventionskraft mehr stört. So verwirklichen Musik und Tanz in den Jahren der Postmoderne das orientalische Ideal, zu dem Cage von den Lektionen des Meisters Suzuki inspiriert wurde: »Es gilt, die Neigung der Dinge außerhalb von sich selbst wirken zu lassen, gemäß ihrer eigenen Disposition; weder Werte noch Verlangen auf 160 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü. 161 | François Jullien: La propension des choses, S. 37.

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sie zu projizieren.«162 Hier zeigt sich der wirkliche Wert der Betonung: Sie ist die Projektion eines Verlangens, die das Eingreifen des Subjekts in den Umgang mit der Dauer besiegeln wird – und damit vor allem eine Subjektivierung der Zeit. Die Betonung ist Trägerin von Phasen affektiver Untersuchungen einer unerhörten Kraft, genau wie der bereits erwähnte Spasmus der Membranen in der Stimme. Die französischen Tänzer, für die die subjektive Prägung ihres Tanzes wichtig war, wurden von Cunningham (im wahrsten Sinne des Wortes) ›von ihrem Kurs abgebracht‹. Daher rührt die verwirrende Ambivalenz der Körperzustände im Tanz der 80er Jahre. Damals hat die Vielfalt der Einflüsse und die Schwierigkeit, sie zu lesen, sich in Bezug auf sie in der Geschichte zu verorten, unsichere Poetiken hervorgebracht, deren innere Bresche gleichzeitig ihre gesamte Fragilität und ihren Wert ausmacht: es war, als ob der Körper auf der Suche nach einer Theorie für den eigenen Gebrauch durch die Geschichte der Körper irrte. Bagouet hat es verstanden, aus jenem Umherirren eine wirkliche Ästhetik des Infragestellens der Geste durch sich selbst zu machen. Vermutlich hing dies eng mit dem zusammen, was Isabelle Ginot den ›Riss‹163 nennt. Aus diesem Grund unterstreicht in seinem Tanz die Betonung die Öffnung der Bewegung hin zu einem unvollendeten Schwung der Unsicherheit. An unerwarteten Stellen platziert, lässt sie den Impuls innehalten oder leitet ihn in einen Bogen jäh abnehmender Muskelspannung um. Man sieht dieses Verfahren besonders in den Armbewegungen, die ab »Déserts d’Amour« zu einer Art Leitmotiv werden. Jene vom Handgelenk ausgehenden Arm- oder Handbewegungen werden häufig in Zuständen muskulärer Anspannung ausgeführt, und zwar gemäß Akzentuierungen, die jenen des restlichen Körpers entgegengesetzt sind. Der Körper ist bei Bagouet fast nie homogen, sondern spielt die Spaltungen einer inneren Modulierung durch. Er ist ein ›aus der Fassung gebrachter‹ Körper, im doppelten Sinne eines Abbrechens von Verbindungen und eines Gefühls der erstaunten Ungewissheit. Er veranlasst den Zuschauer, und wie ich vermute, auch den Tänzer, sich fragend vorwärts zu bewegen und andere Grenzbereiche der Wahrnehmung zu berühren, als diejenigen, die ihm durch bereits erforschte Zusammenhänge geliefert werden. In jedem Fall bezieht er, wie es der Tanz zu tun versteht, die Leere im Inneren der Geste mit ein, die ihn bezeichnet. Es verwundert also kaum, dass sich in der Kunst eines ehemaligen Partners von Dominique Bagouet, Christian Bourigault, eine besonders wirksame Verteilung der Betonung findet – auch wenn es sich um eine Ästhetik ganz anderer Erscheinung handelt. Doch haben wir bereits darauf 162 | Jullien: La propension des choses, S. 37. 163 | I. Ginot: »Fissures, petites fissures«, S. 152-153.

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hingewiesen, dass sich unsere Suche nach künstlerischen Verwandschaften im Tanz fast nie auf das richten wird, was Laban den »offensichtlichen Aspekt« des Tanzes nennt. Die Bewegung führt uns nämlich stetig über das hinaus, was man in der Psychoanalyse den ›manifesten Inhalt‹ nennen würde. Anderswo, mehr in der Tiefe, gilt es, die Antriebe zu entdecken, die sich unter den äußeren Formen regen und diese herbeiführen. Auch wenn es sich hier um eine Ästhetik handelt, die sich auf ein beinahe entgegengesetztes Feld bezieht. Nicht umsonst hat Bourigault seine künstlerische Entwicklung ausgehend von der Malerei Egon Schieles begonnen: Die expressionistische Malerei aus Wien und Deutschland wies der Spannung und der Betonung, die diese im Raum hervorruft, eine ganz besondere Bedeutung zu. Beim Ansehen einer Auff ührung von Bourigault wird die Wahrnehmung des Zuschauers von den Dynamiken der Betonung ›davongetragen‹. Mehr noch als in seinem ersten Solo »Autoportrait de 1917« lässt sich dies in seinem Stück »Matériau désir« erleben: Hier durchqueren vier Gestalten, die in weniger unmittelbar identifizierbarer Weise die vier Figuren aus Heiner Müllers »Quartett« aufgreifen, das wiederum von Laclos’ »Gefährlichen Liebschaften« inspiriert war, die Polaritäten von Raum und Zeit. Es handelt sich also um ein Dispositiv des Austauschs zwischen Männern und Frauen. Anders als in den Texten von Laclos und Müller fehlen hier jedoch die Machtverhältnisse zwischen den Protagonisten. Jeder von ihnen ist eher mit seinen persönlichen Kämpfen konfrontiert, und die Begegnungen zwischen diesen Konfliktfeldern führen die Spannungen erneut ins Innere der Bewegung jedes einzelnen zurück, aber auch in den Raum, den sie miteinander teilen. Die Betonungen sind wie Farbspritzer in diesem Raum. Sie erlauben es, den Ort der Kreuzung oder des Aufeinandertreffens der Kraftlinien wahrzunehmen. Wie magnetische Punkte beleuchten sie das Beziehungsgeflecht, das den Raum ausmacht. So sah Kandinsky in Punkt zu Linie und Fläche den Punkt als unermesslichen Ort ohne Oberfläche und Ausdehnung, als reinen Aufprall, den die zehn Finger und die Füße der Tänzerin Gret Palucca in den Raum bohrten, in einem Sprung, der Raum und Zeit durchstieß, um ihre Konflikte am Kreuzungspunkt ihrer Spannungen zu bezeichnen. Genau wie die Betonung organisieren der Punkt oder die Unebenheit in der Linie, der Knoten beim Kreuzen der Ebenen und das Büschel der Volumen beständig die Art und Weise, wie wir die Welt empfinden. Deshalb ist die Art und Weise, wie wir unsere Beziehung zur Welt betonen (oder eben nicht betonen), genau wie die Phrasierung Trägerin grundlegender symbolischer Entscheidungen, von denen selbst die kleinste unserer Gesten zeugt.

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Der Raum »Anders gesagt, öffnet sich der Raum und vertieft sich. Er hört auf, das Umfeld zu sein, in dem sich die Dinge befinden. Er ist ihr kontinuierliches Pulsieren, und durch ihr Erscheinen öff net sich der Blick, der sich in sie hineinstürzt.« Pierre Kaufmann »Jede Geste verändert den Raum.« Jacqueline Robinson

1. Den Raum lesen Wenn Irmgard Bartenieff, jene Tänzerin, Choreologin, Therapeutin und Laban-Schülerin, die in den 30er Jahren in die Vereinigten Staaten ins Exil ging, einen kleinen Behinderten im William Parker Hospital behandelte, versuchte sie nicht, auf den verstümmelten Bereich einzuwirken, sondern ein ›räumliches Vorhaben‹ (spatial intent) wiederherzustellen.164 Denn der Gewichtstransfer bezieht seine Identität nicht aus einer inneren Substanz, sondern aus jener Zufuhr an Raum, durch die sich der Körper in der Bewegung, die ihn gestaltet, konstruiert. Es gibt für die Bewegung keinen hervorbringenden Ursprung innerhalb des Subjekts (auch wenn der Begriff ›Inneres‹ im ›inner impluse to move‹ wieder zu seinem Recht kommen wird), sondern im Gegenteil einen wesentlichen Faktor der Alterität. Dies macht Bartenieffs Sicht des Körpers als ›Beziehungsgeographie‹ so bedeutsam. Durch diese Geographie verzweigt sich unser Bezug zur Welt, auf affektiver wie auf poetischer Ebene. Daher ist es notwendig, jene Beziehungswege ständig neu zu erforschen, aufrechtzuerhalten oder sogar neu zu öffnen. Manchmal muss man sie auch reparieren, wenn die Wunden der Raumbeziehung zu tief sind: Einmal mehr erweisen sich die scheinbaren Orte der Niederlage, des Risses, der Unvollendung des Körpers, als bedeutende Enthüller von Körperwissen. Anhand der Linien der Blutergüsse zeigen sie uns, wo das Zirkulieren wirklich stattfindet. Der Tänzer strebt nur nach dem Erwerb von Wissen, um jene imaginären Kartographien zu verstärken und zu aktivieren. Mit Laban und der Theorie der vier Faktoren hat er bereits gelernt, dass der Raum nicht nur ein Parameter der Ausübung von Bewegung im Allgemeinen ist, und auch kein bloßer Rahmen der Ausbreitung. Er ist eine der Kräfte, aus denen die Bewegung entsteht. 164 | I. Bartenieff/D. Lewis: Body Movement Coping with the Environnement, S. 108.

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Der Tänzer lebt vom Raum und von dem, was der Raum in ihm konstruiert. Deshalb muss das ›Raumprojekt‹ des Choreographen wie des Tänzers Gegenstand einer besonders aufmerksamen Herangehensweise und Lektüre sein. Die räumlichen Grundsatzentscheidungen sind die wesentlichen Ausdrücke einer tänzerischen Philosophie. Selbstverständlich handelt es sich auf Seiten des Tänzers nicht um eine ›Behandlung‹ des Raums, im Sinne eines objektiven Elements, das es zu handhaben gilt, indem man es konstruiert. Wie wir gesehen haben, ist der Raum ko-substanziell zu dem von Laban beschriebenen Körper in Bewegung. Er hat nichts vom ›objektiven‹ Raum, einer abstrakten Repräsentation eines »Milieus […] wo die Dinge baden«, einer Sichtweise, die bereits Merleau-Ponty anprangerte.165 Genauso wenig ergibt er sich aus der Ansammlung der Wahrnehmungen seiner ›Figuren‹ oder seiner Kategorien. Trotzdem muss sich der Tänzer mit den Begriffen der Ebene herumschlagen (vertikal, horizontal, lateral, sagittal); übrigens macht Laban im Rahmen der Untersuchung oder Klärung von Rauminformationen aus diesen Begriffen Bezeichnungen der Erfahrung, um ihren abstrakten Charakter zu relativieren: der horizontale Tisch, die vertikale Tür, das sagittale Rad), Erfahrungen der Höhe (hoch, dazwischen, tief), der Orientierung (lateral, senkrecht, schräg) der Entfernung usw. Manchmal wurden solche Begriffe zum Gegenstand abstrakter Forschungen oder Schöpfungen, auf einer äußerst isolierten Raumachse, in der Improvisation oder in der Komposition (z.B. bei Schlemmer, Nikolais oder Cunningham). Noch deutlicher wird dies bei Gerhard Bohner, dessen »Übungen für einen Choreographen« (1986) gleichermaßen ›Etüden‹ oder Skizzen zu den gerade aufgezeigten Kategorien sind. Halten wir nur fest, dass Bohner die Sensibilität und Dichte eines Körpers als Gradmesser und Angriffsfläche hinzufügt und diese Informationen dadurch von vornherein zu Kunstmaterialien macht. Doch einmal erforscht, erweisen sich diese Kategorien im Hinblick auf eine vollkommen poetische Annäherung an den Raum als armselig. Jener von Mary Wigman erwähnte ›absolute space‹, der absolute Raum, der Raum an sich, ist gleichermaßen eine Annäherung an eine Metaphysik des Raums, die nicht mehr auf kategoriellen oder deskriptiven Prinzipien beruht. Wigman geht es um einen Raum jenseits des Raums und gleichzeitig um den Raum als Material, dem der Körper begegnet wie einem anderen Körper. In diesem Raum kann der Körper mittels seiner Spannungszustände Konsistenzen erfinden und diese ›formen‹ (vgl. Labans ›carving space‹, das mit der Modellierung des Raums der unmittelbaren Nähe beginnt).166 165 | Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1974, S. 284. 166 | Bartenieff, S. 26 und Laban: Choreutik, S. 25.

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Wer mit dem Tanz vertraut ist, bekommt stets ein leichtes Herzklopfen, wenn er fühlt, dass der Tänzer seine Beziehung zum Raum einleitet. Man sagt oft, dass er sich des Raums ›bemächtigt‹. Dabei ist es in den meisten Fällen der Raum, der Macht über den Tänzer gewinnt, und über uns gleich mit. »Der Tänzer«, sagt Nikolais, »ist vom Raum verhext (bewitched).« 167 Dieser Aktivitätsaustausch zwischen Raum und Subjekt wurde bereits von Laban in seiner Sicht des ›dynamischen‹ Raums ausgedrückt. »Neben der Bewegung der Körper im Raum gibt es eine Bewegung des Raums in den Körpern.«168 Zwar ist die Fortbewegung nicht die einzige Figur dieser Beziehung: Auch bewegungslos am Boden liegend unterhält der Körper mit dem Raum noch einen lebendigen und kraftvollen Dialog. Doch hat das Schleudern, um nicht zu sagen der Selbstverlust im Raum, im Tanz etwas Wahnsinniges und Berauschendes, weil es sich vollkommen von jeder Funktionalität ablöst: Im Gegensatz zur Bewegung ist dem Schleudern der Raum nicht eingeschrieben. Wie Nikolais sagt, werden Körper und Raum nicht mehr als Faktoren einer Strecke zwischen zwei Punkten verwendet. Sie werden selbst zu dieser Strecke, zum ›Wesen der Strecke‹, wie es Paul Virilio formuliert.169 Die Modulierungen der Geschwindigkeit, das Ausmaß des durchlaufenen Raums, seine gleichzeitige Öff nung in alle möglichen Richtungen, erlösen von den zweckgerichteten Routen des Alltags; der Raum wird zu einem affektiven Partner, der beinahe zu einer Veränderung von Bewusstseinszuständen führt. Der Raum bewegt sich durch uns hindurch, aber auch in uns, im Gefolge der ›Ausrichtungen‹ innerhalb des Körpers, egal, ob diese bewegt oder bewegungslos sind. Dies geschieht zu Gunsten von ›inneren Reisen170‹, die vielleicht unsere wichtigsten Raumerfahrungen überhaupt sind. Wer in seinem Leben niemals gespürt hat, dass der Raum jene Materie sein kann, die man durch die Präsenz des Körpers davonschleudern, ›formen‹, in musikalische Schwingungen versetzen kann, kennt die Erfahrung nicht, auf der alles gründet. Vermutlich obliegt es in unserer Kultur der Tanzauff ührung, diese Erfahrung durch Vermittlung des Körpers mit anderen zu teilen. Nicht nur, um sie den Raum in ihrem eigenen Inneren spüren zu lassen, sondern auch, damit sie ihn wahrnehmen und begreifen können. »Tanzen heißt, den Raum sichtbar zu machen«,171 sagt Dominique Dupuy, den ich bereits mehrfach zitiert habe. Somit stellt die gleichzeitig kinästhetische und semiotische Lesart 167 | Alwin Nikolais in: Dance Perspective Nr. 48, 1970. 168 | Laban in: Vision of Dynamic Space, S. 23. 169 | Paul Virilio: L’inertie polaire, Paris: Galilée 1992. 170 | Hubert Godard: »Le geste inouï«. 171 | Dominique Dupuy: »La danse du dedans«, in: La danse, naissance d’un mouvement de pensée, Paris: Armand Colin 1989, S. 110-111. Mit diesem Zi-

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des Raums im choreographischen Werk eine der wichtigsten Äußerungen des zeitgenössischen Tanzes dar, die vermutlich eine Fragestellung reflektiert, die ebenso dringend wie tief im Körper des Zuschauers verborgen ist. In der Tanztheorie existiert die Beziehung zum Raum nämlich nicht an sich: Wir sind es, die sie einrichten. Daher enthält die Modalität jener Beziehungen praktisch die gesamte Skala unserer symbolischen Hingabe an die Welt und an die anderen. Der Raum ist niemals vorgegeben: Wir wirken in jedem Augenblick auf ihn ein, und er auf uns. Übrigens ist der Raum, mehr noch als eine Konstruktion oder eine Strukturierung, eine ›Produktion‹ unseres Bewusstseins. Die Qualitäten dieses Raums variieren von Person zu Person – und weitaus mehr von Choreograph zu Choreograph, da jeder von ihnen einen einmaligen, expliziten Raum konstruiert. Einen Raum, der lebt und sich bewegt, der denkt und gedacht wird. Eine der wichtigsten Aufgaben für den Tänzer und den Theoretiker ist es, den Raum vom ›Ort‹ zu unterscheiden: vom Ort im objektiven Sinne einer konkreten Stelle, aber auch von dem Ort als Repräsentationrahmen der Gegenstände der Welt, so wie der Raumbegriff beispielsweise in der klassischen Malerei verstanden wird. Natürlich weiß der Tanz sehr wohl um die Poetik der Topologien: Wie in allen Künsten des Jahrhunderts haben sich im Tanz zahlreiche orts-spezifische Äußerungen entwickelt. Stücke, die mit der äußeren Form eines Ortes verbunden waren, waren von großer Wichtigkeit: Ein Beispiel für den Umgang mit einer vorgegebenen Form ist Deborah Hays berühmte Arbeit »Hill« (1972), in der die Tänzer die Abhänge eines echten Hügels erklommen.172 Auch Trisha Browns Stücke »A man walking down the side of a building« (1969) oder »Roof« (1970) können als orts-spezifische Arbeiten angesehen werden, auch wenn die Frage des Ortes darin nicht vorrangig ist: »A Man…« sollte eher den urbanen Ort durch die Veränderung der Perspektive und der Gewichtsverteilung im Körper dekonstruieren (was mit Browns Freundschaft mit Gordon Matta Clark zusammenhing, einem Spezialisten für zerstörte Orte). »Roof« gehört bereits zur Serie der »Accumulations«: Es ist eine negative Anhäufung, da es sich um Gesten handelt, die sich verlieren, die im Dunst des Südens von Manhattan von Dach zu Dach gesandt werden. Das Gleiche gilt für die Kunst des Verschwindens oder der unsichtbaren Erscheinungen in den Straßentänzen von Odile Duboc, vor allem in ihrem berühmten Geniestreich tat begann unser Text »Matisse et la danse du futur« für den Katalog La danse de Matisse, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris 1994. 172 | Sally Banes: Terpsichore in Sneakers, S. 116. Siehe auch: Rose Lee Goldberg: Performance, Live Art. 1909 to the Present, New York: Harry N. Abrams Publ. 1979.

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»Entr’acte«, das 1985 in Aix-en-Provence aufgeführt wurde. 1995 war im Rahmen des Symposiums »Autres Pas« Johanna Haygoods interessante Arbeit über den ›Ort‹ als Oberfläche der Erforschung und der körperlichen Empfindungen zu sehen. Fehlt der ›Ort‹, hindert einen nichts daran, ihn in Form einer provisorischen Architektur zu rekonstruieren: So konstruierte das gemeinsam von Hervé Robbe und Richard Deacon entwickelte Stück »Factory« (1993) einen Raum außerhalb der Bühne, dessen Formen und Begrenzungen durch Gegenstände und Licht vorgegeben waren. Eine riesige Egge, die eine veränderbare Skulptur trug, die gleichzeitig die Rolle eines Mastes und eines Zeltes spielte, war der deutlich bezeichnete Drehund Angelpunkt für den Bereich, den Publikum und Tänzer miteinander teilten.173 Könnte die orts-spezifische Arbeit vielleicht eine Möglichkeit sein, die autoritären Informationen eines ›Raums‹ zu überlisten, der von topologischen Figuren eingerahmt wird? In der abendländischen Tradition wird der Raum gemäß messbarer Unterabschnitte konstruiert, vorgefertigt und eingeteilt, die alle mehr oder weniger analog zu den Ebenen der Anpassung zwischen dem Horizont und dem Auge des Zuschauers sind, so wie sie die von der Renaissance ererbte Perspektive der ›costruzione legittima‹ vorschreibt. Das Ergebnis ist ein messbarer und vermessener Raum, ein Raum der Geometer, wie es Baxandall und Damisch nacheinander deutlich gezeigt haben.174 Eine Darstellung des Raums, die in der Lage ist, Kriterien zur homogenen Aufnahme von Objekten zu defi nieren, in der jedes Ding, jeder Körper seinen Platz einnimmt und sich den Regeln eines allgemeinen Maßstabs unterwirft, wie Schachfiguren, die auf dem schwarz-weißen Brett auf ihre Positionen gesetzt werden. Jenes Bild des Schachbretts ist besonders wertvoll als skalarer Anhaltspunkt eines dargestellten Raums; so wie man es auf dem Straßenpflaster der Perspektivisten der Frührenaissance findet, als ideale Fluchtmöglichkeit, die durch den Wertgegensatz von parallelen und senkrechten Linien zum Fluchtpunkt hin sichtbar gemacht wird, diente es als Rahmen für eines der ersten in der Literatur erwähnten ›Ballette‹.175 Genau dadurch hat der akademische Tanz seinen Treueeid gegenüber der Philosophie und seiner Sicht einer himmlischen und vom Verstand geleiteten Weltarchitektur unter Beweis gestellt, auf deren Grundlage ›Theater‹ im weitesten Sinne des Wortes eröffnet 173 | Vgl. Laurence Louppe: Hervé Robbe-Richard Deacon, voyage dans l’usine des corps, Noisiel: La Ferme du Buisson, coll. de l’Ange 1993. 174 | Michael Baxandall (Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien der Renaissance, Berlin: Wagenbach 1990) und Hubert Damisch (L’origine de la perspective, Paris: Flammarion 1989) unterstreichen den Einfluss der Arithmetik auf die Entstehung des klassischen Raumkonzepts. 175 | Francesco Colonna: Poliphilos Traumerzählung, Venedig 1510, Kap. X.

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werden: alle Räume, innerhalb derer die Vorstellung die Projektionen der Gegenstände der Welt regelt und innerhalb dieses konstituierten räumlichen Rings neu anordnet. In der klassischen abendländischen Kultur reproduziert die Tanzbühne die Bilder, die dem intellektuellen Denken und den symbolischen Formen bereits eingeschrieben sind: den Kreis, die Diagonalen – Bahnen, die die Körper nachzeichnen, wie man Formen auf dem Boden nachzeichnet, die bereits vorgegebene geometrische Schreibweisen sind. Von der ›sacra rappresentazione‹ des Mittelalters bis hin zum höfischen Ballett durchläuft man durch die bloße Fortbewegung des Körpers die archetypischen Formen des Himmels oder die Mysterien kryptischer Zeichen. Zweifellos ist dies ein erhabener Moment in der Tanzgeschichte, dessen räumliche Formen das Ballett später beibehalten wird, auch wenn es dabei zugleich leider einen Großteil ihrer Geheimnisse verliert. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts, während der ersten Blütezeit des barocken Balletts, die uns bis heute zu Recht fasziniert, wurden die Fortbewegungslinien ausschließlich auf dem Boden eingeschrieben. Auch wenn im Folgenden die Bewegungslinie mindestens zwei Dimensionen des Raums durchzog, zeichnete der Tänzer seine Bahn auf nur einer Ebene. Somit wurde der Körper nur zu einem möglichen Element der Erhebung, wie in einer Architekturskizze. Jenes ›Theater des Sehens‹ sollte zum Theater an sich werden, das von Vitruv inspiriert und von Palladio übernommen wurde, und so gut wie unverändert in der heutigen Schauspielbühne weiterlebt: Denn die Architektur und die Einrichtung der Bühnenorte sind in unzerstörbaren räumlichen Repräsentationssystemen verankert. Außerdem hat unser Denk- und Vorstellungsraum jene Architektur schon seit langem verinnerlicht. Nach Frances Yates haben der Philosoph Jean-Louis Schefer und andere nach ihm jene seltsamen ›Theater der Erinnerung‹ erwähnt, die in der Nachfolge von Artistoteles besonders von Quintilian errichtet wurden: Darin betrachtet ein fiktiver Zuschauer von einem einzigen zentralisierten Blickpunkt aus die Gesamtheit der kulturellen Objekte, die in einen geordneten und geometrischen Raum einsortiert und dort gelagert werden.176 Somit »konstituieren sich« das Denken und die Vorstellung »theatralisch als Phantasieproduktion des Subjekts innerhalb eines Bereichs gegenständlichen Widerstands.« Nicht genug, dass die Repräsentationsstrukturen der theatralen Black Box, die parallel zu denen des Denk- und Erinnerungs-Guckkastens in jedem von uns verlaufen, die Anhaltspunkte unserer Wahrnehmung vollkommen eingenommen ha176 | Jean-Louis Schefer: Sur un fil de la mémoire, Cercle d’Etudes Philosophiques de l’Universtité de Strasbourg 1991. Bekannt wurden die Theater der Erinnerung durch Frances Yates’ Werk The Art of Memory, London: Wartburg Inst. 1974.

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ben. Nein, sogar gewisse optische Phänomene sind in der abendländischen Zivilisation durch kulturelle Gewohnheiten konditioniert: Nach der Rückkehr von einer Weltreise demonstrierte uns Susan Buirge in einem äußerst erhellenden Workshop, dass das Sehen eines Körpers im Raum bei allen europäischen Zeugen seiner Fortbewegung (die Workshopteilnehmer eingeschlossen) vollkommen gleichzeitige Etappen der Anpassungen auslöst. Als fasste sich die Erscheinung eines Körpers von vornherein in eine kollektive, homogene, undifferenzierte (und vielleicht in mancher Hinsicht in ihrer extremen Konvergenz bedeutungslose) Aufnahme. Wie könnte der zeitgenössische Körper seine Freiheiten finden – und vor allem die Möglichkeit, einen Platz einzuweihen, der nur ihm alleine gehört? Wie Isabelle Launay deutlich an Labans ersten Texten zeigt, war es zu Anfang der Moderne lange Zeit nötig, jenen Raum zurückzuweisen: zur Zeit des »Freien Tanzes“177 und des Umherirrens der Tänzer, die den ›absolute space‹ auf den Wiesen des Monte Verità vorausahnten.178 Doch hält die Ökonomie des Spektakels den Tänzer immer noch an spezialisierte Auff ührungsorte festgekettet. Wie soll man mit einem Bühnenraum verfahren, der einen wie ein Bilderrahmen zusammenpresst, mit seinen Rändern, seinem Zentrum, seiner niedrigen Ebene davor usw.? Wie soll man die eingerichtete Bühne besetzen oder neu besetzen und dabei die Fallen, um die man sehr wohl weiß, umgehen? Es gibt mehre Möglichkeiten: das Misstrauen als bühnenbildnerisches Verfahren (Humphrey, Brown). Die Utopie als Verweigerung perspektivistischer Konvergenzen, ausgehend von einem zwei-dimensionalen Raum ohne Illusion, ›in the plane‹ wie Jaspers Johns über seinen Mitstreiter Cunningham sagen sollte.179 Oder aber schlicht und einfach die Kapitulation, die das Los eines Großteils der französischen Tänzer der 80er Jahre war, die sich, genau wie die Theaterleute, damit abfanden, den Raum als eine rein bühnenbildnerische (das heißt mimetische) Kategorie zu behandeln. Doris Humphrey wiederum hat, als sie mit kritischem und extrem hellsichtigen Blick die starken und die schwachen Orte und das Verblassen der Sichtbarkeit in der Diagonale studierte, die Winkel jenes feindseligen Raums eingehend untersucht, um Mittel und Wege zu finden, seine immanente Strategie dauerhaft zu umgehen.180 Ein schwieriges Unterfangen: Es gelang ihr übrigens weniger in ihren Texten als in ihren Stücken, die restriktiven Kraft177 | Auf Deutsch im Text, Anm. d. Ü. 178 | Isabelle Launay: »Laban et l’expérience de la danse«, in: Revue d’Esthétique Nr. 22, Herbst 1992, S. 67-72. 179 | Jasper Johns in: Cage, Cunningham, Johns, dancers in the Plane, London: Thames & Hudson 1990. 180 | Doris Humphrey: Die Kunst, Tänze zu machen.

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linien der Bühne implodieren zu lassen. »Passacaglia« und »Water Study« sind räumliche Wirbelstürme, in denen ein instabiler Köper Wölkchen von stürzenden Partikeln um sich ausbreitet. Hier ist es der Strudel, der spiralförmige Schwung in den hingegebenen Körpern, der die Tanz-›Bühne‹ daran hindert, sich um einen einzigen Konvergenzpunkt zu versammeln. Eine andere radikale Lösung ist die Cunninghams: Indem er den pikturalen Raum der Maler seiner Generation, der Handwerker des ›all over‹, auf die Bühne verlegt, macht er aus der Theaterbühne einen Nicht-Ort, anders und etymologisch gesagt eine ›Utopie‹, die auf einen Schlag alle Strukturen des Eingeschlossenseins im zentralisierten Raum auslöscht. Dabei entsteht ein friedlicher Zeit-Raum, in dem alle Punkte gleichwertig (oder gleichermaßen wertlos) sind, rund um das, was er das ›quiet center‹ nennt: ein Zentrum ohne jede energetische Aufladung, ohne besonderen thermischen Zusatz auf den privilegierten Punkten, das dem Körper die Initiative seiner eigenen Freiheit überlässt. »Ein bei vielen Malern verbreitetes Gefühl bringt sie dazu, einen Raum zu erfinden, in dem alles geschehen kann: Dieses Gefühl können auch die Tänzer kennenlernen.« 181 Indem Cunningham das Auge der Fortbewegung des Körpers ohne szenische Direktive folgen lässt, verschaff t er uns eine wesentliche Erfahrung von Befreiung – umso mehr, da die handelnde Instanz jener Befreiung, wie übrigens immer im zeitgenössischen Tanz, der Tänzer selbst ist. Er ist es, der ›Raum schaff t‹, indem er die Ebene eines Wahrnehmungsbereichs öff net, der sich durch die Verwandlung seiner Richtungsentscheidungen verändert. Es gibt keinen Raum, außer demjenigen, der sich vor meinen Augen auftut, die die Welt und den Lauf der Wirklichkeit in jedem Augenblick neu erfinden. »Zu behaupten, dass ein Mann, der auf einem Hügel steht, etwas anderes tun könnte, als einfach da zu sein, bedeutet, sich vom Leben abzutrennen.« Cunningham sieht das Leben als Abfolge unvorhersehbarer Ereignisse und vielfach verschiedener Richtungen, die das kurze Aufscheinen jenes Unvorhersehbaren bedeuten. Seine Raumsprache zieht stets die Ebene vor, nicht nur als Gegenüber des Körpers und des wahrgenommenen Feldes, sondern auch als ›Ebenheit‹, der vom Maler geschätzten Zwei-Dimensionalität, die den Tänzer von der illusorischen Tiefe befreit, in der seine Bewegung und sein Raum Gefahr laufen, unwirklich zu werden. Doch handelt es sich um einen Raum, in dem durch den ständigen Wechsel von ›Polaritäten‹ (ein Begriff, der von den Dynamiken des I-Ging inspiriert ist) genau dort eine glückliche Anarchie entsteht, wo sich die geisterhaften und allegorischen Orte der gegenständlichen Räumlichkeiten am Horizont des zeitgenössischen Tanzes immer 181 | Merce Cunningham: »Le temps, l’espace, le danseur«, Bulletin du CNDC Nr. 3, 1989, S. 7.

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noch zu versammeln versuchen. Denn es ist nicht gesagt, dass die cunninghamsche Revolution wirklich stattgefunden hat, dass sie den theatralen Raum wirklich von seinen archaischen Fesseln ›befreit‹ hat. In seinem materiellen und noch mehr in seinem institutionellen Dispositiv bleibt der theatrale Raum ein Repräsentationsraum, in den, wie Bernard Rémy aufzeigt, nachfolgende Generationen eilig wieder den verschwundenen Totem des gegenständlichen Fluchtpunkts eingeführt haben: »das, was sie am meisten abzuwenden versuchten: den Phantom-Raum.« 182 Man versteht die misstrauische Einstellung einer Trisha Brown, die sich durch jenen Raum eingeschränkt fühlte und das ideologische und historische System anprangerte, aus dem jene Einschränkung hervorgegangen ist. Noch heute empfindet sie ihre Rückkehr auf die Theaterbühne nach den nicht-institutionellen Erfahrungen der Judson Church und der von Yvonne Rainer animierten Grand Union als erzwungene Unterwerfung vor dem Markt des Spektakels. Nach einer eingehenden Untersuchung voller Misstrauen über das ›theatrale Mobiliar‹ entschied sie sich in ihrem Stück »Set and Reset« (1983) dazu, dessen Zwänge anzuprangern: insbesondere die konvergenten Druckbewegungen, die auf die übertriebene ›Erscheinung‹ des Körpers ausgeübt werden, der in der theatralen Zielscheibe des Blicks festgehalten wird.183 Gemeinsam mit ihrem Mitstreiter Robert Rauschenberg als Bühnenbildner ersetzte sie die Kulissenabhängungen durch schwarzen Tüllstoff. Dadurch enthüllte sie Bereiche, die normalerweise verborgen waren (nicht ohne Anspielung auf die Unanständigkeit von Unterwäsche) und machte den Grenzbereich zwischen Erscheinung und Verschwinden weniger eindeutig. Wie in anderen Stücken führte sie Bereiche ein, die bevorzugt besetzt wurden: Das Zentrum ist hier verlassen, zu Gunsten der Lateralbereiche, die die Tänzer immer wieder anziehen, manchmal auch verschlingen. In anderen Stücken (wie »Foray/Forêt« von 1990) nehmen zentrifugale Strudel die Bühnenmitte ein, doch gestalten die Ränder (die sie mir als Schlamm beschrieb) das Verlassen der Bühne schmerzhaft, als habe der Körper große Schwierigkeiten, sich dem Ort seiner übermäßigen Zurschaustellung zu entziehen. Es ist, als sei die auf den Körper gerichtete Röntgenaufnahme dermaßen klebrig, dass der Tänzer nicht mehr im Stande wäre, sie abzuschütteln. Was liegt all jenen Verfahren zur Umgehung der Fallen einer ärmlichen und überlebten theatralen Magie zu Grunde, die man nur bewohnen, geschweige denn benutzen kann, indem man sie umstürzt verfremdet, 182 | Bernard Remy in: Adage, Biennale Nationale de Val-de-Marne Nr. 1,

1985. 183 | Marianne Goldberg: »Entretien avec Trisha Brown«, in: The Drama Review, 1986, frz. Übers. in: Bulletin du CNDC d’Angers Nr. 9, 1990, S. 8.

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auslöscht oder verlässt (was darauf hinauslaufen kann, sie überzukodieren, wie es Decouflé und Nikolais tun)? Die Tatsache, dass der zeitgenössische Tanz, im Gegensatz zu den klassischen Künsten der Repräsentation, keine Räumlichkeiten reproduziert. Er produziert sie. Die Körper ordnen sich nicht in Kreis- oder Dreiecksform an: Sie sind selbst der Kreis oder die Ecke, die eine Diagonale zerreißt. »Es gibt mehr in einem Kreis, als sich im Kreis zu drehen. Man muss sich mehrere Tage lang im Kreis drehen, um zu begreifen, was ein Kreis ist. Und dann entdecken wir plötzlich, dass wir nicht mehr wir selbst sind, dass unser Raum dynamisch, kraftvoll geworden ist, und dass man diese Kraft beherrschen muss«, schreibt Hanya Holm.184 Der zeitgenössische Körper ist die handelnde Instanz seines eigenen Raums: eine Beziehung, die so gegenseitig ist wie eh und je, und die alle Parameter der Bewegung einschließt. Erinnern wir daran, dass es für Laban kein abgetrenntes Ding an sich gibt. Was er ›Raum‹ nennt, ist nichts anderes als unsere Beziehung zum Raum, mit all den Abstufungen und den qualitativen Modalitäten, die diese Beziehung charakterisieren. Wie Forestine Paulay sagt, ist »der Choreograph derjenige, der dieser Beziehung Sinn zu verleihen versteht.« 185 Doch geht es nicht nur um Sinn. Zuerst einmal muss es einen Raum geben. Nun nimmt aber unser symbolischer Raum vor allem durch die Sphäre der unmittelbaren Nähe Gestalt an. Wie wir gesehen haben, konstruiert und bedient jeder seine eigene Kinesphäre, die aus der Gesamtheit unserer Gesten besteht, die uns mit der Welt verbinden. Das heißt, dass jeder von uns, egal, ob er sich für einen Tänzer hält oder nicht, über die gesamte symbolische Bandbreite von Gesten verfügt, die ihn ausdrücken. Ebenso ist jeder von uns mit einem spezifischen Raum verbunden, der über ein gewaltiges Bedeutungspotenzial verfügt. Es handelt es sich jedoch um einen individuellen Raum, der auf die unmittelbare Lokalisierung des Körpers beschränkt ist, und dessen Bedeutungsnetz wir im Alltag nicht mitteilen können, außer in Augenblicken affektiver Teilhabe: wie in der Nähe der Liebesbeziehung oder der Beziehung zwischen Eltern und Kind. Wir werden später noch auf jenen zweiten Typ der Teilhabe zurückkommen, der bei jedem von uns die Beziehung zur gestischen Sphäre grundlegend prägt. Tanz und Choreographie lehren uns nicht nur, diesen Raum zu teilen, sondern auch, ihn zu kennen und zu akzeptieren. Denn nur der Tanz kann den symbolischen Rissen unseres Raums einen Sinn verleihen, die uns lehren, jenen Raum auszudehnen, ihn berührbar und lesbar zu machen. Der kinesphärische Raum, der im Unterricht, im Workshop geteilt wird, wird auch mit dem 184 | Hanya Holm in: J. Morrison Brown (Hg.): The Vision of Modern Dance, London: Dance Books 1980, S. 80. 185 | Forestine Paulay in: Four Adaptations of the Effort Theory, S. 64.

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Zuschauer während der Begegnung mit dessen Raumempfinden geteilt, selbst wenn dieses Raumempfinden fern und geheimnisvoll, oder gar verkümmert oder verletzt sein sollte. Durch den Blick des Zuschauers lässt das Werk Bewegungs- und Wahrnehmungsräume miteinander kommunizieren. Eine der wichtigsten Schwellen des fließenden Übergangs zwischen Körpererfahrung und Raum (Barthes, und vor kürzerer Zeit Genette oder Rosalind Krauss, hätten von ›shifters‹ gesprochen, was sich als ›Verschieber‹ oder ›Rückbindungen‹ übersetzen lässt) kann in der Beziehung des Körpers zu seinen eigenen Dimensionen (vorne, hinten, seitlich) liegen. Laut Labans Theorie haben diese Körperebenen keine Identität an sich. Begriffe wie Vorder- und Rückseite werden nicht durch die anatomische Lokalisierung determiniert, sondern durch den direktionellen Schwung. Die Richtung entscheidet über die wirkliche Aktionsebene zwischen Vertikalität, Horizontalität und Sagittalität. Dennoch wird jenen Körperorten im Tanz seit langem ein großer poetischer Wert als Schlüssel zum Raum zugeschrieben. Man findet ihn im Gegensatz zwischen Vorder- und Rückseite, wie ihn der Nô-Meister Zeami beschreibt.186 Für ihn ergeben sich jene Werte der Ebene aus der Tatsache, dass, während die Vorderseite den Raum und die Umrisse des Körpers durch den Blick beherrscht, die Rückseite nur auf die Wahrnehmungen der Haut vertrauen kann, was somit bedeutet, dass diese reicher sind. Jene rückseitige Ebene wird im praktischen Leben stark vernachlässigt, da sie mit keinerlei Produktions- oder Kommunikationsfunktion verbunden ist. Wie wir gesehen haben, ist sie jedoch in Bezug auf den zeitgenössischen Körper von äußerster Wichtigkeit: Indem sie einen Raum enthüllt, der sich beim Voranschreiten nach und nach auf bläht, wird sie zum Resonanzkörper der Bewegung, hält uns fest und sendet uns gleichzeitig zurück. Die Rückseite, das ist, wie gesagt, der Rückenraum, der als am wenigsten gekannte Oberfläche vielleicht am meisten von uns enthält. Der Raum vor uns ist für den Tänzer ein Projektionsraum, dem es zu misstrauen gilt, da er Gefahr läuft, übermäßig verwendet zu werden. Doch hat es der zeitgenössische Tanz verstanden, darin die Effekte der Emphase einzuschränken, die in der Repräsentation (und sogar in der Präsentation) des Selbst so sehr zu fürchten sind. Jenes Freimachen der Körpergestalt nach vorne hin, in einer Autoproklamation der Körperfassade, ist, wie man wohl sagen muss, ein Kennzeichen der vom pseudoklassischen Stil verunreinigten Praktiken, die sich in allen möglichen künstlerischen oder nicht-künstlerischen Ausdrucksformen durchgesetzt haben (Kino, Werbung, Inszenierung der sozialen Beziehungen im 186 | Zeami: Die geheime Überlieferung des Nô, S. 119-120.

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Bürgertum usw.). Man muss zahlreichen zeitgenössischen französischen Choreographen das ästhetische Verdienst zugestehen, dass sie mit glühendem Eifer den philosophischen Forderungen ihrer Kunst nachgekommen sind und den Körperraum ›an sich selbst‹ bearbeitet haben, und sogar in einer zurückgenommenen Projektion, indem sie in Bezug auf den Raum keine übertriebene Position des Zeigens einnahmen. In diesem Sinne ist der diskret freigemachte Raum bei Duboc, Aubin, Appaix oder Bagouet dem Geist von Wigman, Humphrey, oder Cunningham vollkommen treu. Jene Entscheidung für die Beziehung des Selbst zum freigemachten Raum wirkt auf Auras der unmittelbaren Nähe ein. Die Entscheidung ist poetisch, doch auch politisch und betriff t die Grundsatzentscheidungen des Tänzers bezüglich seiner Macht über den Blick des anderen. Dagegen besteht ein interessanter Umgang mit dem Raum vor uns darin, nicht nur den Blick des Zuschauers in Gefahr zu bringen, sondern auch den Blick des Tänzers selbst, der den Raum für den Schwung der Richtung öffnet. Darin liegt bei Duboc die Arbeit des Blicks, der sich auf den Raum vor uns wie auf etwas Unbekanntes richtet, das es zu erforschen gilt. Eine ähnliche Funktion erfüllt der Blick bei Cunningham, der den Raum als multiple und sich beständig verwandelnde Präsenz sieht. Jener Blick leitet den Tänzer, so wie in Platons »Timaios«, den Cunningham in einem seiner Texte zitiert,187 das Augenlicht den Lauf des Menschen leitet. Bei Duboc wie bei Cunningham strebt der Blick auf den Raum vor uns nicht danach, diesen zu kontrollieren, geschweige denn, ihn zu erobern: Er wird von ihm überrascht, davongerissen und immer wieder aufs Neue ausgerichtet, als würde er zur bewegten Wahrheit der Welt zurückgeführt. Der Blick kann sich auch von der Bewegung davontragen lassen. In dem von Cunningham und Charles Atlas gedrehten Videotanz LOCALE (1981) bewegt und dreht sich der Raum wie ein Körper. Der Raum vor uns wird zum schwindelerregenden Bewegungsraum, dessen Achsen und Ebenen mit dem Weg variieren. Jacqueline Robinson unterscheidet sehr richtig zwischen dem Raum der unmittelbaren Nähe ohne Fortbewegung und der Fortbewegung, der Strecke im Raum, die einen anderen Typ von Beziehung impliziert.188 Doch besteht im Prinzip, und dabei würde sie mir nicht widersprechen, die choreographische Kunst darin, zwischen diesen beiden Raummomenten Kohärenz- und Resonanzbeziehungen herzustellen. Man kann den Ge187 | Jenes Zitat aus Platons »Timaios« befand sich in der ersten Ausgabe von Walter Sorells The Dance Has Many Faces und wurde anschließend gestrichen. 188 | Jacqueline Robinson: Eléments du langage chorégraphique, Paris: Vigot 1980, S. 49-50.

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wichtstransfer mit in den Raum nehmen oder sich stattdessen von ihm davontragen lassen: Stets enthält die Bewegung den eigenen Schwung ihrer Bahn. Die wichtigen Elemente, die zunächst auf der Ebene der unmittelbaren Nähe bearbeitet worden sind, wie die Ausrichtung, finden sich nun auf die Ebene der Fortbewegung überführt wieder. Wie wir noch häufig wiederholen werden, gibt es im zeitgenössischen Tanz keinen grundlegenden Unterschied zwischen Mikro- und Makro-Organisation. So ›klein‹ eine Bewegung auch sein mag, bei Bagouet zum Beispiel, schallt sie dennoch wie die reflektierte Ausbreitung eines Glanzes durch den gesamten Raum. Die individuelle Bewegung richtet sich nicht ›in‹ einem Raum ein. Sie konstruiert den entfernten Raum, so wie sie die ›Gestosphäre‹ konstruiert, wie Hubert Godard diesen Bereich durch einen bewusst in Anführungszeichen gesetzten Neologismus bezeichnet. Zum Beispiel verläuft die ›going line‹, die man bei Cunningham wiederfindet, durch den gesamten Raum, egal welches die Ausdehnung oder der Platz des Zentrums ihrer Aussendung sein mag. Immer noch ohne Kriterien vorgeben zu wollen (die in Bezug auf eine Kunst, deren extreme Freiheit wir behauptet haben, unangebracht wären), gebe ich zu, das ich besonders sensibel für die Kunst von Choreographen bin, bei denen der expandierte Raum eine bruchlose Verlängerung der Geste ist, und deren Kinesphäre das poetische Zentrum dessen ist, was sich ausdehnt, ohne sich durch den Formalismus einer aufgesetzten Konstruktion zu äußern. Choreographen, bei denen der Körper gleichzeitig durch seine eigene Geste und durch den Raum auf die Reise geht. Dies beweist, dass eine kohärente Vorstellungswelt gefunden wurde, und dass die Mimetiken des Vokabulars nicht nur als Zutaten verwendet werden, um einen Raum ›einzurichten‹, der sich vor allem als ›generierender‹ Bereich entwickeln sollte, wie es René Thom formuliert.189 Dieser generierende Bereich ist in erster Linie sensibel: ein Bindegewebe, das sich durch die Erfahrung des Subjekts entspinnt. Nichts an diesem Raum ist ›gegeben‹. Ganz im Gegenteil: Genau wie jeder Schöpfer seine Bewegung neu erfindet, ruft jede choreographische Sprache einen einzigartigen Raum hervor. Jene ›räumliche Sprache‹, wie Laban sie nennt,190 gilt es je nach Künstler, manchmal je nach Werk, auf unterschiedliche Art und Weise zu entziffern. So wie der Körper des Tänzers lebt und tanzt, lebt auch der choreographische Raum. Häufig ergibt sich der Raum sogar aus dem Körper: Der durch die Bewegung sichtbar ge189 | René Thom: »La chorégraphie est une sémiurgie«, in: Apologie du Logos, Paris: Hachette 1990, S. 123ff. 190 | Laban entwickelt den Ausdruck »spatial language« bereits in seinem Frühwerk. Bartenieff, Paulay und Davis übernehmen und vertiefen ihn in Four Adaptations of the Effort Theory.

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machte Raum erscheint nach Meinung mancher Leute als Veräußerlichung der ›inneren Landschaft‹, als ein rein poetischer Raum, dessen Verteilung im objektiven Raum nur ein vorübergehender Zustand wäre, rein analog zu einem räumlichen Widerhall der Vorstellungswelt, der sich in keinem Moment vollkommen aktualisieren kann. Jener individuelle innere Raum wird von seiner eigenen Textur und Dynamik zum Leben erweckt. Dieses Leben hängt von der Arbeit des Körpers ab, der es hervorbringt: zum Beispiel der volle Raum, den Mary Wigman bearbeitet, als könnte man daraus einen anderen Körper kneten, den Raumkörper, dessen Spannungen sie auf sich zu konvergieren fühlt. Dieser Raumkörper stützt sich auf ihren Körper und übt Druck aus, als ob das Gewicht des Körpers auch am Körper des Raums teilhätte. Man muss gesehen haben, wie sie ihn in »Hexentanz« (1913) oder »Totenmal« (1929) langzieht und knetet, ihn zu sich heranzieht oder von sich wegdrückt wie eine weiche, watteartige Masse. Es handelt sich dabei um eine Arbeit am Widerstand der Umgebung, den der Körper durch die Veränderungen seiner Muskelspannung hervorruft. Die amerikanischen ›new dancers‹ der 50er Jahre, allen voran Cunningham, 191 haben sich darin nicht getäuscht: Wigman brachte auf ihre Tourneen in die Vereinigten Staaten jenen bereits erwähnten ›absolute space‹ mit, der ein Eigenleben führte, in keiner Weise vom szenographischen Ort abhing, auf jeden Fall nicht von objektiven Rahmen: einen Raum, den sie durch jede Bewegung neu erfand, denn er war die Materie ihres Seins. Doch sie erfand ihn in Komplizenschaft mit dem Zuschauer. Sie gab ihm kein abgeschlossenes Raumsystem: Sie ließ die anderen jenen Raum durch ihre Geste wahrnehmen und bewohnen. Dies ist das berühmte ›feeling through‹, das nach John Martin »mit der größten Klarheit den Rhythmus etabliert und im Folgenden nur die intensiven Punkte ihrer Zeichnung bezeichnet, und einem dabei die Sorge überlässt, den Raum auszufüllen und die Form zu vervollständigen.«192 An dieser Stelle drängt sich ein berühmter Satz von Matisse auf, der sich nicht auf den Raum, sondern auf die Werkzeuge seiner Konstruktion wie den Rhythmus bezieht, die dazu dienen, den Blick anzuleiten, selbst den Raum des Bildes zu rekonstruieren (muss man daran erinnern, dass es sich um »Der Tanz« handelt, den er 1933 für die Barnes Foundation schuf?): »Ich gebe ein Fragment, und ich führe den Betrachter durch den Rhythmus dazu, die Bewegung, von der er einen Teil sieht, fortzusetzen, so daß er sie als Totalität erlebt.« 193 Jenen Raum, den es ausgehend von der Körpererfahrung zu konstruieren gilt, müssen wir nach Laban einer ›räumlichen Bildhauerei‹ unterziehen, wenn 191 | Merce Cunningham: »Le temps, l’espace, le danseur«, S. 7. 192 | John Martin: The Modern Dance, S. 70. 193 | Henri Matisse: Über Kunst, Zürich: Diogenes 1982, S. 246.

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wir das unsichtbare Volumen auf bauen, das wie die Spitzen eines Kristalls die letzten Entladungen unserer Spannungen festhält. Für dieses Volumen bietet das labansche Ikosaeder ein konkretes Bild. Jener Raum, der übrigens auf Wigman zurückgeht, ist einer der prophetischen Vektoren einer neuen Beziehung zum Raum: Dieser funktioniert nicht mehr, wie der klassische Raum, als ein leerer Rahmen, in den die Fülle des Gegenstands ihre Gestalt einschreibt. Stattdessen versetzt der Tänzer das widerhallende Gewölbe seines inneren Raums innerhalb einer dichten Textur in Bewegung. Die Beziehung zwischen Innen- und Außenraum, die eine Vielfalt von Landschaften widerhallen lässt, bringt eine der wichtigsten Problematiken nicht nur des Tanzes, sondern der gesamten Kunst des 20. Jahrhunderts ins Spiel: Welcher Repräsentationsmodus ist in der Lage, den künstlerischen Akt miteinzubeziehen? Das dem Expressionismus eigene Zirkulieren zwischen Innen und Außen194 in Tanz und Malerei (und sogar im abstrakten Expressionismus) ruft in Projektionen oder Schichten aufgebrochene, fast zerstörte Räume hervor (wie in Pina Bauschs »Café Müller«), als ob ihr Sturz »aus eines Sterns Zerfall«195 in den objektiven Raum noch die Stigmata einer unmöglichen Wiederherstellung trüge. Ein weiteres wichtiges Element des zeitgenössischen Raums ist folgendes: Er ist nicht das Werk eines einzelnen, sich im Raum fortbewegenden Körpers und auch nicht das Werk mehrerer Körper: Er liegt, wie John Martin bemerkt, in der Interferenz der persönlichen Sphären, dem, was er »die Aktionsfelder« nennt.196 Er ist das »feeling through« jener vielfältigen Auras, die zwischen den Körpern tanzen. Ehrenzweig beschreibt dies in wunderbarer Weise in Bezug auf Cunningham und die ›Interaktion‹ der Tänzer zwischen den Kinesphären. »Jeder spann und webte einen unsichtbaren Kokon, baute sich einen schützenden (schoßartigen) Raum auf, fast wie ein Tier, das von einem künftig nur ihm gehörenden Reich Besitz ergreift. Damit jeder Tänzer seine Sequenzen frei gestalten konnte, mussten die anderen sich entlang unsichtbarer Grenzen und um sie 194 | Die Annäherung zwischen diesen unterschiedlichen Zuständen der Subjektivität oder Nicht-Subjektivität in der Kunst des 20. Jahrhunderts wurde von uns in dem Aufsatz »Dada danse« in: La voix et le geste, Programmheft der Biennale de Charleroi 1990, entwickelt und dann von Roger Copeland weiter ausgearbeitet: »Beyond Expressionism, Merce Cunningham’s Critic of the Natural«, in: Janet Adshead-Lansdale/June Layson (Hg.): Dance History, an Introduction, London: Routledge 1983, überarbeitete Neuauflage 1995. 195 | Anspielung auf Stéphane Mallarmés Gedicht »Das Grab von Edgar Poe«, in: Sämtliche Dichtungen, München: Carl Hanser 1992, Anm. d. Ü. 196 | John Martin: The Modern Dance, S. 71.

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herumbewegen. Diese Grenzen wichen zurück, dehnten sich aus, überschnitten einander in harmlosen oder gefährlichen Überschneidungen, bis die getrennten Räume sich in einem glücklichen Augenblick öff neten und zu einer plötzlichen Einheit verschmolzen.« 197 Daraus ergibt sich für den Choreographen die schwierige Arbeit, auf dem Ozean jener persönlichen Sphären zu kreuzen, sie spielen und widerhallen zu lassen, ohne sie jedoch anzugreifen oder zu zerreißen. Jener Raum verändert sich unablässig: Er schwillt an, vertieft sich, franst aus. Auch der Bildhauer-Tänzer Oskar Schlemmer hatte dies deutlich bemerkt, als er von »der plastischen Einschreibung der Bewegung in den Raum«198 sprach. Sehr schnell sieht man im zeitgenössischen Tanz, sogar bei einer Improvisations-Session zu mehreren, jenen Raum entstehen, hin und her wogen, sich von einem Körper zum anderen formen. Egal ob das Anliegen sich für die Konvergenz der Bewegungen oder ihre Dissoziation entscheidet; stets gibt es eine konjunktive Beziehung, die den Raum zwischen den Körpern existieren lässt und zum Tanzen bringt. Das Aufgeben der linearen Sichtweise äußert sich nicht nur in den drei gewöhnlichen Dimensionen Breite, Länge und Tiefe, innerhalb deren sich die sichtbare Bewegung entfaltet. Es äußert sich vor allem durch die grundlegende Neuuntersuchung eines außerhalb des Tanzes wenig behandelten Begriffes: des Bodens. In den anderen Ausdrucksbereichen stellt sich die Frage nach dem Raum nur über Problematiken, die von den Künsten des Blicks aufgeworfen werden: Malerei, Bildhauerei – und in der jüngeren Zeit das Kino, das, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Jacques Tati zum Beispiel), seinen Raum auf die Dreidimensionalität der Darstellung überträgt. Da diese Darstellungskünste jedoch nicht das Gewicht behandeln, ist ihnen die Frage nach der Stütze im Allgemeinen fremd. Bei bestimmten Künstlern, die häufig vom Tanz oder der Performance beeinflusst sind (Robert Morris und Richard Serra beispielsweise), sind die Winkel der Stützen, ihre Bedeutung oder ihre Fragilität, ihre Anwesenheit oder ihr Verlust wesentlich und können zum eigentlichen Anliegen des Werks werden. Im Tanz dagegen beginnt die Raumerfahrung mit unseren ersten elementaren und taktilen Beziehungen, die somit am wenigsten für die Projektion geeignet sind: unserem Kontakt mit dem Boden. Stützen spielen eine wesentliche Rolle in der biographischen Entwicklung. Das Kind, das die Architektur der Gewichtsausrichtung noch nicht beherrscht, erspürt sie 197 | Anton Ehrenzweig: Ordnung im Chaos. Das Unbewusste in der Kunst, München: Kindler 1982, S. 103. 198 | Oskar Schlemmer in: Andreas Hüneke (Hg.): Oskar Schlemmer: Idealist der Form – Briefe, Tagebücher, Schriften, Leipzig: Reclam 1990, S. 53-59.

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zunächst durch den Kontakt mit den Körpern seiner Eltern. Doch hat man diese nicht sein ganzes Leben lang zur Verfügung. Trotz der Emanzipation durch die Eroberung der Vertikalität, des Gehens usw. wird der Tänzer sein gesamtes Leben damit zubringen, seine Stützen immer wieder neu zu untersuchen, in Frage zu stellen und zu variieren.199 Unser Stütz- oder Ersatzkörper ist der Boden: In seiner Sicherheit und Fülle ist er die einzige Wand der Hingabe, die uns die Welt bis einschließlich zu unserem Tod zugesteht. Manche Choreographien verlassen, wie bereits erwähnt, den Boden nicht, sondern erfinden in ihm die Gesamtheit des tänzerischen Raums: so wie im ersten Teil von Mary Wigmans »Hexentanz« und in bestimmten erdverbundenen Soli von Rosalia Chladek. Hideyuki Yano hatte eine einzigartige Fähigkeit, den Boden zu bewohnen, gleichermaßen als Ort der Aufmerksamkeit und des Wartens. Aus jener Umgebung, die so voll und gebunden aussah, auf der sein Körper mit erhobenen Armen und Beinen ruhte, machte er eine Gondel der Leere (insbesondere in dem Stück »MA Ecarlate«, 1980). In »Salomé« (1987) auf einem winzigen dreibeinigen Hocker sah man ihn sich erneut aufstützen, aber auf die Luft, als ob der Boden anfinge, sich unter der Unruhe der Körper zu verflüchtigen. Die ersten Kompositionen von Joëlle Bouvier und Régis Obadia unterhielten eine erstaunliche Beziehung zum Boden, als seien ihre Körper kaum vermenschlichte Erscheinungen an den Grenzen zum Mineralischen oder einem geheimnisvollen Gärungsprozess (»Tête close«, 1982). Der Boden ist nicht nur funktionale Fortbewegungsfläche, sondern spielt im modernen und zeitgenössischen Tanz eine gleichermaßen organische und philosophische Rolle. Er spielt die affektive Rolle, von der wir gesprochen haben: Wie Irene Hultman sagt, »ist er unser Haupt-Verbündeter gegen die Schwerkraft«. Doch spielt er auch eine kognitive Rolle, als Schnittstelle zwischen den Erdanziehungskräften und der Körpererfahrung. Er ist das, wodurch wir »tanzen, das heißt, mit dem Zentrum der Erde in einen Dialog treten können«, wie Kajo Tsuboi in seinem Unterricht sagt.200 Der zeitgenössische Tanz tanzt nicht auf dem Boden, sondern mit ihm. Unterstützt von Adolphe Appia entwarf Émile Jaques-Dalcroze die ersten unebenen Räume, mit an- oder absteigenden Bereichen, Verschiebun199 | Die Pilates-Technik ist die Körpertechnik, die den Raumkörper am grundlegendsten ausgehend von den Stützen konstruiert. Jene Methode, die zu Anfang der 1930er Jahre auf kam, erlebt heute auf beiden Seiten des Atlantik eine erstaunliche Renaissance. Vgl. Dominique Dupuy: »Le corps émerveillé«, in: Marsyas Nr. 16, Dezember 1990. 200 | Mündliche Quellen: Die Zitate von Irène Hultman und Kajo Tsuboi wurden während des vom IPMC und dem Festival »Danse à Aix« veranstalteten Kongresses »Autres Pas 92« aufgenommen.

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gen, die die Raumstruktur in den Körper des Tänzers übergehen ließen. Dadurch wurde zwischen Körper und Raum ein Dialog geschaffen, der den Raum zu einem Gewebe gegenseitiger Aufmerksamkeit zwischen dem Körper und seiner Umgebung machte. In dem Gebäude in Hellerau, das Dalcrozes Schule von 1910 an beherbergte, wiegt sich die von Appia über Treppen und Absätze hinweg konstruierte Bühne mit der Bewegung der Körper und strömt mit ihr dahin.201 Ein Raum, der ebenso rhythmisiert und unregelmäßig ist wie die Phasen der menschlichen Erfahrung. Aus einer solchen Erfahrung hervorgegangen, wird der Tanz stetig versuchen, jene instabilen Räume wieder in sich aufzunehmen. Dies geschieht zunächst durch die Körperarbeit, die unablässig die Höhlungen seines Körpers widerhallen lässt, den ›Unter-Boden‹, wie Daniel Dobbels sagt, in dem die ›Trichter‹-Qualitäten des Körpers erschallen.202 Doch lässt sich die Erfahrung der Abgründe auch durch äußerliche architektonische oder bühnenbildnerische Dispositive nachempfinden. Ein Beispiel dafür sind Trisha Browns »Equipment pieces«, die dem Tänzer seine eigenen Stützen entziehen und sie anderswo im Körper oder außerhalb platzieren; oder bei Pina Bausch mit ihren von Stühlen, Blumen oder Sand bedeckten Böden… »Der Boden scheint durchlöchert und somit eine ungewisse Folge von Stützen zu bieten, die sich entziehen. Er deliriert zwischen leerer Höhle und Fülle; Pina Bausch wird eine Rhythmik für jenes Delirieren der Böden komponieren. Man bewegt sich manchmal mit geschlossenen Augen fort, getragen, aufgehalten, erschüttert, verschoben durch die taktilen Rhythmen einer Syntax der Böden aus zerrissenen Stoffen«, schreibt Bernard Rémy.203 In jüngerer Zeit haben die Choreographen den metaphorischen Gebrauch des Bodens wieder aufgenommen, um darauf die verlorengegangenen Linien einer lange zurückliegenden Archäologie neu zu zeichnen und dem Körper auf seinen Irrfahrten einen Halt zu verleihen. In Jean Gaudins wunderschönem Stück »Summum Tempus«, das in einem Gipswerk getanzt wurde und von dem es eine Videoaufzeichnung gibt, wirbelte der staubige Boden nach oben, bis er das Körpermaß der Tänzer überstieg. Dies leitete bei dem Choreographen eine wichtige Reflexion über die Vertikalität ein, die sich mit dem Stück »L’Ascète de San Clemente et la Vierge Marie« fortsetzen sollte, in dem der Körper zwischen unterschiedlichen 201 | Siehe die Texte und Abbildungen in: Adolphe Appia: Les écrits dal-

croziens. 202 | Daniel Dobbels: »Le sous-sol«, in: Odette Aslan (Hg.): Le corps en jeu, Paris: CNRS 1991, S. 205-207. 203 | Bernard Remy: »Visions de danse«, in: Nouvelles de Danse Nr. 26, Winter 1996, S. 18-25.

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Dimensionen des Raums hin- und hergerissen wird und sich dabei jeder Logik der Selbst-Repräsentation entzieht. »Necessito« von Dominique Bagouet konnte als Phantasiereise über einen sinnbildlichen Boden gelesen werden, der Spiegel eines Ortes zwischen Vergangenheit und Gegenwart war: der Alhambra in Granada. Der Garten war auf den Boden skizziert wie eine verblasste Erinnerung, und jener Raum mit doppeltem Boden hielt die aus dem Gleichgewicht gebrachten Körper in ihren eigenen Fallen fest. Manchmal wird der Boden zum Bühnenbild und zum Untergrund, auf dem der Tanz seine eigene Referenz findet (»St Georges« von Régine Chopinot). In einem außergewöhnlichen Experiment hat sich Catherine Diverrès gemeinsam mit dem Bildhauer Anish Kapoor auf einen beweglichen Boden begeben, der die Körper und Bewegungen der Tänzer zu erzitternden Doubles der Erschütterungen der Erde macht (»L’Ombre du Ciel«). Doch lange vor jenen Erfahrungen, die mit der punktuellen Existenz einer spektakulären Poetik verbunden sind, gibt es die großen Choreographen, bei denen jeder Umgang mit dem Raum auf eine beständige Philosophie verweist, die jedes Stück in eine kontinuierliche Denkbewegung einschreibt. Für Trisha Brown ergibt sich das Fehlen oder die Fortbewegung der Böden aus der Aufgabe von Territorien: Erstens will sich der Tänzer im Amerika der 70er Jahre nicht zum Komplizen der imperialistischen Operationen der Eroberung von Territorien während der letzten interkontinentalen Kriege des Wirtschaftskolonialismus machen. Zweitens verweigern sich genau diese Böden, die von der menschlichen Institution eingenommen wurden, dem Tänzer, sobald er nicht mehr auf einer ›Bühne‹ funktioniert, die die Ideologie der Repräsentation vorgibt und ordnet. Es bleiben ihm also nur die unbesetzbaren, nutzlosen Räume, die Abfall-Räume, aus denen die Gesellschaft und das System keinen Mehrwert mehr gewinnen können; Dächer, Mauern und Wässerflächen, über die kein menschlicher Weg mehr führt. Der Körper entzieht sich darin nicht nur dem Gesetz, sondern kehrt sogar seine Voraussetzungen um, indem er im Laufen an Fassaden entlang sowohl seine Schwerpunkte als auch die allgemeine Beziehung des Körpers zum Horizont neu verteilt. Pina Bausch dagegen untersucht nach Meinung von Bernard Rémy durch ihren Umgang mit dem Boden eine Geschichte, deren unveränderte Materie die Ideologie fixieren wollte: »Pina Bausch baut auf dem auf, was unter den Ruinen der deutschen Städte übriggeblieben ist.«204 Dabei ist dieser zerstörte Boden, wie Bernard Rémy als erster richtig einschätzt, keineswegs ein Symbol des Todes oder des Verschwindens: Es sind im Gegenteil jene Lücken, die die 204 | Bernard Remy: »Visions de danse«, S. 18-25.

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verlorenen Rhythmen wieder herstellen; »auch die Leichtigkeit ist erbarmungslos«, schreibt er. So entsteht jene ›Zwischen‹-Welt eines Raums, in dem das Umherirren durch die Gravitationstrümmer des Bodens als Antrieb erlebt werden kann. Eng verbunden mit der Stütze ist die aufsteigend-absteigende Achse, die uns durch die Erfahrung der Vertikalität zwischen Himmel und Erde ansiedelt. Sie ist ein grundlegendes Element, das uns konstruiert hat und auf all unsere Wahrnehmungen einwirkt. Odile Rouquet erinnert daran, dass jene Beziehung zwischen Himmel und Erde Ausgangspunkt unserer gesamten stammesgeschichtlichen Entwicklung ist, sowohl in Bezug auf unseren Körper als auch auf unsere Vorstellungen. Für sie formuliert der Tanz unablässig die Frage: »Aus welchem Prozess ergibt sich mein Verlangen, zu Boden zu gleiten oder ihn zu verlassen?«205 Doch lässt sich jene doppelte Ausrichtung, die unsere wesentliche Beziehung zum Raum ist, nicht nach objektiven Lokalisierungskriterien bemessen. Zwar gibt es in der Erfahrung ein Oben und Unten, doch bezeichnet dies eher eine Intentionalität, eine ›Richtung‹, als zwei voneinander getrennte Bereiche. Denn unsere Beziehung zum Himmel ergibt sich häufig ausgehend vom Boden. Wie wir bereits bei Doris Humphrey gesehen haben, gibt es kein Aufsteigen ohne Sturz. Somit ist das Rückfedern unsere einzige Chance, für die Zeit eines schnellen Oszillierens die Ausrichtung zum Himmel wiederzufinden. Eine der allgemein anerkannten Figuren des Erhebens ist zum Beispiel der Sprung. In einigen zeitgenössischen Schulen vollzieht sich die Arbeit am Sprung als punktuelle Ablösung von der Erdanziehung (die jedoch mit deren Mitwirkung geschieht, da es die Erdverbundenheit selbst ist, die uns gen Himmel schleudert) in tiefgehender Verbindung mit dem Boden: So steht im Graham-Unterricht vor dem Sich-Aufschwingen eine lange Phase der Bodenarbeit, während der die Empfindung der Erde erforscht wird: Streckungen, Beugungen, Rollen usw. Der spätere Schwung geht übrigens nicht von den Beinen aus, sondern von den Empfindungen des Rückens in Zusammenhang mit dem Bodenkontakt des gesamten Körpers. Dies macht die geradezu raubtierartige Kraft des Grahamschen Sprungs aus, die aus der Anspannung des Rumpfes gezogen wird. Im Vergleich zu jener Bewegung von der Erde zum Himmel sind vielleicht alle anderen Dimensionen des Raums bloße Illusion. Das Gehen, das sich auf der horizontalen Ebene zu bewegen scheint, wird niemals mehr sein als eine »Fortbewegung zum Zentrum der Erde hin.«206 Die Poesie der Verti205 | Odile Rouquet: La tête aux pieds, S. 33. 206 | Paul Virilio: »L’espace gravitaire«, in: Danses Tracées, Paris: Dis-voir 1991, S. 49-61.

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kalität wohnt unserem Körper nämlich ständig inne, selbst wenn wir auf dem Boden ausgestreckt sind. Die Vertikalität hat in ihrem tiefsten Grund nicht besonders viel mit dem aufrechten Stehen zu tun. Sehen Sie sich eine Tempelsäule an, die in einer archäologischen Stätte in Griechenland am Boden liegt. Lauschen Sie im Schweigen des Marmors auf den Gesang der Ausrichtung Himmel-Erde im Schwung der kanellierten Linien. Mit dem menschlichen Körper, der sich in jener Ausrichtung zum Himmel hin konstruiert, gedacht und aufgeschwungen hat, verhält es sich ebenso. Er ist ein Körper, der Wurzeln geschlagen hat, um davonzufliegen, wie der schöne Titel eines wichtigen Werks von Irene Dowd lautet: Taking root to fly. Die Choreographin Kitsou Dubois hat die Körper ihrer Tänzer in eine Kapsel eingeschlossen, in der ein interplanetarer Flug außerhalb der Erdanziehung simuliert wurde. »Zu planen, in der Schwerelosigkeit zu leben«, bemerkt sie, »heißt, einen anderen physischen Menschen zum Leben zu erwecken, mit einem bislang unbekannten Reichtum an Gestik und Rhythmen.«207 Doch selbst wenn »diese Vision in naher Zukunft die Existenz bewohnter Orte auf den Planeten, auf dem Mond und in interplanetaren Stationen mit sich bringt«, wird sich der Tänzer immer noch körperlich auf das beziehen können, was die tanzende Forscherin sehr treffend »subjektive Vertikalität« nennt. Damit erinnert sie uns daran, dass unsere Raumwahrnehmung stets von unserer eigenen Aktivität und Reflexion als Subjekte abhängt. Deshalb ist die Arbeit des ›Klettertanzes‹ der Compagnie Roc in Lichen so überzeugend: An eine Wand geklammert bewegen sich die Tänzer in der Horizontale fort. Er wäre recht eitel, darin nur ein Bedürfnis nach dem Spektakulären oder nach akrobatischer Leistung zu sehen. Seit ihrem ersten Stück »Le Creux Poplité«, das später in »La Salle de bain« (1987) umgetauft wurde, gelang es ihnen, uns ein anderes Raumempfinden zu vermitteln. Nicht durch das bloße Sehen eines umgekehrten Bühnenbilds, sondern durch die Empathie mit der Erfahrung neuer Stützen. So wird der tanzende Körper zum Vermittler zwischen dem Wahrnehmungsempfinden des Zuschauers und einer räumlichen Welt, die zunächst in ihre Einzelteile zerfällt und sich dann nach Gewichtsverfahren neu organisiert, die weit über das hinausgehen, was der Blick einzufangen vermag. Wie wir gesehen haben, erscheint durch jene Räume des Auf- und Absteigens in der choreographischen Vorstellung das Bild des Fliegens. Nicht durch eine buchstäbliche Mimetik, sondern durch ein bewusstes Körper207 | Kitsou Dubois: »Pédagogie de la danse appliquée au personnel soignant, aux malades mentaux, aux astronautes«, in: Marsyas Nr. 18, Juni 1991, S. 42-51, S. 51.

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denken, welches das genaue Gegenteil der vorherrschenden Sicht eines Körpers ist, der sich der Schwere entwindet. Denn das Fliegen könnte durch die absichtliche Verstreuung der Stützen (die man so stark in Träumen vom Fliegen verspürt) zu genau dieser Schwere zurückführen. »Jeder, der einmal freiwillig in ein Loch gefallen ist«, schreibt Dominique Dupuy, »weiß, dass in jedem Sturz etwas vom Fliegen liegt.«208 Mit dem Phänomen des Fliegens beschäftigte sich Dupuy bereits 1983 in seinem Stück »En Vols« (das in jüngster Zeit unter anderem von der Compagnie Icosaèdre wiederaufgenommen wurde). Der Choreograph schreibt weiter: »Ich suche nach dem Flug, der Übersetzung, dem Hinüberziehen des Fluges in den Raum. Der Wanderung des Wesens in den Raum«,209 was keineswegs darauf hinausläuft, in magischer und eitler Weise die Kräfte zu leugnen, die uns fleischlich mit der Erdanziehung verbinden. Für den Tänzer ist der Rausch des Raums nicht wie für Mallarmés »Schwan« dazu bestimmt, »der Erde Schmach« zu beschwören. »Der Tanz des Fluges ist kein Tanz ohne Stützen, weit gefehlt, er ist ein Tanz der Fortbewegung von Raum, von Gewicht, das nicht gehalten sondern entweder nach oben oder unten fortbewegt wird.« In beiden Fällen geht es für den Tänzer um die Aufhängung, die uns als Gewichtskörper an jenen Himmel bindet, in dem wir unablässig fallen: von Oben angezogen und gepackt, und von der Erde gleichzeitig hervorgebracht und verstoßen. Eine andere Figur des Fluges und für mich nach wie vor eine der schönsten Erinnerungen des zeitgenössischen Tanzes ist das Stück »Les Vols d’oiseaux«, das Odile Duboc 1982 auf einem Platz in Aix-en-Provence choreographierte. In mehrere Gruppen eingeteilt gaben sich Amateurtänzer einem reinen Tanz der Fortbewegung hin, wie eine Kompagnie von Vögeln, die einem gemeinsamen Signal folgten. Auch dort war es die Stütze mit angewinkelten Beinen, die dem Lauf auf der Erde den großen Atem des Fliegens verlieh. Jene wunderbare ›Ventilation‹ im Tanz von Odile Duboc ergibt sich überdies durch die Richtungswechsel, besonders wenn die Gruppe der Tänzer wie ein einziger lauschender Organismus der geheimen rhythmischen Anweisung gehorcht, die nicht nur ihre Bahn in einer erstaunlichen Volte der Ausrichtung ablenkt, sondern den Raum selbst wie pulverisierte Partikel zerstreut. »Ein Vogel im umgekehrten Flug.« Ist dies nicht die Definition des Tänzers auf dieser Erde, die ihn zurückhält und ihm gleichzeitig die Kraft verleiht, sich emporzuschwingen? Doch triff t jene Formulierung von Henri Michaux vor allem auf Bernard Glandiers Tanz in »Azur« (1995) zu. Wie in seiner vorhergehenden Choreographie »Sentiers« bezieht Glandier seine Inspiration aus einem Vers, der für ihn einen ›poetischen Augenblick‹ des Verharrens 208 | Dominique Dupuy: »Danser outre, hypothèses sur le vol«, S. 52. 209 | Ebd., S. 47.

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darstellt. Jenes Verharren ist hier keineswegs metaphorisch gemeint, sondern vollzieht sich zwischen dem Bereich der Worte und dem des Körpers, zwischen dem, was der Dichter in der Sprache ›ergreift‹, und dem, wovon ein Körper im Tanz ergriffen wird. Ausgehend von Paul Eluards Vers »Es ist nicht weit über den Vogel, von der Wolke zum Mensch« konstruiert Bernard Glandier Bereiche, die durch eine Abfolge von Passagen abgegrenzt werden; jene Bereiche sind leer, und die meiste Zeit über bleibt auch die Bühnenmitte leer, zu Gunsten von anderen Zentren der Intensität. Dies erzeugt mitten im Zirkulieren der Tänzer eine Art Wirbelsturm, ein Auge des Zyklons, das die Körper unablässig umgehen oder streifen. Die Körper selbst nehmen mit unklaren Dynamiken teil. Manchmal erdverbunden, manchmal galoppierend oder hüpfend. Jener Verweis auf die Himmelskuppel, der im Titel steckt, wird nämlich auf zwei Ebenen eingelöst: zum einen durch jene weit geöff neten zurückgelegten, durchquerten, meist auch einverleibten Räume. Zum anderen durch die Instabilität der Körper, die selbst auf jenen großen Bahnen wie auf den Schwingen des Windes davongetragen werden, dabei jedoch nie die intime Qualität ihrer instabilen Transformationen verlieren. Die Beziehung zwischen dem Auf- und Absteigen lässt den Tänzer aus dem perspektivistischen durch die Horizontlinie fi xierten Raum heraustreten. Somit eröffnen sich unbekannte, nie betretene Gebiete, deren Grenzen von keinerlei Anhaltspunkten gesichert sind und über die die Strategien der Repräsentation keine Macht mehr haben. Vielleicht beginnt hier der wirkliche Traum vom Fliegen: jener Traum, der darin besteht, voll Abenteuerlust alle Dimensionen zu durchstreifen, in denen noch etwas existiert, das noch keinen Namen hat. Jenes ›unbekannte Gebiet‹, wie der Titel eines Theaterstücks von Christine Gérard (›Territoire inconnu‹) lautet, liegt nicht unbedingt außerhalb des Einflussbereichs oder ist aufgrund seiner bloßen Entfernung unberührt. Es kann der unmittelbare Zwischenbereich sein, der ungewisse Ort des Nicht-Erfassten: So evoziert Cunninghams »Beachbirds« (1992) den unmerklichen Grenzbereich, jenes Raumuniversum, das sich erst an der Grenze zu einer Schwelle öffnet, die wir unablässig streifen, ohne sie zu lokalisieren oder gar einzugrenzen. Der Tanz evoziert diesen Raum, doch ist es nicht sicher, ob er ihn durchquert oder gar seinen Fuß darauf setzt: ein schwebender, unbestimmter, niemals besetzter, einfach offener Raum.

2. Spiralen, Kur ven, Kugelformen Es ist nun an der Zeit, das Schwanken der Spirale zu erwähnen, die uns mit jedem ihrer Kreise weiter von einem möglichen Stadium kontrollierten Gebietes entfernt.

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Im Frühjahr 1892 unternahm Miss Genevieve Stebbins eine Handlung, die für die Zukunft des Tanzes entscheidend war. Anlässlich eines Schulfestes in der Einrichtung für junge Mädchen, in der sie unterrichtete, beschloss jene Schülerin von Steele Mackaye (der seinerseits ein DelsarteSchüler war), eine Demonstration zu den Gestaltungsverfahren der Spirale durchzuführen: das heißt, über die eng verbundene und kontinuierliche Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie, Vorderseite und Rückseite, Oben und Unten. Es war das Solo »Dance of Day«, das vielleicht die erste Äußerung des zeitgenössischen Tanzes darstellt. Zunächst erweisen wir Miss Stebbins Ehre: Man stellt sie meistens aus dem Blickwinkel der etwas kitschigen Ästhetik der Auff ührungen voller ›tableaux vivants‹ und statuarischen Posen dar, mit denen die Delsartisten damals Amerika überschwemmten.210 Doch ist es unser Ziel, die wirkliche Körperarbeit hinter diesen Bildern aufzuzeigen, und die Körper- und Bewusstseinszustände die diese Arbeit wachrief. Nicht als Subtext des Tanzes, sondern als eigenständigen Text, für den die spektakulären Elemente meist nur metaphorischer Widerhall sind. Durch eine Bewegung, die eine ständige Verbindung zwischen dem äußeren Raum und dem Körperinneren bewirkte, erhob sich Stebbins, die zunächst auf dem Boden lag, langsam in einer Spiralbewegung und sank schließlich durch dasselbe Verfahren wieder zu Boden. Dabei gab es keinerlei Fortbewegung: Der Raum zirkulierte zwischen Zentrum und Peripherie, und in diesen Fällen eröff net sich der Körper selbst seine eigene Räumlichkeit. Jenes Solo ist aus mehreren Gründen interessant: Erstens nimmt es in seltsamer Weise die zwei Soli von Doris Humphreys »Extatic Themes« (1930) vorweg: das Aufsteigen in »Pointed Ascent« und seine Gegenbewegung in »Circular Descent«. Obendrein weist es fast dieselbe motorische Thematik auf. (Was deutlich beweist, dass wir hier auf einen wesentlichen Punkt gestoßen sind, auf den sich der zeitgenössische Tanz immer wieder beziehen wird.) Das Wichtige für uns ist, dass der zeitgenössische Tanz von Anfang an unterstreicht, dass es nur solche räumlichen Figuren gibt, wie sie auch in der Erfahrung des Körpers gestaltet worden sind. Wenn der Archetyp der Spirale existiert, heißt dies, dass das Hin- und Her zwischen der Bewegung zum Zentrum und der Bewegung nach Außen nicht nur Teil irgendeiner Praxis ist, sondern etwas, das unsere gesamte körperliche Aktivität beseelt. Der ›Sinn‹ der Spirale lässt sich nicht aus der produzierten Form ablesen, sondern nur aus der 210 | Nancy Lee Chalfa Ruyter: »American Longings: Geneviève Stebbins and Delsartean Performance«, in: S.L. Foster (Hg.): Corporealities. Dieselbe Autorin erwähnte Stebbins bereits in ihrem berühmten Buch Reformers and Visionnaries: the Americanization of the Art of Dance, New York: Dance Horizons 1978.

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spiralförmigen Bahn, die gegensätzliche Spannungen im Wesentlichen im Rumpf aufeinandertreffen lässt (was auch eine der wichtigsten Figuren der limónschen ›opposition‹ ist). Jene Spirale breitet sich unablässig über die gesamte Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes hinweg aus, wie die Flamme einer Fackel, die immer wieder neu entzündet wird: von Harald Kreutzberg, dessen Soli aus unablässig in der aufsteigend-absteigenden Achse wieder aufgenommenen Spiralen bestehen, bis zu den Bewegungen des Zusammenrollens und Entfaltens zu Beginn von Pina Bauschs »Café Müller« (Bewegungen, die die Choreographin in vergrößerter und gesteigerter Form aus ihrem »Frühlingsopfer« übernommen hat). In diesem Zusammenhang muss man auch das wunderschöne »Terre du ciel« von Ingeborg Liptay nennen, in dem sich eine körperliche Schraube wirklich erhebt und alle räumlichen Antriebe im selben umgekehrten Schwung aneinanderkettet; hier durchläuft die Spirale alle Fragestellungen, Erwartungen, Brüche, Delirien, Bewusstseinsverluste und zerstreut dabei unablässig jeden Versuch einer eindeutigen oder homogenen Antwort auf das Rätsel der Welt. Von Wigman über Limón bis hin zu Trisha Brown zeugt die Spirale von der Weigerung des Körpers, sich aus einem Guss zu konstituieren, eine einzige Ebene zu bewohnen, einen Körper zu behaupten, der in einem vorgefertigten Raum stehengeblieben ist. In Frankreich hat Dominique Petit den Wirbelsturm der Spirale zwischen die Körper geschleudert: So schien sich in seinem Stück »Les Tournesols« (1993) der Raum selbst zusammenzurollen und wieder zu entfalten. Genau hundert Jahre nach dem Solo von Miss Stebbins bot Olivia Grandville 1992 in Bagouets »Necessito« ein neues Beispiel für eine zirkuläre Bewegung, die es, ausgehend von einem einfachen Gewichtstransfer, dem Zentrum erlaubte, sich unablässig in Richtung Peripherie zu bewegen, ohne dass dabei eine Figur imitiert, oder vor allem irgendeine Form gezeigt oder bewiesen würde. Dies sind nur einige wenige willkürlich aus der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes herausgegriffene Augenblicke und Beispiele für die Transformation der Spirale. Das Durchlaufen der Spirale, oder vielmehr des ›Spiralkörpers‹, wie es die Tänzerin Catherine Atalanti formuliert,211 bringt eine unendliche Anzahl von Konsequenzen auf allen Achsen der Körperarbeit mit sich. Sie untermauert vor allem bei vielen Tänzern (einer Familie, zu der man Duncan, Humphrey, Hawkins und Brown zusammenfassen könnte) die Überzeugung, dass der Körper sich fast immer in einem Zustand muskulärer Entspannung befinden muss, um in der Lage zu sein, den Fluss eines Richtungsschwungs auf einen anderen Muskel übergehen zu lassen. Jene 211 | Catherine Atlani: Corps spirale, corps sonore, Paris: Corps Sonore,

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muskuläre Entspannung erlaubt es dem Gewichtstransfer, ohne Kontrolle im Impuls frei zu zirkulieren. In Frankreich konnte man dies lange Zeit bei Tänzern beobachten, die von diesem Körperdenken beeinflusst waren, besonders in der Gestik von Stéphanie Aubin. Bei ihr zeugt die Praxis der Spirale, die die Bewegung unaufhörlich durch einen ›losgelassenen‹ Körper schwanken lässt, von einer Aneignung durch eine kontinuierliche Praxis, die zu einer einzigartigen Musikalität des Körpers geführt hat. Jenes kurvenförmige Zirkulieren des Gewichts, das bei Stéphanie Aubin die Bewegung ausmacht, verbreitet sich durch Reaktion von einem Ort des Körpers zum nächsten. Dies verleiht ihrem Tanz jene Qualität einer Welle, die aus ihren eigenen Umrissen aufsteigt, und den flüssigen, quasi unbekümmerten Anschein eines kontinuierlichen Hin- und Herwiegens. Ihre Windungen drehen sich nur, weil kein formender Wille in sie eingreift. Wie in dem gerade erwähnten Solo aus »Necessito« bringt der Aufprall des Gewichtstransfers leichte Synkopen hervor, die von langen Auftakten vorskizziert werden: die ozeanische Musik eines Körpers in breiten und trägen Wogen. An die Spirale lassen sich verwandte Figuren anhängen: Kugeln, Kreise und Kurven. Sie haben mit der Spirale gemeinsam, dass sich ihre Form nicht außerhalb der Veränderung der Muskelspannung, dem ›Loslassen‹, wie es in der Terminologie von Stéphanie Aubin heißt, beschreiben lässt. Wer sich angespannt in die Bogenlinie stürzt, wird immer in der Form bleiben, weit entfernt von jeglicher Sphärizität, und wird nicht zu jener bewegten Welle werden, die der Raum in seiner Zirkularität absorbieren kann. Nicht von ungefähr spielt die Kugelform in der Kunst von Doris Humphrey und von José Limón eine dominierende Rolle. Bei ihnen erlaubt die Freiheit des Rumpfes die Instabilität eines Körpers, der sich seinem eigenen Schwindelgefühl überlässt, jene zirkuläre Beziehung zum Raum. Wie man feststellen wird, sind zahlreiche Choreographien der beiden immer wieder in Kreisform aufgebaut: Humphreys »New dance« (1937) oder »Passacaglia« (1938), »Musical Offering« oder »Missa brevis« (1958) von Limón usw. Doch besonders Limóns »There is a Time« (1956): Dort verweist der Kreis auf die archaische Gemeinschaft, die in den ein wenig fatalistischen Versen des Predigers Salomon beschrieben wird: »Ein Jegliches unter dem Himmel hat seine Zeit.« Verse, die mit einer gewissen Gleichgültigkeit Leben und Tod, Hass und Liebe, Krieg oder Frieden einander wie zwei Seiten eines einzigen Vektors gegenüberstellen. Limón hat es verstanden, jene resignierte Dualität in ein kraftvolles Hervorsprudeln von Energie zu verwandeln. Es ist ein Kreistanz, der an Matisses erste ›Tänze‹ erinnert und einer ursprünglichen, zeitlosen Sicht der tanzenden menschlichen Gruppe entspricht. Ein Tanz, der sich selbst darstellt. In anderen Stücken

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ist die Verwendung des Kreises auf der Bühne jedoch eine hervorragende Möglichkeit, der perspektivistischen Frontalansicht zu entgehen. Sie lässt einen anderen Raum entstehen, der nicht nur jener der Repräsentation ist: den inneren Raum der geschlossenen Kette, der wie eine gegenseitige Beziehung von räumlicher Verkettung erlebt wird. Man wird sagen, dass der Zuschauer keinen Zugang zu jenem in der Kette eingeschlossenen Raum hat. Nun liegt aber die Kraft dieser Stücke genau darin, uns in die Wirbel dieses sphärischen Bereichs hineinzuziehen. Doch existiert jene Kraft nur, weil sich die Tänzer selbst im Zustand der Sphärizität befinden. Zwei zirkuläre Ebenen lassen sich aus »There is a time« herauslesen: die Ebene der Körper, die selbst ein inneres Volumen umfassen. Und jene der MakroOrganisation, die jenes innere Volumen in größerem Ausmaß nach Außen abstrahlt. Es geht hier also nicht darum, einen Kreis zu ›machen‹, wie es zuvor bereits die Bemerkung von Hanya Holm anzeigte, auch nicht darum, ihn zu ›bilden‹ oder zu ›zeigen‹, sondern darum, ihn ausgehend von der Körpererfahrung existieren zu lassen: jener Kreis zu ›sein‹, der sich, zwischen Sakrum und Schulter aufgehängt, unablässig beim Rückfedern entfaltet und wieder zusammenzieht. Diese Funktionsweise des Tanzes gibt Anlass dazu, über die Raumdarstellungen nachzudenken, die ihr zugewiesen werden. Doch hat die Art und Weise, wie Bachelard und besonders seine Schüler Nutzen aus einem in der menschlichen Vorstellung universell erkennbaren Bild ziehen, nur wenig mit den Zielen des zeitgenössischen Tanzes zu tun. Es ist frappierend, dass Gilles Durand die Lokalisierungen des Raums, wie zum Beispiel das Oben und Unten, von dem wir gesprochen haben, unmittelbar starren affektiven Bildern zuordnet. Dies erinnert an die klassische Raumauffassung, in der es für jedes Bild einen Platz, um nicht zu sagen, eine Allegorie gibt.212 Haben es die Bewegung und der Raum wirklich nötig, sich zu ihrer Erhellung auf einen referenziellen Hintergrund zu beziehen, der zweifellos reichhaltig und anregend ist, sich jedoch stets außerhalb der Erfahrung abspielt, die ihn hervorbringt? Die Vorstellungswelt der Bewegung liegt in der Bewegung selbst, so wie es für Deleuze die Zeit ist, die das kinematographische Bild zu seiner eigenen Offenbarung und Bedeutung führt. Muss man nicht vielmehr sehen, dass die Bewegung selbst die Vorstellungswelt hervorbringt? Übrigens stellt sich Deleuze, indem er den brechtschen Begriff des Gestus übernimmt und ein wenig verschiebt, im Zeit-Bild eine effiziente körperliche ›Geste‹ des figuralen Inhalts der kinematographischen Sequenz vor. Seiner Meinung nach ist dies vor allem 212 | Gilbert Durand: Structures anthropologiques de l’imaginaire, Paris: Bordas, coll. Bordas Études 1982, S. 461ff.

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in einem ›engagierten‹ Kino wie dem von Godard der Fall, wo der ideologische Diskurs nicht mitgeliefert wird oder sich aus einem referenziellen Filter ergibt, sondern in den Körpern der Figuren selbst liegt; in VORNAME CARMEN zum Beispiel »verweisen die körperlichen Verhaltensweisen fortwährend auf einen musikalischen Gestus, der sie unabhängig von der Intrige koordiniert.«213 In seiner »Poetik des Raums« liefert Bachelard eine inspirierte Beschreibung der »Bilder, die wie wir glauben, in elementaren, vielleicht zu weit aus der Vorstellungskraft hergeholten Formen, die Funktion des (Be-)Wohnens illustrieren.« Jene vorstellungs-bedingten Strukturen der Raumdarstellung überschneiden sich vielleicht mit der Forderung nach einer Untersuchung der ›reinen Vorstellungskraft‹, so wie sie am Anfang des Werks erscheint, und die aus Bachelards Suche alles ausklammern würde, was er als ›positives‹ oder gar ›biologisches‹ Universum betrachtet. Oft fühlten sich Tänzer vom Erscheinen des Bildes im Denken bei Bachelard angezogen. Es erhält darin die existenzielle Schönheit des Nicht-Determinismus. Es bezieht seine Identität nur aus sich selbst; »durch seine Neuartigkeit, durch seine Tätigkeit, erhält das poetische Bild seine eigene Dynamik.«214 Solcherart von jeder kausalistischen Referenz befreit, bewohnt es sein wahres Königreich, ein Königreich des Irrealen. Nun bleibt aber der tanzende Körper nicht außerhalb der Vorstellung. Es ist im Übrigen aufschlussreich, dass sich zahlreiche Choreographen auf Bachelards Denken beziehen (wie z.B. die bereits zitierten Odile Duboc, Dominique Dupuy und Bernard Glandier). Die Arbeit an den Elementen, an der ›Träumerei‹, die sie bei der Erarbeitung neuer Stücke, oder bei Workshops skizzieren, ist Anlass für alle möglichen Arten der Verwendung, auch der Wiederaneignung, als ob sich durch Körperarbeit die fehlenden Bindeglieder zwischen dem poetischen Diskurs und dem Tanz wiederfinden ließen. Als ob das, was idealen und in einer reinen Vorstellungswelt präexistenten Figuren fehlte, einen anderen Existenzmodus finden und durch die Körpererfahrung anders zum Bild werden könnte. Was den Raum angeht, so kann man in der Tat mit Laban denken, dass es dafür keine vorgefertigte Figur gibt, auch wenn die menschliche Vorstellungskraft seine Schatten hervorgebracht hat. Denn die Figuren existieren und koexistieren in der Schnelligkeit des Diskurses oder des Traums, der sie ohne Widerstand hervorruft. Der Zeit-Raum des Tänzers muss durch Körperarbeit gefunden werden. Damit er im Tanz existieren kann, kommt er nicht um den Gewichtstransfer herum, der als 213 | Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 251. 214 | Gaston Bachelard: La poétique de l’espace, Paris: PUF 1957, Neuauflage coll. Quadrige, S. 25-26.

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einziger in der Lage ist, eine Figur oder einen Ort zu verwandeln oder sogar hervorzurufen. Somit kann die universale Vorstellungswelt als ›Fundus‹ dienen, aus dem sich Kompositionsmaterialen schöpfen lassen. So zum Beispiel die ›Tropen‹, jene hervorbringenden Strukturen, denen man in allen kompositorischen Künsten (Literatur, Musik, Choreographie, Kino) begegnet: Chiasmen, Inversionen und Metonymien. Doch so machten es die Pioniere nicht: Sie mussten alles neu erfinden, um die Geburt einer Form durch die Kraft des Körpers legitimieren zu können. Sogar Martha Graham, die sich mit ihrer Arbeit an den jungschen Archetypen auf die großen Gestalten bezog, die mit den universellen Phantasien, Ängsten und Abgründen des affektiven Lebens verbunden waren, strebte nicht danach, sich bereits eingerichteten Strukturen anzupassen. Sie bezieht sich zwar auf sie, doch muss sie sie durch eine Körpererfahrung neu erfinden. Wie im Falle der uralten Figur des Labyrinths. Nach der Legende bezieht jene lokale Konstruktion ihre Existenz übrigens nicht aus einer vorgegebenen Architektur, sondern aus der Erfahrung einer zurückgelegten Wegstrecke: Man weiß von Homer, dass Dädalus ausgehend von einem Tanz an der Kette mit unvorhersehbaren Verzweigungen den hin- und herwiegenden Verlauf einer Architektur ersann, die sich unablässig um sich selbst wand. In »Errand into the Maze« ist das Labyrinth bereits auf dem Boden eingeschrieben oder vielmehr aufgebaut, durch die Windungen eines von Nogushi gewebten Seils. Man weiß nicht, ob es sich um den für das Zurücklegen einer Wegstrecke geöffneten Weg handelt oder um die Spuren jenes Weges zwischen dem Verlangen nach und dem Zurückschrecken vor dem monströsen und bestialischen Objekt jener Begierde. Somit ist das Labyrinth gleichermaßen Verlust und Flucht hin zur zentralen Konstruktion, in Form einer offenen Hütte, in der Grahams Körper zwischen Rückzug, Schutz und Verweigerung hin- und hergerissen wird. Die Motive entstammen dem Bereich der traditionellen Symbolik: Muscheln, Münzen, Leitern, Abgründe oder Brunnen bieten Forschungsgegenstände, durch die man zum Beispiel im Verlauf eines ImprovisationsWorkshops bestimmte Problematiken berühren kann, die die mehr oder weniger anekdotische Beziehung zur Umgebung betreffen. Doch wird der Tänzer seinen Ort nicht in jenem Lager der Räumlichkeiten finden. Als Nomade, selbst in der Vorstellungswelt, muss er die lokalen Figuren, die er bewohnen will, ausgehend von seinem eigenen Körper konstruieren. Dies erinnert uns daran, dass die Beziehungen zum Raum immer von unserer eigenen Aktivität und Reflexion als Körpersubjekte abhängen werden. Experimentelle Unternehmungen wie jene der bereits erwähnten Compagnie Roc in Lichen drücken dies besonders deutlich aus. Mit der Arbeit jener Künstler in der Vertikalen zeugt die Beziehung aufsteigend-absteigend nicht nur von ihrer wörtlichen Anwendung auf eine Kletterfläche, sondern

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läuft mit dem Denken dieser Beziehung zusammen. Doch ist auch eine Choreographie der Erhebung (im ›figuralen‹ und nicht figurativen Sinne) wie Bernard Glandiers »Azur« davon nicht weit entfernt: Denn für den Tanz existieren Oben und Unten nicht als Lokalisierung. Das Wichtige ist es, zu sehen, wie der Körper als auf- und absteigender Vektor Himmel und Erde in einer doppelten Erfahrung des Miteinander von Oben und Unten verbindet. In jenen Räumen des Auf- und Absteigens besitzt die Vertikalität nur wirkliche Macht, wenn sie, wie man es oft genug gesehen hat, das oszillieren lässt, was uns zu ihrem Verderben führen könnte. Auch hier ist es wieder die spiralförmige Aktion der Bewegungen, die alle Dimensionen miteinander in Beziehung bringt. Selbstverständlich geschieht dies mit dem Wissen, dass es nach Doris Humphrey kein Aufsteigen ohne Sturz gibt (»die Vertikalität als prekäre und verletzliche Schöpferinstanz«, schreibt Dominique Dupuy215) und dass die intensive Schichtung, eine objektive Vertikalität, zu einer Verhärtung führt, die dem Tod näher ist als die Entspannung, die uns, rund um die Gravitationsachse allen Möglichkeiten der Spirale hingegeben, niederstrecken könnte. Somit wird die Vorstellung durch den Raumkörper gleichzeitig hervorgebracht und zerstreut.

Die Komposition »Die Kunst fasst ein Stück Chaos in einen Rahmen, um daraus ein komponiertes Chaos zu bilden, das spürbar wird.« Gilles Deleuze und Félix Guattari »Komponieren, das heißt Spannungen in Zeichen zu verwandeln.« Christian Bourigault

Die Spannungen, ihre Anordnungen oder Widersprüche (Laban erinnert daran, dass es keine Spannung ohne eine Gegenspannung gibt, die sich gegen ihre Entladung stellt) wirken auf den Körper und den Raum ein, der zum eigentlichen Feld der bis dahin unformulierten ›Spannung216‹ wird. Sie werden nicht nur ihre eigene Zeichen-Werdung hervorbringen, sondern auch den Sinn, den der Körper in den Zwischenbereichen der Geschichte verbarg. Wie vielleicht auch Christian Bourigault sagen könnte,

215 | Dominique Dupuy: »Danser outre«, S. 111. 216 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü.

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bietet die Komposition im Tanz eine unendliche Behandlung dessen, was lange Zeit aus der Vorstellungswelt verbannt war. In Frankreich stellt eine äußerst interessante terminologische Unterscheidung das Konzept der ›Handschrift‹ dem der ›Komposition‹ gegenüber. Da eine wirkliche Diskussion und auf breiterer Ebene geteilte Reflexionen bislang fehlen, ist es sehr schwierig, zu begreifen, wie sich diese zwei Begriffe unterscheiden. Das Wort ›Handschrift‹ wird auch auf die musikalische Komposition oder das Kino angewandt und ist vermutlich nicht ohne Beziehung zu dem quasi exemplarischen Status des ›Textes‹ in unserer Kultur. Die Etymologie des Wortes ›Text‹, die aus dem Bereich des Webens stammt, gibt dem Begriff des Geflechts den Vorzug, der engen und subtilen Verwebung unterschiedlicher Fäden und paradigmatischer und syntagmatischer Schwankungen am Ursprung dessen, was das Vorbild bleibt: der Äußerung. Dagegen schaff t der Kompositionsakt (componere, zusammensetzen) eher ausgehend von einem architektonischen und logischen Plan einen Raum, der die Ordnung der Kunst ausmacht. Solange bis tiefergehende Untersuchungen jene vielleicht mehr linguistische als theoretische Option erhellen, führen mich meine Gespräche mit Stéphanie Aubin, Christian Bourigault und Odile Duboc und die Aufzeichnungen von Susan Buirge zu häufig divergenten Schlussfolgerungen, deren einander entgegengesetzte Nuancen ein Feld eröff nen, das äußerst reich an ›Perzepten‹ ist. Wie wir gesehen haben, begreift Bourigault die Idee einer von ›Zeichen‹ ausgehenden Handschrift als semiotische Übersetzung der Komposition als dynamische Ansammlung. Darin nähert er sich der Komposition als Verteilung von Kraftlinien an, wie sie in der modernen Malerei praktiziert wird: »Ein Werk ist nichts anderes als die Anordnung von Spannungen«, schreibt Kandinsky in den Aufzeichnungen zu seinem Unterricht am Bauhaus. Ähnliche Definitionen lassen sich in der Strömung des Kubismus finden, wo der Bildauf bau durch die Unruhe der pikturalen Materie hervorgebracht wird. »Die Formen auf die Dynamiken unserer Handlungen abstimmen«, schrieben Gleizes und Metzinger.217 Es handelt es sich jedoch um sichtbare Elemente, denen jegliche semiotische Ausarbeitung fehlt. Im Tanz gestaltet sich die Komposition zwar vor allem durch das, was Deleuze in Bezug auf Bacons Malerei das »Pathetische«218 nennt: die sensorische und emotionale Kontaminierung eines Bereichs durch einen anderen. Doch ist der Tanz ein Sonderfall unter den Künsten und vollzieht, wie Bourigault bemerkt, eine seltsame Transaktion zwischen einer körperlichen ›Pathetik‹ und dem, was sich daraus semiotisieren wird und sogar 217 | Gleizes/Metzinger: Du Cubisme, Paris 1913, Neuauflage Flammari-

on. 218 | Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino I, S. 56.

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eine Spur seiner selbst in der ›Handschrift‹ hinterlässt. Andere wenden die Idee (und das Wort) Komposition mehr auf Verfahren der Gestaltung oder des Erlernens an. Das Ergebnis dieser Arbeit ist die Handschrift. Susan Buirge weist nützlicherweise darauf hin, dass »es in der Komposition nur die Bewegung gibt, nur den Tänzerkörper, der das gesamte Anliegen trägt. In der Choreographie können alle möglichen anderen Elemente zum Einsatz kommen, um einer bestehenden Äußerung Sinn oder Widerspruch zu verleihen.«219 Die Handschrift betriff t in jedem Fall die Wahrnehmung des Werks: Sie ist die Offenbarungsinstanz der choreographischen Komposition. Für uns ist sie die Grundlage des choreographischen Akts, ganz unabhängig von ihrem Konzept oder ihrer Definition. In den 80er Jahren verschob die übergroße Bedeutung, die man den szenischen Konditionierungen der Handschrift beimaß, häufig das Interesse vom choreographischen Werk zur Auff ührung hin: von der Handschrift hin zu den Faktoren ihrer ›Verpackung‹. Nicht dass jene der Handschrift beigefügten Elemente wie Licht, Kostüme und die Gesamtheit der spektakulären Rahmung nur schmückendes Beiwerk wären: Sie sind im Gegenteil die handelnden Instanzen ihrer Offenbarung. Das choreographische Werk ist nämlich eine vollständige Vorstellungswelt, in der alle Entscheidungen ihre Daseinsberechtigung haben. Doch dürfen sie keinesfalls die Handschrift selbst als Kombinatorik all dieser Entscheidungen ersetzen. Auch wenn sie in gewissen experimentellen Situationen transponiert oder verleugnet wird, bleibt die Handschrift dennoch das Herzstück des Tanzes. Die Entkräftung, die im Verlauf der 80er Jahre in zahlreichen Strömungen auftrat, rührte daher, dass die Handschrift häufig zu Gunsten der Bestrebung, ein Bild oder einen Effekt zu erzeugen, geopfert wurde, was häufig auf das Gleiche hinauslief. In einem Vortrag über die Beziehung zwischen Tanz und Kino220 bemerkte Marilen Iglesias Breuker, dass die Konkurrenz mit der Vorstellungsmacht des Kinos den Tanz zur Inflation seiner eigenen Bilder geführt habe. Dies sei nicht ohne einen Verlust der Handschrift als Register des Spürbaren, als Gerüst des Unsichtbaren (in ihrem eigenen Tanz versteht sie, das Spürbare und das Flüchtige zu bearbeiten) abgegangen. Der Großteil der Choreographen, die wir untersuchen, hat sich in besonderer Weise mit der Suche nach einer ›Handschrift‹ beschäftigt: von Odile Duboc oder Stéphanie Aubin bis hin zu Dominique Bagouet und all den Partnern, die von ihm inspiriert wurden. 219 | Susan Buirge: »La composition: long voyage vers l’inconnu«, in: Nouvelles de Danse Nr. 36/37, Herbst-Winter 1998, S. 75-83, S. 81. 220 | Marilen Iglesias Breuker (mündliche Quelle): soirées Carte blanche aux chorégraphes, Cinémathèque de Toulouse, Februar 1991, Themenabend Alain Resnais.

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Die Kenntnis der ›Komposition‹, die in gewisser Weise das Laboratorium der Handschrift ist, kann Elemente bieten, die dabei helfen, das Anliegen und die Konstruktion eines Werks zu lesen. Als Erfindungs- und Organisationsmatrix der Bewegung, aus der das Werk entstehen wird, ist die Komposition ein grundlegendes Element des zeitgenössischen Tanzes – allerdings noch weit mehr als Philosophie des Akts. Die Definition und die Rolle, die ihr in der zeitgenössischen Schule zukommen, gehören nur ihr und hängen mit der Gesamtheit ihrer Geschichte zusammen. Die Komposition ist nämlich eine Übung, die von der persönlichen Erfindung einer Bewegung oder vom persönlichen Gebrauch einer Geste oder eines angebotenen Motivs ausgeht, um daraus eine choreographische Einheit zu konstruieren, die ein Werk oder das Bruchstück eines Werks sein kann. So wie wir Komposition in diesem Zusammenhang verstehen, lässt sie sich nicht auf der Grundlage eines bereits fi xierten Vokabulars gestalten. Deshalb kann sie nicht in einer akademischen Tradition praktiziert werden, in der der Tanz ausgehend von einem lexikalischen Spektrum ausgeübt wird; sie impliziert nämlich nicht nur eine Entwicklung auf der Grundlage ursprünglicher Bewegungen, die der individuellen Inspiration entstammen. Nein, ihre Poetik verlangt auch, dass jene ›Erfindung‹ selbst zum Anlass für die Gesamtheit der konstituierenden Arbeit wird, dass sie ihr ihren einzigartigen ›Kern‹ verleiht, und sogar den gesamten Bogen ihres Projekts. »Die kleinste Geste«, bemerkt Michèle Rust »kann die gesamte Unternehmung in Gefahr bringen.«221 Deshalb ist es im zeitgenössischen Tanz unmöglich, die Entstehung der Bewegung und die spürbaren Bedingungen dieses Entstehens von der Gesamtheit der Komposition zu trennen – außer in bestimmten Fällen, wo der Bruch zwischen den beiden explizit behauptet und willentlich herbeigeführt wird, wie in manchen minimalistischen Unternehmungen. In jüngster Zeit rekrutieren unsere Choreographen Tänzer von äußerst unterschiedlicher Sensibilität oder Herkunft, um so bunt zusammengewürfelten Gestiken und Leiblichkeiten die Möglichkeit zu geben, sich auszudrücken. Michèle Febvre nennt dies »einzigartige Morphologien«, die eine ›Infra-Theatralität‹222 zum Einsatz bringen. Der Anteil des Choreographen beschränkt sich, wie Nathalie Schulmann sehr richtig in Bezug auf die Kunst von Joseph Nadj223 erkannt hat, darauf, Begegnungen oder Gruppensituationen zwischen den Interpreten zu organisieren, die ihre Gestik in unterschiedlicher Weise einsetzen. Manche 221 | Michèle Rust (mündliche Quelle): Interview vom 24. September

1995. 222 | Michèle Febvre: »Danse contemporaine et théâtralité«, S. 66. 223 | Nathalie Schulmann: »À propos des Échelles d’Orphée de Joseph Nadj«, 1994 (unveröffentlicht).

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Choreographen bezeichnen jene Verteilung der Zustände, der Kraft- oder Spannungslinien, ausgehend von homogenen oder heterogenen, identifizierten oder nicht identifizierten Körpervorgaben, die aber ›gegeben‹ sind und nicht in Hinblick auf eine organische Globalität neu erarbeitet werden, heutzutage lieber als »Dramaturgie«. Der Ausdruck ist gerechtfertigt, sobald es um ›Inszenierung‹ als einfache Verteilung von ›Rollen‹ geht, selbst wenn es sich um räumliche oder zeitliche Rollen handelt, oder um eine wirkliche choreographische Arbeit, die es notwendig macht, Verbindungen der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen allen Stadien der Tanzarbeit zu etablieren. Selbst eine stark ›theatralisierte‹ Arbeit ist, wenn sie nicht noch vor jeglicher Figurengestaltung die Kerne der persönlichen Signatur miteinbezieht, dazu verdammt, Berge von Ungedachtem mit sich zu tragen und einen körperlichen Subtext zu liefern, der ideologisch weitaus ausgeprägter und prägender ist, als es ihren narrativen Zielen lieb wäre. Jene Angelpunkte des Sinns oder des Oszillierens von Sinn sind unzählig und müssen mit extremer Feinheit identifiziert und behandelt werden. Wie Susan Buirge sehr richtig bemerkt, ist das Ganze nicht nur die Summe seiner Teile: Das Ganze einer Komposition liegt ebenso in dem, was in jedem Augenblick, in jeder Äußerung auf die Gesamtheit einwirkt und sie verwirrt. Das heißt, dass die Komposition mit der ›Erfindung‹ der Geste und den qualitativen Modalitäten ihrer Beziehungen zu Raum und Zeit beginnt. Ausgehend von diesen Modalitäten wird dann die vollständige Konstruktion gestaltet. Man kann sogar noch weiter in den Faktoren zurückgehen, die die Gestaltung der Komposition und ihre ersten Grundsatzentscheidungen bestimmen: Sylvie Giron kann mit Recht behaupten, dass »die Komposition mit der Auswahl der Interpreten beginnt.«224 In der Tat finden das Klima und sogar das Anliegen des Werks ihre qualitativen Wurzeln ausgehend von der Palette der Rückbindungen, die jeder einzelne in sich trägt. Um ihr gesamtes poetisches Potenzial zu entfalten, müsste die Komposition stets eine Ausdehnung oder zumindest ein Infragestellen der Kinesphäre durchführen: In diesem Fall ist der Choreograph derjenige, der es versteht, die Zustimmung der Tänzer zu seiner eigenen kinesphärischen Sensibilität in Körperzustände zu verwandeln. Deren Widerhall (oder Widerstand) bildet den Hintergrund, vor dem sich die wirkliche Identität des choreographischen Textes entspinnen wird. Auch Christine Gérard, eine Choreographin mit äußerst raffinierter Handschrift, empfiehlt eine besondere Aufmerksamkeit für die Entstehung des Materials aus dem Wesen des Tänzers selbst: »Alles hängt von der Materie jedes einzelnen ab.

224 | Sylvie Giron in: Laurent Barré (Hg.): L’œil dansant Nr. 2, CNC Tours

1995.

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Wie soll man jene persönliche, einzigartige, unersetzbare Materie choreographieren?«225 In dieser Hinsicht ist jede Gruppe von Personen, selbst wenn sie sich durch Zufall zusammengefunden hat, bereits eine ›Komposition‹ im etymologischen Sinne, wo das Spiel der Affinitäten, der Widersprüche, der Kontraste, und besonders der Spannungen zu komponieren beginnt, noch bevor überhaupt eine Organisationsstruktur skizziert ist. In einem so zarten, so komplexen Gerüst ist es müßig, zu versuchen, zwischen dem Wichtigen und dem Sekundären, dem, was eingeschlossen wird und dem, was einschließt, zu unterscheiden. Das Wichtige bei der Komposition ist es, eine inexistente Materie zum Existieren zu bringen und die Wege zum Unbekannten und Ungeschaffenen zu finden. In ihrer bewundernswerten Studie L’atelier du chorégraphe (»Die Werkstatt des Choreographen«), in der sie versucht, die zerbrechlichen Umstände einer poetischen Erscheinung des Ungeschaffenen genau einzugrenzen, weist Jackie Taffanel auf die nicht nur kognitive sondern auch perzeptive Komplexität der Etappen des Kompositionsprozesses hin. »Der Blick des Choreographen arbeitet gemäß einer Vielzahl von Modalitäten, die einander im Verlauf des Schöpfungsprozesses vielschichtig überlagern und abwechseln.«226 Auch wenn wir der Autorin, die selbst Choreographin ist, darin beistimmen, dass man das Wissen im Tanz gegen einen ›hypothetisch-analytischen‹ Ansatz abgrenzen muss, den sie zu Recht fürchtet, scheint es dennoch, als würden in jenen Etappen Bewegung und Sprache gegenseitig die Einheit der Äußerung und die Gesamtheit der Äußerung einfassen, so wie die parole in der langue verankert ist. Nicht ohne Grund nähert René Thom die choreographische Organisation der doppelten ›Artikulierung‹ an (Artikulierung auf zwei Komplexitätsebenen zwischen der verbalen Einheit und der Gesamtheit der Äußerung), wie sie Saussure in der langue aufgezeigt hatte. Dennoch lässt sich im Tanz, und in gewissem Maße auch im literarischen Schreiben (mit welchem sich äußerst fruchtbare Vergleiche anstellen lassen) keine reine Lehre durchsetzen. Jedem steht es frei, die inneren Gesetzmäßigkeiten der Syntax zu organisieren, deren einzige Grenze die Lesbarkeit bleiben muss. Natürlich handelt es sich keineswegs um eine Lesbarkeit gemäß vorgefertigter Normen. Wie wir sehen werden, legt das Werk, zumindest das bedeutende Werk, die Regeln für seine Lesbarkeit selber fest. Daher unterscheidet sich das Wesen des Werks bei Graham oder bei Cunningham, bei Susanne Linke oder bei Lucinda Childs ebenso 225 | Christine Gérard: »Enseigner l’improvisation et la composition«, in: Nouvelles de danse Nr. 22, Winter 1995, S. 40-45, S. 45. 226 | Jackie Taffanel: L’atelier du chorégraphe, Doktorarbeit, Univ. Paris VIII 1994 (unveröffentlicht).

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wie bei Rimbaud, Mallarmé oder Celan. Die Arbeit an der Lesbarkeit der Komposition im Tanz zielt vor allem auf die intime Zustimmung der Partner des Werks ab (Interpreten und Zuschauer, die auch Interpreten sind): Damit ist zunächst die Zustimmung zum Lesen eines kohärenten künstlerischen Gegenstandes (den Nikolais die ›Gestalt227‹ nennt) gemeint, dann die Zustimmung zu der Grundsatzentscheidung, die ihm zu Grunde liegt, und schließlich die Zustimmung zur Verteilung der spürbaren Elemente, die von den Körperzuständen zur Gesamtheit der Handschrift führen. Die Arbeit des Zuschauers besteht darin, zu akzeptieren und sich über das Spektrum produzierter Wahrnehmungen auf die Wege jener Lesbarkeit zu begeben. Der erstaunliche Erfolg mittelmäßiger, manieristischer Werke (manieristisch in dem Sinne, dass sie einer ›Manier‹ folgen und nicht einem wirklichen Produktionsmodus, der dem Anliegen entspräche) rührt daher, dass sie bereits bestehende Lesbarkeitssysteme übernehmen, die die Wahrnehmung des Zuschauers scheinbar erleichtern, ohne sie jedoch zu bereichern. Dies führt dazu, dass Kritik und Medien mit echten und kraftvollen Schöpfern häufig weniger wohlwollend umgehen als mit ihren Nachahmern. Auch hier wird eine Reflexion über die wirklichen Kriterien nötig, die es für die Beurteilung eines choreographischen Werks zu berücksichtigen gilt. Die Komposition kommt in zwei Augenblicken der choreographischen Aktivität zum Einsatz. Selbstverständlich zu Beginn der Arbeit an einem Werk. Doch auch bei der Ausbildung des Tänzers: als ›Übung‹ ohne notwendiges Ergebnis. Für die Ausbildung ist die Komposition unverzichtbar. Wir sagen bewusst Tänzer, nicht unbedingt Choreograph, soweit jene beiden Funktionen im zeitgenössischen Tanz überhaupt unterschieden werden können: Denn jeder zeitgenössische Tänzer ist in erster Linie Produzent, auch wenn er sich in die Arbeit eines anderen einfügt. Ohne das Erlernen eines ›produzierenden Körpers‹ existiert der zeitgenössische Tanz nicht, oder verliert den größten Teil seiner Poetik. Daher ist die gegenwärtige Vernachlässigung des Kompositionsunterrichts zu Gunsten von sogenannten Technikklassen äußerst bedauerlich: Technikklassen zur Unterstützung eines vorherrschenden Phantasieideals, das von den Gesetzen eines Marktes diktiert wird, der selbst für jene Phantasieprodukte verantwortlich ist. Das Ergebnis ist überall sichtbar: Gegen Ende der 80er Jahre kam es zu einer ästhetischen Ausdünnung des zeitgenössischen Tanzes, unter anderem wegen der Inflation technisch rentabler Unterrichtsformen und wegen des leichten Triumphs brandneuer Modelle in einer choreographischen Umgebung, deren Nerv abgetötet war. Glücklicherweise macht sich seit Beginn der 90er Jahre eine Erholung bemerkbar, nicht nur im Unter227 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü.

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richt, sondern auch in dem immer deutlicheren Bewusstsein der Tänzer, dass eine Rückkehr zu den eigentlichen Quellen der Kunst nötig geworden ist. Die meisten hier erwähnten Choreographen und Tänzer sind Teil jener Bewegung und Auslöser eines neuen Rufs nach dem Kompositionsworkshop. Denn nur der erweitert für den Tänzer wirklich die Grenzen des Bekannten, wie Susan Buirge sagt,228 führt ihn zu neuen Möglichkeiten, erneuert und vergrößert das von ihm beherrschte Feld. Nur derjenige ist ein produzierender Tänzer, der seinem Publikum wirklich erarbeitete und seltene Wahrnehmungen bieten kann und es an jenen abgelegenen Punkt führen kann, an dem es sich selbst besser zu entdecken vermag. Ebenso unverzichtbar wie für den Tänzer ist die Kenntnis der Komposition für denjenigen, der sich die Frage nach dem Lesen der choreographischen Handschrift stellt. Dabei geht es nicht um das Lesen einer festgelegten äußeren Form, sondern eines dynamisierenden Auf baus der Modulierungen dieser Handschrift. Deshalb erscheint es uns im Rahmen eines ›poetischen‹ Ansatzes wichtig, die Antriebe der Handschrift zu erwähnen. Natürlich wird die von uns vorgeschlagene Herangehensweise sich so weit wie möglich von den Strategien künstlerischer ›Fabrikation‹ fernhalten. Unsere Perspektive ist die eines Zuschauers und Lesers, auch wenn es nützlich ist, dass dieser Leser, wie jeder ›Kenner‹ zeitgenössischer Kunst über die Verfahren, die das Werk hervorbringen und ihm seine Tonlagen verleihen, unterrichtet ist. Wer Lektüre zur Einführung in die aktiven Methoden der choreographischen Komposition sucht, kann in Frankreich auf die erhellenden Bücher aus den Federn von Jacqueline Robinson und Karin Waehner zurückgreifen. Wir begnügen uns damit, sie zu zitieren, und den Leser auf sie zu verweisen. Dennoch müssen wir darauf hinweisen, dass die Komposition im Tanz grenzenlose Bereiche eröff net, die kein geschriebener Text erschöpfend zu behandeln vermag. Nichts ist so wertvoll wie die Sichtweise dessen, was man mit dem schönen Namen ›Workshop‹ bezeichnet, oder besser die Teilnahme daran, um zu verstehen, unter welchem Öffnungswinkel und aus welchem unendlichen Reichtum die choreographische Komposition ihre Möglichkeiten schöpft. Doch ist jene Arbeit, obwohl sie häufig beschrieben wurde, in ihrem Verlauf intim, selbst wenn diese Intimität von mehreren Personen geteilt wird. Das Ritual des Kompositions-Workshops impliziert eine ›private‹ Beziehung zwischen den Tänzern und den Gebrauch einer besonderen Terminologie (um beispielsweise die unterschiedlichen Momente der Erarbeitung von Material zu bezeichnen). So ist eine Menge von Metaphern im Umlauf, die alleine für die Gruppe bestimmt sind, und zu denen der Außenstehende niemals Zugang 228 | S. Buirge: »La composition: long voyage vers l’inconnu«.

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finden wird. Manchmal ›behält‹ der Choreograph sogar einen Gutteil des Anliegens oder des Vorstellungsapparats ›für sich‹, solange jener sichtbare oder unsichtbare, verinnerlichte oder objektivierte Raum des Schaffens geschützt werden muss. Bleiben wir für den Augenblick an der Schwelle zum Studio und beobachten wir die Grundzüge einer unerhörten Arbeit wie durch den Rahmen eines Bildes (vielleicht sogar durch einen absichtlich beibehaltenen leichten Schleier): jene Arbeit, die darin besteht, aus dem Nichts, aus einer bloßen Ansammlung von Sensibilitäten und Körpern im selben Raum einen vollständigen Kunstgegenstand zu machen, der über eine Identität, ein Klima, eine sichtbare Gestalt und einen Sinn verfügt – bis hin zu den internen Codes seines Funktionierens. Gleichzeitig ist uns bewusst, dass wir uns am Tag der öffentlichen Auff ührung des Werks veranlasst sehen werden, in seinem Auf bau nach den Schichten zu suchen, die Bestandteile seiner Gestaltung waren. Nur eine Sichtweise, die um die internen Problematiken des Kompositionsakts weiß, kann uns zum Verständnis jener Schichten führen. In seinem Esprit des Formes (»Geist der Formen«), einem Text, dessen Titel eigenartig ist, da das Konzept der ›Form‹ darin bei weitem durch die Fragestellung nach ihrem Inhalt überstiegen, manchmal sogar gesprengt wird, beschreibt Elie Faure die Szene, die ihm die Essenz der Komposition in den Künsten enthüllte: eine chirurgische Operation. Eine Situation, in der jeder Beteiligte und jede Geste in einem ständigen Widerhall intensiver Aufmerksamkeit und Funktionalität miteinander verbunden sind. »Die Gruppe, die vom Patienten, dem Chirurgen und seinen Helfern gebildet wurde, erschien mir wie einzigartiger Organismus in Aktion […] Eine innere funktionale Logik gab eine sichtbare strukturelle Logik vor, an der nichts verändert werden konnte, ohne die funktionale Logik unvermittelt im Streben nach ihrem Ziel zu unterbrechen.«229 Dies gilt für die Komposition in jeder Kunst und vor allem im Tanz, ausgehend von einem geheimnisvollen, sichtbaren oder unsichtbaren Netzwerk von Intensitäten und notwendigen Beziehungen. Im zeitgenössischen Tanz vollzieht sich die Komposition nämlich ausgehend vom Auftreten von Dynamiken in der Materie – und nicht etwa ausgehend von einer von außen vorgegebenen Form. Terminologien sind immer dadurch interessant, was sie über die unterschwellige Bedeutung von Worten (und Taten) verraten: zum Beispiel im Falle eines Ballettmeisters der sagte, dass er einen Tanz ›einrichte‹. Der zeitgenössische Choreograph ›komponiert‹, was etwas anderes ist. Er ›richtet‹ nicht ›ein‹, sondern ganz im Gegenteil: Er rüttelt die Dinge und die Körper auf und erschüttert sie, um eine unbekannte sichtbare Ge229 | Élie Faure: L’esprit des formes (Histoire de l’art II), Paris: Gallimard 1922, Neuauflage coll. Folio 1991, S. 131.

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stalt zu entdecken. Oder vielmehr lässt er, wie es die kubistischen Maler taten, die Schichten des Raums ausgehend von ihrem eigenen Gärungsprozess zum Leben erwachen. In jedem Fall schaff t er sein Material und stellt es zusammen, doch vor allem dynamisiert er es auch, behandelt ein provisorisches Chaos im geheimen Netzwerk der Kraftlinien. Jenes Netzwerk lässt sich in der verschwommenen und bewegten Realität sichtbar machen, die uns umgibt. Karin Waehner schreibt: »Sieh, wie die Leute gehen… die einen gehen schnell…, die anderen trödeln…, andere zögern zwischen rechts und links…, bleiben stehen, gehen wieder los… Siehst du! Du hast bereits Rhythmen, Richtungen, Dynamiken und unterschiedliche Ausdrücke; jetzt kannst du deine Phantasie einsetzen!«230 Man kann das Netzwerk auch in sich selbst finden, ausgehend von der ›inneren Notwendigkeit‹, von der Kandinsky spricht. Diese Formulierung, die gewissermaßen das Sinnbild der gesamten Schule des ›Ausdrucks‹ war, des Ausdruckstanzes231 in der Kontinuität der träumerischen Theorien des Blauen Reiters, zitiert auch Karin Waehner in ihrem Unterricht. Es ist auch kein Zufall, wenn gerade in der deutschen Schule, zumindest in jener, die aus dem Ausdruckstanz232 der Wigmanschen Strömung hervorgegangen ist, die Arbeit an der Spannungsmaterie, die der Konstitution der Bewegung und der ›emotionalen Errungenschaft‹ des Subjekts innewohnt, wie es Mary Wigman nannte (die dabei selbst auf das Verfahren Labans anspielte), am reinsten geblieben ist. Man findet darin, unabhängig von jedem Formalismus, die Erforschung eines Zustands oder einer Geste, ihrer Qualitäten, der fühlbaren Elemente, die mit ihnen innerlich verbunden sind, ohne Rückgriff auf irgendeine Autorität außerhalb der Erfahrung – auch wenn diese Erforschung im Bereich der Anwendung oder der symbolischen ›Transponierung‹ zu narrativen oder dramatisierten Konstruktionen führen kann. Übrigens bietet Karin Waehner sowohl in ihrem Unterricht als auch in ihrem Werk Outillage chorégraphique (»Choreographisches Handwerkszeug«) eine ganze Bandbreite davon an, die, ausgehend von einer reinen Empfindung und ihrer Analyse in eine ›Situation‹ und sogar in eine Erzählung münden, für die die Situation eine erste Skizze ist. Elemente jener Kompositionsphilosophie wird man teilweise bei Nikolais erhalten finden, der durch die Vermittlung Hanya Holms nicht nur ein Erbe Wigmans war, sondern auch ein Erbe ihrer Meister Dalcroze und Laban. Man sieht diese Philosophie ohne besonderen Verweis auf jene Schule bei zahlreichen Choreographen wieder auftreten, für die »die Materie des Akts

230 | Karin Waehner: Outillage chorégraphique, Paris: Vigot 1995, S. 11. 231 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü. 232 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü.

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selbst«, wie es Jerome Andrews233 ausdrückte, die nach unterschiedlichen Gesichtspunkten (doch besonders durch die Dynamik) beschworen wird, dem gesamten Schaffensprozess Nahrung gibt. Darin liegt der eindeutige Einfluss der labanschen Schule, die in 50er Jahren eine vehemente Renaissance in den USA feierte. Die großen amerikanischen Choreographen der ersten Generation waren wesentlich autoritärer gewesen: Wenn man eine allgemeine Gegenüberstellung der sogenannten deutschen und amerikanischen Schulen wagen will, könnte man sagen, dass sich letztere mehr mit der Form und erstere mehr mit der Materie beschäftigte (zumindest in der ersten Phase ihrer Modernität). In Die Kunst, Tänze zu machen schreibt Doris Humphrey sehr genau den Kanon für die Komposition vor, der, obwohl er die extreme Modernität ihres Vorgehens teilt, nichtsdestotrotz äußerst formalisierend ist. Alwin Nikolais, einer der Meister der zeitgenössischen Komposition, der in der Tat aus jener deutschen Schule hervorgegangen ist, hat die Schlüssel zu einer Kompositionsästhetik geliefert, die besonders auf den internen Gegebenheiten der choreographischen Materie beruht. Was Nikolais ›Abstraktion‹ nennt, bedeutet soviel wie einen extrem konkreten Umgang mit dem Material um seiner selbst Willen, und nicht im Dienste einer Narration oder eines subjektiven Ausdrucks. Daher rühren das Relief und die Kraft der Empfindungen, die sein Tanz ausstrahlt und derjenige der Tänzer in seinem Gefolge, die in Frankreich sehr zahlreich sind. »Die runden, spitzen, flachen, geneigten ›Empfindungen von Raum‹, von Zeit (schnell, langsam, angehalten) und von Energie (perkussiv, schwingend, linear) werden greif bar«, schreibt Marc Lawton, Tänzer und hellsichtiger Exeget jenes Denkens.234 Man wird im Vorbeigehen erkannt haben, was Nikolais von Labans bewegungskonstituierenden Elementen beibehalten hat: Aus vier macht er drei (indem der berühmte Begriff der ›motion‹ Gewicht und Fluss zusammenfasst, aber in stärker qualitativer Weise). Diese Elemente liegen nicht außerhalb des Körpers. Der Körper bringt durch seine eigenen Untersuchungen die Modalitäten für ihre Existenz hervor. Nikolais’ Körper, und darin liegt einer der bewundernswertesten Aspekte seiner Ästhetik, ist übrigens nicht »auf ein Gesamtgebilde von Knochen und Muskeln beschränkt, die durch den Raum spazieren«: Er ist jener Ort des Hinterfragens, durch den sich der Raum ereignet. Der menschliche Körper ist nicht der Mittelpunkt des Universums. Nikolais war zutiefst gegen den Anthropozentrismus, dessen Humanismus- und Subjektivitäts233 | Jerome Andrews: »Le rayonnement de l’instant«, in: Marsyas Nr. 26, Juni 1993, S. 45-48. 234 | Marc Lawton: »Réinventer la danse, tout le temps«, in: Marsyas Nr. 30, Juni 1994, S. 45-48.

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denken den ›modern dance‹ bis in die 50er Jahre hinein geprägt hatten. »Ich habe begonnen, eine Philosophie zu entwickeln, in der der Mensch ein Reisender durch den Mechanismus des Universums ist, und nicht ein Gott, von dem alles ausgeht.«235 Als umherirrender Körper, als ›Wanderer‹ des Raums, ist der Tänzer mit einem ›travelling center‹ verbunden, einem Zentrum, das überall durch unseren Körper reist, doch das auch anderswo umherirren kann. Es handelt sich also um eine denzentralisierte choreographische Welt, die von einem dezentralisierten Körper ausgeht. Marc Lawton schreibt weiter: »Bei Nikolais formt der Tänzer Raum und Zeit. Er ist unbeständig wie ein Fisch im Wasser, immer dort, wo man ihn nicht erwartet.« In der Tat wird dadurch, dass man den Körper die Materie seines Tanzes erforschen und erfinden lässt, die Neuausrichtung durch eine konzeptuelle Einmischung unmöglich. Somit wächst die Komposition organisch, ausgehend von ihren internen Gegebenheiten und trägt die Wahrnehmung des Zuschauers in ihren Windungen davon. Dies verleiht Carolyn Carlsons Kompositionen ihre Stärke und Susan Buirges Arbeiten ihre kluge Verwirrung. Denn alle beide sind vom selben Meister geprägt. Auch wenn in jener Generation auch noch andere Elemente das Denken bereichern (oder verwirren?) werden und in jedem Fall für eine gewisse Hybridisierung des Denkens sorgen: Carolyn Carlson führt in ihren Tanz wieder autobiographische Elemente ein, die der Meister abgelehnt hätte. Susan Buirge überlässt ihr kompositorisches Wissen der Gnade einer Unentschlossenheit, die häufig von den Methoden der minimalistischen Kompositionen oder sogar des Zufalls inspiriert ist. Wie ein Riss im homogenen Stoff der Gestalt 236. Und genau darin sind sie dem Geist (und nicht dem Wort) des Meisters treu, der niemals ein Modell durchgesetzt hat, und für den die Kunst des Komponierens immer nur eine Methode war, um seinen eigenen Weg zu finden. Christian Bourigault hat am CNDC von Angers bei Nikolais studiert. Er ist einer der zahlreichen französischen Choreographen, die aus jenem Unterricht hervorgegangen sind. Und wenn wir ihm das Zitat verdanken, das dieses Kapitel einleitet, dann deshalb, weil er zutiefst von jener Philosophie einer Materie berührt war, die sich selbst durch den Körper des Tänzers zusammenfügt. Jener bedeutende Einfluss ließ ihn gewiss spüren, was bei der Komposition auf dem Spiel steht. Es ist also nicht verwunderlich, dass ihn, in der Biographie seiner Vorstellungswelt, die Epoche des Expressionismus und besonders deren Malerei in ein Universum geführt hat, in dem die Spannung ein wesent235 | Alwin Nikolais: »No Man from Mars«, in: Selma Jane Cohen: Modern Dance, Seven Statements of Belief, Middletown (Conn.): Wesleyan Univ. Press 1965, S. 63-75. 236 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü.

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liches Element ist. Doch zurück zu Nikolais’ Philosophie: Sie verlangt weiterhin, dass der Tänzer eine umfassende lesbare, stimmige und dem Ausgangsvorschlag angemessene Organizität strukturiert, die die Kraft zu existieren nur aus sich selbst bezieht. Jene Verfolgung im Inneren der Körpererfahrung, durch sich selbst oder in der Gruppe, findet sich, in einem völlig unterschiedlichen Kontext und einer vollkommen unterschiedlichen Philosophie bei radikalen Schöpfern wie Steve Paxton wieder, für den, nach Meinung von Cynthia Novack »die Komposition nicht vom Choreographen geschaffen werden, sondern zwischen den Tänzern entstehen (arise) sollte.«237 Denn das Ereignis liefert in seinem reinen Auftreten sowohl die Materie, als auch, für den, der sie zu lesen versteht, die Schlüssel, die zum Umgang mit ihr nötig sind. An diesem Punkt kommt ein wesentliches Element in der Komposition zum Einsatz: die Produktion des Materials durch Improvisationsverfahren. Da die kompositorischen Inhalte ihre Legitimität im Denken des Choreographen nur ausgehend von den qualitativen Ressourcen des oder der Subjekte finden (durch ihre eigene Individualität, oder die Rahmen ihres Zusammenkommens), unter Ausschluss äußerer Gegebenheiten. Schließlich ist ein wesentliches Charakteristikum des choreographischen Schaffens die Teamarbeit. Künstlern und Theoretikern anderer Disziplinen fällt es schwer, dieses Element zu akzeptieren, und sogar, es zu begreifen. Für den Komponisten von Musik wie für den Schriftsteller ist die Komposition ein zutiefst einsamer Akt. Würde ihn dabei jemand begleiten, würde er damit gleichzeitig die Originalität des Abenteuers und die Schärfe der kompositorischen Logik schwächen, über die es keinen noch so beschränkten Konsens geben kann. Es könnte sich ein Teilen des Unteilbaren vollziehen, das zwangsläufig eine Schwächung wäre. Doch ist es schwierig, jene Besonderheit des Tanzes zuzugeben, die das einsame Schaffen praktisch unmöglich macht – sogar für ein Solo mit sich selbst als Partner und Interpret. Wenn man den ›unsichtbaren Partner‹ mitzählt, von dem Mary Wigman spricht, macht das schon drei… Im Verlauf einer sowohl durch ihr Projekt als auch ihre Modalitäten einzigartigen Erfahrung der Bühnenkunst von Stéphanie Aubin, bei der die Künstlerin (was in Frankreich selten ist) öffentlich und körperlich die Schlüssel zu ihrer Kunst preisgab, hatte ich Gelegenheit, gemeinsam mit der Choreographin festzustellen, wie schwierig es ist, zuzugeben, dass ein ›Werk‹ existiert, das die Arbeit seiner eigenen ›Interpreten‹ miteinbezieht. Besonders für Musiker, für die die Augenblicke des Schreibens und die Augenblicke der Interpretation aufgrund der (im Übrigen jungen) Tradition ihrer Disziplin im Abendland extrem voneinander abgespalten sind. Die zeitgenössische 237 | Cynthia Novack: Sharing the dance, S. 54.

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Choreographie ist jedoch ein Werk, das ›in vivo‹ hergestellt wird. Sie kann nichts anderes sein, da sie die Materie des Seins, und ganz besonders die Materie des In-Bewegung-Seins, als privilegierten Ort der Bewusstseinswerdung behandelt. Denn sie wirkt vor allem auf das Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Körpern und zwischen den Körpern und der Vorstellungswelt ein. Deshalb wird der Choreograph selbst in diese Beziehung miteinbezogen, es sei denn, er verrät seine Legitimität, zu choreographieren. Es ist nämlich wichtig, dass er sein ›Selbst‹ aufs Spiel setzt und es von der Bewegung, von den Intensitätslinien des gerade ablaufenden Ereignisses ›affizieren‹ lässt. Es ist bedauerlich, dass sich heutzutage Leute als Choreographen bezeichnen, die keine Tänzer mehr sind oder es nie waren. So feinsinnig und sensibel ihr Ansatz auch sein mag, wird er doch immer eine starke Nähe zur Führung von Schauspielern haben. Es wird darin immer jene Reibung des subjektiven Stoffes fehlen, die allein durch den persönlichen Einsatz des Schöpferkörpers entsteht. Unter anderem deshalb stellt die Anwesenheit von Merce Cunningham inmitten von Tänzern, die zwei Generationen jünger sind als er, ein wichtiges Zeugnis dar: Die Stücke selbst erzählen die Geschichte eines körperlichen und intellektuellen Risikos. Auch wenn Verfahren, die auf eine gewisse Distanzierung verweisen könnten, wie die Verwendung des Zufalls, oder in jüngerer Zeit die computergestützte Komposition, als abgehobene, ›kalte‹ Aktivitäten gelten. Egal welches kompositorische Verfahren angewandt wird, ist dies nicht der Fall, sobald der Körper miteinbezogen wird. Es stimmt, dass Cunningham und einige andere nicht unmittelbar an dem von mir erwähnten transsubjektiven Gewebe arbeiten, sondern im Vorhinein komponieren und manchmal sogar, wie es bei Dominique Bagouet der Fall war und bei Lucinda Childs immer noch ist, auch im Vorhinein notieren. Doch kann es sich auch dabei nicht um Selbstgespräche handeln, da im zeitgenössischen Tanz keine einzige Bewegung vorhersehbar ist, weder in ihrer Natur, noch in ihrer Qualität. Merce Cunningham arbeitet mit dem Zufall, um die assoziativen Stereotypen auszuräumen, die unsere Vorstellungskraft behindern und vor allem begrenzen. Wie bei den meisten großen Choreographen ist die Komposition bei Cunningham nämlich nicht nur eine Arbeitsmethode, sondern ein Weg zur Unendlichkeit. Man kann in Bezug auf den cunninghamschen ›chance-process‹ das Denken eines seiner großen Bewunderer erwähnen, des bereits zitierten Psychoanalytikers und Kunstkritikers Anton Ehrenzweig: Seine Theorie der ›Brechung‹ nimmt die Zertrümmerung der Oberflächenkonstruktionen in Kauf, um Tiefenstrukturen zutage treten zu lassen, die unserem Bewusstsein für gewöhnlich nicht zugänglich sind.238 So verbindet Cun238 | A. Ehrenzweig: Ordnung im Chaos, II. und III. Teil.

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ninghams Komposition zwei Dimensionen miteinander: die des im Geheimnis der Welt verborgenen Unbekannten und die der Erfahrung des tanzenden Körpers. Er suggeriert ein unakzentuiertes und neutrales Modell. Zwei Instanzen werden somit jenes Element behandeln: zum einen der ›chance-process‹, der es nach Anzahl oder Geschlecht der Interpreten, Dauer, körperlicher oder räumlicher Verortung usw. einteilen wird. Zum anderen aber vor allem das, was der Tänzer daraus macht. Denn das ist es, was der Bewegung ihre wirkliche Existenz verleiht – sogar wenn es dem Tänzer nicht gelingt, daraus etwas zu schöpfen, oder wenn er etwas anderes daraus macht. »Manchmal ist das interessanter«, stellt der Choreograph mit der Weisheit und dem Humor fest, für die er bekannt ist. Eine Geste vorzugeben, wie es bei Dominique Bagouet der Fall war, bedeutet, dass der andere sie in jedem erdenklichen Sinne des Wortes ›erfindet‹. »Wie du es fühlst« ist ein Ausdruck, den man häufiger im Studio hört. Und genau durch dieses ›Gefühlte‹ wird sich die unerwartete Wahrheit eines Motivs ›erheben‹, dessen Sitz einzig und allein der Tänzer kennt. Die gesamte Arbeit der Konstruktion des Werks wird darin bestehen, jenes Erscheinen zur Wahrnehmung des Zuschauers zu bringen, und dabei zugleich sein unvorhersehbares Potenzial zu bewahren. Man wird also verstehen, dass die Improvisation im gleichen Maße wie die Komposition ein unverzichtbares Element des zeitgenössischen Tanzes ist. Und wie sie ist sie gleichzeitig die Matrix des Werks sowie eine Technik zur Ausbildung und zur Erforschung. Sie erforscht die Materie des Werks und des Selbst, des produktiven Potenzials jedes einzelnen, aber auch jenes ›Bereichs des Möglichen‹, das der Tanzworkshop und die Gemeinschaft darstellen, die ihn belebt. Man muss übrigens zwischen der Improvisation nach Auffassung des zeitgenössischen Tanzes und dem, was jenes Wort in anderen Epochen bezeichnete, unterscheiden: Die mündliche Überlieferung, die traditionelle oder barocke Musik und der Jazz (mit Ausnahme der Experimente des ›Free-Jazz‹) verwenden die Improvisation als ›Erfindung‹ neuer oder unerwarteter Zusammenfügungen, die im Augenblick ausgeführt werden. Allerdings kommt es dabei nicht, wie im zeitgenössischen Tanz, zur ›Produktion‹ einer unbekannten Materie, die durch keinen Bezugspunkt der Wertung oder Definition zensiert wird. Zwar ist die Improvisation auch in den traditionellen Disziplinen eine Kombinatorik in Echtzeit, doch vollzieht sie sich auf der Grundlage eines bereits entdeckten, ausgewählten, zugelassenen Vokabulars, und sogar, im Falle von Kollektivarbeiten, nach bestimmten vorgefertigten Beziehungsritualen des Austauschs, der Weitergabe, der Begleitung usw. Diese Beschränkungen nehmen solchen Verfahren nichts von ihrem Zauber, manchmal jedoch von ihrem Ansehen. So ließ sich Trisha Brown dazu verleiten, zu Bachs Improvisationen über das Thema der »Musikalischen Gabe« zu träumen,

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das wie man weiß, vom preussischen König vorgeschlagen worden war. Dabei war sie sich wohl bewusst, dass es sich für uns mehr um ›Variationen‹, also um Manipulationen handelt. Denn jene bachschen Improvisationen, ihre Schönheit, ihre im Augenblick gefundene Architektur, gehören zu einer anderen Geschichte und teilen keineswegs die Instanzen der Improvisation (übrigens genauso wenig wie die der Komposition) des zeitgenössischen Tanzes. Die deutsche Schule hat die Improvisationsverfahren bereits seit ihren frühen Anfängen mit Dalcroze und später mit Laban als Grundlagen einer Kunst ohne referenziellen Hintergrund durchgesetzt. Bei Nikolais ist die Improvisation von grundlegender Bedeutung: Sie ist der Ort der ›Theorie‹, das heißt der Erforschung der Bewegung und der choreographischen Materie durch sich selbst, die allein die künstlerischen Tiefenantriebe berühren kann. Die meisten Choreographen unterscheiden sehr klar zwischen Improvisation und Komposition und der Handschrift, wie zwischen zwei ›Momenten‹ der Fabrikation eines choreographischen Werks. Als Umgang mit dem Material, das sich aus der Improvisation ergeben hat, äußert sich die Komposition zunächst in einer Identifikation, einer Auswahl, einer Neuanordnung der eingebrachten Elemente. Die Improvisation soll nicht nur Produktion von choreographischem Material durch die Vermittlung eines Tänzer-Lieferanten, der die zum Schaffen nötigen Waren liefert, sein. Sie ist weit mehr als ein Rohprodukt, dem der Choreograph nur noch den letzten Schliff verleihen müsste. Die Improvisation ist eine Dialektik zwischen den Tiefenressourcen des Tänzers, dem von der Erfahrung ausgelösten Ereignis und dem Blick, der als Rückmeldung fungiert und neue Anhaltspunkte liefert, oder im Gegenteil die Grenzen des Möglichen durch einen neuen Ruf nach außen ausdehnt. Jackie Taffanel schreibt dazu: »Jeder Erfahrungsbereich nährt und verfestigt die Fähigkeiten des Tänzers und des Blicks und führt sie gleichzeitig zum Vergessen, um ein neues Abenteuer zu versuchen.«239 Deshalb erfordert die Improvisation, wie Jean Pomarès aufzeigt, ein ebenso strenges und starkes wie erfinderisches ›Verfahren‹.240 Strenge bedeutet hier nicht ›behindernde Sanktion‹ sondern eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das hervorgebrachte Material. Um es noch einmal zu sagen: Es liegt nicht in unserer Absicht, den Leser des Tanzes in die geheime Welt der Workshops zu zerren. Doch ist es nicht ohne Bedeutung, dass das komponierte, ›geschriebene‹ Werk den Zuschauern mit jener Arbeit der Entscheidung, des ›Durchstreichens‹, wie es Jackie Taffanel ausdrückt, angefüllt erscheint. Jedes choreographische Werk ist in 239 | J. Taffanel: L’atelier du chorégraphe. 240 | Jean Pomarès: »De la formation à la création«, in: Positions, cahiers de la DRAC PACA, Januar 1995.

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seiner Substanz aus Brüchen, Verwerfungen und bewusst erlittenen Verlusten entstanden, die das künstlerische Geheimnis aus der Unsichtbarkeit herausgeschält haben – auch wenn im Augenblick seiner Auff ührung vor Publikum seine reine Schönheit, seine Transparenz oder seine Zartheit keine Stigmata (mehr) davon tragen. Die Improvisation verleiht dem Stück eine besondere Ausrichtung, die es aus der Materie des Selbst jedes einzelnen Tänzers und der Gruppe gewinnt. Dies führt zu Werken mit starker emotionaler oder autobiographischer Konnotation, wie bei Bernardo Montet oder Christian Bourigault, wo die Tänzer, sogar außerhalb jeden narrativen Verfahrens, im Modus des Vertrauens funktionieren, ganz gleich ob es sich um ein Vertrauen zum Choreographen oder zur Gruppe handelt. Dagegen benutzt die Improvisation, die bei Pina Bausch das schöpferische Hauptwerkzeug ist, das im Normalfall autobiographische Material, das von den Tänzern im Verlauf langer Reisen in die eigene Erinnerung geliefert wird. Allerdings wird das Material entpersonalisiert und zu Gunsten des Stücks in ein Bild von allgemein menschlicher Bedeutung verwandelt, in eine Metapher, die trotzdem nicht weniger das Siegel der Seltsamkeit und des Geheimnisses trägt, das einzigartigen Erfahrungen eigen ist. Auch wenn jene Einzigartigkeit die Banalität (um nicht zu sagen, die Sinnabfälle) des Alltagslebens auf sich nehmen muss. Der Verlauf des Stücks kann gegen den Strom jeder vorher festgelegten Erzählstruktur schwimmen, aber eben auch, wie in »Nelken« »den bescheidenen und oft uneingestandenen Traum« erscheinen lassen, »den das Wuppertaler Ensemble durchaus ernst nimmt.«241 Jenen ›Traum vom kleinen Glück‹ des Mannes von der Straße, und seine Phantasien, die mit dem Konformismus seiner Wünsche zusammenhängen. Dies will Pina Bausch in ihrer Genauigkeit durch die Erfahrung des Tänzers in seinem eigenen Leben wiederfinden. Die Improvisation kann als Konstruktionswerkzeug dienen, doch kann sie selbst auch zum ›Werk‹ werden. Allerdings wird diese Figur nicht immer akzeptiert: Der gestrenge Louis Horst, der später noch ausführlicher erwähnt werden wird, schließt sich der folgenden Behauptung Susan Langers an: »Kein Tanz kann sich Kunstwerk nennen, wenn er nicht bewusst komponiert und wiederholbar ist.«242 Dieser Definition wird durch die Tanzarbeit unablässig komplett oder teilweise widersprochen. Augenblicke der Improvisation können Teil der ›Handschrift‹ eines Stücks sein und ihm sogar seine Struktur, sein Projekt und seine Zeitlichkeit verleihen. Dies hindert das Werk keineswegs daran, als eigenständige künstlerische 241 | Norbert Servos: Pina Bausch – Wuppertaler Tanztheater oder Die Kunst, einen Goldfisch zu dressieren, Seelze-Velber: Kallmeyer, S. 163. 242 | Susan Langer: »Feeling and Form«, 1953, zitiert in: Louis Horst: Modern Dance Forms, Princeton, NJ: Dance Horizons 1961, S. 23.

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Instanz zu existieren, nicht durch eine festgelegte ›Form‹, sondern durch das, was viel wichtiger ist: durch die Tiefe einer Verständigung auf ein gemeinsames Projekt, durch die Qualitäten von Phrasierung und gegenseitiger Aufmerksamkeit. Ihren radikalsten Punkt erreicht die Geschichte der Improvisation mit der von Steve Paxton vertretenen Strömung der ›contact improvisation‹ (die zugleich das seit der Jahrhundertwende entwickelte theoretische Werkzeug eingebracht hat). Mit Hilfe eines Partnerkörpers improvisiert der Tänzer über alle Möglichkeiten der Stütze. Sally Banes schreibt: »Es gibt Momente des Hinaufziehens und Stürze, die sich ausgehend von einem kontinuierlichen Prozess von Verlust und Wiedererlangung des Gleichgewichts organisch entwickeln. Das Gewicht wird gegeben oder genommen, doch liegt darin auch immer eine Dimension gesellschaftlichen Austauschs: Aktivität, Passivität, Frage und Antwort.«243 Hauptanliegen des ›contact‹ ist es, das wiederzufinden, was Laban als Essenz des Tanzes bezeichnete: die Vorrangstellung des Gewichts. Hier überwindet die Option der Gravitation alle voluntaristischen Entscheidungsmechanismen. Das Aufkommen der Bewegung wird nur durch die Modalitäten des Gewichtsaustauschs in und mit dem anderen bestimmt. Die qualitativen Auswirkungen sind von unschätzbarem Wert für die Ausbildung des Tänzers: Vertrautheit mit der Instabilität, Verlust der objektiven Vertikalität, multidimensionale Beziehung zum Raum, Aufmerksamkeit für den Körper des anderen, Aufmerksamkeit für den unbekannten Augenblick, der noch kommt, den wir weder vorausahnen, geschweige denn durch Gesetze eingrenzen können, da wir die rationalen und räumlichen Bezugspunkte verloren haben. Steve Paxton: »Wenn wir die Orientierung verloren haben, müssen wir in angemessener Weise mit dem Unbekannten und seinen schwankenden Bedingungen in Beziehung treten.«244 So reich der Ansatz der ›contact improvisation‹ als ›Praxis‹ ist, schmälert dies keineswegs ihre Bedeutung als schöpferische Modalität. Für Paxton und seine in den 70er Jahren so zahlreichen ›contacters‹ wird die Erfahrung zur Darstellung einer Handschrift des Körpers. Vor Publikum umfassen Tänzerpaare einander, tragen einander davon, stürzen, gleiten übereinander, manchmal mehrere Stunden lang. Es handelt sich für diese Schule um Augenblicke, die Werke hervorbringen, das heißt, um eine Handschrift, die keinerlei Fixierung oder Wiederholung bedarf, um zu existieren. Mark Tompkins, ein in Frankreich lebender und arbeitender Choreograph, der jener Strömung entstammt und dessen schwankende non-konformistische Arbeit sich im Übrigen längst vom paxtonschen System entfernt hat (ohne jemals, trotz einer unterschiedlichen Poetik, dessen grenzüberschreitende Kraft zu ver243 | S. Banes: Terpsichore in Sneakers, S. 65. 244 | Steve Paxton: »Being Lost«, in: Contact Quarterly, Frühjahr 1987.

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leugnen) schlug dennoch unlängst eine Erneuerung der Herangehensweise an die Improvisation als einer ›instant composition‹ nach dem Begriff Paxtons vor. Die Idee ist dabei, dass sich die Choreographie authentisch, stark und identifizierbar aus einem ersten Entwurf ergibt. Wie man wohl verstanden hat, ist die Improvisation als vollendete Aufführung, doch auch als Erfahrung, eines der wesentlichen Elemente des zeitgenössischen Tanzes, der sich vorgenommen hat, alle Grenzen zu erforschen. Deshalb halten die großen Zeugen der Tanzmoderne, wie Jacqueline Robinson, die öffentliche Improvisationsabende veranstaltet, an jener unverzichtbaren Praxis fest und unterstützen sie. Dies ist auch der ›richtige‹ oder zumindest ›gerechtfertigte‹ Ort für einen Akt, der sich selbst nur der Aufmerksamkeit für seine eigene Instanz und die Gegebenheiten des Augenblicks verdankt. Deshalb, erklärt Deborah Jowitt, weigert sich der japanische Tänzer Min Tanaka, anders als improvisierend zu tanzen.245 Ist die absolute Präsenz in der gerade entstehenden Unmittelbarkeit eines Akts nicht der Kern der Poetik im zeitgenössischen Tanz? Gleichzeitig berührt die Improvisation andere, nicht weniger rätselhafte und für das zeitgenössische Projekt wesentliche Grenzen: die Grauzone zwischen Form und Nicht-Form, zwischen vorgesehener und unvorhersehbarer Organisation, zwischen Struktur und Chaos, die sich dem Auftreten spontaner Triebe verdankt. »Die Improvisation bietet eine Darstellung des Chaos an«, sagt Kent De Spain, wird dabei jedoch sofort nuancierter: Das Unvorhersehbare ist nicht das Unbestimmte, »(persönliche) Faktoren (Geschichte des Subjekts, Morphologie, funktionelle Markierungen) errichten Begrenzungen in der Unendlichkeit der möglichen Bewegungen.«246 Cage sagte es schon: Es gilt Mittelwege zwischen der Improvisation und der Unbestimmtheit zu finden, die eine Unbestimmtheit zulassen, ohne dass das Ego und der ganze Zug seiner Determinismen der Improvisation den Weg verstellen. (»Die Aktivitäten des Ichs vermindern«, zitiert der Komponist den Zen-Meister Suzuki.) »Die Improvisation speist sich häufig aus der Erinnerung und dem Geschmack, also aus dem Ich. In meiner gegenwärtigen Arbeit, versuche ich, Improvisationsmethoden zu finden, die von mir unabhängig sind. Daher rührt mein Interesse am Zufall«, schreibt Cage.247 Denn der ›Zufall‹ als höchstes künstlerisches Ereignis kann nicht durch ein direktes Eingreifen des Künstlers als Subjekt entstehen – im 245 | Deborah Jowitt in: Nouvelles de Danse Nr. 22, Winter 1995, S. 22-

33. 246 | Kent De Spain: »Creating chaos. Chaos Theory and Improvisational Dance«, in: Contact Quarterly, Winter-Frühjahr 1993, Band XVIII Nr. 1, S. 2127. 247 | John Cage: Silence, Cambridge: M.I.T. Press 1959, S. 114.

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Tanz noch weit weniger als in der Welt der Klänge. Dennoch muss man hier noch eine gewisse Anzahl von Fallen oder Bildern, die zu falschen Schlüssen führen könnten, ausräumen. Nichts ist weniger zufällig als die Bewegung. Und die Vorhersehbarkeit ihres Erscheinens im Tanz ist, wie wir gesehen haben, von unzähligen Ansätzen erfasst – oder radikal aus den den Tanz bestimmenden Problematiken verdrängt worden –, sobald ein ›anderes‹ Subjekt des Akts als Zeuge angerufen wird (zum Beispiel mein Gewicht als reines Bewusstsein der Geste in der ›contact improvisation‹, doch kann es andere Verfahren geben, wie jene, die von Beschränkungen – tasks – ausgehen und den Topos der Entscheidung verschieben). Eigentlich kann man sagen, dass im zeitgenössischen Tanz das Chaos gleichzeitig erhoff t und ausgehend vom fühlbaren Gerüst der Bewusstwerdungen und des Körperwissens unablässig in Frage gestellt wird. Es wird, wie uns Deleuze und Guattari ins Gedächtnis rufen, zur unverzichtbaren Grenze der kompositorischen Komplexität, deren Überschreitung notwendig ist, um die Undurchsichtigkeit der Welt aufzureißen und zum Unbekannten dahinter zu gelangen.248 Doch macht die Kenntnis der bewegungs- oder initiative-hervorbringenden Faktoren, selbst wenn es sich um handelnde Instanzen des gewöhnlichen Determinismus handelt (die persönliche oder sozio-kulturelle Geschichte des Tänzers, das biographische Gedächtnis, die, wie wir gesehen haben, manchmal bewusst eingesetzt werden), bis hin zur profunden Kenntnis des Körpers (die Stilistik zum Beispiel oder das Lesen des Posturalen), aus jenem Anschein eine bloße chaotische ›Figur‹. Den Anhängern des Zufalls wie Cunningham ist dies vollkommen bewusst. Daher setzen sie nur geringes Vertrauen in die Improvisation und ziehen es vor, dass ein unmenschlicher Zufall Meister der Unordnung bleibt. Jene dem Tanz angemessene extreme Zufälligkeit erlaubt nicht nur die Befreiung des ›Ich‹ und das Auftreten des ›Unbestimmten‹, sondern erweitert auch das Feld der künstlerischen Möglichkeiten. Remy Charlip schreibt über die von Cunningham eingesetzten Zufallstechniken: »Sie befreien den Choreographen nicht nur von seinen Gewohnheiten und vom Druck seiner persönlichen Vorlieben und Abneigungen – sie bieten auch unendliche Möglichkeiten der Bewegung im Zeit-Raum, die auf der Bühne wie im Publikum in eine Welt jenseits der Vorstellung führen.«249 Bei diesem Versuch, die Begrenzungen der vorgestellten Welt hinter sich zu lassen (eine Option, durch die er sich übrigens von Cage unterscheidet), träumt Cunningham von der Ausdehnung eines Universums von chaoti248 | Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 191f. 249 | Remy Charlip: »Composing by Chance«, in: R. Kostelanetz: Dancing in Space and Time, S. 117.

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schen Dimensionen. Der Tänzer würde also mit seiner von der Möglichkeit der Unendlichkeit beseelten Bewegung »zuweilen« das tanzen, »was der Mensch zu sehn gedacht«.250 Das Projekt der ›Komposition‹ im zeitgenössischen Tanz zeichnet sich, wie wir behauptet haben, durch eine tiefgreifende Originalität aus. Doch gibt es auch eine erstaunliche Transdisziplinarität der Kompositionsantriebe, wie ein Gespenst, das zwischen den Sprachen zirkuliert. Dies gilt nicht nur speziell für den Tanz, sondern betriff t heutzutage die Gesamtheit der Künste, in denen seit der Jahrhundertwende die Universalität des Einsatzes immer deutlicher zutage tritt. So werden überall Strukturen, die seit langem in anderen Praktiken beispielhaft, ja sogar kanonisch geworden sind, zur Erneuerung oder Bereicherung spezifischer Werkzeuge entliehen. Jenes Zirkulieren kann gewollt und bewusst hervorgerufen sein: wie die Struktur eines Streichquartetts in einem Roman von Kundera (oder einem Film von Godard), ein Verfahren der Verschiebung, das Guy Scarpetta251 äußerst präzise analysiert hat. Im Grunde geht es nicht nur darum, die einer Kunst eigenen Gestaltungsprozesse zu erneuern, sondern auch darum, ihre Grenzen auszutesten und zu verlagern, wie es in der bildenden Kunst zahlreiche Verfahren getan haben: so wie Broodthaers, der die Schrift als pikturales Darstellungssystem einsetzt. Es geht darum, Gegendefinitionen zu finden, die Grenzen zu erschüttern, und darum, durch das Anhäufen oder Verschieben der Formen weniger einen Effekt hervorzurufen als einen Schwindel, einen Verfall, ein Umherirren. Zahlreiche Choreographen bauen in ihre Komposition Grundbausteine der Handschrift des Kinos ein. Im Gegenzug (und ohne es zu wissen) verwendet das Kino Körper- oder Raumzustände, die gemäß zutiefst choreographischer Verfahren ineinandergreifen. Doch lassen wir diese Problematik: Ein ganzes Buch würde dafür nicht ausreichen. Verweilen wir mit unserer Betrachtung bei den Verfahren von Anne Teresa De Keersmaeker, die in ihre kluge choreographische Komposition Elemente einbaut, die im Wesentlichen aus der Musik entliehen sind, allerdings ohne die Hintergründe dieses Entleihungs-Verfahrens klar darzulegen. Selbstverständlich liegt De Keersmaekers Anliegen nicht in der traditionellen Verschränkung von Musik und Tanz. Wenn man, wie sie es tut, die musikalischen Strukturen als universelle Konstruktionszellen liest, die ebenso der manieristischen oder barocken Rhetorik wie der minimalistischen Kunst dienen können (eine Lesart, die sie sehr in die Nähe zu Kundera rückt), wird man verstehen, 250 | Anspielung auf Arthur Rimbauds Gedicht »Le Bâteau Ivre« (»Das trunkene Schiff«), Anm. d. Ü. 251 | Guy Scarpetta: L’impureté, Paris: Grasset 1985.

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in welcher Weise die Musik für sie eine kluge und exemplarische Kunst darstellt, aus der jede Syntax schöpfen kann. Auch De Keersmaekers Kunst funktioniert ausgehend von einer bewusst repetitiven Gestik, die die syntaktischen Verbindungen betont: Wiederholung, Überlagerung, Momente des Innehaltens, Phasen… Und häufig gibt es bei ihr einen Kontrast zwischen der Komplexität des architektonischen Projekts und der verhältnismäßigen Kargheit des gestischen Materials. Dennoch verfügt ihre Gestik über eine große Bandbreite von Körperzuständen: Sehr schnell geht sie von einer großen Flüssigkeit, die häufig von oben vom Körper herab artikuliert wird, zu einer ins Extrem getriebenen Intensivierung der Kräfte über. Diese Tendenz findet man übrigens im gesamten flämischen Tanz wieder, der seine Inspiration aus derselben kreativen Umgebung schöpft. Die ausgewählte und isolierte Bewegung wird bei De Keersmaeker häufig in homophoner Weise vom Tänzerensemble verstärkt und aufgenommen: ein Verfahren der Steigerung nicht nur der Geste, sondern der Kräfte oder Spannungen, die ihr innewohnen. Dagegen ließ ein Stück wie »Ottone, Ottone«, dessen Informationsgehalt als kommentierende Lesart von Monteverdis »Krönung Poppäas« gewissermaßen zu groß war, gerade durch sein Übermaß an motorischen Informationen die Wahrnehmung am Rande des Abgrunds erzittern. Den Ursprung ihrer Herangehensweise bildet eine lange Meditation, die sie vom Studium minimalistischer Verfahren zur Faszination für Schichtungen und Überlagerungen, für Schleifenformen und Rückbewegungen geführt hat, wie man sie in allen Epochen der Musikgeschichte findet, vom Barock bis hin zur Seriellen Musik. Dies rückt sie zweifelsohne in die Nähe zu Peter Greenaways komplexer Ästhetik von überkreuzten Diskursen und Verweisen. Man weiß, zu welchem künstlerischen Erfolg die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Persönlichkeiten geführt hat, die sich beide von der Komplexität der ›Tropen‹ (Chiasmen, Palindrome, Metonymie der Formen) angezogen fühlen: In dem Film ROSAS (1992) fügen sich ihre beiden Universen nicht aneinander, sondern scheinen in identischen Kombinatoriken ineinanderzugleiten. Auch in »Amor constante« (1994) werden drei Elemente parallel zueinander behandelt: ein Sonett von Quevedo, das nur aus Paradoxen und vertauschten Sinnspiralen besteht, Fibonaccis berühmte Zahlenketten mit ihren unendlichen Kontraktionen bis ins Nichts und Thierry De Meys Komposition, die parallelen Strukturen folgt. Es handelt sich hier um ein aktuelles Beispiel, das Verfahren veranschaulicht, die der unserer Epoche eigenen allgemeinen ›Auslöschung der Genres‹ entsprechen, die man quer durch alle möglichen Arten von Äußerungen wiederfindet, die sich weitaus mehr ›vermischten‹ als angehäuften Medien bedienen. Dort dient die Vermischung ebenso zur Irreführung

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(oder Faszination) wie zur Konstruktion. Doch hat die Beziehung der choreographischen Komposition zu den anderen Künsten noch einen anderen Sinn, der in der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes selbst liegt. Sie ist Teil seiner Tradition, um nicht zu sagen seiner Entstehungsgeschichte. Louis Horst regte sie seit Beginn der 20er Jahre an. Jener Musiker, der ein halbes Jahrhundert lang Tänzer in Komposition unterrichtete, schätzte das aus dem Körper kommende Material ohne Anhaltspunkte und Gesetze (zumindest ohne für jeden Ansatz verallgemeinerbare Gesetze), wie es Isadora Duncan praktiziert hatte, als zu flüchtig ein. Trotz gewisser später Anspielungen in seinem Unterricht ignorierte Horst die bereits fortgeschrittene Theoriearbeit des deutschen Tanzes systematisch. Er wollte den Tanz, wenn nicht mit Vorbildern, so doch wenigstens mit einem Schatz von aus den anderen Künsten geschöpften Strukturen ausstatten, deren Erforschung es durch Analogie zur Bewegung erlauben würde, die dem Tanz eigenen analytischen und synthetischen Mechanismen zu enthüllen. Unter den Künsten, die als Inspiration dienen können, befindet sich an erster Stelle die Musik, die mit dem Tanz den Umgang mit der Zeit und den Dynamiken teilt. Die musikalische Tradition bietet mit ihrer auf der Ebene der syntaktischen Verknüpfungen am stärksten strukturierten Epoche, die man heute ›barock‹ nennt, (und die ihre Epoche als vorklassisch einstufte), ein fruchtbares Feld lesbarer Formen (Kanone, Fugen, konzertante Symmetrien, Kontrapunkt usw.), deren Erforschung dem jungen Tanzkomponisten als Initiation dienen soll. Später erhält der zukünftige Choreograph Zugang zu abenteuerlicheren Formen, die von der modernen Kunst und ihren stilistischen Ausprägungen inspiriert sind: Primitivismus, Neo-Symbolismus, Expressionismus, Abstraktion usw. Dies führt ihn dahin, mit Assymmetrie, Verzerrung, Diskontinuität, Dissonanzen und widersprüchlichen oder unerwarteten Zeit- und Raumstrukturen usw. zu arbeiten. Viel ist über Horsts Ziele gesagt worden, die auf einen geschickten Formalismus abzielten. Dies erklärt teilweise den massiven Bruch mit dem ›modern-dance‹, den Künstler wie Nikolais und Cunningham in den 40er und 50er Jahren vollzogen, und auch den für uns bereits legendären Ausbruch eines Jerome Andrews, der nach Europa gekommen war, um neue Risiken zu erleben. Doch muss man Horst auf einer anderen Ebene Gerechtigkeit zuteil werden lassen: Dadurch, dass er als Beispiele für Expressivität oder Konstruktion die Kubisten oder die primitive Malerei anführte, dadurch, dass er die Tänzer mit Brancusi oder Picasso vertraut machte (ein Wissen, das für Martha Graham wesentlich war), etablierte er eine erste Verbindung des Echos und der Entsprechung zwischen dem Tanz und den Praktiken der Avantgarde. Jenes Verfahren, anderswo nach Strukturen zu suchen, die in der Lage sein könnten, der choreographischen Komposition neue Wege zu eröffnen, wird (dank Horst?) ein wich-

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tiger Zug des amerikanischen Tanzes bleiben, dessen kontinuierliche Beziehungen zu den anderen Künsten der Moderne sich aus gemeinsamen Fragestellungen ergaben. Oft fanden auch die anderen Künste durch seine Methoden Inspiration. Man kann sagen, dass Horst eine Art Tradition begründet hat, die selbst seine verbissensten Gegner fortsetzen. Paradoxerweise lassen sich Beispiele dafür in Cunninghams Verwendung des dezentrierten Raums der ›all-over-paintings‹ oder der in der Nachfolge von Duchamp und Cage eingebundenen Zufallsprozesse finden. Man findet sie in Kompositionskursen wieder, wie dem von Robert Dunn, der selbst Musiker war und Komposition nach den Methoden zufälliger Strukturen unterrichtete, die noch destrukturierender waren als die von Cage. Später sollte der Austausch mit den minimalistischen Musikern und Bildhauern ein gegenseitiger werden: mit Künstlern, die wie Robert Morris von den Lehren des Tanzes über einen selbstbezogenen und organischen Umgang mit den Informationen des Körpers profitierten. Doch Horsts dogmatischer Unterricht, seine Manipulationen der dem Körper entstammenden choreographischen Materie und die imitative Übernahme anderer Äußerungsmodelle führten, so spannend und nützlich sie heute scheinen mögen, sehr schnell zu dem Ergebnis, Generationen zu verärgern, für die die Macht der Organisation, die durch die Imitation der Formen hochgehaltene Kohärenz, besonders die der klassischen musikalischen Formen, unerträglich wurde. Vor allem eines seiner Prinzipien wurde verabscheut und beschuldigt, für übermäßige Strukturierungen verantwortlich zu sein: »Jede Komposition bedeutet im Grunde, ein Thema auszustellen und es zu variieren.«252 Jener Satz traf auf den erbitterten Widerstand derjenigen, die sich gegen die Formalisierung (und Institutionalisierung) des ›modern dance‹ auflehnten. Auch wenn ein ›Thema‹ (eine Geste, eine Raumbewegung, eine Phrase) noch heute im Tanz wie in der Tanzpädagogik als Basis einer Serie von Transformationen dienen kann, steht es seit langem außer Frage, dafür nach dem Beispiel der klassischen musikalischen Komposition eine genau eingeteilte Entwicklung vorzugeben. (Obwohl Arbeiten wie die von De Keersmaeker oder Trisha Brown jenes Problem kürzlich verfremdet oder in andere Bereiche überführt haben.) Hier kommt ein anderes Element ins Spiel: die Verteilung der Einheiten maximaler Intensität, die den Ablauf der Sequenzen zentralisieren oder auf den ›Höhepunkt‹ hin ausrichten. Man kennt Cunninghams Verdammung nicht nur der traditionellen Strukturen, die Thema und Variation auf den Tanz anwenden, sondern auch einer zentralisierenden Dramaturgie der Krise »auf die man sich zubewegt, und von der man 252 | Louis Horst: Modern Dance Forms, S. 23-24.

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sich wegbewegt.«253 Jene lineare und zentral auf einen Höhepunkt hin ausgerichtete Form hätte schließlich beinahe alle Eroberungen der Moderne ausgelöscht. Kurioserweise findet man heute eine solche Verdammung in Bezug auf die Versuchungen des von Raoul Ruiz angeprangerten reaktionären Kinos im Namen einer Ästhetik des ›zentralen Konfl ikts‹ wieder. Als müsste jede Erzählung (für uns: jeder choreographische Text) gemäß der allertraditionellsten Abläufe der klassischen Dramaturgie zu einem ›Knoten‹ und dann zur ›Auflösung‹ führen. Raoul Ruiz liefert darüber hinaus eine feine Analyse der Theorie des ›Zentralkonflikts‹, die er mit dem ›american way of life‹ verbindet, der die Hauptinspiration des amerikanischen Kinos bildet und vielleicht auch in weniger eindeutiger Weise die des ›modern dance‹. Das heißt, dass in jener Kultur auf eine verbale oder praktische Entscheidung unmittelbar ein Konflikt folgt, der deren ›entscheidenden‹, man kann auch sagen empathischen Charakter unterstreicht. Die Konsequenzen, die Ruiz daraus zieht, sind noch interessanter, wenn er sagt: »Jene anderen Gesellschaften, die ihre Wertesysteme geheimhalten, haben nach Außen hin die Rhetorik von Hollywood übernommen.« Und daraus schließt Ruiz melancholisch auf die Übernahme der Repräsentationsweisen der wirtschaftlich dominierenden Kultur, in der Kunst wie in der Politik.254 Man muss gewiss genauer differenzieren und darf nicht versuchen, in den Meisterwerken des ›modern dance‹ den vereinheitlichten Gebrauch eines Konstruktionsverfahrens zu fi nden, das so archaisch ist wie der ›Zentralkonflikt‹. Bei Humphrey, der Meisterin der Assymmetrie und der zentrifugalen Konstruktion auf der Grundlage eines instabilen Körpers, würde man vergeblich nach einem fokalisierenden Element suchen. Wie dem auch sei: Man kennt die gesamten Anstrengungen Cunninghams, den ›Zentralkonflikt‹ (wie Ruiz und das Kino jenes praktische Konzept nennen) zu umgehen. Diese Weigerung geht übrigens in der gesamten Kunst unserer Epoche Hand in Hand mit der Verweigerung einer linearen Perspektive und Logik. Doch wird der zeitgenössische Tanz seine Ausbruchsversuche aus dem Joch der Komposition noch intensivieren. Außer der Möglichkeit des Umgehens, die Cunninghams Verwendung des Zufalls bietet, hat die mit dem Judson Church Dance Theatre verbundene Bewegung die Infragestellung der Kombinatoriken als Beherrschung der Verknüpfungen in der Konstruktion des Werks am weitesten vorangetrieben. Aus geschichtlicher Sicht beginnt alles mit dem berühmten Kurs Robert E. Dunns, der auf Anra253 | Merce Cunningham in: Revue d’esthétique, Sondernummer John Cage, S. 157-168. 254 | Raoul Ruiz: Poétique du Cinéma, Paris: Dis Voir 1994, S. 21.

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ten John Cages eingeladen worden war, einen Workshop in Cunninghams Studio zu geben: Die Verwendung nicht nur des Zufalls, sondern von Techniken, die bereits auf dem Gebiet der Literatur oder der Bildhauerei erprobt worden waren, wie das ›cut-up‹ oder die Collage, sollte für Dunn die Gestaltung der Struktur von der Schwere der Verkettungen in absichtlichen Konstruktionen befreien. Dunns Kurs war der erste Rahmen für Äußerungen, die ausgehend von Beschränkungen oder Spielregeln, von partitur-ähnlichen Strukturen bestimmt, entstanden.255 Jene ›Partituren‹ »konnten«, wie Sally Banes die Aussage von Mami Malaffay wiedergibt, »ebenso die Mondphasen sein, wie das Kochen eines Eis.« Es ging darum, Strukturen zu verwenden, die zu Beschränkungen aber nicht zu Organisation führen sollten, wie es die berühmten ›tasks‹ der Judson Church sein würden. Eine der Vorgaben, die Dunn einsetzte, um der voluntaristischen Konstruktion der Komposition zu entgehen, war der Gebrauch »einer einzigen Sache«. Denn per Definition impliziert jede Kombinatorik, dass mehrere Elemente untereinander verknüpft sein müssen, mit der gesamten Folge möglicher Beschwerungen: wie der Hierarchie unter den erwähnten Elementen. Die ›one thing dances‹ waren einfach und sachbezogen und behandelten vor allem, wie es in der Kunst der ›Performance‹ häufig der Fall sein wird, nur eine einzige isolierte Äußerung (auch Schlemmer ging bei seinen Bauhaus-Tänzen ähnlich vor). Auf der abstrakten Ebene waren sie eine Antwort auf Simone Fortis zeitgleich entstandene ›constructions‹, die jedoch mehr der Performance ähnelten (nicht weiter verwunderlich, dass ihre Bühne ein Ort der bildenden Kunst war: die Reuben Gallery), unter anderem, da das konkrete materielle Element, das Objekt, dabei eine bestimmende Rolle bei der Produktion einer Wegstrecke, einer Gestik, eines Körperzustands spielte: Stücke wie »Rollers« oder »Seesaw« ließen jegliche körperliche Initiative aus einer Serie von Accessoires entspringen, die als Konditionierungselemente für die unternommenen Handlungen fungierten: ein Brett im Ungleichgewicht, Kisten auf Rollen, die die Performer am Ende eines Seils in unkontrollierten Bahnen mit häufi gen Zusammenstößen oder Stockungen transportierten, enthoben die subjektive Initiative zugleich des Risikos ihrer Anhaltspunkte und ihrer Stereotypen. Ebenso wie Dunns numerische oder abstrakte Vorgaben die Tänzer von der Möglichkeit entbanden, sich subjektiv eine Kombinatorik zu überlegen.256 Gleichzeitig ruft der Akt, der so weit wie möglich von jeder unmittelbar ästhetischen expressiven Gestaltung befreit wird, nicht nach einer 255 | Sally Banes: »Choregraphic Methods of the Judson Church Theater«, in: Writing Dancing in the Age of Post-Modernism, Wesleyan Univ. Press 1994, S. 212-215. 256 | Simone Forti: Handbook in Motion.

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Bewertung: Alles, was geschieht, ist interessant, weil es geschieht. Und die Einfachheit der Geste oder der Fortbewegung soll dafür genommen werden, was sie ist: ein neutraler Akt, abgetrennt von jeder Referenz und Beurteilung. Derartigen Umgehungen des kompositorischen Akts folgt die Judson Church durch die Anwendung der von Anna Halprins Praxis inspirierten ›tasks‹: Bei diesen ›Aufgaben‹ verbot der Zwang einer autoritären Vorgabe scheinbar jegliche unmittelbare subjektive Initiative und machte aus der choreographischen Organisation eine nicht vorher bedachte Strecke, deren Strukturen voll und ganz von der Erfüllung der ›Aufgabe‹ abhingen, »jener Willkür, die die des ›chance-process‹ ersetzte«, wie es Sally Banes ausdrückt.257 Denn die ›hemmende‹ Kraft (um ein Konzept aus der Alexandertechnik zu übernehmen) der Aufgabe versperrte ebenso wie der Zufall den Rückweg zum Bekannten und der Anwendung früherer Errungenschaften (vor allem der Kompositionskurse des ›modern dance‹). Später wurden alle möglichen Verfahren ins Spiel gebracht: Partituren, Vorschriften, physische Beschränkungen, Spielregeln, oder die Benutzung von Objekten rissen das kompositorische Projekt durch Brüche auseinander und eröffneten gleichzeitig der Unendlichkeit die Möglichkeit, in einem anarchischen Tanz zu explodieren, der kein Gesetz mehr anerkannte (obwohl er sich mit ›Regeln‹ versah). Eine Möglichkeit, die zentralisierende Krise zu überwinden und auszulöschen, war für die amerikanischen Künstler der 60er Jahre die Verwendung einer repetitiven Ästhetik. Die Wiederholung, das heißt die unmittelbare Wiederaufnahme eines Motivs, das dem vorhergehenden gleicht, stellt nämlich ein Hindernis für die Versuchung dar, eine logische und lineare Struktur zu kontrollieren. Man muss hier sehr deutlich zwischen der Wiederholung, die die Organisation zerstört, und dem ›Wiederaufnehmen‹ oder ›Wiederauftreten‹ eines Motivs unterscheiden: Die beiden letzteren sind vollwertige Bestandteile zutiefst traditioneller Kompositionsmethoden, egal, ob es sich um choreographische, musikalische, literarische, plastische usw. Komposition handelt. Während jene Verfahren der Konstruktion dienen, ist die Wiederholung ein Mittel zur Zerstörung. Die stetige Wiederkehr einer zellularen Einheit, die oft in ihrer eigenen Vollendung unterbrochen wird, weiht jeden Versuch von Organisation und Konstruktion dem Untergang. Dies war das Anliegen der Musik in der Nachfolge von Cage, wie auch der minimalistischen Kunst im Allgemeinen: Sie klammert nicht nur die ›Krise‹ aus, sondern lässt auch alles, was zu ihr führen könnte, in gleichmäßige Wiederholungen zerfallen, die durch ihre eigene Verdoppelung neutralisiert werden. Dasselbe sehen wir bei Lucinda 257 | Sally Banes: Writing Dancing in the Age of Post-Modernism, S. 218.

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Childs, die in ihren 70er Jahre-Stücken wie »Radial Courses« (1976) nur eine äußere Raumform vorgab, die ausgehend von den vier Ecken gleichmäßig eingeteilt wurde. Von diesem Raum wurde nur eine einzige Dimension entwickelt: die Richtung. Eine einzige Serie von Motiven wurde verwendet, um die Strecke zu durchlaufen. Dabei bestand die Grundeinheit nicht aus »wohlkonstruierten Phrasen mit Anfang, Mittelteil und Schluss. Es waren einfach Module ohne zeitliche Abweichung, ohne Höhepunkt, mit wenigen Akzentuierungen.« In der zeitgleich entstandenen Serie der »Accumulations« vollzog Trisha Brown keine Wiederholung, sondern reihte eine bestimmte Anzahl von Bewegungen aneinander, die vor der Wiederkehr der ersten alle der Reihe nach ausgeführt werden mussten, und bei jeder Phrase, die zu Gunsten der reinen Serie aufhörte, Phrase zu sein, um ein Motiv erweitert wurden. In jener Ästhetik der Serie musste jede gestische Äußerung zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren, bevor die nächste beginnen konnte. »Es war«, wie sie sagt, »die einzig mögliche Lösung, nach der Annullierung des choreographischen Akts in den 60er Jahren noch Tanz zu produzieren.«258 Indem die Wiederholung das Risiko der Krise annulliert, führt sie möglicherweise zu einer Infragestellung des gesamten choreographischen Akts. Sie ähnelt somit dem Todestrieb, von dem Deleuze in Bezug auf die Wiederkehr des Gleichen spricht.259 Was das choreographische Objekt in seiner Struktur und sogar in seiner zu legitimierenden Existenz affiziert, ist jedoch das genaue Gegenteil dessen, was sich im Bewusstsein des Zuschauers ereignet. Die Sukzession, die Relativität einer durch winzige Differenzierungsverfahren ständig neubeginnenden Gegenwart (Lucinda Childs verfährt genauso mit ihren Wiederaufnahmen derselben Strecke) verändert im Gegenzug die Wahrnehmung des Subjekts. In diesem Zusammenhang zitiert Deleuze die empiristische These Humes: »Die Wiederholung ändert nichts an dem sich wiederholenden Objekt, sie ändert aber etwas im Geist, der sie betrachtet«. Und im vorliegenden Fall ließe sich hinzufügen: auch in dem Körper, der sie hervorbringt. Zwar zeugen die wiederholten oder aneinandergereihten Bewegungen des Tanz-Minimalismus von einer derartigen Einebnung der Spannungen, dass ihre Rückkehr einfach nur die vollkommene Ähnlichkeit der Gesten bestätigt. Doch ist es genau jene Permanenz, die zur Hypnose führt. Die Wahrnehmung gibt auch ihr Vorrecht des Urteils ab; wir werden zu jener quasi extatischen Akzeptanz einer Schwelle geführt, hinter der sich die Leere einer abwesenden Konstruktion auftut. Somit bietet sich uns der gestische Akt in seiner reinen und friedlichen Materialität dar, 258 | Marianne Goldberg: »Entretien avec Trisha Brown«. 259 | Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München: Fink 1992,

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ohne dass noch irgendeine Kontraktion oder fieberhafte Intensivierung nötig wäre, um das logische Urteil der Wahrnehmung zu gewährleisten. Gewiss fiel Trisha Brown die Abwendung von der totalen Infragestellung jedes möglichen kompositorischen Akts äußerst schwer. Lange Zeit erlegte sie sich extrem strukturierte Regeln auf, um zu einer legitimen Verwendung von kompositorischem Material zurückzufinden. Eines der Stücke, die am besten von jenem Weg zeugen, der nach der Radikalität der Judson Church fast wie eine Entsagung scheint, ist möglicherweise »Set and Reset« mit seiner seltsamen Entstehungsgeschichte: Trisha und die Tänzer fi xierten nach langer Improvisation eine Phrase, die das Werk noch heute auf eine räumlich eingeschränkte Äußerung (am rechten Bühnenrand) hin öffnet, in der der Austausch von Energien, die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie und Kollisionen (nicht immer durch den Kontakt, häufig im Gegenteil durch aus der Ferne übertragene Energieentladungen) besonders favorisiert werden. Jene Phrase wurde als ›generativ‹ (delivery phrase) betrachtet. Sie ließ somit nach zwei Arten von Vorgaben Material entstehen: erstens durch die Erkundung des Raums in allen Richtungen, und besonders an den Rändern, wodurch die Bühne zu einer Art räumlichen Partitur mit allzu stark besetzten Orten wurde, denen man entweder ausweichen oder sich stellen musste. Zweitens gibt es eine Reihe von Vorgaben als permanente Prinzipien: »Bleibt einfach. Wenn ihr nicht wisst, was ihr tun sollt, ordnet euch zu einer Reihe an« usw. Dank dieser Konstruktionsprinzipien entwickelte sich eine Serie von Zellen unterschiedlicher Geometrie: Duo, Trio usw., die aus der quasi unbegrenzten Zusammenfügung punktueller und von den Tänzern getroffener Entscheidungen entstanden. Nach und nach hat sich, wie Trisha Brown erklärt, die Materie zusammengeballt, verfestigt. Und nachdem es 1983 entstand, hat »Set and Reset« heute keinerlei Grund mehr, das sich stetig weiterentwickelnde Stück zu sein, das die Tänzer damals daraus machten. Halten wir lediglich den einschränkenden und vorgebenden Charakter seiner Gestaltung fest. Wenn man es erkennt, steht jenes Dispositiv in einem erstaunlichen Widerspruch zur Freiheit der Geste. Die brownsche Bewegung von damals, die der vollkommenste Ausdruck einer Epoche war, die man als die Zeit der ›instabilen Molekularstruktur‹ bezeichnete, ist heute immer noch diejenige, durch die man die Choreographin am liebsten charakterisiert: das Aufsteigen einer kontinuierlichen Bewegung, die ungehindert durch alle Schwingungen des Körpers und des Raums zirkuliert. Ein permanentes Loslassen des Schwerpunkts, ein unbegrenztes Verstreuen der Körpermaterie. Nun bringt aber, wie man schnell verstehen wird, genau die Strenge des kompositorischen Fundaments (und seine gleichzeitige Öff nung für alle Möglichkeiten) Trisha Browns bewundernswertes Chaos hervor, und verlängert die ›molekulare Instabilität‹ eines aus dem

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Gleichgewicht gebrachten Körpers, die nur die Kehrseite einer ziemlich durchorganisierten Ordnung ist, über das gesamte Stück hinweg, um ihre eigene Unordnung zu schaffen: jene ›köstliche Unordnung‹, von der Sally Banes spricht. In Frankreich findet man vollkommen einzigartige Behandlungen der Krise. Lassen wir zunächst die endlose Reproduktion der minimalistischen Verfahren beiseite, die durch einen Mode-Effekt in zahlreichen mittelmäßigen Stücken Anwendung gefunden hat. Die jungen französischen Tänzer haben, wie man gesehen hat, den Hang dazu, ein formales Werkzeug zu benutzen, ohne sich darum zu bekümmern oder sich zu informieren, welche Philosophie es inspiriert hat. Meist vermeiden sie es, noch einmal den oft gefährlichen und transgressiven Weg zu gehen, der dazu führen könnte, die Tragweite eines solchen Verfahrens wirklich zu erleben. Übrigens hat die Imitation minimalistischer Verfahren (Sukzession, Aneinanderreihung, Wiederholung) oft dazu gedient, Schwächen oder Lücken in der Kunst der Komposition zu verbergen, als wolle man zerstören, noch bevor man verstanden hat, was eine Konstruktion überhaupt ist. Das, was Childs oder Brown im vollen Bewusstsein der Sache dekonstruieren können, da sie beide, wie vor ihnen Cunningham, lange Zeit und intensiv mit den großen Meistern des ›modern dance‹ studiert haben, kann sich nicht vollziehen, ohne einen ebenso langen und überlegten Weg zu durchlaufen. Es sei denn, man gebraucht Effekte als leere technische Spielereien, die man aus Nachahmung benutzt und vor allem aus Konformismus. Dennoch, sogar unabhängig von allen Effekten der Mode, ist der Schlag, den Cunningham und nach ihm die Minimalisten der traditionellen Erzähldramaturgie, die sich um einen Knoten und seine Auflösung dreht, versetzt haben, heute sowohl in seiner Gesamtheit, als auch in Bezug auf jede einzelne Einheit, in der Tat kaum mehr möglich. Die unumkehrbare Kraft der Entkettung scheint die gesamte choreographische Umgebung der Moderne geprägt zu haben. In Bezug auf das bereits erwähnte »Saut de l’Ange« erinnert Bagouet daran, dass »die Sequenzen aufeinander folgen, ohne dass ein Konstruktionsprinzip ausgestellt würde.«260 Die, wie er sagt, »kleinen Geschichten« des französischen Tanzes sind oft wie Episoden einer unbekannten Mythologie, herausgepickt wie unzusammenhängende Motive. »Kleine Mythen« für die »Le Saut de l’Ange« ein wunderbares Beispiel abgibt. Doch ist das Problem der ›Krise‹ immer noch da. Es wohnt in den hintersten Winkeln des Tanzes, wie ein Gespenst, gegen das jeder Exorzismus versagt. Bei Bagouet scheinen in jedem Augenblick Maßnah260 | Dominique Bagouet: »Présentation du »Saut de l’Ange«, Nachdruck in: »Programme du Ballet Atlantique Régine Chopinot«, anlässlich der Wiederaufnahme des Stücks 1993.

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men getroffen zu sein, um die Bedrohung durch eine mögliche Krise ins Unbestimmte abzudrängen. Es gibt in »Le Saut de l’Ange« wie zuvor in »Le Crawl de Lucien« keine Krisen, aber Augenblicke der Verzweiflung oder des Zerberstens. Sie treten stets im Verlauf der Soli (Catherine Legrand in »Le Crawl de Lucien«, Sonia Onckelinck in »Le Saut de l’Ange«) auf – eine Art vergeblicher Auflehnung, die sofort resorbiert wird. Vielleicht liegt das gesamte Geheimnis von Bagouets Werk in diesem Konflikt, dessen Auftreten möglich ist, aber stets abgewendet wird. Catherine Diverrès hat in ihrer Kunst wie in ihren Schriften die Frage der Krise am deutlichsten behandelt: Bei ihr ist die Krise stets präsent, doch beginnt sie stets unvermittelt von vorne, sogar und vor allem in den auf der Energie-Ebene gleichmäßig und entschärft erscheinenden Momenten. Vielleicht ist dies eine noch effizientere Methode, um ihre Entfesselung zu unterbrechen. In Stücken wie »Tauride« (1991) und in neuerster Zeit »L’Ombre du Ciel« (1994) dient der choreographische Akt nur dazu, Verzögerungen oder vielmehr Zäsuren einzuführen, die jene Momente der Implosion modulieren. In bestimmten Soli von Bernardo Montet liegt die Krise in der Skizze eines Akts, der nicht vollzogen wird und an seiner eigenen Antriebsschwelle bleibt, sich zugleich erschöpft und in sich selbst zurückstürzt. Beide Künstler sind ganz deutlich von Georges Bataille und seiner Sicht der Kunst als Umgang mit einer vom Subjekt getragenen ›Verschwendung‹ beeinflusst. ›Der verfemte Teil‹, der ebenso vom Gesetz wie vom Schicksal als das bezeichnet wird, was »den Überschwang des Lebens [schließlich] der Revolte vorbehalten«261 macht. Bei Larrieu gibt es keine Krise, sondern eine Art leeres Ausstrecken, das beinahe ihren Platz einnehmen könnte. Bei ihm hat das Ausklammern der Krise eine Poetik der Abwesenheit eingegraben, eine Art vergeblichen, genichteten Augenblick; man findet ihre Spur in der Verknappung der Geste, wo die Leere wie ein Baustein der Handschrift verwendet wird. (Ähnliche Verfahren treten stellenweise auch bei Gaudin, Dobbels oder Paco Decina auf.) Man findet sie zuweilen auch in Larrieus Umgang mit dem Raum wieder, wenn die Bühnenmitte leer und verlassen bleibt und damit einen Abgrund-Ort des Sinns bezeichnet. Das, was zwischen magnetischen Polen oder durch die Diversität stark aufgeladener Präsenzen Spannung schaffen könnte, wird aufgesogen, beruhigt sich und beginnt, wie kleine Kinder oder Tiere zu spielen, als ob die Tänzer ihre Erinnerung an die Welt verloren hätten (in »Anima«, 1990, wo sich die Dichte der Gesten vervielfacht; oder in dem für das Ballett Frankfurt choreographierten und 1995 am Centre Chorégraphique National von Tours wiederaufgenommenen »Jungle sur 261 | Georges Bataille: »Der verfemte Teil«, in: Die Auf hebung der Ökonomie, München: Matthes&Seitz 1985, S. 101.

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la Planète Vénus«). Trotz ihrer Verdrängung aus der zeitgenössischen choreographischen Sprache und Ästhetik hinterlässt die Krise dennoch stets ihre Spur und oft auch ihre Wunde darin. Wie sollte man nicht an die ›Eitelkeit‹ denken, jenes Bild des Todes, das manche berühmten klassischen Gemälde beherrscht: das Grab in Poussins »Bergers d’Arcadie«, die makabre Anamorphose im Zentrum von Holbeins »Botschaftern«. Ebenso wie es der Malerei gelang, die Auslöschung des Fluchtpunkts durch die Symbole des Verschwindens zu maskieren, hat jener bewusste Verzicht auf jegliche zentralisierende Spannung im französischen Tanz der 80er Jahre zur bereitwilligen Aufgabe des Zusammenhalts geführt. Heute jedoch zeigt sich besonders bei den Künstlern, die ich gerade zitiert habe, eine Reaktion. Die Ästhetik der Entkettung scheint durch die Erschöpfung der gesicherten Ressourcen, die zu schnell in wahrnehmbare Verfahren umgewandelt wurden, ein Ende gefunden zu haben. Es tritt ein gewisser Wille zur Konstruktion auf, ein Wille, die verknüpften Fäden einer organischen Gesamtheit zwischen Körper und Anliegen wiederzufi nden. Überall, in der Lehre, wie in der schöpferischen Arbeit, lässt sich eine Wiederaneignung kompositorischer Werkzeuge beobachten. Sehr junge Choreographen legen in ihren Grundsatzentscheidungen und in deren logischer und körperlicher Entwicklung eine extreme Strenge an den Tag, die von vielen anderen geteilt wird – vor allem von den bereits erwähnten aus der Compagnie Bagouet hervorgegangenen Künstlern, die an die komplexesten Feinheiten ihrer Kunst gewöhnt sind. In Frankreich gilt jene Schule unter jungen Künstlern übrigens zunehmend als Referenz. Die Tänzerin Odile Seltz sieht darin einen Ort der Ressourcen, »um Kräfte gegen das Chaos zu finden.«262 Das Chaos, von dem sie spricht, ist nicht der cunninghamsche Bruch der rationalen Verknüpfungen der Oberfläche, sondern im Gegenteil das Wuchern von Mimetismen und die Verwischung durch parasitäre Formalismen. Denn dieses Wiedersehen mit der Kunst des Komponierens verweist nicht auf neue Gewissheiten. Im Gegenteil: Das Kompositionswissen, sein Übergang in die Begriffe der Handschrift, versucht nicht, vorgefertigte, normalisierende oder reproduzierbare Formen niederzulegen. Stattdessen treibt es den Tanz durch die wachsende Komplexität seiner Instanzen und den aufmerksamen Umgang mit seinem empfindlichen Material unablässig weiter auf das Ungreif bare zu.

262 | Odile Seltz in: »Programme du Théâtre Le Cratère d’Alès«, 1. Dezember 1995.

Die Werke

Anfänge der Werke (Skizze, Thema, Anliegen, Referenz) »Egal um welches Thema es geht: Die erste Sache, die es zu betrachten gilt, lässt sich mit einem Wort beschreiben: der Akt.« Doris Humphrey

Was liegt am Anfang des choreographischen Werks? Nichts. Kein besonderer vorgesehener Träger. Anders als in den anderen Künsten verfügt der Tänzer über kein bereits gegebenes Medium (wie z.B. Klang, Farbe, oder Maschinerie und Licht wie im Kino). Er arbeitet weder auf der Grundlage eines Textes wie traditionellerweise im Theater (wie wir sehen werden, kann sich der Tänzer eines Textes bedienen, aber in unterschiedlicher Weise), noch auf der Grundlage einer Handlung wie im klassischen Tanz, wo, wie Michèle Febvre sagt, eine Fabel die internen Bausteine einer tänzerischen Bewegung »von außen verwaltet.« 1 Wenn heutzutage eine Erzählung im choreographischen Werk erscheint, dann, weil das Werk sie durch seine eigene Ökonomie selbst hervorbringt, oder weil es eine bereits zuvor gestaltete Erzählung wieder integriert, dabei aber eine wirkliche ›Arbeit‹ daran verrichtet. Der Tanz ist eine Kunst, die ausgehend von einem Minimum an Elementen ausgeübt wird: Einzig die Materie des Selbst und die Organisation einer bestimmten Beziehung zur Welt bilden das Gerüst, über das der Tänzer verfügt, um ein Universum zu konstruieren, eine Geisteswelt, ein Denken: eine Weltschöpfung (»démiurgie«), die, wie René Thom sagt, gleichzeitig eine Sinnschöpfung (»sémiurgie«) ist. Der Cho1 | Michèle Febvre: »Les paradoxes de la Danse Théâtre«, in: La danse au défi, Montréal: Parachute 1987, S. 73-83.

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reograph muss in einer spezifischen Beziehung alles in sich selbst und im anderen finden. Der Auf bau dieser Beziehung gehört übrigens bereits zur Kompositionsarbeit. Darin liegt das Wunder und die Herausforderung der choreographischen Schöpfung: vom Unsichtbaren aus Fäden zu spannen, dem Nicht-Existierenden einen Körper zu verleihen, »die unsichtbaren Bilder existieren zu lassen«, wie es Mary Wigman formulierte.2 Man wird mir sagen: Die Bewegung ist das Medium, der Körper das Instrument. Aber was für eine Bewegung? Was für ein Körper? Wir haben gesehen, dass weder die Bewegung noch der Körper von vornherein, unabhängig von den Kinesien, die sie begründen, existieren: Es ist auch die Arbeit des Choreographen, den Körper zu erfinden (oder zumindest aus den bereits erarbeiteten und bewussten Körpern eine Leiblichkeit auszuwählen, die im Einklang mit seinem Projekt steht). Die Bewegung, die zu Beginn der choreographischen Wegstrecke vollkommen unbekannt ist und unablässig neu entdeckt werden muss, ist im zeitgenössischen Tanz durch nichts vorgegeben, außer durch ihr eigenes Auftreten: durch jene ›Prä-Geste‹, von der Hubert Godard in Anlehnung an Cunningham spricht, und die es in dem extrem flüchtigen Zwischenraum zwischen Bewegungslosigkeit und Bewegung (dem berühmten Übergang zwischen ›stillness‹ und ›stir‹, aus dem Laban ein ganzes Gedicht entwickelt hat) zu fassen gilt.3 Im Tanz wird Komponieren immer bedeuten, auf die Enthüllung des Augenblicks zu zählen, und nur auf sie. Diese Enthüllung verschaff t Zugang zu dem großen bereits vorhandenen aber verschleierten Schatz, den Jackie Taffanel mit einem Zitat von Deleuze bezeichnet: »Eine Sprache, die vor den Worten spricht, Gesten, die vor den organisierten Körpern Gestalt annehmen.« 4 Glücklicherweise ist der Tänzer angesichts dieses völligen Fehlens von Verweisen, abgesehen von dem, was er im Nicht-Repräsentierten bereits entziffern kann, nicht mittellos: Er verfügt über ein umfangreiches und wunderbar effizientes Erbe an Wissen und Verfahren. Sobald man das Universum des zeitgenössischen Tanzes betritt, ist man überrascht über den Reichtum an Ressourcen, der in kaum hundert Jahren entwickelt wurde: von Künstlern, die zugleich Theoretiker waren und die als erste jenes flüchtige Material bearbeiteten, und vor allem sehr schnell die Schlüssel dazu lieferten, es dem Bereich der Nicht-Existenz zu entreißen und ihm eine Funktionsweise, ein Profil und eine Identität zu verleihen. Im Prinzip trägt die Choreographie, wie wir später noch sehen werden, die ›Signatur‹ eines Autors, der ein einzelnes Individuum oder manch2 | Mary Wigman: »Hexentanz«, in: Die Sprache des Tanzes, S. 42-44. 3 | Laban in: Vision of Dynamic Space, S. 68-70. 4 | J. Taffanel: L’atelier du chorégraphe.

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mal auch ein Paar sein kann; von diesem Autor, auch wenn er wie im Fall von Joëlle Bouvier und Régis Obadia (deren Ästhetik durch den Glanz einer zwillingshaften Körperidentität von erstaunlicher Kohärenz geprägt ist) doppelgesichtig ist, geht die Dynamik des ursprünglichen Anliegens aus. Trotz des wesentlichen Anteils, den die Arbeit des Interpreten im Schöpfungsprozess einnimmt, gibt es im zeitgenössischen Tanz nur wenige kollektive Schöpfungen: Denn oft entsteht das Werk gleichzeitig mit dem Interpreten und in ihm. Status und Funktion des einzigen Choreographen wurden in der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes nur selten in Frage gestellt. In Frankreich bleiben die wenigen Beispiele für Kollektive (durchaus interessante) Ausnahmen: das Kollektiv Lolita, 1981 gegründet, drei Jahre später aufgelöst; die Compagnie La Ronde, die sich als ›Compagnie von Interpreten‹ definiert und ganz bewusst auf die obligatorische Anwesenheit des Choreographen verzichtet. In den USA muss man die legendäre Epoche der Grand Union erwähnen, die von Yvonne Rainer mit dem Ziel begründet wurde, die vom ›modern dance‹ ererbte hierarchische Struktur der Tanzcompagnie zu demokratisieren: Kein Choreograph, Gleichheit des Status vor dem Schöpfungsakt war ihre Devise; »mit ihrem Streben nach dem Geist der Kollektivität, der Gleichheit und der Spontaneität erschien die Grand Union im Vergleich zu den ›modern dance‹-Compagnien der vorherrschendenen Richtung unkonventionell«, schreibt Sally Banes. Ihre Mitglieder »hatten jahrelang daran gearbeitet, Alternativlösungen zu den wohletablierten Machtstrukturen der Tanzwelt zu finden.«5 Dennoch scheint das Modell der Grand Union unserer heutigen Situation kaum mehr angemessen. Erstens, weil es aus einer Welt der Kooperativen und anderen gemeinschaftlichen Vereinigungen der 70er Jahre hervorging, die mittlerweile Geschichte ist. Und zweitens, weil es paradoxerweise nichts Aristokratischeres gibt, als eine ›Demokratie‹, die Tanzpersönlichkeiten ersten Ranges zusammenfasst, die uns heute als Giganten erscheinen: Trisha Brown, Yvonne Rainer, Deborah Hay, Simone Forti, Steve Paxton und David Gordon. Es ist einfach, sich unter Prinzen gleich zu fühlen – und besonders unter Künstlern, die in ihren praktischen und theoretischen Orientierungen eine unerhörte Meisterschaft besitzen. Außerdem lief die künstlerische Initiative in der Grand Union stets auf eine individuelle Entscheidung hinaus: Rainers berühmtes (von Robert Morris inspiriertes) »Continuous Project Altered Daily«, vermutlich eine der bedeutendsten Produktionen der Grand Union, wurde schlicht und einfach von ihr als »Boss« geleitet, wie sie es ausdrückt.6 Denn die Gleichheit der Aufgaben, oder zumindest der Titel, sollte nicht über die Notwen5 | S. Banes: Terpsichore in Sneakers, S. 208. 6 | Y. Rainer: Work, S. 129.

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digkeit hinwegtäuschen, die Initiative des Schöpfers zu bewahren. Der Verzicht auf eine choreographische Signatur bedeutet, eine archaische Situation aufrechtzuerhalten, in der sich der Tanz jahrhundertelang befand: eine Praxis ohne Werke, wo der übermäßig stark ins Rampenlicht gerückte, verherrlichte Interpret, das einzige ist, was man zu sehen kommt. In den traditionellen akademischen Tänzen, so schön und stimmig sie auch sein mögen, trägt der Interpret den gesamten Tanz in sich selbst. Es gibt darin keine ›Handschrift‹, die ihn zu etwas anderem machen würde, als zu einem getreuen und bewunderungswürdigen Ausführenden, in gewisser Hinsicht einem ›Zeiger‹. Der zeitgenössische Interpret will dagegen ein ›Produzent‹ der Geste sein, der sie in seine eigene Geschichte einschreibt, ein arbeitender Körper in einem Denken, in dem er sich wiedererkennt. Für den Tänzer wie für den Tanz sind jene archaischen Strukturen noch zu nah, zu bedrohlich, als dass man ungestraft die zur Moderne gehörende Rolle des Schöpfers in der Choreographie auslöschen dürfte, der all seine Partner auf eine einzigartige künstlerische Philosophie einschwört. Selbst nach dem Tod des Choreographen finden sich die Tänzer noch in seinem Namen zusammen, weil sein Projekt, ebenso wie sein Werk, noch die ›Bühne‹ darstellt, auf der sie ihr eigenes Denken gestaltet (und erwählt) haben. Genau dies geschieht in Frankreich im Fall der Carnets Bagouet, einer Vereinigung von Tänzer-Choreographen mit divergenten Lebensläufen, die jedoch umso fester von einer gemeinsamen Hoff nung, einem gemeinsamen Verfahren verbunden werden, die sich durch die Trauer erst identifizieren mussten. »Andere tragen die Namen, die er nicht mehr hat«, schreibt der Schriftsteller und Dichter François Dominique über den verstorbenen Hideyuki Yano, der in der Welt den Schatten seiner Signaturen hinterließ.7 In der Regel verweist der Ausgangspunkt eines jeden Werks auf einen grundlegenden Zug des zeitgenössischen Tänzers: die Notwendigkeit, sogar den Drang, der Welt das Übermaß von Sinn und Erwartung, das sein Wesen anfüllt, ins Gesicht zu sagen oder manchmal auch zu schreien. Selbst in einem Subventionssystem, das regelmäßige Schöpfung fordert, sieht man ihn nur selten auf der Suche nach einem Thema Handbücher durchblättern, wie es Doris Humphrey mit einem, wie man sagen muss, mehr pädagogischen als direkt schöpferischen Ziel vorschlägt, das kaum ihrem eigenen Inspirationsreichtum entsprechen dürfte. Noch weniger entspricht der zeitgenössische Choreograph dem von Cunningham gezeichneten amüsanten Bild des Künstlers, der »um einen Tanz zu erschaffen«, gezwungen ist, »Fingernägel zu kauen, mit dem Kopf gegen die 7 | François Dominique: Aséroé, figures de l’oubli, Paris: POL 1994, S. 108.

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Wand zu schlagen oder sich in seine alten Aufzeichnungen zu vertiefen, bis er auf einen Einfall stößt.«8 In der Regel dürfte das Einzige, was man dem Choreographen vorwerfen kann, ein exzessives Durcheinander vielgestaltiger Ideen sein. Ein Verfahren der Subtraktion, bei dem das wesentliche Element, der tiefe Faden des ›Verlangens‹, isoliert wird, stellt, wie in allen Künsten, den ersten Schritt der choreographischen Arbeit dar. Für manche stützt sich die thematische Ausgangsarbeit auf ein im Vorhinein bereits klar definiertes Projekt. Dieses wird entweder von einer äußeren Inspiration diktiert (wie zum Beispiel bei Karine Saporta, die in jeder ihrer Choreographien eine präzise und anspruchsvolle Problematik behandelt, an der die Vorstellungskraft arbeiten wird) oder ausgehend von einem Roman oder einer persönlichen Fiktion (wie bei Jean-Claude Gallotta, der sich und seinem Publikum tausend kleine Geschichten erzählt, noch bevor die Arbeit an dem Werk beginnt – und oft wird das fragliche Werk wiederum von etwas ganz anderem handeln). In beiden Fällen handelt es sich um ein vorgezogenes Anliegen, aus dem sich das gesamte Werk ergibt, auch wenn es die Problematik nicht linear und rational zu entwickeln scheint. Jener Typ von choreographischer Schöpfung liegt von seinem Gerüst her (auch wenn die ästhetischen Inhalte anderswohin ausgerichtet sind) den Kompositionen mit äußerlichen Vorgaben näher, die in unterschiedlicher Weise von den Meistern des ›modern dance‹ geäußert wurden (Humphrey, Horst, Nikolais), die Anhänger, wenn nicht einer Objektivierung, so doch zumindest einer klaren und entschiedenen Formulierung des Anliegens waren. In anderen Fällen, die der verinnerlichten Strömung im Geiste Wigmans näherstehen, wird das Anliegen im Werk entdeckt. Dem Tanz geht es vor allem darum, nicht eine präzise Thematik oder ein identifizierbares ›Motiv‹ herauszuarbeiten, sondern den ›inneren Klang‹ oder die ›innere Notwendigkeit‹, wie es Kandinsky ausdrückt. Dennoch kann er sich im weiteren Verlauf (alles ist möglich) zu einem Bild und, warum nicht, zu einer Erzählung entwickeln. Der Choreograph ist derjenige, der es versteht, in sich selbst jene stummen Echos zu lesen, sie durch die Bewegung zum Singen zu bringen und jemand anderem mitzuteilen. Genau dieses Verfahren – Verinnerlichung und Reifung eines empfangenen Eindrucks, dann spätere Wiedergabe – beschrieb Jean-Claude Lebenzstejn als Grundessenz des Expressionismus.9 Jacqueline Robinson hat treffende Worte für die Anfangsarbeit der ›Abstraktion‹ gefunden, die auf einem undeutlichen Gebiet notwendig ist, 8 | Merce Cunningham: »Un art impermanent«. 9 | Jean-Claude Lebensztejn: »Douane/Zoll«, in: La peinture expressionniste en Allemagne, Ausstellungskatalog des MNAM Paris 1992-1993, S. 50-56, S. 53.

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das noch durch nichts strukturiert wird: »Das Bild oder die innere Empfindung, die der Schöpfer wahrnimmt, noch bevor sie verkörpert werden, ist kein Bild im Sinne einer Illustration, sondern die Kristallisierung einer erlebten oder vorgestellten Erfahrung.«10 Der Choreograph wird somit zu einer Maschine, die jenes oft konturlose Bild, jene geheime Inspiration des Schöpfers, die ihm oft selbst unbekannt ist, entziffert (und interpretiert), jenes ›unbestimmte Verlangen‹, wie es Susan Buirge formuliert, dessen Gegenstand sich davonstiehlt. Die Besonderheit der Arbeit des Choreographen liegt darin, jene ›Kristallisierung‹ in ein Projekt zu verwandeln, das sie nicht objektiviert sondern transsubjektiviert. Damit beginnt jene langsame Gruppenarbeit, die so treffend von Jackie Taffanel beschrieben wurde, wo durch ›Reaktionen‹ im chemischen Sinne, von Körper zu Körper, von Bewusstsein zu Bewusstsein, Fragen und Antworten wie flüchtige Spiegelungen hin- und hergesandt werden, die der Choreograph einfängt, um daraus die Essenz der Akte zu destillieren. Dabei ist es vollkommen gleichgültig, ob das Thema außerhalb der Erfahrung liegt, oder ob es im Gegenteil aus jener inneren Erfahrung hervorgegangen ist, die dem mystischen Zustand nahesteht, von dem Bataille spricht (nicht auf der Ebene eines Registers der Verausgabung oder der Bewusstseinsveränderung, sondern ganz einfach einer Fragestellung, deren Gegenstand vorerst aufgeschoben wäre). Die Beziehung des Choreographen zu ›seinem‹ Anliegen ist von Außen betrachtet äußerst erstaunlich und ähnelt nicht den Figuren der ›Inspiration‹, die man in den anderen Künsten findet. Für eine gewisse Zeit teilt der Choreograph nämlich seine ›Idee‹ mit den Tänzern, die zum Fleisch seines künstlerischen Verlangens werden. Jener Akt der Transsubstantiation ist selbst in einer Umgebung, in der ein relativ großes gegenseitiges Verständnis herrscht, wie es eine Tanzcompagnie manchmal sein kann, nicht einfach. Manche Choreographen halten das Mysterium des Anliegens so lange wie möglich verborgen. Martha Graham beispielsweise ließ ein Projekt manchmal zwei Jahre lang reifen, bevor sie es vor anderen ausbreitete. Ihre berühmten Notebooks enthüllen jene heimliche Arbeit: ein Mosaik von Zitaten, die um ein Thema angeordnet werden, Bilder, die zufällig beim Lesen oder bei Ausstellungsbesuchen aufgelesen wurden. Mehr noch: Grahams ›Notizen‹ zeichnen den ›Weg‹ des Themas nach. Es scheint, dass sie sich es nicht ›aussuchte‹, sondern dass es von einem weit entfernten und dunklen Vorstellungshorizont zu ihr ›kam‹. Ob es nun antik, von den grundlegenden Figuren der griechischen Mythologie inspiriert, oder ›modern‹ (literarisch, historisch, politisch usw.) war – es lagerte sich ab und verfestigte sich durch tausende Textsplitter, künstlerische, philosophische Verweise, die von Aischylos oder Freud, Calder 10 | Jacqueline Robinson: »Éléments du langage chorégraphique«, S. 79.

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oder Brancusi stammen konnten. Auf diesem langen geheimen Weg nahm eine Geschichte, ein Mythos für sie körperliche Gestalt an. Somit ›erhob‹ sich der Tanz aus der Tiefe der Zeiten und der Tiefe des Unterbewusstseins wie ein lange im Boden verschütteter Kunstgegenstand, (gemäß jenes archäologischen Bildes, an dem die Psychoanalyse so großen Gefallen findet) der nach und nach von den Trümmern der Vorstellung befreit wurde, die die Essenz einer absoluten Geste gefangen hielten, wie sie Graham zu finden verstand. Auch Limón gab zu: »Es gibt immer einen Zeitraum von zwei Jahren, währenddessen ich mit der Idee lebe.« Er skizzierte daraus ein amüsantes Selbstportrait des Choreographen, der von unwillkürlichen Gesten gepackt wird, die ihn ›überkommen‹, während er auf den Fahrstuhl wartet oder öffentliche Verkehrsmittel benutzt.11 Die Aussagen von Bagouets Tänzerpartnern lehren uns, dass auch er den mysteriösen Korpus eines bereits konstruierten Projekts mitbrachte, über das die Tänzer keinerlei explizite Information erhielten, doch innerhalb dessen die vorgegebene Geste es jedem erlaubte, weiter in seinem eigenen Inneren, im Inneren der labyrinthischen Handschrift voranzuschreiten. Der Leser von Tanz benötigt übrigens nicht all diese Informationen, um den Reichtum des Materials mancher Choreographen zu begreifen (Larrieu, Diverrès, Bastin, Gaudin usw.): das verschlungene Netz der Ablagerungen, die den Subtext des choreographischen Textes ausmachen, die Gesten unter den Gesten, die geistigen Räume, die durchschritten wurden, bevor der choreographische Raum, der in den objektiven Raum hineingestürzt wird, in der Beziehung zwischen den Kinesphären erstrahlt. Nun lässt aber die choreographische Arbeit den Autor sehr schnell vom ›Primärstadium‹ der Schöpfung zum ›Sekundärstadium‹ des Teilens übergehen, wo der Andere ins Spiel kommt – und zwar als Partner des schöpferischen Akts, nicht nur als Vertrauter oder Gesprächspartner. Es ist eine sehr harte Situation, die nur dieser Kunst eigen ist, in der man auf beiden Seiten Gefahr läuft, sich beraubt zu fühlen: seines Projekts des Schaffens und des Seins, das heißt seines Verlangens beraubt (weit mehr noch als des Gegenstandes dieses Verlangens). Obwohl man sie (meines Wissens) nur wenig zu jenem besonderen Typ von Situation befragt hat, haben die Psychoanalytiker uns viel darüber zu sagen, auch auf einer allgemeineren Ebene, die die Kunst und das Denken betriff t. Für Ehrenzweig liegt zwischen dem intimen Projekt des Künstlers und seiner Aktualisierung in einer objektiven Erscheinung ein nicht wieder gutzumachender Verlust. Jener Verlust ist so groß, dass der Zuschauer des Werks selbst dafür ver11 | José Limón zitiert in: Daniel Lewis: The illustrated technique of José Limón, New York: Harper and Row 1989.

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antwortlich ist, dessen Poetik aufspüren, die durch die zahlreichen rationalisierenden oder organisierenden Ansätze zerstört wurde, die nach und nach ihr geistiges und sensorisches Material verkümmern ließen: »Die Kunst ist ein Traum, den ein Künstler geträumt hat und den wir hellwachen Betrachter niemals in seiner wahren Gestalt sehen können. Unsere wachen Fähigkeiten sind dazu verurteilt, uns ein allzu genaues Bild zu geben, das wir der sekundären Bearbeitung verdanken.« 12 Und wenn es stimmt, dass man den Zugang zum Werk nur durch das Mysterium des ›Verlangens‹ des Künstlers gewinnen kann, muss man mit jenem Analytiker und Ästheten zu der Schlussfolgerung gelangen, dass »das Kunstwerk das unerkennbare Ding an sich bleibt«. Das Werk, und vor allem das choreographische Werk, ist stets mit dem verbunden, was für es selbst unerreichbar ist: Es setzt selbst die Grenzen fest, von denen ausgehend sich ein anderer Erlebnisbereich öffnen könnte. Deshalb sind für mich manche (wertvollen) Produktionen, die mehr jene Verletzungen des Verlangens als einen vollkommenen materiellen ›Erfolg‹ zeigen, so überzeugend. Manchmal zeigen sie sogar stärker die unmögliche Grenze auf, die in Bezug auf die Zwänge der Aktualisierungsprozesse »dazu zwingen [kann], sich mit einfacheren oder bekannteren Gebieten zu begnügen«, wie Emmanuelle Huynh sehr richtig sagt.13 Zwar mag eine solche Entscheidung die Arbeit beschleunigen und leichter die Zustimmung eines eingeweihten Publikums um sich versammeln, das in ihnen seine Bezugspunkte erkennt. Doch besiegeln die Zuschauer möglicherweise durch ihr Gutheißen die geheimen Bedingungen einer Niederlage. Michel de M’Uzan, der einer ganz anderen analytischen Strömung als Ehrenzweig entstammt, hat sich mit dem literarischen Schaffen besonders in Bezug auf die Anfänge der Werke beschäftigt. Er untersucht jenen »bemerkenswerten psychischen Zustand, der ihrem Entstehen vorauszugehen scheint und den man gemeinhin mit dem Namen Inspiration bezeichnet«. M’Uzan zieht es jedoch vor, statt dem Begriff der Inspiration den der ›Ergriffenheit‹ zu verwenden (der für uns im Tanz so wichtig ist), einer Ergriffenheit, die zu einem »Akt« führt, »der nicht nur deskriptiv ist, sondern auch eine neue Ordnung hervorbringt und organisiert, die eine Errungenschaft darstellt.«14 Verbunden mit der Schaff ung des ›hervorbringenden Feldes‹ der Choreographie und der Erfindung einer nie dagewesenen ›Ordnung‹ ergibt sich daraus eine machtvolle Sichtweise, die vielleicht sogar dem Anliegen selbst vorausgin12 | A. Ehrenzweig: Ordnung im Chaos, S. 89. 13 | Emmanuelle Huynh: Anatomie d’Insurrection, mémoire de DEA en Philosophie, Univ. Paris I 1991. 14 | Michel de M’Uzan: De l’art à la mort, Paris: Payot 1972, Neuauflage Gallimard, coll. Tel, S. 6.

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ge oder mit ihm zusammenfiele… Somit fordert der Analytiker dazu auf, den ›Traum‹ des Primärverfahrens aufzugeben und das Anliegen in den Sekundärverfahren mit realen Gegenständen oder Körpern zu konfrontieren: »Ich bin nämlich der Meinung, dass es nichts zu inszenieren gibt, solange der primäre Narzissmus alleine regiert, da sich somit alles noch weit außerhalb des Konflikts abspielt.«15 Nun entsteht das choreographische Projekt aber nicht im Traum, sondern steckt sein Feld durch das Auftreten der ›Spannungen‹ zwischen sich und der Welt ab. Die Tanzcompagnie ist die Bühne par excellence für jene Spannungsentwicklung. ›Tanzarbeit‹ bedeutet, diese Bühne zu organisieren, und vor allem, sie im Moment der Auff ührung noch als solche aktiv und lesbar zu machen. Es handelt sich dabei um eine unerhörte künstlerische Erfahrung, aber auch um ein bis dahin ungekanntes menschliches Erleben, das somit eine neue Poetik begründet. Zwar ist diese Erfahrung utopisch – in dem Sinne, dass sie einen ›Ort‹ erfindet, den es bis dahin nicht gab –, doch ist sie weder fusionell (trotz der Affektivität, die gewisse Compagnien zusammenschweißt) noch paradiesisch: Wie in jeder schöpferischen Instanz bedrohen in jedem Augenblick Verlustängste die Gestaltung des Akts. Hier sind sie noch stärker ausgeprägt (und näher am Tod). Da hier der Körper selbst auf dem Spiel steht, müssen das Vertrauen in den Choreographen und sein Projekt und die (stillschweigende oder explizite) Zustimmung aller Partner zu einer gemeinsamen Referenz einen eindeutigen Weg durch die gefährlichen Schatten jener unterschiedlichen Stadien eröffnen. Im Ausland, besonders in Deutschland, wo dies eine vom modernen Theater übernommene Tradition ist, wurde die Funktion des ›Dramaturgen‹ geschaffen, dessen Aufgabe es ist, dem Choreographen eine Bandbreite von aus unterschiedlichen Wissensbereichen geschöpften Referenzen zu liefern, die, je nach dem Augenblick ihres Einsatzes, als Antriebe der Inspiration, als ideologische Rechtfertigung, oder auch als ästhetische Wiederbelebung in bestimmten Etappen der Schöpfung dienen können. Marianne Van Kerkhoven erfüllt diese Funktion bei Anne Teresa De Keersmaeker und bringt dabei ihre Theatererfahrung ein, die die Arbeit der Choreographin maßgeblich beeinflusst. In Frankreich ist der Choreograph zumeist sein eigener Dramaturg, auch wenn sich bei bestimmten Stücken ›Assistenten‹ um die ikonographische oder literarische Forschung kümmern. Alain Neddam hat in dieser Funktion für Dominique Bagouet gearbeitet, zunächst anlässlich von »Mes Amis« (1985), einer Choreographie für einen einzelnen Schauspieler zu einem Text von Emmanuel Bove. Wenn man sich in Erfahrungen stürzt, die so wenig klar abgegrenzt sind, ist es ver15 | Ebd.

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mutlich besser, zu mehreren zu sein, um die Dinge klarer benennen zu können. Abgesehen von den wirtschaftlichen Gründen gibt es im französischen Tanz eine übrigens äußerst schlüssige Überzeugung, nämlich, dass sich der Tanz nicht ausgehend von bereits etabliertem Wissen thematisieren soll, sondern dass er das Wissen Stück für Stück aufnehmen soll, in dem Rhythmus, in dem die schöpferische Dynamik entsteht und sich dann im Wechselspiel zwischen Interpret und Zuschauer von einer Etappe zu nächsten weiterentwickelt. Alle (spannenden) Texte von Tänzern und Choreographen, die jene Ausgangspunkte der Schöpfung beschreiben, zeigen, wie ein Thema vorgeschlagen wird: wie das schöpferische Team daran arbeitet, mit geleiteten und improvisierten Ansätzen, und wie der Blick des Choreographen wahrnimmt, was zurückkommt, was sich dabei enthüllt, was daraus entsteht. Denn der Tanz findet sein Erblühen, seine Daseinsberechtigung und seine Legitimität nach und nach durch eine Serie von ›Reaktionen‹, umkehrbaren Verfahren der Produktion, der Transmutation oder der Fortbewegung in der Gruppe. In diesem Sinne ist jede wirkliche Schöpfung ein Vorstoß, also eine Forschungsarbeit (es sei denn, sie übernimmt frühere Schemata). Wer je den Proben zu einem Stück im Augenblick seiner Gestaltung beigewohnt hat, weiß, mit welcher Strenge, welchem Anspruch und welcher Radikalität die Tänzer über das zu Tage getretene Material diskutieren, über die Schlüssigkeit dieser oder jener Ausrichtung. Immer mehr ernsthafte Untersuchungen beschäftigen sich heutzutage, ausgehend von gleichermaßen deskriptiven und analytischen Texten, mit der Annäherung an jene ›Sitzungen‹ in jeder Bedeutung des Wortes, die in den ursprünglichsten kreativen Akt münden, den es gibt. Wir haben Jackie Taffanels Doktorarbeit L’atelier du chorégraphe (»Die Werkstatt des Choreographen«) zitiert; es ist klar, dass der Zeuge (oder der Akteur) der Anfänge des Werks als einzige Person in der Lage ist, gleichzeitig die Wahrnehmung der Ereignisse und den ästhetischen Modus ihres Erscheinens zu versammeln. Auch wenn der choreographische Akt in der (aktiven) Formulierung seines Anliegens ein geteilter Akt mit vielfachen Echos ist, befindet sich dennoch ein unerwünschter Partner, ein blinder Passagier, an Bord so mancher künstlerischen Unternehmung: ›der innere Zuschauer‹, der im Namen der öffentlichen Meinung Urteile fällt und aufhebt, während das Werk gestaltet wird, und der in sich die Kriterien des Konsenses trägt. Einmal mehr ist es Michel de M’Uzan, der die treffendste Definition für jenen oft gegen unseren Willen verinnerlichten ›Blick‹ liefert, der in der Lage ist, den Schöpfer und sein Team den Gesetzen der Gefälligkeit nachgeben zu lassen: ein gleichzeitig gefährlicher und unverzichtbarer Adressat (um nicht im narzissischen Kreise einer unproduktiven Regression stehenzu-

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bleiben). Das was der Analytiker ›das innere Publikum‹ nennt, reproduziert den elterlichen Blick, den das Kind verführen möchte, um geliebt zu werden.16 Im Tanz ist dies eine gefährliche Situation: Gefährlich für den Tänzer, gefährlich für den Zuschauer, da es der Körper selbst ist, der hervorgebracht, gezeigt (im Falle des Tänzers) und durch die Kinästhesie angesprochen (im Falle des Zuschauers) wird. Michel Bernard vertieft jenen Begriff grundlegend, indem er ihn auf die allgemeine Körpererfahrung zurückführt und indem er in der Nachfolge von Merleau-Ponty an den ›Chiasmus‹ zwischen der Wahrnehmung des Körpers des anderen und der Rückwirkung des Blicks des anderen auf das Körpersubjekt erinnert, der seinerseits der sensorischen Erfahrung Nahrung verleiht.17 Denn genau die Beziehung zwischen dem Blick des anderen auf den Körper und dem, was im choreographischen Werk gestaltet wird, eröffnet das choreographische Feld. Daher rührt die Zerbrechlichkeit eines so komplexen Netzes einander spiegelnder Blicke, auch auf narzisstischer Ebene. Dennoch gibt es keine Umgebung, in der jenes ›innere Publikum‹ stärker ausgelöscht wäre, als in einer Tanzcompagnie. Was nicht heißt, dass keine Begegnung mit dem ›wirklichen‹ Publikum vorgesehen ist. Auch wenn dieses Publikum jenen Blick möglicherweise wie in längst vergangenen Zeiten durch den Archaismus eines ›Urteils‹ ersetzen könnte, das gleichzeitig über die künstlerischen Äußerungen und die Anwesenheit der Körper gefällt würde. Nun werden wir aber feststellen, dass die Kriterien von Lesbarkeit und die Projektion von Empathie Bestandteile sind, die den choreographischen Akt ausmachen. Doch steht am Anfang jene wunderbare Kraft des zeitgenössischen Tanzes, mit Anspruch sein Anliegen zu isolieren, es, wie Daniel Larrieu so schön sagt, ›in Gesellschaft‹ (›en compagnie‹) zu formulieren oder zu modulieren. Genau dadurch wird die ›gesellschaftliche Neurose‹, die sich nach Meinung des von Michel Bernard zitierten Psychoanalytikers Paul Schilder 18 auf die Anwesenheit eines Körpers richtet, dadurch umgangen, dass eine gemeinsame Referenz die Gestaltung einer ›Referenz‹ als Alternativbegriff erlaubt, durch den sich der Tänzer der ödipalen Beziehung zu entziehen vermag. Es handelt sich um jenen von Hubert Godard erwähnten ›dritten Ausdruck‹, der wesentlich dafür ist, ausgehend von einem Körperzustand einen choreographischen Dialog zu etablieren, mit dem alle Seiten einverstanden sind. Dies ist nur in jenen Gemeinschaften von Tänzern möglich, die ich als ›philosophische Gemein16 | Michel de M’Uzan: De l’art à la mort, S. 17 und 21. 17 | Michel Bernard: »Àpropos de trois chiasmes sensoriels«, in: Nouvelles de Danse Nr. 17, 1993, S. 56-64. 18 | Michel Bernard: Le corps, Paris: Éd. Universitaires 1978, Neuauflage coll. »Points«, S. 29-30.

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schaften‹ bezeichnen würde, weil darin zwei Aktivitäten am Werk sind: das Einverständnis über die gemeinsamen Ideen und ihre Praxis. Jenes Einverständnis reicht tiefer als in anderen schöpferischen Gemeinschaften. Es beruht unter anderem auf einem Erfahrungsbereich, der während des täglichen Trainings geteilt wird, oder während der unterschiedlichen Typen von Workshops, die den Tänzern angeboten werden. Somit ist der ›Unterricht‹ in der Compagnie, eine wichtige Möglichkeit, um unter den Tänzern einen Bereich gegenseitiger Körperkenntnis zu schaffen, von dem ausgehend man sich verständigen kann. Dieses Einverständnis kann auch andere Grundlagen haben. Bei Trisha Brown zum Beispiel gibt es keinen ›Unterricht‹ in dem Sinne, sondern eine Vorbereitung gemäß unterschiedlicher von den Tänzern selbst gewählter Methoden, vorzugsweise durch die unterschiedlichen Techniken des ›release‹, oder durch andere, noch stärker verfeinerte, wie Klein-Technik oder Ideokinesis. Doch beherrschen all diese Tänzer eine große Bandbreite von Körperwissen und nehmen von vornherein wahr, durch welchen Kontext ihre Partner an die Schwelle der gemeinsamen Arbeitssitzungen gelangen. Dort lässt sich der Bereich des Einverständnisses ohne Probleme etablieren und erlaubt eine wirkliche Dialektik, als Blick nicht auf ein Dispositiv der Verführung, sondern auf ein Dispositiv der Stimmigkeit. Woher kommen diese Kraft und dieses Dispositiv? Aus mehreren Quellen: aus der Kompositionsausbildung, die eine strenge und angemessene Sichtweise auf die Anfänge und auf ihre Entwicklungen erlaubt, und aus der Beziehung Choreograph-Tänzer als Vermittler zwischen mehreren referenziellen Orten des Blicks, wo sich der Archaismus der Affektivität zu Gunsten eines anderswohin gerichteten Verlangens auflöst. Jene Reduktion räumt keineswegs die Risiken von Entgleisungen oder narzistischen Verletzungen aus, ist jedoch auf ästhetischer Ebene äußerst heilbringend. Es ist zum Großteil jenem Mechanismus zu verdanken, dass sich der zeitgenössische Tanz die Kraft und Diversität erkämpft hat, mit der man ihn heute kennt. Die Tanzcompagnie ist ausreichend mit Praktiken ausgestattet, um die durch den Konsens auferlegten Schemata zu überwinden und sich zum Unbekannten hin aufzumachen. Wie man schon vermutet, ist sie trotzdem noch lange keine Therapiezelle: Durch die Beziehung zum Blick des anderen bleibt die gelebte Körpererfahrung gefährlich. Das Vorausahnen der Schatten, auch in der Bewegung selbst, kann den Tänzer (und vielleicht auch seinen Zuschauer) jeden Augenblick in unvermutete Abgründe stürzen. Manche haben dem Abgrund sogar freiwillig regelmäßige Besuche abgestattet: Anita Berber, Valeska Gert, Dore Hoyer – Tänzerinnen, für die der Tanz erst in jenem Moment des Bruchs begann, wo jeder Blick auf sie unerträglich wurde.

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Am Anfang eines jeden Stücks liegen zwei Dinge, oder zumindest eines: das Anliegen und das Thema. Das Thema ist das, was als erstes vorgegeben wird, es ist die Grundlage, von der ausgehend man beginnen kann, sich zu verständigen. Das Anliegen wäre eher vom Rang eines Ziels oder einer Intentionalität (auch wenn der letztere Ausdruck, der sich auf einen sehr spezifischen Gebrauch im zeitgenössischen Tanz bezieht, nicht leichthin benutzt werden kann). Es kann sich erst im Laufe des Arbeitsbeginns enthüllen. Allerdings kann sich das Anliegen auch unabhängig von jeder Konstruktion einschreiben: und sei es nur, um sich selbst auszulöschen. Wie wir sehen werden, kann es in manchen Praktiken das Anliegen sein, kein Anliegen zu haben, von einer Nacktheit auszugehen, darauf wartend, das ein verschwommenes poetisches Material, das man nicht vorausahnen kann, zwischen den Tänzern Gestalt annimmt. Das Anliegen eines Werks kann innerhalb seiner Materie, seiner Struktur versiegelt bleiben. Manchmal wird die Intention so sehr in die Turbulenz dessen hineingezogen, was sich auf baut, dass sie sich dem ursprünglichen Anliegen entzieht. So sieht Michael Baxandall die figurative Absicht in Picassos Portrait von Kahnweiler ihrer selbst im Tumult der Ebenen beraubt.19 Denn in der Malerei zum Beispiel tragen manche bedeutenden Werke ihr Anliegen mit sich fort. Allerdings ist es ungewiss, ob sich solche unerwarteten Wendungen auch im Tanz ereignen können: Das Durchhalten der Absicht in der Komposition, ihre Behandlung, bei der es gleichermaßen auf Freiheit und Kohärenz ankommt, sind im zeitgenössischen Tanz absolute Forderungen des künstlerischen Bewusstseins. Um die Schlüssigkeit jener Haltung herum arbeitet, gestaltet und versammelt sich die choreographische Gemeinschaft. Gewiss handelt es sich nicht um einen formalen Panzer. Im Gegenteil: Was zum Beispiel in der Improvisation entsteht, muss besonders aufmerksam darauf hin untersucht werden, ob das Anliegen sich darin noch wiederfindet. Doch oft lassen gerade irrational anmutende Wege andere Schichten der Intentionalität erscheinen. Das Problem für den Leser des Tanzes wird es sein, jenes Anliegen zu begreifen, das nicht unbedingt narrativ ist. Hier muss ein wesentlicher Unterschied zwischen der Referenz und dem Anliegen gemacht werden. Im französischen und flämischen Tanz oder im Tanz aus Québec zum Beispiel, Strömungen, in denen die (literarische, kinematographische) Bildung einen bedeutenden Platz einnimmt, kommen häufig Referenzen vor, auch im Titel des Werks. Doch muss dies nicht heißen, dass jene Referenzen die poetischen Inhalte des Werks bestimmen, und auch nicht, dass sie sich vollkommen mit den Begriffen des Anliegens überschneiden. Auch 19 | Michael Baxandall: Ursachen der Bilder. Über das historische Erklären der Kunst, Berlin: Reimer 1990, S. 38.

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wenn eine Erzählung zum Einsatz kommt, findet sie nicht immer innerhalb des Projekts statt. In den Stücken von Christine Bastin zum Beispiel, wo das thematische und narrative Potenzial beträchtlich scheint und die figurative Situation klar angegeben ist, dient der Referenzrahmen nur als Skizze, um eine körperliche und emotionale Katastrophe voranzutreiben, die keinerlei illustratives Ziel hat. Nun spielen aber die Stücke von Bastin, die oft von literarischen Quellen inspiriert sind (wie ihr Stück »Siloé« aus dem Jahr 1995), mit der Uneindeutigkeit jener widersprüchlichen Antriebe. Die stimmliche Anwesenheit eines auf der Bühne vorgetragenen Textes trägt mehr zur Zerlegung als zu einer homogenen Neuausrichtung der verwendeten Elemente bei. Eigentlich ist Bastins Anliegen fast immer verschieden vom Inhalt des Textes, auf den es sich bezieht, auch wenn es sich um so prägnante Werke handelt wie Lowrys Roman »Unter dem Vulkan«. Jener mögliche Abstand zwischen Referenz und Anliegen ist eine der schönsten Errungenschaften des zeitgenössischen Tanzes. Man kann mit ihm alle möglichen Werke behandeln, von Marguerite Duras (»Des Sites« von Susan Buirge, nach »Savannah Bay«, 1983) bis Heiner Müller (»Matériau Désir« von Christian Bourigault, 1994), ohne wie die Cineasten gezwungen zu sein, dem linearen Ablauf des Textes zu folgen. Denn der zeitgenössische Tanz hat die ›Fabel‹ im traditionellen Sinne äußerst nachhaltig zerstört. Auch wenn wir mit Deleuze glauben können, dass die Maschinerie des Kinos einen Ablauf durchgesetzt hat, in dem das Zeit-Bild seine eigene Dynamik hervorbringt, bleibt dennoch die Erzählung bestehen, die die Ausrichtung ihres Vektors vorgibt. Nehmen wir als extremes Gegenbeispiel im zeitgenössischen Tanz Santiago Semperes bemerkenswerte Arbeit »Don Quichotte: petites et grandes morts« (1990). Man würde darin vergeblich nach irgendeinem unmittelbaren Bezug auf den Roman von Cervantes suchen. Das literarische Werk bleibt im Zwischenreich einer gespenstischen Referenz verborgen. Die wirkliche Referenz ist der Mythos eines Schriftstellers und eines berühmten Buches, die alle beide ihrer Identität beraubt worden sind, und vielleicht sogar, wie bei Borges, ihrer Existenz. Dieses Anliegen legt Santiago Sempere in einer hervorragenden Absichtserklärung dar. Dem Leser des Tanzes bleibt die Sorge überlassen, die Art und Weise wahrzunehmen, wie das Anliegen behandelt wird: als Figur des Identitätsverlusts (übrigens typisch für Sempere) durch ein intelligentes Chaos von Handlungen, die im pseudo-realistischen Bühnenbild eines Wohnzimmers mit unzusammenhängendem und abgenutztem Mobiliar aus der Gegenwart ausgeführt werden. Zunächst zum ›Thema‹: Jeder Tanz hat ein Thema, ob nun narrativ oder nicht. Außer vielleicht jenes Stück von 1934, »Drama in Motion«, von dem

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Doris Humphrey behauptete, dass sie dafür keinerlei Elemente außerhalb des Tanzes selbst benutzt habe: weder Musik, noch Bühnenbild, noch ›Literatur‹ (keine Erzählung). Dennoch bleibt darin eine ›Absicht‹ bestehen: einen Tanz zu machen, der vollkommen autonom von jeglicher Inspirationsquelle außerhalb der Bewegung sein sollte. Daher rührt der Titel, der sich auf eine »Dramaturgie der Bewegung« bezieht. Natürlich ist das Thema nicht unbedingt narrativ. Wenn Jackie Taffanel sich zu ihren Themen äußert, tut sie dies in ähnlicher Weise, wie es auch Karin Waehner tun könnte: Sie spricht vom Umgang mit der Schräge, mit der Stütze, mit der Abfolge von Stürzen.20 Manchmal beruht eine Choreographie auf einer einzigen Geste, die wiederholt, vergrößert, oder Varationen, Verzerrungen usw. unterworfen wird. Auch wenn das ›Subjekt‹ (im wörtlichen Sinne) des Stücks sich in eine vollkommen andere Richtung orientiert, bleibt jene Initialgeste vielleicht bis zum Schluss die geheime Grundthematik. Jacqueline Robinson zitiert Isadora Duncan, die als erste eine Schlüssel-Geste herausarbeitete, die zum dauerhaften Element eines Tanzes wurde, und gleichzeitig zu seinem ›Sem‹, im Sinne eines hervorbringenden Samens, aber auch im Sinne eines semantischen Kerns. Diese Idee wurde von Wigman sowohl in ihrer Lehre als auch in ihrer Kunst übernommen: Es galt, herauszuarbeiten, was Nikolais später die einzigartige Geste nennen sollte, die unvorhersehbar, unbekannt, vollkommen grundlegend, und vielleicht für immer unsichtbar bleibt. Hubert Godard gibt dagegen zu verstehen, dass sich ein ganzes Werk und vielleicht sogar eine choreographische Sprache um eine ›fehlende Geste‹ herum anordnen, deren gestischer Diskurs dazu dient, ihre unumkehrbare Abwesenheit auszufüllen.21 Es kann sich um ein gestisches Dispositiv handeln, welches das Gerüst eines Werks untermauert: So wählt José Limón in »Moor’s Pavane« das shakespearesche Drama um Othello als Oberflächenerzählung. Doch geht es eigentlich, wie es im Übrigen der Titel zu verstehen gibt, um eine Pavane mit der durchgehaltenen Struktur (auch wenn sie sich räumlich zu verstreuen scheint) einer Anordnung von vier Personen im Kreis: zwei einander gegenüberstehende Paare, wie sie Caroso oder Negri zu Beginn des 17. Jahrhunderts beschrieben. Jener Kreis erlaubt die Verwendung des gesamten poetischen Materials des Stücks: blumenförmige, vom Zentrum des Reigens ausgehende Öffnungen hingegebener Oberkörper, Kreuzbeziehungen zwischen den Bühnenfiguren, Einsamkeit des am Boden ruhenden Körpers von Desdemona, da der Tod nichts anderes ist, als das Ver20 | Karin Waehner: Outillage chorégraphique, S. 29-38. 21 | Hubert Godard: »Le geste manquant«, in: Io, revue internationale de psychanalyse Nr. 5, 1994, S. 63-75.

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lassen des Kreises der Lebenden… Wie wir gesehen haben, dient der Kreis vielen von Limóns Stücken als Antriebskraft. Wahrscheinlich kommt er auch bei den thematischen Entscheidungen des Choreographen, die sich häufig um menschliche Gemeinschaften drehen (»There is a Time«, »The Unsung« etc.), als Kreisförmigkeit der Beziehung zum Tragen. Als Übergang von der sphärischen Räumlichkeit Limóns zur von der Ausrichtung geprägten ›Ebene‹ Cunninghams, zitieren wir »Summerspace« (1963): Cunningham gibt sich darin das schnelle Durchqueren des Raums als Thematik vor und geht wie in »Torse« von den Bewegungen aus, die jener Körperpartie eigen sind. Es handelt sich um ein wahres Manifest des zeitgenössischen Tanzes, wenn man die besondere Bedeutung betrachtet, die ihm die Vertreter der Moderne beimaßen. Wie man an jenen Beispielen sieht, gibt sich der Choreograph fast immer eine funktionale Äußerung in Bezug auf die Bewegung oder auf den Umgang mit Raum und Zeit als Thema vor (wie jene Stücke von Cage, die nur die Zeitmaterie behandeln, unter Ausschluss aller anderen musikalischen Parameter). Man darf Thematik und Narration nicht miteinander verwechseln. Das Thema liegt in der Skizze oder in der Äußerung; die Narration ist eine Entwicklung. Unter ›Narration‹ versteht man im Tanz häufig das, was sich dem Theater annähert. Die Spezialisten für die darstellenden Künste, von Christian Metz bis Patrick Pavis (Theater und Kino im Wesentlichen), haben daraus eine allgemeine Kategorie innerhalb der Dispositive der sogenannten ›Narration-Monstration‹ gemacht.22 Diese Kategorien übernehmen ihrerseits die antike Dualität von mimesis (Imitation) und diegesis (Erzählung), die Platon vor Aristoteles formulierte.23 Durch den ›monstrativen‹ oder mimetischen Charakter der Bewegung war der Tanz, wie wir gesehen haben, stets in Versuchung, zur Erzählung zu werden. Seine Nähe zum Ort des Theatralen leistet dieser Neigung weiteren Vorschub. Doch gibt es in der Poetik des Tanzes auch noch eine andere Theatralität: die Einrichtung einer ›Szene‹, wo die Körper, aber auch die kompositorischen Antriebe durch das Spiel der Dynamiken und Kontraste eine ›Dramatisierung‹ ohne Erzählung organisieren, eine konfliktuelle oder progressive Struktur von Energien oder Farben. Die Angelsachsen nennen dies ›dramatic‹, ohne dass dabei irgendeine Idee von theatraler Handlung im Spiel wäre. ›Dramatic‹ sagt man gemeinhin zu allen sogenannten abstrakten Kompositionen, von Humphrey bis Cunningham. Denn genau das Fehlen von Erzählung und Mimetik führt sie zu den Wurzeln eines reinen ›Dramas‹ zurück, das 22 | Siehe Christian Metz: Le signifiant imaginaire, Paris: Christian Bourgeois 1984 und Patrick Pavis: Voix et images de la scène, Villeneuve d’Ascq: Presses de l’Université Lille III 1985. 23 | Siehe unser Kapitel POETIK DER BEWEGUNG, S. 91-112.

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nicht einmal mehr Inhalte benötigt, um seinen Aktualisierungsrahmen zu begründen. Die Narration kann wie in den alten Formen im Vorfeld des Werks konstituiert werden. So wie in der Strömung des Tanztheaters24, jener von Laban geforderten ›Dramaturgie, die es für den Tanz zu erfinden gilt‹, und in seiner Nachfolge, den »Libretti« von Jooss, einer expliziten Fabel, die der Tanz in einen ›Akt‹ verwandelt und sie so historisch in eine (kritische) Darstellung der Wirklichkeit einschreibt. Wir haben bereits auf die Beziehungen hingewiesen, die sich zwischen diesem Verfahren und der Verwendung der ›Fabel‹ im brechtschen »Gestus« herstellen lassen.25 Das Tanztheater26 rief nämlich eine virtuelle verbale Szene hervor, von der ausgehend sich der menschliche Akt mit all seinen Bezeichungen und Determinierungen durch das gesellschaftliche Miteinander in Bewegung setzen konnte. Dies geschah durch eine angemessene Behandlung der Geste, weniger im Hinblick auf eine mimetische ›Expressivität‹, als auf eine Arbeit an der Tiefensymbolik der Bewegung und ihrer Beziehungkonstellationen: Ausrichtungen, Spannungen, Betonungen, Rhythmen usw. Dies macht das Tanztheater zu einer nicht-naturalistischen Kunst, einer Kunst, die dem Zuschauer Informationen über die energetische Ökonomie eines individuellen oder kollektiven menschlichen Akts liefert, weit mehr als über das formale Aussehen jenes Akts. Abgesehen von jenen mittlerweile historischen Figuren der Narration wird die ›Erzählung‹, die heutzutage im zeitgenössischen Tanz auftritt, organisch im Körper des Werks gestaltet. Das narrative Material, wie zum Beispiel die ›Bühnenfigur‹, wird durch Improvisationen zu Anfang der Arbeit entdeckt. Manchmal ist die ›Bühnenfigur‹ das thematische Ursprungselement eines Solos oder einer Gruppenkomposition. Man muss Mary Wigmans bewunderswerten Text über ihre ›Entdeckung‹ der Figur der ›Hexe‹, das Thema ihres »Hexentanzes« lesen, als sie in eine Fahne gewickelt im Spiegel das schreckliche uneingestehbare Antlitz des rohen Wesens erscheinen sah, das sie in sich trug, ohne es zu wissen.27 Jene Arbeit an dem Anderen in mir, den ich nicht kenne, war einer der Antriebe des Ausdruckstanzes28, der den Tänzer in die Nähe eines besessenen Wesens mit gespaltener und unklarer Identität rückte. Ein Wesen der Finsternis, das der Tänzer in seinem Inneren nährt und das er in den Falten der Improvisation entdeckt. Die Improvisation bei Pina Bausch ist ganz und gar in der Nachfolge dieser Bewegung 24 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü. 25 | Vgl. Laurence Louppe: »Kurt Jooss et le Tanztheater«, in: Programme Jooss, Opéra du Rhin, Oktober 1994; und Laban: Ein Leben für den Tanz. 26 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü. 27 | M. Wigman: »Hexentanz«, in: Die Sprache des Tanzes, S. 42-44. 28 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü.

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angesiedelt (obwohl sich die Choreographin weigert, es explizit anzuerkennen). Ihre Arbeitsweise lässt unaussprechliche (oder lächerliche) Formen erscheinen, gescheiterte Begierden, regressive Phantasien. Jener ›Andere‹, den es zu erfinden gilt (das heißt im etymologischen Sinne, zu finden oder zu erkennen), ist immer noch der Ausgangspunkt, wenn nicht von Stücken, so doch von Workshop-Projekten, und rückt die Praktiken im Tanz in die Nähe zu manchen herausragenden Theaterpraktiken, von Barba bis Langhoff, wo sich die Suche nach der Bühnenfigur durch das Innere des Akteurs vollzieht. Die Bühnenfigur oder -figuren können nämlich der Ursprung einer Thematik sein, deren Verlauf das Stück entwickeln wird. Dies ist häufig bei Gallotta oder bei Nadj der Fall. Vor allem bei Nadj handelt es sich dabei um mythische Figuren, die einem kollektiven oder persönlichen Gedächtnis entstammen, und die es eher ›wiederzufinden‹ als zu ›erfi nden‹ gilt. Im Großen und Ganzen fasst die zeitgenössische Choreographie die ›Bühnenfiguren‹ jedoch nur wenig in eine kontinuierliche Narration ein. Im Gegensatz zum Theater sind ›Bühnenfigur‹ und ›Rolle‹ nicht immer deckungsgleich, oder sind es in uneindeutiger Weise, so dass der Tänzer meistens die Rolle dessen tanzt, der er ist (»Le saut de l’Ange« von Bagouet ist in dieser Beziehung exemplarisch), oder während des Stücks die Rolle wechselt, da eine einzige Bühnenfigur zwischen unterschiedlichen Interpreten hin- und herschwanken kann, und umgekehrt. Die Narration schreitet hier in Sprüngen voran und rekonstruiert eine Erzählung von ›Zuständen‹. Jene Zustände sind nicht kontinuierlich und bringen figurale Partikel hervor, die ein einziger Tänzer durchqueren kann, sogar ohne dass sein Körperzustand davon berührt würde. Es handelt sich um ein Funktionieren durch Assoziation, bei dem das Projekt einer linearen Narration nur wenig Halt findet. Michèle Febvre hat die Windungen und Modalitäten dieser Funktionsweise sehr treffend analysiert: »Die Gesamtheit dessen, was heute getanzt wird, entzieht sich jeglicher dramaturgischen Kontinuität und äußert sich als Folge oder Aneinanderreihung von Sequenzen, deren Verbindungen untereinander unklar sind und nichts mit irgendeiner narrativen Organizität zu tun haben.«29 Die Autorin erwähnt überdies was sie die ›Verfahren der Verzweigung‹ nennt, in denen der Begriff der Erzählung verkümmert, sich verliert oder verfremdet wird, sobald die Behauptung einer möglichen Erzählung niedergelegt ist. Zwar liegt darin eine Kontaminierung des Tanzes durch die literarischen Formen der Moderne, von Joyce bis hin zum Nouveau Roman, doch lässt sich jene Fragmentierung auch durch das ›Anliegen‹ und den daraus resultierenden Schaffensprozess erklären. 29 | M. Febvre, S. 122.

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Die Narration ist nicht von vornherein gegeben, sie gestaltet sich im und mit dem Körper. »Jede Bewegung ist da, weil sie da sein muss, weil in einem bestimmten Augenblick des schöpferischen Prozesses die Selbstverständlichkeit erscheint, für die es oft müßig wäre, einen Grund zu suchen (man könnte tausende dafür finden!), außer dem, dass das angebracht ist.«30 Das Urteil ist streng, und manche choreographischen Unternehmungen zeigen sich anspruchsvoller in Bezug auf die Relevanzkriterien, die im Hinblick auf eine besser beherrschte Lesbarkeit diskutiert und erforscht werden. Die Ausgangsthematik oder ›Situation‹ (das Anliegen, auf dessen Grundlage sich eine lesbare Gestalt31 entwickeln sollte, wie es Nikolais formuliert) wird somit je nach Geschmack der sinnlichen und körperlichen Instanzen der Tänzergemeinschaft bearbeitet, die ihr ihr wirkliches, zu Beginn unbekanntes Profi l verleihen werden. Jene Modi der Narrativität, zwischen der körperlichen Notwendigkeit des Auftauchens einer Bewegung und dem ›literarischen‹ Referenten, sind es, die den narrativen Tanz zu einer neuartigen, vollkommen zeitgenössischen Erzählform machen. Allerdings stellt Michèle Febvre in ihrer Untersuchung der ›choreographischen Erzählung‹ zu Recht die Frage nach der Koexistenz von diegetischen Verfahren (wo sich der Diskurs durch die Vermittlung eines sprechenden Erzählers vollzieht) und unbestreitbaren Figuren einer ›Mimetik‹, die innerhalb ein und desselben Werks zur ›Monstration‹ eines Akts ›in Echtzeit‹ führen können. Noch vor jeder ›Monstration‹ liegt jene berühmte Dramaturgie des Tanzes, von der bereits Laban sprach, und die unvermeidlich ist, da sich die Gestaltwerdung eines Sinns durch die Anwesenheit und den Akt eines Subjekts ›in Bewegung‹ vollzieht. Wie wir gesehen haben, hat jede Bewegung, auch wenn sie keine unmittelbar mimetische Funktion hat (was im zeitgenössischen Tanz mehr als selten ist), den Wert eines Akts in der Entwicklung ihrer Materie selbst. In dieser Hinsicht legt ›die choreographische Erzählung‹, deren gesamte Vieldeutigkeit Michèle Febvre erwähnt (auch ihren Status als ›Erzählung‹), ganz gewiss den Grundstein für eine neue Narrativität, eine jener neuen Fiktionsarten, für die uns Kino, Video und bildende Kunst seit einigen Jahren nah verwandte Beispiele liefern: Es geht nicht darum »was erzählt wird, sondern um die Perspektive, die es eröffnet.«32 In der Folge der Forschungsarbeit von Michèle Febvre über jene choreographischen Gebiete und über die ›Narration-Monstration‹, sollte man eines Tages jene fi ktionalen Dispositive weit über den Tanz hinaus hinterfragen, die den Körper als gleichermaßen expressives und existenzielles Medium einer nicht immer vorgetragenen 30 | Ebd., S. 113ff. 31 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü. 32 | Vgl. Gérard Genette: Nouveau discours du récit, Paris: Seuil 1983.

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Sprache einsetzen. Einer Sprache, die, wenn sie vorgetragen wird, weniger die Erzählung als die Inszenierung ihres eigenen Vortrags trägt (wie J.-L. Godards wunderschöner Videofi lm »Puissance de la Parole«, 1990). Doch soll es an dieser Stelle nur um eine ›Thematik‹ gehen, die nach einem Modus der Narration ruft, und nicht um eventuelle Erzählverfahren zu ihrer Entwicklung. Bestimmte thematische Raster sind weitaus schwieriger zu enthüllen. Und zwar besonders deshalb, weil der Choreograph sie verborgen hält, sie erst später preisgibt, wenn das Werk bereits gelebt und sich entwickelt hat. Manchmal gibt er sie überhaupt nicht preis. Die Arbeit des Verbergens vollzieht sich in Bezug auf einen Teil der Absicht und auf die Materialien, die während der Gestaltung eingesetzt wurden. Es kann sich um ein Verbergen vor dem Publikum handeln und sogar um ein Verbergen vor den Tänzern. Manchmal, was in einer so anspruchsvollen und strengen Kunst seltener ist, auch um ein Verbergen vor dem analytischen Bewusstsein des Schöpfers selbst. Hell oder dunkel, bekannt oder latent, nähren jene Quellen das Werk, manchmal nur zeitweilig, wie kurz aufflackernde Signale. Jene Momente des Auf blitzens von Sinn, die im zeitgenössischen Tanz so präsent sind, werden wir hier ›Referenzen‹ nennen, um ihren oft verhüllten oder von der Kernevidenz des ›Themas‹ abgehobenen Zeigecharakter zu bezeichnen. Denn je weniger sichtbar oder bekannt die Thematik ist, desto mehr entspinnt sich das unendliche Netz von Referenzen, deren latente Anwesenheit dem Werk ein Echo verleiht, das wesentlich größer ist, als wenn sie es auf einen Schlag in einem gegebenen Anliegen verankern würden. Stéphanie Aubin spricht sehr treffend von einem ›verborgenen Text‹.33 Jener Subtext hat weder etwas Lineares, noch etwas Konstituiertes. Er kann aus Fetzen von Anspielungen bestehen, kleinen Textsplittern, die sich zusammenfügen oder auseinanderfallen, ohne jemals den Ort ihrer Herkunft zu enthüllen, oder aus Zitaten mit halbverschleierten Quellen, die bereits zur Hälfte ausgelöscht erscheinen, wenn sie auf der Bühne zum Vorschein kommen. Dazu tragen in der Gesamtheit der Konstruktion, wie auch in den einzelnen konstituierenden Elementen, die strukturellen und funktionalen Analogien bei, die zahlreiche Tänze mit dem Bereich der Literatur unterhalten. Vor allem das kontinuierliche Gerüst einer Handlung, das sich, selbst wenn es nicht unmittelbar narrativ ist, an das Syntagma der Erzählung annähern kann. An eine von Ereignissen (und Erscheinungen, wie Dominique Dupuy sagen würde) gebildeten Erzählung körperlicher oder 33 | Stéphanie Aubin in: Dossier des débats sur la relation entre la musique et les autres arts, Paris: IRCAM 1996.

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sinnlicher Natur, die nicht unbedingt in eine für den Zuschauer nachvollziehbare Handlung mündet. Innerhalb jener Entwicklung können Verfahren zum Einsatz kommen, deren Isomorphismus mit den Figuren des literarischen Schreibens deutlich hervortritt: Apostrophen, Verschiebungen einer Äußerung durch Metonymie, Verkürzungen durch Kollision, Aussparungen oder Kondensierung; Ausdehnung durch Periphrasen. Zwar sind dies eigentlich Elemente der Phrasierungen, doch machen sie auch die hervortretenden Kämme des ›Textes‹ aus, der nach außenhin nur durch jene punktuellen Organisationen in Erscheinung tritt. In einer Studie mit dem treffenden Titel »Le secret visible« (»Das sichtbare Geheimnis«) erwähnt Marcia Siegel den literarischen Subtext des Werks von Paul Taylor, den sie als »literarischsten (litterary) Choreographen unserer Epoche« bezeichnet.34 Unter einem ›irreführend naiven‹ Anschein kultiviert jener Tänzer nämlich, wie Siegel aufzeigt, ein anerkanntes schriftstellerisches Talent (das er wie Jean Claude Galotta hinter Pseudonymen verbirgt). Er äußert diesen literarischen Hintergrund vor allem durch die Verwendung ›literarischer Werkzeuge‹ in seiner choreographischen Arbeit. Das heißt durch »visuelle Anspielungen, Doppelsinne, Metaphern, oder Handlungen, die Themen oder Figuren wie Leitmotive in der Musik einsetzen«: Elemente, die sich durch die verhüllte Materie einer Erzählung umso besser in die choreographische Entwicklung überführen lassen. Es handelt sich um eine Erzählung, in deren tänzerischer Handlung sich eine verborgene Allegorie konzentriert.35 Hierbei können die unterschiedlichsten Elemente ineinandergreifen und sich in seltsamer (und für den zeitgenössischen Tanz absolut spezifischer) Art und Weise gegen eine zusammenhängende und einmalige kompositorische Grundsatzentscheidung wenden. Bei Cunningham verweben sich manchmal komplexe thematische Raster miteinander: »Sixteen dances for soloists and Company of Three« wirkt auf den ersten Blick wie ein typisches Programmstück, da es 34 | Marcia Siegel: »Visible secrets«, in: Gay Morris (Hg.): Moving Words,

S. 23-42. 35 | Wir verwenden dieses Wort ganz bewusst, denn allegorische Verfahren erfreuen sich im amerikanischen ›modern dance‹ großer Beliebtheit: Sowohl bei Limón als auch bei Graham sind die Handlungen nicht unmittelbar »deskriptiv« oder »monstrativ«; sie erfinden sinnbildliche Strukturen oder allgemeine Darstellungen der angesprochenen Situationen. Gemäß Marcia Siegels Beschreibung seines Stücks »Speaking in Tongues« (1995) scheint Taylor jene Funktionsweise fortzuführen. In diesem Sinne lehnt sich Taylors Erzählweise an literarische Vorbilder an, die vor den Veränderungen der Erzähltechnik liegen, wie sie zum Beispiel mit dem Nouveau roman oder dem Nouveau cinéma auf kommen.

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sich um im »Abinaya«, dem narrativen Aspekt des klassischen indischen Tanzes ausgedrückte ›Emotionen‹ handelt, wobei klar zwischen den acht ›weißen‹ positiven Emotionen und den acht negativen ›schwarzen‹ unterschieden wird: ein, wie man sieht, semantisch aufgeladenes Material. Auf der anderen Seite ist es auch das erste Stück im Werk des Meisters, das den Zufall als Kompositionsverfahren einsetzt, und in dem die Verwendung der ›Entkettung‹ daher am deutlichsten ist. Im Übrigen stellt der Zufall das Thema des Stücks in Frage: das Emotionale, das seine Quelle, selbst wenn sie kodiert oder mimetisch ist, im menschlichen Subjekt hat. Derart komplexe Verschachtelungen mit untergründigen Referenzrastern sind bei Merce Cunningham häufig zu finden. So bemerkte Carolyn Brown in »Second Hand«, das von Cages pianistischer Reduktion der Satie-Komposition »La Mort de Socrate« (»Der Tod des Sokrates«) inspiriert war (eine Fassung aus ›zweiter Hand‹, was den Titel erklärt), den ängstlichen Ausdruck, der in einem bestimmten Augenblick Merces Gesicht verkrampfte: »Das ist«, soll er erklärt haben, »weil in diesem Augenblick Sokrates stirbt.« Carolyn Brown schließt daraus in einem bewundernswerten Text auf das Vorhandensein verschlüsselter Erzählungen bei Cunningham, die eine latente Referenz tragen. Carolyn Brown: »Was ich damit sagen will, ist, dass, wie der der Großteil von Merces Tänzen, »Second Hand« für ihn mit Sinn aufgeladen (meaningful) ist«. Vielleicht fühlt Merce, dass seine Tänze es nicht nötig haben, für andere als ihn einen Sinn zu haben. Ganz gewiss sorgt er dafür, dass sehr wenige Dinge für den Außenstehenden entzifferbar sind, oder, wie in diesem Falle, sogar für jemand von Innen. Er hinterlässt jedoch ›Indizien‹.36 Durch jene ›Indizien‹, einfache Sinnspuren, die vielleicht aus einer verschütteten Narration aufzusteigen, können wir möglicherweise eine Ahnung davon bekommen, wie es im Tanz um die Thematik steht, jene ›Kristallisierung‹ einer inneren Äußerung, von der Jacqueline Robinson sprach. Übrigens enthüllt uns das Auf blitzen jener Agonie des Sokrates, des Schattens einer verlorenen Thematik (die nicht ohne Grund die Frage nach dem Tod aufwirft) im choreographischen Diskurs dessen anderes Element (das weder das Thema noch das Anliegen ist): die Referenz. Die Referenz ist eine unterschwellige Thematik, die kontinuierlich auftreten kann, oder durch das Auf blitzen von Sinnsplittern. Sie kann sich deutlich zeigen oder unsichtbar bleiben, und oft ist ihre Existenz einzig und allein den Zeugen des Schöpfungsprozesses bekannt. Dies ist bei zahlreichen Stücken der Fall, in denen die im Verlauf der Konzeptions- oder Gestaltungarbeit ins Spiel gebrachten Geschichten, Anspielungen und Zitate schwankend bleiben wie niemals rekonstruierte Träume. Dies verleiht bestimmten Stücken ihre Dichte: Stücken, die aus einander 36 | C. Brown, S. 25.

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überlagenden Schichten von Ereignissen bestehen, in denen das Wichtigste immer in der Verborgenheit, im Randbereich dessen, was getanzt wird, bleibt. Einmal mehr stellt sich in Bezug auf die Referenz oder die Referenzen am Ursprung der Stücke ein Problem für den Choreographen, die Tänzer und manchmal sogar für den Kommentator, der vor dem Dilemma steht, was er sagen oder was er verschweigen soll. Muss man die Schlüssel liefern, wenn man aufgrund von Umständen oder Erfahrungen darüber unterrichtet ist – wo doch das Rätsel eines der grundlegenden Elemente des Stücks ist? Dies gilt in Frankreich für zahlreiche Werke mit undurchsichtigem Reifungsprozess, die sogar durch ›Indizien‹ nur ein sehr schwaches Licht auf ihre Quellen und Anliegen werfen. So wurden zahlreiche Stücke von Larrieu oder Bagouet ausgehend von einem immensen Korpus an Referenzen gestaltet, die niemals vollständig eingestanden werden, da ein Großteil der choreographischen Arbeit darauf abzielt, sie nicht offen zu zeigen, sondern sie im Gegenteil wie zerbrechliche und verwirrende Aufhängungen von Sinn in den Randbereichen des Sichtbaren zu halten. Jene thematischen Splitter wirken auf jeder möglichen Ebene auf die Wahrnehmung des Zuschauers ein. Doch wäre es möglicherweise fatal, ihm unmittelbar die Schlüssel dafür zu geben: Ein solches allzu schnelles Eindringen in die Bereiche des choreographischen Sems käme dem Glanz von Psyches Lampe auf dem Gesicht des schlafenden Eros gleich. Überlässt man es nicht besser dem Stück selbst, seine eigenen Bestandteile zu offenbaren (selbst wenn dies Jahre dauern sollte), damit das Geheimnis seiner Geburt sich durch die Ausdrücke der Handschrift selbst enthüllt? Wie sollte man an dieser Stelle nicht mit Ann Hutchinson-Guest die 70 Jahre erwähnen, die notwendig sind, um Nijinskis »Faun« und seine in den Gesten versiegelten Geheimnisse zu ›lesen‹ und zu ›verstehen‹?37 Dominique Bagouets Werk hat mit »Déserts d’Amour« aufgehört, ausgehend von einer deutlich ausgestellten Thematik zu funktionieren, einer Thematik, die ab »F. et Stein« brüchig zu werden begann. Somit beginnt ein scheinbar nicht-narratives Schaffensverfahren, das jedoch intensive Referenzen enthält. Die große literarische und künstlerische Bildung des Choreographen hinterlässt im Vorfeld oder am Rande des Ablaufs des Werks eine große Menge von referenziellen ›Indizien‹, die ein Geflecht von Echos weben: Nichts wird bezeichnet, alles in einer kontextuellen Schattierung intuitiv gefühlt. So verorten die Kleidungsstücke der Tänzer aus weißem Satin mit Rockschößen ihre Körper in einem Ort jenseits der Zeit, als erlebten sie nicht ihre eigene Geschichte, sondern eine Begebenheit aus 37 | Ann Hutchison-Guest: »Nijinsky’s Faun«, in: Choreography and Dance, Band I, 3. Teil, 1991, S. 3-34, S. 3.

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dem 18. Jahrhundert, das Dominique Bagouet so sehr liebte. Somit etablierte sich durch das einfache Spiel einer Referenz ein beständiges Hinund Hergleiten zwischen zwei Zeitschichten: Wobei die eine auf die persönliche Erfahrung des Tänzers im Augenblick des Akts verwies, wo der Körper durch die Geste, die gerade entstand, in unbekannte Tiefen glitt. Gleichzeitig tat sich in dieser Tiefe eine andere Dimension auf, die vage Erinnerung an eine überholte Vergangenheit, in der sich eine lang vergessene Affektivität für immer zum Schlafen niedergelegt hatte: jene Gegenwelt des Gefühls, die sich wie ein roter Faden durch das Werk von Dominique Bagouet zieht, und die von der Bewegung in der Gegenwart kaum berührt wird. Manchmal läuft die Bewegung sogar Gefahr, jene Welt zu zerstören, wenn der Abstand (zwischen den Zeitschichten, den Räumen und den Körpern) nicht mehr beachtet wird, der der Zwischenwelt das Atmen erlaubt. Jene Doppelbödigkeit des Werks findet ihr Echo in der Auswahl der Musik: Zwei Typen von klanglichen Momenten begleiten das Werk, das ebenfalls zahlreiche Momente der Stille enthält: Mozarts Divertimento und eine Komposition von Tristan Murail. Es ist übrigens schwer zu sagen, welche der beiden Kompositionen das Klima einer unheilbaren Nostalgie besser auf den Punkt bringt. In jedem Fall werden die referenziellen Elemente durch das gestische Material gleichermaßen berücksichtigt und verschleppt, das ein Gerüst intimer Erfahrungen über sie legt: Bewegungen, bei denen man nicht weiß, woher sie gekommen sind, die sehr »gefasst« sind, wie Michèle Rust sagt,38 und die den Tänzer veranlassen, sich auf seiner Reise auf sein eigenes Inneres zu beschränken, als seien seine Umrisse versiegelt. Während das referenzielle Spiel von »Déserts d’Amour« komplex, ungreif bar, fast unlesbar ist, sind Stücke wie »Assaï« oder »Necessito«, die einem ›Auftrag‹ nachkommen, durch die genauen Umstände erklärbar, die zu dem jeweiligen Auftrag geführt haben. »Assaï« wurde 1986 auf Einladung der Biennale Internationale de la Danse von Lyon geschaffen. Thema des Stücks war der moderne deutsche Tanz, den man in Frankreich in der Regel simplifiziert, indem man stellvertretend nur eine seiner Strömungen betrachtet: den sogenannten expressionistischen Tanz. Dominique Bagouet entschied sich dafür, sich mit dem ›expressionistischen Kino‹ zu beschäftigen. Diese Verschiebung war zum Großteil gerechtfertigt: Zahlreiche deutsche Tänzer wie Kreutzberg oder Valeska Gert hatten mit den Filmemachern ihrer Zeit zusammengearbeitet und sie geprägt. Gleichzeitig näherte sich ihre Gestik den intensiven und krampfartigen Bewegungen der Schauspieler des Stummfi lmkinos an. Übrigens war einer der Höhepunkte jener Biennale die von Daniel 38 | Michèle Rust in: PLANÈTE BAGOUET (R: Charles Picq, Frankreich

1994).

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Dobbels zusammengestellte Nacht des expressionistischen Kinos mit einer Reihe äußerst seltener Filme. Bagouets thematische Entscheidung ist absolut symptomatisch für eine intellektuelle Haltung, die dem französischen Tanz der 80er Jahre eigen war: die Weigerung, sich seine Referenzen in der Tanzgeschichte zu suchen, und die Entschlossenheit, die Thematik, die Quellen der Vorstellungskraft und die Stimmungen aus einem anderen künstlerischen Bereich zu wählen. Wie man sehen wird, verweigert sich der Tänzer vollkommen der Geschichte des Tanzes und vor allem des modernen Tanzes und konstruiert stattdessen seine ›Familiengeschichte‹ stets ausgehend von einer entliehenen Genealogie. Dominique Bagouet hat dem Verlangen, sich neue Quellen und Mutter-Bilder zu erfinden, durchaus nachgegeben. Und hier sind sie überraschend (und nähern sich übrigens dem expressionistischen Tanz in mehr als einem Punkt an). »Assaï« wird durch das sukzessive Erscheinen von ›Figuren‹ strukturiert, die einem Traum von E.T.A. Hoff mann, Murnau oder Pabst entsprungen scheinen: Puppen mit auf- und absteigenden Bewegungen, die gemäß der Taktverschiebungen einer verzwickten Mechanik organisiert sind, Akrobaten und mysteriöse ›Kreaturen‹, die aus der dunklen Materie eines Alptraums stammen. Im Bühnenhintergrund ziehen Paare im Kleidungsstil von 1830 vorüber. Andere ›Bühnenfiguren‹ treten auf: Ärzte und blasse, zerbrechliche junge Mädchen, die ein Tableau in parallelen Bahnen über die Diagonale verteilt. Später macht diese Ansammlung von ›Figuren‹ einer Invasion von Interpreten in Tanztrikots Platz, die äußerst fein gearbeitet sind, aber den aktuellen Codes entsprechen. Schließlich bringt ein Seitenauftritt durch parallele Portale einen Querschnitt all jener Figuren zusammen: Gemeinsam gehen sie im Gegenlicht zu Grunde, plötzlich niedergemäht durch einen tödlichen Zusammenbruch. An sich ist diese Beschreibung völlig wertlos. Man muss tiefer in die Struktur dieses komplexen Stücks eindringen. In einem äußerst scharfsinnigen Kommentar fordert Michèle Rust dazu auf, die zahlenmäßige Verteilung der Bühnenfiguren zu betrachten, die die verschlüsselte Arithmetik einer schicksalhaften Ordnung (vier, zwei, drei, eine) zu begründen scheint – oder das Schlüsselmodul einer symphonischen Organisation. Vor allem ist jede Serie von Bühnenfiguren mit einer einzigartigen Gestik ausgestattet, die die Anzahl der Tänzer durch »eine Beziehung zum Reflex, zum Spiegel, zum Double«39 vergrößert. Als träten hier Schatten für fi ktive Wesen auf, die ihren eigenen Schatten verloren haben. Das Thema des Schattens dominiert das gesamte Stück: nicht nur dadurch, dass die Beleuchtung Körper und Bewegungen zu riesenhaften bewegten Erscheinungen auf dem Bühnenhintergrund ausdehnt. »Assaï« endet mit der unerbittlich triumphie39 | Michèle Rust: Gespräch mit der Autorin (mündliche Quelle).

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renden Silhouette einer bedrohlichen ›Kreatur‹ im Gegenlicht, während alle Tänzer zusammenbrechen, vom mysteriösen Schicksal eines tödlichen Schlages niedergeschmettert. In einer Ecke bleibt die aufgeregte Gestalt einer kleinen Tänzerin zurück, die ebenso zerbrechlich und leicht wie trotzig entschlossen ist, ihren Tanz fortzusetzen. Dies scheint die einzig mögliche Form des Widerstands angesichts des Vorrückens der unheilvollen Kräfte zu sein. Zwar finden sich hier vielfältige bildliche, kinematographische und literarische Referenzen (von Füssli bis Kirchner, von Kleist bis Kafka, bis hin zur Poesie der »Lieder«), doch lösen sie sich vollkommen in der kompositorischen Struktur auf, deren Klarheit und poetischer Atem außerordentlich sind. Wer jedoch die Geschichte der zeitgenössischen Choreographie kennt, dem drängt sich eine Annäherung auf, die der Choreograph vielleicht gar nicht beabsichtigt hatte: die Ähnlichkeit der Situation zwischen der kleinen Tänzerin, die am Ende von »Assaï« noch tanzt (und vielleicht tanzen wird, bis die Welt untergeht) und Mary Wigman, die sich am Ende von »Totenmal« ganz alleine dem Ungeheuer der Zerstörung entgegenstellt. Wigmans prophetische Vision von 1927 kündigte eine Epoche an, die alles, sogar das Gewissen der Tänzerin selbst, zertrampeln würde. An zwei Momenten der Geschichte tauchen jene parallelen Figuren in den Körpern auf. Durch sie wird die wesentliche Referenz, das Scharnier, die unvermeidliche Ausrichtung offenbar, die jede tänzerische Bewegung herauf beschwört, ohne sie vollkommen überdecken zu können: der Tod. Muss man daran erinnern, dass Dominique Bagouet damals gerade erfahren hatte, dass er nicht mehr lange zu leben hatte? Es ist problematisch, biographische Elemente zu kommentieren, da das Werk selbst keine erfordert. Wie später Trisha Brown in ihrem gemeinsam mit der Compagnie Bagouet komponierten Stück »One story as in falling«, verstand es Bagouet wie alle großen Künstler, persönliche Ereignisse zu verfremden, sie durch die Vorstellungskraft des Körpers in Gedichte des Seins zu verwandeln. Sinnvoller ist es, die Gestaltung des symbolischen Materials zu verfolgen und zu bewundern: wie die Vielfalt der Referenzen, insbesondere der expressionistischen Kunst, hier in Figuren von Widersprüchen, verfremdeten Symmetrien (die Akrobaten) behandelt wird, oder in Figuren von Spannungen, in den gleichzeitig hingegebenen und widerstrebenden Körpern der jungen Mädchen, die von ihren Partnern geschleppt werden. Die schwankenden Momente der Bewegungslosigkeit der ›Kreaturen‹, die von kleinen Gesten belebt werden: untermenschliche Wesen, die den Gärungsprozessen der gemarterten Vorstellungskraft entstammen und durch ihre reduzierte Amplitude nur noch unerbittlicher wirken. Das dem Boden hingegebene Gewicht der ›jungen Mädchen‹, die Märtyrerinnen eines Verlangens oder unbefriedigten Traums sind, die sie sich nicht ausgesucht haben. Zuletzt muss man die Komposition von Pascal Dusapin zitieren,

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die dem Werk seinen Titel verleiht, und die nach Aussage des Choreographen in ihm die Bilder des expressionistischen Kinos ›hervorgerufen‹ hat. Eine tiefgründige Musik, mit einer für die zeitgenössische Produktion außergewöhnlichen Kraft, eine wahre Orchesterflut, die Bagouet eines Tages zufällig im Radio gehört hatte. Ein Same der Vorstellungskraft wie die Musik es oft ist, der keine Bilder hervorbringt, aber deren Erscheinen generieren kann. Während zahlreiche Momente von »Assaï« in der Stille getanzt werden, verleiht der Vorstoß der Musik, die sich über bestimmte Tableaus erhebt, dem Stück einen Resonanzraum: als öffne sich im Inneren der Körper eine Höhle, um die Seele der Welt hineinzulassen. Die Problematik der Referenzialität erklärt, warum es in dieser Kunst so schwierig ist, das Narrative und das Nicht-Narrative gegeneinander abzugrenzen, ohne in naive oder willkürliche Klassifizierungen zu verfallen. Umso mehr, da jene problematischen Unterscheidungen oft im Namen benachbarter Konzepte vorgenommen werden, deren Anwendung auf den Bereich der ›inneren Erzählung‹ purer Missbrauch ist. Da das, was narrativ ist, gemeinhin mit der Idee von Theater verbunden wird, und das, was nicht narrativ ist, mit der Idee der Abstraktion. Das Konzept der ›abstrakten Kunst‹ wird in der Kunst verallgemeinernd auf alles angewandt, was nicht gegenständlich ist. Dies kann selbstverständlich dem extrem ›konkreten‹ Charakter zahlreicher plastischer wie choreographischer Werke zuwiderlaufen, wo noch vor jedem Darstellungsverfahren die Materie selbst im Mittelpunkt steht. Höhepunkte des modernen und zeitgenössischen Tanzes wie »Water Study« von Doris Humphrey (1928) sind nicht narrativ, sondern drücken den Atem, den Schwung, den organischen Verlust der Materie des Selbst im Sturz aus und evozieren durch Begegnung, nicht durch Mimetismus, das Zusammenstürzen der Welle und ihr Entstehen (man weiß um die Wichtigkeit des Gegensatzes zwischen dem langsamen Aufsteigen und dem schnellen Zusammensacken bei Humphrey, ein nietzscheanisches Symbol der Kräfte der Welt). Nichts ist stärker in der Körpererfahrung verankert. Das gleiche gilt für die nicht-gegenständliche Arbeit Trisha Browns, wie für viele andere ihrer Generation, die ihre Inspiration unabhängig von jeglicher symbolischen Projektion ausschließich aus den Instanzen des Körpers geschöpft haben. Die Tatsache, dass im Tanz der Körper im Spiel ist, macht die Verwendung des Wortes ›abstrakt‹ noch problematischer. Überdies würde eine lineare Sichtweise der Tanzmoderne dazu neigen, die ›abstrakte‹ Ausrichtung der Choreographen als Ergebnis eines ›Fortschritts‹ zu werten, auf den dann im Tanz der 80er Jahre die ›Rückkehr‹ zur Narration folgen würde. Wir haben bereits auf die Gefahr eines solchen Ansatzes hingewiesen, der seit langer Zeit von der gesamten auf das 20. Jahrhundert angewandten Kunstkritik angeprangert

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wird. Heute bezieht sich die Analyse nicht mehr auf die formalen Modalitäten dieses oder jenes Ausdruckstyps, geschweige denn auf den Gegensatz zwischen gegenständlicher und nicht-gegenständlicher Darstellung. Das Wichtige ist: Was für eine Frage wird gestellt? Man stellt also fest, dass Braques gegenständliche »Maison à l’Estaque« durch ihren Umgang mit einem zersplitterten, spannungsgeladenen und organischen Raum ebenso wesentliche Fragen stellt wie jede der nicht-gegenständlichen ›Kompositionen‹ Kandinskys, die zeitgleich oder kurz danach entstanden. Genau da verdient es die Identität des ›Anliegens‹, mit der größten Vorsicht und der größten sinnlichen Aufmerksamkeit betrachtet zu werden. Besonders da es im Tanz der Körper des Tänzers ist, der einen Großteil des Anliegens trägt. Jener Körper spricht mit seiner einzigartigen Sprache, die für sich alleine zugleich Gewölbe und semische Aufladung des Werks ist. Die gewaltige ästhetische Gefahr der Gegenständlichkeit im Tanz könnte in der Versuchung bestehen, erzählerische Überschreibungen über die Akte jenes Körpers und über die Handschrift zu legen (Dabei ist die Handschrift genau der Prozess, der eine Beziehung zwischen jenen Akten herstellt.), und dann die Wahrnehmung des Zuschauers von ihnen zu Gunsten einer ›Erzählung‹ abzuwenden, die sich außerhalb der Handschrift im virtuellen Rahmen einer verbalen Szene außerhalb der Tiefeninstanzen von Bewegung und Körper äußern würde. Wie man weiß, ist die Versuchung für das Publikum groß, unmittelbar einen ›Sinn‹ begreifen zu wollen und dabei die Tanzarbeit und die Arbeit, die für eine Annäherung an sie notwendig ist, auszusparen (Michèle Fèbvre nennt dies den ›semiotisierenden Appetit des Zuschauers‹). Genau da versuchen die Antriebe der ›Abstraktion‹ Abhilfe zu schaffen, indem sie die Bedrohung durch die Erzählung auslöschen. Im Grunde genommen sollte man den Ausdruck ›Abstraktion‹ im Tanz mit Vorsicht gebrauchen, da er sich auf einen spezifischen Gebrauch in der Theorie und Praxis bestimmter Künstler (Schlemmer, Nikolais usw.) bezieht. Die ›Abstraktion‹ hat nicht den Rang einer ›Kategorie‹. Sie ist noch vom Rang der ›Arbeit‹, der berühmten ›Tanzarbeit‹, die jene Kunst von allen anderen unterscheidet. Die Abstraktion im Tanz ist ein Prozess und nicht Ausdruck einer genau definierten ästhetischen Typologie. Sie ist nur eines von vielen ›Werkzeugen‹ in der riesigen Werkstatt (in jedem Sinne des Wortes) des Tänzers. Also müsste man, wie bei jedem Werkzeug, die Frage stellen: Wozu dient es? Alwin Nikolais, der Großmeister der Abstraktion, erklärt es uns: vor allem dazu, das künstlerische Parasitentum loszuwerden, das die Anekdote begünstigt: »Die Manierismen, die Ticks, die allzu symbolischen Gesten, die allzu egozentrische, dramatische oder ›mystische‹ Interpretation, die Pantomime«, führt Marc Lawton aus und erinnert dann an die Devise des

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Meisters40: »Motion (das heißt: die Qualität, in der Bewegung zu sein), no emotion (das heißt: die Abwesenheit von Erlebtem in der Bewegung durch ein anderswo identifiziertes einfaches affektives ›Register‹ zu kompensieren).« Die Arbeit der ›motion‹ ist, in der Nachfolge der großen Pioniere des zeitgenössischen Tanzes, eine neue, neu überprüfte und weitergeführte Figur des Auswegs aus der Mimesis. Nikolais präzisiert, dass die Arbeit der Abstraktion an den konkreten Qualitäten der Materie (hoch und tief, schwer und leicht, übertrieben und gemäßigt usw.), eine lange und gewissenhafte Arbeit, die jeder Tänzer verrichten muss, zu einer größeren Freiheit führen soll: »Der Künstler sollte sein Thema nicht mehr im Hinblick auf eine definierte Szene behandeln. Genauso wenig wie er mit dem Ziel, Inhalte auszudrücken, Elemente verzerren, ausdehnen, reduzieren und auslöschen darf.« Deshalb, fügt Nikolais hinzu, »ist« das Verfahren, das er verteidigt, »durch seine instrumentale Sensibilität und seine Fähigkeit, unmittelbar in Begriffen von ›motion‹, Zeit, Form (shape) und Raum zu sprechen, viel signifi kativer«. Von jenem Blickpunkt aus ermöglicht es das Fehlen einer Erzählung, die man sonst bearbeiten oder verfolgen müsste, sicherer zum Wesentlichen zu gelangen, mitten im Fleisch des Signifi kanten Tanz zu arbeiten, jenseits jeder notwendigen ›Repräsentation‹. Für Merce Cunningham ist die Befreiung von der Erzählung eines der Mittel, um zur Autonomie der Bewegung zu gelangen, und vor allem zur Autonomie des Tänzers. Cunningham geht es stets darum, den tanzenden Körper mit eigenen Ressourcen auszustatten, damit er sich nicht von einem Energiezentrum abhängig macht, das ihm selbst fremd ist. Eine Erzählung brächte durch ihre bereits vorgegebene lange Reihe von Emotionen oder Fakten die Gefahr mit sich, für den Tänzer ebenso prägend zu sein, wie die unannehmbare Tyrannei der musikalischen Dynamiken, denen Merce Cunningham so sehr misstraut. Die Tänzer der sogenannten ›post-modernen‹ Strömung, die zumeist Schüler oder Partner von Cunningham waren, engagierten sich vehement für eine Bewegung, oder vielmehr einen Akt im Reinzustand, den nicht einmal mehr die Sorge um eine ästhetische Figur belasten sollte. Bei ihnen ist der Akt intransitiv. Daher ist es im Kontext des ›non-dance‹ oder ›non-litteral dance‹ undenkbar, ihn in eine künstlerische Grammatik zu überführen, selbst wenn diese nichtnarrativ wäre. Wir befinden uns hier wieder weit jenseits jeglicher Diskussion über die Thematik eines Werks: Die Bewegung hat hier kein anderes Programm, als an ihr eigenes Ende zu gelangen.

40 | Marc Lawton: »Réinventer la danse, tout le temps«, in: Marsyas Nr. 30, Juni 1994, S. 46-51.

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Später sollten andere, noch radikalere Methoden eingesetzt werden, um den Akt einer Unterordnung unter die Thematik zu vermeiden. So ersetzten zum Beispiel die ›Spielregeln‹ oder ›Beschränkungen‹ in den 60er Jahren in den USA das choreographische Projekt durch eine einfache ›Situation‹, in der der Tänzer improvisieren musste, um Lösungen zu finden: Jenes Verfahren beginnt mit Anna Halprin und setzt sich vor allem mit Simone Forti fort; in ihrer Nachfolge unterwerfen sich Trisha Brown oder Steve Paxton jener Ästhetik der ›Aufgabe‹ (task). Anna Halprin scheint Ende der 50er Jahre mit der Anwendung der ›Beschränkungen‹ begonnen zu haben. Zunächst ist die ›Beschränkung‹, wie wir gesehen haben, eine Technik, um die analytische Herrschaft über die Entstehung der Bewegung zu überwinden. Doch bald werden die »Beschränkungen« selbst zum ersten Teilstück eines Werks. Als Yvonne Rainer Anna Halprin im Verlauf eines Gesprächs zu verstehen gibt: »Ich dachte, die ›Beschränkungen‹ seien dazu bestimmt, euch eure Körper bewusst zu machen. Es war nicht notwendig, das Projekt der Beschränkung beizubehalten, sondern die Geste oder das kinästhetische Verfahren auszuführen, das die Beschränkung mit sich gebracht hatte«, antwortet Halprin: »Mit der Zeit sind wir viel aufmerksamer für die Beschränkung selbst geworden. Wir haben Beschränkungen entwickelt, deren herausfordernder Charakter die eigentliche Idee der Geste mit sich bringen sollte.« 41 Die Choreographien von Simone Forti sind beispielsweise nichts anderes als situationelle Dispositive und darin der Struktur einer ›Performance‹ wesentlich näher als der einer Choreographie, die ein Anliegen und dessen Materie in Zeit und Raum entwickelt. In Fortis Stücken, wie dem Projekt »Over, under and around‹, das jedem der Beteiligten eine Wegstrecke über, unter und um einen Partner herum, der sich an einem bestimmten Platz befand, 42 vorgab, bringt eine einzige ›Spielregel‹ das gesamte Werk hervor. Hier liegt die Idee nicht in der Formulierung des Anliegens, sondern in den Möglichkeiten des Raums, die dadurch eröffnet werden. Somit implodiert die Skizze des Werks im Werk selbst, und es gibt keine Handschrift mehr. Dies geschieht zu Gunsten einer Ästhetik, die ausschließlich auf Partituren beruht und wo die gestischen Inhalte nur eine mögliche Variante des Projekts sind. Das heißt, dass in jener epochemachenden Serie von Werken das Anliegen, wie in der Performance, zu Ungunsten seiner Erfüllung übermäßig ausgestellt wurde.

41 | Y. Rainer: »Yvonne Rainer interviews Anna Halprin«, in: Tulane Drama Review 10-2, Winter 1965; frz. Übers von Carole Guth: »Anna Halprin interrogée par Yvonne Rainer«, in: Nouvelles de danse Nr. 36/37, Herbst-Winter 1998, S. 156-182, S. 162. 42 | Simone Forti: Handbook in motion.

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Es sollte dadurch zu einer reineren Seins-Erfahrung werden, die keinerlei Referenz außerhalb seines eigenen Rahmens überschatten sollte.

Die choreographischen Werke: Figuren des Erscheinens »Der Mensch auf der Bühne ist zum Ereignis geworden.« Oskar Schlemmer

Alles, was wir an Bestandteilen der Aktivitäten im Tanz aufgezählt haben, sollte sich in einem sichtbaren und lesbaren Gegenstand wiederfinden, der zum öffentlichen Gebrauch bestimmt ist. Dies ist der Ort der Vollendung der Poetik, aber auch der Ort, an dem ihre Wirkung sich erschöpft. Im Angesicht des Publikums hören das Denken und die Arbeit des Tänzers auf, gestalterische Aktivitäten zu sein und werden zu (machtvollen) Werkzeugen der Aktualisierung, des Hineinstürzens in einen spektakulären Zustand. Es steht außer Frage, an dieser Stelle alle Aspekte davon erschöpfend zu behandeln. Wir werden uns nur in Form von ›Fragmenten‹ mit einigen dieser Figuren auseinandersetzen. Doch werden wir uns dabei nach wie vor mehr mit der diskursiven Äußerung jener Figuren beschäftigen als mit der erschöpfenden Beschreibung ihres Auftretens. Diese wäre Gegenstand einer vollkommen anderen Untersuchung, in der es mehr um eine ästhetische (oder semiologische) Analyse der Bühnenproduktion als Entität ginge. Das choreographische Werk hat seine Identität am Kreuzungspunkt mehrerer Elemente gefunden. Das erste ist die traditionelle Definition des choreographischen Werks als ursprüngliche Schöpfung, die würdig ist, die ›Signatur‹ eines Autors zu tragen. Erinnern wir daran, dass diese Definition auf die Frührenaissance zurückgeht und mit der rechtmäßigen Zuschreibung der Kompositionen der italienischen Tanzmeister begonnen hat. Erinnern wir auch daran, dass der Begriff des choreographischen Werks durchgängig nur in der abendländischen Tradition existiert. Ob er will oder nicht, schreibt sich der zeitgenössische Choreograph in Bezug auf die Definition seiner Praxis und seines Status in die Nachfolge dieses Erbes ein. Das zweite Element, welches das choreographische Werk im zeitgenössischen Tanz charakterisiert, ist jedoch die Tatsache, dass es ebenso zur zeitgenössischen Kunst gehört, wie zum Erbe seiner eigenen Disziplin. Davon ausgehend kann es seine Definition und seine Inhalte frei wählen. Wie man weiß, stellt jene Freiheit der Modalitäten und Definitionen des Werks nicht nur eine Errungenschaft, sondern einen ›Ka-

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non‹ der Moderne dar. »Jedes Werk (piece) sollte eine Ausnahme sein«, schreibt Simone Forti zu Recht. 43 Somit gilt es nun, in Bezug auf das Erbe einer traditionellen Ausdrucksform Gegendefinitionen anzubieten, mehr oder weniger radikale Auswege und Verfremdungen. Im Rahmen dieser Verfahren werden die zeitgenössischen Werke ihren eigenen ›Ausnahme‹Charakter erfinden. Das zeitgenössische choreographische Werk muss vielgestaltig sein. Es ergibt sich aus einem ursprünglichen Anliegen, das gleichzeitig seine eigenen Codes, Inhalte und Aktualisierungsmodalitäten begründet. Deshalb ist es so schwierig, dafür allgemein gültige Lesekriterien anzubieten. Halten wir fest, dass die einzigen Kriterien zum Lesen des Werks, die die Tanzkritik systematisch anführt, die Analysen von Susan Foster oder die Beschreibungen von Marcia Siegel, 44 sich stets auf Werke bezogen, die einander zwar nicht ähnelten, aber starke Analogien aufwiesen: Es handelte sich im Wesentlichen um einen Korpus von choreographischen Arbeiten aus den 40er bis 60er Jahren, der von einer ›Meister‹-Sprache zeugte: das heißt von einer Reihe zusammenhängender Elemente, die durch eine gemeinsame Körpersprache und dramaturgische Grundsatzentscheidung verbunden werden; und durch die Modalitäten des amerikanischen ›dance concert‹, wo die Aktualisierungsweisen und der Gebrauch der ästhetischen Referenz über unterschiedliche Sprachen hinweg, von Martha Graham bis Balanchine, Cunningham oder Twyla Tharp, von einer gewissen Permanenz von einer Sprache zur anderen zeugen. Kehren wir zu jenem Teil des Erbes zurück, das der Definition des choreographischen Werks entspricht, und das vor allem unabhängig von ästhetischen Entscheidungen und Repräsentationsweisen ist, die oft völlig gedankenlos reproduziert werden, was die Dinge nicht einfacher macht. Das abendländische choreographische Werk (der Leser wird mir den Pleonasmus verzeihen) besteht drei Jahrhunderte lang hauptsächlich unter der Bezeichnung ›Ballett‹ 45, einer Form, die zahlreiche unterschiedliche 43 | S. Forti: Handbook in motion. 44 | S. Foster: Reading Dancing und Marcia Siegel in The Shapes of Change, Boston: Houghton & Miffl in 1979. 45 | Übrigens ist das »Ballett« nicht die einzige bedeutende Form während der historischen Epoche des abendländischen Tanzes. Bis zum 19. Jahrhundert spielten sowohl das Opernintermezzo als auch der akademische Gesellschaftstanz des 16. und 17. Jahrhunderts eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Bühnentanz-Ästhetik. Ende des 18. Jahrhunderts erfand Vigano das »coreodramma«, das es trotz seiner provisorischen Existenz verdient, erwähnt zu werden. Wie man sieht, schaden theoretische Vereinfachungen dem Ver-

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Erscheinungsformen erlebt hat, bevor sie sich im 19. Jahrhundert (der Epoche, in der sich in allen Künsten die Hauptgenres fi xieren, vom Roman in der Literatur bis hin zum Symphonieorchester in der Musik usw.) stabilisierte. Das Ballett jener Zeit weist mehrere notwendige Charakteristika auf, die jene Kunst definieren werden: Es läuft gemäß einer kontinuierlichen Logik ab (die lange Zeit narrativ sein wird, was aber nicht so wichtig ist), bedient sich einer spektakulären Maschinerie von beträchtlichen Ausmaßen (Bühnenbilder, Kostüme) und setzt sich aus stummen, von Musik begleiteten Bewegungen zusammen. Nicht nur die Sache selbst, sondern auch ihre Benennung hat sich in das Koordinatensystem unserer Kultur eingeschrieben. Der Name ›Ballett‹ bleibt noch immer mit der Definition der choreographischen Aktivität verbunden. Für den klassischen abendländischen Tanz, die Wiege des Wortes ›Ballett‹, ist sein Gebrauch vollkommen gerechtfertigt. Für den zeitgenössischen Tanz ist die Lage etwas widersprüchlicher. Die lexikalischen oder funktionalen Einstellungen zum ›Ballett‹ sind unterschiedlich: Sie reichen vom Wunsch nach Anerkennung in der Tanzwelt, der die Vertreter der Moderne (in Frankreich und Deutschland) dazu getrieben hat, das Wort in der Bezeichnung für ihre Compagnie zu verwenden, bis hin zum Bedürfnis, sich an einer archaischen Stilübung zu versuchen, wie es Oskar Schlemmer mit seinem »Triadischen Ballett« (1924) tat. Schon der letzte Satz seines Vorworts kündet wie ein Trompetenstoß von seiner Entschlossenheit, an einem Genre festzuhalten, das bereits seine eigene Überlebtheit eingesteht: »Ballett? Ballett!« 46 Im Grunde bleibt das Wort im allgemeinen Gebrauch und wird sogar auf zeitgenössische Tanzauff ührungen angewandt, obwohl modernere Bezeichnungen das tänzerische Werk mit den bildnerischen oder musikalischen Produktionen der zeitgenössischen Kunst gleichsetzen (Pina Bauschs ›Stück‹, ein Ausdruck der von der angelsächsischen Kunstterminologie inspiriert wurde). Obwohl das zeitgenössische choreographische Werk das Ballett und seine konstitutiven Faktoren beerbt hat, wird es nicht aufhören, sie zu bekämpfen und ihren normativen Charakter zu überschreiten: entweder indem es sie ausklammert, oder indem es heterogene Bausteine einführt, die die Bedingungen der Festschreibung stören oder ihnen widersprechen.

ständnis des klassischen abendländischen Tanzes genauso, wenn nicht sogar mehr, wie dem des zeitgenössischen Tanzes. 46 | Andreas Hünecke (Hg.): Oskar Schlemmer. Idealist der Form. Briefe. Tagebücher. Schriften, Leipzig: Reclam-Verlag 1990.

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Figuren und Formate Die sichtbarste Verwandlung des choreographischen Werks im 20. Jahrhundert liegt auf Seiten seiner vielgestaltigen Aktualisierungsweisen: Formatveränderung, Verschiebung des Repräsentationsrahmens, multiple Typen quantitativer und qualitativer Formeln. Praktisch jeder große Begründer der Moderne hat seinen eigenen Auff ührungstypus erfunden. In Deutschland gab es die kleine Form des ›Kammertanzes‹ und die experimentellen Äußerungen Labans, die von Jooss und Leeder weitergeführt wurden und einen Gegensatz zu den großen chorischen Tänzen bildeten. Es gab die Soli, in denen Mary Wigman die Poesie ihrer ›kondensierten Botschaft‹ ›absolute dance‹ ausdrückte, und die Theatertänze, die wiederum in Gruppen und Chortänze eingeteilt wurden: kleine Formen, große Formen, freie, erfinderische, erfundene Formen – nicht zu vergessen die Nicht-Formen, die es verstanden, die Begrenzungen zu sprengen und neue Wege zur Freiheit zu erfinden. Wie der berühmte »Sonnentanz« 47, den Laban am 21. Juni 1917 auf dem Monte Verità veranstaltete. Er dauerte die ganze kurze Nacht lang an und gab nichts außer einem Raum vor (die Begrenzungen des berühmten Anwesens), einer Zeit (von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang) und der Versammlung um ein Feuer auf einer Lichtung für das zentrale Tableau der »Dämonen der Nacht«. 48 Jenes erste Drittel des Jahrhunderts überrascht nicht nur durch formalen Erfindungsreichtum, sondern auch durch die Vielgestaltigkeit der Formate: Ein Solo von Martha Graham oder Mary Wigman konnte zwischen fünf bis acht Minuten dauern. Die USA-Tournee von Harald Kreutzberg und Yvonne Georgi bestand aus einem Programm mit zwölf Stücken an ein und demselben Abend. »Water Study« von Doris Humphrey, ein wesentliches Stück, hat zwölf bis zwanzig Minuten zur Verfügung (da es keinerlei musikalische Begleitung hat, variiert seine Länge, doch ausschließlich ausgehend vom Körperzustand und dem Atem der Tänzer), um eine wegweisende Botschaft über die Atmung, den Rhythmus und die Instabilität zu übermitteln. Genau dieser Typ von Zeitlichkeit herrscht heute noch im ›dance concert‹ amerikanischer Prägung vor, wo mehrere Stücke in Form eines Rezitals oder einer Retrospektive dargeboten werden, aber in regelmäßigerer Weise. Vielleicht mit einem steiferen Charakter als damals, zumindest beim Ritual der großen ›concert halls‹. Angesichts unserer heutigen von der Uhr beherrschten Programmgestaltung in Europa, wo der Choreograph, weit entfernt 47 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü. 48 | Für die Beschreibung und das Programm des »Sonnentanzes« siehe besonders: Suzanne Perrottet: Ein bewegtes Leben, Bern: Bentelli Verlag 1990, S. 116-117.

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davon, eine fühlbare symbolische Zeit, eine einzigartige Dauer mit uns zu teilen, die gesellschaftliche Zeit eines Abends ›füllen‹ muss, haben wir vermutlich das Recht, uns seufzend nach jenen Figuren einer glücklichen Freiheit zu sehnen. Heutzutage hat sich in den Aktualisierungsverfahren des choreographischen Werks eine große Uniformität durchgesetzt, auch wenn seine Inhalte einen großen Reichtum und eine gewisse Autonomie behalten haben: Die Bühnenchoreographie von 50 Minuten ist zur Königsdimension geworden, im Vergleich zu der die ›kleine Form‹ als minderes Werk angesehen wird (wobei man außer Acht lässt, dass Nijinskis »Faun« nur zehn Minuten dauerte…) Man könnte über diese rein quantitative Einschätzung lächeln. Doch ist der Verlust größer als man denkt: Indem er seine Form an das Auff ührungsformat anpasst, ist der Tanz in jene verkümmernden Rahmen zurückgekehrt, innerhalb derer sich der Status des ›Werks‹ auflöst. Weit davon entfernt, es in seinen Hauptbestandteilen, dem Anliegen, der Handschrift, und ihrer Beziehung zur Interpretation zu erfassen, nähert man sich dem choreographischen Objekt ausgehend von seiner Erscheinung, seinem äußerlichen Anschein und seiner spektakulären Aktualisierungsmodi an, und zwar ausschließlich aufgrund der Kriterien, die diese leiten. Das Solo war eine der großen Neuerungen des zeitgenössischen Tanzes, in einer Zivilisation, in der sein Gebrauch seit den ›Einzelauftritten‹ des adligen Theater- oder Balltanzes im 17. und 18. Jahrhundert in Vergessenheit geraten war. Natürlich gab es Solisten, doch traten sie stets an einem punktuellen Augenblick des Balletts auf. Im akademischen Tanz des 19. Jahrhunderts konnte das Solo kein eigenes Universum, keine Äußerung an sich sein. Der zeitgenössische Tanz dagegen hat es zu einem seiner Höhepunkte gemacht, zu einer Form, die am besten dem Projekt entspricht, das er sich seit seiner Entstehung vorgenommen hat: die Präsenz eines Subjekts in der Unmittelbarkeit und Gesamtheit seines Seins und seiner Geste zu behaupten. Ansonsten ist das Solo keinem anderen Gesetz unterworfen. Deshalb kann es unvergleichliche Intensitätsgrade erreichen und zugleich im Ungreif baren, im Randbereich der Form bleiben. »Ein kleines lyrisches Gedicht, ein Atemzug.« 49 So definierte Mary Wigman ihr bewundernswertes Solo »Abschied und Dank« (1943). Doch unabhängig von den ihm innewohnenden poetischen Qualitäten ist das Solo für den zeitgenössischen Choreographen eine Form, an der er nicht vorbeikommt. Wenn sich die großen Meister in der Geschichte der Moderne gezwungen sahen, wieder bei Null anzufangen, um eine eigene Sprache zu erfinden, war das Solo der Weg, um ihre eigenen Entdeckungen 49 | Filmische Quelle: gefi lmtes Interview in: MEIN LEBEN IST TANZ, production Internationes 1987.

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und sich selbst auf den Prüfstein zu legen – ein Labor der Geste und des Seins, jenseits der Grenzen des körperlich Bekannten. Natürlich stand es außer Frage, jemand anders dort hineinzuziehen, bevor man selbst seine Möglichkeiten (und Grenzen) erprobt hatte. In jenem Stadium eines neuen Körpers, den es zu erfinden gilt, sucht der Schöpfer auf eigene Gefahr und Verantwortung nach seiner eigenen Sprache. Dabei gibt es nichts zu teilen. Was dabei empfunden wird, hat noch keinen Namen und noch kein Bild. Jegliche Beziehung zu einem anderen Tänzer wäre entweder gefährlich oder mystifizierend, da jene Bandbreite praktischer Referenzen noch nicht existiert, durch die der Körper eine Identitätskonstruktion finden könnte. Genau dies beeindruckte Cunningham an der Schwelle zu seinem 1950 im Black Mountain College komponierten »Untitled Solo«, als er zum ersten Mal die Diskontinuität im organischen Gewebe der Bewegungen einsetzte. Doch hatte es vor ihm die Soli von Isadora Duncan gegeben, den ersten Ausdruck eines individuellen Gefühls, eines individuellen Tanzes, die von der Empfindung ausgingen, dass jeder Tänzer in seiner Beziehung zur Welt einzigartig sei. 1924 hatte Humphreys wunderbares »Hoop« nackt und stumm die Kurve eines Reifens mittels der Kurven ihres eigenen Körpers erforscht. Danach folgten die zwei berühmten Tableaus der »Extatic themes« von 1929: »Circular descent« und »Pointed Ascent«, eine Untersuchung der Instabilität, eine ständigen Reise zwischen jenen zwei Toden, die ihre Theorie und ihre Kunst ständig streiften. Nicht weniger einsam und dem Einzigartigen hingegeben waren Martha Grahams Soli von 1926. All diese Solostücke waren grundlegend für den zeitgenössischen Tanz und ließen nicht nur Körperzustände erscheinen sondern Grundsatzentscheidungen, Strömungen und Schulen. Auch wenn das Solo heutzutage historisch gesehen nicht mehr dieselbe Tragweite hat, dient es dem Tänzer dennoch immer noch als Weg zur Selbst-Entdeckung, als Schwelle, deren Überschreiten ihm Zugang zur eigenen sichtbaren Gestalt verschaff t. Es ist ein Manifest des Seins, das nicht von einer bereits existierenden ontologischen Gegebenheit ausgeht, sondern von einer Spannung, die die Präsenz durch die Geste, die sie hervorbringt, erscheinen lässt. Ein Solo kann sich mehr oder weniger buchstäblich ›autobiographisch‹ gestalten, es kann Erzählung eines Lebens sein, eines inneren oder affektiven Weges, wie in Carolyn Carlsons berühmtem Solo »Blue Lady«, wo mehrere ›Bühnenfiguren‹, wie ›Momente‹ in der Existenz der Tänzerin durchscheinen oder wie mehrere gleichzeitige Aspekte ihrer Persönlichkeit. Durch ein Selbstportrait, das auf einer berühmten Referenz auf baut (Egon Schieles Selbstbilnis von 1917) gelingt es Christian Bourigaults »Autoportrait de 1917«, einen Körper der Spannung und Verzerrung zu finden. Ausgehend von jenem Körper, der innerhalb der Grenzen seiner eigenen Haut eingeschlossen ist, beginnt Bourigault seine persönliche Arbeit. Doch kann das Solo als

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Selbstportrait auch weniger einen Weg bezeichnen, als einen Moment der Wandlung, der Abzweigung oder gar des Infragestellens alles zuvor Erreichten. Dies war bei Dominique Bagouets Solo in »F. et Stein« (1984) der Fall. Obwohl es in der Gesamtheit eines Stücks verankert ist, hat dieses Solo, wie jedes autonome Solo, die Kraft eines theoretischen Manifests. Durch seine beunruhigenden, geradezu entwertenden Bestandteile, die den Körper zu Momenten der Erstarrung oder Verunstaltung führen, in denen, wie Charles Picq bemerkte, eine unbekannte Gestalt im Körper des Choreographen erscheint, könnte die monströse Erscheinung der Bühnenfigur (so wie des Themas des Stücks) sinnbildlich für die Erscheinung von etwas stehen, das sich noch im Werden befindet. In der Tat kündigt jenes Solo eine Wandlung in der Sprache von Dominique Bagouet an: Fortan wird sich der Choreograph in geheimere Tänze versenken, wo die Form der Geste sich zu einer anderen Welt hin öffnet. Einer Welt, die die Geste nicht einschließt, sondern sich in deren Inneren auftut. Auch das Solo des bekannten franko-kanadischen Choreographen Paul-André Fortier, »La Tentation de la Transparence« (1991) stellt einen künstlerischen Wendepunkt dar. Es entstand in einem Augenblick, als Fortiers Weg nach einer gewissen Anzahl von Gruppenstücken stärker in die Innerlichkeit und hin zur Erforschung von Identitätsräumen in der Materie des Selbst führte, auch wenn das Stück dennoch eine Art ›Bühnenfigur‹ evozierte. Gewiss nähert das Solo den zeitgenössischen Tanz am stärksten an ein Genre an, das zu den bildenden Künsten gehört: die Performance. Seine Materie besteht, wie jene der Performance, vor allem in der Hingabe des Subjekts an das Werk, die gleichzeitig mit der Erscheinung dieses Werks geschieht. Im Solo wie in der Performance stellt das Schöpfersubjekt seine eigenen Spielregeln auf. Wie man weiß, sind in der Performance, wie in manchen choreographischen Projekten, die ›Beschränkungen‹ sehr wichtig: Beschränkung der Haltungen, der Situation, bewusste Unterwerfung des Körpers durch unterschiedliche Arten von Hindernissen oder Gefahren. Wie wir gesehen haben, wird die Beschränkung im Tanz oft eingesetzt, um neuartige Lösungen zu finden und sich nicht mehr systematisch mit den bekannten Schemata zu begnügen. Auf diese Möglichkeit wies bereits das Denken von Feldenkrais hin, das durch Vermittlung seiner Schüler, wie Anna Halprin, eine wichtige Rolle in der US-amerikanischen Tanzerneuerung der 60er und 70er Jahre spielen sollte. Es geht darum, innerhalb der Beschränkung die Wege zu einer neuen Freiheit zu fi nden. In der Performance wird der Begriff des Hindernisses oder der Schwierigkeit für seine unmittelbare Auswirkung auf den Handlungsverlauf oder die Veränderung des Körpers durch das Eingehen eines Risikos oder durch das Verhalten des Performers benutzt. Allerdings ist eine Vielzahl von Zwischensituationen möglich: So sieht man in Reinhild Hoff mans bewun-

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derungswürdigem »Solo mit Sofa« (1982) die Choreographin durch den Stoff ihres Kleids an eine Couch gefesselt, die sie mit jeder Bewegung einer Falte entfernt und näherrücken lässt, so dass ihre gesamte Fortbewegung durch die Parameter ihrer Beziehung zu dem Möbelstück geregelt und bestimmt wird. In einem anderen Solo aus derselben Zeit belädt sie sich mit schweren Steinen, die von Stengeln oder verknoteten Stoffen gehalten werden. Somit wird jede Bewegung unter Schmerzen dem Gewicht jenes unbarmherzigen Ballasts abgerungen. In beiden Fällen erhält die ›Performance‹-Situation durch die Qualitäten der zur Schaff ung des Hindernisses benötigten Materialien zugleich eine skulpturale Dimension. Dies macht aus jenen Soli in mehrfachem Sinne plastische Werke (das heißt gleichzeitig in Bezug auf die visuelle Gestaltung und auf das Verfahren). Das Gleiche lässt sich über alle möglichen anderen Beispiele sagen: von dem bereits erwähnten Solo von Sophie Taueber aus dem Jahr 1915 (wo die von Hans Arp entworfene Maske sich mehr wie ein am Körper befestigter Kunstgegenstand als wie ein unschuldiges und undifferenziertes Kostümelement behauptete) bis zu Dominique Dupuys Solostücken aus den 80er Jahren, in denen der Prozess durch ein Objekt erfunden wird, das zum Körper ko-substanziell ist, und dessen materielle, skulpturale, rohe oder seltene Qualität (ein menschlicher Knochen, Pulver usw.), sich als solche behauptet. Doch noch ein Element rückt das Solo im zeitgenössischen Tanz in die Nähe der Performance: Das Schöpfersubjekt ist nicht nur im Kunstobjekt enthalten, sondern es handelt sich fast um eine Präsenz im Reinzustand, ohne dass es irgendeiner Produktion von Form erlaubt wäre, in die Identität jener Präsenz einzugreifen. Dies geschieht besonders in der deutschen Schule seit den 20er Jahren, wo das Projekt einer subjektiven Präsenz, ungeachtet der Grade formaler Inflation, die es auslösen mag, sich wie in den Soli aus Mary Wigmans Zyklus »Schwingende Landschaft« (1931) über alle anderen Parameter erhebt. Dasselbe lässt sich auch über die Soli von Valeska Gert sagen, wie sie der Film FACES für uns nachstellt, und sehr wahrscheinlich über alle anderen Tänzer, die der Strömung des Ausdruckstanzes50 entstammten und in den 20er- und 30er Jahren an den subversiven Auff ührungen der Berliner Cabarets teilnahmen.51 Die Nähe zu den Dadaisten (Huelsenbeck, Hausmann) ermutigte sie maßgeblich dazu, die Materie des Selbst wie eine künstlerische Materie zu bearbeiten. Man versteht, dass der junge Tänzer von heute mit solchen Vorläufern ein 50 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. Ü. 51 | Filmische Quelle: FACES von Valeska Gert, undatiert und ohne Vorspann, befindet sich in der Sammlung der Cinémathèque de la Danse in der Cinémathèque française. Siehe auch F.M. Peter: Valeska Gert: Tänzerin, Schauspielerin, Berlin: Hentrich 1987.

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Handwerkszeug geerbt hat, das für die Arbeit an dem, was man ›Präsenz‹ nennt, und wofür die Übung des Solos die Versuchsanordnung par excellence bleibt, von unschätzbarem Wert ist. Die Präsenz als tiefgreifender Akt der Zustimmung zur Identität des gegenwärtigen Moments und des Übergangs von der Materie des Selbst zur Beziehung zur Welt, ist eine spezifische Praktik des zeitgenössischen Tanzes, um die ihn jeder beneidet.52 Die Präsenz ist ebenfalls ein wichtiger Faktor in der Performance, doch ist sie, wie übrigens alle qualitativen oder aktiven Bestandteile der Performance, nicht Gegenstand des Erlernens oder Erforschens wie im Tanz. In dieser Hinsicht ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Tänzer den bildenden Künstlern oft vorgeworfen haben, mehr auf ihre Identität zu setzen, ihre Bekanntheit oder die Behauptung jener Identität, als auf ihr Wissen und auf den Grad der Hingabe an die Erfahrung: Denn der bildende Künstler hüllt sich in das Prestige seiner ›Signatur‹ und spielt sie vollkommen aus, indem er sich selbst im Vollbringen des Akts bestätigt, während der Tänzer, obwohl er das Potenzial seiner ›Präsenz‹ aufrechthält, und obwohl er sich als Subjekt und Signierender hingibt, als ein bloßer Handwerker der Geste betrachtet wird. »Wenn ich den Daumen hebe«, schreibt Yvonne Rainer, »ist das nur eine Tanzbewegung. Wenn dagegen Robert Rauschenberg den Daumen hebt, ist das wichtig, weil es Rauschenberg ist.«53 Wahrscheinlich wurden die Experimente der ›Verschiebung‹, die am stärksten gegen die traditionellen Definitionen der Inhalte des choreographischen Werks verstoßen, in der Geschichte des Solos durchgeführt, einer Form, die wie wir gesehen haben, vor allem experimentell ist. Dies geschah ganz besonders durch die radikalen US-amerikanischen Tanzströmungen der 60er und 70er Jahre, aber nicht nur. Ein Beispiel dafür führt Rosalind Krauss in ihrem berühmten Text »Notes on the index (»Bemerkungen über den Index«)54 an. »Es handelt sich«, schreibt die Kunstkritikerin, »um eine Performance, die Deborah Hay im Herbst 76 veranstaltete, und in deren Verlauf sie dem Publikum erklärte, dass sie anstatt zu tanzen lieber reden würde. Mehr als eine Stunde lang setzte Deborah Hay ihre ruhige aber bestimmte Rede an die Zuschauer fort, die daraus bestand, dass sie da war, dass sie sich an sie richtete, aber dieses Mal nicht durch die Routine einer Serie von Bewegungen, weil sie keine besondere Rechtfertigung 52 | Vgl der Text des Theaterkritikers Georges Banu: »De la présence«, in: Art-Press Nr. 182. 53 | Y. Rainer: Work, S. 9. 54 | Rosalind Krauss: »Notes sur l’index«, in: October, Herbst 1976, Nachdruck in L’originalité de l’avant-garde et autres mythes modernistes, Paris: Macula 1994, S. 79-80.

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mehr für diese Routine fände.« In diesem »choreographischen Werk« zeigt Krauss mehrere Charakteristika der Verfremdung des traditionellen Mediums durch Verfahren der Avantgarde auf: Erstens »die Weigerung, zu tanzen, oder das, was man allgemeiner als eine Flucht außerhalb der ästhetischen Konvention betrachtet«. Drittes Charakteristikum ist »ein verbaler Diskurs, durch den das Subjekt die einfache Tatsache seiner Anwesenheit wiederholt«. Für das dazwischenliegende Charakteristikum bezieht sich Krauss auf einen Teil von Hays Präsentationsdiskurs, den wir nicht zitiert haben, da darin ein äußerst spezieller Wissens- und Denkbereich des Tanzes der 70er Jahre behandelt wird. Die Autorin des Kommentars gibt ihn folgendermaßen wieder: »Die Konzeption des Tanzes, zu der sie, wie sie sagte, gelangt war, war es, mit jeder einzelnen Zelle ihres Körpers in Kontakt zu treten.« Jeder beliebige Kommentator, der sich ein bisschen im Tanz auskennt, erkennt darin die damals von Bonnie Bainbridge Cohen vertretenen Ideen wieder, die noch heute im Rahmen des Body Mind Centering unterrichtet werden, und die besagen, dass bei jeder Ontogenese der Erscheinung des Subjekts nicht nur die Eingeweide sondern auch die Zellen beteiligt sind. Mit Nachdruck schließt Rosalind Kraus daraus, obwohl sie mit dem gerade Erwähnten nicht vertraut ist, auf »die vollkommene Präsenz vor sich selbst«, die übrigens mehr als sie es glaubt, zu den grundlegenden Codes des zeitgenössischen Tanzes gehört. Es folgt die schöne Analyse, die uns zu jener Halb-Auslöschung des Zeichens führt, das »der Index« ist, die Spur eines abgeschaff ten oder verlorenen Ereignisses, wie die physische Äußerung eines Grundes, die Spuren und Fingerabdrücke hinterlässt. Doch kann jenes ›Indiz‹ des Tanzes, dessen letzte Zuckung ein Akt der reinen Präsenz sein könnte, im Rahmen eines zeitgenössischen Projekts zum eigenständigen Tanzakt werden, dessen Informationen quantitativ jenen überlegen sind, die das Indiz liefert. Ein Beispiel: Innerhalb derselben künstlerischen und historischen Strömung wie Deborah Hay forderte Trisha Brown in ihrem Stück »Skymap« die Zuschauer dazu auf, sich im Dunkeln auf den Boden zu legen und den Worten zu lauschen, die die Gesten ersetzten.55 In beiden Fällen wohnt man, über den modernen Ausweg aus dem Signifi kanten hinaus, der einer Kunst eigen ist, die ihre eigenen Träger in Frage stellt, einem ›reduktionistischen‹ Umgang mit ins Spiel gebrachten Elementen bei, das dem Minimalismus eigen ist, einer Strömung, in die sich die Arbeiten der beiden Choreographinnen damals einordnen ließen. Denn die Verfremdungsverfahren von denen wir gesprochen haben, gehörten zu jenen ›negativen‹ Haltungen, die versuchten, die defi nitionslosen Bereiche zu erforschen, durch die sich ein Medium im Spiegel sei55 | Siehe Banes: Terpsichore in Sneakers, S. 92-95.

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ner erloschenen Reflexe selbst in Frage stellen konnte. Dies ist eine der ebenfalls von Rosalind Krauss beschriebenen Praktiken von Robert Morris in seiner »Nicht-Skulptur« und seiner »Nicht-Architektur«, die dem, was damals im ›Nicht-Tanz‹56 geschah, sehr nahe standen. Zwar könnte der Tänzer heutzutage jenes Erbe extremer Erfahrungen nicht mehr leugnen. Doch wenn es ihn danach verlangt, nicht identifizierte choreographische Objekte zu erforschen, Tänze, die anders als innerhalb der gewöhnlichen Begrenzungen der choreographischen Definitionen zum ›Werk‹ werden, beruft man sich anscheinend nicht mehr auf den ›Nicht-Tanz‹: Hier gilt es im Gegenteil, die Suche nach einem Überschuss von Tanz und Körper in einen Definitionsrahmen einzuschreiben. Manchmal spielt die örtliche Auslagerung die Rolle der Rückbindung der referenziellen Auslagerung. Dennoch bleibt das Werk als Choreographie vollkommen identifizierbar: so wie in Daniel Larrieus bewundernswertem »Waterproof« (1986), das in einem Schwimmbecken ›getanzt‹ wurde. Um uns diesem Überschuss an choreographischer Indizierung anzunähern, vergleichen wir das »Waterproof« der 80er Jahre mit einem Avantgarde-Ereignis von 1962, das mit der Verwirrung oder der Negierung künstlerischer Definitionen spielte: »Whales« von Claes Oldenburg, das ebenfalls in einem Schwimmbecken stattfand. Darin schuf Oldenburg durch eine hydraulische Apokalypse von eintauchenden und eingetauchten Körpern eine absichtlich frenetische Performance, deren bestimmendes Element die um ihrer selbst Willen gegebene Situation war. Für Larrieu dagegen ist das Anliegen vielgestaltig, aber von einer raffinierten Präzision. Die Tänzer im Wasser und am Beckenrand verspüren die tiefgreifende Erfahrung des Gewichts und die Empfindung des Luftanhaltens, teilen sie mit dem Zuschauer und tragen ihn in ihrem eigenen Dahintreiben oder ihren angehaltenen Atemzügen mit davon. Das Teilen der Körpererfahrung, der Veränderungen der Gravitation und des Atems ist so stark, dass man sich im »Mehr-als-Tanz« befindet, da wo der körperliche Akt an seine möglichen Grenzen stößt, wo das, wonach gesucht wird, das Teilen jener Begrenzungen selbst ist. Das Gleiche lässt sich über die Stücke von Odile Duboc sagen, die ebenfalls räumlich ausgelagert sind, doch wo die Definition im Sinne einer Zustimmung zur Definition des Mediums stärker wird. In den quer durch die gesamte Stadt Aix-en-Provence getanzten »Entractes« oder in jüngerer Zeit in den Straßenexperimenten in der Nähe von Belfort, wo sie seit Kurzem einem Centre Chorégraphique National vorsteht (ein Experiment, das unter anderem am Ausgang der Peugeot-Fabrik in Souchaux durchgeführt wurde), verschmelzen Odile Dubocs ›Fernands‹ getaufte Tänzer 56 | Vgl. die Untersuchung dieses Konzepts durch Michael Kirby: »La non-danse«, in: Le corps en jeu, Paris: éd. du CNRS 1992, S. 209-217.

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mit dem Zirkulieren der Menge und entziehen sich zuweilen der Wahrnehmung oder sogar dem Gesichtskreis des Zuschauers. Jene Verfahren des Verschmelzens oder Verschwindens lassen sich gewiss in die Nähe zu bestimmten Werken aus den 60er Jahren rücken (»Museum« von Deborah Hay, wo die Tänzer mit den Besuchern einer Ausstellung am Abend der Vernissage verschmolzen, indem sie genau wie sie vor den Bildern stehenblieben, sich unterhielten usw.). Doch weit davon entfernt, den Tanz als eigenständiges ›Genre‹ in Frage zu stellen, regt Duboc einen ›Hyper-Tanz‹ an (sie selbst spricht in Bezug auf eines ihrer Soli von ›overdance‹…), der der grenzenlose Tanz der Welt wäre. Das Verschwinden des Tänzers führt nämlich nicht zu einer ›negativen‹ Strategie, die die Identität des Tanzes in der Banalität irgend eines beliebigen städtischen Straßenverkehrs auflöst, sondern verleiht im Gegenteil jenem Straßenverkehr den Wert eines absoluten Tanzes, in dem die von den Menschen zurückgelegten Strecken zu Tanz werden und zu der Legitimation, von der ausgehend sich die Poetik der Fortbewegung der Tänzer äußert. Hier wird der unermessliche Perspektivenwechsel deutlich, der die Auslagerung des tänzerischen Akts in Gegensatz zu traditionellen Stätten wie auch zu den künstlerischen Definitionen der amerikanischen Radikalität der 60er Jahre setzt. Die Verschiebung der Umgebung ermöglicht hier ein Infragestellen der Umrisse, der Wahrnehmungen und der poetischen Essenz des Tanzes, die später im Tanz der 80er und 90er Jahre bei bestimmten französischen Choreographen gesucht und in ihren Ausflüchten gefeiert wurde. Eines der Stücke, das in Frankreich am stärksten gegen die Definitionen des Werks verstieß, nicht durch Verfremdung des Rahmens oder der Repräsentationsweise, sondern weil darin die inneren Umrisse des Werks selbst umgestürzt wurden, war ohne jeden Zweifel »Le saut de l’ange« von Dominique Bagouet und Christian Boltanski. Es ist übrigens nicht unwichtig, dass ein großer bildender Künstler an dieser tiefgreifenden Verfremdung mitgearbeitet hat. In seinem harmlosen Anschein, dadurch, dass es den traditionellen Bühnenraum zu besetzen und allen erlaubten Riten der choreographischen Auff ührung zu gehorchen schien, war jenes Werk, wie es Christian Boltanski ausdrückt, zutiefst ›abwegig‹.57 Als Anhänger der ›Auslagerung‹ des Kunstwerks, das sich seiner Meinung nach weder auf spezifische Orte noch auf spezifische Codes beziehen darf, war Boltanski besonders von der Welt des Tanzes fasziniert (was auch alle Phantasien einschloss, die seine traditionelle Sichtweise dort hinein projizieren konnte). Also setzte er auf seine persönliche Unkenntnis der Codes, ohne dabei 57 | Filmische Quelle: ENTRETIEN AVEC CHRISTIAN BOLTANSKI (R: Charles Picq, Frankreich 1993), Sammlung der Videothek der Maison de la Danse (Lyon).

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seine Phantasien aufzugeben, während sich Bagouet freiwillig aller seiner handwerklichen Fähigkeiten berauben ließ, die es den Codes erlaubt hätten, wieder in das Projekt zurückzufinden. »Ich wusste nicht, und er wusste nicht mehr«, bringt es Boltanski als einziger überlebender Autor der beiden federführenden Künstler des Projekts wunderbar auf den Punkt. Das Werk funktioniert somit gemäß einer doppelten Ausrichtung: Es ist als Tanzauff ührung kodifiziert, ohne jedoch eine zu sein. Die »Bühne«, die einem Zirkuspodest viel näher scheint als einer Bühne im kulturellen Sinne, ist ein wenig aus der Sichtachse des Publikums heraus verschoben, genug, um die Normen des Sehens und der Raumsituation der Tänzer zu destabilisieren. Die Interpreten tanzen häufig seitlich auf dem Pflaster des Cours Jacques Cœur, abseits der Bühne, und erscheinen in vollkommen willkürlichen Abständen im Fensterrahmen des berühmten Gebäudes. Obwohl Dominique Bagouet das Projekt mit der gesamten Kunstfertigkeit konstruiert und zusammengestellt hat, für die er bekannt war, hatte er einen Großteil seiner choreographischen Ansprüche aufgegeben. Die Tänzer vollführten eine Gestik, die nichts Musikalisiertes hatte; kleine Gesten, wie die Spinnenhände von Catherine Legrand, die den Schädel von Jean-Pierre Alvarez kratzten, oder die entfesselten Galopps von Sonia Onckelinck, standen in krassem Kontrast zu den genau gefassten, durchgearbeiteten Gesten der vorangegangenen Stücke, wo der choreographische Raum und die Gestik in die Tiefe gerichtet waren und die gesamte Fragestellung um die inneren Rätsel des Seins kreiste (»Le Crawl de Lucien«, 1985, »Assaï«, 1987). In »Le Saut de l’Ange« strahlten die schiff brüchig gegangenen Codes keinerlei Sinn aus (was sie jedoch nicht davon abhielt, hin zu einem äußerst raffinierten Werk abzudriften). Ein Bild dafür ist die unzusammenhängende Vielfalt der musikalischen Referenzen, von denen manche Bagouets Antworten auf Forderungen sind, die Boltanski für unlösbar hielt (doch hatte er dabei die Rechnung ohne die immense Bildung und List des Choreographen gemacht). Boltanski forderte ihm zum Beispiel dazu auf, ein Stück von Mozart zu finden, das von Beethoven komponiert wurde. Bagouet fand daraufhin die Variationen über Papagenos Arie »Ein Mädchen oder Weibchen« aus der »Zauberflöte«. Also kehrte Beethovens gleichsam heiteres und melancholisches Klavier wie ein verlorenes Leitmotiv zwischen zwei Tubaklängen von Pascal Dusapin wieder. Das Gleiche galt für die Kostüme, denn die Tänzer waren aufgefordert, sich als das zu ›verkleiden‹, was sie als Kinder gerne gewesen wären. Daher rührt der, wie man sagen muss, unzusammenhängende Eindruck der Kostüme, die von Dominique Fabrègues für jeden einzelnen ausgehend von echten Kleidungsstücken nachempfunden wurden, und die noch mehr zu dem seltsamen Traumcharakter beitrugen, den jenes Werk ohne Identität verbreitete. Wie alle großen Meisterwerke lädt »Le Saut de l’Ange« zu

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unterschiedlichen Lesarten ein: Man muss darin auch die Faszination der beiden Kumpane Boltanski und Bagouet für das Bild der Kindheit sehen, das auch das Bild des Todes ist (der Tod des Kindes in uns, das wir gewesen sind). Eine Faszination für jene Schattenwelt, die Dominique Bagouet seit »Assaï« betreten hatte und die wunderbar zu Boltanskis jüngstem Projekt »Leçon des Ténèbres« passte, in dem das Werk nach und nach von der Nacht verschluckt wurde. Außerdem zeugt »Le Saut de l’Ange« von der Faszination für eine Geschichte, die abläuft wie zwei übereinandergelegte Gerüste: die Geschichte der Tänzer, die zugleich Engel und Phantasiegestalten sind, und die ihr eigenes Leben durch ihre Gesten auf der Bühne zitieren, als sei jene dem Untergang geweihte Fiktion nötig, um etwas Neues über die Wahrheit der Seele zu erfinden. Solcherlei Werke, die sich über alle Etappen des zeitgenössischen Tanzes hinweg verstreut finden, haben die Kriterien und Werkzeuge der Lesbarkeit stetig verändert, die für die Beschäftigung mit ihnen nötig sind. Sie fordern zur Toleranz auf und zu einer offenen Wahrnehmung. Sie bringen nicht nur eine Auff ührung sondern auch einen Zuschauer hervor. Sie erfinden eine neue Art des Blicks und des Begreifens, die die in der Moderne vollzogenen Definitionen und Gegen-Definitionen des choreographischen Werks weiterentwickelt. Dies verlangt von Seiten des Zuschauers eine absolute Aufgeschlossenenheit, eine Art von Akzeptanz, die Deleuze »grundlegende Passivität« nennt.58 Der Zuschauer soll sich weigern, das Kunstwerk von vorhernein Verfahren der Beurteilung zu unterwerfen, und somit endlich eine wahrhaft ›pathische‹ Beziehung zum Werk eingehen. Wie wir gesehen haben, gibt es choreographische Werke ohne eigentlichen ›Tanz‹, in denen sich andere Materialien über die Bewegung erheben oder davon abwenden. Weit über den Tanz hinaus handelt es sich vermutlich um die Fähigkeit der zeitgenössischen Kunst, Inhalte solange von einem Ort zum anderen reisen zu lassen, bis sich alle Genregrenzen auflösen: Ein Maler kann wie Broodthaers Schrift hervorbringen, ein Bildhauer wie Takis Klang erzeugen. Doch unabhängig von solchen systematischen Unternehmungen der Verfremdung und des Infragestellens der Signifi kanten spielt das choreographische Werk in freiem, entfesseltem Lauf all seine Möglichkeiten durch. Werke wie Decouflés »Triton« (1990) oder »Petites Pièces Montées« (1994) können als belebte Körpermaschinen betrachtet werden, als monumentale Skulpturen, denen die Bewegung eine provisorische Frage einprägt und in denen der Körper eine relativ eingeschränkte, keineswegs zentrale Rolle zugewiesen bekommt, was sich bei einem Schüler von Nikolais fast von selbst versteht. Dabei weiß man, dass Decouflé ein gleichermaßen elastischer und kraftvoller Tänzer mit einer sehr schönen 58 | Gilles Deleuze: Logik der Sensation, Kap. 3.

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Gestik ist, und dass es nur an ihm läge, dies auszustellen. Das Gleiche gilt für eine Compagnie wie »Castafiore«, wo die Handhabung von Objekten, Klängen und Formen wichtiger ist als das Auftreten einer möglichen Bewegung. In derartigen Projekten behauptet sich der zeitgenössische Tanz als offenes ›schöpferisches Dispositiv‹, das sich durch keine Spezifizität ins Repertoire der Künste einordnen lässt. In all jenen Fällen bestand die ›Tanzarbeit‹ jedoch nicht nur darin, an der großen Strömung der ›Auflösung der Genres‹ teilzuhaben, die die gesamte Kunst dieses Jahrhunderts durchzieht, sondern vor allem darin, durch Akte der ›Handschrift‹ ebenso ihre Aktualisierung wie ihre Wahrnehmung anzubieten. Zwar handelt es sich um diversifizierte Akte, doch impliziert ihre Gestaltung ein Gewebe, eine Ansammlung von Gelenken, durch die der Körper sowohl seine Beziehung zum Symbolischen als auch die Modalitäten dieser Beziehung immer wieder neu erfinden kann.

Auf Tuchfühlung mit dem Bühnenbild Die Geschichte lehrt uns, dass das Element, das dem Fortschritt als erstes zum Opfer fällt, stets das Bühnenbild im traditionellen Sinne des Wortes ›Dekor‹ ist. Da der Körper den Raum bildet, lehnt die Tanzavantgarde jeglichen Apparat zur vorherigen Etablierung dieses Raums ab. Deshalb bestand Modernität im Tanz niemals darin, das Bühnenbild dem Tagesgeschmack anzupassen, sondern darin, seine Rolle und Notwendigkeit in Frage zu stellen. Dies ordnet Diaghilevs Unternehmungen in eine bestimmte Tradition ein: Indem er das Pikturale vom Choreographischen trennt, macht er aus dem bewegten Körper eine Form, die sich vor einem ›Hintergrund‹ bewegt und diesen illustriert. Obwohl Oskar Schlemmer die Bühnenbilder der von Diaghilev beauftragten Maler ›interessant und bezaubernd‹ fand, warf er ihnen vor, dass es ihnen nicht gelinge, über die einfache Übertragung eines Gemäldes auf die Bühne hinauszugehen59 (wie man weiß, war eines der Ziele der Ballets Russes, zumindest in ihrer Anfangszeit, die künstlerische Bekanntmachung der russischen Maler dank des Glanzes jener Bühnenbilder). Vollkommen anders waren dagegen die Unternehmungen von Loïe Fuller oder Isadora Duncan, die ihr visuelles Universum in Konvergenz mit den Antrieben ihrer Bewegung konstruierten. Letztere erschütterte bekanntlich die Gegebenheiten und sogar die Defi nition des tänzerischen Werks, indem sie alle Auff ührungskonventionen über den Haufen warf; unter anderem durch einen Vorhang aus blauem Samt als einzigem Hintergrund, oder vielmehr als Fehlen eines Hintergrundes, als nächtliche Schicht, die den Körper wieder in der Welt platzierte, und 59 | Oskar Schlemmer in: Idealist der Form, S. 88.

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nicht in Repräsentationssystemen (und die gleichzeitig der Bewegung eine kraftvolle sichtbare Gestalt verlieh, die nicht mehr das Pikturale illustrierte, sondern selbst piktural wurde). Dalcroze hat diese Problematik mit der theoretischen und künstlerischen Unterstützung Appias wesentlich vertieft. Zunächst erinnerte er daran, dass der »lebendige plastische Rhythmus« sich nicht mit einer erstarrten Vorstellungswelt vereinbaren lässt.60 Dann stellte er zwei unvereinbare Universen einander gegenüber: jenes der Zweidimensionalität (besonders der klassischen gegenständlichen Zweidimensionalität, unter Beibehaltung einer dargestellten Tiefe) und das der Dreidimensionalität der Bewegung, die die Ebenen trägt, verschiebt und verwandelt und unablässig Volumen hervorbringt und diese bewohnt. »Die gemalten Dekorationen, wie sie zurzeit üblich sind, stehen dem wirklichen Rhythmus, den der menschliche Leib im dreidimensionalen Raume ausführt, geradezu feindlich gegenüber.«61 Der neue, ›rhythmische‹ Tänzer, forderte eine Bühne, bei der alle Elemente, einschließlich des Lichts, von dem man weiß, wie wichtig es für Appia war, auf Seiten der Bewegung liegen sollten, der Verwandlung eines organischen Körpers durch die Bewegung. Darin lag eine Verdammung der klassischen Darstellung, aber auch die Vision eines ›plastischen‹ Raums, der noch entstehen sollte: »Kulissen und Hintergründe mit wirklicher Höhe und Breite, aber mit bloß vorgetäuschter Tiefe passen nicht in den Raum mit wirklicher Tiefendimension; und die schattenlose Beleuchtung beeinträchtigt die realen Werte der Plastik und der Bewegung.«62 So wird das Licht in Hellerau zu einer umfassenden Umgebung und nicht zu einem Faktor für dramatische Effekte von Relief oder Auslöschung. Es wird zur reinen Modulierung von Raum und Zeit. Die Bühnenumgebung muss also Empfänger der ›wirklichen Tiefe‹ sein, die sich in die Körper, die mit dem Raum durch den Rhythmus und die Dichte in Zwiesprache treten, eingräbt und sich in ihnen verankert. Dies war ein erster Schritt zu jener Kunst, in der Rauschenberg für Cunningham leuchtende oder im Raum verteilte Materien ausbreiten würde und wenig später Robert Wilson seine bildnerischen Räume entfalten sollte. Das Ziel ist eine andere Art der Sichtbarkeit, wo sich die Pikturalität der Bühne auflöst, um den Horizont ihres Auftretens anderswo neu zu erfinden. Denn ab jetzt ist der visuelle Kontext kein bloßer Kontext mehr. Er gehört von nun an zum Projekt der Handschrift. Er wird mit der tänzerischen Bewegung jenen dialektischen Aspekt unterhalten (der weder illustrativ noch fusionell ist), der die Schlüssel für die Handschrift liefert und begründet. Gemeinsam mit der Beleuchtung wird er, wie Susan 60 | Émile Jaques-Dalcroze: Rhythmus, Musik und Erziehung, S. 163. 61 | Ebd. 62 | Ebd.

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Buirge sagt, den Kostümen und der Musik, den Bewegungs-Äußerungen »Sinn und Wider-Sinn« bringen. Das ›Bühnenbild‹ ist häufig unter anderen Aspekten wiedergekehrt, insbesondere durch Kontaminierung mit dem Theater und vielleicht durch die Notwendigkeit, Anhaltspunkte und visuelle Darstellungen zu liefern, wenn die Bewegung allein nicht ausreichte. Leider geschah dies oft mit dem Ziel, ›schöne Bilder‹ hervorzubringen, ein Bemühen, das eine gewisse Niederlage der Poetik des Tanzes in den 80er Jahren auszeichnete; darin gab der Tanz einer ästhetisierenden Versuchung nach, die vom Theater jener Zeit kam. Dies gilt jedoch nicht für die geschlossenen, manchmal sogar naturalistischen Bühnenbilder von Pina Bausch, besonders um 1980 herum, deren frappierendstes Beispiel, das Bühnenbild von »Cafe Müller« mit seinen ›Trennwänden‹ war, die Daniel Dobbels erwähnt: Hier fungiert das ›Bühnenbild‹ eher als Abtrennung, als Hindernis.63 Es umrahmt den Tanz nicht, sondern behindert ihn. Sein akkumulativer Charakter zeugt vom Verlust: Stühle und Tische sind darin wie Fallstricke und Gebiete, in denen man steckenbleibt, aus denen sich weder das Wesen noch die Bewegung befreien können. Ob gewollt oder nicht, wird die ›Rückkehr‹ des Bühnenbilds im zeitgenössischen Tanz immer mehr oder weniger dieselbe Rolle haben. Sie kann eine Kapitulation bedeuten, wie es Trisha Brown formulierte, als sie nach fünfzehn Jahren experimenteller Arbeit einwilligte, sich auf eine Theaterbühne zu begeben. Für sie ergibt sich die ›Theatralität‹ durch den Repräsentationsrahmen, der den Akt den Rahmen der Sichtbarkeit unterordnet. Für Brown ist es wichtig, dass bildende Künstler (Rauschenberg, Judd) sie auf diesen Reisen begleiten, um den nötigen Abstand zu den Codes der Unterwerfung unter das Spektakuläre, zu den vorgefertigten Bildern, zu wahren.64 In all jenen Erfahrungen liegt zwar auch eine visuelle Magie, eine aktive Grundsatzentscheidung, aus der ästhetischen Extase heraus traumartige Formen hervorzubringen, vom monochromen Glanz von Rauschenbergs ›combined‹ für »Astral Converted« (1991) bis zu Don Judds farbigen und bewegten Schichten (»Newark«, 1986), doch auch ein wichtiger kritischer Aspekt, zumindest was das Bühnenbild angeht: Die erhabenen Formen dienen vor allem dazu, ihre eigenes Faszinationsvermögen in Frage zu stellen. Browns Widerstand gegen die Bühnenkonvention bleibt jedoch ein Einzelfall. Viele Choreographen schieben diese Frage auf oder betrachten sie als bereits abgeschlossen. Meist wird der bühnenbildnerische Beitrag, auch wenn er von bedeutenden bildenden Künstlern stammt, aus Raum63 | Daniel Dobbels: »La cloison«, in: Théâtre public Nr. 58/59, 1984. 64 | Bulletin du CNDC d’Angers Nr. 9, Frühjahr 1990.

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objekten oder -fragmenten bestehen: Es steht außer Frage, eine abgeschlossene und umfassende sichtbare Gestalt wiederherzustellen. Noch heute wird mit diesem Aspekt unablässig experimentiert. Glücklicherweise sind die Beziehungen zwischen Tanz und Bühnenbild immer noch mehr Versuchsanordnungen, als rein dekorative Unternehmungen.

Werke und Objek te Das Objekt dagegen hat längst seinen Platz unter den Elementen der Handschrift gefunden. »Ich mag die Dualität der Accessoires und der Objekte, ihre Nützlichkeit, ihren Wert als Hindernis für den menschlichen Körper. Und plötzlich mag ich auch den menschlichen Körper: als denkende Entität, die frei zu handeln und zu entscheiden ist, und auch als träge objektartige Entität. Aktiv-passiv, resigniert-motiviert, autonom-abhängig. Analog dazu kann das Objekt nur diese Polaritäten symbolisieren. Es kann nicht motiviert werden, nur aktiviert. Doch seltsamerweise kann sich der menschliche Körper dem Objekt annähern. Der menschliche Körper kann wie ein Objekt behandelt werden, gesteuert wie ein Faktor ohne Gefühl und ohne Verlangen. Der Körper selbst kann gehalten und manipuliert werden, als verfüge er über keinerlei Eigenmotrizität«, schreibt Yvonne Rainer.65 Bevor wir mit der Betrachtung des Objekts und seiner Rolle für die Arbeit des Tänzers fortfahren, müssen wir auf jene Zeilen von Yvonne Rainer antworten (und vielleicht gegen sie verstoßen): Ein ihr nahestehender Künstler, Robert Morris, entwarf eine kinematographische Perfomance (»Untitled«, 1972), ausgehend von den Rollbewegungen einer großen Kugel auf einem Dielenboden. Durch seine Kugelform bewegt sich das Objekt von selbst, mit oder ohne Anfangsimpuls; dies verleiht ihm, analog zu jeder Murmel oder jedem Ball, eine Art blindes und machtvolles Bewusstsein, wie man es in den Gliedern der von Kleist ersonnenen Marionette finden würde. Doch abgesehen von jener Illusion ist der Film sehr beeindruckend, denn die Kugel scheint anzustoßen, abzuprallen, sich von allen Hindernissen, denen sie begegnet, wegschleudern zu lassen: Wände, Winkel usw. Sie scheint von selbst belebt zu sein, nicht durch ihre Fähigkeit, sich fortzubewegen, sondern durch ihre Fähigkeit, von der Materie angegriffen zu werden, den Schwung nicht zu geben, sondern ihn zu empfangen. Genau wie der menschliche Körper ist sie gleichzeitig durch die Umgebung ihres Laufs determiniert und frei dazu, dessen Dynamiken anzuregen. Sie ist menschlich, weil sie die Zusammenstöße, die Übergänge, die Alterität der Dinge in sich ›aufnimmt‹. Sie hat jene Qualität der Antwort, die das lebendige Wesen ausmacht, und die Nikolais im ›Rückfedern‹ sah. 65 | Y. Rainer: Work, S. 66.

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Somit kann das Objekt als ein anderer Körper fungieren, der sich mit dem Körper der Menschen vermischt, als Präsenz und als Reservoir der Verwandlung. Uns interessiert vor allem diese geheime Beziehung zwischen dem Objektkörper und dem Tänzerkörper, noch lange vor der Verwendung des Objekts auf der Bühne. Manche Tänze und Improvisationen sind vollständig aus der Manipulation eines Objekts entstanden, durch die der Körper eine neue Partitur erfinden konnte: durch den Kontakt, die Materie, das Gewicht, alles, was sich auf die von der Objekthaut auf die Menschenhaut übertragenen taktilen und epidermischen Empfindungen bezieht, die so wichtig im Tanz sind. Doch kann sich das Lesen, wie Simone Forti vorschlägt, wie das bloße Lesen einer Partitur vollziehen. Dies gilt besonders für ihre »strukturierten Improvisationen«, wo ein beliebiges Objekt dieser Welt ›Text‹ oder ›Prätext‹ werden kann, als trage es schon seit jeher einen Sinn oder eine Bewegung in sich, die es zu entziffern gilt. Hier drängt sich die Notwendigkeit auf, unter den ›Objekten‹ im weitesten Sinne zwischen einem fabrizierten Objekt, einem Artefakt, das einem inneren ›System‹ gehorcht, und einem ›Ding‹ oder materiellen Element zu unterscheiden, das nicht Ergebnis eines abgestimmten Projekts ist. All diese Elemente sind im Tanz präsent. Der Butoh arbeitet gerne mit Elementarmaterialien: Wasser, Sand usw. Doch gehört das Objekt in seinen unterschiedlichen Gestaltungsgraden, vom banalen Objekt ohne besondere Identität bis hin zur Skulptur, zum Kunstobjekt, zu den Grundbestandteilen des zeitgenössischen Tanzes. Das Objekt kann funktional sein (ein Stuhl, ein Stock) oder nur eine dem Objekt entnommene abstrakte Charakteristik (die Tänze der Formen im Bauhaus, die die elementaren Formen der berühmten Vorlehre illustrierten). Mal gerät der Körper mit dem Objekt in Konflikt, mal dienen die szenischen Elemente dazu, die Bewegung zu beflügeln. Als eine aus einer kontinuierlichen Umgebung entnommene Parzelle kann das Objekt einer reinen Materie Platz machen, wie den Stoffen, den Umhüllungen, die Jerome Andrews benutzte. Es lässt sich auf einen Primärfaktor der Funktionalität reduzieren: Dies war im Allgemeinen die Behandlung, die die Tänzer der sogenannten post-modernen Schule, die Anfang der 60er Jahre in Kunstgalerien oder in der Judson Church auftraten, den Objekten zuteil werden ließen: Simone Fortis Tanzperformances benutzten rudimentäre Objekte, Ur-Objekte, wie man sagen könnte, die noch undifferenzierter als die Artefakte des Alltagslebens waren: ein auf einem zentralen Träger platziertes Brett, die primitive Form einer Wippe, oder auch Stangen oder Seile. Jedes Mal luden die Objekte die Körper dazu ein, gleichermaßen unerhörte und archaische Situationen zu erforschen. Zum Beispiel Fortis Tanzperformance »Seesaw«, die in der Reuben Gallery stattfand (wo übrigens der Fluxus-Bewegung nahestehende Künstler wie Claes Oldenburg im Rahmen desselben Programms

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auftraten). In »Seesaw« benutzten die Performer Yvonne Rainer und Bob Morris die Wippe zunächst zum einfachen Gewichtstransfer mittels eines Waagebalkens. Anschließend variierten sie die Bedingungen jener Arbeit, die sich um das Gewicht drehte. Dieses Verfahren könnte einem simpel erscheinen, läge darin nicht die Bedeutung des Einsatzes der Gewichtsvariation als grundlegendes Element jeder Bewegung. In »Rollers« (Reuben Gallery, 1960) fuhren Performer in auf Rollen angebrachten Holzkisten herum und waren aufgefordert, sich ihrer Stimmen zu bedienen und Worte ihrer Wahl auszutauschen, sei es auch in Form unverständlichen Sprechens. Jeder von ihnen wurde am Ende an drei Seilen von Mitgliedern des Publikums gezogen. Der Mangel an Koordination führte zu Rucken, jähen Stopps und sogar Zusammenstößen, die auch die Körper der beiden Performer affizierten. Dieser Tanz stellte die zutiefst archaischen Erfahrungen jeglichen ›Transports‹, sowie derjenigen des ›gezogenen‹ Objekts wieder her. Selbstverständlich wurde in jenen beiden Werken der Ablauf der Körpererfahrungen durch die unvorhersehbaren Bewegungen des Objekts vorgegeben – allerdings in sehr unterschiedlicher Weise und gemäß verfremdeter Benutzungmodalitäten (wie die Stück für Stück peinlich genau von den Tänzern aufgereihten Stangen in Trisha Browns »Line Up« (1970)). Doch ob es nun in traditioneller Weise in Bezug auf seine gewöhnliche Bestimmung benutzt wird, oder ob es davon entfremdet wird, muss das Objekt in der post-modernen Schule stets die Neutralität eines Gebrauchsgegenstandes bewahren: ihm ist jeglicher auratischer oder reflektierender Charakter genommen. Seine Banalität hat die Aufgabe, die Bewegung, die es hervorbringt (oder die es erzwingt) zu objektivieren. Somit kann das Objekt, je nach Epoche, Schule oder Umständen mehrere gleichzeitige und/ oder widersprüchliche Funktionen haben. So wird der Stuhl, der in der Regel zum allergewöhnlichsten Register gehört, von Pina Bausch in vollkommen naturalistischer Weise benutzt (»Kontakthof«, 1982), von Anne Teresa De Keersmaeker in halb naturalistischer Weise (in »Rosas danst Rosas«, 1983, dann in »Elena’s Aria«, 1985), und in absolut nicht-naturalistischer Weise von Merce Cunningham in »Antic Meet« (1954) (auch wenn hier der Stuhl von Bob Rauschenberg stammte und quasi ein Kunstwerk vom Rang eines ›ready made‹ war). Außerdem gibt es Objekte des Traums, des Deliriums, das heißt im Grunde einer abgehobenen Sicht auf die Realität. Dies gilt beispielsweise für die Objekte des Tanzbildhauers Alwin Nikolais, die den Körper entweder durch Fäden verlängern, die auf die allgemeine Elastizität der Umgebung verweisen (»Tensile Involvement«, 1979, oder »Tent«, 1968), oder durch Anhängsel, die die Körperachse verschieben oder in die Länge ziehen. Nikolais’ Objekte überwinden den Anthropomorphismus, um zu einem freien, physischen und metaphysischen Bewegungsuniversum ohne Ausrichtung auf ein anatomisches Gravitationszentrum, ohne

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von vornherein existierende Faktoren zu gelangen: Ihr Ziel ist eine Welt, in der die Intention die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung ersetzt hat. Die gleiche Leidenschaft für das Körperobjekt finden wir in Philippe Decouflés Zusammenarbeit mit Philippe Guillotel wieder. Guillotel ist gleichzeitig Bildhauer und Kostümbildner und steht Decouflé bei dem Abenteuer des Körpers in der scheinbar trägen Materie, die jedoch bereits von einer Bewegung bewohnt wird, die sich unablässig in ihr ein- und ausrollt, als komplementärer Partner zur Seite. Manchmal ist das Objekt ein sogenanntes Kunstobjekt, das eine berühmte Signatur trägt. Denn die Teilnahme von bildenden Künstlern am choreographischen Werk äußert sich häufig durch das Vorhandensein von vielschichtigen Bühnenobjekten (und nicht von Leinwänden im Hintergrund), die nicht dazu dienen, den Raum zu defi nieren oder vorher einzurichten, sondern dazu, ihn magnetisch aufzuladen (Nogushi für Graham). Manchmal dienen sie auch dazu, ihn zu entleeren (Rauschenberg), ihn einer Leere zu überlassen, die Raum für den Zufallsprozess bietet. In den meisten für Cunningham entworfenen Projekten leistet das Bühnenobjekt an sich keinen Beitrag: Weder Bruce Naumanns Ventilatoren für »Tread« noch das düstere Rechteck, mit dem Bob Morris in »Canfield« die Bühnenebene der Rampe versperrt, haben eine wirkliche »Funktion«. Das Bühnenbild ist nur eine Rückbindung, die die Umkehrbarkeit des durch das Werk geöff neten Feldes aufzeigen kann. Eine Ausnahme bilden dabei Warhols Objekte für »Rainforest« (1968): Denn die mit Helium gefüllten silbrigen Ballonkissen sind in ihrem unkontrollierten Herumschweben gleichberechtigte Bestandteile der Ästhetik des Zufalls und der cunninghamschen Aufgabe der Kontrolle über die Elemente, die er ins Spiel bringt, indem er sie »selbst ihre eigene Erfahrung durchlaufen« lässt, wie James Klosty sehr richtig schreibt.66 Eine weitere Ausnahme sind die ›Objekte‹ für »Walkaround Time«, die Jasper Johns den Formen von Duchamps »Grand verre« nachempfand und in dünne Strukturen aus Vinyl einschloss. Denn das gesamte Werk spielt nicht nur mit jenen geisterhaften, unerreichbaren Präsenzen, so wie der Flug der Braut an den Zenith des »Grand verre« unerreichbar ist, sondern kommentiert sie auch und reaktiviert sie durch die Vermittlung körperlicher Figuren, manchmal bis zur buchstäblichen Übernahme durch die Interpreten (so wird der Tänzer Douglas Dunn nach dem Bild der nebelhaften Braut hochgehoben und durch die Luft getragen). Dies macht das Bühnenobjekt zu einem aktiven Element, das den Tanz dynamisiert und gemeinsam mit ihm auf die Entwicklung und Konstruktion einer Dramaturgie und sogar einer Symbolik einwirkt. Bei Martha Graham spielen Isamu Nogushis Objekte eine nicht we66 | James Klosty in: Cunningham, S. 15.

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niger exemplarische Rolle: Sie sind durch ihre Substanz und ihre Form mit der Geisteswelt der Choreographin verbunden. Zunächst durch ihre Substanz, da sie elementare Materialien benutzen oder evozieren: Holz, Knochen, unbehauenen Stein, Hanfseile oder tierische Materie. Und dann durch ihre Form. Denn als Brancusi-Schüler gefällt sich Nogushi darin, archetypische Figuren zu gestalten, die voll und ganz mit den jungschen Referenzen seiner choreographischen Partnerin in Zusammenhang stehen: Nester, Sockel, Stelen, Masten, Schichten usw., die sich in wuchernder Organizität verdrehen oder verästeln. Ganz zu schweigen von den unzähligen Figuren der Verbindung, des Knotens, die den Körper durch das Ausstrecken von Seilen ausdehnen (»Frontier«), oder ihn im Gegenteil ersticken und zusammenpressen: vom Rohrkleid in »Lamentation« bis hin zur Kordel in »Night Journey«. Das Objekt wird also zur Unterstützung, zum Angelpunkt, zum Bett der Folter oder des Verlangens, zum Alkoven, Zufluchtsort oder Gefängnis – je nachdem wie der Körper sich seiner bedient, als Stütze, als Trampolin oder als Hindernis. Noch häufiger wird es zum ›Objekt‹ im absoluten Sinne eines Liebesobjekts, mit dem gesamten zweideutigen Spiel der Übergangsbeziehungen, die sich darauf beziehen.67 Wir haben den Knochen erwähnt: Die Bühnenaccessoires von »Cave of the Heart«, für die wie immer Isamu Nogushi verantwortlich zeichnet, sind vergrößerte Nachbildungen von Menschenknochen; als reflektiere das außerhalb des Körpers gelegene Objekt die innere Skulptur, die jeder von uns im Laufe seines Lebens in sich gestaltet, und die nach dem Tod als letztes Zeugnis von dem übrigbleiben wird, was sich in uns durch die Verzweigungen seiner Struktur ausgebildet hat. Dies ist eine weitere geheime Allianz zwischen Objekt und Körper, die jeden metaphorischen Austausch umfasst und gleichzeitig über ihn hinausgeht. Bezeichnenderweise ist eines der Bühnenelemente ein Kleiderständer, an dem die Kleider wie körperliche Überreste befestigt sind: Häutungen in unterschiedlichen Zuständen der Austrocknung, die der Tänzer durchschreitet. Da das Objekt ein Offenbarer von Gesten ist, der die gesamte latente Gestik enthält, zu der seine Fabrikation und seine Manipulation Anlass geben, ist jede Beziehung des Körpers zur Materie ein unendlicher Tanz, dessen Choreographie ebenso alt ist wie die Welt selbst. Es geht auf der Tanzbühne nicht darum, die Beziehung zu den Objekten in naturalistischer Weise zu mimen, auch wenn diese, unabhängig von symbolischen Konstruktionen, aus dem Bereich des Alltags stammen. Wie man weiß, reicht es aus, die Bestandteile der Bewegung zu variieren (die Dauer ihres Ablaufs, die Amplitude ihrer räumlichen Strecke, die Intensität der Muskel67 | Vgl. Margot Rowet (Hg.): Qu’est-ce que la sculpture moderne, Ausstellungskatalog MNAM Paris: Centre Georges Pompidou 1988.

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spannung), damit eine Beziehung zum gewöhnlichen Objekt (eine Schale hochheben und sie an seine Lippen führen, wie in »1980, ein Stück von Pina Bausch«) eine vollkommen andere Dimension erhält, die nicht mehr zum gewohnten Kontext gehört und die Geste und das Objekt, auf das jene Geste angewendet wird, unnatürlich macht. Dann tritt der Zuschauer in ein poetisches Universum ein, da er, wie der bereits zitierte Kandinsky sagte, die Funktion der Geste nicht mehr wiedererkennt, die der Feier einer Liturgie des Akts zu entspringen scheint. Das Objekt selbst ist überhaupt nicht mehr alltäglich: Es wird zu einer Art materiellem Rätsel, dessen Gebrauch nicht mehr entzifferbar ist. Einer der Gründe für die Schönheit von Régine Chopinots Werk »Végétal« (1995) ist, dass sie mit den »elementaren« Skulpturen von Andrew Goldsworthy (Steine, Zweige, Blätter) gearbeitet hat und daraus vergrößerte tiefe Gesten geschöpft hat (Schlagen, Tragen, Werfen), die die gesamte Geschichte des Körpers erzählen und gleichzeitig vom pflanzlichen Wachstum sprechen und von der Entwicklung der Ressourcen der Welt. Diese Elemente hängen mit den Überlebensaktivitäten zusammen, durch die der tanzende Körper den gestischen Schatz der menschlichen Gemeinschaften in seiner Essenz wiederfindet. Dort macht sich der Körper, genau wie das Objekt, zum Instrument der Erinnerung, indem er die verlorenen Windungen wieder einsetzt, die den menschlichen Raum mittels der Dynamik des Körpers zu einem riesigen Lager machen, das die Spuren von Gesten trägt. Noch bevor der Tänzer das Objekt befragt, wie es Simone Forti und Trisha Brown in ihren Improvisationen tun, trägt es, wie Laban sagt, die große kulturelle Partitur der Kombinatoriken des ›effort‹ in sich, die zu seiner Gestaltung gedient haben. »Wenn der Tänzer ein Gerät ansieht- sei es nun Werkzeug, Lager oder Dach- so ist ihm sofort das Bilde der Bewegungen und Gedanken, ja sogar der Gefühle der Menschen, die das Gerät schufen, lebendig. […] Es ist, als enthielte jedes Objekt die unsichtbare Partitur des Drückens, des Werfens, des Tragens, des Schneidens, die ihm seine Existenz verliehen haben.«68 (Vergessen wir nicht, dass einige der zitierten Handlungen ›Aktionen‹ sind, die in der Effort-Shape-Lehre als exemplarische Kombinatoriken der Antriebsfaktoren zusammengefasst werden.) Doch genau wie das Objekt auf die Spur des Drückens verweist, das ihm seine Form, seine Kanten und seine inneren Spannungen verliehen hat, kann der tanzende Körper die Umgebung prägen oder selbst von ihr geprägt werden, als Sammelbecken für den Abdruck der Konsistenzen: Darum dreht sich Odile Dubocs gesamte Arbeit in »Projet de la matière«. Es geht darum, aus dem Körper einen Ort des Aufsaugens, des Aufnehmens materieller Sinnseindrücke zu machen (Oberflächen des Rückfederns oder des Eintauchens, der Rei68 | Laban: Die Welt des Tänzers, S. 149.

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bung oder des Gleitens), die ihrerseits einen Körperzustand formen werden, so wie die Objekte, die Guiseppe Penone in die Wurzeln von Pflanzen einführt, das Wachstum der pflanzlichen Materie ausdehnen, einschränken und manchmal auch durchlöchern. Jener Gedanke des Abdrucks lässt sich bereits in Labans ›space carving‹ oder in Nikolais’ Abdruck der Geste im Raum finden: Alerdings ist es dort der Körper, der Spuren hinterlässt. In einigen Augenblicken von Labans Denken und in der Arbeit von Odile Duboc und anderen ist es dagegen der Raum, einschließlich seiner Materialisierung durch die Objekte, der sein Vorüberziehen in das plastische Gedächtnis des Körpers einschreibt. Darum, das Objekt zu finden, ebenso als Faktor des Verlusts, der Verwirrung, wie als Partner, der fähig ist, die gestische Intention zu erschaffen oder hervorzurufen, dreht sich die Arbeit von Dominique Dupuy in seinem Solo »L’homme debout il…«. Dominique Dupuy hat in seinen vorhergehenden Arbeiten bereits häufiger Objekte erforscht. Die Präsenz von Objekten in seinem Werk verweist auf eine durchgängige Herangehensweise, nach der der Körper sich in und durch die Begegnung mit der Materie als Alterität konstruiert. Die komplexe Komposition ist in zwei Serien von Ereignissen eingeteilt: Die eine ist das Umherirren in Begleitung von Objekten, die in kurzen Zwischenräumen der Finsternis auf die Bühne gebracht werden. Sie erscheinen wie rätselhafte Bühnenfiguren, neutral, ohne besonderen Zweck, wie unbearbeitete Objekte, die häufig nur ihre eigene Materie ausstellen. Dennoch sind sie gestaltet genug, um auf irgendein mysteriöses Schema zu verweisen. Die andere Bewegungsserie setzt sich aus reinem Tanz zusammen, in dem der Tänzer, der Bewegung hingegeben wie eine aufflammende Fackel, die Leere inner- und außerhalb seines eigenen Körpers neu erfindet. Die Objekte, für die hier Jean-Pierre Schneider verantwortlich zeichnet, haben keine als »Kunstobjekte« definierte Identität. Sie sind zugleich mehr und weniger als das. Ihre Präsenz fügt der tänzerischen Materie nichts hinzu, sondern bezeichnet nur eine Körpergrenze, von wo aus Irrfahren, Ungleichgewichte und Mysterien ihren Ausgang nehmen können. Das gesamte Solo präsentiert die Beziehung zum Objekt als eine Frage. Klänge, zum Beispiel solche, wie sie durch das Kratzen eines Stocks auf einem Dielenboden hervorgebracht werden, sind ebenfalls eine Art der Fragestellung. Doch lädt jene Reise noch zu einer viel anrührenderen Fragestellung ein, wenn der Tänzer, entblößt und ebenfalls vom Zusatz seiner Kleider befreit (Mantel, Hut usw.), am ganzen Leib zittert, der Objekte der Welt beraubt, deren Umrisse und Konsistenzen er zuvor erforscht hatte. Manchmal rückt ein Objekt durch sein Fehlen in größere Nähe. So arbeitete Christian Bourigaults »Le chercheur dort«, das er in Erinnerung an seinen Cousin Daniel Tremblay geschaffen hatte, mit der Evokation von Skulpturen, mit abhanden gekommenen Formen, ge-

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nau wie der früh verstorbene Künstler unserer Welt abhanden gekommen war. Die choreographische Handschrift arbeitete die poetischen Objekte Tremblays wie aus verlorenen Formen heraus, indem sie auf dem Boden verteilte Farbpfützen evozierte, Labyrinthe von vielschichtiger Konsistenz, Mondsymbole, die wie in Tremblays seltsamen Objekten ohne offenkundige Logik aneinandergefügt wurden: Parzellen von Sinn, eingeschlossen in exzentrischen Bildern. Am Ende jener Beschwörung erschien ein mit Flecken übersäter Vorhang auf der Bühne, die erste und letzte Evokation, die Tremblays Universum auf einen Schlag der Unsichtbarkeit entriss, wo der tanzende Körper nach ihm suchte, ohne ihn in eine präzise Metapher einzuschließen.

Musik Schon früh in der Geschichte der Tanzmoderne erschien die traditionelle Verknüpfung von Musik und Tanz als unerträglich – oder vielmehr die Bedingungen, unter denen diese Verknüpfung geschah: zum Beispiel die Idee, den Tanz spezialisierten, oft einengenden Musiken zu unterwerfen. Isadora Duncan verdanken wir die Ablösung des Tanzes von der sogenannten Ballettmusik. Für sie ist nicht das »Genre« wichtig, vor allem nicht das Genre des Spektakulären, wie es eine musikalische Ballettpartitur begründen kann, sondern das, was in der Musik unmittelbar die Bewegung und die Emotion anspricht. »Nur die großen Musiker können sich über den Körper mitteilen«, schreibt sie in Mein Leben, meine Zeit und begründet damit die Verwendung von Partituren, die nicht für den Tanz vorgesehen sind, durch die sich jedoch die Phrasierung einer möglichen Bewegung ausdrückt. Man muss Elisabeth Schwartz’ Interpretation der duncanschen Choreographie zu Schuberts »Ave Maria« sehen, um zu verstehen, wie sehr die Bewegung bei ihr die Verkörperung einer reinen Aufmerksamkeit ist. Sehr bald erschien jedoch selbst diese Aufmerksamkeit wie ein Verrat. Für Laban ist keinerlei Beziehung zwischen den Elementen der Musik und denen der Bewegung möglich oder nur denkbar. Seine Schülerin Mary Wigman wird genau diese Doktrin übernehmen und sie auf ein den beiden Künsten gemeinsames Element anwenden, ein gewisses Bemessen und Beherrschen der Zeit. Man kann insofern von einem gemeinsamen Element sprechen, als es nach erneuter Überprüfung durch die Theorien des Rhythmus keine Regulierungsstruktur mehr ist, sondern die konstitutive Dynamik einer »Zeit«, die es ständig neu zu erfinden gilt. »Wir […] brauchen sie für die Bestimmung der Taktwerte, für die Klärung der Übergänge von einem Thema zum anderen, für die Präzisierung der notwendig werdenden Akzente, der Haltepunkte und Atempausen. […] Denn die Musiker zählen im Sinn der musikalischen Linie, während die Tänzer vom

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Rhythmus der körperlichen Bewegung her zur Zahl gelangen.«69 Nun hängt aber jener Rhythmus der Bewegung, wie Wigman später aufzeigt, weniger von der Zeit ab, als von der Konstitution der Bewegung selbst (Intensität der Muskelspannung, Intention), die ihre eigene Phrasierung erfindet. Deshalb sollte ein Tanz, je ›musikalischer‹ er ist, desto mehr ohne Musik auskommen, und, wie es Odile Duboc ausdrückt, in die ›innere Musik‹ hineingleiten. An allen bedeutenden, radikalen Momenten der Tanzmoderne (1910-30, 1960-70) kamen Tänze in der Stille auf. In Deutschland wurden sie in der Nachfolge Labans ebenso von Wigman praktiziert wie von Jooss und Leeder, in den Vereinigten Staaten dagegen von Humphrey und Limón. Bemerkenswerterweise haben gerade die Künstler, die die Musik aus bestimmten choreographischen Werken ausklammerten, mit ihr die leidenschaftlichsten Beziehungen unterhalten und eine heftige körperliche Auseinandersetzung mit den musikalischen Werken durchlebt, ob sie nun älter oder zeitgenössisch waren. In diesem Zusammenhang muss man sich vor Louis Horst verbeugen, der es verstanden hat, die Aufmerksamkeit der Tänzer auf das zu richten, was man heute das barocke Repertoire nennt. Lange bevor sich die Musikwissenschaft ihrer bemächtigte, entdeckten die modernen Tänzer die Akzentuierung Purcells, Bachs und Rameaus, mit den Unregelmäßigkeiten, die ihren eigenen heftigen und kontrastierenden Rhythmen so nahe waren. So entstanden jene verschwenderischen Werke von großer physischer Sinnlichkeit, mit den kraftvollen Antworten auf die Formen der Organisation, wie Doris Humphreys »Passacaglia« oder das Humphrey gewidmete »Choregraphical Offering« von Limón, das eine gleichermaßen strukturelle und sensorische Etüde zu Bachs »Musikalischem Opfer« war. Und wieder kommt einer Musikerin wie Dana Reitz, die Flötistin war, bevor sie Tänzerin wurde, die subtile Entscheidung für eine Stille zu. Ihre Phrasierung, die mit stummen Raumbewegungen alterniert, offenbart eine Flüssigkeit, die es nicht mit dem Gehör, sondern durch die Modulierungen des kinästhetischen Empfindens zu erfassen gilt. Cunninghams Entscheidungen in Bezug auf die Musik vollziehen nicht den ursprünglichen Bruch nach (und begründen ihn auch nicht, wie es lange Zeit immer wieder behauptet wurde). Cunningham kommt in seinen Werken niemals ohne die klangliche Dimension aus (außer im Falle seines frühen Stücks »Before Dawn«). Doch lehnte er es, ganz anders als Mary Wigman ab, die Beziehung der Zeitlichkeiten auf dem dynamischen Vektor geschehen zu lassen, da die Energien der Musik dort zu mächtig sind, um den Tanz nicht zu unterwerfen. Daher baut bei ihm die mögliche Beziehung zum Musikalischen auf dem Begriff einer absoluten Zeit auf, die der Erfahrung fremd ist, einer Zeit des Pendels oder 69 | M. Wigman: Die Sprache des Tanzes, S. 11.

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der Stoppuhr, des reinen Zufalls der Gleichzeitigkeit. Dies beweist, dass von Laban über Wigman bis hin zu Cunningham der Bruch in der Beziehung zwischen Musik und Tanz stets durch die Ablehnung eines Elements innerhalb dieser Beziehung vollzogen wurde. All jene Unternehmungen zielten darauf ab, den Tänzer (aber auch den Zuschauer) von den emotiven Quellen zu befreien, die ihn in von außen eingerichteten Kinästhesen einspannen konnten, um ihn ein vorgefertigtes emotionales Programm durchlaufen zu lassen. Dies kann bis zu einem sensorischen Kontrollverlust gehen: Denn die lautlose Bewegung hat etwas Obszönes im etymologischen Sinne des Wortes. Sie wird zu einem rein körperlichen und somit sensorischen Akt, ohne dass die emotive Zone, die sich so schnell durch die Musik aktivieren lässt, angesprochen würde. Übrigens ist die Bewegung selten wirklich lautlos: Nur für kurze Augenblicke erreicht sie die heilige und reine Stille der Versenkung, die Colette im kaum wahrnehmbaren Dahingleiten der Füße Isadora Duncans bewunderte (im Gegensatz zum »Krach der Holzpantinen«, wie sie über die weichen Schuhe der Ballerinen schrieb). Eine ganze Welt animalischer Klänge erwacht mit dem Lärm der Schritte, der Stürze, der beschleunigten Bewegungen zum Leben. In intelligenter Weise hat Doris Humphrey sie in »Water Study« benutzt: Der Atem der Tänzer wird darin durch seine stetige Steigerung zur Metonymie, und nicht zur Mimetik des Tosens der Fluten. Als würde der Körper wieder zum Ozean und der Sturz, begleitet von einer kleinen Fingerbewegung, zum Aufprall der Welle auf den Kieseln. Doch ist, außer jener Erforschung einer in die mineralische Musik der Welt übersetzten Organizität, nichts beunruhigender als das Geräusch des Lebendigen. Der zeitgenössische Tanz lässt zuweilen gerne jene Körpergeräusche im Rohzustand erschallen, die in den meisten Fällen gleichzeitig Empathie und ein unbehagliches Gefühl erzeugen. Die Bedeutung des in die Bewegung integrierten Atems hat uns bereits zur Annäherung an jene dumpfen Laute geführt. Trisha Browns Stück »Glacial Decoy« (1976) ist ein gutes Beispiel dafür, wie jene Klangmaterialien gleichzeitig beunruhigen und positiv wirken können: In einer beschleunigten Bewegung, die ausschließlich aus kurzen Momenten besteht, in denen das Gewicht davongleitet, steigert sich das Keuchen der Tänzerinnen beständig. Hinter ihnen werden auf den Bühnenhintergrund photographische Ansichten von Rauschenberg projiziert, die einander seitlich vom rechten zum linken Bühnenrand drängen und schließlich in die Abfallkörbe der Unsichtbarkeit zu stürzen scheinen. Auf jenen Photos sind Abbilder des Nichts zu sehen; Abfallobjekte, denen jeder Sinn und jegliche ästhetische Bedeutung fehlt, die aus jener ›junk art‹ kommen, für die Rauschenberg mit seinen Collagen stand. Dies scheint auch für den tanzenden Körper zu gelten, der mit einer unproduktiven Selbstverschwendung beschäftigt ist, deren indiskreter Organizität

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der laute Atem der Tänzerinnen Gestalt verleiht. Verweist jene »Gefrorene Täuschung« nicht auf irgendeine Nachtgestalt des Tanzes, die in einer fast zellularen Erregung gefangen ist, aus der keine erkennbare Gestik mehr aufsteigt? Mit Rauschenbergs duftigen Mousselinstoffen mit antiquierten Manschetten im Stil einer Mademoiselle Sallé70 ist das Stück ein »Mehrals-Tanz«, der uns an die Schwelle einer unerreichbaren Zeit führen könnte. Und dennoch wohnt ihm eine äußerst präzise Zeitlichkeit inne, durch die extreme Flüssigkeit einer Bewegung, die ausgehend von unterschiedlichen Quellen immer wieder neu ausgelöst wird, die die Tänzer im Raum zu greifen scheinen, ebenso wie von den umherirrenden Zentren ihrer eigenen Körper: die Erinnerung an einen halb-vergessenen Zustand, den gewichtslosen Körper des Kindes und seine ersten Wege (seien es auch Stürze), die Trisha Brown Ende der 70er Jahre unter Anleitung von Bonnie Bainbridge Cohen71 erneut zurückgelegt hat. Die falsche Stille, in der sich in der Regel die Körpergeräusche des Zuschauerraums (Kratzen, Husten, leichte Haltungswechsel) miteinander vermischen, erinnert zu sehr an die Umstände und Verbote einer freudschen ›Urszene‹, um in den Körpern der Zuschauer nicht die Angst vor einem möglichen Kontrollverlust durch die Wahrnehmung der Körper heraufzubeschwören. Man versteht also nur zu gut den Sinn der Musik im Tanz: all dies zu verbergen, das unerträgliche Grollen der Gewebeantriebe mit einer Klangschicht zu überdecken, Lärm über den Lärm zu legen und die Musik als unveränderliche Metapher der Stille zu finden. Michel Chion sagte über den Ton im Kino, dass er ursprünglich dazu da war, das Rattern des Projektors zu übertönen.72 Doch im Tanz ist die Herausforderung eine andere, auch wenn die Tanzmaschinerie es noch mehr verdienen würde, dass man ihre Geräusche verbirgt. Die in der Regel redundanten oder illustrativen musikalischen Anhäufungen, die man heute mit dem Wiederaufkommen einer verkümmerten Beziehung zur körperlichen Phrasierung sieht, überdecken möglicherweise andere Gründe zur Beunruhigung: die Angst vor einer Leere der Muskelspannung oder vor der Vorstellung, dass dem Körper und der Wahrnehmung ihre Energie genommen werden könnte. Dem gilt es vielschichtige und abenteuerliche Prozesse entgegenzusetzen: wie das Vorgehen von Stéphanie Aubin, die in der Musik einen dialektischen Partner sucht und sowohl die Begegnung als auch den Widerspruch anregt. Ihre Stücke sind 70 | Mlle Salé, Solotänzerin der Académie Royale de Danse, war im 18. Jahrhundert für ihre kleidertechnischen Neuerungen berühmt. Sie setzte Kleider aus leichten Mousselinstoffen anstelle der barocken Reifröcke durch. 71 | Interview mit Y. Rainer in: L. Brunel: Trisha Brown, Paris: Bougé 1986, S. 44-46. 72 | Michel Chion: Le son au cinéma, Paris: Éd. de l’Etoile 1985.

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häufig um jene Beziehung herum aufgebaut, und jede Bewegung, jedes Innehalten ist Teil einer Reise der Phrasierung durch eine flüssige und entspannte Materie. Für Odile Duboc ist die ›innere Musik‹ Ursprung jeglicher Bewegung und jeglicher Strecke. Hier geht die Musikalität über die Entscheidung für eine eventuelle musikalische Begleitung hinaus. Sie wird zu einer dritten Dimension von Raum und Bewegung. Für Anne Teresa De Keersmaeker ist die Musik, wie wir gesehen haben, zugleich schützende Präsenz und ein Objekt, das der tanzende Körper in sich aufnimmt. Heute werden all diese Optionen neu erforscht und untersucht, häufig von Künstlern, die wie De Keersmaeker aus der Schule »Mudra« hervorgingen (und somit aus dem Unterricht von Fernand Schirren). Hervé Robbe zum Beispiel setzt eher auf Spiegelbeziehungen mit zeitgenössischen Komponisten wie Cécile Le Prado. Dennoch hat es bei dem letztgenannten Choreographen stets den Willen gegeben, unterschiedliche und divergente Bande mit unterschiedlichen künstlerischen Medien wie Video, Kino und bildender Kunst, zu knüpfen, vielleicht, um dadurch den neuralgischen Punkt einer privilegierten Beziehung mit der musikalischen Komposition zu überdecken oder zu neutralisieren. Erinnern wir in dieser allzu kurzen Abhandlung daran, dass der zeitgenössische Tanz dank der unklaren Abgrenzung seines eigenen Bereichs in der Lage ist, allen möglichen Arten von Künstlern zu begegnen. Solchen, die sich in die anerkannten Rahmen der musikalischen Komposition einschreiben, und solchen, die dies nicht tun. Besonders Musiker, deren Arbeit im Zeichen der Grenzen zwischen Genres und Schulen steht, kommen ihm häufig entgegen: wie Kaspar T. Toeplitz, Barre Philips oder Steve Lacy, Vertreter eines Avantgarde-Jazz am Schnittpunkt zwischen Avantgarde und Rock. Jene nicht genau definierten Bereiche bilden heute einen fruchtbaren, wenn auch zwielichtigen Boden, auf dem der Tanz Praktiken wie die Improvisation (die häufi g von den großen »klassischen« zeitgenössischen Strömungen ignoriert wird) teilen und gewisse Wege der Modernität nachzeichnen kann, die anderswo unbegreiflich sind. Damit die zeitgenössische Poetik zwischen Tanz und Musik pulsieren kann, ist es jedoch wichtig, dass stets die Möglichkeit einer Stille, einer gegenseitigen Aufhebung bestehen bleibt. Der geheime Bruch muss ständig präsent bleiben und sogar in einem momentanen Bündnis einen Bereich des Zusammenbruchs und der Zerbrechlichkeit beibehalten. Mehr als je zuvor durch eine Versöhnung vereinigt, die historisch undenkbar geworden ist, erhalten Bestrebungen hin zu den Grenzen des Möglichen (zum Beispiel die Experimente Trisha Browns, die ihre Bewegung an der Strenge eines von Bach oder von Webern entworfenen ›Systems‹ aufreibt) und geheime Komplizenschaften jenseits der Normen die poetischen Antriebe jener Instabilität am besten am Leben.

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Figuren der Sprache Eine klangliche Anwesenheit der Sprache auf der choreographischen Bühne scheint gegen zwei kanonische Elemente der Tradition im Tanz zu verstoßen: Erstens hat der Akt des Tänzers stumm zu sein. Zweitens muss die erlaubte (und vorgeschriebene) klangliche Dimension musikalischer Art sein. Der Verstoß gegen diese beiden Regeln war einer der ersten Akte der Rebellion in der Moderne. Es ging darum, die Vorherrschaft der Musik zu zerstören und sie durch andere Klangquellen zu ersetzen, wie es Laban ab 1910 im Rahmen seiner Schule »Tanz, Ton, Wort« tat. Dies geschah besonders durch die Verwendung von Schreien, gutturalen Lauten und Texten der individuellen Revolte, wie Nietzsches Zarathustra, den Mary Wigman 1916 bei ihrem Auftritt in der Galerie Dada rezitierte.73 Nach ihr kamen dann all die Anhänger des Schweigens oder des hörbaren Atems, der gedämpften Artikulation (Humphrey in »Water Study« oder »Life of the Bees«), des Verlesens von Text auf der Bühne (Martha Graham in »Letter to the World«) usw., bis hin zu den Experimenten der Gegenwart. Außerdem widersetzten sich die Tanzrebellen der Schweigepflicht, die aus dem Tänzer ein aphones Wesen machte – schließlich galt es, alle Vorgaben neu zu durchdenken und in Frage zu stellen. Durch den Einsatz eines offenen Ausdrucks, den keine sprachliche Festschreibung einschloss und dem seine Polysemie die traumartige Aureole eines stets unscharfen Sinns verlieh, wurde der rituelle Charakter der in der Stille vollzogenen Bewegung entheiligt. Dies macht die Anwesenheit der Sprache im choreographischen Werk der Gegenwart zu einem Störfaktor, einer bewussten Abweichung von den Codes und traditionellen Definitionen. Doch ist der entheiligende Wille zum Bruch mit der Tradition in unseren Augen weniger wichtig als der Wunsch nach jenem bereits erwähnten ›Zusammenschweißen‹. Dabei dient die Sprache als Ausbesserung, als Zusatz, als Hinzufügung einer verlorenen Dimension, als Suche nach jenem ›anthropologischen Kontinuum‹, dessen Bruchstücke der zeitgenössische Tanz seit den Arbeiten von Dalcroze und Laban wieder zusammenketten wollte. Ihre Worte künden von einer existenziellen Wunde, für die uns kürzlich bestimmte Stücke ein Beispiel lieferten, in deren Bewegung die nostalgische Sehnsucht nach einer verlorenen Fülle nachhallt (wie Larrieu in »Gravures«, Dobbels in »Le ciel reste intact« und Pierre Droulers, der in »Les Petits Poucets« eine Parallele zu den Texten von James Joyce zieht, in denen die Worte Splitter 73 | Die Tänze in der Galerie Dada wurden von zahlreichen Zeitgenossen, dadaistischen Künstlern oder Dichtern wie Tzara, Arp oder Ball beschrieben. Erinnernswert sind unter anderem die Beschreibungen von Mary Wigman in Richard Huelsenbecks Autobiographie Mit Witz, Licht und Grütze, 1959.

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einer verlorenen Wirklichkeit sein könnten; siehe auch der Gebrauch von Gedichten oder Texten, die von den Tänzern selbst stammen wie bei Wim Vandekeybus). Bereits zu Beginn der Tanzmoderne konnte die Anwesenheit der Sprache neben dem Ziel der Verfremdung klanglicher Quellen bei Wigman ebenso wie bei Humphrey auch ganz einfach auf die Notwendigkeit verweisen, jenes historisch zerstörte oder durch die Ontogenese eines menschlichen Subjekts zersplitterte ›anthropologische Kontinuum‹ wiederzufinden: jenes Kontinuum, das Artaud in anderen Zivilisationen suchte, die nicht wie die unserige den historischen Schnitt zwischen Sprache und Körper erlebt haben. Im Grunde werden der Sprache auf der choreographischen Bühne extrem unterschiedliche Rollen zugewiesen, je nachdem, was man bei ihr herauszustellen sucht; den klanglich-rhythmischen Aspekt, die Prosodie, nicht als klanglichen Hintergrund, sondern als bewegungserzeugende Kraft (Appaix). Oder im Gegenteil den textlichen, literarischen Aspekt, den konnotativen Nachhall des Wortes, soweit er mit dem Nachhall der Geste zusammenfällt. Im Grunde durchdringt die Klangsprache den Tanz, sei es als reine Aussendung einer mehr oder weniger gleichgültigen verbalen Materie, sei es als Textualität. Das heißt von der Vokalisierung bis hin zur Handschrift, mit all den dazwischen befindlichen Spielräumen und Werten, von der Mimesis eines gespielten Augenblicks bis hin zur ›Diegesis‹ einer Erzählung. Manchmal begleitet sie die Bewegung, manchmal ersetzt sie sie (siehe Trisha Browns ›Skymap‹ oder auch die bereits erwähnte Performance von Deborah Hay). Manchmal verschränkt sie sich mit der Bewegung im selben Konstruktionsverfahren (siehe die Sprache als Element einer ›Anhäufung‹ in Browns »Accumulations with talking« [1974]). Dabei entsteht ein wahrhafter Katalog von Figuren, deren Aufzählung ermüdend wäre, wenn darin nicht wie eine Obsession, ein Umsturz, ein Aufruf, der geheime und geheimnisvolle Plan wohnte, eine verstümmelnde Sprachlosigkeit zu durchbrechen. Schließlich ist da jenes Wort, das mit dem Werk ›mitläuft‹, das sich mit der Bewegung des Körpers verschränkt, wie eine Bedeutung, die der choreographischen Partitur hinzugefügt wurde. Dieses Element findet man sehr häufig im französischen Tanz. Seine Verbreitung beginnt in den 60er Jahren mit Werken wie Dominique Dupuys »Visages de femmes«, wo die Tonspur eine Montage literarischer und politischer Texte, einschließlich des Verlesens von juristischen Texten zusammenfasste, wie das Raunen einer Meta-Sprache, die den Körper berührt und angreift, die der Tanz jedoch überwindet und durch seine Energie beiseite drängt. (Man muss an dieser Stelle daran erinnern, dass ein aus dem Off oder sogar auf der Bühne gesprochene Text paradoxerweise den Eindruck der Stummheit des Körpers verstärkt. In jenem Stück verstärkte die Tänzerin, die verschleiert

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war und dadurch noch mehr des Gesichts als der Stimme beraubt, ihre Stummheit durch das Auslöschen ihrer Züge. Gleichzeitig sprach eine andere Stimme über die Weltgeschichte, die sie niemals aktiv bestimmen würde, doch der sie stets aus dem Verborgenen heraus als mächtiger Antrieb dienen würde.). In Bagouets »Meublé Sommairement« (1986) wird eine komplette Novelle von Emmanuel Bove auf der Bühne vorgetragen. Und ebenso wie der Körper der Schauspielerin Nelly Borgeaud sich mit dem ihr eigenen vollkommenen Vortrag, der gleichzeitig glasklar und musikalisch ist, in die tänzerischen Wegstrecken einschmeichelt und dabei den Windungen der Choreographie folgt, bahnen sich ihre Stimme und Boves Text einen Weg quer durch die Bewegung hindurch. Manchmal spiegelt sie ihn wieder, im Körper, beim Vortrag, den Momenten des Innehaltens, des Anhaltens. Manchmal gesellt sich wiederum der Tanz zur Erzählung: Die Tänzer gehen von der reinen Bewegung zur ›NarrationMonstration‹ über, wie bei jenen Szenen auf Bällen, wo die mimetischen Entsprechungen zwischen Bühnenhandlung und Erzählung einsetzen: seltsame Begegnungen der Erzählung in ihren reinsten Windungen und einer plötzlich von den Körpern neu erfundenen Mimesis. Am Ende entspricht die Dauer des Stücks der Dauer der literarischen Erzählung. Die Dauern der zwei Textualitäten (einschließlich ihrer Brüche, den ›Leerstellen‹ der Erzählung, die auf die Momente des Zögerns im Tanz verweisen) scheinen einander in der Atmung ein und derselben Dauer hervorzubringen, auch wenn musikalische Auftritte jenem diegetischen Fluss den düsteren Glanz und den emotionalen Widerhall einer Welt des Klanges und der Sehnsucht beimischen und so die Mächte des Unsagbaren ins Herz der Literatur zurückholen. Doch geht jener ›positive‹ Aspekt der Verwendung von Sprache als ›Zugabe‹ oder als ›Widerhall‹ auf der choreographischen Bühne häufig Hand in Hand mit einem negativen Aspekt: der Verwendung linguistischer oder theatraler Antriebe, nicht als komplementärem Material, sondern im Gegenteil als zerstörerischer und destabilisierender Kraft. Wegen der übergroßen Anhäufung von unvereinbaren Materialien berauben diese Antriebe die Choreographie ihrer Identität und führen sie zu jenem Zustand der ›Leere‹, den Patrick Bonté und Nicole Mossoux für sich einfordern. Dies kann auch zum Untergang des choreographischen Projekts führen, das auf einer ursprünglichen Definition auf baut. Jener bewusste Untergang spielt eine zentrale Rolle im Schaffen von François Verret. Sogar bei Pina Bausch dient die Verwendung von Sprache oder anderer im Theater gebräuchlicher Ausdrucksverfahren (mehr oder weniger lautlose Narrativität, Personifizierung der Interpreten usw.) mehr zu einer Ablösung als zur Konstruktion. Dabei entstehen nicht unmittelbar identifizierbare Objekte, die das Werk auf seine Grenze zutreiben und häufig zu seiner Zerstörung führen.

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Die neuen Bühnen Wir haben gesehen, dass der Tanz keinen Ort hat. Genau deshalb hat jene Kunst ohne festen Wohnsitz umso stärker das Bedürfnis verspürt, die unterschiedlichsten Terrains der Aktualisierung zu erforschen. Da der Tanz zur gleichen Zeit entstanden ist wie die Technologien des Bildes, geht er rasch Bündnisse mit ihnen ein, die es ihm häufig erlauben, sich den Zwängen des ›Ortes‹ zu entziehen und eine Bestandsaufnahme der virtuellen Terrains vorzunehmen, wo die Bewegung ein größeres Potenzial entwickeln und bestimmte Untersuchungen durchführen kann, die das Ritual der Repräsentation verbietet. Zu Beginn der Tanzmoderne hat Loïe Fuller die Beziehung umgekehrt, indem sie ihren eigenen Körper zur Leinwand machte, die das Bild umfasste, es empfing und ihm durch das Auffliegen von Falten ein Leben einhauchte, dessen wogende Geheimnisse allein ihre Arme kannten, die vom quadratischen Lendenmuskel ausgehend tief im Körper verankert waren. Später trat umgekehrt der Körper in das Bild ein. Nicht in das Rahmenbild, sondern in die Bildmaterie, in das Bild als Körnung des Körpers selbst: Darum dreht sich die beispielhafte Arbeit der Compagnie L’Esquisse in dem choreographischen Film LA CHAMBRE (1989). Körper und filmisches Licht wirken darin gemeinsam auf dieselbe sinnlich wahrnehmbare »Umgebung« ein. Ein analoges Gerüst einer ›Umgebung‹ findet sich auch in Jean Gaudins und Luc Riolons bereits erwähntem in einer Gipsfabrik getanzten und gefi lmten SUMMUM TEMPUS (1985), wo die Bewegung ihren Abdruck hinterlässt, bevor sie sich in Staubwolken zerstreut. Die nebelhafte Dichte des Gipses hebt die Materie des Sichtbaren auf und prägt sie gleichzeitig ein. Im seinem für eine Veranstaltungsreihe des Musée d’Orsay komponierten Stück QUAI BOURBON (1987) benutzt Larrieu Videobilder für eine Choreographie trüb gewordener Splittter von Körpergedächtnis: Joseph Nègres Portraits von Schornsteinfeger-Kindern aus dem 19. Jahrhundert. Dabei bewegt sich die Kamera ringsum im Raum, um jene unglücklichen Abfallprodukte der Geschichte aus verschobenen Blickwinkeln einzufangen: vermummte Gesichter, eine geöffnete Hand, durch die der lächerliche düstere Schrot rinnt, der seine eigene Erzählung nirgendwo eingeschrieben hat. Frappierenderweise hat ungefähr zu selben Zeit ein anderer Kleinberuf, die von Caillebotte gemalten »Raboteurs« (»Hobler«), Angelin Preljocaj zu einem nicht weniger berühmten Videowerk inspiriert: Darin verschmilzt der stämmige Rücken eines Tänzers mit dem Reiben des Holzes, und die Gesten der arbeitenden Proletarier bringen die Materie hervor, an der sie sich abmühen. Überdies enthalten die RABOTEURS eine fiktionale Handlung, die den Film zu einer verschachtelten Reflexion über die Möglichkeit des Entstehens einer Erzählung macht: Im Verlauf einer Auseinandersetzung

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zwischen zwei Liebenden stellt ein Mädchen den vergoldeten Holzrahmen zur Schau, dessen geheime Geschichte uns erneut vorgelesen wird. Und genau wie die Gipser, die Schornsteinfeger und die Hobler schaben und kratzen die Tänzer mit der Kraft ihrer Körper über das fi lmische Material, um ihm eine unbekannte Materie abzuringen. Der Film und die anderen Aufnahmetechniken werden somit zu ihren Komplizen in jenem Verfahren der Erdarbeit, bei dem sich der Körper durch seine eigene ›Arbeit‹ hervorbringt (Tanzarbeit als Verwandlung der Materie, aber auch als ›Arbeit‹ des Hervorbringens, als Vorkommen vergangener, vergessener oder zukünftiger Leiblichkeiten). »Unerläßlich ist die Erfindung von Kamerabewegungen und -positionen, die der Genese der Körper entsprechen und ihre ursprünglichen Stellungen miteinander verketten.«74 Die Entwicklung von Werken für Film oder Video ist heute ein choreographisches Projekt wie jedes andere, oft abenteuerlicher und freier als das Bühnenprojekt. Cunningham zum Beispiel, der dieses Experiment als erster unternahm, schätzt Video und Film besonders deshalb, weil sich dort das sonst stets konventionell gelöste Problem der Bühnenauftritte und -abgänge nicht stellt: In LOCALE (1981) ist es die Kamera, die den Tänzer da abholt, wo er sich befindet, und ihn dann in ihr Feld bringt. Derselbe Tänzer kann aus dem Feld fliehen, indem er nach vorne verschwindet, was im Theater vollkommen unmöglich wäre. Es sei denn, er liefe über die Köpfe der Zuschauer hinweg. »Jedesmal gibt es eine Konstruktion des Raums, insofern er mit den Körpern verbunden ist«,75 schreibt Deleuze über die Filme von JeanLuc Godard. Für Cunningham wirft die Videotechnik überdies die wahren Probleme der Repräsentation auf oder befragt sie neu: die Tatsache, dass der Bühnenraum, der für den Tanz als ›normal‹ betrachtet wird, dazu neigt, hinter seinen Problematiken zu verschwinden. Wie steht es um das Bild meines eigenen Körpers, sobald es in einen anderen Raum hinübergehen kann, in andere Modalitäten der Erscheinung? (Benjamin sprach von der Landschaft, die in ein Zimmer eintritt; was soll man über einen Körper sagen, der aus seinen eigenen Umrissen entflieht?) Das Video als ›Reproduktion‹, als Verfremdung und Reduktion eines lebendigen Körpers? Gewiss nicht. Der Körper kann durchaus auch anders zum Bild werden. Deshalb ist die Unterscheidung zwischen der »lebendigen« Bühnenauff ührung und der (toten?) fi lmischen Arbeit so lächerlich. Françoise Dupuy sagt häufig, dass sich ein Tanz ereignet, sobald sich durch eine Bewegungserfahrung nicht eine Form, sondern eine mögliche ›Transformation‹ ergibt. Damit ist selbstverständlich sowohl eine Transformation des Tänzers als auch des Zuschauers gemeint. Viele sogenannte lebendige 74 | Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino II, S. 260-261. 75 | Ebd.

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Tänze transformieren überhaupt nichts (weil sie jede Möglichkeit, die Poetik des Gewichtstransfers zu variieren, durch ein angehaltenes Bild oder eine übertriebene Muskelspannung einfrieren lassen). Dagegen transportieren viele Filme oder Videos ungelöste Fragen und noch ungelöste Körperzustände. Der Körper kann auch durch visuelle Erschütterungen zu Gewichtserfahrungen gelangen. Um einen zeitlich und räumlich entfernten Zuschauer zu jenem ›Riss‹ zu führen, den der Tanz als ›Live-Ereignis‹ bietet, jenem gegenseitigen Entgleiten, das zwischen Tänzer und Zuschauer zirkuliert, muss der Interpret laut Cunningham mehr Energie aufwenden. Denn die Maschine, vor allem die elektronische Maschine, ist sehr wohl in der Lage, jene verschobene Erfahrung zu einem Abenteuer des Verlusts zu machen. Mittels der Videokanäle kann der Körper in jedem Augenblick auf ein reines Bild, auf ein Gesehen-Werden außerhalb seiner eigenen Wahrnehmung verwiesen werden, das zum Zuschauer nur als eine Form gelangen wird, und sei es auch in höchster und leuchtendster Auflösung. Man muss stets sowohl die Intention als auch die Spannung aufrecht erhalten. Aber ist nicht bei jeder Repräsentation der Einsatz der gleiche? Oder stößt in diesem Fall der Körper viel unverstellter auf die Problematiken seiner eigenen Erscheinung? Diese wichtige Frage berührt das ewige Problem der Ikone und ihrer Beziehung zum Lebendigen, besonders als Schwäche des Letzteren. Auch dort ›arbeitet‹ der Tanz. Plötzlich ist das choreographische Objekt einzigartigen Metamorphosen ausgesetzt. Wie wir bei Cunningham gesehen haben, bietet dies dem Tanz die Gelegenheit, seine Anfangsbedingungen neu zu überprüfen. So wird zum Beispiel seine Beziehung zur Erzählung mehrdeutiger: Bestimmte Tanzvideos geraten durch das süße Gefühl des Erprobens fi ktionaler Handlung in die Nähe zum Film. TANT MIEUX, TANT MIEUX von Charles Picq und Bagouet mit seiner surrealen Szene eines Abendessens mit Gästen, die durch unerklärliche Familienbande miteinander verbunden waren, lieferte dafür ab 1984 ein überraschendes Beispiel. Manche geraten zu Krimis (Jean Gaudin/Marc Guerini: LES AUTRUCHES, 1985). In diesem Zusammenhang muss man auch die Filme von Mourieras und Gallotta, oder von Gallotta ganz alleine erwähnen; UN CHANT PRESQUE ÉTEINT (1987), ILS VIVAIENT SEULS DANS LES VILLES (1991) schleppen in ihren Bildern alle möglichen ›Reste‹ der Bühnenchoreographien mit sich, mit einem Übermaß an Erzählung und kontextuellen Elementen, für die die Bühne nicht genügend Raum geboten hatte. Der Erzählrahmen ist verschoben: urbane oder halburbane Landschaften, Bahnhöfe… Doch sieht man sich wie in Gallottas Stücken stets Situationen des Überlebens gegenüber: vor oder nach der Apokalypse. Der Tanz macht sich darin auf die Suche nach ein paar verirrten Überresten, die er mehr oder weniger hinter sich zurückgelassen hatte. Oder die zuvor schon dort waren. Für Gallotta

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wie für andere Choreographen (unter anderem Pina Bausch) ist der Tanz bereits eine Erinnerung. Der Tanzfi lm ergründet ihre Ausdehnung, ihre Grenzen. Doch erlauben Film oder Video durch die Verschiebung des Schauplatzes (auch wenn es ein durch die Kamera neu erfundener Schauplatz ist, wie jener unwahrscheinliche eines doppelten Spiegels, den man in Joëlle Bouviers und Régis Obadias LAMPE von 1992 sieht) Auswege aus den etablierten Produktionsweisen von Bühnenstücken. Sie schlagen andere Gegenstände vor, angesichts derer sich die Verfahrensweisen von Vertrieb und Verbreitung einer ganz anderen Praxis unterwerfen müssen als bei der sogenannten ›Live-Auff ührung‹. Unter anderem deshalb widmen sich Compagnien wie N+N Corsino ausschließlich dem Besetzen technologischer Bühnen. Durch eine lange Entwicklung, die sie von ihren ersten Stücken (wie LE CHAMP DE MADAME CARLE, 1986), die analog aufgenommen waren, doch an einigen Stellen bereits hin zur digitalen Bildbearbeitung flohen, zum Computerbild führte, gelang es ihnen mit ihrem kürzlich entstandenen TOTEMPOLE (1994), eine gleichermaßen fi lmische und virtuelle ›Bühne‹ für den Körper zu begründen. Mit Hilfe der von den Laboren der Universität Simon Fraser entwickelten Software ›Life Forms‹ benutzten sie das informatische Darstellungsmaterial, das gewöhnlich ausschließlich zur Visualisierung von Kompositionsverfahren verwendet wird, buchstäblich im Rohzustand. So entstand daraus ein Tänzer-Piktogramm, eine hybride Mischung zwischen menschlicher Bewegungserfahrung und digitaler Statisterie. Jenes erstaunliche Werk überführt den Tanz in die immateriellen Bereiche, wo der Körper sich noch selbst denkt und seine Kinesphäre hervorbringt. Dies dient außerdem dazu, das Körper-Wesen wahrzunehmen, weit über das taube ontologische Gestein hinaus, in dem man es durch eine Fülle biologistischer Definitionen zu fassen versucht. Der Körper ist vor allem ein produzierender Strom. Die Bühne von TOTEMPOLE lässt uns die Linien des Sendens auf der ›anderen Bühne‹ verspüren, einer Vorstellungswelt, die in der und durch die Bewegung am Werk ist und unendlich weiter fortschreiten kann. Somit ist die Verwendung von Technologien keine bloße Variation des kreativen Verfahrens. Geschweige denn eine Prothese oder ein Derivat, die von einem ursprünglichen Zustand der Repräsentation an einem Auff ührungsort abgeleitet wären. Es handelt sich um eine weitere ›Erscheinung‹ des choreographischen Werks. Sie muss uns dazu bringen, die Möglichkeiten des choreographischen Werks als Bandbreite eines unendlichen Reichtums zu denken. Jedes Werk ist aufgerufen, sich selbst zu einer ›Ausnahme‹ zu machen, indem es die Begrenzungen seiner eigenen Bühne unablässig erweitert und zwischen der Wahrnehmung des Zuschauers und seiner eigenen neue Bereiche der Begegnung, neue Empfindungen, neue Arten der Intelligenz einrichtet.

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Gedächtnis und Identität »Wichtig ist allein das Werk, aber im letzten Grunde ist das Werk nur dazu da, um die Suche nach dem Werk einzuleiten.« Maurice Blanchot

In unserer Zeit hat sich in Bezug auf das Konzept des Werks eine zweigleisige Poetik der schöpferischen Aktivität entwickelt. Während es durch strukturelle Untersuchungen unter anderem im Bereich der Semiologie gelungen ist, symbolische Konstruktionen als autonome Äußerungssysteme zu begreifen, hat eine andere (entgegengesetzte oder komplementäre?) Tendenz darauf hingearbeitet, die Idee des Werks in eine Krise zu stürzen. Die Hauptantriebe dieser Bestrebungen sind möglicherweise ideologischer oder sogar politischer Art. Ein Werk ist das, was sich als identifizierbares Objekt der Manipulation durch kulturelle Strategien preisgibt: gleichzeitig verhandelbare Entität und Träger legitimer ›Rechte‹ der künstlerischen Vaterschaft, deren Wert jedoch nicht dauerhaft fi xierbar ist. »Der Autor steht im Ruf, Vater und Eigentümer seines Werks zu sein«, bemerkt Roland Barthes, nachdem er an das Ausmaß und die historischen und philosophischen Konsequenzen jener Erzeugung erinnert hat. »Das Werk ist in einen Abstammungsprozeß eingespannt. Es wird postuliert, die Welt (das Geschlecht, die »Geschichte«) determiniere das Werk, die Werke folgten aufeinander und das Werk sei Eigentum seines Autors.« 76 Wenn nun aber, fährt Barthes fort, der Werk-Begriff die schöpferische Aktivität in jene deterministische Rahmung einspannt, ist er es auch, der die künstlerische Materie auf den Markt wirft. Als Konsumobjekt hängt das Werk überdies von einem ›Geschmacks‹-Urteil ab, das es durch die Unordnung der Bewertungskriterien, die so ärmlich, wirr und willkürlich sind, wie der unzureichend aufgeklärte sozio-kulturelle Kontext, innerhalb dessen der Begriff des ›Werks‹ funktioniert, noch zerbrechlicher macht. Wie man weiß, stellt Barthes jenem ›Konsumobjekt‹ den Text und sogar den Intertext als kontinuierliche Gestaltungsverfahren gegenüber, die direkt auf die Materie der Kunst und des Bewusstseins einwirken und die juristischen Bedingungen der Zuschreibung wie der Verwandschaftsverhältnisse durchbrechen: das, was »im Werk (wenn es dies gestattet) den Konsum ausschlämmt und ihn als Spiel, Arbeit, Produktion und Praxis wieder auff ängt.«77 (Wir werden mit Begeisterung auf die Wichtigkeit von 76 | Roland Barthes: Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 69. 77 | Roland Barthes: Das Rauschen der Sprache, S. 70.

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›Arbeit‹ und ›Praxis‹ im zeitgenössischen Tanz zurückkommen.) Bis dahin verdienen jene 1971 verfassten Zeilen unsere Würdigung: Sie führten nicht nur den überaus fruchtbaren Begriff des ›Intertextes‹ ein, sondern trugen auch historisch zur bedeutenden Bemühung der Desakralisierung des künstlerischen (oder literarischen) Werks als Objekt des Marktes und der (finanziellen oder ideologischen) Kapitalisierung bei. Diese Bemühung zieht sich durch das gesamte Jahrhundert. Wie man gesehen hat, war der zeitgenössische Tanz in besonderer Weise von ihr betroffen. Alles was wir gerade gesagt haben, triff t nämlich noch stärker auf das choreographische Werk zu: Wie man im Verlauf der vorangegangenen Seiten vermutlich verstanden hat, machen der Reichtum und die Unterschiedlichkeit seiner Verfahren das choreographische Werk zum idealen Anschauungsobjekt für die Variation der Zustände und die identitäre Schwankung des Kunstwerks in unserer Zeit: Das zeitgenössische tänzerische Werk hat weder einen spezifischen Rahmen noch eine feste Indizierung zu respektieren. Wenn es heute manchmal von Beschränkungen oder kanonischen Instanzen gezügelt erscheint, dann durch das institutionelle Spiel der Verbreitungsmodalitäten und durch die Schemata, die jene dem Schöpfer und dem Publikum aufzwingen. Es ist auch wesentlich, an die historische Nähe der choreographischen Strömungen der Avantgarde zu den dadaistischen oder post-dadaistischen Bewegungen zu erinnern, die die Kritik am Werk oder sogar an der künstlerischen Geste, die es begründet, sehr weit vorangetrieben haben: So entnahm die Pop Art ein Bild aus den Medien, vervielfachte es bis ins Unendliche und verurteilte damit jeden Versuch zum Scheitern, die Auras oder Warenbegriffe von Originalwerken wieder herzustellen. Kritische, epistemologische und literarische Betrachtungen haben jenen künstlerischen Praktiken der Verfremdung und Zerstörung der auktorialen Autorität (denn jede Autorität geht von einem Autor aus, oder von dem, was in den vorherrschenden ideologischen Strukturen an seine Stelle tritt) mit Freuden einen Zuwachs an Verwirrung hinzugefügt. Man kennt die Umwege, die mehr oder weniger vertieften Mutmaßungen eines Borges oder Pessoa, die die Idee vom Werk als einem einzigartigen Ereignis unterlaufen und den Leser stattdessen systematisch durch Mehrdeutigkeiten, fi ktionale Verschachtelungen (wie der berühmte borgessche »Don Quichotte«, der im 20. Jahrhundert durch eine Verteilung der Worte nach dem Zufallsprinzip entstand usw.) desinformieren. All jene Gedankenspielereien könnten zur Aufschichtung unproduktiver Spitzfi ndigkeiten führen. Doch haben sie auch Nelson Goodmans Reflexionen über die Sprachen der Kunst ausgehend von ihren eigenen Begrenzungen ermöglicht, von Fällen extremer Figuren, in denen die Kunst ihre unerschöpfliche Natur in umgekehrten Spiegeln betrachtet. Und man weiß, was der Tanz solchen Reflexionen verdankt, die die Macht seiner eigenen Systeme

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offenbart haben, selbst wenn sich diese Annäherungen mittels der Systeme seiner Symbolisierung (Notation) vollzogen haben. Denn sie haben der Bewegung die komplexesten Axiomatiken eröffnet und den Bereich der Choreographie gemeinsam mit den Epistemologen der Kunst zu einem großen Paradoxon gemacht, wo die Intelligenz im Bewusstsein der menschlichen Produktionen neue Wege einschlagen konnte. Einer Parallelströmung, die darauf abzielt, jegliche Zugehörigkeit des Kunstwerks zu den traditionellen Disziplinen in Frage zu stellen, entstammt die Gefährdung seines Status als vollendetem Objekt, das weniger durch seine Hervorbringung als durch seine Umrisse, seine Definition und den Ort, wo es sich indexiert (was auch bedeutet, woher es stammt), determiniert ist. Die interessantesten Errungenschaften des zeitgenössischen Schaffens (häufig immaterielle Objekte) existieren meist nur durch das Abgleiten, das sie ausgehend von einem definierten Genre durchführen können. Diese Pluralität und diese Freiheit des Status des Werks liegen nicht nur an seinen inneren Verwandlungen, sondern, wie Roland Barthes nützlicherweise aufzeigt, an der Bandbreite heterogener Blicke, die auf es gerichtet sind. Im Fall des literarischen Werks zum Beispiel hat die Erneuerung der Kritik ausgehend von der Entwicklung der Linguistik oder den literarischen Anwendungen der Psychoanalyse die klassischen Definitionen des Schreibakts erschüttert. Im Tanz erleben wir dieselbe oder eine äußerst ähnliche Situation: Die unterschiedlichen kinesiologischen oder ästhetischen Ansätze, die Annäherung an die Schöpfungsprozesse der Avantgarde in den bildenden Künsten oder auch im Theater, haben die Herangehensweise an das Werk verändert, geleitet oder fehlgeleitet und dadurch letztendlich auch das Werk selbst. Hier finden wir den Intertext wieder, aber als künstlerische Formgestaltung durch die Wahrnehmungen, die er anruft. Sensorische Übertragungen, Spiegel und Echos (weit über die Auslegung hinaus) sind weniger das Ergebnis einer künstlerischen Entscheidung als einer allgemeinen Entwicklung der symbolischen Horizonte.

Das choreographische Werk: Glücks- und Unglücksfälle Doch ist der zeitgenössische Tanz auch heute noch gezwungen, einen ganz anderen verborgenen Weg zu verfolgen. Denn der Begriff des Werks als ein ›Opus‹, das den Stempel einer einzigartigen Vorstellungswelt trägt, ist in der Tradition dieser Kunst allzu lange bestritten (wenn nicht sogar mit Füßen getreten) worden. Daher müssen wir, bevor wir uns der Betrachtung jener Wandlungen und Zersplitterungen des choreographischen Werks im Zeitalter seiner Modernität zuwenden, die so viele fruchtbare Möglichkeiten mit sich bringen, den schmalen und beschwerlichen Pfad der Beschränkungen verfolgen, die ihm auferlegt sind. In seiner Gegenwart auf-

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erlegt – da sich der Begriff des Werks zu sehr mit dem des spektakulären Produktes vermischt, dem einzigen Marktwert, den der Tanz anzubieten hat und auf den der (bereits von Barthes angeprangerte) kulturelle Konsum spekulieren kann, um ihn zu unterwerfen und verkümmern zu lassen. Da das ›Werk‹ unmittelbar mit dem punktuellen und vereinfachenden Begriff der ›Auff ührung‹ verglichen wird (Auff ührung als Konsumobjekt, nicht als Denken des Ereignisses, das sich per Definition jeder Handhabung entziehen würde), neigt man manchmal in übertriebener Weise dazu, ihm als einziger ›Produktion‹ des Tänzers einen Sonderstatus einzuräumen. Es bietet ein konkretes Objekt, auf welches das kulturelle System seine Aufmerksamkeit fi xieren kann (und somit seine Macht ausüben – besonders seine beurteilende Macht). Daher ist für zahlreiche Beobachter und Akteure des choreographischen Lebens die Freiheit und sogar ein Großteil des Erfindungsreichtums des Tanzes nur noch in den Randbereichen der Welt des Spektakels erfahrbar, in den Bereichen davor, in seinen Fluchten außerhalb des Blickfelds (Studioalltag, Begegnungen, Workshops), die nunmehr das eigentliche Feld bilden, in dem die großen Herausforderungen formuliert werden. In den 80er Jahren kam es in Frankreich zu einem inflationären Gebrauch des Begriffes »Werk« (in einer verschwommenen Meta-Sprache, die schwierig zu fassen und zu identifizieren war, da sie weder Referenzen noch Theorie begründete), der mit dem nicht weniger verschwommenen Begriff des ›Autors‹ verbunden war. Dies geschah erstaunlicherweise in einem Moment, wo sich die auktoriale Aktivität des Choreographen auf das bloße Zusammenfügen spektakulärer Modalitäten beschränkte und damit die Grundlagenarbeit ersetzte, die den Schöpfer der ›großen Moderne‹ zum Erfinder eines Körpers, einer Technik, einer Ästhetik gemacht hatte, die die Gesamtheit dieser Faktoren in einer zusammenhängenden Sprache zusammenfasste. Während der Begriff der Autorenschaft in allen anderen Kunstformen längst unterlaufen oder angefochten worden war, konnte man zusehen, wie sich die Choreographie mit Feuereifer dieses Begriffes bemächtigte und ihn sich aufs Banner schrieb. Geschah dies in der Kontinuität des interessanten Begriffes des ›choréauteur‹, den Serge Lifar in seinem Manifeste du Chorégraphe (1933) entwickelt und vor allem eingefordert hatte? Wir bezweifeln es, denn der zeitgenössische französische Tänzer bezieht seine Referenzen nur selten aus der Tanzgeschichte. Viel eher könnte es sich um die um einige Jahrzehnte verspätete Einführung eines ›Autoren‹-Begriffes in den Tanz handeln, der im Bereich des Kinos von André Bazin entwickelt worden war, um der erdrückenden Macht des kommerziellen und industriellen Aspekts dieser Kunst »das, was der Filmemacher der Welt zu sagen hat«78 gegenüberzu78 | André Bazin: Qu’est-ce que le cinéma?, Paris: Cerf 1956, S. 280.

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stellen. Es bleibt allerdings ungewiss, ob der Autorenbegriff, angewandt auf die choreographische Initiative, den Schöpfer im Tanz vom wirtschaftlichen und ideologischen Druck der Produktionsweisen erlöst hat (wie es der Autorenfi lm in Bezug auf die Filmindustrie tun sollte). Im Gegenteil: Der Begriff des ›Autors‹ behauptet einen gewissen Mehrwert der choreographischen Signatur, und mehr noch den eines Etiketts, das auf die Wichtigkeit eines Labels hinweist. Somit rechtfertigen der Name des Choreographen und seine Anwesenheit für sich allein schon das Funktionieren einer Compagnie. Daher rühren übrigens, in einem weitaus schwerwiegenderen Kontext, die Ratlosigkeit, die Verletzungen, die Phänomene der Trauer und des Bruchs im Kontinuum der Arbeit der Tänzer, wenn (wie man es allzu häufig miterleben musste) der Choreograph verstirbt. Es scheint dann nicht mehr möglich, wie in den großen amerikanischen Compagnien eine ›Arbeit‹ weiterzuführen, die, unabhängig von jeder nominalen Identifikation, an den Körper und die Praxis gebunden ist. Heute gilt es, dieses Urteil neu zu untersuchen. Die Macht der Trauerarbeit im und durch den Tanz kann den Verlust in einen Neubeginn verwandeln. Der Schmerz, die Inbrunst und die Erinnerung ballen Projekte und Träume zusammen, die unabhängig von jedem Rahmen oder jeder vorhersehbaren Organisation Körpergemeinschaften wiederherstellen, die aufs Neue in einem ewigen Werden begriffen sind. Compagnien wie die von Régis Huvier (genannt »L’arrache-cœur«) und, noch deutlicher, die von Dominique Bagouet (Les Carnets Bagouet) haben es verstanden, in ungewöhnlicher und erfindungsreicher Weise zu zeigen, wie die ›Arbeit‹ die physische Anwesenheit des Choreographen überlebt. Sie haben unter Beweis gestellt, wie sehr die von ihm ›geprägten‹ Körper noch in dem Raum am Werk sind, in dem sie sein Blick zu einem poetischen Einsatz ausersehen hatte, den der Tod nicht zu zerstreuen vermochte. Es handelt sich um ein Dispositiv, dessen einziger Erfinder der Tänzer ist, das er selbst einrichtet, als verwandele er den Befehl des Verschwindens in einen Neubeginn von Inspiration und Verlangen. Denn weit mehr als durch seinen Namen hat der Choreograph durch seinen Körper zur Entwicklung des Tänzers beigetragen, ebenso wie der Tänzer ausgehend von seinem eigenen Körper zur Entwicklung der choreographischen Signatur beigetragen hat. »Schließlich brauchen sie uns nicht mehr, die Frühentrückten,/man entwöhnt sich des Irdischen sanft, wie man den Brüsten/milde der Mutter entwächst: Aber wir, die so große/Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer so oft/seliger Fortschritt entspringt –: könnten wir sein ohne sie?«79

79 | Rainer Maria Rilke: »Erste Duineser Elegie«, in: Duineser Elegien, Leipzig: Insel 1923, S. 8

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Die Ungeschicke und schweren Schulden, die auf der Aktivität des Tänzers lasten, sorgen dafür, dass der ›Werk‹-Begriff im Tanz noch zu wertvoll ist, um Gegenstand der geringsten geistigen Einschränkung werden zu können. In jedem Falle zu wertvoll, um ungestraft den Verfahren der Desakralisierung entgegentreten zu können, die die Kunst und das kritische Denken des Jahrhunderts etabliert haben. Wie wir sehen werden, konnte der Choreograph allein für sein Anliegen als vollwertiger Schöpfer betrachtet und als solcher respektiert werden. Im Grunde hat die choreographische Aktivität, die als bloßes Spektakel betrachtet wird, einen uralten traditionellen Hintergrund geerbt, dessen Gesetze und Ideologie es zu untersuchen gilt. Wir haben das archaische Bild des Ballettmeisters erwähnt, der im 19. Jahrhundert eine Auff ührung ›einrichtete‹, das heißt, ein Dispositiv errichtete, das es den Tänzern, oder vielmehr Tänzerinnen erlaubte, gesehen zu werden. Ein Dispositiv der ›Ausstellbarkeit‹, wie es Walter Benjamin formulierte. Nun ging aber jener ›Ausstellungswert‹ auf der Ballettbühne der technischen Erfindung der Reproduktionsapparate (Kino, Photographie) voraus, die für Benjamin Vehikel des ›Ausstellungswertes‹ zu Ungunsten des ›Kultwertes‹ der Kunst waren.80 Und wie jenes flüchtige und verglommene Auf blitzen einer verlorenen Aura, das sich für Benjamin in jeder Photographie eines menschlichen Gesichtes offenbart, bleibt der tanzende Körper die ›letzte Verschanzung‹81 eines Rituals, das nicht mehr vollzogen werden kann. Dies hat es lange Zeit erlaubt, die Analyse des Werks als gestaltete organische Einheit, die durch mehrere miteinander verbundene Stadien (Bewegung, Komposition, Handschrift) ein komplexes symbolisches System ins Spiel bringt, außen vor zu lassen. Wahrscheinlich beginnt die Analyse des Tanzes nicht mit dem Werk; wie wir gesehen haben, wird die Wahrnehmung der ›körperlichen Signatur‹ und des ›Stils‹ unabhängig von jeglicher Artikulierung in einer abgeschlossenen Globalität ausgeübt. Denn vielleicht entspricht die Aufwertung des Werks zunächst einer viel dringenderen Notwendigkeit, die mit einer schmerzhaften Streitsache aus der Vergangenheit des Tanzes zusammenhängt: dem Streit um die Anerkennung des choreographischen Werks als vollwertigem künstlerischen Akt, die im Verlauf der Geschichte ziemlich lange verweigert wurde und es in mancher Hinsicht auch heute noch wird. Deshalb wäre der Respekt für das Werk, das in allen anderen künstlerischen Bereichen bereits entmystifiziert oder durch verwirren80 | Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Rolf Tiedermann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Gesammelte Schriften I, 2 (Werkausgabe Band 2), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 471-508. 81 | Ebd., S. 500.

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de oder spielerische Verfahren der Entpersonalisierung des Autors, der Pseudo-Zuschreibungen, die von Duchamps Rose Sélavy bis zu Borges’ Pierre Ménard reichen, in eine Krise gestürzt wurde, im Tanz nur mäßig amüsant und vermutlich recht wenig transgressiv, da er sehr leicht mit der Konvention verwechselt werden könnte. Dagegen ist die Identifizierung des Werks als unentfremdbar ganz gewiss eine der Errungenschaften der Moderne, genau wie es im Verlauf einer historischen oder ästhetischen Forschung, das Aufspüren eines ursprünglichen choreographischen ›Textes‹ ist. Warum? Weil dies den von der Tradition aufrechterhaltenen Rahmen zuwiderläuft, dem Klischee vom Text, der dadurch ›vergänglich‹ ist, dass er für seine Aktualisierung einzig und allein von einer Haltung der ›Auff ührung‹ abhängig ist (nicht so sehr von der Haltung, sondern von den wirtschaftlichen und institutionellen Wegen zu seiner Produktion). Wie man sehen wird, handelt es sich um ein Amalgam von Begriffen, die mit einer bemerkenswerten Ignoranz und ideologischen Verwirrung miteinander vermengt werden. Sie betreffen vor allem das choreographische Feld, und ihr erstes Opfer ist der Tänzer. Die Gründe dafür sind äußerst mysteriös und noch lange nicht aufgeklärt, und wird werden uns an dieser Stelle hüten, irgendwelche Hypothesen zu diesem Thema zu äußern. Erinnern wir nur an die Einteilung der Künste nach Nelson Goodman: ›Autographisch‹,82 wenn ihre Existenz mit der Materialität eines einzelnen Stücks zusammenfällt (was Gérard Genette als Immanenz bezeichnet)83, und ›allographisch‹, wenn die für Genette transzendente Existenz des Werks außerhalb jeder Materialität existiert (als Konzept, Anliegen, Verfahren oder Partitur). In der Kategorie der als ›allographisch‹ eingeordneten Künste ist der Tanz die einzige, der eine derartige Unbeständigkeit und Zerbrechlichkeit zugeschrieben wird; die anderen Künste, die mit der Aktualisierung auf dem Wege der ›Performance‹ eines Partitur- oder TextProgramms verbunden sind (Lyrik, Theater, Musik), kennen diese nicht, zumindest nicht in diesem Ausmaß. Die Angewohnheit, ›Werk‹ und ›Auff ührung‹ miteinander zu verwechseln, hat nicht unwesentlich zum Verlust choreographischer Werke beigetragen: dem Verlust von künstlerischer Identität, aber auch dem Verlust von Gedächtnis. Denn das eine geht nicht ohne das andere, und genau dies macht den Erhalt der Werke so wichtig: Nur jener Erhalt zeugt von einer einzigartigen künstlerischen Arbeit. 82 | Nelson Goodman: Die Sprachen der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 113. 83 | Gérard Genette: L’œuvre de l’art, immanence et transcendance, Paris: Seuil 1995, Kap. 8.

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Zahlreiche ›klassische‹ Ballette des 19. Jahrhunderts, zumindest des 19. Jahrhunderts in Frankreich, sind verlorengegangen. Es sind nur Schatten davon zurückgeblieben (eines der romantischen Ballette, das wie die anderen in Vergessenheit geraten ist, behandelt genau jenes Thema des Schattens…). Manchmal ist uns nur noch ihr Titel erhalten geblieben. In der Regel sind die Elemente, die überdauern, die Handlung (je nachdem, ob sie in dem Schriftstück festgehalten wurde, das man Programmheft nennt, oder nicht) und die musikalische Partitur. Manchmal kann eine mehr oder weniger genaue und reichhaltige Ikonographie die visuellen Aspekte des Werks heraufbeschwören und zumindest teilweise zur einer Vorstellung der Körper beitragen. Das Wesentliche ist für uns natürlich das, was dem Vergessen anheimgegeben ist: das Fleisch des Werks, sein Text, die tänzerische Bewegung, deren Materie dazu neigt, als erstes aus dem Gedächtnis zu entfliehen. Dies beweist, in welch schlechtem Ruf der choreographische Akt als schöpferischer Akt in einem Großteil unserer Tradition und innerhalb des Berufsstands selbst stand. Im besten Falle wurden uns bestimmte Ballette (»Giselle«, »Coppélia«) dadurch überliefert, dass man das bewahrte, was in unseren Augen das Wichtigste an ihnen war: den Text der tänzerischen Bewegung. Später und unter anderen historischen Umständen wurden beispielsweise die Werke Petipas sowohl durch Notation als auch durch mündliche Weitergabe erhalten. Dennoch werden sie allzu selten originalgetreu aufgeführt, was ihren Sinn entschärft, der wesentlich mit ihrem architektonischen Gesamtaufbau zusammenhängt. Die Tatsache an sich, dass Werke verschwanden oder sogar verändert wurden, ist nicht schlimm. Was in Bezug auf den Respekt, den einem die Identität eines Werks einflößen sollte, schlimm ist, ist, dass ihr Name durch eine Serie von ›Remakes‹ erhalten wurde, über deren Authentizität (und vor allem ästhetischen Wert) wenig reflektiert wird. In einem anderen künstlerischen Feld als dem Tanz, wo der Respekt für den Autor von der Tradition geboten wird, kann der Begriff des ›Remake‹ eine ätzende oder neutralisierende Ironie ausüben. Denn er trägt zum Untergang der auktorialen Sakralität oder der empathischen Sichtweise von einem Ursprung des Werks bei, die zahlreiche Diskurse unablässig in Frage gestellt haben; in stark theoretisch durchdachten Bereichen wie der Literatur sind solche Einbrüche gesund und intelligent und bringen eine ebenso willkommene wie heilsame Provokation mit sich. Im choreographischen Feld, das durch das Fehlen einer wirklichen Theorie zur Geschichte der Werke allzu fragil ist, sieht dies vollkommen anders aus. Häufig rührt das Prinzip des ›Remakes‹ vom bloßen Fehlen eines künstlerischen Bewusstseins her, einer Abstumpfung des Geschmacks oder einem unüberlegten Streben nach spektakulärem Gewinn, wie man es in der kommerziellen Filmproduktion sieht; dort werden ein prestigeträchtiger Titel und ein vorgefertigter thematischer Aufbau ausge-

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nutzt, um einem Kulturprodukt neue Frische zu verleihen. Gewiss gehören solche Aktivitäten zu dem, was Gérard Genette ohne jede abwertende Nuance ›Umarbeitungen‹ nennt. Denn in anderen Disziplinen als dem Tanz kündigen sie, weit davon entfernt, Regressionen zu bezeichnen, den Geschmack intertextueller Verschiebungen an, wo die Pluralität der Schichten und der Existenzfunktionen dem ›Text‹ die Bandbreite aller möglichen Aktualisierungsmodalitäten verleiht. Derartige Manipulationen existieren ebenfalls in den Bereichen von Theater und Oper. Doch sorgen dort Texte, die seit langem etabliert sind, nachprüfbare Richtmaße der künstlerischen Existenz, für eine Fortdauer der Integrität des Werks, so dass die ›Striche‹ eines Regisseurs bei Shakespeare oder Marlowe erlaubt sein können, ohne die Identität des Werks aufs Schwerste zu gefährden. Im Tanz existiert jener absolute Referenz-Ort, der Korpus der verlegten Texte, nicht. Und in jenen ›Umarbeitungen‹, läuft die umherirrende Materialität des Werks Gefahr, sich aufzulösen oder ihre Zeichen zu verlieren. In Bezug auf die choreographische Kunst siegt der Begriff der Aufführung über den Begriff des Werks, da letzterer unscharf bleibt und ihm in jener Hinsicht eine Identität fehlt, die ihn innerhalb seiner künstlerischen Sonderstellung genau abgrenzen könnte. Dies ist ein vielsagendes Symptom. Glücklicherweise lässt sich heutzutage im klassischen Ballett die Entwicklung einer bewussten und überlegten Strömung beobachten, für die die Suche nach einzigartigen und unangreifbaren Werken (in der Geschichte oder der Gegenwart) gleichzeitig ein Ziel der Kunst, der Forschung, der Überzeugung und des Denkens geworden ist. Für Jean-Paul Gravier, der sich, wenn man so will, in der Nachfolge des US-amerikanischen Jeoffrey Ballet befindet, jedoch mit einer größeren Sensibilität und Poesie, fängt die Suche nach dem Werk mit der Aneignung der Körperzustände, der Arbeit an der Bewegung und ihrem Sinn im Körper des Tänzers an. Dort beginnt nämlich die Rekonstruktion des ›Textes‹, die sich bis zur vollkommenen Durchdringung der gesamten choreographischen Konstruktion fortsetzt. Es handelt sich nicht so sehr um eine archäologische Suche nach ›Authentizität‹ (ein Begriff, der in den ›Doxa‹ häufig mit dem der Rekonstruktion einhergeht), sondern um einen Respekt vor dem künstlerischen Akt, der ein Werk begründen, abgrenzen und als solches unter die Schöpfungen des menschlichen Geistes einreihen kann. Bei solchen Künstlern siegt der Begriff des Werks über den der Aufführung. Dies macht im Endeffekt den Akt der Auff ührung selbst glaubhafter, stimulierender, anrührender und schöner. Manche Vertreter der Moderne haben auf den Begriff des ›Remake‹ gesetzt und alte emblematische Ballette reaktualisiert. Es handelt sich in den meisten Fällen um bewusste Verfremdungen, bei denen ein zeitgenössischer Schöpfer ausgehend von einem bereits in dem Ballett verwendeten

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Thema ein völlig neues Werk entwirft, wie Mats Eks »Giselle«, Andy De Groats »Schwanensee« oder »Bajadere« – oder auch »Coppélia« und »Les Noces« in den Fassungen von Maguy Marin oder Angelin Preljocaj. In beiden letzten Fällen handelt es sich um Werke, die im Repertoire erhalten werden, doch auf die das ›Remake‹ in stärker verfremdeter Form angewandt wird, wie eine andere tänzerische Interpretation. Ek und Marin behalten die Handlung und vor allem die musikalische Partitur bei, während De Groat nur das Klima behält, nur den Titel, der als verschwommenes nostalgisches Sinnbild fungiert. Man wird nicht ohne eine gewisse Bitterkeit bemerken, dass das, was das choreographische Werk am stärksten mit seiner Identität verbindet… die musikalische Partitur ist. In einer künstlerischen Welt, die nicht einmal mehr den wirklichen Ort ihrer Vollendung kennt, ist dies ein seltsamer Identitätsersatz. Trotz all dieser Bedenken sind solche Unternehmungen interessant, insofern ihre Verfahren durchdacht und explizit sind und die neue Lesart wirklich als solche agiert. Bemerken wir dennoch, dass derartige ›Remakes‹, selbst wenn sie modernisiert sind, nur mit dem sogenannten ›klassischen‹ Repertoire durchgeführt werden. Seltsam, dass Tänzer, die sich als zeitgenössisch bezeichnen, nur mit dem Material eines Repertoires arbeiten, das nicht das ihre ist. Wollen sie dadurch etwa eine Geschichte der Modernität des Körpers zurückzuweisen (oder verleugnen?)? Oder brauchen sie dieses ›anderswo‹, um ohne Angst an die grundlegenden Werte ihrer Geste rühren zu können, sie zu variieren, vielleicht auch zu entheiligen? Hierzu ein paar Anmerkungen: Diese Werke gehören nicht zur wirklichen Geschichte des Choreographen, sondern zu einer Art Mythologie, einem Repertoire von Figuren, aus dem man sich gefahrlos bedienen kann. Man kann mit jenem Grundstock von Referenzen in unterschiedlicher Weise umgehen: entweder aus dem Blickwinkel der Respektlosigkeit oder dem der Würdigung irgendeines Archetypen des choreographischen Gedächtnisses. Nach aktualisierten Versionen moderner Werke wie »Moor’s Pavane« oder »Cave of the Heart« würde man jedoch vergeblich suchen. Ein Tabu, vielleicht eine Gedächtnislücke, verbietet es den Vertretern der Moderne, an ihre eigenen Wurzeln zu rühren. Und wenn die heutigen Choreographen den (gotteslästerlichen?) Willen hätten, sich damit zu konfrontieren, wären die Rechtsinhaber oder die das Repertoire hütenden Compagnien dagegen. Denn dort lässt sich der Begriff des choreographischen Werks nicht mehr diskutieren. Somit wird der auktoriale Wert im Tanz als eine der bedeutenden Errungenschaften unserer Zeit gefeiert, oder zumindest als Rückeroberung, wenn man das Bemühen um Zuschreibung in der Renaissance und im Barock bedenkt. Einzig Werke, die zwar großartig sind, aber dem Chaos, das sie hervorbrachte, anheim fielen, wie Mary Wigmans wundervolles »Abschied und Dank«, können anhand von Filmbildern wieder aufgenommen werden. So

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sammelt die Compagnie La Ronde in der anrührenden Interpretation von Dominique Brunet Parzellen entblätterter Erinnerungen wieder auf. Mary Wigman bemühte sich nicht darum, ihre Werke weiterzugeben; sie waren wie ›Schwingende Landschaften‹, wie der Titel eines ihrer Solo-Zyklen lautete, die den fi lmischen Bildern überlassen sind, die uns davon bleiben. Aus jenen willkürlich auftretenden Körperreflexen kann eine zeitgenössische Tänzerin über unglaubliche körperliche Disparitäten hinweg Körperzustände und zerstäubte Gesten aufsammeln. Diese Unternehmung ist wagemutig, sie hat die Süße der extremen Grenzüberschreitungen und steigert die Emotion und Schönheit des ursprünglichen Projekts. Der gleiche glühende Eifer, doch ein ganz anderes Verfahren zeigt sich in der Unternehmung von Jean-Christophe Paré: sukzessive Annäherungen zwischen der Skizze, dem Text und den vielschichtigen Lesarten für seinen »Faune dévoilé« (»Entblößter Faun«), der die Solopartien von Nijinskys berühmtem »Après-midi d’un Faune« aus dem Jahr 1913 wiederaufnimmt: Es handelt sich dabei um eine andere, nicht weniger interessante Figur der ›Textrekonstruktion‹. Hier stellt sich die Frage nach dem (klassischen oder nicht-klassischen) Repertoire nicht: Nijinsky gehörte keiner Schule an, er ließ alle Referenzen hinter sich und erfand durch die (individuelle) Entscheidung, seine eigene Sprache zu erschaffen, eine Modernität. Er entwickelte jedoch kein Körpersystem, um dieser Sprache Legitimation zu verleihen, und gehört somit auch nicht zum zeitgenössischen Tanz. Doch vor allem äußert sich die von Jean-Christophe Paré gestellte Frage ausgehend von extrem sorgfältigen schriftlichen Quellen: von Nijinskys Notationen und den gemeinsamen Arbeiten von Milicent Hodgson und Anne Hutchinson-Guest, mit ihren konkreten Weiterführungen durch das Joff rey Ballet. Was diese Wiederaufnahmen angeht, so lässt sich jener intertextuelle Charakter erkennen, den wir der Praxis im zeitgenössischen Tanz zuerkennen: Bereiche der Schichtung, einander überlagernde Abdrücke, wo sich der auktoriale Wert durch die Echos, die er inspiriert, verändert. Denn jener »Entblößte Faun« spielt mit seinen eigenen Schleiern, vermischt gespenstisches Material miteinander. Die Poesie der Unternehmung geht über die Frage nach Respekt und Bewusstsein für das Werk hinaus. Doch kann sie nur ausgehend von jenem tiefgreifenden und unendlichen Bewusstsein für das Werk und die choreograpische Sprache durchgeführt werden. Das Werk als unangreif bare Identität ist in der modernen und zeitgenössischen Choreographie ebenso selbstverständlich, wie das Bild in der Malerei, der Text in der Literatur und die Partitur in der Musik. Jede Veränderung des Werks zieht eine Veränderung der ›Signatur‹ nach sich, durch die seit jeher, seit der Renaissance, sowohl der ursprüngliche Schöpfungsakt als auch der unveränderliche Name des Autors ausgewiesen werden. (Überdies hat die ›Signatur‹ in der modernen Kunst eine neue Be-

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deutung bekommen, die manchmal so weit geht, dass sie das Werk selbst ersetzt). Es handelt sich also, weit über die Eingrenzung künstlerischen Urheberrechts hinaus, um die Vision einer Geste und um das Werk, das sie hervorbringt. Man wird jene Politik der gesetzlichen Festlegung der Autorenschaft vermutlich ein wenig dogmatisch und sogar tyrannisch finden. Doch ist jene Autorität ziemlich schüchtern, was das Ausüben einer einschränkenden Macht angeht, sowohl auf den künstlerischen Akt als auch auf den Körper des Tänzers. Sie verteidigt nur ein kleines Recht darauf, als Künstler innerhalb einer großen ideologischen Maschinerie zu existieren, wo der Abdruck der Geste jederzeit ausgelöscht oder einfach entwendet werden kann: das Recht auf ihre Existenz in der menschlichen Gemeinschaft, sowie auf das künstlerische Projekt, das sie hervorgebracht hat. Dennoch zeugen bestimmte Epochen, die in unserer Geschichte als Referenzen gelten können, von einem deutlich ausgeprägten Bewusstsein für die Existenz der choreographischen Äußerung als ›Werk‹, als ›Erfindung‹ (sei es auch im klassischen Sinne des Wortes), als Gegenstand auktorialen Ursprungs, der, genau wie alle anderen Kunstwerke, eine unauslöschliche ›Signatur‹ aufweist. Allerdings muss man weit in unserer Kultur zurückgehen, um dafür wenn schon nicht das Äquivalent, so doch wenigstens eine Analogie zu finden: im Italien der Frührenaissance, des 15. und späten 16. Jahrhunderts, sowie in Spanien, wo die Tanzmeister die Kompositionen mit ihren Namen versehen archivierten, und später im Europa des 18. Jahrhunderts, wo sich die in Feuillet-Notation gesammelten Kompositionen durchsetzten und dadurch eine ähnliche Kontrolle über das künstlerische Eigentum ausübten. Aber dennoch wirft es Fragen in Bezug auf die Werkdefinition auf, wenn man in einer von Ebreo oder Domenico da Piacenza signierten ›basse danse‹, in einer Pavane von Caroso, einen Schritt, eine Raumbewegung ändert. Das Gleiche gilt für Pecour, Isaac, Ballon und andere Tanzkomponisten zu Anfang des 18. Jahrhunderts. Auch wenn die häufigen Kopien mit ihren Varianten, den Transpositionen in der Rollenverteilung, den in die Tänze eingefügten Anpassungen bei der Überführung von der Theaterbühne in den Ballsaal, die in der Regel vom Autor selbst vorgenommen wurden, dafür sorgen, dass wir uns heute mehreren Versionen gegenübersehen. Doch ist genau jene Pluralität Anlass für eine spannende Arbeit an dem, was Jean-Noël Laurenti »Textrekonstruktion« nennt,84 und was den Begriff der Identität nur noch akuter und dynamisierender macht. Ganz egal, ob es sich um die verbalen Archivierungsmethoden der Renaissance handelt oder um den Gebrauch von ›Systemen‹, die sich gegen Ende des 84 | Jean-Noël Laurenti: »La pensée de Feuillet«, in: Danses tracées«, S. 107-

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17. Jahrhunderts durchsetzten, als die Idee der Notation allgemein anerkannt wurde. Von da an mit seinen räumlichen, zeitlichen und dynamischen Parametern festgehalten, behauptet sich das Werk als ursprüngliche Schöpfung, als ›Erfindung‹ und gelangt heute vollkommen in den Modalitäten begriffen, die es bestimmen, zu uns. Dabei spielen die historischen, politischen und auch ein wenig modellisierenden Motivationen, die die Hervorbringung und Anwendung der Notationssysteme vorsahen, kaum eine Rolle. In unserem Gebrauch bleibt davon nur ein erstaunliches semiologisches Abenteuer übrig, sowie Körperalphabete, die in der Lage sind, uns Bewegungsfiguren, Raumpoetiken und Elemente von so intimem Anschein wie Verschiebungen der Stütze, Momente des Innehaltens oder das Schaukeln der Gewichtsachse näherzubringen: ein ganzes Spiel des Körperinneren, das in der ›Praktik des Selbst‹85 eingraviert ist, und das heute in der Frische eines Denkens erscheint, das sich nicht gescheut hat, die Bereiche des Sensorischen zu erforschen und in der Lage ist, noch nach Jahrhunderten den unendlichen Zauber seines Auftretens spürbar zu machen. Gewiss darf man die Parallele nicht zu weit treiben, da die Anerkennung des Werks eines ›Meisters‹ im archaischen Kontext einer Zunftgesellschaft oder sogar in der akademischen Bewegung des klassischen Zeitalters, wo der Status des ›Künstlers‹ klarer zutage tritt, nichts mit der Bedeutung zu tun hat, die die zeitgenössische Kultur mit dem Begriff der ›Signatur‹ verbindet. Wir versuchen gewiss nicht, eine Verbindung der Ähnlichkeit oder gar des Erbes zwischen jener altertümlichen Situation, wo Werk und Autor als unverletzlich anerkannt wurden, und dem modernen Bewusstsein vom choreographischen Werk herzustellen. Unterstreichen wir im Vorübergehen das Paradox: Jene Zeiten, die kein Urheberrecht kannten, in denen die Arbeit des Kopierens, des Leihens, des Zirkulierens von Figuren oder Themen von einem Werk zum anderem in allen Bereichen an der Tagesordnung war, sind dennoch in der Lage, uns in Bezug auf den der tänzerischen Bewegung oder vielleicht dem körperlichen Akt im Allgemeinen geschuldeten Respekt eine Lektion zu erteilen. Dabei spielt es übrigens keine Rolle, wie groß der Grad der Manipulierung jener Körperzustände durch die Ideologie war; denn man müsste hier zwischen der Einschreibung des Modells und dem Verlust der Gesten unterscheiden, dessen todbringendes Potenzial womöglich noch größer ist. Dennoch ruft die Konservierung in derart paradoxen Situationen Verzerrungen oder Gefahren hervor, die das Denken und die Wahrnehmung ineinander verschachteln. Somit kann sich das Werk nurmehr als das Dokument definieren, das das Denken fi xiert, und verschmilzt materiell mit 85 | Michel Foucault: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989.

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ihm, so wie manche Ruinen ihren Ruhm einzig und allein der Tatsache verdanken, dass sie Überreste sind. Als Beispiel dafür lässt sich »Le mariage de la grosse Cathos«86 anführen, ein Maskentanz, der nicht weiter war als eine einfache Karnevals-Clownerei am Hofe Ludwigs des XIV. Da es jedoch vollständig in Favier-Notation erhalten ist, und ihm eine außergewöhnliche musikalische und die Umstände beschreibende Dokumentation beiliegt, existiert jenes vollkommen belanglose zweitrangige Denkmal als vollwertiges ›choreographisches Objekt‹ weiter und wandert von der Definition oder der Identifizierung des Werks hin zu anderen symbolischen Zuständen, die es mit einer Aura aufladen, die, wenn man genau bedenkt, nichts mit seiner eigenen Beschaffenheit zu tun hat. So profitiert es zum Beispiel vom Interesse an dem System, in dem es niedergelegt ist: die Favier-Notation, die im Vergleich zum Feuillet-System eine Randerscheinung blieb, das wiederum, durch das königliche Monopol zur Norm erklärt, in ganz Europa übernommen wurde (und dessen Anwendungsbeispiele ganze Bibliotheken füllen). So verleihen seine Seltenheit und die Untersuchung zweier illustrer Forscherinnen jenem außergewöhnlichen Dokument ein Prestige, das seinen tänzerischen Inhalt gleichzeitig in der Kultur und in der Ordnung des Wissens erhöht. Dagegen überlebte vom »Ballet de la Nuit«, das zu jener Zeit von dem Jesuitenpater Ménestrier, einem großen Theoretiker des barocken Balletts, als vollkommenstes der höfischen Ballette betrachtet wurde, nur das Libretto, für das der wertvolle Isaac de Benserade verantwortlich zeichnete. Und selbst wenn jenes Libretto mit seinem poetischen Inhalt und seinen Szenenanweisungen so traumverloren und suggestiv ist, wie man sich nur wünschen kann, fehlt ihm leider jegliche Poetik des Körpers.

»Feuer des Verlustes«, Rituale des Ver schwindens Man kann im Tanz nicht von Gedächtnis sprechen, ohne gegen die beeindruckende Statur eines uralten Tabus zu prallen (oder ihr auszuweichen, was auf dasselbe hinausläuft). Ein unklares Gesetz, zu dessen Widerhall sich die ›Doxa‹ in der Regel machen, verurteilt den Tanz zu einem Gedächtnisverbot. Bei der Eröffnung des bedeutenden Symposiums »La Mémoire et l’Oubli« (»Gedächtnis und Vergessen«) im Rahmen des Festival d’Arles nahm Dominique Dupuy den Ausdruck ›trou de mémoire‹ (›Gedächtnislücke‹) wörtlich als eine finstere Feuerstelle, wo die Asche nach und nach ihre Macht über die lebendige Kraft des Herdes ausbreitet. Wie Michel de Certeau aufzeigt, wird das Gedächtnis zu Unrecht als eine Enti86 | R. Harris-Warrick und Carol G. Marsh: Musical Theater at the Court of Louis XIV: Le mariage de la grosse Cathos, Cambridge: Univ. Press 1994.

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tät an sich betrachtet und das Vergessen als bloßer negativer Übergang, der die Integrität des Gedächtnisses angreifen würde. Denn schließlich dominiert das Vergessen und beutet die Arbeit der Zeit zu seinen Gunsten aus. Wie er sagt, ist »die Erinnerung nur die Rückkehr des Vergessenen.«87 Nicht ohne Grund ist der Tanz der privilegierte Bereich einer unmöglichen Umkehr, da die Geste die Instanz ihrer eigenen Präsenz immer wieder neu eröffnet. Dem schönen Wort ›emphemer‹, vergänglich (épi-héméra, was nur einen Tag dauert, »vom Morgen bis zur frühen Nacht«, wie Ronsard über die Rose schrieb) wird ständig ausgewichen. Auf den Tanz angewandt, im oberflächlichen Diskurs der ›Doxa‹, ist es bis zum Überdruss banalisiert worden. Verbunden mit dem Vergessen hat es sich in einen Bereich entführen lassen, der als mittelmäßig konnotiert ist. Schließlich, verdunkelt vom Schatten des Schicksals, wirft man dem Tanz gerne eine Unfähigkeit zu Überleben, eine Schwäche, sich der Zeit zu stellen, vor. Nun sind die vergänglichen Künste aber stets aus freiem Willen vergänglich. Sie tragen in sich das Dispositiv oder das Programm, das ihre Erzeugnisse dem Nichts überantworten wird. So wie sich die provisorischen Architekturen der Barockzeit, Schwitters’ Merzsäulen aus faulenden oder zerfallenden Abfällen, und später die Arbeiten eines Jochen Gerz, die bewusst zur Auslöschung oder zum langsamen Verfall bestimmt waren, stets durch einen zunehmenden Rückzug aus der Sichtbarkeit auszeichnen. In Gerz’ Werk geht es (wie im Tanz?) nämlich darum »den unsichtbaren Raum sichtbarer zu machen.«88 Das Wesentliche darin ist der Übergang vom Sichtbaren zum Unsichtbaren (im Kunstwerk, in der tänzerischen Bewegung), der Augenblick des Verschwindens. Damit ist kein Augenblick der Auslöschung gemeint. Im Gegenteil. Was Gerz angeht, müssen wir hinzufügen, dass seine Projekte des Verschwindens gleichzeitig Projekte des Gedächtnisses sind: Die Monumente, die dazu bestimmt sind, im Erdreich zu versinken, und die mit Kreide auf den Boden geschriebenen Namen von Konzentrationslagern, die durch die Schritte der Besucher verwischt werden, sind im Wesentlichen Gedächtnisakte. Denn nicht die Permanenz des Objekts begründet das Gedächtnis, sondern der Akt der Einschreibung, der Wert der Bezeichnung im kollektiven Bewusstsein, im Körper der Zeiten. Alles kann wiedererinnert werden, sogar das schwingende Vorüberziehen eines Meteors. Was dennoch dem Vergessen anheimfällt, ist damit diskreditiert. Man wird hier nicht so weit gehen, das ›Verdrängte‹ zu erwähnen, das nicht 87 | Michel de Certeau: Histoire et psychanalyse entre science et fiction, Paris: Gallimard 1987, S. 86. 88 | Jochen Gerz: Texte, Bielefeld 1985, S. 118.

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zum Antrieb unseres Ansatzes gehört. Doch kann man natürlich von den Leugnungsprozessen sprechen, die nützlich für das Überleben der Ideologie einer gesellschaftlichen Gruppe oder kulturellen Institution sind, und mehr noch für die etablierten Produktionssysteme, die dazu neigen, den Tanz auf seinen Marktwert einer reinen ›Ausstellung‹ zu beschränken, sei es auch auf Kosten der Erfahrung, die der Kraft des Augenblicks Nahrung gibt. Eine solche Ausstellung bringt eine doppelte Finsternis mit sich. Daniel Dobbels stellt sich zum Beispiel in Bezug auf die Photos von Geneviève Stephenson die Frage, was uns an dem »Negativ der Dinge reizt, das verlangt, dass ein Augenblick stets vergänglich sein muss.«89 Denn der Augenblick erhält seine Qualität nicht durch seine Vergänglichkeit, sondern durch die unmittelbare Wahrnehmung der sensorischen Intensität, die ihm im Tanz innewohnt, als einzigartiger Rahmen des Akts der Äußerung und der Mobilisierung, zu der dieser Akt auffordert. Dessen körperliches Leuchten könnte das Photo in diesem Falle festhalten (und wie ein heimliches Verzehren bewahren). Der Diskurs, der über das ›Vergängliche‹ gehalten wird, beschränkt sich zumeist auf das, was Christophe Wavelet zu Recht eine »Feier des Verlusts«90 nennt. Jene Feier ist nicht das ausschließliche Ergebnis öffentlichen Geredes und noch nicht einmal des Mediendiskurses, der dies unterhält, denn auch die Tänzer selbst messen dem Begriff der Vergänglichkeit aus allen möglichen komplexen Gründen Wert zu. Einigen dieser Gründe mangelt es im Prinzip weder an Schlüssigkeit noch an poetischer Kraft. Somit findet sich das Gefühl der ›Vergänglichkeit‹ im Diskurs des Tänzers wieder, aber verschoben (man könnte sagen ›geadelt‹). Man kann hier eher von einer eklatanten Trauer sprechen, die die Tänzer gerne mit ihrer Arbeit verbinden. Es handelt sich um ein Verlangen, die Magie der Dinge des Körpers mit ihrem Verschwinden zu verbinden, wie ein ewiges Opfer, in dem sich der Körper selbst durch seine ›Arbeit‹ aufs Spiel setzt. Vielleicht ist dies eine Möglichkeit, der Geste die Heiligkeit zurückzugeben, die jedes Ereignis durch die Nähe des Todes erhält, eine Heiligkeit, die die Banalisierung durch die Konsumgesellschaft auszuräumen sucht. Somit wird die ›Verschwendung‹ zu jenem Akt des Selbstopfers im Exzess, den der Tänzer seiner Kunst und seinem Beobachter widmet – auch wenn er, auf beiden Seiten, daraus keine Todes-, sondern eine Entropieerfahrung zieht. 89 | Daniel Dobbels: »À la tombée du jour«, in: Geneviève Stephenson: »Photographies de la danse«, Ausstellungskatalog, Association française d’Action Artistique 1994, nicht nummeriert. 90 | Christophe Wavelet: »Les notations en danse«, unveröffentlichter Vortrag über Danses Tracées, »Le temps des livres«, Opéra Bastille 1995.

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Georges Bataille bemerkt in Bezug auf die freiwillige ›Verzehrung‹ der Wesen und Objekte in Opferriten: »Das Opfer gibt der heiligen Welt zurück, was der dienstbare Gebrauch degradiert, profaniert hat.« 91 Die ›Feier des Verlusts‹ betriff t vielleicht eine für das Ritual unverzichtbare Liturgie, durch die der Körper des Tänzers und der Körper des Zuschauers aus der Ökonomie des ›Später‹ entfliehen, in der Derrida (Die Schrift und die Differenz) nach Bataille die Schliche der Ideologien der Anhäufung enthüllt hat. Seitdem strebe die Ikone, weit mehr noch als das Zeichen, danach, aus dem ein Bild zu machen, und sei es auch nur eine Momentaufnahme, was per Definition stets an der Schwelle zu seiner eigenen Figur bleiben sollte, wenn es sich nicht verraten will. Denn das Wesentliche des Tanzes liegt darin, der Wahrnehmung nichts anderes zu liefern als die Stärke der Erscheinung. Das heißt, die Spitze einer extremen Spannung innerhalb einer gegenseitigen Umwandlung von Wahrnehmung und Materie. Selbstverständlich muss jener Augenblick, um seinen Preis zu behalten, jeglichen Begriff eines grundlegenden und kontinuierlichen Verfahrens ausräumen, das an jenes der Arbeit erinnern würde, nicht als symbolischer Produktionsprozess, sondern als Prozess der Rentabilität. »Durch die Einführung der Arbeit trat an die Stelle der Intimität, der Tiefe der Begierde und ihrer freien Entfesselung von Anfang an die rationale Verkettung, bei der es nicht mehr auf die Wahrheit des Augenblicks ankommt.«92 Jene mit einer Kritik am Kapitalismus in der westlichen Welt verbundene Ansicht Batailles klingt für uns seltsam nach einem Widerhall der Rebellion der Pioniere des Freien Tanzes 93 und ihrer Therapeutenfreunde, die sich zu Anfang des Jahrhunderts gegen die Unterwerfung der Körper und Triebe durch die Industriegesellschaft auflehnten. Denn jene Unterwerfung zu Gunsten eines ›späteren Resultats‹, machte aus dem ›Augenblick‹ ein Moment von Handlungsketten unter vielen anderen. Dem Augenblick seinen Wert zurückzugeben, indem man ihn von operationellen Konstruktionen befreit, bedeutet natürlich, der Zeit jenen unbestimmten Fluss zurückzugeben, den manche Tänzer in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen Suche stellen: Cunningham zum Beispiel, für den der Augenblick die einzigartige Figur eines zufälligen Ereignisses ist, die vom gesamten deterministischen Feld abgekoppelt ist; Odile Duboc, die Poetin eines unfassbaren Erschauerns, die Passagierin des Flüchtigen, greift nach dem Glanz der Momente, in denen der Körper von allen Beschränkungen befreit ist. Nachdem wir das Loblied auf ihre Annäherung an den Augenblick auf der Ebene der Poetik gesungen haben, können wir es auf der Ebene einer ›politischen‹ Sicht der 91 | Georges Bataille: »Der verfemte Teil«, S. 86. 92 | G. Bataille: »Der verfemte Teil«, S. 87. 93 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. U.

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Augenblicklichkeit wieder aufnehmen, als Widerstand gegen die Ökonomie des angehaltenen Bildes, die selbst das ›Später‹ einer symbolischen Anhäufung hervorbringen würde. Doch hat der ›verfemte Teil‹ bei diesen Künstlern keine Glorifizierung der Vergänglichkeit zu seiner Erscheinung nötig. Die ›Ergriffenheit‹ in ihrer Kunst eines zufälligen Ereignisses, eines Zufalls, der dem Aufeinanderfolgen der Dinge (oder ihrer Gleichzeitigkeit) eine ständige Unregelmäßigkeit verleiht, bedarf nicht wirklich dieser Krücke, um die Bedrohung eines angehaltenen Augenblicks zu kompensieren. Oft bezeichnen sich sogar diejenigen als Anhänger der Vergänglichkeit, deren Kunst träge Ewigkeiten, erzwungene Neuausrichtungen um ein Kernbild herum anordnet, und dabei monumentale Ästhetiken hervorbringt, die in versteinerten Formen erstarrt sind.

Kenntnis der Werke, Reise in die nonverbale Bibliothek Die Betrachtung der Werke im Augenblick ihrer Schöpfung, doch auch das Verbleiben des Werks im Wissenskorpus des Tanzes sind beide von wesentlicher Bedeutung. Das eine wäre nicht ohne das andere möglich. Das ›dance concert‹ amerikanischer Prägung, das ältere Stücke eines Schöpfers wiederholt, während gleichzeitig seine neuesten Schöpfungen enthüllt werden, katapultiert das Werk unablässig in die Dimension einer choreographischen ›Sprache‹, die sich durch ein Körperdenken entwickelt und konstruiert. Die Analyse der Bestandteile und das Aufspüren der Entwicklungen geben den Maßstab vor, nach dem sich eine Fortentwicklung oder im Gegenteil eine Kontinuität bemessen lassen. Die Werke können ihren Ort nur prägen, oder gar erneuern, wenn die Schöpfer durchlässig für einen Kontext sind, wenn sie ein Terrain identifiziert haben und ihnen ein Material zur Verfügung steht, das sich beobachten und analysieren lässt. Genau wie die Bewegung nach Bartenieff94 existiert ein Werk nur durch die ›Abweichung‹, die es im Gewebe eines Kontextes hervorruft. Wer diesen Kontext ausklammert, klammert auch die Möglichkeit einer Ästhetik der Abweichung aus und banalisiert somit eine Äußerung oder misst ihr im Gegenteil zu großen Wert bei (was häufig auf das Gleiche hinausläuft), indem er sie auf eine konjunkturelle Initiative reduziert, anstatt sie im Kontext eines Arbeitsprozesses zu betrachten. Und so wird man auf unbegrenzte Zeit die zeitgenössischen Ausdrucksformen in stereotyper Weise ausschließlich durch ihren Unterschied zum klassischen Tanz bezeichnen, anstatt sich mit den Divergenzen oder Verschweißungen der unterschiedlichen zeitgenössischen Schulen zu beschäftigen. Der Erhalt 94 | Irmgard Bartenieff: »Aesthetics and Beyond«, in: Four Adaptations of the Effort Theory.

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der Werke kommt übrigens einem zumindest in seiner Formulierung relativ neuen Wunsch nach. Laban verdanken wir die Idee der Gründung einer ›non-verbalen Bibiliothek‹ zum Gebrauch durch den Tänzer.95 Diese ›Bibliothek‹ wäre der unermessliche Intertext, der die choreographischen Werke in einem Netzwerk von vielfältigen Ansätzen und Wahrnehmungen versammeln würde, ein Ort der Ablage, an dem sich nicht die Antriebe der Kunst, die, wie wir gesehen haben, anderswo funktionieren, sondern der Erfolg jener Kunst entschlüsseln ließe. Es geht darum, dass der Erhalt der Werke, weit über die Aufrechterhaltung eines ›Repertoires‹ (ein Ausdruck, der etwas vereinfachend und allzu sehr vom Korpsgeist gefärbt ist) hinaus, einen unendlichen Dialog zwischen »Ko-Präsenzen«, zwischen den Etappen der Arbeit des Körpers auslösen könnte, doch auch zwischen seinen Träumen. Solcherart ist für uns die Poetik dessen, was man ›ein Gedächtnis der Werke‹ nennen kann, und das vor allem der Erhalt der Sprachen und der Körperzustände wäre, weniger im Hinblick auf ihren Fortbestand als auf ihre Kenntnis und ihre Analyse. Selbstverständlich stellt das Werk einen wichtigen Pol dar: als Ansammlung von Informationen, als Gestaltung eines ›Systems‹, in dem die Äußerungen eines künstlerischen Projekts (ausgehend von seinen unterschiedlichen Kombinatoriken), einer Vorstellungswelt und einer Poetik des Körpers klarer und konstruierter gelesen werden können. Forestine Paulay erinnert daran, dass die vorherrschenden Modalitäten einer Sprache (›Tendenzen‹ oder ›Präferenzen‹ nach den labanschen Kategorien des ›Stils‹) vom Werk ausgehen, und zwar auf der Grundlage des Umgangs mit den vier Faktoren und den unterschiedlichen ›drives‹, die sich daraus ergeben. Ihre Kombinatoriken wiederholen sich ständig in vorgezogenen Strukturen: Wiederaufnahmen, Wiederholungen, Fortdauern usw. (sobald diese Kategorien ein qualitatives Material behandeln).96 Natürlich weiß Forestine Paulay, die keineswegs naiv ist, nur zu genau, dass sich in jener Erforschung keine ›Authentizität‹ des Werks finden lässt: Das Material ist niemals roh oder ursprünglich. Was sich darin abspielt, ist stets die Summe der ›Präferenzen‹ des Interpreten, der die ›Präferenzen‹ des Choreographen mit seinem Körper liest. Denn der Interpret gehört als ›Medium‹ in jedem Sinne des Wortes ebenso zum Werk wie das Hirngespinst eines ›reinen‹ ursprünglichen Projekts, das eine Interpretation verfremden oder entstellen könnte. Deshalb muss auf das Werk eine fi ltrierende Lesart angewandt werden, die mehrere Typen von Dokumenten übereinanderlegt 95 | Rudolf von Laban: Principles of Dance and Movement’s Notation, London: Mac Donald and Evans 1956, S. X. 96 | Forestine Paulay in: Four Adaptations of the Effort Theory, S. 61-71.

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(›Live-Interpretation‹, Notation usw.). Dank jener vielfachen Zusammenfügungen überwindet das choreographische Werk die Risiken der Verkümmerung und entzieht sich genau dadurch, besonders in den Epochen großer Inspiration, dem System, das beabsichtigt, es durch die Modelle kultureller Verbreitung zu nivellieren (indem es Wege des Durchkreuzens und der Entfernung findet). All die erwähnten Einsätze werden der Bewegung den Übergang zu einer zusammenhängenden Konstruktion erlauben, in einer vollkommenen Sichtbarkeit. Natürlich verstehen wir unter einem ›vollendeten‹ Werk Stücke, bei denen die ›Unabgeschlossenheit‹ eines der grundlegenden Elemente ist, wie bei ›works in progress‹ oder Performances. Das Werk vermengt in einem Vorwärtsstürzen alle Instanzen und trägt einen einzigartigen Sinn und eine Notwendigkeit in sich. Denn es allein begleitet die Prägung seines Schöpfers, indem es in allen Stadien die Fortdauer oder die Veränderungen der Signatur kundtut (von Labans ›bodily signature‹ bis hin zu ihrer Ausdehnung in einer Konstruktion, die die Indizien jener Signatur im besten Falle bis an ihr Ende tragen wird). Deshalb erscheint es notwendig, zunächst einmal zu untersuchen, worin und wie sich die Identität des choreographischen Werks offenbart. Warum soll man, auf Verfahren der Erhaltung gestützt, oder wenigstens auf die Problematiken, die sie hervorbringen, danach streben, die Identität des Werks einzugrenzen? Weil dort eine Wechselwirkung besteht. Auf der einen Seite werden der körperliche Inhalt des Stücks, seine Bestandteile, seine ästhetischen und philosophischen Grundsatzentscheidungen in einer variablen Art und Weise zu den Wegen seines Erinnerns. Außerdem tragen die Einschreibungsweisen selbst entscheidend zur Definition des Werks bei. Dies geschieht entweder mittels einem Verzeichnis der tänzerischen Bewegung durch eine Notation oder durch die Weitergabe innerhalb einer Compagnie, und zwar nicht nur der Bewegung, sondern eines Performance-Zustands, mit dem eine bestimmte Anzahl von Gegenständen oder Mechanismen verbunden sind, die außerhalb des Körpers liegen. Jene Modulierungen, die gleichzeitig die Natur des Werks und seine Projektion leiten, führen uns auf ganz natürlichem Wege zu den goodmanschen Kategorien zurück: Das Werk ist autographisch, wenn es mit einem Dispositiv verschmilzt, das es in dauerhafter Weise materialisiert; allographisch, wenn seine Existenz von einem Notationssystem abhängt und zu seiner Materialisierung des Eingreifens von ›Interpreten‹ bedarf, die ihm, je nach Fall, Körper, Raum, Klang oder Stimme verleihen. Nun befindet sich das zeitgenössische choreographische Werk aber als unbestreitbarer Erbe des Gesamtkunstwerks 97 und aller Träume von synthetischen Werken auf halbem Wege zwischen jenen beiden Figuren. Einerseits bezieht sich 97 | Im Originaltext auf Deutsch, Anm. d. U.

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die Bedeutung der tänzerischen Bewegung als Angelpunkt, der ihr absolutes Fundament bildet, zwangsläufig auf einen allographischen Text. Allerdings wird der visuelle Aspekt, selbst wenn er zeitlich begrenzt ist, von einem allzu vollständigen Ensemble von Parametern bezeichnet, um nicht einem Kunstobjekt gleichgestellt zu werden, dem einzig und allein die Permanenz der Ausstellung fehlt. Dies geht jedoch bei weitem über den Begriff der ›Auff ührung‹ hinaus, die als Entität existiert, und deren (motorische, klangliche, visuelle) Elemente eine untrennbare Einheit bilden. Somit zirkuliert das Werk in uneindeutiger Weise zwischen jenen beiden extremen Ausläufern des Chiasmus. Im Falle der zeitgenössischen choreographischen Werke schließt das Werk alle musikalischen, klanglichen und visuellen Bestandteile in seine Definition ein. Ein Werk von Graham ist nicht ohne die Kostüme, das Bühnenbild, die Musik und selbstverständlich die ursprüngliche Choreographie vorstellbar. Doch ist die choreographische Handschrift verwebt mit der Präsenz der Objekte, besonders der Objekte, für die Noguchi verantwortlich zeichnet, die sich in die Dynamiken der Bewegung (Stütze, Zugstange, Hindernis usw.) und auch in ihren Sinn einfügen. Bei Cunningham muss man den unterschiedlichen Rahmen der pikturalen Zusammenarbeit betonen, wie zum Beispiel das Licht, für das große Künstler wie Rauschenberg verantwortlich zeichnen. Dies ist noch stärker bei Nikolais der Fall, für den das Licht das Gerüst des Raums darstellt, das die Grundlage für das Stück bildet. Wie ein ›track‹, die Spur einer Musikaufnahme, über die dann die motorischen Variationen gelegt werden, in Welten, wo die choreographische Handschrift Raum und Licht in Bewegung versetzt (wie es bei den Stoff bahnen in »Tent« oder den Leinen in »Tensile Involvement« der Fall ist); manchmal ist der Körper nur eine Leinwand aus Haut, auf der sich ausgehend von einer Folge von Filmdias eine choreographische Projektion abspielt. Von »Somniloquy« (1967) bis »Scenario« (1972) handelt es sich um Stücke, die durch die Äußerung leuchtender und bunter Ereignisse einen choreographischen Text sowohl um einen Körper herum, als auch von ihm ausgehend hervorbringen. (Man kennt bereits den Grund dafür: Für Nikolais ist das choreographische Werk eine Metapher für die Welt; der Mensch ist darin nicht mehr zentral, sondern ein umherirrendes Subjekt.) Somit muss das Werk jenes unermesslich große Theater der Vorgänge in der Welt und das gesamte visuelle und klangliche Material, das damit eng zusammenhängt und stets vom Meister selbst geschaffen wurde, einschließen. Der Grenzfall wäre die Arbeit von Philippe Decouflé, in der sich jede Schöpfung als riesige Skulptur darstellt, egal wie groß der Maßstab oder der Rahmen der Veranstaltung ist. (Bei den Olympischen Spielen wurde der Außenraum zur Bühne für jenen berühmten Schöpfer, der wie ein Barockkünstler das Theaterdispositiv der Illusionen und Magie leidenschaftlich liebt, das aus

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Plattformen, Leinen und bewegten Bögen besteht.) Decouflés Stücke erscheinen uns vollkommen ›autographisch‹, da sie fast mit ihrem materiellen Dispositiv verschmelzen. Die Wiederholungen eines Performance-Zustands mehrere Jahre nach der Schöpfung des Werks sind interessant, da sie die Gelenke und Umrisse ans Tageslicht bringen, die für die Defi nition seiner Identität unverzichtbar waren. Bei der kürzlichen Wiederaufnahme von »Assaï« durch die Carnets Bagouet konnte man sehen, wie wesentlich die seltsamen Beleuchtungen, die auf der Bühne und im Zuschauerraum umherwandern, die Kostüme von Dominique Fabrègues und das seitlich angeordnete, von Bagouet selbst entworfene Bühnenbild zur Definition des Werks beitrugen. Man kann noch weiter gehen: Sogar in einem Fragment von »Walkaround Time«, das 1989 als Teil von Cunninghams »Arles Event« erneut aufgeführt wurde, wurden die Vinylkörper von Jasper Johns, die Elemente von Duchamps »Grand Verre« enthielten, auf die Bühne gebracht, obwohl es sich nur um einen minutenlangen Ausschnitt handelte. Wie Christian Boltanski richtig bemerkt, geht es also nicht darum, bei der Wiederaufnahme ein ›Faksimile‹ des Werks zu produzieren,98 das nur das Lesen einer augenscheinlichen Form durch einen einfachen Restaurationsprozess wäre, sondern im Gegenteil darum, nach dem zu suchen, was Anne Abeille den Weg des ›Anliegens‹99 nennt, das nach Genettes Kriterien ein außerordentlich ›transzendenter‹ Begriff ist: die Partitur einer ›Idee‹, der der Körper des Tänzers und der Körper der eingesetzten Materialien gemeinsam einen Körper verleihen. Es gibt komplexere Herangehensweisen an das Werk. Elemente können daraus entfernt oder anderswohin verschoben werden. Natürlich handelt es sich keineswegs um die Ästhetik des ›Remake‹, sondern um absichtliche Fragmentierungen, Verfremdungen, oder bewusste Bereinigungen, also um eine Ästhetik des ›Ersatzteils‹, das sich als solches zeigt und behauptet. (Ein genialer Umgang mit diesem Konzept findet sich in Cunninghams »Events«, der zufallsgesteuerten Zerlegung von Werkfragmenten.) Bei ihrer Herangehensweise an die Werke, die sie nach Notationen in labanscher Kinetographie interpretieren, zwingen sich die Tänzer des Quatuor Knust dazu, nur den ›Text‹ in Betracht zu ziehen. Für bestimmte Stücke, zum Beispiel für die Arbeiten von Doris Humphrey, könnten (oder sollten?) sie zum Beispiel die Musik (da man weiß, wie sensibel Doris für 98 | Christian Boltanski in dem Video CHRISTIAN BOLTANSKI A PROPOS DU ›SAUT DE L’ANGE‹ DE D. BAGOUET (R: Charles Picq, Frankreich 1993), Sammlung der Vidéothèque de la Maison de la Danse (Lyon). 99 | Anne Abeille in PLANÈTE BAGOUET (R: Charles Picq, Frankreich 1994).

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sie war, besonders auch für die Musik der Stille) und die ursprünglichen Kostüme der großen Künstlerin Pauline Lawrence verwenden, die eine herausragende Mitarbeiterin Humphreys war und seit ihrer Jugend in der Denishawn-Schule komplizenhaft mit ihr verbunden war. Da sie jedoch alles außer der reinen Lektüre eines geschriebenen Textes ausklammern wollten, haben die Knusts die Kostüme absichtlich verändert und Sylvie Skinazi anvertraut, und den zeitgenössischen Komponisten Alain Bonardi mit der Musik beauftragt. Somit erscheint radikal und schmucklos die Identität des choreographischen Textes, die im Lauf der Geschichte allzu oft überdeckt wurde oder verloren ging. Dies war mit Humphreys Werk rechtlich möglich, da ihr Erbe die gleiche Flexibilität und den gleichen Humor wie seine Mutter besitzt. Selbstverständlich handelt es sich hier um ein abgesprochenes Vorgehen. Der Quatour Knust hatte den Wunsch, sich mit einem reinen Verzeichnis von Zeichen zu beschäftigen, das durch keinerlei vorherige körperliche Anforderung, keinerlei Vorstellungsrahmen gefärbt, geschweige denn bestimmt werden sollte. Ein solche gleichermaßen radikale und anti-konformistische Behandlung ist nur möglich, da sich eine wichtige theoretische Reflexion (die besonders in Frankreich in der Nachfolge der Labannotation begonnen wurde) in mehr oder weniger expliziter Weise mit dem Werkbegriff im Tanz beschäftigt hat. Wenn wir nämlich weiter oben auf das Gewicht der Einschreibung hingewiesen haben, so keineswegs, weil es materialisiert und einem poetischen Werk, das im Grunde nur seinen Rausch benötigt, um zu existieren, den Wert eines ›Zeichens‹ oder sogar eines ›Denkmals‹ verleiht (ist die Etymologie von Zeichen nicht die Statue, das lateinische ›signum‹?) Der tatsächliche Grund ist, dass die ›Bewegungspartitur‹, eingeschrieben oder nicht, notiert oder nicht, das wichtigste Element ist, welches das choreographische Werk ausmacht. Jene Partitur hat keinen allgemeinen oder spezialisierten Ort der Auf bewahrung. Labans non-verbale Bibliothek ist gegenwärtig eine extrem reich ausgestattete Bibliothek, die alle Bewegungen der Welt enthält, doch größtenteils eine imaginäre Bibliothek, die nur hie und da ein paar Bände bietet, die verloren inmitten eines Strudels unsichtbarer Partituren stehen, die jedoch nicht weniger existieren. Wie Gérard Genette in der Nachfolge von Nelson Goodman erklärt, bedarf die Partitur keinerlei Materialität zur Hervorbringung eines Werks. Sie gehört zum Bereich der möglichen Objekte, denen einzig und allein die Interpretation und die Lektüre Leben einhauchen. Dies macht sie nicht zerbrechlich, sondern verleiht ihr im Gegenteil die unveränderliche Natur eines Ideals, die keine materielle Abnutzung angreifen oder verblassen lassen kann. Um den Widerstand der Partitur gegen die Zeit durch ein ironisches Gegenbeispiel zu demonstrieren, erinnert Gérard Genette an den ärgerlichen Ausspruch Leonardo Da Vincis über den vergänglichen Charakter der Musik, die sich,

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im Gegensatz zur Malerei, in der Zeit auflöse: »Kaum gespielt verraucht die arme Musik; durch den Gebrauch des Lacks verewigt, bleibt die Malerei bestehen.«100 Der traditionelle Wert des Lacks als Instrument der Konservierung und des Festhaltens wird hier in seltsamer Weise durch den Verfall von Da Vincis berühmtem »Abendmahl« entkräftet. Dagegen entzieht sich die musikalische Partitur, sogar solche aus weit länger zurückliegenden Epochen, allen Wechselfällen des Lebens, die sie erreichen könnten (wenn sie sich nicht auf ihre einzige schwache Stelle richten: die ›Materialität‹ des Dokuments, das selbst auch den Auswirkungen der Zeit und der Abnutzung ausgesetzt ist). Für Umberto Eco kann jedes Kunstobjekt, selbst wenn es sich in einer konkreten Einheit materialisiert, gerade aufgrund der unvermeidlichen chemischen oder physikalischen Veränderungen, die die Zeit mit sich bringt, nur »eine permanente Fälschung seiner selbst«101 sein. Damit stehen wir an der Schwelle einer ›Geschichte‹ der autographischen Werke, die eigentlich durch ihre ›Immanenz‹ selbst nur eine lange Prozession von ›Remakes‹ wären, Schatten eines ursprünglichen Stücks, das durch die Zeit entstellt oder umbenannt worden wäre. (Es versteht sich von selbst, dass sich eine solche Diskreditierung nur auf den Diskurs bezieht, der die ›Authentizität‹ des Werks begründet, und nicht auf das Werk selbst. Das Vergehen der Zeit, der Verfall, die Abnutzung oder sogar die Amputation stellen in den Augen des Betrachters keinen Niedergang dar. Im Gegenteil: Solche unvollendeten, zerbrochenen, zerfallenen oder einfach gealterten Monumente rufen eine unsagbare Rührung hervor, die die ursprüngliche Kraft des ›unbeschädigten‹ Werks wiederherstellt.) Die poetische Sichtweise besteht darin, sich ihnen nicht als ›globaler Entität‹ anzunähern, erklärt René Passeron, sondern als einem Konzept, das vor allem durch die Gegenwart ihrer Erfahrung mit der ›Arbeit‹ der Menschen verbunden ist.102 Wir kommen zum Tun zurück, das selbst im autographischen Werk als materieller Entität jene partitionelle Dimension ausstrahlt, die für Genette wenn nicht die Natur jeglichen Werks, so jedoch zumindest die geheime Berufung darstellt, die es zu seiner eigenen Transzendenz führt. Die zeitgenössische Kunst von der Epoche des Dadaismus bis heute scheint aus dem Herzen ihrer eigenen Untersuchungen heraus auf jenen Ruf zu antworten, indem sie die Schnittstellen zwischen dem Anliegen und seiner Realisierung vervielfacht. 100 | Leonardo da Vinci: Skizzenbücher, zitiert in: Gérard Genette: L’œuvre de l’art, S. 261. 101 | Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation, München: Hanser 1992, S. 231. 102 | René Passeron: La naissance d’Icare, éléments d’une poétique générale, Paris: Delog 1996, S. 97.

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Einmal mehr bietet der Tanz einen Grenz-Ort, der gleichzeitig Beobachtungsfeld und Heuristik der Schöpfungsmodalitäten ist, auch wenn er, um dorthin zu gelangen das gesamte Leiden und die Tücken seiner eigenen Geschichte neu denken musste. Um die Schiedsverfahren, die die symbolischen Produktionen des Körpers zur Nicht-Existenz verdammten, gründlicher abschaffen zu können, war es zunächst einmal nötig, sie zu verstehen. Denn der Tanz hat in der Moderne den Begriff der Partitur noch weiter ausgedehnt und dessen Möglichkeiten erweitert und vervielfältigt. Während die Partitur im gewöhnlichen Sinne, als Notations-Partitur, die Inhalte, Dimensionen und Begrenzungen eines Werks festhält, entzieht sich die Partitur als Projekt einer offenen Transzendenz der Zeit, ebenso wie jeglicher Territorialisierung, die sie einschränken oder vermindern könnte: wie die Partituren, die als Möglichkeitssysteme gezeichnet oder entworfen wurden (zum Beispiel Trisha Browns Kubus für »Locus«, der unendliche Möglichkeiten als Richtungspartitur in sich trägt). Das Gleiche gilt für die Improvisationen ausgehend von Objekten (rätselhafte Partituren, die in der Materie gespeichert sind, Umrisse und Abdrücke, die einzig und allein der Körper zu interpretieren vermag, weil es sich um einen ›Text‹ handelt, den es unabhängig von jedem Einschreibungssystem zu entschlüsseln gilt). Solche Themen wurden dem Improvisierenden häufig von Trisha Brown angeboten, und vor ihr von Simone Forti (im Vorfeld ihrer »strukturierten Improvisationen«). Doch kann es auch sein, dass die Partitur in ihrem noch mysteriösen Zustand eine bloße Mittlerin zwischen der Welt und dem Körper ist, mittels der Hand, die die Welt zeichnet und so zum Hand-Körper wird: gleichzeitig als Schreiberin und als Hermeneutikerin einer Form, die sie noch nicht kennt. Simone Forti schreibt über eines ihrer Stücke, das mit der Unvollendung einer nicht begrenzten Partitur spielte (»To be continued«, 1991): »Ausgehend von Objekten arbeiten, Zeichnungen als Modus der Verkörperung (embodying) anfertigen: Das Auge bewegt sich, die Hand bewegt sich. Der Körper verleibt sich ein, die Hand bewegt sich fort und die Einverleibung offenbart die Linie.«103 Jener Austausch zwischen dem Körper, der Zeichnung und dem Projekt macht aus der Partitur eine Instanz, die sich zwischen mehreren Polen bewegt. Die Einschreibung ist das Ergebnis eines ständigen Abgleichens zwischen zahlreichen Stadien der Verkörperung. Außerdem gibt es nicht nur einen einzigen ›Zustand‹ des choreographischen Werks, der seine Vollendung in der Darstellung wäre, sondern alle möglichen ›choreographischen Augenblicke‹ in der Gestaltung, der Erinnerung, dem Anliegen, seinem momentanen Schweigen und seiner Wiederaufnahme. Die als Notation formulierte Partitur ist bereits 103 | Simone Forti: »Thoughts on ›To be continued‹«, in: Contact Quarterly Band XIX, Nr. 1, Winter-Frühjahr 1994, S. 14-21.

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eine Gestaltung, die ihren eigenen somatischen Widerhall enthält. Die labansche Kinetographie bietet einen Text, der auf dem Transfer von Gewicht beruht: Wendepunkte, Katastrophen, Projektionen, die gleichzeitig Auslöser und Seismographen dieser Transferbewegungen sind. Jener Körpertext beschreibt in seiner allerbuchstäblichsten Materialität den Stoff eines ›Akts‹ als poetisches Projekt. Was soll man also über die zweite von Laban gegen Ende seines Lebens entwickelte Notation sagen, die ›effort-shape‹-Lehre als einfache qualitative Partitur, in der unabhängig von jeder kontinuierlichen äußeren Form nur die ›Disposition‹ des Subjekts und der Gesamtheit der antizipierten Färbungen, die hindurchscheinen, erwähnt wird? Diese (mit äußersten Bemühen um innere Kohärenz) systematisierten Notationen verleugnen niemals im Namen des Systemischen das Gewicht des Körpers, von dem sie zeugen. Selbst wenn sie als Code geäußert werden, entfernen sie sich kaum von jenen privaten Aktivitäten der choreographischen Zeichnung, jener Partitur des Intimen, durch die, wie Simone Forti beschreibt, der Choreograph selbst das Protokoll gestaltet, das die Beziehung zwischen Körper und Strich begünstigt. Besonders bei Trisha Brown fasst die Zeichnung die gesamte Körperarbeit im Druck der Hand zusammen, die mit einem Strich eine Linie zeichnet, deren Vollendung am Ende einer langen verwickelten Bahn dem Abschluss der Phrase entspricht. Der ganze Körper liegt dann in der Hand, so wie der Tanz in der Linie liegt: mit seinen Phrasierungen, seinen Betonungen, seinen Entfaltungen und seinem Atem. In der Zeichenkunst begünstigt nach der klassischen Definition das Selbstportrait eine solche Annäherung zwischen dem Körper des Zeichners und seiner Zeichnung. Derrida verfolgt darin den Körper, der sich bereits im Erscheinen der Spur auf dem Blatt von seinem Antlitz freimacht.104 Im Tanz bewegt sich das Projekt, selbst im Zustand des Entwurfs, ob materialisiert oder nicht, in einer Art emotionalen Randgebiets des Denkens verharrend (das Susan Buirge das ›verschwommene Verlangen‹ nennt) oder in die Träumerei eines Striches eingeschrieben, zwischen der Skizze und der eventuellen Niederlegung in einem späteren Zeichen hin und her. Zwischen den zwei Flügeln jener vielschichtigen Zeitlichkeit entwickelt das tänzerische Werk die kontinuierliche Kette seiner Zwischenetappen zwischen Entstehung und Vollendung. Mallarmé schreibt: »Die Szene illustriert nur die Idee, keine effektive Handlung […] zwischen Wunsch und Erfüllung, Verüben und Sicherinnern.«105 Doch von einem Pol zum anderen ist der Körper 104 | »Die Bewegung, durch die ein Zeichner verzweifelt versucht, sich selbst festzuhalten, ist bereits in ihrer Gegenwart ein Gedächtnisakt«, in Jacques Derrida: Mémoire d’aveugle, Réunion des Musées Nationaux 1990. 105 | Stéphane Mallarmé: »Im Theater gekritzelt«, in: Kritische Schriften, Gerlingen: Lambert Schneider 1998, S. 187.

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immer bei der Arbeit (der ›Tanzarbeit‹). Die Transzendenz des Werks, die wie Gérard Genette bemerkt, mehr auf Seiten des ›Machens‹, des ›Handelns‹, als des ›Seins‹ liegt,106 verleiht dann dem choreographischen Werk seine wahre Dimension: eine Öffnung für vielfältige Spuren, für die der Körper weniger Leser als handelnde Instanz ist, und gleichzeitig Autor, Interpret und Enthüller. Ein Reisender auf einer Fluchtlinie, die er unablässig selbst neu erfindet. Manchmal haben Werke in jenen halb verlassenen Schichten der Geschichte des Jahrhunderts ihre Materie verloren, aber nicht ihr Licht. Jene Helligkeit, jenen Strahl, dessen Einfallswinkel die düsteren Randbereiche einer Erscheinung schneidet, wollte Gerhard Bohner in seiner Arbeit über die Tänze des Bauhaus, unter anderem über Oskar Schlemmers Tänze in Dessau, hinterfragen. Er interessierte sich für das einsame Umherirren eines Körpers, der durch seine Geste selbst Fragen stellt, ohne sie durch eine Rekonstruktion zu lösen. Bohners Tanz eröff nete einen Raum, der von verschwundenen Gesten bewohnt war. Er machte sich durch das Durchlaufen einer Körpererfahrung, die nacheinander alle Ebenen und Richtungen befragte, wie es Schlemmer und seine Schüler hätten tun können, auf die Suche nach ihnen. Die Bühne war ein monochromer Raum, in dem sich die Primärwerte von Schwarz und Weiß abwechselten (»Schwarz, Weiß, Zeigen«, 1983). Reine Indizien, die nur zum Unvollendeten führten. Oskar Schlemmer hat sehr genaue Anweisungen zur Struktur seiner Tänze und den Raumbewegungen der Tänzer hinterlassen, und ein komplettes System der Darstellung durch Diagramme, die bemerkenswert und visuell sehr ansprechend sind.107 Ausgehend von diesen Anweisungen haben amerikanische Universitäten oder Kunstschulen wie die Berliner Akademie der Künste die vollständige Rekonstruktion seiner Stücke erarbeitet. Häufig mit interessanten Ergebnissen. Bohner dagegen, der erfahrene Tänzer, sagte, dass das Wesentliche fehle, solange im Akt der Rekonstruktion nicht die Frage nach der Dynamik der motorischen Phasen und ihrer Qualitäten, die berühmte Frage des ›Wodurch geht das?‹, gestellt werde. Und vor allem müsse die Frage nach der Übergangsphase zwischen zwei voreinander getrennten Gesten gestellt werden, dem Moment dazwischen, in dem sich nach Laban die gesamte qualitative Komplexität des ›Stils‹ 108 offenbart. Er ziehe es also vor, an der Schwelle zur Geste zu bleiben, manchmal bewegungslos, als warte er darauf, dass sich ihm ein Stück unbekannter Raum 106 | G. Genette: L’œuvre de l’art, S. 288. 107 | O. Schlemmer in: Idealist der Form, S. 29-44. 108 | Gerhard Bohner: Gespräch mit der Autorin, Lyon, Sept. 1986 (mündliche Quelle).

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offenbare. In Winkelbewegungen fasste er die Leere jener Abwesenheit ein. Der Kontakt mit den Objekten, Holzvolumen und sogar einer Gliederpuppe, die an die anatomischen Modelle in Malerwerkstätten denken ließ, und mehr noch an die »Kunstfigur«, die Schlemmer sehr lieb war, den leblosen Doppelgänger des Tänzers, schienen in seinem Körper verborgene Erinnerungen zu wecken. Eine andere deutsche Tänzerin, Susanne Linke, hat mit »Affectos Humanos« (1988) eine der schönsten Erforschungen einer verlorengegangenen Erinnerung vollzogen, eine Hommage an die Tänzerin, die sie als junges Mädchen gesehen hatte, und der sie ihre Berufung verdankte: Dore Hoyer, Wigman-Schülerin und durch ihr Projekt wie durch ihre Bewegung (die sich abwechselnd verkürzte und ausdehnte, Ebene oder Volumen, Stumpf, Klinge oder Fackel wurde) eine der radikalsten Tänzerinnen dieses Jahrhunderts war. Hier findet sich, wie so oft im Tanz, die Suche nach dem verlorengegangenen Wesen (einer ›körperlichen Signatur‹, aber auch einer Einprägung im affektiven Gedächtnis), da sich Hoyer, die vom deutschen Publikum unverstanden blieb, Anfang der 70er Jahre das Leben genommen hatte. Eine solche Hommage sollte Linke 1994 mit »G.B.« wiederholen, das ihrem Freund Bohner gewidmet war, der ebenfalls viel zu früh verstarb. Susanne Linke ausgiebige Umkreisungen des Verlustes schreiben sich in dieselbe Problematik ein, die sich beiderseits des Rheins etabliert, jedoch in einem vollkommen unterschiedlichen Rahmen. Eine Erneuerung der Unterrichtsformen, ein Bewusstsein, das von jüngeren Tänzern getragen wird, haben die Aufhebung jenes seltsamen Gedächtnisverbots erlaubt. Der zeitgenössische Tanz als ›Explosion‹ hatte es nötig, sich als Katastrophe ohne jede Vorgeschichte zu definieren – und drückte dies durch die Übersteigerung einer Geste aus, die sich als vollkommene Verkörperung jenes Ausbruchs verstand. Auch wenn diese Qualität der Augenblicklichkeit in der Bewegung verbleibt, und besonders, damit sie dort verbleibt, ohne sich selbst in Form eines erstarrten Registers zu reproduzieren, muss der tanzende Körper nunmehr aufhören, die Geschichte zu verleugnen. Da die Geschichte auch seine eigene Geschichte ist, aus der er in Frankreich, wie man gesehen hat, zu entkommen versuchte, wie aus einem Minenfeld von Fragestellungen, die zu akut waren, um erträglich zu sein. Somit wird also der Gedächtnisakt, das Anrufen einer Ko-Präsenz, in Zukunft der Selbstbesinnung dienen – doch vor allem einer ›kritischen‹ Funktion, durch die sich die Referenz nicht legitimiert, sondern sich im Gegenteil in Frage stellt, verunsichert, verschiebt. Es ist einer der Aspekte der Arbeit des Quatuor Knust, durch die Wiederaufnahme ›kleiner choreographischer Formen‹ der 20er, 30er oder 60er Jahre die großen Grundsatzentscheidungen einer Moderne darzulegen, deren Neubetrachtung sie für unumgänglich halten, und deren Antriebe es verdienen, unablässig neu verbreitet zu werden. Somit wird das Gedächtnis,

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ob es sich nun auf objektivierte Quellen stützt oder nicht, anstatt zum routinierten Unterrichtsgegenstand oder zur ruhigen Verwaltung eines Erbes zu einer Herausforderung, einem Projekt, einer Frage an die Körper, die den Bruch hervorgerufen haben. Anstatt Modelle zu diktieren, bringt es Verfahrensweisen hervor. Dies impliziert, dass der zeitgenössische Tanz sein Gedächtnis innerhalb seines eigenen Korpus befragt. Denn dort teilen bedeutende und notwendige Werke seine dringenden Bedürfnisse und Fragestellungen. Arbeiten, die von der körperlichen Entzifferung halb ausgelöschter Spuren ausgehen, sind tiefgehender und auch künstlerisch wertvoller. Außer dem Quatuor Knust kann man die Compagnie Icosaèdre erwähnen, die durch ihren Namen bereits auf das Werk und das Denken Labans verweist. Mit dem Projekt »Instants d’Europe« nimmt jene Compagnie gemäß unterschiedlicher miteinander verschränkter Modalitäten der Weitergabe (Filme, Neuschöpfungen mit den Choreographen oder ihren Tänzern, Notationen) Werke von Hanya Holm, Harald Kreutzberg und, uns näherliegender, Jacqueline Robinson, Karin Waehner und Dominique Dupuy wieder auf. Am Rande der non-verbalen Bibliothek befi ndet sich die reichhaltige und fruchtbare Ansammlung von Apparaten zur ikonographischen Vervielfältigung, besonders jener, die den Fluss einer Bewegung, die gerade verspürt wird, durch ihre eigene Kinetik begleiten (und ihn nicht nur als Bild ›reproduzieren‹). Doch sobald es darum geht, eine Kombinatorik zu berücksichtigen (was die choreographische Komposition ja ist), anders gesagt, einen auf mehreren Ebenen artikulierten ›Text‹, sind Video und Kino nicht mehr in der Lage, ein schöpferisches Projekt wiederzugeben. Genau wie bei einer Schallplatte ist die Aufnahme vor allem das klangliche oder visuelle Bild einer Interpretation. Unsere aufmerksamen Beobachter des ›Status und der Funktionen des Kunstwerks‹, Goodman oder Genette, würden von der Vervielfältigung einer ›einzigartigen und nicht wiederholbaren‹ ›Performance‹ sprechen.109 Ein Videomitschnitt enthält nicht mehr von der Essenz eines Werks als eine Schallplatte von der einer musikalischen Partitur. Sie sind der (im Übrigen unschätzbar wertvolle Abglanz) eines ›Augenblicks‹ des Werks, dem eine Ausführung entspricht. Dennoch sind beide unverzichtbar, um ein Werk des allographischen Typus bei einem großen Publikum bekannt zu machen, das nicht im Stande wäre, einer Partitur einen Körper zu verleihen oder sie mental zu interpretieren. Wir meinen hier selbstverständlich das Video als dokumentarisches Werkzeug und nicht als Werk an sich, das eine autonome ›Bühne‹ bietet. Doch sobald sie als Darstellungsmodus angesehen wird und Gegenstand angemessener Herangehensweisen geworden ist, erweist 109 | Genette, S. 80-84.

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sich die Ikone einer Geste als unglaublich reich. Selbst wenn es sich um Herangehensweisen handelt, die mich verblüffen. Allerdings nur, wenn man darin nicht die Illusion einer ursprünglichen Perfektion sucht, die in der Welt des Tanzes stets aufrecht erhalten wird, eines von vornherein vollendeten Moments, den die Abfolge oder der Ablauf der Dinge nur beeinträchtigen würden. Der ›erste Akt‹ von dem Trisha Brown spricht, ist nur etwas wert, wenn er sich selbst entgleitet. Er bringt kein Bild von sich hervor. Er ist (außer für die Aufmerksamkeit des Choreographen) weder identifizierbar noch benennbar. Kein ikonographischer Prozess kann ihn dort ergreifen, wo er sich jeglicher Repräsentation entzieht. Zu Beginn dieses Buches haben wir die ersten photographischen Experimente erwähnt, ihre Arbeit, um das Nicht-Gesehene des Körpers unter der Aufschichtung der sich naturalistisch nennenden Repräsentationen der abendländischen Kunst freizulegen. Wir haben aufgezeigt, wie dieselben Techniken die Betonung auf die Zwischenphase zwischen den normalerweise erkennbaren Schlüsselfiguren gelegt haben und wie durch sie die Dynamik einer Bewegung in der Wahrnehmung zu Ungunsten ihrer äußeren Form aufgewertet wurde. Daniel Dobbels liest daraus, immer noch in Bezug auf die Photos von Geneviève Stephenson, eine Kontinuität des photographischen Akts bis zum heutigen Tag, die »Leerstelle jenes Blicks, der über den Körper gesiegt hat und – jedoch seit wann? – der Blindheit und Taubheit der Dinge abgerungen wurde, die der Tanz mehr als jede andere Gewalt fürchtet.« 110 Wahrscheinlich ist das Sichtbare des Tanzes das, was sich der Blindheit entzieht, ebenso wie sein Gedächtnis das ist, was sich noch schmerzhafter als anderswo den Bedrohungen des Vergessens entzieht. Die erste Verletzung jenes Gedächtnisses ist dabei diejenige, die der Tänzer seinem eigenen Körperbewusstsein zufügt, um die Macht der vorhergegangenen Zustände gründlicher auszutreiben. Dennoch sind die Vervielfältigungstechniken, die einen einzigartigen Weg zum Poetischen erfunden haben, und die zudem über eine Art eigener ›Aura‹ verfügen, auch diejenigen, die es verstanden haben, den zeitgenössischen Tanz zu begleiten, und ihm einen beträchtlichen Korpus an Bildern zur Seite stellen. Doch hat jene Begleitung des Tanzes durch das Bild auch zerstörerische Auswirkungen gehabt. Man kann darin zunächst eine Übertreibung der ›Ausstellbarkeit‹ sehen. Indem sie sich bis zur Überbelichtung ausstellt, kann sich die Kunst ebenso zur Zielscheibe machen wie zur Offenbarung: vor allem, wenn dabei die Erscheinung eines Körpers auf dem Spiel steht. Man denkt an jenes Tänzerinnentrikot, das vom Rand eines von Jasper Johns’ berühmten ›targets‹ herabhängt. Es handelt sich dabei nicht nur um ein Spiel mit den Codes der ›mixed medias‹. Von welchem 110 | Daniel Dobbels: »À la tombée du jour«, unnummeriert.

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Körper ist jenes verblichene Trikot übriggeblieben, das dennoch den Abdruck von Rundungen zu bewahren scheint? Was symbolisiert es: den tanzenden Körper oder seinen Verlust? Weil sie schlecht und im Übermaß angewandt worden sind, weil die Inflation des Bildes über den Tanz auf Kosten des Textes und der Reflexion geschehen ist, die vermutlich zu schwierig zu den Körperzuständen zu äußern wären, sind die auf den Tanz angewandten Reproduktionstechniken ein wenig in Verruf geraten. In dieser Hinsicht können Kino, Video, oder Photographie zerstörerisch sein, indem sie die per Definition unsichtbaren Gestaltungsverfahren, die jene Spannungen hervorgebracht haben, zu Gunsten der bloßen äußeren Form verbergen. Setzt jedoch eine wirkliche Reflexion ein (die heute dank zahlreicher Choreographen und Tänzer, die beschlossen haben, ihr Wissen und ihre Ressourcen selbst in die Hand zu nehmen, im Gange ist), erhält das ikonographische Material seine tatsächliche Bedeutung, und seine Identität wird besser erfasst. Dann wird besonders seine riesige poetische Kraft als Schatzkammer der Vorstellung wieder in den Rang eingesetzt, der ihr zusteht. Schließlich hat sich das Bild aufgrund seiner permanenten Benutzung in den Tanzstudios seit den 70er Jahren nach und nach in die Prozesse des Niedergangs der Choreographie eingefügt, und wenn nicht des Niedergangs, so zumindest einer Erschütterung, die die Nähe des Niedergangs verbreiten kann. Seine Aura oder das Fehlen seiner Aura haben das Elend derselben Geschichte geteilt (die Choreographie wurde lange Zeit als bloße ›Einrichtung‹ der Auff ührung angesehen); die Technologien des Bildes haben ihre Risiken der übermäßigen Zurschaustellung und des Verkümmerns der Materie miteinander verschränkt. Bis Cunningham und Nam June Paik gemeinsam entdeckten, dass jene Zerstreuung der Materie zu Gunsten der Erscheinung und Über-Bewertung genau der Knoten war, der die Videokunst mit dem Tanz verband: die Verzerrung der Kriterien des Sichtbaren, das Infragestellen der Präsenz des Körpers, stets am Rande seines eigenen Verschwindens in den unscharfen Bereichen, in denen die Bewegung viel zu tun hatte. Mit ihnen wurde das Video zum Gedächtnis einer stets möglichen Auflösung, eines Bildschirms als Absorbierungsfläche, als Feld des Zusammenpralls zwischen dem tanzenden Körper und seinen Schatten.

Das Werk und der per formative Ak t Die ›Auff ührung‹ ist der Moment, in dem die ›Tanzarbeit‹ in eine öffentliche Dimension gelangt, in dem ein Werk, oder zumindest eine künstlerische Äußerung, nicht nur dem Blick des Anderen begegnet (dies kann in anderen Etappen geschehen), sondern in dem der Tänzer in einzigartiger und bewusster Weise die Bedingungen für jene Begegnung herstellt.

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Das choreographische Werk besitzt obendrein ein entscheidendes Element der Definition des Tanzes als Kunst: die Aktualisierung einer einzigartigen Körpererfahrung, das Stürzen in Zeit und Raum in Beziehung zu einer Zeugen-Wahrnehmung, und die Beziehung, die sich durch körperliche Nähe und das Teilen einer Dauer ergibt. Jene Aktualisierung ist in Bezug auf das Werk nicht nur umstandsbedingt; sie ist ein unverzichtbarer Teil seiner Definition, auch wenn sie einen Bruch in seinem Erfahrungs-Kontinuum darstellt, da sie einen ganz anderen Zustand des ›choreographischen Materials‹ erscheinen lässt. Dieser ›partitionelle Zustand‹ enthält in der Aufschiebung die gesamte Poetik der Verwandlung in einen spektakulären Akt. Der Titel von Eric Hawkins berühmtem Stück »Here and Now with Watchers« (1957) (»Hier und jetzt, mit Leuten, die beobachten«) könnte sich auf jede beliebige Tanzauff ührung beziehen. Weit mehr noch als das Konzept entwickelte Hawkings darin die Transparenz jenes ›Da-Seins‹, das die Einfachheit und Gewandheit eines ›release‹, den keine Spannung mit einer überflüssigen Botschaft einfärbt, dem Tänzer verleihen kann. Dank solcher Verfahren kann das Performative (endlich?) werden, was es ist, das heißt ein ›Block von Empfindungen‹, wie Deleuze seinen Begriff des ›Perzeptes‹ definiert, der von den Akteuren und Zeugen einer Erfahrung geteilt wird. Durch diese gewissermaßen sintflutartige Überschwemmung einer Körpererfahrung können überkreuzte Präsenzen (die Tänzer eingeschlossen) den Zustand des choroegraphischen Werks ›entdecken‹. Durch seine Macht des Ergreifens, der Präsenz und der verstärkten Intensität wird darin die Mobilisierung des gesamten Wesens und aller Beteiligten als ein einzigartiger und erhabener Moment im Fieber des Tuns erlebt; dem Tänzer wird besonders nachdrücklich der Wert eines nicht reproduzierbaren Akts zugewiesen, der mit allen thermischen und dynamischen Variationen des Augenblicks und mit der Prägnanz des Blicks des Anderen verbunden ist. Etwas Wesentliches kristallisiert sich heraus oder lagert sich ab. Man kann also sagen, dass sich die Auff ührung des Werks als ›Höhepunkt der Spannung‹ wesentlich von allen anderen Zuständen und Etappen der Tanzarbeit unterscheidet. Wenn man ihr eine Sonderstellung einräumen muss, dann deshalb, weil sie als Äußerung im Körper des Tänzers und des Zuschauers jene Intensität der Mobilisierung und der Wahrnehmungsaktivität hervorruft, die das Überspringen des performativen Akts ausmacht. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt müssen wir den Begriff der ›Auff ührung‹ neu untersuchen und ihn den vereinfachenden Rastern entreißen, die aus ihm nicht die zeitliche Erfahrung eines Blicks machen, vor dem sich Zeichnen auftun, sondern eine einfache Kategorie der gewöhnlichen Kultur. Im Augenblick der ›Auff ührung‹ überkreuzen sich zwei Erfahrungen; jene, die Genette und Goodman als ›Performance‹ oder als ›Ereignis‹

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bezeichnen, und jene des Zuschauers, der in enger ›Bindung‹ mit jenem Ritual der Erscheinung davongerissen wird. Susan Buirge spricht in bemerkenswerter Weise vom performativen Zustand als einem ›Riss‹ 111: Jener ›Riss‹ verleiht dem Werk seine Existenz (die vermutlich wichtiger ist als seine Essenz). Die Sprengkraft jenes Begriffs des ›Risses‹ liegt vermutlich in der Tatsache, dass es den explosiven Zustand der spektakulären Mobilisierungen nicht als einen Mehrwert, eine Anhäufung von Intensitäten zu erleben gilt, sondern im Gegenteil als einen ständig von einem Risiko, einer Infragestellung bedrohten Randbereich. Abgesehen davon liegt sie vor allem darin, dass der Augenblick der Auff ührung aus dem poetischen Kontinuum der tänzerischen Aktivitäten plötzlich eine unheilbare Scheibe Sichtbarkeit herausschneidet, jenen faszinierenden Augenblick, in dem alles innehält, um sich in einer vollendeten Äußerung niederzuschlagen. Dies ist ein entscheidender Augenblick, nicht nur, weil das Urteil des anderen angerufen wird (und man weiß, mit welcher Macht die kritische Beurteilung das Überleben eines choreographischen Projekts mediatisiert und ermöglicht). Sondern auch, weil im zeitgenössischen Tanz dieser Moment, auch wenn er wie in den meisten Fällen mit äußerster Sorgfalt vorbereitet wurde, stets die zur Erde gefallene sichtbare Katastrophe einer unbefriedigten Begierde ist, eines nicht zu Ende gegangenen Weges, eines unvollendeten Projekts, das noch dabei ist, zu entstehen. Der brutale Umbruch von den Probenexperimenten zu einer Auff ührung hat etwas gleichermaßen Berauschendes und Tödliches. Daher tragen die meisten choreographischen Werke in ihrer Materie die Stigmata jenes schnellen Übergangs. Man läuft stets Gefahr, zuviel zu tun, um das Werk zu behaupten, die Grundsatzentscheidungen zu sehr einzufassen oder einzurahmen. Man muss in einer Tanzauff ührung eine Menge ›geben‹. Doch kann dies mit Zurückhaltung einhergehen. In der französischen Schule muss man jenen ständigen Übergang zum verminderten Modus bewundern, der nicht etwa die Hingabe seiner selbst vermeidet (die dadurch nur großzügiger und realer wird), sondern vielmehr den Missbrauch der indiskreten Akzentuierungen des Tonfalls, des übertriebenen Hervorspringens des Anliegens. Es gilt, nicht nur die Präsenz und die Hingabe an die gerade ablaufende Erfahrung aufrechtzuerhalten, sondern darin auch die leeren und ungewissen Räume eines Augenblicks des Verharrens zu streifen, der nicht ausgefüllt werden soll. Die Intensität der Empfindungen, das unvorhersehbare Teilen der Beziehungen, und die unklaren Echos des Zuschauers laufen in jenem ›Riss‹ zusammen, von dem Susan Buirge spricht, um die Essenz, die Umrisse 111 | Susan Buirge: Symposium »L’écriture chorégraphique«, Poitiers, 1992 (mündliche Quelle).

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und das Wesen (auch wenn es rätselhaft bleiben muss) der eigentlichen poetischen Aufgabe zu entdecken. In diesem Augenblick wird auch die allgemeine Mobilisierung durch den choreographischen Akt stärker und macht aus jenem fiebrigen Durchqueren des spektakulären Augenblicks eine einzigartige unumkehrbare Erfahrung. Gleichzeitig wird auch die choreographische Gemeinschaft mit der größten Deutlichkeit spürbar. Die multiple Person, die das Werk direkt aus der Diversität der Körper hervorbringt (wenn es sich um eine Kollektivarbeit handelt) ist die bewussteste dieses Beisammen-Seins. Es ist sogar das Beisammen-Sein selbst, das sich ablagert, wie die intensive Aufladung eines poetischen Wollens, das über das individuelle Bewusstsein hinausgeht (und es dabei in seiner eigenen Entschlossenheit bestärkt). Dies liegt vermutlich am Rausch des Tuns, aber auch an der gesteigerten Hellsichtigkeit der Teilnahme an diesem Tun. Von diesem Tun ist der Tanzzuschauer keineswegs entfernt, er befindet sich in einer ›Bindung‹ (Barthes), aber nicht mit dem, was sich zeigt, sondern mit dem, was arbeitet, was die lange Reise an die Grenzen der Sichtbarkeit unternimmt, was gemeinsam mit Körper und Denken von den Ufern des Unsichtbaren dorthin auf bricht. Doch ist es auch mit dem in Verbindung, was dabei verloren geht, was erobert wird und was schließlich (im Falle der Bühnendarstellung) durch den großen Schattenmund des unsichtbaren Publikums hinter der Rampe antwortet. Dies ist umso schwieriger durchzuführen, als der Wille, zu verführen, oder das allzu deutliche Zeigen der Gewalt über die Wahrnehmung des Zuschauers die Antriebe der sinnlichen Erfahrung schwächen kann, als deren Teilen sich der zeitgenössische Tanz vor allem versteht. Vermutlich durchbricht der Tanz während dieser Aktualisierung als ›Ereignis‹, wie Cunningham sagt, jene Grenze des Bekannten in der Wahrnehmung des Zuschauers und der Tänzer, die für ihn, wie Buirge noch einmal sagt, nur die Schwelle seines eigenen Weges ist.112 Die Intensität und Prägnanz der performativen Erfahrung, deren privilegierter Zeuge der Zuschauer ist (und dadurch gleichzeitig Teilnehmer an der Gestaltung des Beziehungsgeflechts) führen dazu, dass jene Erfahrung für den Tänzer das Werk zusammenfasst. Sie ist gleichermaßen seine Gestaltwerdung und sein Ballast. Bei manchen französischen Choreographen bringt das performative Auftreten des Werks dessen Text und dessen Identität hervor; somit fügt sich das Werk vollkommen in eine Art Ritual der Vollendung ein, das seine gesamte Essenz begründet und sie dem Korpus der Werke als turbulentes und stürmisches Durchlaufen 112 | S. Buirge: Symposium »L’écriture chorégraphique« (mündliche

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einer Bühnenerfahrung liefert (»Fin de partie«, »La maison de carton« von François Verret, »Instances« von Diverrès-Montet, »Les porteuses de mauvaises nouvelles« von Vandekeybus…). Manche dieser Werke konnten nach Ablauf der ersten Auff ührungen nur unter großen Mühen wieder aufgenommen werden. Auch wenn die Wiederholung eines allographischen Textes, mit eventuell anderen Interpreten, seine wahrnehmbare Existenz verbreiten soll, bleibt für den Tänzer der performative Schöpfungsakt mit seinem Arbeitsaufwand und seiner spektakulären Verkörperung der einzige Bewahrer seiner Identität – und damit auch seines Gedächtnisses. Jede Wiederholung ist für ihn ein Verlust, ein farblos gewordener Klon, in dessen Zügen er den Überschwang seiner eigenen Existenz nicht mehr wiedererkennt. Für ihn wird das Werk nicht durch einen zugrundeliegenden ›Text‹ hervorgebracht, sondern durch eine gelebte Erfahrung, die selbst ›Text‹ wird. Gespräche mit Interpreten unterschiedlicher Epochen und Schulen (Limón, Cunningham usw.) haben uns davon stets das lebhafteste Zeugnis gegeben. Dies gibt umso mehr Anlass dazu, darüber nachzudenken, was die Essenz eines choreographischen Werks ist. Nicht ein Konzept, das es zu beleuchten gilt, sondern eine Situation, deren äußerste Komplexität immer wieder neu bewertet werden muss. Eine Situation, die praktisch unfassbar ist, da sie unablässig auf all ihren Ebenen und in all ihren Etappen neu durchlebt werden muss. Dies geschieht zu allererst durch die Reaktivierung der ›Kräfte‹, die sowohl die Geste als auch die Erfahrung der Geste hervorgebracht haben. Somit wird die Geste der Carnets Bagouet noch beeindruckender, die mit der Choreographie eines Werks ihre Erfahrung selbst als ›Text‹ liefern, ohne Scheu, diese ›Erfahrung-alsText‹ wie einen Teil ihres Lebens an jüngere oder außenstehende Tänzer weiterzuverschenken.

Der Tanz als Inter tex t Mark Franko haben wir vielleicht mehr als jedem anderen die Idee eines ›Intertextes‹ des Tanzes zu verdanken, deren Anwendung er sehr weit vorangetrieben hat. Inspiriert von der kritischen Strömung, aus der wir das Denken Roland Barthes besonders hervorgehoben haben, hat er es verstanden, in ein und demselben Korpus alle Monumente zu versammeln, die dazu dienen, die Geschichtskenntnis des Choreographen zu erhellen. Im besonderen Fall dieses Tänzers, der ebenfalls Historiker für alten Tanz ist, äußert sich zum Beispiel seine Untersuchung des Renaissancetanzes durch einen ›Interkörper‹, der sowohl in direkten als auch in indirekten Quellen Gestalt annimmt: das heißt in Tanztraktaten, deskriptiver Literatur oder sogar in den kontextuellen Elementen, die alle zu einem enthierarchisierten Status zurückgeführt werden, der in der Erfahrung des Kör-

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pers enthalten ist.113 Jene Methodologie bei der Auswahl der Betrachtungsgegenstände entspricht voll und ganz dem Kontinuum der Praktiken und des Wissens im Tanz: Im Vorfeld der Schöpfung und während der Schöpfung tragen alle zum selben Gerüst bei, indem sie die Stadien heterogener aber komplementärer Erfahrungen miteinander verbinden, die alle gleich wichtig für eine Poetik der Bewegung sind. Der ›Intertext‹ oder ›Interkörper‹ des Tanzes bekommt somit in verstreuter Art und Weise einen poetischen Aspekt, der häufig über den Aspekt des Werks als isolierte Entität hinausgeht. Wir müssen darüber hinaus in Bezug auf den zeitgenössischen Tanz die künstlerischen Praktiken unserer Epoche erwähnen, in denen häufig, wie zum Beispiel bei Beuys, kontinuierliche, öffentliche oder nicht-öffentliche Aktivitäten an die Stelle der Produktion von Objekten oder vollendeten künstlerischen Entitäten getreten sind. Und genau da entspricht der zeitgenössische Tanz als ›Kontinuum‹ (das ein Werk zwar manifestiert, aber weder auflöst noch umfasst) einem bedeutenden Phänomen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, in der die Sichtbarkeit der Aktivitäten und ihre Identifizierung weniger wichtig sind als die Aktivität selbst, selbst wenn sie durch die Vermittlung von Bildern abgelöst wird (von der ›body art‹ bis zur Verbreitung repräsentativer Aktivitäten, wie beispielsweise in der Arbeit von Pierre Huyghe). Außerdem muss man noch einmal betonen, dass solcherlei Aktivitäten, selbst wenn ihre Sichtbarkeit nur für einen beweglichen institutionellen Rahmen bestimmt ist, auf die Dauer ihrer Erscheinung beschränkt bleiben und nicht außerhalb jener Protokolle der Vollendung existieren. Der Tänzer dagegen lebt im permanenten Kontinuum seiner Erfahrungen, das zu schlechthin als ›kreativ‹ identifizierten Akten (doch verdiente es auch dies nicht, hinterfragt zu werden?) Anlass geben kann. Die ›Produktion‹ des Tänzers ist nämlich ein Grenzfall der produktiven Aktivität des Künstlers, da sich seine ›Akte‹ innerhalb eines Erfahrungsrahmens vollziehen, der nur sehr vereinzelt auf ein choreographisches Material hinausläuft, das als solches erkennbar wäre. Auch wenn man im Tanz das Konzept des Werks aus notwendigen Selbstverteidigungs-Strategien heraus (und zur Anerkennung des Tänzers als Künstler) wieder aufgewertet hat, ist es heute an der Zeit, der extrem fokussierenden Sichtweise den Rücken zu kehren und sich wieder jenen kleinen Fluchten aus den intertextuellen Außenbereichen zuzuwenden. Denn das choreographische Werk ist nur eines der Felder der Aktivität des Tänzers. Zwar ist es Zeuge der Körper- und Bewegungsarbeit, doch nur ein Zeuge unter anderen Materialien, die in ihrem Zusammenkommen die unter113 | Die Anwendung des Begriffes »Intertext« auf choreographische Objekte wird von Mark Franko in der Einleitung zu The Body in the Renaissance Choreography, Illinois: Univ. Press 1987, S. 11-12, vorgestellt.

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schiedlichen Bereiche dessen konstituieren, was wir ›Tanzarbeit‹ nennen: eine gleichzeitig körperliche, theoretische und philosophische Arbeit, die ihre Satzungen ständig ändert. Diese Arbeit ist vor allem ein Langzeitprojekt. Ein Großteil davon wird das Tanzstudio nicht verlassen. Dort lebt und dauert das fort, was vielleicht niemals zum öffentlichen Ereignis wird, was aber durch den Wert der Aneignungen, der Momente des Zögerns und sogar der Ablehnung weit mehr als nur ein Hintergrund ist, sondern ein äußerst lebendiges poetisches Geflecht. Die ›Tanzarbeit‹ webt nämlich ohne Unterlass eine Schnittstelle zwischen kontinuierlichen, intimen Aktivitäten, die wahrscheinlich zur ›Praxis des Selbst‹ gehören (auch wenn sich dieses ›Selbst‹ in einer Arbeit zu mehreren vervielfältigt, bei der die Gruppenbeziehung wichtig ist) und dem Kunstwerk als Element, das die kulturelle Gemeinschaft isolieren und identifizieren kann. Genau wie sich die literarische oder künstlerische Aktivität nicht in erstarrte Blöcke einteilen lässt, auch wenn die Performance-Situation ihre bedeutenden Momente wie halluzinierte Ausbrüche im Kontinuum der Praktiken und im Bewusstsein der Körper abgelegt hat. »Schreiben« ist nach Deleuze, »eine Sache des Werdens, stets unfertig, stets im Entstehen begriffen, und lässt jeden lebbaren oder erlebten Stoff hinter sich.«114 Jenes Kontinuum zwischen einer Körpererfahrung, die es unablässig fortzusetzen gilt, und die, tiefer als anderswo, einem Lebensprojekt und unterschiedlichen Äußerungen des Kunstobjekts Sinn und Konsistenz verleihen kann, ist für das Leben des Tanzes von wesentlicher Bedeutung: Das Fortschreiten und die Errungenschaften (oder die ebenso wichtigen Verluste) des Körpers durch die Techniken, die gemeinsame oder isolierte Forschung (wie die legendären einsamen Forschungsarbeiten von Martha Graham am Anfang ihres Weges oder von Merce Cunningham im Black Mountain College, in dem Sommer, als »Untitled Solo« entstand) sind äußerst wichtige Augenblicke, auch wenn ihnen kein Repräsentationsakt das Siegel einer sichtbaren Dimension verleiht. Ein Hauptanliegen von Judson Church und Grand Union war es, jene offenen Momente ohne festgelegte spektakuläre Identitäten beizubehalten, in denen sich die Erfahrung der Studioarbeit fortsetzt und selbst zum Werk wird: So baute Yvonne Rainer Momente des »Lernens« in ihr »Continuous Project Altered Daily« (1972) ein, in denen die Tänzer noch dabei waren, gestisches Material hervorzubringen und zu memorieren. Sogar außerhalb jener großen Epochen der Fragestellungen ist es eines der Hauptanliegen des zeitgenössischen Tanzes, auf der Bühne jenen Wert einer gerade ablaufenden Erfahrung beizubehalten, ohne den der Tanz sich verliert. Diese Erfahrung betriff t wohlgemerkt ebenso den 114 | Gilles Deleuze: Kritik und Klinik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000,

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Zuschauer wie den Interpreten. Das Rätselhafteste wird jedoch stets jener Zwischenraum bleiben, der die Deutlichkeit eines Kompositionsworkshops oder sogar einer Unterrichtsstunde von dem trennt, was in den sogenannten Momenten der Schöpfung den Prozess auf hält oder blockiert, indem es sich im Labyrinth der Entscheidungen herauskristallisiert. Wer kennt im Übrigen nicht das wunderbare Auftreten der Studioereignisse, das man später nolens volens in das taube Gestein einer Bühnenform einzufügen versucht? Welche künstlerische Hierarchie soll man zwischen einem Augenblick der Suche oder der Improvisation und einer Auff ührung etablieren? In welchem der beiden Momente sind das körperliche Potenzial und die poetische Intensität am lebhaftesten? »Das Werk«, schreibt Barthes, »ist ein Bruchstück Substanz.«115 Im zeitgenössischen Tanz durchziehen das Entstehen der Substanz, ihr Leben und ihre Entwicklung das Werk nur in bestimmten durch die Auff ührung ritualisierten Momenten. Dennoch wird das Projekt eines Werks durch dessen Aktualisierung niemals vollkommen erfüllt, und auch das Verlangen danach, seinen Weg fortzusetzen, wird dadurch nur brennender. Das Gleiche gilt für den Korpus der Werke: In welch unterschiedlichen Intensitäten wird zwischen ihnen der zeitgenössische Körper durchgespielt und variiert? Welche Facette erscheint in welchem Moment und gibt so eine momentane Helligkeit durch Spiegelung weiter? Denn der Intertext des Tanzes ist wie ein Prisma, und jede konvergierende oder feste Sicht muss sich ständig von einem Erscheinungszentrum zum nächsten bewegen. Der Tanz webt sich durch seine eigene Vielschichtigkeit: Jeder Splitter verweist auf eine einzigartige Suche und verdient deshalb, dass Beobachter davon Zeugnis ablegen, ausgehend von den Erfahrungen, die er in ihrer eigenen Körperwahrnehmung hervorgerufen hat. Alle Bewegungen, die sich im Gerüst eines ständig neu zu entziffernden Unbekannten hingeben, und die die Entzifferung anderswohin, zu anderen Rätseln führt, müssen wahrgenommen werden. Dies macht es notwendig, zahlreiche Äußerungen zu betrachten, ob sie nun von den Medien als bedeutende Werke bezeichnet werden (und zwar oft auf ziemlich oberflächliche Weise) oder nicht. Sollen wir deshalb die strengen künstlerischen Kriterien aufgeben, die eine akademische oder mimetische Äußerung von einem wirklichen Beitrag zum symbolischen Werden des Körpers unterscheiden können? Gewiss nicht. Doch ist uns daran gelegen, das Ereignis an sich zu enthierarchisieren, durch das sich der kreative Akt zeigt, und ihm seine Kraft zurückzugeben, unabhängig von jeder vorgefertigten Klassifizierung. Wir wollen versuchen, jene Übergangszonen des Bewusstseins anzuregen, in denen das choreographische Werk, sein Erscheinen zwischen dem Körper des Tänzers und dem des Zuschauers zur 115 | R. Barthes: Das Rauschen der Sprache, S. 65.

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Erfahrung und nicht zum Objekt wird: zu einer gemeinsamen Arbeit, aus der durch die Begegnung des Akts wie ein durch subtile Beziehungen aufgespanntes Raster das ›choreographische Material‹ aufsteigt. Liegt also die lebendige und bebende Essenz des performativen Akts in seinem ›Erscheinungs-Ereignis‹? Macht dies das ganze Werk aus? Wir vermögen es nicht zu glauben. Das choreographische Werk ist vor allem ein Gedicht der Existenz. Es existiert überall und nirgends zugleich. Die Bühnen des Tanzes sind Zustände und Etappen, sie enthalten auch all seine Zwischenschichten. Außerdem weiß man nicht, denn darin liegt das Mysterium der tänzerischen Erscheinung, in welchem Augenblick der Vollendung oder Nicht-Vollendung man sich wirklich im Augenblick einer Auff ührung befindet. Dies hat nichts mit der materiellen Qualität der Umsetzung in zeitgenössischen Tanzaufführungen zu tun, die in der Regel unangreifbar ist. Jeder weiß sehr wohl, dass die Arbeit der Compagnie über die von der spektakulären Aktualisierung aufgezwungenen Grenzen des Akts hinaus weitergeführt wird, wenn man es ihr erlaubt. Denn nicht der Tanz ist vergänglich, sondern der Zuschauer, der mit seinem eigenen Körper und seiner eigenen Geschichte den Raum eines Abends durchquert. An ihm ist es, dem Rauschen eines kontinuierlichen Überschwangs von Körper und Geist zu lauschen, dessen Erfahrung das Werk mit ihm teilt. Das Wichtige, was das Werk angeht, ist es, zu sehen, wie die Wahrnehmung einem Körperprojekt von einer Organisation zur anderen folgen kann, und ob jenes Projekt einer Wegstrecke Sinn verleihen kann, für die das Werk wie ein Zeichen auf einem poetischen Weg des Körpers bleiben muss. Jene andere Verteilung der Ereignisse im Tanz verlangt auch nach einem anderen Typ von Gedächtnis, der die Einschreibung überschwemmt: ein Gedächtnis des Werdens, ein Kontinuum der Körperpraxis, das sich in jedem Augenblick durch die Anwesenheit in der Gegenwart neu erfi ndet, das die Körper untereinander durch die krampfartigen Wendungen der Geschichte verbindet. Ein solches Gedächtnis ist eher von der Art einer Kapillarität in der Zeit, einer Folge von Haut-an-Haut-Kontakten, die sich jedoch, anstatt sich im Raum zu verteilen, in der Zeit verketten. Das Gedächtnis ist eine Reaktivierung der Gesten und des Seins, das Teilen einer Körpererfahrung über den Tod hinaus, die dadurch nur tiefer wird, da jenes Gedächtnis über die Grenzen des Lebens hinaus zirkulieren kann. Dieses Zirkulieren ist das eigentliche Thema des Tanzes. Jede Geste ist ein Körpergedächtnis und vollzieht sich durch zwei komplementäre Figuren: durch das, was eingeschrieben ist und durch das, was sich auf das Unbekannte eines zu verspürenden Augenblicks hin öff net. »Ebenso wie die Atmung«, sagt Cunningham, »reist das Bewusstsein des Tänzers

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unablässig zwischen den Phasen der Zeitmembranen hin- und her, zwischen der Dimension der Vergangenheit und der Dimension, die noch kommt, die durch dasselbe Scharnier der Umkehrbarkeit verbunden sind, indem sie täglich die alten Erfahrungen erneuern und nach neuen suchen. Jedes Ausprobieren einer neuen Bewegung, das von einer vorhergehenden Bewegung ausgelöst wird oder von einer ursprünglichen Spur, die eine Handlung des Körpers in der Zeit hinterlassen hat, muss entdeckt, verspürt und so signifi kativ wie möglich gemacht werden, um so das Gedächtnis des Tanzes zu bereichern.« 116 Jenes Tanzgedächtnis kennt unsere westliche Sicht einer linearen Zeit nicht (oder gestaltet sie um). Da ihn der Einfluss einer post-dadaistischen Zufallsphilosophie und des Zen-Denkens einer undeterminierten Zeit (einer ›unpermanenten‹ Zeit, wie er sie in Übernahme der Terminologie des I-Ging nennt) von der kausalistischen Sichtweise befreit hat, ist Merce Cunningham mehr als jeder andere dazu prädestiniert, uns zu jenem kommenden Gedächtnis zu führen. Der Film CHANGING STEPS, den Eliot Kaplan 1989 über eine Choreographie aus dem Jahr 1973 drehte, versinnbildlicht dies in bewundernswerter Weise. Nach einer Serie von Bildern über die heraklitsche Sicht der Zeiterfahrung als Fortlaufen und Unterbrechen flüchtiger Empfi ndungen (Auf blühen von Blumen, Plätschern von Wasser, Schatten, die sich in der Sonne auf den Ziegeln bewegen) präsentiert der Film das Werk in seinem choreographischen Ablauf, der nicht chronologisch ist; die ersten strahlend bunten und technisch reinen Bilder aus der Zeit der Dreharbeiten werden von geisterhaften Splittern, Fragmenten eines alten Studiovideos durchzogen, kaum unterscheidbaren Schatten anderer Tänzersilhouetten, die dieselben Bewegungen ausführen und durch die neueren Bilder spuken, als hätten diese bereits ihre eigenen Ruinen hervorgebracht, bevor sie überhaupt existierten. In jenen Bildern überdehnt sich die Bewegung, wird langsam und zögerlich, löst sich nahezu auf, und die blendenden und tadellos regelmäßigen Lichter der neueren Version weichen einem monochromen Dämmerlicht, das von einem Ort jenseits der Zeit zu kommen scheint. In Bezug auf Cage spricht Daniel Charles sehr richtig »von einer angehaltenen Zeit, innerhalb derer die drei zeitlichen Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichberechtigt erscheinen können, ohne dass eine stärker wäre als die andere.« 117 Somit bezeichnet

116 | Merce Cunningham: »Function of a Technique in Dance«, in: Dance has many Faces, S. 34-38. 117 | John Cage, zitiert in: Daniel Charles: »Poétique de la simultanéité«, in: Revue d’Esthétique Nr. 13-14-15 (Sondernummer John Cage), Paris, 19871988, S. 110-190.

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das Mesostichon118, das Cage bei einem Querlesen von »Finnegan’s Wake« in räumlich angeordneten Akrostichen 119 verwendet hat, die mögliche Wanderung umkehrbarer Elemente in jeder Richtung durch eine nichtlineare Textualität. Jene nomadische Textualität begründet genau wie in Cunninghams Werk bis dahin unbekannte Zeitlichkeiten innerhalb ihres eigenen Feldes. Das Gedächtnis, insbesondere das Tanzgedächtnis, wird dadurch umgekehrt: Die Bewegung entwickelt verstreute Zeitfetzen, in denen sich die traditionelle Beziehung des Erinnerbaren (die Wiederkehr der Vergangenheit in der Gegenwart) auflöst. Es entsteht also ein anderes Denken der Geschichte, besonders der Geschichte des Körpers. Die Körperzustände können sich überkreuzen und Bereiche der Aussparung oder der Ausdehnung durchqueren; diese Geschichte kann sich zusammenballen oder erstarren (unter anderem in der übermäßigen Ablagerung von Schichten von Performance-Zuständen, die manchmal fast bedrohlich wirkt). Doch kann die ›Tanzarbeit‹ im zeitgenössischen Tanz in jedem Augenblick einer solchen Geschichte nicht nur neue Formen, sondern auch neue Verfahren des Abstands oder der Ausnahme erfi nden. Damit entspricht sie dem, was Foucault in der modernen Literatur (Kafka, Bataille, Blanchot) als ›freigelegten Raum‹ bezeichnet,120 der sich als Erfahrung des Todes, des undenkbaren Denkens und der Wiederholung als Erfahrung der Endlichkeit versteht. ›Die Unschuld des ersten Akts‹, von der Trisha Brown spricht, ist also nicht vom Range eines ›davor‹, das sein Echo im Jetzt finden könnte. Sie liegt, wie Derrida über »La Double séance« (nach Mallarmé) sagt, darin »nichts zu imitieren, was in irgendeiner Weise vor seiner Operation existierte.« 121 Den ›ersten Akt‹ gibt es nur als Überbleibsel der Unschuld, die ihn begründete. Und der Weg zu jener Unschuld, der Landschaft (weit mehr als der ›Bedingung‹) der möglichen Entstehung einer Geste, ist lang und mühselig. Diese ›Arbeit‹ kann sich durch komplexe Strategien vollziehen (die ›Protokolle‹ bestimmter Techniken zur Bewegungsanalyse): durch Streichungen und Irrungen, durch die Unschärfe der Bilder, die es zu entfernen gilt und die Unschärfe der inneren Spiegel, die es zu durchqueren gilt, ohne es dem spektakulären Glanz (und sei es auch dem des Traums) zu erlauben, sich eines Körper-

118 | Mesostichon: ein Vers oder ein Gedicht, bei dem eine senkrechte Buchstabenreihe wieder ein Wort oder einen Satz ergibt, Anm. d. Ü. 119 | Akrostichon: Versform, bei der die Anfänge hintereinander gelesen einen Sinn, z.B. einen Namen oder einen Satz ergeben, Anm. d. Ü. 120 | Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 459. 121 | Jacques Derrida: Dissemination, Wien: Passagen 1995, S. 234.

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zustands zu bemächtigen und ihn dem geisterhaften Ort zu unterwerfen, an dem er sich selbst verlieren würde. Die Werkzeuge sind vorhanden. Sie müssen ausgiebig benutzt und überprüft werden. Damit die ›Tanzarbeit‹ weitergehen kann. Damit andere Verfahren entstehen können, die jenem einzigen Erbe des stetigen Weitersuchens treu bleiben. Verfahren, die den Körper des Tänzers und die Öffnung, die er anbietet, immer wieder anderswohin führen. Denn solcherart ist der Körper des Tanzes, ebenso wie der Körper des choreographischen Textes, das was man das ›Material‹ nennen kann und von dem das gesamte Erbe der Moderne, angefangen mit dem Denken Labans, uns zwar keine definitive Theorie geliefert hat, dafür aber deren strahlende erste Anzeichen. Wie gesagt, wird der Text des Werks zu allererst vom Körper des Interpreten getragen. Die ›Signatur‹ eines Autors äußert sich vor allem durch die ›körperliche Signatur‹, die jenes ›wandernde Zentrum‹ (›travelling focus‹ nach dem Ausdruck von Trisha Brown, die dessen unvorhersehbarer Reise selbst ständig folgt), das die gesamte Gegenwart des Tanzes ausmacht, durch ihre eigene Palette von Qualitäten und Vorlieben nicht nur unablässig liest, sondern auch verschiebt. Allein über den Körper des Tänzers kann man sich gleichzeitig dem Werk und dem Intertext annähern (durch jene Tanzarbeit, deren Träger er ist), der Materie der Bewegung und ihrer Materialität als Denken und Intention. Hier entsteht der eigentliche Grundstoff dieses Materials. Und genau wie die gesamte in diesem Jahrhundert entwickelte Tanztheorie vielleicht nur eine Hoffnung auf das Begreifen eines noch nicht identifizierten ›Kerns‹ bedeutet (der sich unseren Gesten und Worten noch entzieht), ist vielleicht auch das Werk als Ding an sich nur ein Indiz. Anderswo webt sich zwischen den tanzenden Körpern und der Wahrnehmung des Zuschauers ein mysteriöser Text, der immer wieder neu entsteht. Und wahrscheinlich wird das Denken des zeitgenössischen Tanzes, so sensibel, so poetisch produktiv wie es auch sein mag, eines Tages nicht mehr ausreichen, um seine Erscheinungen zu entziffern. Wir haben auf diesen Seiten nichts erfunden. Vielleicht haben wir noch nicht einmal eine neue Wahrnehmungsschwelle aufgezeigt, durch die der zeitgenössische Tanz seine neuen Gesichter entdecken könnte. Wir haben nicht anderes getan, als die Fetzen von Körpererfahrungen, die der Fluss eines unerhörten Schatzes an Ressourcen und Denkweisen mit sich trägt, aufzusammeln und zusammenzufügen. Doch sind jene Fundstücke am Wegesrand vermutlich nicht in der Lage, eine Maxime oder ein Gesetz zu etablieren, geschweige denn die Bedeutung dessen aufzuzeigen, was sich niemals als ein etabliertes Erbe konstituieren wollte. Sie zeichnen ganz

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einfach am Horizont des zeitgenössischen Tanzes jene Schattenlinie nach, die sich immer wieder von neuem auflöst, um der Morgendämmerung Platz zu machen.

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Quellen der Zitate zu Beginn der Kapitel 2 Helen McGehee in: M. Horosko: Martha Graham. The evolution of her dance theory and training. Henri Maldiney: L’art, l’éclair de l’être. Gérard Genette: Esthétique et poétique. Anna Sokolow in: S.J. Cohen (Hg.): Modern Dance, seven Statements of Belief. José Limón zitiert in: Daniel Lewis: The illustrated Technique of José Limón. Frederick Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Charles Olson: »Projective Verse«, zitiert in: L. Steinman: The knowing Body. Mary Wigman: Die Sprache des Tanzes. Jean-Luc Nancy: Le poids du corps. Kent de Spain: »A Moving decision. Notes on the improvising mind«, in: Contact Quarterly, Band 20 Nr. 1, 1995. Rudolf von Laban in: The Mastery of Movement. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Odile Duboc: L’épreuve du temps. Yvonne Rainer: Work. Pierre Kaufmann: L’expérience émotionnelle de l’espace. Jacqueline Robinson: Eléments du langage chorégraphique. Gilles Deleuze und Félix Guattari:Was ist Philosophie? Christian Bourigault: Programmzettel eines Kompositionsworkshops für professionelle Tänzer. Doris Humphrey: Die Kunst, Tänze zu machen. Oskar Schlemmer: Idealist der Form. Maurice Blanchot: Der Gesang der Sirenen. 2 | Die kompletten Angaben sind in der Bibliographie aufgeführt.

TanzScripte Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein (Hg.) Methoden der Tanzwissenschaft Modellanalysen zu Pina Bauschs »Le Sacre du Printemps« 2007, 302 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., inkl. Begleit-DVD, 28,80 €, ISBN 978-3-89942-558-1

Susanne Foellmer Am Rand der Körper Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz Juli 2009, 476 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1089-5

Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hg.) Wissen in Bewegung Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz 2007, 360 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 14,80 €, ISBN 978-3-89942-808-7

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TanzScripte Sabine Huschka (Hg.) Wissenskultur Tanz Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen Juni 2009, 246 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1053-6

Annamira Jochim Meg Stuart Bild in Bewegung und Choreographie 2008, 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1014-7

Arnd Wesemann IMMER FESTE TANZEN ein feierabend! 2008, 96 Seiten, kart., 9,80 €, ISBN 978-3-89942-911-4

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3) ANZ1068.p 212619080582

TanzScripte Christiane Berger Körper denken in Bewegung Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara 2006, 180 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-554-3

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2006, 504 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-478-2

Susanne Foellmer Valeska Gert Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre

Natalia Stüdemann Dionysos in Sparta Isadora Duncan in Russland. Eine Geschichte von Tanz und Körper

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Gabriele Klein (Hg.) Tango in Translation Tanz zwischen Medien, Kulturen, Kunst und Politik Juni 2009, 306 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1204-2

Christina Thurner Beredte Körper – bewegte Seelen Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten Januar 2009, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1066-6

Susanne Vincenz (Hg.) Letters from Tentland Zelte im Blick: Helena Waldmanns Performance in Iran/ Looking at Tents: Helena Waldmanns Performance in Iran 2005, 122 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,80 €, ISBN 978-3-89942-405-8

Gabriele Klein, Wolfgang Sting (Hg.) Performance Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst 2005, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-379-2

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