Abwesenheit: Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart [1. Aufl.] 9783839404782

Seit der klassischen Moderne gilt das Flüchtige als Merkmal des Tanzes. Damit verbunden ist die Frage nach der Präsenz d

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German Pages 504 [503] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I Tanz in der Gesellschaft des Spektakels
1 Because More is Better …
2 Die Massenkultur des Körpers: Jean Baudrillard
3 In the Absence: Philipp Gehmachers Sturz ins Vergessen
4 Abwesenheit als Unverfügbarkeit des Subjekts: Vergiftete Bilder
5 Methodische Überlegung: Der begehrende Körper
II Präsenz und Abwesenheit
1 Flüchtigkeit als Paradigma des Tanzes: Paul Valéry
2 Dekonstruierte Präsenz: Derridas Spur und der Körper als Signifikant
3 Peggy Phelans Politik der Abwesenheit
4 Welche Präsenz? Fried, Féral, Pontbriand, Fuchs
5 Rezeption als Performanz: Martin Seels Ästhetik des Erscheinens
6 Werden, ohne zu sein: Jonathan Burrows’ und Jan Ritsemas Weak Dance, Strong Questions
7 Sigmund Freud: Das anthropologische Spiel mit der Abwesenheit
8 Nijinskys Sprungspiele: Le spectre da la rose
9 Das Bewegende – L’(é)mouvant: Georges Didi-Huberman
10 Verkörperung und imaginäre Körper
III Moderne Konfigurationen der Abwesenheit
1 Metaphern der Natur
2 Symbole der Teilhabe
3 Metonymien des Todes
4 Räume schaffen, in denen das Denken sich ereignen kann
5 Der christliche Text und der Tanz: Pierre Legendre
6 Zurückgeholte Abwesenheit: Re-Ritualisierung des Tanzes in der Moderne
IV Das Modell
1 Das Symbolische: Arbeit an der theatralen Repräsentation
2 Das Imaginäre, oder: Arbeit am Körperbild
3 Das Reale, oder: die Arbeit am Unmöglichen
V Abwesenheit reflektieren: William Forsythe
1 Ballett als Text
2 Ballett als Impuls
3 Ballett als performativer Akt
4 Der visuelle Apparat des Theaters und der Blick
VI Die Schreibweisen des Körpers: Jérôme Bel
1 Schreibweise am Nullpunkt des Tanzes
2 Die Diskurse des Körpers
3 Die Anrufung vom Ort des Anderen: Le dernier spectacle
4 Die zwei Körper des Autors
5 Theater als Geschenk
VII Die Artikulation des Dazwischen: Xavier Le Roy
1 Self-Unfinished
2 Product of Circumstances
3 Der organlose Körper
4 Der anagrammatische Körper
5 Giszelle
6 Projekt
7 CP-AD von Yvonne Rainer
VIII Gespenstische Körper: Meg Stuart
1 Die Ebene des Symbolischen
2 Das Haut-Ich als Imaginäres
3 Die Ebene des Realen
IX Schluss und Ausblick: Embleme der Abwesenheit
1 La Ribots Distinguished Pieces
2 Die Kunst der rituellen Ersetzung: Raimund Hoghe
X Bibliographie
Liste der Abbildungen
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Abwesenheit: Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart [1. Aufl.]
 9783839404782

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Gerald Siegmund Abwesenheit

T a n z S c r i p t e | hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 3

2006-04-06 13-25-50 --- Projekt: T478.tanzscripte.siegmund / Dokument: FAX ID 028b112307437458|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 112307437514

Gerald Siegmund, 1963, studierte Anglistik, Romanistik und Theaterwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main. Er ist Assistenzprofessor am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern, Schweiz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz und im postdramatischen Theater im Übergang zur Performance und zur bildenden Kunst. Zuletzt ist sein Buch »William Forsythe – Denken in Bewegung« im Henschel Verlag erschienen.

2006-04-06 13-25-50 --- Projekt: T478.tanzscripte.siegmund / Dokument: FAX ID 028b112307437458|(S.

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) T00_02 vakat.p 112307437602

Gerald Siegmund

Abwesenheit Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart

2006-04-06 13-25-51 --- Projekt: T478.tanzscripte.siegmund / Dokument: FAX ID 028b112307437458|(S.

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) T00_03 innentitel.p 112307437658

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Das Buch wurde als Habilitationsschrift zur Erlangung des akademischen Grades eines habilitierten Doktors (15.06.2005) im Fachbereich Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität-Gießen vorgelegt.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagabbildung: »Meg Stuart & Damaged Goods – ›Visitors Only‹« (2003), Fotograf: Chris Van der Burght Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Projektmanagement: Andreas Hüllinghorst, Bielefeld Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-478-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum.p 112307437666

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I

II

Tanz in der Gesellschaft des Spektakels . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Because More is Better … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Massenkultur des Körpers: Jean Baudrillard . . . . . 3 In the Absence: Philipp Gehmachers Sturz ins Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Abwesenheit als Unverfügbarkeit des Subjekts: Vergiftete Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Methodische Überlegung: Der begehrende Körper . . .

9 13 13 22 29 33 37

Präsenz und Abwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1 Flüchtigkeit als Paradigma des Tanzes: Paul Valéry . . . 49 2 Dekonstruierte Präsenz: Derridas Spur und der Körper als Signifikant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3 Peggy Phelans Politik der Abwesenheit . . . . . . . . . . . . . 63 4 Welche Präsenz? Fried, Féral, Pontbriand, Fuchs . . . . . 69 5 Rezeption als Performanz: Martin Seels Ästhetik des Erscheinens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6 Werden, ohne zu sein: Jonathan Burrows’ und Jan Ritsemas Weak Dance, Strong Questions . . . . . . . . 81 7 Sigmund Freud: Das anthropologische Spiel mit der Abwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 8 Nijinskys Sprungspiele: Le spectre da la rose . . . . . . . . 91 9 Das Bewegende – L’(é)mouvant: Georges Didi-Huberman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 10 Verkörperung und imaginäre Körper . . . . . . . . . . . . . . . 105

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7) T00_05 inhalt.p 112307437690

III

Moderne Konfigurationen der Abwesenheit . . . . . . . . . . . . . 1 Metaphern der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Symbole der Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Metonymien des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Räume schaffen, in denen das Denken sich ereignen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Der christliche Text und der Tanz: Pierre Legendre . . . 6 Zurückgeholte Abwesenheit: Re-Ritualisierung des Tanzes in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115 116 130 139 142 151 158

IV

Das Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1 Das Symbolische: Arbeit an der theatralen Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2 Das Imaginäre, oder: Arbeit am Körperbild . . . . . . . . . . 196 3 Das Reale, oder: die Arbeit am Unmöglichen . . . . . . . . 212

V

Abwesenheit reflektieren: William Forsythe . . . . . . . . . . . . . 1 Ballett als Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Ballett als Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Ballett als performativer Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Der visuelle Apparat des Theaters und der Blick . . . . . .

VI

Die Schreibweisen des Körpers: Jérôme Bel . . . . . . . . . . . . . 317 1 Schreibweise am Nullpunkt des Tanzes . . . . . . . . . . . . 318 2 Die Diskurse des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 3 Die Anrufung vom Ort des Anderen: Le dernier spectacle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 4 Die zwei Körper des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 5 Theater als Geschenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352

VII

Die Artikulation des Dazwischen: Xavier Le Roy . . . . . . . . 1 Self-Unfinished . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Product of Circumstances . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Der organlose Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Der anagrammatische Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Giszelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 CP-AD von Yvonne Rainer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VIII

Gespenstische Körper: Meg Stuart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Die Ebene des Symbolischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Das Haut-Ich als Imaginäres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die Ebene des Realen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

409 414 424 446

IX

Schluss und Ausblick: Embleme der Abwesenheit . . . . . . 451 1 La Ribots Distinguished Pieces . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 2 Die Kunst der rituellen Ersetzung: Raimund Hoghe . 465

X

Bibliographie

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473

Liste der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501

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Vorwort | 9

Vorwort

Das vorliegende Buch ist aus meiner intensiven Seherfahrung der vergangenen Jahre heraus entstanden. Plötzlich tauchten auf den Theatern Stücke auf, die sich explizit in den Kontext des zeitgenössischen Tanzes stellten, obwohl in ihnen nach landläufigem Verständnis kaum mehr getanzt wurde. Choreographen wie Jérôme Bel und Xavier Le Roy stellten die Körper ihrer Tänzer regelrecht aus, deformierten sie und reduzierten jede Bewegung auf ihre pure Funktion. Wenn getanzt wurde, wie bei William Forsythe oder Meg Stuart, waren die Bewegungen im klassischen Sinn kaum mehr schön zu nennen. Wie das mittlerweile etablierte Tanztheater der siebziger und achtziger Jahre stießen auch diese zeitgenössischen hybriden Formen bei großen Teilen des Publikums und der Kritik auf Ablehnung. William Forsythe, zwanzig Jahre lang künstlerischer Leiter des Ballett Frankfurt, bildet hierbei sicher die Ausnahme. Doch ist auch bei ihm in den neunziger Jahren eine zunehmende Radikalisierung im Umgang mit dem Erbe des klassischen Balletts zu beobachten, die vielerorts Verwirrung auslöste. Gleichzeitig schien im selben Maß, wie das Interesse der Künstler für die reine Bewegung – jenem Paradigma der klassischen Tanzmoderne – abnahm, das Interesse an deren Erscheinungsformen zuzunehmen. Die Künstler richteten ihr Augenmerk auf die Bühne, den Raum und das Licht und eröffneten Kontexte, in denen der Körper als das Werkzeug des Tänzers anders wahrgenommen werden konnte. Doch ist ein Tänzer, wenn er nicht mehr tanzt, überhaupt noch ein Tänzer? Was muss er erfüllen, um ein Tänzer zu sein, und was erwarten wir von ihm, wenn er auf einer Bühne vor uns tritt, um uns zu bewegen? Wie soll man diese merkwürdigen Mischformen nennen? Einem Paradigma der bildenden Kunst folgend, ›Body Art‹, oder aufgrund der Inszenierungsqualitäten doch ›Theater‹? Wie für viele zeitgenössische Formen wurde auch hier der Begriff ›Performance‹ ins Feld geführt, wohl nicht zuletzt deshalb, weil er als ein gattungsübergreifender Sammelbegriff dient, unter

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10 | Abwesenheit den heterogene Praktiken subsumiert werden können. So reduziert oder einfach nur anders als das, was bis dato als Tanz gelten durfte, die Versuchanordnungen der Stücke auch sind, so komplex sind doch die Fragen, die sie aufwerfen. Die Klarheit ihrer Konstruktion öffnet die Augen für die verschiedenen Ebenen, auf denen man das Gesehene betrachten kann. Diese Arbeit ist daher von dem Wunsch geleitet, den kritischen Impuls der verschiedenen künstlerischen Ansätze herauszuarbeiten. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen daher die Tanzstücke und Choreographien, aus denen heraus sich bestimmte Beobachtungen ableiten lassen. Es sind in jedem Fall die Stücke selbst, die zur theoretischen Reflexion einladen, weshalb ich ihrer Beschreibung und der Erörterung ihrer Funktionsweisen breiten Raum widmen werde. Aus dem Material heraus argumentierend, müssen sich die philosophischen Überlegungen und Argumente wiederum an den Stücken überprüfen und gegebenenfalls verändern lassen. Zwischen Stückbetrachtung und philosophischer Reflexion oszillierend, soll in der Arbeit ein komplexes Bild davon entstehen, was es heißt, auf der Bühne vor Publikum zu tanzen und diesem Tanz vom Parkett aus zuzusehen. Dabei rücken immer wieder tanz- und kulturgeschichtliche Themen ins Blickfeld, die gerade den radikal zeitgenössischen Tanz als Auseinandersetzung mit dem christlichen Körperbild kenntlich machen. Der Leitbegriff, unter dem die Arbeit steht, ist »Abwesenheit«. Auch er hat sich aus der Betrachtung des Materials ergeben, arbeiten die Stücke doch auf unterschiedliche Arten und Weisen mit Leerstellen. Angefangen beim leeren Raum, über einen bestimmten Umgang mit dem Körper, bis hin zur Trennung von Hören und Sehen, wobei der jeweils eine Parameter abwesend gemacht wird, fügen sie dem Bühnengeschehen signifikante Lücken zu, die die Zuschauer zu imaginativen Eigenleistungen geradezu auffordern. Mit dem Begriff der Abwesenheit ist natürlich auch dessen Gegenteil, nämlich »Präsenz«, aufgerufen. Absenz und Präsenz sind nicht voneinander losgelöst zu betrachten. Dennoch spielt der Begriff der Präsenz in der aktuellen theaterwissenschaftlichen Diskussion eine weitaus zentralere Rolle als der der Absenz. Theater wird in den Debatten nicht mehr in erster Linie als statisches Produkt aufgefasst, dessen Inszenierungen über Zeichenprozesse Bedeutung auf je spezifische Weise aufbauen, sondern als Vollzug einer Handlung, die sich in actu durch die Ko-Präsenz von Darstellern und Zuschauern ereignet. Die Arbeit möchte demgegenüber den Begriff der Absenz aufwerten und als das widerständige und kritische Potential einer Inszenierung in den Blickpunkt rücken. Nicht die Frage nach der Präsenz macht die Theatralität von Kunstwerken aus, sondern das, was diese Präsenz erzeugt und was sie als ihr Anderes ausblenden muss. Diese Frage scheint mir in unserer Mediengesellschaft, in der das Spektakel den Wert der Präsenz längst für sich entdeckt hat, dringlicher denn je. In die-

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Vorwort | 11

sem Sinne leistet die Arbeit auch einen Beitrag zur aktuellen theaterwissenschaftlichen Diskussion um eine Ästhetik des Performativen. So geht es in der Vorstellung von Abwesenheit auch darum, einen Raum in der Kunst zu eröffnen, in dem das Subjekt nicht gespiegelt wird, sich nicht als selbst, sondern als anderes begegnet. Um die Abwesenheit im tanzenden Subjekt selbst zu verankern, greife ich auf Jacques Lacans Theorie eines gespaltenen Subjekts des Unbewussten zurück. Lacans psychoanalytisches Modell erlaubt es mir, jenseits statischer strukturalistischer Kategorisierungen Fragen an den Tanz zu richten, um dessen Funktions- und Wirkungsweise darzulegen. Der tanzende Körper erscheint so als begehrender Körper, der mit den drei psychischen Registern des Subjekts gleichzeitig in Relation steht: dem Symbolischen, dem Imaginären und dem Realen. Dieses dreigliedrige Modell soll als Analysemodell für die Stücke dienen, um Ebenen aufzuzeigen, auf denen der Tanz arbeitet. Es sind mithin die Ebenen der Sprache, in deren Horizont die Bewegung im Allgemeinen und die Tanzsprache im Besonderen steht, der Bilder, mit denen sich das Körperbild des Tänzer messen muss, und des Realen, das als Phantasma den tanzenden Körper bedroht. Mein Dank gilt vor allem den Künstlern und Künstlerinnen, die mich mit ihren Arbeiten in den vergangenen zehn Jahre begleitet und inspiriert haben. Ohne ihre Mithilfe in Form von zahlreichen Gesprächen, Diskussionen und gemeinsamen Abendessen wäre dieses Buch nicht das geworden, was es ist: William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Maria La Ribot, Raimund Hoghe, Vincent Dunoyer, Maria Clara Villa-Lobos, Jonathan Burrows, Jan Ritsema, Phillip Gehmacher, Thomas Lehmen, Boris Charmatz, Sarah Michelson, Alice Chauchat, Thomas Plischke und Martin Nachbar. Helga Finter, die die Arbeit als Habilitationsschrift am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen betreut hat, und Heiner Goebbels danke ich für ihr unerschöpfliches Wissen und ihr Vertrauen, das sie mir als Mitarbeiter, Assistenten und Kollegen entgegen gebracht haben. Mein ganz besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang den Studierenden des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen, die mich mit ihrem unermüdlichen Nachdenken über Theater in den Seminaren und auf der Probebühne stets dazu herausgefordert haben, die Grenzen dessen, was Theater ist, sein kann und sein soll, immer wieder neu zu ziehen. Isabelle Drexler danke ich für die sorgfältige Lektüre des Manuskripts und ihre Anmerkungen, die ich mir gerne zu eigen gemacht habe. Alexandra Wellensiek, Mechthild Rühl, Sandro Grando, John Zwaenepoel, Diana Raspoet, Angèle Le Grand, Manu Devriendt, Luca Giacomo Schulte, Do-

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12 | Abwesenheit minik Mentzos und Katrin Schoof haben auf die eine oder andere Weise dazu beigetragen, das Buch durch Fotos und Ideen lebendiger zu gestalten. Franz Anton Cramer, Sabine Huschka, Krassimira Kruschkova, Peter Stamer, Helmut Ploebst, Petra Roggel, Susanne Traub, Nikolaus MüllerSchöll, Hortensia Völckers, Gabriele Brandstetter, Christine Peters, André Lepecki, Mårten Spångberg, Myriam van Imschoot, Jeroen Peeters, Steven de Belder und Bettina Seifried haben mich mit ihren eigenen Texten und in vielen Gesprächen stets neu herausgefordert. Johan Reyniers vom Kaaitheater in Brüssel, Sigrid Gareis vom Tanzquartier in Wien, Ulrike Becker und André Thériault vom Festival Tanz im August in Berlin und vor allem Dieter Buroch und seinem Team vom Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main danke ich für die Möglichkeit, die Arbeit der Künstler über Jahre hinweg kontinuierlich zu verfolgen. Ohne ihre Arbeit als Produzenten und künstlerische Leiter wäre die internationale Theaterlandschaft wesentlich ärmer! Nicht zuletzt gilt mein besonderer Dank Rainer Emig, der mir all die Jahre mehr als nur ein Freund war. Frankfurt am Main/Bern, Januar 2006

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I Tanz in der Gesellschaft des Spektakels | 13

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Tanz in der Gesellschaft des Spektakels

Because More is Better …

Was soll man bloß machen? Drei Tänzerinnen und zwei Tänzer sprechen sich Mut zu. In einer Reihe der Größe nach sortiert, stehen sie an der Bühnenrampe und motivieren sich durch laute Kampfsportschreie. Mit weißen Kitteln, weißen Socken und weißen Sportschuhen bekleidet, die alle das schwungvolle rote Logo der Firma Nike tragen, sind sie für die nächste Attacke gerüstet. ›Just Do It!‹, rufen sie im Chor und greifen sich danach präpotent, aber beherzt, in den Schritt. Doch wer nun einen wahrhaft kraftstrotzenden und kräftezehrenden Hochleistungstanz erwartet, wird eines Besseren belehrt. Völlig überraschend ziehen die fünf weiße Badekappen aus ihren Kitteln und stülpen sie geschickt über ihre Perücken. Im Gleichschritt attackieren sie die Phalanx der Einkaufswägen, die wie auf dem Parkplatz eines Supermarkts um die Ränder des Raumes verteilt sind. Jeder greift sich einen und schwingt ihn locker in den Raum. ›To boldly go where no man has gone before‹ tönt es aus den Lautsprechern, der optimistische Wahlspruch des Raumschiffs Enterprise, der Fernsehserie aus den 1960er Jahren, zu deren sirenengleicher Titelmusik sich der folgende Tanz entspinnt. Die Tänzer halten sich links und rechts an einem Einkaufswagen fest und bilden so einen Kreis, den sie im Raum drehen. Ihre Gesichter sind dabei nach innen gerichtet, bis der Kreis plötzlich auseinander bricht und sich jeder individuell mit seinem Wagen an die Peripherie dreht. Rückwärts laufen sie dann alle wieder zur Mitte zusammen, stehen Rücken an Rücken und drehen ihre Einkaufswägen, die Hände über Kreuz, wobei eine Hand den Wagen des Nachbarn greift, sternenförmig vor ihren Körpern. Aus ihren Taschen kramen sie Konfetti, werfen es fröhlich über ihre Köpfe, während ihre Körper sich nach vorne über die Wägen beugen, nur um sich danach in Rückenlage zu begeben. Der Reigen wird schließlich aufgelöst, in-

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14 | Abwesenheit dem sie die vorderen Klappen der Einkaufswägen nach oben öffnen, um sich in den Wagen zu setzen. Kräftig stoßen sie sich mit den Füßen ab, rudern mit den Armen und schießen fröhlich durch den Raum, bis sich am Ende vier der Tänzer zusammen in einem Wagen zwängen, den der fünfte schiebt. Eine Tänzerin steht darin im Schoß ihres Partners Kopf und hat die Beine zum großen Finale in der Luft zum Spagat gespreizt. Was soll man als Choreographin und Tänzerin bloß machen, wenn man eingeladen wird, für die Kulturhauptstadt Europas ein Stück zu choreographieren? Was erwarten die verantwortlichen Geldgeber der Stadt, der Schule, in deren Rahmen das Projekt entsteht, das Publikum zu einem solchen feierlichen Anlass? Welchen Druck macht man sich selbst, um etwas »Repräsentatives« abzuliefern, das dem kritischen Auge der Öffentlichkeit standhält? Mit welcher Motivation und mit welchen Motiven tritt man an seine Choreographie heran? Ruhm, Geld und Ehre? Die junge spanische Choreographin Maria Clara Villa Lobos choreographiert ein kleines Wasserballett à la Esther Williams auf dem Trockenen, in dem sie die Körper ihrer Tänzer kaleidoskopartig zu immer neuen Ornamenten zusammenfügt. Sie choreographiert damit aber auch einen Kommentar zu ihrer Lage, die nicht nur die ihrer individuellen Karriere ist, sondern übertragbar auf die Situation des Tanzes am Ende des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts. Was geschieht mit dem Tanz, wenn er Teil eines globalen Marktes von Produzenten, Theaterhäusern und Festival wird, wenn er wie das Logo von Nike zum Markenzeichen und zum Werbespruch unserer körperbetonten Freizeitkultur wird: ›Just Do It!‹ Ihr Stück XL – Because More is Better and Size does Matter ist im Jahr 2000 entstanden, als Brüssel den Titel der Kulturhauptstadt Europas trug.1 Villa Lobos hat dort 1995 an der von Anne Teresa de Keersmaeker geleiteten Tänzer- und Choreographenschule P.A.R.T.S (Performing Arts Research and Training Studios) angefangen zu studieren, dann aber andere Weg eingeschlagen. Im Jahr 2000 wurde sie im Rahmen eines Kulturhauptstadtprojekts zusammen mit anderen ehemaligen Studierenden für sechs Monate von ihrer alten Schule eingeladen, dort ein Stück zu erarbeiten. Schon im ersten Teil von XL – More is Better and Size does Matter hat sie die Stile und künstlerischen Mittel berühmter zeitgenössischer Choreographen wie Pina Bausch, William Forsythe, Wim Vandekeybus, Meg Stuart, Trisha Brown oder Anne Teresa de Keersmaeker als Fastfood in einem Schnellrestaurant an die Zuschauer gebracht. Auf Zuruf können diese anhand einer Speisekarte verschiedene Fertiggerichte bestellen, die von Villa Lobos als Kellnerin im McDonalds-Outfit entgegengenommen und von den fünf Tänzern ser1 | Ich habe eine Vorstellung des Stücks am 9. März 2003 im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt gesehen. Zusätzlich wurde ein Video herangezogen, das 2001 im belgischen Namur aufgenommen wurde.

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viert werden. Ihre Beschreibungen, die ein profundes Wissen über die Ansätze und Arbeitsweisen der Künstler verraten, treffen dabei auf hintergründige und ironische Weise mitten ins Herz der Ästhetiken der Künstler. So charakterisiert sie ›Pina Mc Nuggets‹ als ›A delightful assortment of 4 pieces of overwhelming dance theatre wrapped in a crispy psychological coating accomplished by an expressionist sauce of your choice‹ und ein De Maeker de Luxe geht bei ihr als ›An exquisite vegetarian burger of virtuosic spatial composition between two melting slices of music analysis with a very refined dressing in a delicious macrobiotic bread‹ durch. Ernstzunehmende choreographische Ansätze, wie die Musikanalyse oder die Raumkomposition, werden hier zu leicht konsumierbaren und wiedererkennbaren Markenzeichen degradiert, die das kritische und analytische Potential, das ihnen innewohnt, unter einem Slogan begraben. Wollen die Zuschauer nur das Markenzeichen sehen, und kann man der Umwandlung seiner künstlerischen Praxis in ein Produkt widerstehen? Doch XL – Because More is Better and Size does Matter bringt den Tanz nicht nur in Verbindung mit der guten alten Showtradition wie etwa dem Musicalfilm der dreißiger Jahre. Zu einem japanischen Kinderlied klettern vier der Tänzer in je einen Einkaufswagen, die aneinandergekettet sind. Unter flackerndem Stroboskoplicht dreht Mioko Yoshihara die Wägen mitsamt ihren Insassen, die kreischen, als befänden sie sich in einer Geisterbahn in einem Freizeitpark. Kaum ist das Wasserballett ausgeklungen, zwingt ein markanter Signalton die Tänzer zur Arbeit an einem Fließband. Der Größe nach von rechts nach links aufgestellt, werden Mioko Yoshihara, Violeta Todo Gonzales, Maria Clara Villa-Lobos, Alberto Diez-Sanchez und Jyrki Haapala mit ihren absolut akkuraten, präzisen und mechanischen Bewegungen selbst zum Fließband, das sich selbst bearbeitet und in Form einer Choreographie hervorbringt. Bühnenlinks am Ende ihrer Kette steht ein Einkaufswagen mit leeren Milchtüten. Mioko Yoshihara greift mit ausdrucksloser Miene hinein und holt einen Karton heraus, mit dem sie dreimal auf den Boden klopft, bevor sie ihn mit jedem ihrer weiteren drei Schläge umdreht, um ihn mit dem siebten Schlag schließlich an der Seite zu packen. Am Ende reicht sie ihn weiter und holt sich einen neuen Karton, während das rhythmische Klopfen jetzt synchron erfolgt. Ist die Milchtüte auf diese Weise bei Jyrki Haapala angekommen, wirft dieser sie zurück in den Einkaufswagen. Ist jede Choreographie Fließbandarbeit und ist jedes Körpertraining eine maschinelle Zurichtung, die den Körper rein funktional auf ein vermarktbares Endprodukt hin abrichtet? Hierfür hält Maria Clara Villa-Lobos den ›Instant Dancer 2000‹ bereit. Mit Cowboyhut und Sonnenbrille präsentiert sie ihre Modelle wie bei einer Verkaufsshow im Werbefernsehen.

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16 | Abwesenheit

Ladies and gentlemen, are you a choreographer tired of lying around on the studio floor looking at the ceiling trying to come up with some interesting movement material? Are you tired of your dancers being sick, injured or late for rehearsals? Well, we understand your problems, and we’ve got the solution of your dreams: the Instant Dancer 2000. [Jyrki Haapala sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Einkaufswagen, der aus dem Bühnenhintergrund nach vorne geschoben wird.] As you can see, this is Jyrki our Northern European model. He comes with beautiful blond hair und piercing blue eyes. He’s slim, trim, and comes with an extra large penis for late night rehearsals. Now, what’s really amazing about Jyrki is that he comes with five techniques! Talk about versatility! Amazing. Would you like a demonstration? Pump it up: Jyrki is trained in Ballet, Graham, Limon, Cunningham and, of course, Release, which comes with an added floor feature. But it doesn’t stop here. Not only is Jyrki trained in five techniques, no, no, no, he also functions in four modes, which include fast forward, rewind or retrograde, slow motion, and, my personal favourite, pause. And for all you dance theatre choreographers, Jyrki also comes with a voice function. ›Hello. My name is Jyrki, I’m your instant dancer 2000. Let me dance for you, otherwise I’ll fuck your brains out!‹ If you call that number at the bottom of your screen, we’ll include Mioko, our Japanese model, absolutely for free! [Mioko wird vorgefahren.] Isn’t she gorgeous?

Die Tänzer werden hier im bildlichen Sinn als Ware im Warenkorb präsentiert, die den Käufer mit ihrem Angebot zufriedenstellen sollen. Die Beziehung zwischen Choreograph und Tänzer wird dabei ebenso verdinglicht wie die Beziehung der Tänzer zu ihrem Körper. In derart unterschiedlichen Techniken wie Release oder Ballett ausgebildet, die nach Belieben abrufbar sind, wird der Körper zu dem, was Susan Leigh Foster als »the ›hired‹ body«, den gemieteten Körper, bezeichnet. »Uncommitted to any specific artistic vision, it is a body for hire: it trains in order to make a living. […] This body, a purely physical object, can be made over into whatever look one

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desires. Like one’s ›lifestyle‹, it can be constructed to suit one’s desires.«2 Der Tänzer als Lifestyle Accessoir wird erneut zur willenlosen Marionette im Kräftespiel der Choreographen und des Marktes. Neben der Industrieproduktion, der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie rückt auf diese Weise noch die Sexindustrie als Muster für den Tanzmarkt in den Blickpunkt. Was unterscheidet den Tänzer vom Go-Go Boy oder Girl, was von anderen Körpern, die man mieten kann? Denn müssen Tänzer und vor allem Tänzerinnen nicht das Publikum mit ihren beweglichen Körpern, die sich auf der Bühne zur Schau stellen, verführen? So stehen sie ein wenig lustlos auf der Bühne herum, die in rotes Licht getaucht wird, entledigen sich zu ebenso lustloser Barmusik Stück für Stück ihrer Kleidung, stecken die Socken in die Unterhosen oder schießen sie wie Katapulte durch den Raum, strippen bis auf die leopardengemusterte Unterwäsche, die sie sich schon mal kokett von der Pobacke ziehen, bevor sie zu Boden gehen, um sich dort breitbeinig zu wälzen. Zwischen den einzelnen Nummern des Stücks singen sie immer wieder den Filmhit aus den 1980er Jahren ›Fame! I want to live forever‹ und zeigen dabei auf die Namensschilder auf ihren Kitteln, als sei der Drang nach Anerkennung und Ruhm für sie die stärkste Motivation auf der Bühne zu stehen. Maria Clara Villa-Lobos zeigt in ihrem Stück den Tanz als Teil der Gesellschaft des Spektakels, das die (post-)industrielle Gesellschaft nahezu vollkommen in ihre Funktionsweise integriert hat. Die Produktion von Neuem, die die Suggestion einer permanenten Gegenwart erzeugt, steht für meinen Argumentationsgang dabei im Vordergrund. Die bis zum Stadium des integrierten Spektakulären modernisierte Gesellschaft zeichnet sich durch die kombinierte Wirkung der folgenden fünf Hauptwesenszüge aus: ständige technologische Erneuerung; Fusion von Staat und Wirtschaft; generalisiertes Geheimnis; Fälschung ohne Replik und immerwährende Gegenwart.3

Die »immerwährende Gegenwart« wird durch »den unaufhörlichen Rundlauf der Informationen erreicht«, der den Eindruck der Verbreitung ständi-

2 | Susan Leigh Foster, »Dancing Bodies«, in: Jonathan Crary/Stanford Kwinter (Hg.), Incorporations, New York: Zone Books, 1992, S. 480-495, hier: S. 494. 3 | Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, übers. von Jean-Jaques Raspaud, Berlin: Edition Tiamat, 1996, S. 203. Debord unterscheidet zunächst zwischen der konzentrierten und der diffusen Herrschaft des Spektakulären. Während erstere typisch ist für totalitäre Gesellschaften, wie Nazismus und Stalinismus, bildet sich letztere in bürgerlichen Demokratien heraus. In »Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels«, die er 1988 verfasste, führt er den dritten Typus, »das integrierte Spektakuläre«, ein, das als konzentriert und diffus zugleich auftritt; ibid., S. 199-200.

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18 | Abwesenheit ger Neuigkeiten vortäuscht, wo nur Lappalien zirkulieren.4 Die Vergangenheit soll so vergessen werden, um Platz zu machen für das ewig Neue, für neue Waren oder Informationen, die Erfüllung im Hier und Jetzt versprechen. Alles wird auf den Maßstab messbarer, handhabbarer und scheinbar widerspruchsfreier Informationen reduziert, die ihrerseits zur Ware werden können. Seit den achtziger Jahren hat sich auch im Bereich des freien Tanzes eine Marktsituation etabliert. Jean-Paul Montanari, Leiter des Festivals Montpellier Danse, das 1980 gegründet wurde und bis heute zu den wichtigsten Festivals für zeitgenössischen Tanz gehört, beschreibt die Situation wie folgt: Vor zwanzig Jahren, als der junge Tanz angefangen hat, musste an allen Fronten gleichzeitig gekämpft werden. Und es war richtiger Kampf. Der schwierigste Kampf bestand darin, die neuen Formen durchzusetzen. Es gab aber auch den institutionellen Kampf, denn der Tanz war damals überhaupt noch nicht anerkannt. Zudem gab es den Kampf in den Medien, denn die Zeitungen räumten dieser seltsamen Sache keinen Platz ein. Nach dem Motto: Zeitgenössischer Tanz? Nie gehört. Und schließlich musste um ein Publikum für diese neue Form gekämpft werden. Alle diese Kämpfe sind gewonnen worden.5

Dieser Sieg von Künstlern wie Dominique Bagouet oder Jean Claude Galotta führte in Frankreich zur Gründung eines flächendeckenden Netzes, das ganz Frankreich umspannt, von Centres National de Danse Contemporaine, die zeitgenössische Tänzer ausbilden und in eigenen Kompanien Stücke entwickeln. Ermöglicht wurde dieser Sieg des zeitgenössischen Tanzes durch massive finanzielle und institutionelle Förderung des Staates nach der Regierungsübernahme der sozialistischen Partei von Jean-François Mitterand 1981. Sein Kulturminister Jack Lang hat Frankreich in der Tat einen Körper gegeben, der, anders als der absolutistische Staatskörper Ludwig XIV, auch im Tanz auf demokratische Prinzipien aufbauen sollte. In Deutschland führte der Weg zur Institutionalisierung des Tanztheaters über die etablierten Strukturen der Stadt- und Staatstheater mit ihrem Dreispartensystem. Auch das Tanztheater, wie es sich mit Johann Kresnik in der Folge der Studentenbewegung der späten 1960er Jahre, sowie mit Pina Bausch und ihrer sozio-psychologischen Erkundung gesellschaftlicher Normen und Zwänge entwickelte, setzte sich bewusst vom hierarchisch ge-

4 | Ibid., S. 205. 5 | Transkript eines Interviews mit Jean-Paul Montanari aus dem Fernsehfilm von Charles Picq, Grand Ecart. A propos la danse contemporaine française, La Septe ARTE, 2000.

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gliederten Ballett-Körper ab.6 In beiden Ländern waren es also kritische Körper, die sich herausbildeten – allerdings, und dies gilt es im Fortgang der Arbeit im Gedächtnis zu behalten – in Abhängigkeit sowohl von politischer als auch von institutioneller Macht. Der neue Körper bildet sich innerhalb einer symbolischen Ordnung und deren Gesetzen heraus, mit denen er sich auseinandersetzt. Auch in Deutschland wurden in den 1980er Jahren freie Künstlerhäuser und Festivals gegründet, die, wie etwa der Mousonturm in Frankfurt oder das Internationale Sommertanzfestival in der Kampnagelfabrik in Hamburg, international kooperierend dem zeitgenössischen Tanz in zunehmendem Maße eine Plattform boten. All das trug zur Etablierung eines Marktes bei, den Jean-Paul Montanari folgendermaßen charakterisiert: Die jungen Choreographen sind ziemlich privilegierte Künstler, weil sie fast sofort vom choreographischen System anerkannt werden. […] Wir alle verwenden viel Zeit darauf, neue Künstler zu entdecken und sie natürlich auch zu zeigen. […] Heutzutage gibt es das Van Gogh Syndrom nicht mehr. Im Tanzmilieu gibt es heute keine verkannten Genies mehr, die still und unerkannt in Armut ein geniales Werk schaffen, das keiner zu sehen bekommt. […] Der Markt wird wirklich gründlich abgegrast. Alles wird beleuchtet, alles, was es gibt, wird erfasst, damit man Eindruck schinden und zur Dynamik des Marktes beitragen kann. Dieses Vermarkten kann man wirklich als unbarmherzig bezeichnen. Das lässt niemanden in Ruhe.7

Die neuen Künstler sind aus der Generation hervorgegangen, die die institutionellen Kämpfe ausgefochten haben. Heute sehen sie sich mit einem Markt konfrontiert, der, wie es Villa-Lobos in ihrem Stück deutlich macht, seinerseits Forderungen an die Künstler stellt. Wenn sie die Ästhetiken zeitgenössischer Choreographen als Waren auf dem Markt der Festivals und Koproduzenten feilbietet, vollzieht sie eine ebensolche Reduktion dessen, was in ihrer Kunst geschieht und verhandelt wird, auf den Status wiedererkennbarer Informationen. Die Frage lautet also, wie verschiedene Choreographen ihre künstlerische Praxis angesichts dieser Situation definieren. Boris Charmatz, an der Ballettschule der Pariser Oper zum klassischen Tänzer ausgebildet, bevor er am Konservatorium in Lyon eine Ausbildung als zeitgenössischer Tänzer begann, definiert sein choreographisches Vorgehen als ein ›Überdenken‹ jener Errungenschaften der Generation der 1980er Jahre: »Indem wir den Schaffensdrang der achtziger Jahre 6 | Zum Tanztheater vgl. Susanne Schlicher, TanzTheater. Traditionen und Freiheiten: Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffman, Hans Kresnik, Susanne Linke, Reinbek: rororo, 1987; sowie: Jochen Schmidt, Tanztheater in Deutschland, Frankfurt am Main: Propyläen, 1992. 7 | Ibid.

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20 | Abwesenheit ein große Bedeutung zumessen und ihn neu überdenken, stecken wir unsere Grundsätze ab. Und obwohl diese Grundsätze nicht mit dem Etikett ›neue Wilde‹ daherkommen, so stellen sie doch auf ästhetischem Gebiet einen wirklichen Bruch dar.«8 Dieser proklamierte Bruch tritt dann auf, wenn die Überbietungslogik, der die Moderne im Tanz gefolgt ist, außer Kraft gesetzt wird. Nicht mehr das Finden oder Erfinden einer neuen choreographischen Handschrift, die ›freier‹, ›besser‹ oder ›zeitgemäßer‹ ist als das klassische Ballett, steht hierbei im Vordergrund. Kein neuer Stil, der auf neuen Bewegungsprinzipien basiert, soll also gefunden werden, ein Stil, der seinerseits den Markt nur wieder mit neuen Informationen versorgen würde. ›More‹ ist eben nicht zwangsläufig ›better‹, und die reine Größe oder Perfektion einer Produktion bürgt auch nicht für zwingende Ideen. Kann man den Tänzern ihre Vielseitigkeit in der beschriebenen Marktsituation kaum vorwerfen, so kann man doch nach der Haltung einzelner Künstler bzw. ihrer Kunst zur jeweiligen gesellschaftlichen Situation, in der sie produziert und rezipiert wird, fragen. Villa-Lobos bedient sich in XL – Because More is Better and Size does Matter für ihre Kritik an den Erwartungshaltungen des Marktes, die auch an sie als junge Choreographin herangetragen werden, populärer Theater- und Unterhaltungsformen wie der Farce, dem Slapstick und dem Varieté. Ihr Stück wirft vor allem ein Bündel von Fragen über das Verhältnis von Produktion und Rezeption im zeitgenössischen Tanz auf, Fragen, die grundlegend für diese Studie sind, und die daher in verschiedenen Konstellationen immer wieder gestellt und je individuell in der Analyse einzelner ästhetischer Verfahrensweisen beantwortet werden. Ihr Akt der Selbstverständigung und Selbstreflexion trägt Villa-Lobos ein Stück weit hinaus auf ein anderes, dem Tanz benachbartes Feld, in dessen Rahmen er aber immer schon stattfindet: das Theater. Hieran knüpft sich die grundlegende Beobachtung, dass viele der in dieser Studie besprochenen Stücke über ihre Praxis während der Aufführung selbst nachdenken und sich auf Felder anderer Künste begeben, um von dort den eigenen Ort besser ins Visier nehmen zu können. Wie kann, wenn das Spektakel »immerwährende Gegenwart« verspricht, der Tanz als die gegenwärtigste, weil flüchtigste Kunstform, seine analytische Funktion oder, um mit Susan Foster zu sprechen, seine »artistic vision«, behalten? »Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, das es zum Bild wird«, schreibt Guy Debord und beschreibt damit auch eine bestimmte Kommunikationssituation der Menschen im Zeitalter des integrierten Spektakels.9 Denn die Menschen setzen sich nicht mehr über Ideen oder Positionen, über die diskutiert werden muss

8 | Ibid. 9 | Debord, Gesellschaft des Spektakels, op. cit., S. 27.

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und über die ein Austausch stattfindet, miteinander in Beziehung, sondern über Bilder, die faktisch Waren sind und letztlich nur mit sich selber als Warenwert kommunizieren. »Das Spektakel ist nicht ein Ganzes von Bildern, sondern ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen.«10 Debord geht sogar so weit zu sagen, dass das Spektakel »der materielle Wiederaufbau der religiösen Illusion«11 sei. Verspricht es doch Realpräsenz und erfüllte Gegenwart als Paradies auf Erden, das keine Erinnerung und keine Geschichte mehr kennt. Hier rückt die Beziehung der am Tanzereignis beteiligten Personen, also der Zuschauer wie auch der Tänzer, ins Blickfeld, und das Bestreben, sie in ein anderes Verhältnis zueinander zu bringen als in das eines gerahmten Bildes. Den Warencharakter des zum Markenzeichen oder Bild erstarrten Stils eines Choreographen, der auch die Körper der Tänzer zur Ware macht, versucht die gegenwärtige Forschung dahingehend zu umgehen, indem sie auf dem Live-Charakter des Tanzes insistiert. Demnach kann die unhintergehbare Präsenz der Performance oder Aufführung kein Objekt produzieren, weil sie in der Zeit vergeht und verschwindet. Weil sie verschwindet, widersteht sie dem bloßen Konsum von Gegenständen und nimmt daher eine kritische Position innerhalb der Ökonomie des Marktes ein. Doch reicht diese Definition, die in den folgenden Kapiteln anhand einzelner Theorien genauer dargestellt werden wird, wirklich aus, um die »immerwährende Gegenwart« des Immergleichen, das sich als etwas Neues ausgibt, aus den Angeln zu heben? Müsste die Frage nicht eher lauten, wie diese Präsenz beschaffen sein muss, um sich von der Gegenwart des Spektakels abzusetzen? Denn dieses hat sich, wie Helga Finter argumentiert, längst der einst radikalen Praktiken des Avantgarde-Theaters der vergangenen vierzig Jahre bemächtigt. Die Arbeit an der Stimme, am Ton und Klang einer Theateraufführung, die einst die Dominanz des gesprochenen Wortes subvertierte, um eine andere Subjektivität aufscheinen zu lassen, hat ihr Äquivalent im Einsatz von Klanglandschaften in Kaufhäusern gefunden, um unbewusste Konsumwünsche zu stimulieren. Die Arbeit am Körper spielt geradewegs in die Hände der plastischen Chirurgie und der Kosmetikindustrie, und die Frage nach der Repräsentation von Minderheiten findet sich auf jedem Laufsteg der Modeindustrie und in den Videoclips der Plattenfirmen. Helmut Ploebst sieht das integrierte Spektakel Debords im Tanz durch »die Vorherrschaft des akrobatischen Superkörpers in einem Phantasieambiente« realisiert.12 »Presence«, so Helga Finter in Bezug auf 10 | Ibid., S. 14. 11 | Ibid., S. 20. 12 | Helmut Ploebst, No Wind No Word. Neue Choreographie in der Gesellschaft des Spektakels, München: K. Kieser Verlag, 2001, S. 226.

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22 | Abwesenheit das Spektakel, »therefore, contributes involuntarily to its project of amnesia and its lack of perspective.«13 Wenn dieser Befund zutrifft, hätte eine kritische Performancekunst und -theorie dann nicht vielmehr die Aufgabe, vorsichtig mit dem Begriff und der damit verbundenen Vorstellung von Präsenz umzugehen? Die Durchsicht aktueller ästhetischer Debatten belegt das Gegenteil. Präsenz und mit ihr die, oft uneingestandene, Vorstellung einer religiös grundierten Realpräsenz, hat Konjunktur, paradoxerweise gerade als Heilmittel und Gegengift gegen die Entfremdung der Gesellschaft des Spektakels. Die Sinnlichkeit des Live-Ereignisses stehe der Entfremdung zwischenmenschlichen Austauschs durch die zunehmende Mediatisierung entgegen. Die vorliegende Arbeit geht den Verstrickungen des Präsenzbegriffs nach. Die These, der diese Studie verpflichtet ist, lautet: Nur mit einem Denken der Abwesenheit wird die Schließung zum spektakulären Bild verhindert. Am Horizont der Abwesenheit, die das Bild öffnet auf das, was sich dem Subjekt entzieht, scheint der Tod als die radikalste Abwesenheit auf. Er eröffnet die Vorstellung einer Welt, in der die Spiegelung des Subjekts verhindert wird, eine Welt des Anderen mithin, in der das Subjekt als geschlossenes in Frage gestellt wird, weil es augenscheinlich darin abwesend ist. Eine Verbindung zum Tod als kritischem Instrument gegen die Gesellschaft des Spektakels hat der französische Philosoph und Soziologe Jean Baudrillard gezogen. Er hat sich einer regelrechten Todeslogik verschrieben, der ich hier zunächst ein Stück weit folgen möchte. Denn seinen Ausführungen zur ›Massenkultur des Körpers‹ lassen sich in bezug auf die Situation des zeitgenössischen Tanzes, dessen Instrument der Körper ist, einige Bebachtungen entnehmen, die für den Fortgang der Analyse wichtig sind.

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Die Massenkultur des Körpers: Jean Baudrillard

In seinem Buch Der symbolische Tausch und der Tod, das zuerst 1976 erschien, behauptet Jean Baudrillard, dass wir in einer »Massenkultur des Körpers« leben.14 Diese Behauptung erscheint fast als nachgeordneter Ge13 | Helga Finter, »Theatre in a Society of the Spectacle«, in: Eckart VoigtsVirchow (Hg.), Mediated Drama Dramatized Media, Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2000, S. 43-55, hier: S. 49; vgl. auch: Helga Finter, »Kunst des Lachens, Kunst des Lesens. Zum Theater in einer Gesellschaft des Spektakels«, in: Vittoriò Borso/Björn Goldammer (Hg.), Moderne(n) der Jahrhundertwenden, Baden-Baden: Nomos Verlag, 2000, S. 439-451. 14 | Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, übers. von Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke und Roland Vouillié, München: Matthes & Seitz, 1991, S. 163.

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danke in Baudrillards Kapitel über den Körper als Massengrab der Zeichen. Obwohl er in einem Nebensatz verborgen ist, fasst er doch Baudrillards Position wunderbar zusammen. Von der Studentenrevolte im Mai 1968 und der so genannten sexuellen Revolution der 1960er Jahre inspiriert, versucht Baudrillard in großer Detailfülle zu belegen, dass die vermeintliche Befreiung von Sexualität und Körper, die seitdem noch augenfälliger geworden ist und in allen Lebensbereichen sichtbar wird, völlig vereinbar ist mit dem dominierenden ökonomischen System, mit der Ordnung und Logik unserer postindustriellen Gesellschaften.15 Im Zentrum von Baudrillards Argument steht die Parallelisierung von Saussurescher Semiotik, Freudscher Psychoanalyse und marxistischer ökonomischer Theorie. Das gemeinsame Konzept des Zeichens verbindet alle drei Wissensfelder. Für Saussure erhält das Zeichen nur deshalb Wert, weil es sich von anderen Zeichen innerhalb eines geschlossenen Systems der Bedeutung unterscheidet. Dies entspricht Marx’ Definition des Tauschwerts gegenüber dem Gebrauchswert. Der Tauschwert von Waren ist lediglich durch deren Wertdifferenz zu anderen Waren bestimmt. In einer Tauschökonomie gewinnen sie Wert oder Bedeutung, weil sie so in einer Beziehung zu anderen Waren stehen, nicht weil sie einen inhärenten Wert besitzen. Dies ist wiederum verbunden mit Freuds Konzept des Fetischs, einem Begriff, den Marx selbst verwendet, um den Tauschwert von Geld zu beschreiben. Der Fetisch kommt ins Spiel durch die Androhung oder die Entdeckung der Kastration, die im ödipalen Dreieck den Eintritt des Subjekts in die symbolische Ordnung von Sprache und Gesellschaft markiert. Der Fetisch ist genau jenes Zeichen, das die Entdeckung, dass das begehrte Objekt, die Mutter, keinen Phallus besitzt, verdeckt. Es tauscht etwas gegen nichts und verdeckt so den konstitutiven Mangel des Subjekts, während es gleichzeitig mit ihm spielt. Innerhalb dieses Nexus von Psychoanalyse, Semiotik und Marxismus behauptet nun Baudrillard, dass der Körper an sich, und mit ihm Sexualität, zu einer Währung geworden ist. Er wird zum Zeichen, das zum Konsum getauscht werden kann. Für Baudrillard ist die Geschichte des Körpers eine Geschichte seiner Grenzziehungen. Der Körper ist markiert. Grenzziehung kann hier ganz wörtlich verstanden werden. Baudrillard behauptet: Mode, Werbung, nude-look, nacktes Theater, Striptease: überall das gleiche Szenodrama der Erektion und der Kastration. Es ist ungeheuer vielfältig und monoton. 15 | Sein Argument, obgleich nicht historisch, hat viel gemeinsam mit Michel Foucaults Diagnose sexueller Befreiung im ersten Band seiner Geschichte der Sexualität, der übrigens im gleichen Jahr wie Baudrillards Studie erschienen ist; Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977 [1976].

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24 | Abwesenheit Kurze Stiefel oder Stiefel, die bis zum Oberschenkel reichen, Shorts unter langen Umhängen, lange Handschuhe bis über den Ellbogen oder Strumpfbänder auf dem Oberschenkel, Schminke auf den Augen oder die Dreieck-Slips der Striptease-Tänzerinnen, aber auch Armreifen, Halsbänder, Ringe, Gürtel, Schmuck und Ketten – überall das gleiche Szenario: eine Markierung bekommt die Kraft eines Zeichens und eben dadurch die perverse erotische Funktion, sie wird zu einer Demarkationslinie, die die Kastration darstellt, die die Kastration als symbolische Artikulation des Mangels parodiert, und zwar in der strukturalen Form eines Querstrichs, der zwei vollständige Terme verbindet […].16

Obwohl die Mode sich geändert hat oder vielleicht – in einer perversen, aber bezeichnenden Wendung – die Mode der 1970er Jahre, die Baudrillard beschreibt, als ihr eigenes Gespenst zurückgekehrt ist, umgeben uns die spielerische Erotisierung des Körpers, seine Zerstückelung und Aufteilung in Zonen, um ihn zu einem begehrten Fetisch zu machen, seit der Explosion der so genannten Neuen Medien heute noch viel mehr als damals. Man könnte hier Piercing, Tätowierungen, Branding, Gesichtsstraffung, Fettabsaugen und andere Formen plastischer Chirurgie hinzufügen, die fast jedermann als gegenwärtige Techniken der Fetischisierung des Körpers zur Verfügung stehen. Um was es hier geht, ist, laut Baudrillard, die Verneinung von Mangel und symbolischer Kastration, die selbst ernsthafte Konsequenzen hat. Anstatt die Kastration anzuerkennen, baut man alle möglichen phallischen Alibis auf, um sie dann wie unter einem faszinierenden Zwang eines nach dem anderen beiseite zu räumen, um die ›Wahrheit‹ zu entdecken – die immer die Kastration ist, sich aber schließlich immer nur als geleugnete Kastration zu erkennen gibt.17

Obwohl uns Nacktheit überall umgibt, wie im Falle des Striptease, den Baudrillard aufführt, ist diese Nacktheit, die alles enthüllt, tatsächlich eine Inszenierung, die gerade wieder Nacktheit verneint, weil sie sie lediglich signalisiert. Es handelt sich um eine Vermeidung des Symbolischen als Anerkennung von Mangel und Differenz zugunsten einer aggressiven Selbstreferenz, die, um Baudrillards Begriff zu verwenden, mit der Leere »liebäugelt«, die Leere also mit skopischen Fantasien auffüllt.18 Wir verschlingen die Leere, wir verbrauchen sie in einem Akt des Konsums, der zu mehr und mehr konsumierender Produktion von Körpern führt, eben weil er Mangel verneint. In dieser Ökonomie des Körpers wird der Körper zum bloßen Simu16 | Baudrillard, Der symbolische Tausch, op. cit., S. 155. 17 | Ibid., S. 172. 18 | Loc. cit.

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lakrum des Körpers, der so eine zweite Haut von Bedeutung erhält, eine zweite Nacktheit oder einen zweiten Körper, der das Original wie mit einem Leichentuch verhüllt. Der Körper verwindet sich selbstreferenziell in sich selbst wie die Stripperin, die sich scheinbar selbst verführt und so ihr Begehren zum Zeichen verdoppelt.19 Er wird Teil der Ökonomie des Supermodells insoweit er zum rein funktionalen Körper wird. Er fungiert so aber nicht mehr als Arbeitskraft, was bedeutet, dass er nicht länger gebraucht wird, um etwas anderes als sich selbst – als begehrenden Körper – zu produzieren. Unter der Herrschaft des Zeichenwerts ist der Körper damit beschäftigt, sich selbst als Zeichen für Jugend, Leidenschaft, Sex, Wert, Besitz, gesellschaftliche Mobilität und Erfolg zu produzieren. Dabei verleugnet er das Spiel der Differenz, seine Offenheit und Ambiguität, die für den Körper und das Subjekt konstitutiv sind. Was Baudrillard hier beschreibt, hat im deutschsprachigen Raum Dietmar Kamper als »Entfernung der menschlichen Körper« bezeichnet.20 In seiner Ästhetik der Abwesenheit greift er Baudrillards These der Simulakren auf und bescheinigt dem Prozess der Zivilisation eine zunehmende Tendenz zur Abstraktion, die in der Ersetzung realer Körper durch Bilder kulminiert. Der Körper »als Mittel der Orientierung in der Welt«21 wird ersetzt durch eine Entfesselung der Körperbilder, die jedoch nur vordergründig zur Emanzipation des Körpers beitragen. Statt dessen sind abstrakte Muster an der Tagesordnung: Losungen der Umsetzung vom Körperraum auf die Bildfläche, von der Bildfläche auf die Schriftlinie, von der Schriftlinie auf den Zeitpunkt. Die vorgeschriebene Bewegungsrichtung ist eine der De-Eskalation, von der Mannigfaltigkeit zur Dreidimensionalität, von der Räumlichkeit zur Zweidimensionalität. Von der Flächigkeit zur Eindimensionalität, von der Linearität zur Nulldimensionalität. Es geht also von der Fülle zur Leere, von der Präsenz zur Absenz.22

Kamper bezeichnet mit dem Begriff der Abwesenheit zunächst also einen gesellschaftlichen Befund, der die Materialiät des Körpers in den abstrakten Digits von Nullen und Einsen des Computercodes zum Verschwinden bringt. Im einfachen Umkehrschluss wäre eine Ästhetik der Präsenz, wie sie Hans Ulrich Gumbrecht vorschlägt, demnach das probate Heilmittel gegen das Ersetzen der Sinnlichkeit durch den Sinn, der Stofflichkeit des Körpers durch (Sprach-)Zeichen. Gumbrecht plädiert für »Präsenzeffekte«, die 19 | Ibid., S. 165. 20 | Dietmar Kamper, Ästhetik der Abwesenheit. Die Entfernung der Körper, München: Fink, 1999, S. 7 21 | Loc.cit. 22 | Loc.cit.

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26 | Abwesenheit sich ausschließlich an die Sinne richten, um die in der aktuellen kulturellen Situation erfahrene Fragmentierung zu kompensieren.23 Doch reicht die Reduktion auf den Zeitpunkt, den erfüllten Gegenwartsmoment, in einer Gesellschaft des Spektakels, die die ewige Gegenwart predigt, in der Tat aus, um das geschlossene Imaginäre der Medienwirklichkeit, von dem Kamper sagt, es repräsentiere »die Omnipotenzphantasien einer infantilen Menschheit«24, zu unterbrechen? Wie können wir aber diese Logik des Zeichens, die der zerstückelten Körper, die bloßen Tauschwert besitzen, vermeiden? Für Baudrillard wäre nicht das Konsumieren der Körper-Zeichen das Ziel, sondern eine andere Form des Austauschs, in welcher der Körper nichts mehr symbolisiert: ein Austausch, in dem der Körper lediglich ist, ein Nullzustand des Körpers als Ort der Differenz. Ausgehend von Marcel Mauss’ Überlegungen zur Gabe, die er bei Naturvölkern beobachtet hat, betont Baudrillard das Prinzip der Gegengabe, das die Macht des Gebers über den Beschenkten auszubalancieren vermag. Der auf der Basis von Gabe und Gegengabe stattfindende ›symbolische Tausch‹ negiert nach Baudrillard die binäre Logik der Zeichenökonomie. »Das Symbolische ist das, was diesem Code der Disjunktionen und den getrennten Termini ein Ende setzt. Es ist die Utopie, die Schluß macht mit den Topiken von Seele und Körper, von Mensch und Natur, von Realem und Nichtrealem, von Geburt und Tod. In einer symbolischen Handlung verlieren beide Seiten ihr Realitätsprinzip.«25 Baudrillards Verständnis des Symbolischen unterscheidet sich signifikant von der Definition, die Lacan dem Begriff gibt. Stellt das Symbolische für Lacan die Ordnung der (sprachlichen) Zeichen dar, die gerade deshalb intersubjektiv zugänglich ist, weil die Zeichen an sich keinen Wert besitzen, zielt der Begriff des Symbolischen bei Baudrillard auf etwas Code-Loses ab, das paradoxerweise doch ›symbolisch‹ sein soll. Der Anknüpfungspunkt zu Baudrillards Verständnis liegt in der destruktiven Kraft der symbolischen Tauschhandlung, die schon Mauss in seinem Essai beobachtet hat.26 Gabe und Gegengabe sind keineswegs friedlichen Angelegenheiten, sondern sie ruinieren die in Beziehung tretenden Kollektive, die sich im Tausch gegenseitig bis zur Verausgabung zu überbieten trachten. Dies kann sogar bis zur gewalttätigen Destruktion der getauschten Güter führen. Im Tausch, der symbolisch geregelt ist, nähern sich die Partner über die Zerstörung der Güter und Zeichen, einem Aus-

23 | Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004, S. 37. 24 | Kamper, op. cit. S. 21. 25 | Ibid., S. 210. 26 | Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990, S. 43.

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tausch, der gerade über die Wertlosigkeit der Dinge funktioniert. Durch den permanenten Tausch verlieren beiden Seiten ihre Sicherheiten. Sie irrealisieren sich, um sich miteinander anders in Beziehung zu setzen. Es ist ein Prozess der ständig wiederholten Konstitution von Sozieät, die den Verlust dessen, was man ist und hat, einschließt. »Der symbolische Tausch ist die soziale Beziehung, die sich im permanenten Tausch zwischen Gabe und Gegengabe herausbildet: die Form unmittelbarer, wechselseitiger Stellvertretung, in der sich die Gemeinsamkeit konstituiert.«27 Baudrillard gibt ein Beispiel, wie der von ihm vorgeschlagene ›symbolische Tausch‹ als Destruktion von Sinn und Wert in unsere symbolische Ordnung und ihre kulturelle Ökonomie funktionieren könnte in seinem Kapitel über die frühen Graffitikünstler auf den New Yorker U-Bahnen. Er möchte dies aber nicht primär als Kunst sehen, sondern eher als Akt des sozialen und politischen Widerstands, eine Form von situationistischer Intervention in die Ordnung der Dinge. Da die einzige Botschaft der Sprüher lautet ›Ich bin hier; ich existiere‹, gibt es über sie hinaus keinen Tauschwert, keinen Überschuss an Bedeutung, der gehandelt werden könnte: es bleibt bei der reinen Geste, die ›etwas‹ eröffnet, anstatt etwas für etwas anderes zu sein.28 Dennoch ist auch diese reine Geste in Gefahr, Wasser auf die Mühlen des Systems zu liefern. Auch sie wurde vom Kunstmarkt besetzt, zum Zeichen von Urbanität und Widerstand erhoben, und einige ihrer Künstler, wie Keith Haring, wurden gar zu Stars des Kunstmarktes. Was uns hier begegnet, ist das, was Hal Foster in seiner BaudrillardLektüre ›Baudrillards Endspiel‹ nennt, weil wir in ihm »confront a total system in the face of which resistance is all but futile, for not only is the cultural commodified […] but the economic is now ›the main site of symbolic production‹«.29 Das Zusammenfallen des Ökonomischen mit dem Kulturellen, das Baudrillards zentrales Argument abgibt, lässt wenig Raum für Verhandlungen, weil man keine neutrale, dem System fremde Basis mehr hat, von der aus man operieren kann. Die zwei Verfahren, die traditionell zum Entschlüsseln des Codes benutzt wurden, sind laut Foster beide illusionär. [T]he move to reclaim the appropriated sign for its social group, may succumb to an idealism of the referent, of truth, meaning, use value (as if these things, once abstracted, can be readily restored); and the second practice, the move to remythify or rein-

27 | Gerd Bergfleth, »Baudrillard und die Todesrevolte«, in: Baudrillard, op. cit., S. 372. 28 | Ibid., S. 120-130. 29 | Hal Foster, Recodings. Art, Spectacle, Cultural Politics, New York: The New Press, 1999, S. 146.

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28 | Abwesenheit scribe the mass-cultural sign, may be compromised by a »fetishism of the signifier«.30

Beide zeigen eine ›Leidenschaft für den Code‹, also für die dominante binäre Zeichenlogik, der alle ihre Versuche, sie zu überwinden, verrät. In der Tat unterliegt hier Baudrillard seinerseits einem gewissen Binarismus, der die beiden Formen der Ökonomie totalitär macht. Der symbolische Tausch, der den Tauschwert der Zeichen zerstört, erscheint dabei lediglich als Negativ zum Positiv der symbolischen Ordnung herrschender kultureller Ökonomie.31 Wenn man jedoch den Code und damit den kulturellen Raum nicht als geschlossenes System begreift, sondern als »site of contestation, in and for cultural institutions, in which all social groups have a stake«,32 lässt sich der hegemoniale Code kultureller Repräsentation manipulieren. Er mag sich zwar nicht überwinden lassen im Sinne einer Ideologie der Überschreitung, da ein Körper auf der Bühne nicht umhin kann, ins Symbolische eingeschrieben zu werden, was bedeutet, dass er immer schon ein Zeichen eines Körpers ist – ein Zeichen aber, das sein eigener Referent ist. In der Kunst lässt sich die Logik des Austausch von Wert-Zeichen daher zumindest durcheinanderbringen, und eine neue Art von Austausch unter Vermeidung des Wert-Zeichens des Körpers kann stattfinden als Akt der Analyse von Zeichenproduktion oder als Akt des Widerstands gegen den dominanten Code. Aufgrund der Polyvalenz ästhetischer Zeichen, die gerade nicht einem eindeutigen Tauschwert gehorchen, sondern aufgrund ihrer sinnlichen Materialität Potentiale für die Rezeption eröffnen, vermag der ökonomisch-kulturelle Code suspendiert zu werden. Folgt man hier noch einmal Baudrillards Logik der Gabe und Gegengabe, resultiert aus der Logik der Zeichenzerstörung die Abwesenheit des Codes, der lediglich noch als Rahmung für die Situation Gültigkeit behält. In das Präsens der Tauschenden trägt sich über die Geste des Entzugs die Spur des Abwesenden, Toten in die Präsenz des Lebens ein. Hier rückt eine 30 | Ibid., S. 173-175. 31 | Daher kann Baudrillard zur Überwindung der kapitalistischen Ökonomie, die alles in Zeichen mit sie begleitenden Preisschildern verwandelt, nur eine Art Guerillakrieg mit terroristischen staatszersetzenden Akten vorschlagen, die das System mit seinen eigenen Waffen schlägt: »Denn auf den Tod kann nur geantwortet werden durch einen gleichen oder höheren Tod« (op. cit., S. 64). Will der Staat zurückschlagen, beraubt er sich seiner eigenen demokratischen Legitimierung. Der Terrorismus stellt also eine Situation her, in der die bestehende Macht nur noch das zurückgeben kann, was zu ihrer eigenen Zerstörung und zu ihrem eigenen Untergang führt (op. cit., S. 63-68). 32 | Foster, »Dancing Bodies«, op. cit., S. 146.

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andere, eine zweite Bedeutung der Abwesenheit ins Blickfeld. Sie beschreibt nicht mehr nur einen gesellschaftlichen Zustand, sondern sie wird paradoxerweise zur Strategie des Widerstands gegen die Abstraktion. Indem die Kunst durch die Abwesenheit hindurchgeht, sie aufgreift und bewusst zum Thema macht, wendet sie die Körper und Bilder gegen sich selbst. »Unter der Ägide des wahnhaft gewordenen unterwerfenden und unterworfenen Geistes«, so Dietmar Kamper, »hat die Kunst mit der historischen Unmöglichkeit des Körpers, der Materie, des Stoffs und des Anderen zu tun. Sie insistiert darauf, dass die künstlerisch spezifischen Absenzen nicht vergessen werden. Und es gibt Beispiele, dass ein solches Insistieren auf der Absenz Präsenzen in Hülle und Fülle erzeugt hat.«33 Die in der aktuellen ästhetischen Debatte vielbeschworene Präsenz wäre mithin nur ein Effekt der in der Kunst inszenierten Absenz. Diese soll daher in der vorliegenden Arbeit anhand von Beispielen, die Kamper in seiner Ästhetik der Abwesenheit nicht gibt, in den Mittelpunkt gerückt werden. Ich habe Baudrillards Sicht zeitgenössischer Körperpraktiken im Kontext einer globalisierten Ökonomie verwendet, weil sie eine gültige Analyse unseres gesellschaftlichen Umgangs mit dem Körper darstellt. Baudrillard beschreibt eine Logik der Entkörperlichung, mit der sich heute jede Kunstform, die sich mit dem Körper beschäftigt, konfrontiert sieht. Was kann schließlich zeitgenössischer Tanz, dessen Instrument der menschliche Körper und dessen Verfahrensweise die Bewegung ist, wie Martha Graham es einmal auf den Punkt gebracht hat, tun in einer kulturellen und ökonomischen Situation, in der Körper als Zeichen-Werte allgegenwärtig geworden sind? Welche Strategien der Vermeidung oder des Widerstands kann Tanz ins Spiel bringen? Einen Vorschlag dazu macht der österreichische Tänzer und Choreograph Phillip Gehmacher. Er tanzt in die Abwesenheit hinein.

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In the Absence: Philipp Gehmachers Sturz ins Vergessen

Ein schmales Band aus blauem Licht rahmt den Rand des Bühnenbodens.34 Dahinter, rechts in der dunklen hinteren Ecke, kann das Auge eine schwarz gekleidete Gestalt ausmachen, die mit dem Rücken zu uns steht. Rasch übertritt der junge Mann den Bühnenrahmen und begibt sich ins Bild. Doch was erwartungsgemäß der Auftakt eines Tanzstücks sein sollte, endet 33 | Kamper, op. cit. S. 121. 34 | Meinen Betrachtungen liegt die Vorstellung vom 28. Februar 2003 zugrunde, die ich im Mousonturm in Frankfurt am Main gesehen habe. Darüber hinaus wurde eine Videoaufzeichnung des Stücks zu Rate gezogen, die nicht datiert ist.

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30 | Abwesenheit noch bevor es begonnen hat. Der Tänzer schlägt laut krachend zu Boden und bleibt dort erst einmal eine Weile liegen. Ein unbewegtes, opakes Häufchen kauert dort in der Ecke, ein Punkt in unserer Wahrnehmung, die sich an das Halbdunkel im Inneren des Lichtrahmens noch nicht gewöhnt hat. Ebenso unvermittelt wie er gestürzt ist, setzt sich Phillip Gehmacher plötzlich auf. Mit dem Rücken zum Publikum, schaukelt er mit dem Oberkörper vor und zurück, den rechten Arm dabei hinter seinem Körper aufgestützt, bevor er sich auf den Bauch dreht, die Arme wie im Schlaf seitlich vom Kopf nach vorne geführt. Unvermittelt fängt er an, seine Hände schnell zu drehen, so dass seine Finger auf den Boden schlagen. Eine Erinnerung befällt seinen Körper. Er setzt sich erneut auf, legt sich wieder auf den Bauch ab, gerade so, als wollte er die Szene noch einmal von vorne anfangen. Doch diesmal zieht er seinen Körper auf die Unterarme gestützt aus den Schultern heraus mit hastigen kleinen Stößen nach vorne wie ein Soldat, der durch den Schlamm robbt. Seine Beine folgen seinem Oberkörper, sie werden einfach nachgezogen. Dreimal unterbricht Gehmacher seine Vorwärtsbewegung, als müsse er jedesmal wieder überlegen, was zu tun ist. Eruptiv und fast unkoordiniert wirkend, brechen Bewegungen aus seinem Körper hervor und schießen abrupt in den Raum. Doch bevor sie ihr vermeintliches Ziel, ihr Ende, erreicht haben, brechen sie ebenso unvermittelt, wie sie begonnen haben, wieder ab, als hätte der Tänzer vergessen, was er eigentlich tun wollte. Phillip Gehmacher hält inne. Er stützt sich auf seine Hände, stellt die Beine an und streckt seinen regungslosen Körper bei durchgedrückten Knien nach oben. Im Stand lässt er seinen Oberkörper rotieren, knickt ab und führt seine Arme dabei wild rudernd um seinen Kopf. Die rechte Schulter nach unten gezogen, torkelt er parallel zur Rampe nach links, wobei sein linker Arm nach dem Stillstand in der Luft hängen bleibt, als wäre er in der Bewegung erstarrt. Seine rechte Hand ruht inzwischen auf seinem Bauch. Gemessenen Schritts geht er im Halbkreis nach hinten links, rennt dann zurück und schlägt, wieder vorne angekommen, seitlich zu Boden. Auf die Hände gestützt, zieht er die Beine an seinen Körper heran und drückt sich in den Stand. Jetzt wiederholt er den Gang, führt ihn jedoch nach hinten rechts, wo er erneut hinfällt, sich aufrichtet und wild mit dem Oberkörper und den Armen zu rotieren beginnt, bevor er sich im Halbkreis nach vorne links zurückbewegt. Die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, dreht er sich verloren um die eigene Achse. Anschließend wiederholt er den Gang nach hinten links und zurück, wo er wieder seitlich hinschlägt. Doch sein Aufrichten ist diesmal langsamer. Oben angekommen, hebt er den linken Arm angewinkelt vor seinen Körper, hebt und senkt ihn selbstvergessen, bis er immer schneller wird, den rechten Arm hinzunimmt und seitwärts nach rechts torkelt, wo er erneut hinschlägt. Nachdem er sich aufge-

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richtet hat, nimmt er die Arme über den Kopf und stolpert nach hinten, wo er im Dunkel verschwindet.

Philipp Gehmachers Solo In the Absence ist 1999 am Londoner Laban Centre entstanden, wo Gehmacher sich 1998 für den Magisterkurs in ›Dance Studies‹ einschrieb. Bereits 1996 nach dem Ende seiner Ausbildung in zeitgenössischem Tanz an der London Contemporary Dance School hatte Gehmacher, der in Österreich geboren wurde, seine erste eigene Choreographie, Mumbling Fish, entwickelt. In the Absence ist seine zweite Soloarbeit, die ihm auf Tourneen durch Europa und Kanada internationale Aufmerksamkeit einbrachte. Das Stück lässt sich in vier Teile untergliedern, die jeweils von Musik begrenzt werden. Der erste, von mir beschriebene Teil, wird begleitet von spröder und düsterer elektronischer Musik von Peter Garland. Der zweite Teil, der die erste Hälfte des Bewegungsmaterials des ersten Teils in schnellerem Tempo fast karikaturhaft wiederholt, entfaltet sich zu Tangomusik von Goran Bregovic aus Emil Kusturicas Film Underground. Der dritte Teil spielt sich in Stille ab, wobei zu beobachten ist, dass im Laufe der Sequenz die Pausen zwischen den Bewegungen immer länger werden, bis nur noch Bruchstücke vorangegangener Armbewegungen übrig bleiben. Der Ein-

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32 | Abwesenheit druck von Orientierungslosigkeit, sowohl im Verhältnis des Tänzers zu seinem eigenen Körper, der immer wieder stürzt, als auch vom Körper im Raum, wird erweckt, bis Gehmacher zu Henry Purcells Arie »Remember Me« aus der Oper Dido and Aeneas (1689) langsam mit dem Rücken zum Publikum an der Bühnenrückwand nach rechts ins Off geht. Die Aufforderung, ihn zu erinnern, erfolgt in dem Moment, in dem der Tänzer im Dunkel der Bühne verschwindet. Es ist eine Aufforderung, das zu erinnern, was nach der halben Stunde, die das Stück dauert, in dieser Form unwiederbringlich verloren ist: der Tanz und der Körper des Tänzers, der ihn ausgeführt hat. Der Tanz ist nur im Modus der Abwesenheit gegeben. Gleichzeitig beschreibt die Textzeile aber auch das Verfahren, das Gehmacher zur Strukturierung seines Solos anwendet. Er unterbricht den linearen Fluss der Bewegung und stürzt sich und seine Choreographie dadurch immer wieder in Löcher, in Zonen der Unbestimmtheit, aus denen er sich erinnernd wieder befreit. Durch das Stocken entsteht ein Spiel mit der Wiederholung von Bewegungsmaterial, dem mit jeder Wiederholung notwendigerweise eine Differenz zugefügt wird. Wie wirkt das gleiche Material mit unterschiedlicher Musik? Wie entwickelt sich die Choreographie, wenn sie von verschiedenen Punkten im Raum ausgeht? »In some ways it’s always the attempt to go against my organic rhythm, to put ›holes‹ in the viewing so you can see the physicality differently«, beschreibt Gehmacher sein Verfahren.35 Die Löcher lassen die Körperlichkeit der Bewegung anders erscheinen, nicht zuletzt deshalb, weil sie die Zeit ins Spiel bringen. Jeder Neuanfang, der, weil er keiner zwingenden choreographischen Logik folgt, undeterminiert und überraschend scheint, wiederholt auch die frühere Zeitstelle, an der die Bewegung ausgeführt wurde. Dies führt zu einer Öffnung der linearen Zeitvorstellung, weil sich Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart zu einem dreidimensionalen Bild, einer Art Hologramm, verdichten, bis die Zeit selbst stofflich wird. »It refers back to time. Something doesn’t unfold over time, it unfolds, but while it does it also feeds back on itself and therefore is like a three-dimensional image rather than like a sentence which you understand the more you listen to it unfolding over time.«36 Die Wiederholung der Zeit führt zu einer Art Unverständlichkeit oder Unlesbarkeit der Bewegung, deren Bedeutung sich wie ein Stottern in der Wiederholung pulverisiert.37 Doch In The Absence macht die Lücke, die Abwesenheit, die sich zwi35 | Martin Hargreaves, »Not Whole but Holes«, in: Dance Theatre Journal 18 (Januar 2002), S. 20-24, hier: S. 23. 36 | Loc. cit. 37 | Zu diesem Verfahren vgl. Gerald Siegmund, »Mind the Gap«, in: Janine Schulze/Susanne Traub (Hg.), Moving Thoughts, Berlin: Vorwerk, 2003, S. 107-118.

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schen zwei Bewegungsphrasen auftut, noch auf einer anderen Eben zum Thema. Gehmacher unterteilt seinen Körper in Zonen der Bewegungslosigkeit und in Zonen der Bewegtheit. Es gibt Körperteile wie die Arme, die sich seiner Kontrolle zu entziehen scheinen, die sich unwillkürlich reflexhaft bewegen, während andere, wie die Beine, steif und regungslos bleiben. Dies legt eine Spaltung zwischen dem Tänzer als ausführendem Subjekt und seinem Körper als Material, als Objekt, das bewegt wird, nahe. Das Entgleiten der Bewegung und der damit einhergehende Kontrollverlust, der durch hilflose Versuche, etwa den auffahrenden Arm festzuhalten und in seine ursprüngliche Position zurückzuführen, verhindert werden soll, trennt den Körper von sich. Er zerfällt in einen Teil, der die Bewegung ausführt und in einen Teil, der die Bewegung als Objekt betrachtet. Der Körper führt die Bewegung zwar aus, aber er verkörpert sie nicht, weil er sich selbst fremd bleibt. Was hier inszeniert wird, ist kein selbstvergessenes Aufgehen des Körpers in der Bewegung, keine Präsenz, die sich über das erfüllte Einssein von Subjekt, Körper und Bewegung herstellt. Statt dessen macht Gehmacher jeden Neuanfang als Entscheidung sichtbar, eine Entscheidung, die einen neuen Akt und eine neue Handlung darstellt, sich in Raum und Zeit zu positionieren. Sein Körper begibt sich hinein in die Abwesenheit, um als ein sich und uns fremder daraus hervorzugehen.

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Abwesenheit als Unverfügbarkeit des Subjekts: Vergiftete Bilder

Man kann das Hinfallen und das Ausblenden des Körpers am Schluss des Stücks metaphorisch natürlich als Tod des Tänzersubjekts interpretieren, das sich über seine Bewegungen definiert, mithin als Tod in der Abwesenheit von sichtbarer Bewegung vor den Augen des Publikums. Doch durch das Aussetzen der Bewegung richtet sich das Augenmerk Gehmachers auf das jeweils erneute Hervorbringen der Bewegung und seines Körpers jenseits von deren Lesbarkeit. Das Auslassen von bestimmten tanzspezifischen Parametern wie dem Bewegungsfluss zugunsten einer Nichtlinearität scheint, so lässt sich die Ausgangshypothese jetzt präzisieren, eine andere grundlegendere Dimension von Abwesenheit offen zu legen, auf der Tanz immer schon fußt. Eine analytische Herangehensweise an den Tanz analysiert immer auch zugleich dessen Möglichkeitsbedingungen. Es fördert die Spezifik seiner Theatralität zutage, die in seiner ontologischen Abwesenheit und nicht in seiner Präsenz gründet. Die Präsenz des Tanzes muss, um dem bloßen Austausch von Informationen und Neuigkeiten, Stilen und Bewegungen im immerwährenden Präsens zu entkommen, den Umweg über die Abwesenheit gehen, um

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34 | Abwesenheit eine andere Form von Erfahrung, eine uneinholbare Erfahrung, wie sie der Tod darstellt, für Tänzer und Publikum zu ermöglichen. Stellte für Jean Baudrillard der symbolische Tausch eine Alternative zur symbolischen Zeichenstruktur dar, so war für ihn der symbolische Tausch definiert als »ein Tauschakt und eine soziale Beziehung, die das Reale beendet und auflöst; und zugleich löst es den Gegensatz von Realem und Imaginärem auf.«38 Die soziale Beziehung, die der symbolische Tausch artikuliert, löst die Opposition von Leben und Tod auf, wobei Baudrillard den Tod als das Imaginäre des Lebens und das Leben als das Reale des Todes auffasst. »Das Leben dem Tod zurückzugeben, darin besteht die Operation des Symbolischen«.39 Im Symbolischen, das nicht das gleiche ist wie das Symbolische der binären Zeichenordnung, sind Leben und Tod lediglich zwei Aspekte des gleichen Tauschakts, die sich in Gabe und Gegengabe aufheben. Auch hier schwingt bei Baudrillard die Vorstellung eines Unmittelbaren, Ungeteilten mit, gerade so, als stünde sein symbolischer Tausch in binärer Opposition zur sprachlichen Ordnung unserer Kultur, anstatt ein Spiel der Differenzen innerhalb ihrer Grenzen in Gang zu setzen. Verschwänden die Grenzen der Sprache, verschwände notgedrungen auch Baudrillards Vorstellung einer anderen Ökonomie. Nichtsdestotrotz erscheint der Tanz zur gesellschaftlichen Artikulation des Todes prädestiniert, weil er unaufhörlich vor unseren Augen stirbt und verschwindet. Er ist diesseits spezifischer Codes wie dem des Balletts oder der Technik einer Martha Graham als Bewegung keine Sprache. Es gibt keinen Code, der eine kleinste bedeutende Einheit von Bewegung als Signifikant einem Signifikat zuordnen würde. Vielmehr stellt er ein Feld der Eröffnung von verschiedenen Möglichkeiten zu sprechen dar, ein Feld, das immer schon von Sprache durchdrungen ist. Bewegung bedeutet daher nicht, sie wird gegeben. Im Vorgriff auf die folgenden Kapitel lässt sich in Abwandlung von Baudrillards Formulierung von der Auflösung der Gegensätze Folgendes formulieren: Der Tanz artikuliert den Tausch als realen Vollzug, als performativen Akt, der auf bestimmten imaginären Körpern und Körperbildern beruht, wie sie der auf je unterschiedliche Weise unmarkierte Körper hervorbringt, was wiederum zur Utopie einer anderen sozialen Beziehung, einer anderen symbolischen Ordnung werden kann. Wir haben es folglich nicht nur mit einem tanzenden Körper zu tun, sondern mit dreien, die sich überlagern. Wie Philipp Gehmacher suchen zahlreiche Choreographen und Tänzer, deren Ansätze und Projekte ich in diesem Buch vorstelle, einen Ausweg aus dem Spektakel, in dem sie den performativen Aspekt des Tanzes betonen. Kein selbstgenügsames Objekt und kein Produkt mehr herzustellen, son38 | Baudrillard, op. cit., S. 209. 39 | Ibid., S. 205.

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dern den Tanz als gesellschaftlichen Akt, als Handlung, sichtbar zu machen, erscheint vielen als erstrebenswertes Ziel ihrer Arbeit. Damit müssen sie den Tanz oder ganz bestimmte Parameter des Tanzes abwesend machen, um das Gesellschaftliche in seiner Konstitution beobachten und zeigen zu können. Damit einher geht die Überprüfung von Hierarchien und Entscheidungsprozessen während der Proben ebenso wie das Hinterfragen und Thematisieren der Beziehung »between products and systems of production in the field of theatre«, wie es Xavier Le Roy in bezug auf sein Stück Product of Circumstances formuliert hat. »So I was looking for a new approach in which the product and its production would be inseparable.«40 Die Gleichzeitigkeit von Produkt und Herstellung im Akt des Ausführens verweist auf den Live-Charakter der Aufführung und auf die Präsenz der Tänzer, deren Akte und Handlungen im Moment des Ausführens wieder verschwinden. William Forsythe spricht in diesem Zusammenhang gerne davon, dass das Ballett gar nicht existiert. In einer Tanzdarstellung aber gibt es nur die Gegenwart, man hat nichts anderes. […] [I]ch habe es mit einer anderen Ontologie zu tun und daher ist auch meine Beziehung zur Gegenwart ganz anders, möglicherweise viel akkurater, insofern ich mir meiner Sterblichkeit viel stärker bewusst bin. So ist jede meiner Darbietungen, ja sogar jeder Moment meiner Darbietung zugleich eine kleine Geburt und ein kleiner Tod, der in ihrer Erinnerung als Lebenszeit oder als Ballett zusammengehalten wird […]. Da wir jedoch alle ephemer und vergänglich sind, könnte man tatsächlich sagen, dass der Tanz eng verbunden ist mit der Idee des Menschen.41

Weil der Tanz keine Zeichen seiner Gegenwart im Sinne von Artefakten hinterlassen kann, muss er sich auf seine Gegenwart konzentrieren, die sein Tod ist. Nun ist es gerade das Beharren auf der Unwiederholbarkeit des performativen Aktes und der damit verbundenen Präsenz als letzter Bastion des Daseins, die Probleme aufwirft. Schon Forsythe eröffnet der reinen erfüllten Gegenwart in seinem Zitat eine andere Dimension, mit der sie unweigerlich verbunden ist: die der Abwesenheit, der Erinnerung und des Todes. »I like to hide, make uncertain that which takes place on stage […] and to extend that which I call the poetry of disappearance. People are always frightend that things will disappear. But life without death, light with40 | Jacqueline Caux, »Xavier Le Roy: Penser les contours du corps/Body Lines«, in: Art Press 266, S. 19-22, hier: S. 21. 41 | »Kultur im 21. Jahrhundert – Chancen und Zwänge«, in: 18. SinclairHaus-Gespräch. Brücken in die Zukunft – Museen, Musik und darstellende Künste im 21. Jahrhundert, Bad Homburg v.d. Höhe: Herbert-Quandt-Stiftung, 2002, S. 24-39, hier: S. 36.

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36 | Abwesenheit out obscurity, would be terrifying. Shadow is that which permits imagination.«42 Ähnlich argumentiert Jérôme Bel, wenn er in einem Interview sagt: »When we’re talking about theater, dance and the performing arts, we can’t deliberately ignore the ontological evidence of presence, of things existing in the here and now. But its quality must be challenged. For me, it’s not something that has to be accepted. This is why I deal with absence, disappearance and even death«.43 Für ihn ist das Theater das, was nach dem Tod kommt. Will man Präsenz und Abwesenheit nicht in ein binäres Oppositionsverhältnis setzen, wie es Bels Zitat nahe legt, kann man die Verbindung dieser beiden Aspekte auch anders formulieren. Das unausweichliche Beharren auf der Präsenz führt unweigerlich zu einem Raum der Abwesenheit, der in sie eingeschlossen ist und den der Tanz in seiner anthropologischen Dimension freilegen kann. Jede Entscheidung, innerhalb einer choreographischen Struktur durch strategische Abwesenheiten (des Tanzens selbst, von Tänzerkörpern, von dynamischen Phrasierungen, von Struktur) die Präsenz des Tanzes freizulegen, berührt, so scheint es, unweigerlich jene grundlegende Abwesenheit, die den Tanz erscheinen lässt. So führt Meg Stuarts Arbeit an körperlichen Zuständen, die den Körper aktuell mit nervöser Energie aufladen, zu einem gespenstischen Entleeren des Körpers, der als eigener und eigentlicher Körper abwesend ist. »I move a bit like a ghost that never arrives […] That I do not move but am moved, that the parts of my body move me. I throw my presence into space and it is thrown back at me.«44 Ähnlich wie Philipp Gehmacher begibt sich Stuart in den Raum zwischen dem Körper als handelndem Subjekt und dem Körper als Objekt und Material, das bearbeitet wird. In der Abwesenheit, die dieser Spalt der Vorstellung einer sich selbst gegebenen Präsenz zufügt, entfaltet sich ihr Tanz. Jedes Nachdenken über Tanz und seine Produktion muss diese zentrale Dimension der Abwesenheit in ihre Überlegungen einbeziehen, will es nicht im Sinne Baudrillards ein glänzendes Simulakrum der konsumierbaren Erfülltheit kommunizieren. Um dem geschlossenen Spektakel zu entgehen, begeben sich Künstler wie William Forsythe, Xavier Le Roy, Jérôme

42 | Roslyn Sulcas, »William Forsythe. The Poetry of Disappearance and the Great Tradition«, in: Dance Theatre Journal 9 (Januar 1991), S. 4-6 und 32-33, hier: S. 32. 43 | Laurent Goumarre, »Jérôme Bel: La perte et la disparition/Jérôme Bel: Can’t stop losing«, in: Art Press 266, S. 15-18, hier: S. 17. 44 | Gerald Siegmund, »I Move like a Ghost«, in: Florian Malzacher/Karen Knoll (Hg.), The Truth About The Nearly Real, Ausdruck 7, Frankfurt am Main: Mousonturm Publication, 2002, S. 30-32, hier: S. 31.

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Bel, Meg Stuart, La Ribot, Philipp Gehmacher, Vincent Dunoyer, Jonathan Burrows und Raimund Hoghe auf das Feld der Abwesenheit, das sie auf verschiedene Arten und Weisen bearbeiten. Damit verbunden sind die von Xavier Le Roy aufgeworfenen Fragen der Repräsentation von Körpern und deren Sichtbarkeit im Feld des Theaters. Mit dem Leitbegriff der Abwesenheit und seiner Verbindung zum Tod soll keineswegs einer schwindsüchtigen Todessehnsucht das Wort geredet werden. Worum geht es also? Es geht darum, mit dem Tod das dem menschlichen Subjekt radikal Unverfügbare als Horizont des Tanzes zu eröffnen. Vor dem Horizont der ultimativen Abwesenheit eröffnet sich den Rezipienten in der Kunst eine Welt, in der er oder sie auf unterschiedliche Arten und Weisen nicht vorkommen. Die Körper, die sich in den diskutierten Tanzstücken präsentieren, sind als Alterität zu definieren und zu betrachten. Sie geben dem Subjekt von der Bühne her keine Garantie für die eigene geschlossene Identität; in manchen Fällen, wie bei Xavier Le Roy, spiegeln sie das Subjekt nicht einmal mehr, sondern stellen es infrage, indem sie es befragen. In diesem Sinne sind die gezeigten Körper vergiftete Bilder, die sich gegen ihren Konsum und ihre Einverleibung wehren.

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Methodische Überlegung: Der begehrende Körper

In der heterogenen Landschaft der Tanzforschung hat sich in den vergangenen Jahren die Tendenz durchgesetzt, Tanz und Bewegung nicht mehr als authentischen Ausdruck menschlicher Subjektivität zu begreifen. Der Körper hört auf, Instrument und Refugium einer inneren Subjektivität zu sein, sein Tanz ist nicht mehr länger das leuchtende Symbol allgemeiner und tiefer menschlicher Wahrheiten, die sich mit Hilfe der Sprache nicht ausdrücken lassen. Im Gegenteil. Sowohl die Bewegung als auch der Körper des Tänzers oder der Tänzerin erscheinen nicht mehr länger als naturgegeben, sondern als vielfach kulturell und diskursiv geprägt und hervorgebracht.45 Tanz wird als Text verstehbar und lesbar, der Bedeutung durch bestimmte Mittel und Verfahrensweisen erzeugt. »We can look, on the one hand«, formuliert Susan Leigh Foster ihren Ansatz, den sie »Reading Dancing« nennt, »at the choice of movement and the principles for ordering that movement and, on the other, at the procedures at referring to or representing worldly events in danced form. That is to say, we can begin to ask

45 | Für eine Übersicht über die verschiedenen Tendenzen und Ansätze vgl. Gabriele Klein/Christa Zipprich, »Tanz Theorie Text: Zur Einführung«, in: Gabriele Klein/Christa Zipprich (Hg.), Tanz Theorie Text, Jahrbuch Tanzforschung 12, Münster: LiT Verlag, 2002, S. 1-14.

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38 | Abwesenheit how any dance means what it does.«46 Diesem Wie ist auch die vorliegende Arbeit verpflichtet. Im Bereich der ästhetischen Betrachtung von Tanz als Bühnenkunstform, um die es mir in der vorliegenden Arbeit allein zu tun ist, haben sich im deutschsprachigen Raum zwei Richtungen durchgesetzt, die Tanz als Text verstehen möchten: ein dem strukturalistischen und ein dem poststrukturalistischen Textbegriff nahestehender Ansatz. Rücken bei ersterem die Gesetze interner Strukturierung von Bewegung ins Blickfeld, die der Analyse der Bewegung als dem ›Eigentlichen‹ des Tanzes Raum geben sollen, zielt letzterer auf die Repräsentation von und den Umgang mit kulturellen Mustern im Tanz. Claudia Jeschke, dem ersten Ansatz verpflichtet, argumentiert in ihrem Buch Tanz als BewegungsText für eine kulturstiftende Funktion von Bewegung. In Zuspitzung der These von Graham McFee, dass das Tanzwerk keine Sprache ist, geht sie davon aus, dass die Bewegung keine Sprache ist.47 Folglich entstehen Bedeutungen immer nur im Kontext der Bewegung selbst und sind von den Interessen und dem Blickpunkt des Betrachters abhängig. Derart situativ verankert, versteht Jeschke Bewegung immer schon zwischen Hervorbringung und Rezeption. Als derartiger Text ist sie Teil einer Kultur, die sie als Aktion und damit als Handlung mitschreibt, indem sie ein Potential für Interpretation zur Verfügung stellt. Bewegung ist kein additives Verfahren einzelner Körperteile, sondern simultan immer schon als Ganzes gegeben. Folglich versucht sie, in ihren Analysen den »Sitz der Bewegung« im Körper aufzuspüren, wobei sie nicht davon ausgeht, »dass die Konstituenten, die das Sich-Bewegen auslösen, notwendigerweise denen entsprechen, die die Erscheinungsform der Bewegung bestimmen.«48 Die Bedingungen, die der Bewegungsapparat an den Körper stellt, bezeichnet sie als »motorische Aktivitäten«, wovon sie vier unterscheidet, die sich noch einmal in je zwei Kategorien unterteilen lassen: Mobilisieren (Selektion als Auswahl der Körperpartien, Delegation als Anordnung der Abfolge im Körper), Koordinieren (Artikulation der Bewegung aus den Gelenken und deren räumlicher Verlauf), Belasten (Beibehalten oder Wechseln) und Regulieren (Energieaufwand und Energieverteilung).49 Traditionelle Kategorien wie Raum und Zeit werden in Jeschkes Modell als »äußere, sekundäre Systeme« betrachtet und außen vor gelassen.50 46 | Susan Leigh Foster, Reading Dancing. Bodies and Subjects in Contemporary American Dance, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1986, S. xvii. 47 | Claudia Jeschke, Tanz als BewegungsText, Tübingen: Niemeyer, 1999, S. 8. 48 | Loc.cit. 49 | Ibid., S. 47. 50 | Ibid., S. 48.

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Die Einsicht, dass Bedeutung im Tanz nicht linear zwischen Signifikant und Signifikat etabliert wird, sondern aus dem Feld der Beobachtung selbst resultiert, teilt auch Peter M. Boenisch in seinem Buch KörPERformance 1.0. Darin entwickelt er in Anlehnung an Janet Adsheads Dance Analysis. Theory and Practice einerseits ein aufführungsanalytisches Modell für auf dem Theater verwendete Körperzeichen.51 Dabei unterscheidet er fünf Untersuchungsebenen, von denen die systematisch-deskriptiven im Wesentlichen auf die Effort-Shape Lehre von Rudolf von Laban zurückgreifen.52 Das System der Körperzeichen unterteilt sich in Körperaktion, Geste und Figurationen. Die Ebene der Konstitution der Körperzeichen beschreibt die Selektion der Körperteile sowie die räumlichen und dynamischen Bewegungsqualitäten. Auf der Ebene der Konkatenation werden die Elemente synchron und diachron zu einem Syntagma verbunden. Auf der Ebene der Signifikation von Körperzeichen rücken Kommunikationsmodelle zwischen Zuschauer und Akteur ebenso in den Blick wie der Präsentationsmodus der Körperzeichen. Die Ebene der Interpretation rekurriert schließlich auf die Kompetenz des Rezipienten, sowie auf kulturelle und kunstspezifische Kontexte, Stile und Gattungen, die zum Verständnis der Zeichen beitragen. Boenischs Systematik basiert auf der einen Seite auf einem grundlegenden semiotisch-strukturalistischen Ansatz. Auf der anderen Seite geht er in seiner Studie darüber hinaus, indem er ihn in den Horizont aktueller Medientheorien rückt. So argumentiert Boenisch für eine veränderte Bedeutungskonstitution, die er als »Navigation«, als ein Treiben ins Offene der Bedeutung, beschreibt.53 Im Unterschied zur herkömmlichen linearen Konstitution von Bedeutung in der Relation von Signifikant und Signifikat bewegt sich der Zuschauer hierbei navigierend durch ein Netzwerk von Körper- und anderen Theaterzeichen und verbindet mosaikartig dieses mit jenem. Gerade weil die Körperzeichen »explizit als dynamische, äußerst flexible Zeichen verstanden« werden, »die sich jeglicher Kodifizierung und Lexikalisierung entziehen« können sie als paradigmatisch für das postdramatische Theater gelten.54 Das Verstehen des Zuschauers beim Navigieren

51 | Peter M. Boenisch, KörPERformance 1.0. Theorie und Analyse von Körper und Bewegungsdarstellungen im zeitgenössischen Theater, München: ePodium, 2002; Janet Adshead (Hg.), Dance Analysis. Theory and Practice, London: Dance Books, 1988. 52 | Für einen kurzen Überblick über die Entwicklung des Laban-Systems vgl. Jeschke, op. cit., S. 20-35. 53 | Boenisch, op. cit. S. 79. 54 | Peter M. Boenisch, »Tanztheorie und Sprechtheater. Perspektiven der Analyse von Körperzeichen im zeitgenössischen Theater«, in: Claudia Jeschke/ Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung, Berlin: Verlag Vorwerk, 2000, S. 16-29, hier: S. 17.

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40 | Abwesenheit gleicht so eher dem Überprüfen einer Hypothese am Bewegungsmaterial, das als Maßstab dient, als einer letztgültigen Interpretation. Der Zuschauer wird auf diese Art zum Performer, der sich aktiv durch den Bewegungstext bewegt, um in actu Bedeutung zu erzeugen.55 Aus der Offenheit des Textes wie der Bedeutungskonstitution heraus formuliert Gabriele Brandstetter ein anderes Modell der Tanz-Lektüre, das von der prinzipiellen rhetorischen Verfasstheit des Tanz-Textes ausgeht. Nicht mehr die reine Bewegung steht dabei im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern deren figurale Ausprägung. Im Tanz werden bestimmte kulturelle Muster aufgerufen, die im Gedächtnis einer Kultur gespeichert sind. Diese Muster betreffen den Umgang mit dem Raum, den so genannten »Toposformeln« und die Gestaltung bestimmter Körperbilder, in denen Affekte als »Pathosformeln« lesbar werden. Brandstetter versteht Bewegung als körperliche Schrift, die uneinholbar ist, weil sie einerseits Sinn eröffnet und ihn qua Flüchtigkeit der Bewegung andererseits gleichzeitig abdriften lässt. Ihr Text ist mithin kein abgeschlossenes Produkt, sondern er entsteht im Lektüreprozess der körperlichen Zeichen durch den Rezipienten. Die Umschrift von »écriture« in »lecture« markiert, daß hier nicht die produktionsästhetische Perspektive der Schrift, sondern die wahrnehmungs- und wirkungsästhetische Seite der wechselnden Konfiguration in den Blick gerückt ist. Der Entzifferungsprozeß der Körper-Zeichen, ihrer Ikonographie und ihrer Organisationsstruk-

55 | Allerdings ist fraglich, ob die Kritik an der Semiotik, der es ja um Bedeutungskonstitution zu tun ist, im Hinblick auf künstlerische Texte gerechtfertigt ist. Gerade ästhetische Texte erschweren die Bedeutungskonstitution, indem sie zwischen Signifikant und Signifikat einen Spalt und eine zeitliche Verzögerung einfügen. Bedeutung wird schon in literarischen Texten und besonders in Aufführungstexten, wie sie Erika Fischer-Lichte definiert, nicht linear, sondern relational über ein Netz von Signifikanten etabliert. Auch Boenischs an die Medientheorie angelehnte Theorie der »Bedeutungsvermittlung als Performance« (Boenisch, KörPERformance, op. cit., S. 54) will daher nicht so recht neu erscheinen. Schon die Literaturwissenschaft hat in den siebziger Jahren den Leser entdeckt und diesem, wie es Wolfgang Iser am paradigmatischsten entwickelt hat, im Text einen »wandernden Blickpunkt« verschafft, der ihn als Akteur in den Text impliziert. Durch den »wandernden Blickpunkt« erhält er die Möglichkeit, mit jedem Durchgang durch den Text unterschiedliche Teile zu verbinden und damit auch unterschiedliche Bedeutungspotentiale zu realisieren. Das, was Boenisch als »eine von elektrONischen Signifikationsprinzipien bestimmte neue Epoche theatraler Kommunikation« (S. 289) beschreibt, basiert noch in einem viel stärkeren Maße, als Boenisch dies selbst mit der Vorstellung eines »Updates« der Schriftkultur meint, auf der guten alten Gutenberggalaxis, S. 84-85.

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I Tanz in der Gesellschaft des Spektakels | 41 turen – gleichsam der Lesarten einer Grammatik der »écriture corporelle« – steht hier im Mittelpunkt.56

Brandstetters Figur-Begriff zielt in der Folge deshalb nicht auf das Wiedererkennen eines festgefügten unabänderlichen Schemas. Vielmehr beinhaltet er immer schon seine eigene De-Figuration, die in seiner performativen Qualität gründet, seine »transformatorische, inversive und konfigurative Eigenschaft.«57 Figur wird so selbst zur Szene einer wahrnehmungsästhetischen und wissenstheoretischen Auseinandersetzung.58 Durch den allgemeinen Schriftbegriff wird der Tanz nicht nur als Bewegungstext aufgefasst, sondern auch als theatraler Text, der Zeichen des Raumes ebenso umfasst wie die in ihn eingeschriebenen Blickkonstellationen. Tanz wird so prinzipiell anschließbar an andere kultur- und literaturwissenschaftliche Kontexte. Die an der Dekonstruktion geschulte Theorie Brandstetters impliziert eine Subjektposition, die in ihrer Konzentration auf die figura, die Schrift und den Lektüreprozess allerdings latent bleibt. Konzentrieren sich Jeschke und Boenisch auf das Subjekt der Bedeutungskonstitution, mithin auf ein rational operierendes Subjekt, legt Brandstetter mit Roland Barthes die Vorstellung eines dezentrierten Subjekts nahe. Um dieses Subjekt, das Brandstetter nicht explizit ausspielt, soll es in der vorliegenden Arbeit in erster Linie gehen.59 Es ist das Subjekt des Begehrens.

56 | Gabriele Brandstetter, Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt am Main: Fischer, 1995, S. 21. 57 | Gabriele Brandstetter/Sibylle Peters (Hg.), de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München: Fink, 2002, S. 10. 58 | Ibid., S. 13. 59 | Die vorliegende Arbeit hat nicht zum Ziel, aufführungsanalytische Kriterien vor einem semiotischen Hintergrund zu entwickeln. Sie will vielmehr Fragen an den Tanz entwickeln, die seine Wirkung auf verschiedenen Ebenen in den Blick bekommen können. Die Grenze eines aufführungsanalytischen Verfahrens wird bei Jeschke und Boenisch in diametral entgegengesetzter Weise deutlich. Untersucht Jeschke ihre Fallbeispiele aus dem Tanztheater und dem Gesellschaftstanz zwischen 1910 und 1965 streng nach dem von ihr zusammen mit Cary Rick entwickelten System der »Inventarisierung von Bewegung (IVB)«, bleibt sie uns letztlich die Interpretationsansätze der inventarisierten Bewegungen schuldig. Umgekehrt unterschlägt Boenisch bei seinen Analysen des belgischen Körper-Theaters der 1980er und 1990er Jahre sowie bei Robert Wilson, Etienne Decroux und der britischen Gruppe DV8, die Kategorien, die er vorher in enger Anlehnung an Rudolf von Laban mühsam aufgestellt hat. Ohnehin nur als idealtypisches Modell gedacht, dessen Parameter gerade nicht »obligatorisch abzuarbeiten und lediglich abzuhaken wären« (Boenisch, KörPERformance, op. cit., S. 152), stellt sich die Frage nach dem Erkenntnisge-

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42 | Abwesenheit An die Stelle lesbarer oder defiguriert-unlesbarer Körper mitsamt ihren Pathosformeln tritt hier der begehrende Körper der an einer Tanzaufführung beteiligten Subjekte. Dies ist naheliegend, geht es dem Bühnentanz, wie Claude-François Ménestrier schon 1682 festgehalten hat, doch um den körperlichen Ausdruck und die Darstellung der Leidenschaften sowie der Bewegungen der Seele.60 Im Tanz geht es um Affekte, die einerseits das zwischenmenschliche Verhalten bestimmen, andererseits aber auch das Subjekt selbst umtreiben auf eine Art, die das Publikum affizieren soll. Die vorliegende Arbeit ist auch eine mögliche Antwort auf ein Desiderat der Forschung in bezug auf die Frage nach dem Subjekt der Rezeption. So ist die theaterwissenschaftliche Literatur seit ihrer performativen Wende damit beschäftigt, das Subjekt der Bedeutungskonstitution abzulösen durch ein Subjekt, das im Akt der Rezeption sinnlich affiziert wird. Eine explizite Theorie des Subjekts, das weiterhin eine Leerstelle der Reflexion bleibt, liegt ihnen in den meisten Fällen jedoch nicht zugrunde.61 Stillschweigend wird so weiterhin von einem einheitlichen, ungespaltenen Subjekt ausgegangen, bei dem die Fähigkeit zur Verstehensleistung lediglich durch die zur sinnlichen Erfahrung ergänzt oder abgelöst wurde. Der Vorstellung eines begehrenden Körpers, wie ich ihn hier vorschlage, liegt eine psychoanalytische Subjekttheorie zugrunde, die das Subjekt im Hinblick auf den Tanz auf drei Ebenen ansiedelt. Daniel Sibony nennt sie die drei »supports pulsionels«.62 Diese drei Triebstützen, die das Subjekt selbst zu einem Ort der Auseinandersetzung und der Heterogenität von subjektiven Wünschen und kulturellen Ansprüchen machen, bringen drei verschiedene Körper ins Spiel und miteinander in Beziehung. Sibony beschreibt dieses Dreieck wie folgt: Ce triangle, je l’ai retrouvé devant une danse; un triangle du même ordre: il y avait le corps voyant ou spectateur – la foule, vous – et le corps dansant (solitaire ou pluriel, incluant le chorégraphe qui fait corps avec les danseurs et prolonge par leur danse les limites de son corps), et il y avait le pôle de l’Autre, qu’on invoque dans les danses sacrées mais qui est là de toute façon; c’est le foyer incandescent où se puise le créawinn einer solchen rigiden Systematisierung, wenn sie gar nicht eingesetzt wird, jenseits einer notwendigen Schärfung des Blicks. 60 | Claude-François Ménestrier, Des ballets anciens et modernes, selon les regles du théâtre, Paris: René Guignard, 1682; »le secret d’exprimer les passions & les mouvements de l’âme«, S. 171. 61 | Eine Ausnahme bildet aus phänomenologischer Sicht der Aufsatz von Jens Roselt, »Erfahrung im Verzug«, in: Fischer-Lichte, Erika/Risi, Clemens/Roselt, Jens (Hg.), Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, Berlin: Verlag Theater der Zeit 2004, S. 27-39. 62 | Daniel Sibony, Le corps et sa danse, Paris: Seuil, 1995, S. 132.

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I Tanz in der Gesellschaft des Spektakels | 43 tion; le source d’altérités … Et le triangle s’ébranle, ça vibre: le corps dansant convoque le foule en quête de l’Autre-polarité, de l’Autre qui n’a pas de corps palpable mais qui est une présence: celle de l’être comme origine de ce qui est, comme déclenchement de langage, de mémoire; support de ce par quoi l’être excède tout ce qui est, et notamment excède le corps.63

Der tanzende Körper trifft in der Aufführung den zuschauenden Körper, die sich beide vor einem dritten Körper präsentieren, den Sibony den Anderen nennt. Abgeleitet von der sakralen Funktion des Tanzes, ist dieser Andere zwar nicht mehr Gott, für den getanzt wird. Er bleibt dennoch der Ermöglicher der Schöpfung, weil er Sprache und Gedächtnis auszulösen vermag, letztlich also den Horizont absteckt, in und vor dem immer schon getanzt wird und vor dem Tanz immer schon verstanden und gedeutet wird. Der Tanz gibt in diesem Sinne kulturellen wie individuellen Erinnerungen einen Raum, in dem sich das tanzende und das zuschauende Subjekt begegnen und verfehlen können. In unserer säkularisierten Gesellschaft scheint die Position des Anderen als dem Heiligen verwaist, und doch bleibt dessen Funktion als Gesetz, das sich durch Verbote etabliert, weiterhin virulent. »[D]as Heilige, sprich das Heterogene«, paraphrasiert Helga Finter Stéphane Mallarmé, »habe keinen öffentlichen Ort mehr, es habe sich in die Sprache, die Schrift zurückgezogen.«64 Sibony geht von einer Präsenz dieses Anderen aus, wohingegen ich die von Sibony angesprochene körperliche Abwesenheit des Anderen als dessen in ästhetischer Sicht grundlegendes Prinzip betrachten möchte, das den Tanz auslöst. Und zwar in dem bestimmten Sinn, dass diese körperliche Abwesenheit des Anderen auf die Unfähigkeit der Sprache verweist, sich als Ganzes zu repräsentieren. Weil Sprache überall ist, ist sie gleichzeitig auch nirgends, bleibt ein Moment der Unfassbarkeit für das (tanzende) Subjekt, das sich in ihr als individuelles mit seinem Körper, seinen Triebregungen artikulieren muss. Aus dieser Abwesenheit heraus, die das Subjekt in Bewegung setzt, um dem Körper seinen Platz in der symbolischen Ordnung der Kultur mit ihren Gesetzen zu suchen, resultiert der Tanz. Der tanzende Körper bewegt sich in der symbolischen Ordnung, die das Theater repräsentiert, stets innerhalb der Dimension der Sprache und doch zugleich ortlos auf sie hin. Die Konzeption des begehrenden Körpers geht davon aus, dass die Körper der am Tanz beteiligten Subjekte immer schon sprachlich-diskursiver Natur sind. Im Gegensatz zu semiotischen Ansätzen macht eine solche Theorie aber auch deutlich, dass im Tanz eine Auseinandersetzung stattfindet zwischen dem 63 | Ibid., S. 114. 64 | Helga Finter, Der subjektive Raum Band 1. Die Theaterutopien Stéphane Mallarmés, Alfred Jarrys und Raymond Roussels. Sprachräume des Imaginären, Tübingen: Gunter Narr, 1990, S. 3.

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44 | Abwesenheit tanzenden Körper und der Ordnung der Sprache, in die er eingebettet ist und auf die er gleichzeitig doch zielt, um seinen Platz in ihr zu finden. Das Subjekt, das hier vorgeschlagen wird, ist ein von der Sprache abhängiges und ein ihr unterworfenes Subjekt. Und doch ist der Ort der subjektiven Auseinandersetzung mit der (sprachlichen) Ordnung der Kultur, der Körper des Subjekts, der keiner anderen oder separaten Sphäre angehört. Ist der Körper immer schon sprachlich, so ist die Sprache immer schon körperlich und nie rein geistig. Sie produziert Körper, und Körper treten mit ihr über die Register des visuellen, akustischen und haptischen in Widerstreit. Aus dem Zitat von Sibony lassen sich zudem Hinweise entnehmen, wie der tanzende Körper zu denken ist. Hierbei scheint es sich nicht nur um einen oder mehrere reale Köper zu handeln. Indem Sibony den Körper des Choreographen ins Spiel bringt, der sich auf die Bühne ausdehnt und seine Grenzen erweitert, geht er von einem imaginären Körper aus, der nur partiell mit jenen Körpern aus Fleisch und Blut übereinstimmt. Als phantasmatischer Körper verdeckt er den anatomischen Körper, von dem er immer schon Besitz ergriffen hat, weil der tanzende Körper sich immer nach Maßgaben einer bestimmten Technik und der mit ihr verbundenen Werte und Ideologien ausrichtet. Jeder Körper ist mithin immer schon ein imaginäres Modell des Körpers. Der Tanz bringt diese phantasmatische Verfasstheit des Körpers auf die Bühne und setzt ihn damit den Blicken zuschauender (und zuhörender) Körper aus. Es wird stets für jemanden getanzt, und es wird auf eine bestimmte Art und Weise getanzt, um Publikum wie Tänzern die Erfahrung eines anderen Selbst zu ermöglichen. Der Bühnentanz bringt demnach jene drei psychischen Instanzen ins Spiel, die Jacques Lacan als symbolisch, imaginär und real bezeichnet hat. Diese erzeugen drei verschiedene Körper, die den begehrenden Körper ausmachen. Zwischen diesen drei Registern kommt es jedoch zu keiner Deckung. Der Abstand zwischen den einzelnen Instanzen und ihre oft paradoxe Verstricktheit erzeugen Leerstellen und blinde Flekken, die die tanzenden Subjekte auszeichnen. Die hier zugrundegelegte Theatertheorie, die Helga Finter in den Begriff des »subjektiven Raums« gefasst hat, geht davon aus, das das Subjekt im Theaterraum nicht länger dargestellt und repräsentiert werden kann. Er wird zum Ort der räumlichen Projektion eines Subjekts, das sich im performativen Prozess anhand spezifischer Signifikantenketten überhaupt erst herausbildet. Das Symbolische, das als begrenzt erfahren wird, wird durch den Versuch der Integration eines Imaginären analysiert und erweitert.65 Eine solche Theorie scheint für eine Theorie des Tanzes geradezu zwingend. Handelt es sich im Tanz doch 65 | Helga Finter, op. cit., S. 1-20; Helga Finter, »Disclosure(s) of Representation: Performance hic et nunc?«, in: Herbert Grabes (Hg.), REAL 10 – Aesthetics and Contemporary Discourse, Tübingen: Gunter Narr, 1994, S. 153-167.

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stets um Subjekte in Bewegung, um Subjekte, die sich durch Bewegung konstituieren, indem sie sich mit jeder neu anhebenden Bewegung wieder verlieren. Der Raum des Subjekts wird gleichsam mit jeder Bewegung erneut ausgehoben als dynamischer Raum, der dem Subjekt erst einen Ort gibt, von dem aus es sprechen können wird. Die Bewegung ist, diesseits ihrer spezifischen Codifizierungen in Tanztechniken, keine Sprache. Sie ist, obwohl sie sich immer in ihr befindet, Geste auf diese hin. Der Weg, den das Subjekt zu diesem Ort zurücklegen wird, ist sein Tanz. Tanz ist Abwesenheit, die mit jeder Bewegung wiederholt und wiedergeholt wird. Aufgrund der radikalen Flüchtigkeit des Tanzes kann man anstatt von einer »Produktion von Präsenz«, wie es Gumbrecht tut,66 von einer Produktion von Absenz sprechen. Doch mehr noch als diese für alle darstellenden Künste geltende Feststellung meint Absenz hier noch etwas anderes. Der Begriff zielt zum einen auf den Riss in der symbolischen Ordnung, der die Körper in Bewegung auf diesen unmöglichen Ort versetzt. Weil sie im Symbolischen mit ihrem Begehren nach Anerkennung nie ganz aufgehen können, setzt eine Produktion von imaginären Körpern und Körperbildern ein, deren Residuum wiederum ein den Körper konstituierendes Abwesendes ist. Entgegen der Rede von der Flüchtigkeit des Tanzes steht auf dieser Ebene seine Dauer und Dauerhaftigkeit in Form des Körpergedächtnises. Denn der Körper akkumuliert aufgrund strukturbildender muskulärer und gelenktechnischer Verbindungen Wissen, das als Potentialität, Möglichkeit und Handlungskraft im Imaginären ausgespielt werden kann. Dieses Potential ist nicht einfach phänomenologisch gegeben. Es ist nirgendwo verortbar, sondern als Abwesendes, als Spur in den Muskeln, Nervenbahnen und Gelenken der Körper angelegt. Diese Abwesenheit wird von den hier behandelten Choreographen auf je spezifische Weise inszeniert. Sie legt ihren Schatten gespenstisch über die Szene, um die verschiedenartigen Bilder, die dort zu sehen sind, durchzustreichen. Vor dem Hintergrund einer inszenierten Abwesenheit öffnen sich die Bilder auf jene uneinholbare Abwesenheit, die der Tod als ihr Reales ist. In Auseinandersetzung mit den radikalen Körperexperimenten der Body Art der 1970er Jahre formuliert Josette Féral: »Performances as a phenomenon worked through by the death drive: this comparison is not accidental.«67 Die zahlreichen realen oder medial erzeugten Verwundungen oder gar Zerstückelungen des Körpers in Performances von Vito Acconci oder Hermann Nitsch legen für Féral den Vergleich mit dem Todestrieb nahe. Allerdings steht der Todestrieb hier nicht für die Auslöschung des Körpers, sondern, dem ägyptischen Osiris-Mythos oder dem antiken Dionysos-Mythos gleich, für dessen Er66 | Vgl. Fn. 17. 67 | Josette Féral, »Performance and Theatricality: The Subject Demystified«, in: Modern Drama 55 (1982), S. 170-184, hier: S. 172.

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46 | Abwesenheit neuerung. »The body is not cut up to negate it, but in order to bring it back to life in each of its parts, which have, each one, become an independent whole.«68 Der Todestrieb bringt den Körper zurück ins Leben, er macht ihn zu einem begehrenden Körper. Schon bei Freud ist er jenes Prinzip, das das werdende Subjekt aus seinem Solipsismus reißt, indem er das selbstgenügsame Lustprinzip durchbricht und das Subjekt zwingt, sich überhaupt der Realität zuzuwenden und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Er entzündet sich an einem begehrten, verdrängten Objekt, das einerseits den Bezug zur Wirklichkeit überhaupt erst herstellt, andererseits ihn aber auch durch ewiges verfehltes Wiederholen verstellt.69 Abwesenheit zielt mithin auf allen drei von Sibony ins Spiel gebrachten Ebenen auf das dem Subjekt Unverfügbare. Gerade daraus jedoch ziehen die Stücke ihre kritische, weil analytische Funktion. Anstatt die Bilder im Imaginären abzuschließen und zu versiegeln, damit sie ›schön‹ konsumierbar und verwertbar werden, entzieht sie die Kategorie der Abwesenheit dem bloßen Gefallen. Spricht Sibony vom Tanz als Sprache und Gedächtnis Auslösendes, so legt er damit auch einen anderen Zeitbegriff der Aufführung nahe. Nicht mehr allein die durch die Ko-Präsenz von Darstellern und Zuschauern gestiftete Gegenwart, in der sich etwas ereignet, stellt das Zeitkriterium der Aufführung bereit. Vielmehr wird durch Erinnerung Abwesendes ins Spiel gebracht, das die Zeit aus den Fugen bringt. »Präsens ist notwendig Aushöhlung und Entgleiten der Präsenz«, formuliert Hans-Thies Lehmann den Umgang mit der Gegenwart im postdramatischen Theater. »Es bezeichnet ein Ereignis, das das Jetzt entleert und in dieser Leere selbst Erinnerung und Antizipation aufleuchten lässt. Präsens ist nichts, was sich konzeptuell fassen lässt, sondern ein mitzuvollziehender Prozess fortwährender Selbstteilung des Jetzt in immer neue Splitter aus ›eben noch‹ und ›gleich jetzt‹. Es hat mehr mit dem Tod als dem vielberufenen ›Leben‹ des Theaters zu tun.«70 »Präsentische Identität« wird demnach erfahren »als Abwesenheit, Bruch und Entzug, als Verlust, Vergehen, Nichtverstehen, Mangel, Schrecken. Entzug erst mobilisiert die emotionale Intensität von Präsenz.«71 Tanz gibt der Abwesenheit Raum. Die Repräsentation spren-

68 | Loc.cit. 69 | Slavoj Zizek radikalisiert diese Vorstellung, wenn er sagt, dass der Bezug zum Objekt die Wirklichkeit als Externilisation des psychischen Innenraums des Subjekts überhaupt erst konstituiert, Slavoj Zizek, Die Nacht der Welt. Psychoanalyse und Deutscher Idealismus, Frankfurt am Main: Fischer, 1998, S. 145; vgl. dazu auch Kapitel II.7 dieser Arbeit. 70 | Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1999, S. 259-260. 71 | Hans-Thies Lehmann, »Die Gegenwart des Theaters«, in: Erika Fischer^ ^

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gende Präsenz der Darsteller im Präsens, die von ihnen hervorgebrachten und sie einbettenden Zeichen, ihre Energie, Rhythmen und Stimmungen, ie sie erzeugen, zielen darauf ab, die Abwesenheit erfahrbar zu machen als andere Qualität des Sichtbaren. Die vorliegende Arbeit gliedert sich im Folgenden in zwei Hauptteile. Im ersten werden zunächst präsenztheoretische Modelle diskutiert, vor deren Hintergrund sich die hier skizzierte Vorstellung von Abwesenheit abzeichnet. Um die Tragweite des Begriffs zu erproben, schließt sich eine Analyse zentraler Modelle des modernen Tanzes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an, bevor schließlich ein Modell zur Analyse und Betrachtung von Tanz vorgeschlagen werden soll. Es basiert auf den drei von Sibony ins Spiel gebrachten Körpern des Symbolischen, Imaginären und Realen, die anhand von Beispielen exemplarisch diskutiert werden. Der zweite Hauptteil widmet sich in vier Kapiteln den Choreographen William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy und Meg Stuart, die die Abwesenheit in ihren Stücken auf je spezifische Art und Weise inszenieren: William Forsythe in Auseinandersetzung mit dem Ballett, Jérôme Bel mit der symbolischen Ordnung des Körpers, Xavier Le Roy in der Vorstellung eines organlosen Körpers und Meg Stuart schließlich mit dem imaginären Potential eines Haut-Ichs. Die einzelnen Kapitel greifen dabei auf die im Analysemodell vorgeschlagenen Perspektiven und Kategorien zurück, ohne diese jedoch lediglich nachzubuchstabieren. Vielmehr sollen die Kapitel für sich stehen und für sich gelesen werden können als Auseinandersetzung mit dem Werk der jeweiligen Künstler.

Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit, 1999, S. 13-26, hier: S. 13.

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Präsenz und Abwesenheit

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Flüchtigkeit als Paradigma des Tanzes: Paul Valéry

»Warum sind uns die Namen der Ballettmeister nicht überliefert? Weil Werke dieser Art nur einen kurzen Augenblick währen und ebenso rasch wie die von ihnen hervorgerufenen Eindrücke der Vergessenheit anheim fallen.«1 Mit diesem Ausruf hat Jean-Georges Noverre im ersten seiner Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette 1760 dem Tanz eine Diagnose gestellt, die das Denken über den Tanz bis heute begleitet. Der Tanz ist ein flüchtiges Phänomen. Aufgrund seiner Ephemeralität hat er es schwer, sich vom Eindruck des bloßen ornamentalen Divertissements zu lösen und in den Pantheon der Künste aufzusteigen. Um den Tanz aus seiner niederen Stellung zu befreien, muss dieser sprechen lernen. Damit er etwas zu sagen hat, muss sich der Ballettmeister nicht mehr an der idealen geometrischen Ordnung wie noch im Barock, sondern an der Natur ausrichten. In der Nachahmung der Natur trifft sich der Tanz mit dem Drama und der Malerei, an denen er sich orientieren soll, um den Ausdruck menschlicher Leidenschaften zu studieren. Die Körper müssen wie die Körper auf den Leinwänden der Maler sprechen. Sie müssen wie die Figuren einer Tragödie auf der Bühne handeln. Dazu bedarf es neben den reinen Tanzbewegungen auch Ausdrucksbewegungen, die Noverre im zehnten Buch mit der Kunst der Pantomime gleichsetzt. Analog zu Horaz’ Diktum ›ut pictura poiesis‹, jedes Bild soll wie ein Gedicht sein, entwirft er die Vorstellung eines ›ut corpus pictura‹: jeder Körper soll wie ein Bild sein, das erzählt. Weil der

1 | Jean-Georges Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, Documenta Choreologica. Hg. von Kurt Petermann, Repr. der Ausgabe von 1769, München: Heimeran, 1977, S. 3.

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50 | Abwesenheit tanzende Körper beredt handelt und damit zum sinnvollen Bild wird, erhält er Bedeutung, deren Wert bewahrt werden kann.2 Argumentiert Noverre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch emphatisch für eine umfassende Reform des Balletts, um es aus seiner Vergänglichkeit zu erlösen, gibt man sich ihr zu Beginn des 19. Jahrhunderts geradezu wollüstig hin. »Art charmant! art enchanteur! que te manque-t-il pour égaler les autres arts qui empruntent souvent ton secours? Le pouvoir, comme eux, de fixer et de perpéuer tes séductions. Mais, hélas! aussi fugitif que la pensée, tu n’existes qu’un moment, et un souvenir que le tems efface chaque jour, est la seule trace que tu laisses après toi.«3 Jean Faget überlässt sich der Flüchtigkeit, die den Tanz lediglich zur Hilfskunst etwa für die Einlagen in der Oper degradiert. Zwar bringt er den Tanz mit dem Denken in Verbindung, jedoch zielt er in seinem Vergleich nicht auf den positiven Gehalt des Gedankens, der wie der Tanz ewig in Bewegung ist. Vielmehr rückt das Verblassen des Eindrucks und der Erinnerung ins Zentrum seiner Klage, deren melancholische Züge unüberhörbar sind. An die Leerstelle, die die Flüchtigkeit des Tanzes hinterlässt, tritt die Sinnlichkeit des verführerischen tanzenden Körpers, deren Unmittelbarkeit den Tanz aufwerten soll. »La danse, après tout«, fasst Théophile Gautier Sinn und Zweck des Tanzes zusammen, n’a d’autre but que de montrer des belles formes dans des poses gracieuses et de développer des lignes agréables à l’œil ; c’est un rythme muet, une musique que l’on regarde. La danse se prête peu à rendre des idées métaphysiques ; elle n’exprime que des passions : l’amour, le désir avec toutes ses coquetteries, l’homme qui attaque et la femme qui se défend mollement forment le sujet de toutes les danses primitives.4

Der Tanz ist unfähig, Ideen oder Gedanken zu transportieren. Sein Reich ist das der Leidenschaften, die vergänglich sind und die deshalb, so möchte 2 | Vgl. zu Noverres Reform Claudia Jeschke, »Noverre, Lessing, Engel. Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«, in: Wolfgang F. Bender (Hg.), Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner, 1992, S. 85-111. Mit Noverres Überlegungen geht auch eine Veränderung der Tanznotation einher; vgl. dazu J.-N. Laurenti, »Feuillet’s Thinking«, in: Laurence Louppe (Hg.), Traces of Dance: Drawings and Notations of Choreographers, Paris: Éditions Dis Voir, 1994, S. 81-108. 3 | Jean Faget, De la Danse, et particulièrement de la danse de societé, Paris: L’Imprimerie de Pillet, 1825, S. 17; zitiert nach: Susan Leigh Foster, Choreography and Narrative. Ballet’s Staging of Story and Desire, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press, 1998, S. 326. 4 | Théophile Gautier, Écrits sur la danse, hg. von Ivor Guest, Paris: Actes Sud, 1995, S. 42.

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man ergänzen, immer wieder von Neuem mit schönen (weiblichen) Körpern, die sich zieren, entfacht werden können. Echos dieser Vorstellung finden sich noch in Marcia B. Siegels Formulierungen zum Tanz 1979, die eine zeitgenössische Reformulierung des alten Problems der Flüchtigkeit in bezug auf seine gesellschaftliche und kulturpolitische Akzeptanz darstellen. »The immediacy and ephemerality of dance are its most particular qualities – they are the reason for dance’s appeal as well as its low rank on the scale of intellectual values«, schreibt Siegel5 und fährt fort: »Leaving so few and inadequate artifacts behind, dance is always in a way reinventing itself. It doesn’t stay around long enough to become respectable or respected. Its ephemerality is mistaken for triviality. Because it is inherently always new, it’s considered not to be profound.«6 Doch zwischen dem Versuch, den Tanz zum Sprechen zu bringen und der gedankenlosen Hingabe an seine sinnlichen Reize liegt der Versuch der Moderne, Tanzen als Denken zu begreifen. Die auf der Flüchtigkeit basierende Vorstellung, Tanz habe mit Denken nichts zu tun, schlägt im 20. Jahrhundert in ihr Gegenteil um: Tanz ist die verkörperte Idee. In gleichen Maße jedoch, in dem der Tanz als Metapher für die Kunst und das Denken schlechthin aufgewertet wird, nimmt zumindest vordergründig die Vorstellung seiner leiblichen Sinnlichkeit ab. Als Hauptvertreter des Modernismus möchte ich hier auf Paul Valérys Philosophie des Tanzes näher eingehen. Valéry steht im Gegensatz zu seinem Lehrer Stéphane Mallarmé, dessen Ideen er aufgreift, und Antonin Artaud für eine Tanzkonzeption, die sich bewusst des Körpers zugunsten der Idee entledigt hat. Zwar lässt sich bei den Dialogpartnern Sokrates und Eryximachos, die in Valérys »Die Seele und der Tanz« eine Gruppe tanzender Frauen beobachten, unschwer eine ebenso in bezug auf Platons Dialoge ironische wie erotische Begeisterung für die Tänzerinnen erkennen, doch wird diese sofort sublimiert und ins Reich der abstrakten Idee verwiesen. So erzeugt die Wiederholung ihrer Schritte »wollüstige[…] Wirbel«, doch die Tänzerin selbst ist für die zuschauenden Männer »rein nichts«, ein »Ding ohne Körper!«, der Traum der Vernunft, der in Form der Tänzerinnen Gestalt annimmt.7 Als verkörperte Vernunft sind sie das »Wesen selbst in der Liebe!«8 Doch »dieses universale Wesen«, das das Prinzip des Lebens 5 | Marcia B. Siegel, The Shapes of Change. Images of American Dance, New York: Avon Books, 1979, S. ix. 6 | Ibid., S. xi. 7 | Paul Valéry, Eupalinos oder Der Architekt, eingeleitet durch Die Seele und der Tanz, übers. von Rainer Maria Rilke, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 21991, S. 15; orig.: Paul Valéry, »L’Ame et la danse«, in: Paul Valéry, Ouevres de Paul Valéry I, Paris: Éditions du Sagittaire, 1931, S. 11-63, hier: S. 225; »Elle n’est rien.«, »Chose sans corps!«, »ces tourbillons voluptueux«.

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52 | Abwesenheit und des Todes verkörpert, hat »weder Leib […] noch Angesicht«.9 Valéry insistiert durch den konsequenten Gebrauch des Verbs ›sein‹ auf der Identität der Tänzerin mit dem Gegenstand ihres Tanzes, der ihre Identität auslöscht. Für Phaidros ist sie zunächst noch »wie eine wirkliche Welle des Meeres«, doch am Ende seiner langen Replik endet er mit dem Ausruf: »[…] sie ist die Welle!«10 Seit Stéphane Mallarmé in seinen 1897 in den Divagations zusammengefassten Berichten »Ballets« die Tänzerin in der reinen Bewegung auflöst und zum Emblem für die Kunst schlechthin macht, steht der Tanz für die Kunst der Moderne, die kein »Außen« kennt. Wie die reine Bewegung aus sich selbst heraus entsteht und in sich selbst zurücksinkt, streift auch in der Literatur die Sprache ihre Referenz von sich ab – eine Idee, die sich explizit bei Paul Valéry im Rekurs auf Mallarmé wiederfindet.11 Die Kategorie der Flüchtigkeit wird nunmehr jenseits ihrer reizvollen Konnotation positiv besetzt und zur Grundlage für eine Poetologie des Tanzes im Besonderen und der Kunst im Allgemeinen aufgewertet.12 Paul Va8 | Ibid., S. 24; orig.: Valéry, Ouevres I, op. cit., S. 40; »l’être même de l’amour«. 9 | Loc.cit; orig. ibid., S. 41; »cette créature universelle qui n’a point de corps ni de visage«. 10 | Ibid., S. 25, meine Hervorhebungen. 11 | Valéry greift Mallarmés Formulierung in »Über den Tanz« aus seiner Textsammlung Tanz, Zeichnung und Degas auf: »Von Mallarmé stammt das Wort: Die Tänzerin ist keine Frau, die tanzt, denn erstens ist sie keine Frau, und zweitens tanzt sie nicht«; Paul Valéry, Tanz, Zeichnung und Degas, übers. von Werner Zemp, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996, S. 19. 12 | Nach wie vor bleibt die Flüchtigkeit des Tanzes die zentrale Kategorie, mit der Tanztheoretiker in ihren jeweiligen Projekten argumentieren. Deborah Jowitt führt die »notoriously ephemeral art« des Tanzes zur Betrachtung des gesellschaftlichen und kulturellen Kontexts, der eine bestimmte Tanzform zu einer bestimmten Zeit hervorgebracht hat; Deborah Jowitt, Time and the Dancing Image, New York: William Morrow, 1988, S. 7. Isa Wortelkamp leitet aus der Vergänglichkeit des Tanzes die Forderung nach einem anderen Schreiben über den Tanz ab, ein Schreiben, das dem Werden des Tanzes gerecht wird; Isa Wortelkamp, »Flüchtige Schrift/Bleibende Erinnerung«, in: Gabriele Klein/Christa Zipprich (Hg.), Tanz Theorie Text, op. cit., S. 597-609; Ähnlich versucht André Lepecki aus der absoluten Gegenwärtigkeit des Tanzes mit Derridas Spurbegriff ein Schriftkonzept zu entwickeln, das das Verhältnis zwischen Text und Körper, Tanz und Schrift neu denkt; André Lepecki, »Manisch aufgeladene Gegenwart«, in: Körper.Kon.Text, Ballett International/Tanz Aktuell, Jahrbuch 1999, Berlin: Friedrich Verlag, 1999, S. 82-87. Für Peter Stamer ist die Flüchtigkeit die letzte Bastion der Tanztheorie, um sich ihrer unhintergehbaren Differenz zu ihrem Gegenstand, dem lebendigen Tanz, zu vergewissern. Mit dem Kon-

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léry hat diese Umwandlung in seinen Texten über den Tanz grundlegend beschrieben, einer Serie von Texten, die 1921 mit dem sokratischen Dialog »Die Seele und der Tanz« beginnt. Gedanken daraus greift er in seiner 1936 veröffentlichten Textsammlung Tanz, Zeichnung und Degas im Abschnitt »Über den Tanz« erneut auf, bevor er sie im gleichen Jahr zu einer »Philosophie des Tanzes« ausweitet. Warum wird die Flüchtigkeit hier plötzlich zu einer positiv zu bewertenden Eigenschaft des Tanzes? In Valérys Texten erhalten wir Hinweise darauf, Hinweise, die die Flüchtigkeit in die Nähe eines anderen, für den Argumentationsgang dieser Arbeit wichtigen Begriffspaares bringen: dem der Präsenz und der in ihr eingeschriebenen Absenz. Zunächst bestimmt Valéry den Gegenstand der Tanzkunst als die Bewegung. Im Alltag der Menschen sei, so Valérys Gedanke, die Bewegung stets zweckgerichtet. Auf dem kürzesten Weg versuche sie ihr Ziel zu erreichen. Bewegungsakte sind lediglich »Übergänge aus einer Ruhelage in die andere«.13 Im Tanz dagegen habe die Ruhe keinen Platz. Die Bewegung erneuert sich ständig aus sich selbst heraus und stellt sich damit der zweckgebundenen Handlung, aus der sie hervorgeht, entgegen. Derart befähigt, »der Ausbildung, der Perfektionierung, der Entwicklung« der Bewegung als solcher nachzuspüren, reflektiert sich die Bewegung im Tanz in ihrer Vielfalt und in ihren Möglichkeiten selbst.14 Daher kann Valéry sagen: »Die Tänzerin hat kein Außen […] Nichts existiert jenseits des Systems, das sie sich durch ihre Handlungen schafft.«15 Durch das ständige Vergehen der Bewegung werden neue Bewegungen geschaffen, Bewegungen, die einerseits unaufhörlich sind (der reine Tanz hat kein Ende), andererseits aber den Eindruck von Zeitlosigkeit erwecken. Darin liegt für Valéry das Ziel und die Funktion der Flüchtigkeit: Sie schafft paradoxerweise Dauer. In ihrer radikalen Zeitlichkeit vermag die Tanzkunst die Zeit zu transzendieren und zum Bild für eine allgemeingültige, umfassende Idee zu werden. Obwohl der Tanz spontan erscheint, ist er doch kunstvoll geregelt. Seine Unvorhersehbarkeit geht einher mit Voraussicht; der Zustand, den er erzeugt, beruht auf der permanenten Veränderung.16 zept der Flüchtigkeit verschleiert die Theorie ihre eigenen diskursiven Bedingungen; Peter Stamer, »Das Lächeln der Theorie«, in: Klein/Ziprich, op. cit., S. 611-622. 13 | Valéry, »Über den Tanz«, S. 19. 14 | Paul Valéry, »Philosophie des Tanzes«, in: Paul Valéry, Werke in 7 Bänden, hg. von Karl Alfred Bühler, Band 6, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, S. 243-257, hier: S. 253; orig. Paul Valéry, »Philosophie de la danse«, in: Paul Valéry, Oeuvres I, hg. von Jean Hytier, Paris: Pléiade, 1957, S. 1390-1404. 15 | Ibid., S. 251; orig.: ibid., S. 1398; »La danseuse n’a point de dehors … Rien n’existe par delà du système qu’elle se forme par ses actes«. 16 | Ibid., S. 250; Valérys Präsenzbegriff, den er für den Tanz reklamiert, ent-

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54 | Abwesenheit Der Eindruck der Dauer entsteht dabei durch die vielfache Wiederholung seiner Bewegungselemente, die den Tanz strukturieren. Das Bild, das Valéry in der »Philosophie des Tanzes« dafür bereit hält, ist das der Hummel, »eines Schwärmers vor dem Blütenkelch, den er erkundet, der voller treibender Kraft, nahezu reglos verharrt, getragen vom unwahrscheinlich raschen Schlag seiner Flügel«.17 Die Wiederholung des Flügelschlagens erzeugt den Eindruck des Stillstands, eines Zustands außerhalb der Veränderungen der Zeit, die ihn doch konstituieren. Ist der Tanz »eine Erscheinungsform der Zeit«,18 gar die »Schöpfung einer Art Zeit«,19 so ist die Besonderheit jener geschaffenen Zeit ihre vollkommene Selbstbezüglichkeit. Der Tanz ist eine Handlung, die sich selbst hervorbringt und sich in ihrem Hervorbringen selbst zeigt. In »Über den Tanz« führt Valéry die doppelte Gliederung des Tanzes in Zeit und Raum auf das Wechselspiel von Flüchtigkeit und Wiederholung zurück: »Indem dieselben Glieder sich verschränken, entfalten und wieder verschränken oder Bewegungen in gleichen oder harmonischen Zeitabständen einander antworten, entsteht ein Ornament im Bereich der Dauer, wie durch die Wiederholung von Figuren im Raum oder von ihren Symmetrien das Ornament im Bereich der Ausdehnung entsteht.«20 Die aus sich selbst hervorgehenden Figuren, »die sich fortlaufend miteinander verketten und durch ihre Wiederholung eine Art Trunkenheit erzeugen«,21 sind ohne Gegenstand und daher höchster Ausdruck einer reinen Kunst.22 spricht dem der »presentness«, den Michael Fried für die gesamte moderne Kunst in Anschlag bringt. Kunst stellt außerzeitliche, allgemeingültige Werte dar, die im Werk repräsentiert werden; vgl. Teil II.4. dieser Arbeit. 17 | Ibid., S. 249; orig.: ibid., S. 1396; »[…] d’un bourdon ou d’un sphinx devant la calice de fleurs qu’il explore, et qui demeure, chargé de puissance motrice , à peu près immobile, et soutenu par le battement incroyablement rapide de ses ailes«; in »Die Seele des Tanzes« spricht er von einem »Insekt«, S. 21, und vergleicht die Tänzerinnen mit »Bienen«, S. 12. 18 | Ibid., S. 248; orig.: ibid., S. 1396; »une forme du temps«. 19 | Ibid., S. 249; orig.: loc. cit.; »la création d’une espèce de temps.« 20 | Valéry, »Über den Tanz«, op. cit., S. 18. 21 | Ibid., S. 17. 22 | Dem Begriffspaar Dauer und Flüchtigkeit entspricht das Oppositionspaar Wörtlichkeit und Wiederholung, das aus phänomenologischer Sicht die Grundstruktur eines jeden poetischen Textes ausmacht. Auch in dieser Hinsicht wäre der Tanz also paradigmatisch für die anderen Künste. Denn jedes Kunstwerk bietet sich, so Eckhard Lobsien, dem Rezipienten als unverwechselbares, einmaliges Gebilde dar. Wir rezipieren Kunst in der Zeit, die unaufhörlich dahin fließt. Beim Lesen vergeht Zeit ebenso wie beim Betrachten eines Tanzabends. Kunst vermittelt ein intensives Jetzt-Bewusstsein, indem sie die Singularität der Gegenwart im Akt der Rezeption

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Was die Tanzbewegung also leistet, ist zweierlei. Ohne Außen oder Kontext ist sie die Hervorbringung ihrer selbst. Sie erscheint als sie selbst, sie setzt sich selbst ins Werk und will als sie selbst wahrgenommen werden. Einerseits etabliert sie also eine Gegenwart, die Präsenz des Tanzes als ein Erscheinendes, dem wir gegenübertreten. Doch das allein genügt nicht. Ist sie doch als »jene Handlung, die das Werk hervorbringt« ebenso konstitutiv für die anderen Künste, die als »Sonderfälle dieser allgemeinen Idee aufgefaßt werden« müssen.23 Die allgemeine Idee, die sie hervorbringt und grundlegend verkörpert, ist jene der Performativität. Tanz ist die reine Performativiät, der reine Vollzug, der dem Malen, Musikmachen und Schreiben als konstitutive Geste zugrundeliegt. Als solche intensiviert sie die Gegenwartserfahrung. Valéry geht sogar so weit, die Kunst als immer und immer wieder neu aufzuführende aufzufassen, ein unendliches Kunstwerk, das eben kein Werk, sondern nur noch Prozess und damit nur noch Erfahrung der Zeit jenseits allen Inhalts ist. »Sie können dann die Verwirklichung eines Kunstwerks, eines Werks der Malerei und der Bildhauerei, selbst als ein Kunstwerk auffassen, dessen materieller Gegenstand, wie er unter den Fingern des Künstlers sich gestaltet, nichts mehr ist als ein Vorwand, ein Bühnenrequisit, das Thema des Balletts.«24

steigert. Doch die wahrgenommenen, aufgefassten Elemente oder Jetzt-Momente sinken ständig in die Vergangenheit ab, die Edmund Husserl als ›Retention‹ bezeichnet hat. Das Bewusstsein kommt nun in das Dilemma, Wahrnehmungen möglichst rasch abwandern zu lassen, um Platz für neue Jetzt-Momente zu schaffen. Genau damit aber erreicht die Wörtlichkeit ihr eigenes Gegenteil, nämlich die Wiederholung. Je mehr Eindrücke in die unmittelbare retentionale Vergangenheit absinken, desto mehr Material steht für eine mögliche Wiederholung bereit. Das gleiche gilt auch umgekehrt. Je mehr Elemente wiederholt werden, desto zeitloser, überzeitlicher, desto wörtlicher und unwiederholbarer, weil singulär strukturiert, wird das Kunstwerk. Durch die Wiederholung seiner Elemente weist sich das Kunstwerk als einmaliges, einzigartiges aus. Die wiedergeholten Elemente transzendieren damit ihre jeweilige Zeitstelle, um frei bewegliche, außerzeitliche Einheiten zu werden. Das Kunstwerk und sein Verfahren der Wiederholung zielen also auf Zeichentranszendenz, auf Nichtverstehbarkeit. »Die Wiederholung bricht die Sequenzen aus Jetzt-Retention-Reproduktion auf und konstituiert das Poetische als ein Jenseits aller linearer Formulierungen, als eine Sprachtranszendenz, als eine Sphäre der Nicht-Verstehbarkeit«; Eckhard Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung, München: Fink, 1995, S. 193. 23 | Valéry, »Philosophie des Tanzes«, op. cit., S. 254; orig.: ibid., S. 1400; »l’action qui produit l’ouevre«, » tous les arts peuvent être considérés comme des cas particuliers de cette idée générale«. 24 | Ibid., S. 255; orig.: ibid., S. 1402; »vous pouvez alors concevoir la réalisation d’une œuvre d’art, une œuvre de peinture et de sculpture, comme une œuvre

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56 | Abwesenheit Diese Geste des Beginnens, des immer wieder neu Handelns, ist jedoch nicht nur Thema von Valérys Text »Philosophie des Tanzes«. Sie liegt auch dessen Struktur zugrunde. Der Text selbst setzt ein Spiel zwischen Abwesenheit und Präsenz in Gang, dessen Ablauf das Verhältnis von Sprache und Tanz maßgeblich bestimmt. Valéry entfacht einen »Tanz von Gedanken rund um den lebendigen Tanz«,25 den er jedoch zunächst aufschiebt. In diesem Aufschub eliminiert er den Körper, der in der Ferne bleibt. Der Text beginnt mit einem Versprechen: Ein als Nichttänzer charakterisiertes Ich kündigt den Auftritt der berühmten spanischen Tänzerin La Argentina (mit bürgerlichem Namen: Encarnacion Lopez) an, der jedoch sofort hinausgezögert wird. In dieser Grundspannung auf den »lebendigen Tanz« hin siedeln sich die Gedanken des Ichs über den Tanz an. Im Zögern, bevor der Tanz beginnt, formuliert das Ich »ohne Umschweife« seinen Gedanken über den Tanz, den es durch diese Strategie gerade doch umschweift. Denn Valérys Sprechen ist hier ein Sprechen durch die Schleier verschiedener Masken. Der Nichttänzer, der sich später als komplizierter Schriftsteller ausgibt,26 delegiert sein Fragen nach dem Tanz an einen, »seinen«, Philosophen,27 der seine Autorität schließlich an Augustinus abtritt, bevor er wieder das Wort ergreift. Doch dieses erneute Sprechen ist ein Sprechen durch den Mund des Schriftstellers, der »seinen« Philosophen »oder, wenn Ihnen das lieber ist: [den] von der Manie des Fragens befallene[n] Verstand«,28 interpretiert. So verhüllt und enthüllt sich mit jeder Drehung der wahre Ort des Sprechens zugunsten einer permanenten Verschiebung – einer ruhelosen Tänzerin gleich, die mit jeder ihrer Drehungen einen anderen Ort entstehen lässt. Gerahmt wird dieser Schleiertanz der Gedanken, der seinen letzten Grund nicht preisgeben kann, weil er außerhalb seiner selbst im Körper der Tänzerin läge, von der Flamencotänzerin La Argentina. Löst sich am Ende des Textes das Versprechen ihres Tanzes endlich ein, bricht der Text ab. Valéry etabliert zwischen Sprache und Tanz ein Spannungsverhältnis: Der Tanz setzt ein, wenn die Sprache wieder aufhört. Umgekehrt setzt die Sprache ein, wenn der Tanz noch auf Distanz gehalten wird. In dieser Lücke richten sich die körperlosen Begriffe auf den Beginn des Tanzes. Das Denken erscheint so als eine Art Vorlust, bevor der Tanz seine flüchtige Gestalt d’art elle-même, dont l’objet matériel qui se façonne sous les doigts de l’artiste n’est plus que le prétexte, l’accessoire de scène, le sujet du ballet.« 25 | Ibid., S. 256; orig.: loc. cit.; »cette danse d’idées autour de la danse vivante«. 26 | Ibid., S. 250. 27 | Ibid., S. 247. 28 | Ibid., S. 250; orig.: ibid., S. 1397; »ou, si vous préférez, l’esprit affligé de la manie interrogente«.

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annimmt. Der Tanz erscheint als »intelligente Arbeit«,29 mithin als eine Art Denken, bevor es jene Begriffe gibt, die die Sprechinstanzen des Textes entwickeln. Der Tanz spannt sich hin auf den »von der Manie des Fragens befallene[n] Verstand«, in dessen Horizont er immer schon steht. Sprache und Tanz bespiegeln sich so gegenseitig, ein Spiegelverhältnis, das stets eine reflexive unüberbrückbare Distanz der beiden Bereiche impliziert. Das Nachdenken über den Tanz, das der Text in Szene setzt, ist eine Reflexion im permanenten Entstehen, in der Ankündigung des Tanzes am Horizont, der, wenn er eintritt, ein anderes Sprechen als ein Sprechen in linguistischen Zeichen ist.30 Die Überlegungen Paul Valérys sollten an dieser Stelle als Einführung dienen. Bei der Auseinandersetzung mit seinen Ideen sind zentrale Begriffe wie Präsenz, Performativität und Wiederholung zutage gefördert worden, die im Laufe der Arbeit in anderen Konstellationen und Tableaus erneut auftauchen werden, um kritisch diskutiert zu werden. Dabei erscheint der Leitbegriff dieser Arbeit, die Abwesenheit, bei Valéry zunächst als ein der Flüchtigkeit der tänzerischen Bewegung inhärentes Phänomen. Bewegung setzt sich zwar unaufhörlich fort, doch bestimmte Bewegungen sind immer schon der Abwesenheit anheim gestellt. Nun scheint sich jedoch in zahlreichen zeitgenössischen und bei genauerer Betrachtung auch bei klassisch-modernen Tanzästhetiken, die traditionellerweise als Hort der Präsenz gelten, das Verhältnis von Anwesenheit und Abwesenheit verschärft zu haben. Abwesenheit erscheint nicht mehr als ein für jedes Kunstwerk und sein Verstehen grundlegendes Verhältnis von An- und Abwesenheit. Nicht allein die Tatsache, dass Zeichen immer für die abwesende Sache einstehen, so wie die Tanzbewegung auf der Abwesenheit der Alltagsbewegung und der Tänzerkörper auf der Abwe29 | Ibid., S. 257; orig. ibid., S. 1403; »le travail d’intelligence qu’a accompli Argentina«. 30 | Ähnlich entfaltet sich das Verhältnis von Sprache und Tanz in »Die Seele des Tanzes«. Die drei Philosophen Sokrates, Phaidros und Eryximachos sinnieren über die Schar der Tänzerinnen, die sie in wollüstiges Entzücken versetzt. Es ist stets ein Sprechen über den Tanz in der Ferne. Die Tänzerin Athikte darf erst das Wort ergreifen, nachdem ihr Tanz im Sturz und Fall geendet hat und sie vom Wirbel, »Außerhalb der Dinge« zurückgekehrt ist; op. cit., S. 38. Noch stärker als in »Philosophie des Tanzes« wirft »Die Seele und der Tanz« die Frage nach der geschlechtlichen Codierung dieser beiden Arten des Denkens auf. Das körperliche Denken wird der Frau als »Traum der Vernunft« (op. cit., S. 14) zugeschrieben, während die Ratio der Männer über das Tun und den Körper der Frau philosophieren. Dass es Valéry dabei nicht um Qualität der tänzerischen Bewegung als solcher geht, macht er unmissverständlich deutlich, wenn der einzige männliche Tänzer des Chores sofort als »hässlich« beschrieben wird.

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58 | Abwesenheit senheit der nicht-ausgebildeten Körper basiert, prägt die Tanzszene. Das Aussetzen der Präsenz im Präsens, das strategische Besetzen von und Beharren auf der Abwesenheit als kritischem und analytischem Moment in der Aufführung, wird wichtiger. Nicht von der Präsenz her wäre dann in typisch modernistischer Art, wie am Beispiel von Valéry gezeigt, über den Tanz nachzudenken. Gerade der Begriff der Abwesenheit bietet ein vielfältiges analytisches Spektrum, sich Phänomenen des Tanzes verstehend zu nähern. Dabei kann es nicht um eine einfache Opposition von Absenz und Präsenz gehen, schon allein deshalb nicht, weil Abwesenheit nie ein Nichts, eine Leere, bezeichnet. Drew Leder hat darauf hingewiesen, dass schon etymologisch dem Wort »Absenz« ein Sein innewohnt: The word absence comes from the Latin esse, or ›being‹, and ab, meaning ›away‹. An absence is the being-away of something. The lived body, as ecstatic in nature, is that which is away from itself. Yet this absence is not equivalent to a simple void, a mere lack of being. The notion of being is after all present in the very word absence. The body could not be away, stand outside, unless it had a being and a stance to begin with.31

Präsenz oder Gegenwärtigkeit als das, was in der Begegnung mit einem Kunstwerk hergestellt wird, soll hier nicht geleugnet werden. Vielmehr ist es mir um das Herstellen dieser Gegenwart zu tun, mithin um die Frage, was die Präsenz hervorruft. Die Antwort, so die grundlegende These dieser Arbeit, ist die Abwesenheit. Was wir in einem Tanzstück begegnen, ist in erster Linie die Abwesenheit, nicht die Präsenz der Bewegung und der Körper. Was ich im Folgenden also vorschlage, ist ein strategischer Perspektivwechsel weg von der Präsenz hin zur Absenz als Kategorie, weil sich unter diesem veränderten Blickwinkel mehr und Spezifischeres über die Gegenstände aussagen lässt. Die Betonung der Abwesenheit orientiert sich daher eng an den zu betrachtenden Aufführungen und Ästhetiken der Choreographen. Statt die Flüchtigkeit mit der Vorstellung einer gesteigerten Präsenz festhalten zu wollen, und sei es auch nur für einen Augenblick, möchte ich ihr Verschwinden also ernst nehmen. Die folgenden Abschnitte zeichnen den zum Teil verschütteten Weg der Abwesenheit innerhalb aktueller Präsenz-Debatten im Bereich der darstellenden Künste nach und versuchen ihn, wo nötig, freizulegen.

31 | Drew Leder, The Absent Body, Chicago/London: University of Chicago Press, 1990, S. 22.

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Dekonstruierte Präsenz: Derridas Spur und der Körper als Signifikant

In den vergangenen Dekaden hat das Paradigma der Dekonstruktion eine Theorie der Abwesenheit bereit gestellt, deren Grundzüge ich im Folgenden kurz umreißen möchte. Eine ausführliche Darstellung und Diskussion dekonstruktivistischer Theoreme kann hier nicht erfolgen, zumal dies in aller Ausführlichkeit schon mehrfach geleistet wurde.32 Versteht sich die Dekonstruktion als Lektüre von (philosophischen) Texten mit der Absicht, die Grenzen des abendländischen metaphysischen Denkens, die in ihnen wirksam sind, abzuschreiten und zu erkunden, bleibt für mich an dieser Stelle zu fragen, inwieweit sich ihr sprachlich-linguistisches Modell auf Phänomene des Tanzes übertragen lässt. Ausgangspunkt für Jacques Derridas Überlegungen in Grammatologie ist die abendländische Vorstellung eines sich selbst gegebenen Bewusstseins, das durch die gesprochene Sprache, das sich selbst Hören, bei sich ist. Dies führt im abendländischen Denken zu einer Privilegierung des gesprochenen Wortes gegenüber der Schrift, die innerhalb der Linguistik nur mehr als abgeleitetes, sekundäres Phänomen behandelt wird. Derrida spricht von der »Erniedrigung der Schrift angesichts eines gesprochenen Wortes«.33 Die Vorstellung einer ungeteilten Präsenz als Kennzeichen der abendländischen Metaphysik findet Derrida auch in Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale, dem Gründungstext der strukturalen Linguistik.34 Saussure geht in seiner Definition des Zeichens von einer homologen Zuordnung von Signifikant und Signifikat aus, die jedes Zeichen per definitionem zu einem sinnvollen macht. Allerdings ist Saussure der Vorgang der Unterteilung der beiden Nebel, der Lautnebel der Signifikanten einerseits und der Vorstellungs-Nebel der Signifikate andererseits, und damit die Möglichkeit ihrer wechselseitigen Zuordnung selbst rätselhaft.35 32 | Vgl. z.B. Jonathan Culler, On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism, London: Routledge, 1983; Peter V. Zima, Die Dekonstruktion, Basel/ Tübingen: Francke, 1994. 33 | Jacques Derrida, Grammatologie, übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983, S. 124. 34 | Dabei geht Derrida von einem Saussure aus, wie er Mitte der sechziger Jahre publiziert war, also ohne Berücksichtigung von Saussures Studien zu den Anagrammen, die die Vorstellung eines vorgängigen Sprachsystems, auf dem auch Derridas Einwand gründet, in Frage stellt, vgl. Jean Starobinski, Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, übers. von Henriette Beese, Frankfurt am Main/Wien/Berlin: Ullstein, 1980 [1971], S. 11. 35 | »[…] es handelt sich um die einigermaßen mysteriöse Tatsache, daß der

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60 | Abwesenheit Derrida hebt nun hervor, dass die Stabilität des Zeichens als Hort des Sinns nur dann gelingen kann, wenn erstens die Sprache als geschlossenes System behandelt wird und zweitens das Signifikat über das lautliche Material, der Geist über den Körper, gestellt wird. Stattdessen versucht Derrida aufzudecken. »daß das Sein der Bewegung des Zeichens entgeht«.36 Und dies aus zweierlei Gründen. Zum einen ändert sich die Bedeutung eines Zeichens je nach Kontext, Situation und Verfasstheit des Rezipienten. Zum anderen, und das ist der grundlegendere Einwand, sind die Laute innerhalb eines Sprachsystems stets nur differential zueinander bestimmt. D.h. sie sind arbiträr und erlangen ihren Wert im Verhältnis zu dem, was sie nicht sind. Sprache, so hat schon Saussure formuliert, ist »eine Form, keine Substanz«.37 Doch da jede Vorstellung, um distinkte Vorstellung zu sein, sich zu sich schon different verhalten muss, muss auch dem Signifikat eine Differenz vorausgehen, die es und mit ihm das System der Sprache auf ein Außen öffnet. Derrida nennt diese vorgängige Differenz, die das Universum des Sinns überhaupt erst eröffnet, »Spur« oder auch »Urschrift« oder »gramma« als Zeichen der Urschrift, die jeder lautlichen Artikulation vorausgehen muss. »Die Schrift ist die Verstellung der natürlichen und ersten und unmittelbaren Präsenz von Sinn und Seele im Logos.«38 Die Spur spaltet die Präsenz. Ihre Eigenschaft ist es, anwesend-abwesend zu sein, kein Sein zu haben, das sie als sie selbst zur Erscheinung brächte. Ihr Sein ist, wie Derrida auch in seiner Schreibweise kenntlich macht, immer schon durchgestrichen. Statt dessen zeitigt die Spur Effekte von Sinn, den sie durch Verzeitlichung und Verräumlichung aufschiebt. »Das Außen«, schreibt Derrida, »[…] würde ohne das gramma, ohne die *Differenz als Temporalisation, ohne die in den Sinn der Gegenwart eingeschriebene Nicht-Präsenz des Anderen, ohne das Verhältnis zum Tod als der konkreten Struktur der lebendigen Gegenwart nicht in Erscheinung treten.«39 Die Spur markiert jenen Ort der Abwesenheit innerhalb der Präsenz. Wieder ist es das Verhältnis zum Tod, das im Zusammenhang mit der Abwesenheit zur Sprache kommt. Um die Spur der Schrift in der Sprache zu markieren, prägt Derrida den Begriff »différance«. Er substituiert darin den ›Laut-Gedanke‹ Einteilungen mit sich bringt, und die Sprache ihre Einheiten herausarbeitet, indem sie sich zwischen zwei gestaltlosen Massen bildet«; Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, übers. von Herman Lommel, Berlin: Walter de Gruyter, 21967, S. 134. 36 | Derrida, op. cit., S. 41. 37 | Saussure, op. cit., S. 134. 38 | Derrida, op. cit., S. 66; Diese Vorstellung von Schrift meint daher auch etwas anderes als ein System der Notation oder, allgemeiner, etwas schriftlich Niedergelegtes. 39 | Ibid., S. 124.

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orthographisch korrekten Buchstaben »e« in »différence« durch »a«, wobei beide Worte phonetisch Homonyme sind, so dass die Differenz in der Tat nur in der Schrift, im Buchstaben, liegt. Dieses »a« nun ist wieder ein Platzhalter für den Tod. Durch eine stumme Markierung, durch ein schweigendes Denkmal, ich werde sogar sagen, durch eine Pyramide, macht er [der Unterschied, d. Verf.] sich bemerkbar, womit ich nicht nur an die Gestalt des Buchstabens denke, als Majuskel gedruckt, sondern auch an jenen Text aus der Enzyklopädie von Hegel, wo der Körper des Zeichens mit der ägyptischen Pyramide verglichen wird. Das a der différance ist also nicht vernehmbar, es bleibt stumm, verschwiegen und diskret, wie ein Grabmal: oikesis. Kennzeichnen wir damit im voraus jenen Ort, Familiensitz und Grabstätte des Eigenen, an dem die Ökonomie des Todes in der différance sich produziert. Kann man nur die Inschrift entziffern, verweist dieser Stein fast auf den Tod des Dynasten. Ein Grabmal, das sich nicht einmal zum Ertönen bringen läßt.40

Der Buchstabe, dieser Buchstabe, tötet. Er markiert den Tod, die Abwesenheit innerhalb des Lebens und des Sinnzusammenhangs. Doch diese Abwesenheit ist eine prinzipiell Semiotische. Sie zielt auf die Logik des Zeichens, das stets eine Kluft, einen Spalt, eine Abwesenheit voraussetzen muss, um als solches zu erscheinen. Auch der Körper und seine Bewegungen unterliegen der Logik des Zeichens. Auch der Tanz ist eingebettet in die symbolische Ordnung unserer Kultur, die ihm einen bestimmten Ort (die Bühne) und einen bestimmten Körper (einen ausgebildeten Tänzerkörper) zuweist. Wo immer wir eine symbolische Struktur haben, ist diese um eine zentrale Leerstelle herum organisiert, um eine Beziehung, die nicht repräsentiert werden kann. Das Verbot, das die Logik der Verstellung in Gang setzt, existiert auch im Bereich des Tanzes. Es ist – und wir werden im Folgenden ausführlich darauf zurückkommen – das Tanzverbot der christlichen Kirche, das den Tanz in eine besondere Beziehung zum Anderen setzt. In den Zwischenräumen dieser symbolischen Relation können sich Bilder von jenem Anderen einstellen, die imaginärer Natur sind und die die Realität des Körpers verkennen. Dennoch haben wir es im Tanz mit einem Sein zu tun, mit einem Körper, der atmet und der eine bestimmte Materialität besitzt. Sein Sein mag zwar wie das der Spur durchgestrichen sein, trotzdem ist er mehr als nur eine Lücke im System, die Effekte zeitigt. In seiner Abwesenheit als realer Körper bleibt ein unzugänglicher Kern, der seine Identität strukturiert. Diese gibt es zwar nur als verfehlte, aber sie gibt es. Kurzum, es geht hierbei 40 | Jacques Derrida, »Die Différance«, in: Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, übers. von Gerhard Ahrens u.a., Wien: Passagen, 21999, S. 31-56, hier: S. 32.

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62 | Abwesenheit nicht um das Problem der Schrift als demjenigen, das die Präsenz immer schon spaltet, sondern um die Materialität des Signifikanten, die ein Spiel der Verweisungen in Gang setzt, das auf der Bühne ganz konkret zwischen Materialien stattfinden kann. Dem Immateriellen der Spur wird die Materialität des Körpers mit seinen historischen und kulturellen Gebundenheiten entgegengesetzt. Slavoj Zizek fasst den Unterschied zwischen der Dekonstruktion Derridascher Prägung und einem Ansatz, der sich auf Jacques Lacans Psychoanalyse stützt, wie folgt zusammen: ^ ^

At this point we must ask ourselves the naïve but necessary question: If the world and language and subject do not exist, what does exist; more precisely: what confers on existing phenomena their consistency? Lacan’s answer is, as we have already indicated, symptom. To this answer we must give its whole anti-post-structuralist emphasis: the fundamental gesture of post-structuralism is to deconstruct every substantial identity, to denounce behind its solid consistency an interplay of symbolic overdetermination – briefly, to dissolve the substantial identity into a network of non-substantial, differential relations; the notion of symptom is the necessary counterpoint to it, the substance of enjoyment, the real kernel around which this signifying interplay is structured.41

^ ^

Um diesen realen Kern herum, der in Zizeks Lesart das Trauma und seine Symptome ist, entspinnt sich unsere Faszination, unser Genießen und unsere Lust am Tanz. Der tanzende Körper wird von Zuschauern in der Aufführungssituation angeblickt, interpretiert, vielleicht sogar gelesen und begehrt. In dieser Konstellation des Seins muss die Abwesenheit situiert werden. Sie ist damit zugleich konkret und konkret anbindbar an ästhetische, sinnliche Phänomene auf der Bühne. Mit dem Festhalten an der Existenz eines Körpers ist jedoch keine naive Rückkehr zu einer ursprünglichen Leiblichkeit als paradiesischem Hort unverfälschter und unverstellter, d.h. vorsprachlicher Erfahrungen impliziert. Im Gegenteil. Der reale Körper des Tänzers ist ebenso unzugänglich wie das Trauma, das als Reales innerhalb der symbolischen Ordnung und der imaginären Bilder verstellt wird. Der anwesend-abwesende Körper ist trotzdem etwas anderes als die anwesend-abwesende Spur, die ja kein Sein hat. Statt das Sein als bloßen Effekt der anwesend-abwesenden Spur zu verstehen, müsste man den (körperlichen) Effekt, worunter man auch die Bewegung im weitesten Sinn verstehen muss, als anwesend-abwesende Spur des Seins verstehen. Hier kommt die Vorstellung eines Dauerhaften, Nichtflüchtigen zum Tragen, das den Körper zum Archiv von Möglichkeiten macht. Der Körper verschwindet nicht, weil er wie die Spur kein Sein hat. ^ ^

41 | Slavoj Zizek, The Sublime Object of Ideology, London/New York: Verso, 1989, S. 72.

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Er setzt sich als nicht flüchtiger, für die Zeit der Aufführung dauerhafter aufgrund seines Archivcharakters mit sich selbst auseinander. Meine weitere Argumentation, die an verschiedenen Stellen auf die hier umrissenen Begriffe und Konzepte ausführlicher zurückkommen wird, stützt sich im Wesentlichen auf die in Lacans Schriften implizierte Vorstellung von drei Körpern: einem symbolischen, einem imaginären und einem realen Körper. Am Ende dieses ersten Teils steht daher der Entwurf eines Modells der Tanzbetrachtung, das den verschiedenen Körpern des Tänzers Rechnung trägt. Der Tänzer und die Tänzerin auf der Bühne setzen diese Körper aufs Spiel und spielen damit auf verschiedenen Registern gleichzeitig, bringen sie durcheinander und setzen sie in eine veränderte Beziehung zueinander. Doch zuvor soll den Spuren der Abwesenheit in aktuellen Debatten über Performance und Präsenz weiter nachgegangen werden, um die Tragweite des Konzepts der Abwesenheit genauer in den Blick zu bekommen. Den Anfang macht Peggy Phelans einflussreiche Theorie der ›Ontologie der Präsenz‹, für die sie im Laufe ihrer Argumentation ihre zweite Leitkategorie, die Abwesenheit, opfert.

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Peggy Phelans Politik der Abwesenheit

In ihrer einflussreichen Theorie der Performance versucht Peggy Phelan den gesellschaftlichen und politischen Wert von Performance zu begründen. Dabei versteht sie Performance im weitesten Sinn als ›für jemanden etwas vorführen‹. Vorausgesetzt wird dabei einzig der Austausch zweier Blicke, der Blick, der betrachtet und der Blick, der sich dem anderen darbietet. Zu Gegenständen ihrer Betrachtung können deshalb die Porträtphotographie ebenso werden wie Filme, Theater- und Tanzaufführungen, Installationen oder das, was man im engeren Sinn als Performance-Kunst bezeichnet. Performativität setzt da ein, wo sich ein Selbst mit einem Anderen, für das das Kunstwerk steht, sehend ins Benehmen setzt, um sich über den Umweg des anderen als Subjekt zu erfahren. Motor ihrer Ausführungen ist die Kritik an der Repräsentationspolitik gesellschaftlicher Minderheiten, die, ebenso wie ihre Gegner, mehr Sichtbarkeit innerhalb einer Kultur zwangsläufig mit mehr Macht gleichsetzen. »In framing more and more images of the hitherto under-represented other«, so Phelans Einwand, »contemporary culture finds a way to name, and thus to arrest and fix, the image of that other.«42 Die Gefahr der Sichtbarkeit liegt für Phelan darin, dass sie das einmal erstellte Bild des anderen lediglich wiederholt, um es an die herrschende Ideologie anzupassen und jegliche Differenz zu ihr zu elimi42 | Peggy Phelan, Unmarked. The Politics of Performance, London/New York: Routledge, 1993, S. 2.

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64 | Abwesenheit nieren. Für Phelan ist der Blick ein beherrschender Blick, der sich der Abwesenheit im anderen bemächtigt, um sie mit Bildern und damit auch mit Repräsentationen zu belegen, die den anderen zum Gleichen machen. Gerade weil die Blicke des Betrachters und des Betrachteten niemals symmetrisch reziprok und damit frei vom Begehren der spekulären Vereinnahmung sein können, liegt der Irrtum darin, anzunehmen, das Selbst einer Person oder einer Gruppe könne adäquat repräsentiert werden. »In conflating identity politics with visibility, cultural activists and some theorists have also assumed that ›selves‹ can be adequately represented within the visual or linguistic field. The ›hole in the signifier‹, ›the Real-Impossible‹ which is unsayable, unseeable, and therefore resistant to representation, is ignored in the full fling forward into representation.«43 Ziel ist es, dieses »Unmöglich-Reale«, das Unmarkierte, Abwesende als Kern jeder Subjektivität als dasjenige auszuspielen, das die Geschlossenheit der Repräsentation übersteigt und sie öffnet.44 Die Abwesenheit als das, was nicht repräsentiert wird und werden kann, widersetzt sich damit auch der von Baudrillard gestellten Diagnose der fetischisierten Körpern der Warenwelt. Welche Strategien verfolgen nun bestimmte Künstler, der Repräsentation und der Sichtbarkeit zu entgehen? Der Königsweg zum Widerstand gegen die Objekthaftigkeit der Kunst, deren Gegenwart Erfüllung und Befriedigung verspricht, führt für Phelan über die Performance, und hier vor allem über die Performance Kunst als »the least marked of all texts«.45 Im Feld der Künste stellt die Performance als Aufführung die flüchtigste Kunstform dar. Performance’s only life is in the present. Performance cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the circulation of representations of representations: once it does so, it becomes something other than performance. To the degree that performance attempts to enter the economy of reproduction it betrays and lessens the promise of its own ontology. Performance’s being, like the ontology of subjectivity proposed here, becomes itself through disappearance.46

Die Performance verliert ihr Objekt, während sie stattfindet. Es gibt kein Objekt, das wiederholt und damit reproduziert werden könnte. »Performance in a strict ontological sense is non-reproductive.«47 Weil die Ontologie der Performance in ihrem ständigen Verschwinden besteht, widersetzt

43 | Ibid. S. 10. 44 | Ibid., S. 27. 45 | Ibid. S. 31. 46 | Ibid., S. 146. 47 | Ibid. S. 148.

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sie sich der Reproduktion und damit der dominanten Tauschökonomie des Marktes. »Performance’s independence from mass reproduction, technologically, economically, and linguistically, is its greatest strength.«48 Weil die Performance keine materiellen Artefakte als konsumierbare Überreste produziert (»there are no left-overs«)49 und selbst das Schreiben über Performance einem Verrat an der Sache gleichkommt (»Writing about it cancels the ›tracelessness‹ inaugurated within this performative promise«),50 wird sie zum singulären Sprechakt, der nicht wiederholbar ist, ohne seine performative Kraft zu verlieren. »Without a copy, live performance plunges into invisibility – in a maniacally charged present – and disappears into memory, into the realm of invisibility and the unconscious where it eludes regulation and control.«51 Die Attraktivität, die Phelans Theorie im Umfeld eines zeitgenössischen Nachdenkens über den Tanz und dessen Möglichkeiten erlangt hat, ist darauf zurückzuführen, dass bei einer Tanzaufführung nicht nur die Performance verschwindet, sondern innerhalb ihrer Zeitgrenzen auch ihre Gegenstände, die Bewegung und die Körperbilder. Die potenzierte Abwesenheit des Tanzes scheint ihn als kritisches Instrument, das diskursiv nicht einzuholen ist, geradezu zu privilegieren. Dennoch wirft Phelans Ontologie der Performance auf mehreren Ebenen Probleme auf. Ihre Vorstellung von Performance als »spurlos« ist sowohl historisch anfechtbar als auch theoretisch bedenklich. Von vielen Performances gibt es Bilder, Berichte oder gar Videoaufzeichnungen. Einige, wie Yves Kleins Anthropometrie-Performances 1960, produzieren Leinwände, die verkauft werden können. Bei Chris Burden gehören Photos oder die harten Fakten, die ›relics‹, wie die Patronenhülse, die zu Boden fiel, nachdem er sich in »Shoot« 1971 in einer Garage in den Arm schießen ließ, zur Performance als Index dafür, dass sie stattgefunden hat und gleichzeitig als ironisches Spiel mit den Mythen, die in ihr am Werk sind. Gerade Burdens ›relics‹ generieren die Performance als Nachleben, als Mythos, wobei oft unklar bleibt, was tatsächlich ›live‹ stattgefunden hat.52 In diesem Sinne ist auch Phelans Vorstellung, jedes Schreiben über die Performance verfehle diese, zweifelhaft. Artefakte sind Teil der Performance, weil sie ›selbst‹ ein Akt des Schreibens ist, der mit kulturellen Mustern, Sehgewohnheiten, Zeichen umgeht, die immer schon ihre Wiederholung in sich tragen. Darüber hinaus gehen sie ins kulturelle Gedächtnis ein, 48 | Ibid. S. 149. 49 | Ibid., S. 148. 50 | Ibid., S. 149. 51 | Ibid., S. 148. 52 | Vgl. Paul Schimmel (Hg.), Out of Actions. Zwischen Performance und Objekt 1949-1979, Ostfildern: Cantz Verlag, 1998, S. 97.

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66 | Abwesenheit um dort, sei es als definitorische Macht, sei es in unterschiedlichen widerstreitenden Aneignungen, weiterzuleben. Als spur- und schriftlose fällt Phelans Performance hinter die von ihr selbst verwendeten dekonstruktivistischen Parameter zurück, um erneut zu einem Hort ungeteilter metaphysischer Präsenz zu werden, die Derrida als Phono- und Logozentrismus der Stimme bestimmt hat.53 Ähnlich verhält es sich mit dem Tanz. Die gerne betonte Uneinholbarkeit der Bewegung im Schreiben über Tanz positioniert den Tanz außerhalb einer gesellschaftlichen Sphäre, die nicht diskursiv ist. Das bedeutet, den Tanz letztlich nicht nur als kritische Instanz zu verkennen, sondern auch das als nicht die Sache ›selbst‹ abzuwerten, was er an Diskursen, Beobachtungen, Kontexten auszulösen im Stande ist. Philip Auslander hat in seiner Kritik an Phelan, die im wesentlichen zwar die Stoßrichtung ihres Arguments verkennt, aber dennoch bedenkenswerte Einwände liefert, herausgestellt, dass die Unwiederholbarkeit des Sprechakts nicht per definitionem außerhalb des Gesetzes steht. So werden in Gerichtsprozessen in den USA Zeugenaussagen auf Video vor Gericht nicht zugelassen und nur das leibhaftige Erscheinen des Zeugen bürgt für die Gültigkeit des Akts. Das einzigartige Spektakel, das Event, in dem, wie Auslander zeigt, immer schon medial-technische Vermittlungsprozesse am Werk sind, wird in einer Mediengesellschaft geradezu zum bestimmenden Wert und zum Maßstab für Authentizität.54 Und hier liegt mein Haupteinwand: Mit dem Postulat der reinen aufgeladenen Präsenz als dem Gewinn, den Subjekte aus der ontologischem Abwesenheit der Performance ziehen können, eine Art Lustprämie als Kompensation für den Verlust, ist eine Kritik an der herrschenden Ökonomie nicht zu formulieren. Obwohl Phelan anfangs betont, dass Kunstwerke nie außerhalb der ökonomischen Sphäre stehen können, spricht sie in ihrer ontologischen Kehre plötzlich davon, dass Performance außerhalb der »economy of reproduction« stattfände. »To the degree that performance attempts to enter the economy of reproduction it betrays and lessens the promise of its own ontology«.55 Nichtreproduktiv und in diesem Sinn abwesend, »unmarked« zu sein, heißt sich dem Markt widersetzen. »Visibility politics are compatible with capitalism’s relentless appetite for new markets and with the most self-satisfying ideologies of the United States: you are welcome here as long as you are

53 | Zur Kritik an Phelan vgl. Eckhard Schumacher, »Performativität und Performance«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturtheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 383-402. 54 | Philip Auslander, Liveness. Performance in a Mediatized Culture, London/ New York: Routledge, 1999, S. 112-131. 55 | Phelan, Unmarked, op. cit, S. 146; meine Hervorhebung.

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productive. The production and reproduction of visibility are part of the labor of the reproduction of capitalism«.56 Performance kann dies tun, weil sie kein Objekt produziert, das als Fetisch begehrt werden kann. Das Produzieren von Dingen, die als Ware im ökonomischen Kreislauf zirkulieren können, ist aber nur die eine Seite der hier angesprochenen Verdinglichung menschlicher Beziehungen. Wird die Beziehung zwischen den Menschen im Spätkapitalismus zunehmend über Waren und nicht mehr über Ideen oder Diskurse bestimmt, so wird, wie Jean Baudrillard eindringlich argumentiert hat, deren abstrakter Tauschwert zum bestimmenden Wert. Nicht mehr der Gebrauch der Dinge ist zentral, sondern deren Zeichencharakter für Schönheit und Erfolg. Um den menschlichen Körper legt sich ein zweiter Körper der Werbung, der sich, zum körperlosen Bild geworden, jeglicher Erfahrung und jeglichem Austausch mit anderen entzieht. Ein solcher Körper kann nur konsumiert werden. Vor dem Hintergrund dieser Argumentation ist nicht die Ware das Problem, sondern ihr Doppelcharakter als Ding und als Simulakrum, wobei die Präsenz des letzteren die Materialität des Objekts aufzuheben droht und in einen Leerlauf der Bilder überführt. Die reine Präsenz, die Peggy Phelan betont, legt die Vorstellung nahe, Performance falle aus der Sphäre des Symbolischen heraus und funktioniere rein auf der imaginären Ebene individueller Bildentwürfe und Phantasmen, sie funktioniere mithin auf der Ebene der Baudrillardschen Simulakren. Wir konsumieren nicht Objekte, sondern, um ein Oxymoron zu gebrauchen, deren spurlose Aura als gesellschaftliches Kapital. Aufbauend auf einer Ontologie der Präsenz, unterscheidet die Performance, in der ein wie auch immer gearteter sinnvoller zwischenmenschlicher Austausch stattfinden soll, nichts von einem Fußballspiel oder einem Broadway-Musical. Die Präsenz der sofortigen Befriedigung setzt sich im Simulakrum absolut. So kann genau die Nicht(re)produktivität, die für Phelan das stärkste Argument für die Widerständigkeit der Performance ist, die Ökonomie stützen: durch hemmungslosen Konsum von immer Neuem, weil das Alte keinen Bestand hat. Der wiederum führt zu einer Geschichte, die sich ständig selbst auslöscht und möglichst keine Spuren hinterlässt, um den reibungslosen Neukonsum nicht zu behindern. In dieser Hinsicht ist Phelans »tracelessness« auch als Vermeidung von Müll zu verstehen. Sauber und rein erinnert uns nichts mehr an die Verantwortung, die wir für die Folgen unseres Konsumierens übernehmen müssen. Der Konsum der Performance ist ein voyeuristischer, und wie der Voyeur suchen wir immer neue Simulakren, weil keines uns die versprochene Befriedigung bringen darf. Die Ontologie der Performance kann problemlos als Apologie für die Werte 56 | Ibid., S. 11.

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68 | Abwesenheit der globalisierten Welt, wie Beweglichkeit, Flüchtigkeit, Wurzellosigkeit, Flexibilität und Sich-Ständig-Neuerfinden, dienen. Dass Peggy Phelan durchaus ein anderes Verständnis von künstlerischer Performance hat als von der Performance eines Fußballspiels, wird in folgendem Zitat deutlich: Performance calls witness to the singularity of the individual’s death and asks the spectator to do the impossible – to share that death by rehearsing for it. The promise evoked by this performance then is to learn to value what is lost, to learn not the meaning but the value of what cannot be reproduced or seen (again). It begins with the knowledge of its own failure, that it cannot be achieved.57

Hier wird die Unwiederholbarkeit und Einmaligkeit der Performance weniger aus der Präsenz definiert, sondern gerade aus der Absenz. Nur durch die Abwesenheit als etwas, das nicht sein kann, öffnet sich die Performance für eine Erfahrung, die sich dem reinen Spektakel, das Erfüllung im Moment verspricht, widersetzt. Performance spielt mit der Abwesenheit, deren ultimativer Horizont der Tod ist. Dass sie dies durch Proben oder Einstudieren mit den Zuschauern zu erreichen sucht, impliziert hier erneut die Wiederholung, die aus der Absenz in der Präsenz immer schon eine Spur macht. Zum anderen spricht sie in diesem Zitat der Performance die Aufgabe des zwischenmenschlichen Teilens zu. Performance etabliert eine bestimmte Art von Sozietät, einer Sozietät, die sich nicht nur über die Abwesenheit eines Objekts, sondern darüber hinaus auch über die Abwesenheit eines Simulakrums für dieses Objekt definiert. Hier erhält die Kategorie der Abwesenheit, die Phelan bei der Verschiebung von der Abwesenheit als operativ-generativer Funktion hin zur Performance-Aufführung als ›manisch aufgeladener Präsenz‹ aus dem Blick geriet, wieder ihre kritische Funktion in einer Gesellschaft des reinen Tauschwerts zurück. Gerade hier gilt es, entgegen der Ontologie der Präsenz die Abwesenheit auf Seiten der Kunst wieder ins Spiel zu bringen als eine Kategorie, die sich als analytische und kritische dem Absolutheitsanspruch des Live-Spektakels widersetzt, weil es auf Spuren angewiesen ist. Die Spuren verhindern letztlich die Schließung im rein Imaginären, weil sie intersubjektiv symbolisch, mithin gesellschaftlich verhandelt werden müssen. Was widerständig ist, ist nicht die Präsenz, sondern die Reste, die sich um deren Abwesenheit gruppieren, diese erinnern und performativ produktiv verwenden. Nicht das Verschwinden der Performance per se ist widerständig, sondern die Abwesenheit, die mit und zwischen dem Material der Performance von dieser inszeniert wird. 57 | Peggy Phelan, »Statements«, in: Adrian Heathfield (Hg.), Live Culture, London: Tate Modern, 2003, S. 40.

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Welche Präsenz? Fried, Féral, Pontbriand, Fuchs

Peggy Phelan ist in ihrem Versuch, Live-Performance als ›manisch aufgeladene Gegenwart‹, als pure spurlose Präsenz zu denken, nicht allein. Schon 1982 haben Josette Féral und Chantal Pontbriand in zwei Artikeln Performance von Theater abgegrenzt, indem sie Performance als Dekonstruktion des traditionellen literarischen Theaters verstanden haben.58 Während das Theater weder der Repräsentation noch der Narrativität und damit verbunden der Vorstellung von sich selbst gegebenen handelnden Subjekten entkommen kann, erkunde die Performance, so Josette Féral, »the under-side of theatre, giving the audience a glimpse of its inside, its reverse side, its hidden face.«59 Sowohl Féral als auch Chantal Pontbriand beziehen sich in ihren Definitionen auf Michael Frieds 1967 erschienenen epochalen Text »Art and Objecthood«.60 Fried beruft sich darin auf Clement Greenbergs einflussreiche Definition der Moderne, nach der jede Kunstform bestrebt ist, sich auf ihre irreduziblen Mittel zu konzentrieren und alles der eigenen Kunstform Fremde wegzulassen. Für die Malerei etwa hieße das, sie reduziere sich auf ihre Flächigkeit und das Mittel der Farbe, welche dem Betrachter unmittelbar gegeben sind. Übertragen auf den Tanz bedeutet es, dass Tanz sich mit Bewegung in Raum und Zeit als dessen unhintergehbaren Möglichkeitsbedingungen beschäftigt. In der Begegnung mit dem Kunstwerk macht der Betrachter eine Erfahrung, welche spiritueller Natur und demnach allgemeingültig ist. Fried belegt diese Kunsterfahrung folgerichtig auch mit dem religiösen Begriff der Gnade: »Presentness is grace«.61 In Abgrenzung zu dieser Vorstellung von dem, was moderne Kunst ausmache, bezichtigt Fried die minimalistische Kunst der 1960er Jahre der Theatralik.62 Die Skulpturen von Donald Judd oder Tony Smith versuchten, ebenso wenig wie die Popart von Andy Warhol oder Robert Rauschenberg, ihren Objektstatus zu transzendieren. Vielmehr beharren sie für Fried darauf, mit Objekten verwechselt werden zu können. Sie entfalten ihre Prä58 | Chantal Pontbriand, »›The eye finds no fixed point on which to rest …‹«, in: Modern Drama 25 (1982), S. 154-162; Josette Féral, »Performance and Theatricality: The Subject Demystified«, op. cit. 59 | Féral, op. cit., S. 176. 60 | Michael Fried, »Art and Objecthood«, in: Gregory Battcock (Hg.), Minimal Art. A Critical Anthology, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1995, S. 116-147. 61 | Ibid., S. 147. 62 | Fried weicht in dem Punkt von Greenbergs Definition ab, wo er die Nachhaltigkeit einzelner Kunstwerke auch in ihrer Zeit begründen möchte; vgl. dazu: Philip Auslander, From Acting to Performance, London/New York: Routledge, 1997, S. 49-57.

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70 | Abwesenheit senz in einem Raum und brauchen zur Vervollständigung ihrer Wirkung einen Betrachter, der sich Zeit nimmt, sie aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Gerade die Zeit ist es, die Fried als essentiell für die Kunstform des Theaters erachtet. Minimal Art widersetzt sich demnach den modernistischen Kriterien der reinen Selbstgegebenheit und Selbstbezüglichkeit, die das Kunstobjekt zu mehr machen als einem Objekt, das der Willkür des Rezipienten unterworfen ist. Indem die Minimal Art auf dem Objektstatus des Werks beharrt, vermag sie der Allmacht des Subjekts nichts entgegenzusetzen: »that the beholder is confronted by literalist work within a situation that he experiences as his means that there is an important sense that the work in question exists for him alone, even if he is not actually alone with the work at the time.«63 Frieds anti-theatrale Kritik zielt demnach in erster Linie auf ein Theaterverständnis, das Theater als Selbstbestätigung eines narzisstischen Subjekts sieht, als Spektakel, das konsumiert werden kann, ohne spirituellen Mehrwert zu erzeugen, der über das Objekt hinausverweisen würde. Doch Fried verkennt hier, dass in der Erfahrung der Kunst der Gegenstand nie nur ein singulärer Gegenstand ist, sondern immer schon ein doppelter: Er fungiert als Zeichen seiner selbst. Damit sind auch die Objekte der Minimal Art selbstreflexive Objekte, die es vermögen, das Subjekt nicht zu bestätigen, sondern zu hinterfragen. Wie das geschieht, darauf komme ich später zurück.64 Was in unserem Kontext hier zunächst wichtig ist, sind die beiden unterschiedlichen Begriffe, die Fried von der Präsenz des Kunstwerks gebraucht. Während die Minimal Art mit ihrer »theatralischen« Kunst eine Situation schafft, die den Betrachter und dessen Körper voraussetzt und daher lediglich Gültigkeit in der Zeit haben kann, sind die Erfahrungen, die die modernistische Malerei und Skulptur ermöglichen, der Zeit enthoben: »It is as though one’s experience of the latter has no duration […] because at every moment the work itself is wholly manifest.«65 Diese aufgehobene Zeit, die sich der fragmentierenden und aufschiebenden Wirkung des Betrachterblicks widersetzt, bezeichnet Fried im Gegensatz zu »presence« als »presentness«: »It is this continuous and entire presentness, amounting, as it were, to the perpetual creation of itself, that one experiences as a kind of instantaneousness«.66 Die Zeit generiert sich in der modernistischen Kunst als zeitlose selbst, gerade weil sie, so Frieds Theorie, den performativen Akt der Rezeption ausblendet. Was sich in diesem Zustand, »the condition, that is, existing in, indeed of secreting or constituting, a continuous

63 | Fried, op. cit., S. 140. 64 | Vgl. Kapitel II.9 der vorliegenden Arbeit. 65 | Fried, op. cit., S. 145. 66 | Ibid., S. 146.

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and perpetual present«,67 zeitigt, ist das Erfülltsein mit ewigen Werten, die dem Kunstwerk wie Paul Valérys Tanz »conviction«, Überzeugungskraft und zeitlose Gültigkeit, verschaffen. Der Sinn eines Kunstwerks ist in jedem seiner Teile immer als ganzer, totaler gegenwärtig. In jedem seiner Teile und seiner perspektivischen Teilansichten repräsentiert sich der überzeitliche und universal gültige Sinn. Demgegenüber steht in der Situation, die die Objekte der Minimal Art herstellen, ein sich in der Zeit verändernder, durch Wiederholung und Differenz sich prozessual vollziehender Sinn, der, weil er nicht dem Objekt, sondern dem Subjekt in Auseinandersetzung mit dem Objekt anhaftet, geschichtlich unabschließbar ist. In einem Akt der Verschiebung, den Philip Auslander genauer untersucht hat, übertragen sowohl Féral als auch Pontbriand, Frieds »presentness« auf die Performance, um sie dadurch aufzuwerten. Da die Performance nichts erzählt und niemanden nachahmt, so Féral, entkommt sie »all illusion and representation. With neither past nor future, performance takes place.«68 Performance schafft sich mit dem Körper einen Raum, der als »one time only«-Erfahrung nicht wiederholbar ist.69 Pontbriand formuliert: »the characteristic presence of performance could be called presentness – that is to say, performance unfolds essentially in the present time.«70 Was die Präsenz der Performance nun von der Präsenz der Theateraufführung unterscheidet, ist ihr nicht-repräsentierbarer Charakter, »this desire to discover […] – what is involved in indeed an obvious presence, not a presence sought after or represented; this desire to discover, then, a here/now which has no other referent except itself.«71 Bei beiden wird die Performance damit unter der Hand zu einer modernistischen Kunstform im Sinne von Fried und Greenberg, denn aus ihren distinkten Elementen Körper, Raum und Zeit, die in Opposition zu denen des Theaters stehen, schafft sie eine zeitlose Erfahrung, die sich auf nichts bezieht außer auf sich selbst. Selbstreferentiell wie ein modernistisches Gemälde, verschließt sie sich jeder Geschichtlichkeit. Philip Auslan67 | Loc. cit. Über die Gültigkeit von Frieds und Greenbergs Modernismusdefinition ist hiermit nichts ausgesagt. Hier geht es einzig um die argumentativen Verstrickungen, die Frieds Essay gerade auch in der Theaterwissenschaft ausgelöst hat. Es dürfte aber mittlerweile ein Allgemeinplatz in der kunstgeschichtlichen Forschung sein, dass die schon von Lessing formulierte Trennung der Künste nicht haltbar ist, da auch das Betrachten eines Bildes einen fragmentierenden, ausblendenden, mithin einen lesenden Blick impliziert; vgl. Gottfried Boehm, »Die Wiederkehr der Bilder«, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München: Fink, 1995, S. 11-38. 68 | Féral, op. cit., S. 177. 69 | Ibid., S. 175. 70 | Pontbriand, op. cit., S. 155. 71 | Ibid., S. 157.

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72 | Abwesenheit der bemerkt deshalb zu Recht: »This last claim sounds strikingly like those Fried makes for the self-sufficient modernist painting. […] Whereas Fried posits presentness as a defining characteristic of modernist art, Féral and Pontbriand posit it as a defining characteristic of post-modern performance.«72 Auslander rückt dieses Verständnis von Präsenz in den Zusammenhang mit den Theatertheorien von Jacques Copeau, Peter Brook, Julian Beck, Antonin Artaud und Jerzy Grotowski, jenen Theaterreformern und -utopisten, die ein verändertes Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum, sowie vom Körper des Schauspielers zu Sprache und Figur anstreben. Die Präsenz des Schauspielers, seine Verkörperung einer Rolle und dem damit verbundenen Ausdruck eines Selbst, das sich über die sprachlich fixierte Rollenfigur vermittelt, vermag, wie bei Brook und Copeau, die Zuschauer in einen emotionale Nähe zueinander zu bringen »by celebrating their common identity as human beings«. Oder aber sie streben (Artaud, Grotowski und Beck) eine geistige Erneuerung an, die auf der Auslösung von psychischen Impulsen beruht. Auslander fasst beide Spielarten unter dem Begriff des »holy theatre«, des heiligen Theaters zusammen, weil sie mit dem Medium Theater universale Wahrheiten erfahrbar machen wollen.73 Was Auslander in seiner Argumentation jedoch außer acht lässt, ist der veränderte Subjektbegriff, mit dem Féral und Pontbriand operieren. Die selbstreferentielle Gegenwart, die sie für die Performance reklamieren, kann sich nur herstellen, indem das Subjekt diese nicht mehr, wie bei Michael Fried, als Gnade empfängt, sondern indem es sie und damit sich selbst herstellt. Die Produktion von Gegenwart schließt demnach zum einen auch die Geschichte des Subjekts, sein individuelles Gedächtnis und das kulturelle Gedächtnis, vor dem es sich platziert, ein. Zum anderen impliziert es eine Verbindung mit dem dem Subjekt Heterogenen, das das Subjekt selbst in Frage stellt. So versteht Josette Féral Performance als Auseinandersetzung mit dem Körper, »a body perceived and rendered as a place of desire, displacement, and fluctuation, a body the performance conceives of as repressed and tries to free«.74 Dieser begehrende Körper schafft sich seinen eigenen Raum, in dem das Subjekt sich selbst untersucht, einen

72 | Auslander, Performance, op. cit., S. 155-156. 73 | Ibid., S. 13. Der Begriff des heiligen Theaters stammt von Peter Brook, der damit in seinem Buch The Empty Space ein Theater bezeichnet, das das Abwesende darzustellen sucht. Für Brook steht das Abwesende jedoch für Abstrakta und Werte wie das Böse oder das Schöne, für die es keine allgemeingültige Repräsentation geben kann, die jedoch im heiligen Theater evoziert werden können; Peter Brook, The Empty Space, Harmondsworth: Penguin, 1972, S. 47. 74 | Féral, op. cit., S. 171.

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Raum, »which becomes the site of an exploration of the subject«.75 Die Selbstreferentialität, die Auslander Féral und Pontbriand unterstellt, erzeugt keineswegs wie bei Fried eine abgeschlossene, ein für alle Mal gültige Sinnfülle. Selbstreferentialität meint hier gerade die Unabgeschlossenheit der ästhetischen Erfahrung, die sich zwischen Subjekt und Performance abspielen kann, weil diese, wiewohl sie auf die Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben zielt, sich nach wie vor im Rahmen der Kunst vollzieht. Das Imaginäre der Performer wie der Rezipienten spielt sich immer schon im symbolischen Rahmen der Zeichen und der Sprache ab. Dieser Doppelcharakter der Kunst, der auch für die Performance gilt, nämlich Material und Zeichen zu sein, veranlasst Féral zur Behauptung: »Performance is the absence of meaning. […] And yet, if any experience is meaningful, without a doubt it is that of performance. Performance does not aim at a meaning, but rather makes meaning insofar as it works right in those extremely blurred junctures out of which the subject eventually emerges.«76 »The notion of theatrical presence has two fundamental components«, fasst Elinor Fuchs die Problematik zusammen. »[T]he unique self-completion of the world of the spectacle, and the circle of heightened awareness flowing from actor to spectator and back that sustains the world.«77 Gegen dieses Verständnis von Theater als Präsenz, in dem der Schauspieler seinen vorgeschriebenen Text so spricht, als wäre er ihm gerade eingefallen, um alles Vorgängige in eine Erfahrung der Gegenwart zu überführen, setzt Fuchs ein Theater der Abwesenheit. »A theatre of Absence, by contrast, disperses the centre, displaces the Subject, destabilizes meaning.«78 Mit ihrem Text zielt Fuchs auf das amerikanische Avantgarde- und Performancetheater seit den späten 1970er Jahren. Das Ablesen von Texten auf der Bühne wie bei der Wooster Group, das Thematisieren von Übersetzungsprozessen und das Loslösen der Stimme vom Körper des Schauspielers gilt ihr als Einzug der Schrift im Sinne Derridas in den Aufführungsraum, einer Schrift, welche die sich selbst gegebene Präsenz des Schauspielers unterminiert und auf ein Außerhalb hin öffnet, das bei Fuchs jedoch abstrakt und undefiniert bleibt. »Theatre«, so Fuchs, »is ever the presence of the absence and the absence of the presence.«79 Was diese Abwesenheit der Präsenz leistet, ist demnach die Öffnung des als »zeitlos« verstandenen Kunstgegenstands auf, wie Victor Burgin es sieht, Fragen der Darstellung und der Repräsentation, mithin der Ge75 | Ibid., S. 173. 76 | Loc. cit. 77 | Elinor Fuchs, »Presence and the Revenge of Writing. Re-Thinking Theatre after Derrida«, in: Performing Arts Journal 26/27 (1985), S. 163-173, hier: S. 163. 78 | Ibid., S. 165 79 | Ibid., S. 172.

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74 | Abwesenheit schichtlichkeit und Kontingenz von Bedeutung.80 Auch in der reinen Zeitlichkeit der Performance gibt es Dinge, Materialien, Elemente, die in einen wie auch immer strukturierten Zusammenhang gebracht werden, die am Ort der Performance aufgrund des individuellen und kulturellen Gedächtnisses des Rezipienten sowie seines Begehrens zusammengedacht und zusammengebracht werden. Die Performance daher als repräsentationsfreien Raum der puren Präsentation zu behaupten, heißt, ähnlich wie Phelan die Gegenwart der Aufführung zu einem transzendentalen Objekt zu erheben. Entgegen der Behauptung von Peggy Phelan, die Performance sei »spurlos«, setzen Auslander, Fuchs und Burgin gerade auf das Finden von Spuren, das die Aufführung als gemachte gesellschaftliche Praxis ausweist, als Diskurs innerhalb anderer Diskurse.81 Diesen Spuren ist prinzipiell ein Moment der Wiederholung eigen, auf deren Doppelcharakter ich bereits hingewiesen habe. Einerseits etabliert sie im Sinne Valérys die Zeitlosigkeit des Tanzes als abgeschlossene und einzigartige Darbietung. Zum anderen hält sie die Chance bereit, durch Transposition von Elementen oder diskursiven Strategien in den Kontext der Aufführung, diese durch De- und Rekontextualiserung zu hinterfragen und ihre Bedeutung im Sinne von Fuchs zu zerstreuen. Dieser Vorgang kann, wie Samuel Weber gezeigt hat, bis zur Destruktion jedes Bedeutungszusammenhangs gehen.82 In der Wiederholung und Versetzung von Material von einer Zeitstelle an eine andere läuft das Material Gefahr, ein anderes zu werden. Mit dem Konzept der Wiederholung kommt auch eine andere Vorstellung des Performativen ins Spiel. Nicht mehr länger definiert durch seine unwiederholbare Präsenz, deren reinster Ausdruck die künstlerische Performance ist, setzt diese Definition des Performativen gerade auf die Iteration. Judith Butler hat im Zusammenhang mit ihrer Theorie von der Performativität der sozialen Geschlechtsidentität darauf hingewiesen, dass Performativität etwas anderes, Grundlegenderes bedeute als die künstlerische Praxis der Performance: 80 | Victor Burgin, »The Absence of Presence: Conceptualism and Postmodernism«, in: Victor Burgin, The End of Art Theory. Criticism and Postmodernity, London: Macmillan, 1986, S. 29-50, hier: S. 48. 81 | Wie durch Abwesenheit Spuren innerhalb der Aufführung gelegt werden, die gesellschaftliche Kontexte abrufen, habe ich am Beispiel des Theaters der Wooster Group gezeigt; vgl. Gerald Siegmund, »Stimm-Masken: Subjektivität, Amerika und die Stimme im Theater der Wooster Group«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Stimme – Klänge – Töne: Synergien im szenischen Spiel, Tübingen: Gunter Narr, 2002, S. 69-79. 82 | Samuel Weber, »Vor Ort: Theater im Zeitalter der Medien«, in: Gabriele Brandstetter/Helga Finter/Markus Weßendorf (Hg.), Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste, Tübingen: Gunter Narr, 1998, S. 31-51.

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II Präsenz und Abwesenheit | 75 [P]erformance as bounded ›act‹ is distinguished from performativity insofar as the latter consists in a reiteration of norms which precede, constrain, and exceed the performer and in that sense cannot be taken as the fabrication of the performer’s ›will‹ or ›choice‹; further, what is ›performed‹ works to conceal, if not to disavow, what remains opaque, unconscious, unperformable. The reduction of performativity to performance would be a mistake.83

Butler versucht mit dieser Differenzierung dem Missverständnis vorzubeugen, die soziale Geschlechtsidentität sei eine Sache der freien Wahl eines selbstbestimmten Subjekts, das seine Geschlechtsidentität wie in der Praxis des drag an- und ablegt wie ein Kleid. Vielmehr ist das werdende Subjekt immer schon gesellschaftlichen Normen und Zuschreibungen unterworfen, die, einem performativen Sprechakt gleich, sprechend-handelnd das hervorbringen, wovon sie reden. In seinen (sexuellen) Handlungen wiederholt das werdende Subjekt unweigerlich diese Normen und schreibt sich durch Identifkation in sie ein. »This view of performativity implies that discourse has a history«, schreibt Butler, eine Geschichte, die ebenfalls erst diskursiv hervorgebracht wird.84 Die drohende Gefahr des Determinismus, die in ihrem Modell angelegt scheint, versucht Butler dadurch abzuwenden, dass sie die Zitierbarkeit der heterosexuellen Norm in einer »discursive refiguration« gegen sich selbst wendet. »To the extent that gender is an assignment, it is an assignment which is never quite carried out to expectation, whose addressee never quite inhabits the ideal s/he is compelled to approximate.«85 In der performativen Wiederholung können Normen deshalb verändert werden. Der Theatralität kommt in Butlers Theorie die Funktion zu, eine dieser Möglichkeiten zur Resignifikation bereitzustellen. In dem Maße, in dem es Theatralität von Expressivität befreit und ihr eine Funktion zuspricht, die über »self-display or self-creation«86 hinausgeht, vermag das theatrale Zitieren von Normen als diskursive Basis für Widerstand dienen. »This kind of citation will emerge as theatrical to the extent that it mimes and renders hyperbolic the discursive convention that it also reverses.«87 Versteht man Theatraliät im Gegensatz dazu lediglich als »darstellerische Realisierung«, mithin als Akt, hat sie Anteil an der ideologischen Verschleierung der Geschichtlichkeit des Diskurses, die die Performativität gerne verdeckt, um an

83 | Judith Butler, Bodies that Matter. On the Discursive Limits of »Sex«, London/New York: Routledge, 1993, S. 234. 84 | Ibid., S. 227. 85 | Ibid., S. 231. 86 | Ibid., S. 232. 87 | Ibid., S. 323.

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76 | Abwesenheit der Macht der Norm festzuhalten.88 Theatralität vermag gegen die stabilisierende Tendenz der Performativität gerichtet werden, um diese zu unterminieren. Das, was zur darstellerische Realisierung, zur Performance, gelangt, verbirgt stets das, was in der Performativiät als Abwesendes und Unrealisiertes wiederholt und behauptet wird. Dass jeder Akt dieses Echo früherer Handlungen in sich trägt und deshalb nie einmalig, nie nur »performance« sein kann, hat Peggy Phelan in ihren späteren Texten mit Bezug auf Judith Butler selbst gesehen. So erkennt sie fünf Jahre nach Unmarked in The Ends of Performance das Konzept der Iteration nicht nur als grundlegend für die Performativität, sondern auch für die Performance an. Damit lässt sie ihrerseits die Idee einer Kopie und damit implizit auch eines Nachlebens der Performance zu. Darüber hinaus wertet sie entgegen Butlers Abgrenzungsversuch die Performance allerdings auch auf. Nicht mehr nur im Dienste der Norm stehend, kann auch die Performance, weil sie auf dem performativen Prinzip der Wiederholung basiert, zur Destabilisation von Normen genutzt werden. Dennoch bleibt auch in dem späteren Text das Ziel ihrer Ausführungen die einmalige Präsenz der Performance, die sich nun, in Abänderung ihres ursprünglichen Konzepts, nachträglich in der Wiederholung beim Betrachter einstellt. »Performance und Performativität sind durch die Iteration miteinander verflochten; die Kopie erweist die Performance als authentisch und erlaubt es dem Betrachter, im Darsteller Präsenz zu finden.«89 Auch hier ist der Rückfall in metaphysische Präsenzvorstellungen nicht gebannt, bleibt doch die Einmaligkeit Fluchtpunkt von Phelans Überlegungen. Dagegen möchte ich argumentieren, dass sich das Echo früherer Akte, auf dem die Iteration beruht, nicht mit dem Begriff der Präsenz theoretisch fassen lässt. Von dieser Warte aus rückt Phelans Plädoyer für das Unmarkierte, Abwesende wieder ins Blickfeld, das sie im Gang ihrer Argumentation zunächst auf die gesamte Performance als immer schon verschwundene, abwesende ausgeweitet hat, nur um es schließlich gegen eine Ontologie der Präsenz einzutauschen. Ich möchte für den Fortgang dieser Arbeit an der kreativen und kritischen Fähigkeit der Abwesenheit, die Phelan markiert hat, festhalten, ohne dabei in den metaphysisch grundier88 | »What this means, then, is that the performative ›works‹ to the extent that it drags on and covers over the constitutive conventions by which it is mobilized«; ibid., S. 227; Butler spricht der Performativität hier eine konservative Tendenz zu, weil sie Normen hinter dem Rücken des Subjekts bestätigt. Performativität ist durch ihre Verschleierungstaktik der Präsenz wertkonservativ. Hier verbindet sich Butlers Argumentation mit meiner Kritik an Phelans Ontologie der Präsenz. 89 | Peggy Phelan, »Introduction: The Ends of Performance«, in: Jill Lane/ Peggy Phelan (Hg.), The Ends of Performance, New York: New York University Press, 1998, S. 10; zitiert nach: Schumacher, op. cit., S. 393; meine Hervorhebung.

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ten Absolutheitsanspruch zu verfallen, der Abwesenheit und ihre Kehrseite, die Präsenz, zu uneinholbaren Erfahrungen macht, über die man letztlich nur sagen kann, dass sie immer schon bereits verschwunden sind. Vielmehr geht es mir darum, Abwesenheit und Präsenz in ein funktionales Konfigurationsverhältnis zu bringen, mit dem sich spezifische Strategien bestimmter Tanzstücke beschreiben und analysieren lassen. Die Aufwertung des negativen Terms des Begriffspaares betont hier nicht das Verschwinden, sondern das Werden, das Eröffnen von potentiellen Räumen, die performativ wiederholt und dadurch verändert werden können.

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Rezeption als Performanz: Martin Seels Ästhetik des Erscheinens

Ein drittes Modell, Präsenz zu denken, legt der Philosoph Martin Seel vor. Sein an der Wirkungs- und Rezeptionsästhetik der 1960er und 1970er Jahre geschulter Versuch möchte die philosophische Ästhetik auf der Grundlage des Begriffs des ›Erscheinens‹ revidieren. Ästhetische Wahrnehmung ist demnach kein gesondertes Vermögen, sondern ein bestimmter Modus von Wahrnehmung, der prinzipiell immer möglich ist und sich auf jeden Gegenstand richten kann. Richtet sich Wahrnehmung auf das sinnliche Gegebensein von etwas, so unterscheidet sich die ästhetische Wahrnehmung von der nicht-ästhetischen darin, dass sie nicht in erster Linie auf das faktische »Sosein« des Gegenstands in seinen pragmatischen Möglichkeiten konzentriert, sondern auf all die verschiedenen simultan gegebenen sinnlichen Qualitäten, die der Gegenstand zeigt. Einen Gegenstand als ästhetischen wahrzunehmen, hieße demnach, ihn in seiner aus einer sinnlichen Überdeterminiertheit resultierenden Unbestimmtheit wahrzunehmen und diese zuzulassen, anstatt seine Eigenschaften pragmatisch festzulegen. Seel differenziert drei Dimensionen der ästhetischen Wahrnehmung, die sich nicht notwendigerweise auf die Wahrnehmung eines Kunstobjekts beziehen. Legen wir eine »Offenheit für das Erscheinende« an den Tag, können wir uns »auf das sinnliche Gegenwärtigsein von etwas beschränken« und uns hineinversenken.90 Seel nennt dies die »kontemplative ästhetische Wahrnehmung«.91 Fassen wir die Präsenz eines Gegenstands oder einer Situation »als Widerschein einer Lebenssituation«92 auf, suchen wir also nach Verbindungen und Referenzpunkten in unserer Existenz, spricht Seel von

90 | Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München/Wien: Hanser Verlag, 2000, S. 148. 91 | Ibid., S. 150. 92 | Ibid., S. 148.

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78 | Abwesenheit einem »atmosphärischen Erscheinen«.93 Das »artistische Erscheinen« schließlich bezieht sich auf das besondere Erscheinen von Kunstwerken und deren Wahrnehmung. »Von den anderen Objekten des Erscheinens unterscheiden sich Kunstwerke grundsätzlich dadurch, daß sie Darbietungen sind.«94 Dadurch, dass Kunstwerke ihr jeweiliges Material auf eine ›nichtsubstituierbare‹ Art artikulieren, präsentieren sie sich, indem sie auf sich zeigen. Wo dieses Spiel von Darbieten und selbstreflexivem Zeigen in den Vordergrund tritt, »werden Objekte in ihrem artistischen Erscheinen auffällig.«95 Indem Seel die Tatsache des Erscheinens als grundlegend für die ästhetische Wahrnehmung erachtet, hintergeht er die Dialektik von Sein und Schein, die in der philosophischen Ästhetik traditionell zur Bestimmung von Kunstwerken herangezogen wurde. Das Kunstwerk bringt weder ein Wesen noch eine Illusion zur Anschauung, sondern zuallererst sich selbst in seiner spezifischen Materialanordnung. Ziel der ästhetischen Wahrnehmung von Kunstwerken ist das Herstellen von Gegenwart, die in ihrem Reichtum an Möglichkeiten erfahrbar und anschaubar wird. Diese dritte Art von Präsenz zielt weder auf das Abschließen eines Kunstobjekts als Symbol für allgemeinmenschliche und metaphysische Werte noch auf das alleinige faktische Gegebensein von Dingen, denen wir zuschauend beiwohnen. Sie zielt weder auf die Transzendierung der Zeit noch auf deren reinen Verlauf. In Seels philosophischer Reformulierung wirkungsästhetischer Erkenntnisse siedelt sich das ästhetische Objekt im Raum zwischen Betrachter und Objekt an. Erst als wahrnehmend aufgefasstes Objekt kommt es ins Spiel, wobei das, was wahrgenommen wird, sich am gegebenen Material entzündet. In der Wahrnehmung von Kunstwerken findet also ein »doppeltes Spiel«96 um Gegenwart statt, das eine subjektiv, das andere objektiv; das eine stellt Gegenwart her, das andere bietet eine Gegenwart dar. Diese »drastisch bis unmerklich gespaltene Gegenwart«97 hat gegenüber den anderen Präsenzmodellen den Vorteil, dass sich in ihr sowohl sinnlich emotionale als auch reflexiv intellektuelle Zugänge zur Kunst verschränken. Fragen der Repräsentation können hier ebenso wie begriffslose sinnliche Empfindungen ausgespielt werden. Gerade weil dieser Zwischenbereich als Arbeit an der Wahrnehmung verstanden wird, hebt er diese nicht aus der Zeit heraus, sondern bringt sie ins Spiel. Der reflexive Bereich, den die Kunstwahrnehmung eröffnet, bringt die historischen, kulturellen und künstlerischen Kontexte, in denen das Material unweigerlich 93 | Ibid., S. 152. 94 | Ibid., S. 156. 95 | Ibid., S. 177 96 | Ibid., S. 218. 97 | Seel, Erscheinen, S. 218.

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steht, in einen anderen, neuen Erfahrungszusammenhang.98 Genau um diesen, und nicht primär um den Kontext, geht es. Selbstreferentialität der Kunst wird hier nicht als Entrücktheit des Kunstwerks in eine Sphäre der Idealität verstanden, sondern als kritische Praxis, die sich der Wirklichkeit entgegenstellt. Was sich zwischen Objekt und Rezipienten als Kunstwerk zur Anschauung darbietet, nehmen wir in seiner »prozessierenden Sinnlichkeit« war.99 Wir vollziehen seine Bewegung mit, die unsere Wahrnehmung choreographiert. Richten wir dabei das Augenmerk auf den Prozess, das Werden und Vergehen von Wahrnehmungen und Erfahrungen, nehmen wir die Energien des Kunstwerks vor dessen fixierten Gestalten war. Um dies anschaulich zu machen, verwendet Seel die Metapher des Tanzens. »Wir sind eins nicht mit dem Werk, aber mit der Bewegung des Werks. Alle Wahrnehmung eines Rauschens in der Kunst hat die Form eines Tanzes, wie reglos wir diesen auch ausführen mögen.«100 Eins sein mit der Bewegung des Werks heißt tanzen, es heißt immer wieder und immer wieder neu performative Akte zu vollziehen, die das Objekt zur Anschauung bringen, ohne es zu arretieren, festzustellen oder in seinem Gehalt eindeutig zu identifizieren. Wir, die wir diese intellektuellen, imaginativen und sinnlichen Akte ausführen, werden umgekehrt von diesen affiziert und mitgerissen. Jean-Luc Nancy hat in ähnlicher Weise auf die »Entstehung zur Präsenz« verwiesen.101 Er stellt dem Prozess des Werdens des Kunstwerks, das nie nur Objekt ist, die Geschichte der abendländischen Repräsentation gegenüber, die bestimmt und den Dingen einen Ort und eine Bedeutung zuweist und ihr Leben in dieser metaphysischen Gegenwart tötet. Dem dialektischen Paradigma »der reinen Präsenz/Abwesenheit« setzt er das »es gibt« entgegen, das in seinem hypothetischen Charakter weder Substanz noch »da« ist.102 »Sobald die Entstehung ankommt, löst sie sich auf und setzt sich unendlich fort. Die Entstehung ist jener Entzug der Präsenz, durch den alles Präsenz erlangt.«103 Das Da, das immer schon Fort ist, bringt hervor. Nancy denkt Abwesenheit nicht in Opposition zur Präsenz, die der absoluten Opposition von Tod und Leben entspräche, sondern als Ort der Möglichkeiten, die sich ins Spiel bringen, die sich hervorbringen. Auch hier ist es nicht schwierig, im »Kommen-und-Gehen«, im »Hin und Her« des Ent-

98 | Ibid., S. 174. 99 | Ibid., S. 188. 100 | Ibid., S. 247. 101 | Jean-Luc Nancy, »Entstehung zur Präsenz«, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.), Was heißt »Darstellen«?, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, S. 102-106. 102 | Nancy, op. cit., S. 104. 103 | Ibid., S. 105.

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80 | Abwesenheit stehens,104 das bestrebt ist, »alle Bestimmungen zu verwandeln, zu versetzen, zu überschreiten«,105 den Tanz als Grundlage des Denkens auszumachen. Tanz wird zur Metapher für ein Denken, das seine Begrifflichkeit permanent aussetzt und aufs Spiel setzt. Hier rückt die Abwesenheit erneut ins Blickfeld, die Seel aus seiner Vorstellung der »gespaltenen Gegenwart« ausgeschlossen hat. An dieser Stelle gilt es nun mit Seel über Seel hinauszugehen. Ist das Theater die Form schlechthin, in der die traditionelle Opposition von Sein und Schein zur Bestimmung der Kunst außer Kraft gesetzt wird, so zeigen sich im und durch das Theater, wie Seel es will, Körper, Stimmen, Gesten, Räume und deren konstellative Verbindungen. Das Theater ist immer schon zugleich real und fiktiv. Doch sie erscheinen, als Material vom Signifikanten stets schon angeschnitten, einerseits als Vorübergehende und andererseits als Abwesende in einer bestimmten Rahmung, die, um die Dinge erscheinen zu lassen, abwesend und ausgeblendet bleiben muss. Wie alles Verdrängte kehrt die Abwesenheit jedoch zurück, vor allem in den Beispielen, die Seel anführt, und die von der Gegenwart zeugen sollen. Unbestritten stellen sowohl James Turrells Lichtinstallation »Slow Dissolve«106 als auch Walter de Marias Skulptur »Der vertikale Erdkilometer«107 im Akt der Rezeption, der nicht mit dem metaphysischen Akt des einmaligen Ins-Werk-Setzens zu verwechseln ist, Gegenwart her. Doch die Gegenwart, die sie zeigen, weist signifikante Leerstellen auf. Das Gegenwartsbewusstsein, in dem wir uns befinden, käme nicht zustande, wäre in der uns im Kunstwerk konfrontierenden Gegenwart nicht eine fundamentale Abwesenheit eingeschrieben, die die ästhetische Wahrnehmung in all ihren Aspekten in Gang setzte. Die sinnliche Reflexion auf das Verhältnis von Bildfläche und Farbraum, die jeder Form von Bildlichkeit zugrunde liegt, setzt deshalb ein, weil sich in Turrells dunklem Raum an der Rückwand kein Bild, sondern nur ein Hohlraum befindet. Mit violettem Licht wird der Anschein einer Bildoberfläche inszeniert, wo es nur einen immateriellen Farbraum gibt. Die gesteigerte Aufmerksamkeit für den Ort, an dem sich de Marias Skulptur befindet, kommt nur zustande, weil die Skulptur als der eigentlich raumgliedernde Gegenstand abwesend ist. Unter einer Sandsteinplatte mit einem Messingdeckel hat der Künstler das lange Rohr in der Erde versenkt. Für das Denken einer Gegenwart, die die Kunstwerke mit ihrer Materialanordnung darbieten, ist nicht die Tatsache ausschlaggebend, dass etwas »da« ist, sondern dass das, was da ist, um eine Abwesenheit

104 | Ibid., S. 104. 105 | Ibid., S. 103. 106 | Seel, Erscheinen, op. cit., S. 108-110. 107 | Ibid., S. 202-203.

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gruppiert ist, die ständig wiederholt, umspielt und inszeniert wird.108 Das Weggelassene wird ausgespielt. Die Erfahrung der hergestellten Präsenz im Akt der Rezeption nimmt in dem Maße zu, in dem die dargebotene Präsenz verschwindet. Präsenz basiert demnach auf einer operativen Abwesenheit, die analytisch ist, weil sie die tradierten Normen und Erwartungen im Zusammenhang mit der Kunst, in unserem Falle dem Tanz, unterläuft und kritisch ausspielt.109 Nicht allein um das Spiel der Gegenwart ist es Kunst zu tun, sondern um das gegenwärtige Wiederholen einer Abwesenheit, die das Verhältnis von Betrachter und Gegenstand sowie deren Verhältnis zur Kultur anders definiert.

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Werden, ohne zu sein: Jonathan Burrows’ und Jan Ritsemas Weak Dance, Strong Questions

Wie kann ein solcher Tanz aussehen, der, wie es Jean-Luc Nancy formuliert, kein Objekt, kein toter Gegenstand ist, sondern stets begriffen ist im »Kommen-und-Gehen«, im »Hin und Her« des Entstehens, das bestrebt ist, »alle Bestimmungen zu verwandeln, zu versetzen, zu überschreiten«?110 Es müsste ein Tanz sein, der sich ohne Vorschrift entfaltet und der die dem Tanz inhärente Selbstauslöschung der Bewegung, ihr permanentes Verschwinden und unvorhergesehenes und unvorhersehbares Wiederauftauchen zum eigentlichen Thema des Tanzes macht. Der britische Tänzer und Choreograph Jonathan Burrows hat zusammen mit dem niederländischen Schauspieler und Theaterregisseur Jan Ritsema ein Stück entwickelt, das sich die Bearbeitung der Gegenwart und des Moments zur Aufgabe gemacht hat. Weak Dance, Strong Questions wur108 | Einen ähnlichen Einwand gegen Seels Präsenzgedanken führt Doris Kolesch im Zusammenhang mit dem Phänomen der Stimme ins Feld: »Präsenz darf hier nicht als erfüllter Augenblick, als Moment unmittelbarer und ungebrochener Gegebenheit verstanden werden. Die Erfahrung der Präsenz ist im Gegenteil gebunden an Erfahrungen der Fremdheit, des Entzugs und des Mangels«; Doris Kolesch, »Ästhetik der Präsenz: Theater-Stimmen«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001, S. 260-275, hier: S. 262. 109 | Helga Finter beschreibt diese Operation als »analytische Theatralität«, die der Theatralität des Spektakels entgegengesetzt ist: »Ein analytischer Einsatz der Theatralität, der die andere Ordnung in ihrer Präsenzwirkung hinterfragt, steht der konventionellen Theatralität entgegen, die die Evidenz der Präsenz voraussetzt. Aus der Spannung von Präsenz und Absenz, der sie einen Raum gibt, lebt so Theatralität«; Finter, Der subjektive Raum Band 1, op. cit, S. 14. 110 | Nancy, op. cit., S. 103.

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82 | Abwesenheit de am 4. Mai 2001 im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt uraufgeführt, nachdem es zuvor schon auf verschiedenen europäischen Festivals als Work-in-Progress vorgestellt wurde. Burrows ist klassisch ausgebildeter Tänzer, der seine Karriere als Solotänzer beim Royal Ballet in London begann, bevor er 1988 mit der Jonathan Burrows Group seine eigene Kompanie gründete. Ritsema arbeitete als Regisseur u.a. beim Werktheater, Maatschappij Discordia und der Toneelgroep Amsterdam, sowie bei der von ihm selbst gegründeten Gruppe Mug met de Gouden Tand. Seit 1988 ist er als Regisseur dem Kaaitheater in Brüssel assoziiert. Die beiden haben für Weak Dance, Strong Questions nur eine Absprache getroffen: Die Länge des Stücks soll 50 Minuten betragen. Ansonsten darf jeder improvisieren, wie es ihm beliebt.111 Burrows und Ritsema haben dafür auf jegliche Theatralisierung des Tanzes verzichtet. Das Licht im leergeräumten Theatersaal bleibt während der fünfzig Minuten, die das Stück dauert, an. Die Zuschauer können sich ihre Stühle selbst entlang der Tanzfläche auf ebener Erde platzieren. Bei manchen Vorstellungen stehen die Stühle auch schon in lockerer Anordnung um die Bühne herum, die nicht erhöht ist, so dass sich Zuschauer und Tänzer auf gleicher Ebene befinden. Keine Musik sorgt für die emotionale Unterfütterung der Szene. Fast unbemerkt mischen sich Jonathan Burrows und Jan Ritsema, beide in Straßenkleidung, unters Publikum und beginnen, sich mit kleinen Schritten und einem vorsichtigen Tasten mit den Armen den Raum zu nehmen. Ein kleines Vorpreschen des Kopfes, instabile Balancen, ein Absinken und wieder aufrichten, Schieflagen, Verdrehungen des Oberkörpers und des Rumpfes, als wollten sie die Körper in unmögliche Positionen bringen, aus denen sie sich nur durch Abbrechen befreien können: Bewegung entsteht hier aus einer geistigen Haltung des ›starken‹ Fragens heraus, eines Fragens allerdings, das sich nicht auf konkrete Inhalte reduzieren lässt. Auf ihre Fragen geben Burrows und Ritsema keine Antworten. Es geht ihnen einzig und allein um den Zustand des Fragens, der das Verhältnis von Geist und Körper, von Idee und Impuls zur Bewegung, jedes Mal aufs Neue sichtbar macht.

111 | Jonathan Burrows/Jan Ritsema, »Weak Dance, Strong Questions. From the Notebooks of Jonathan Burrows and Jan Ritsema«, in: Performance Research 8:2 (Juni 2003), S. 28-33.

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So lassen sie alles offen, während sie gleichzeitig alles offen legen. Nüchtern und spröde geht es hier zu. Jeglicher Anflug von Illusion wird vermieden. So dauert es eine Zeit, bis das Gezeigte seine Faszination überhaupt entfaltet. Jede Bewegung wird im Ausführen gleichzeitig zurückgenommen. Es gibt keinen logischen Anschluss, keinen Aufbau, der zu einer Choreographie im traditionellen Sinn führen könnte. Das aus dem Moment heraus und in jedem Moment sichtbar neu entstehende Material erzeugt so einen schwebenden Zustand, der, sieht man einmal von einigen wenigen Forcierungen und Beschleunigungen ab, von gleichbleibender Dynamik und Phrasierung ist. Nichts sticht hervor. Alles ist gleichwertig. Zu Boden geht hier kaum einmal jemand. Und in die Luft schon gar nicht. Burrows und Ritsema suchen die reine Gegenwart, die die moderne Kunst wie ein Phantasma begleitet. Für sie liegt das Besondere an der Präsenz weniger in einer epiphanieartigen Erfüllung, die den Moment selbstgenügsam abschlösse, als in ihrem Potential, Handlungsmöglichkeiten und -spielräume zu eröffnen. Jeder Schritt, den die beiden tun, führt ins Ungewisse und Ungesehene. Burrows und Ritsema eröffnen dem Tanz damit ein riesiges unbestelltes Feld an unverbrauchter und spannender Bewegung. Die Körper der beiden Tänzer, die sich auf der leeren Fläche umkreisen, annähern und wieder entfernen, werden dabei selbst zu Fragezeichen. Sie bedeuten nichts, stehen für keine Emotionalität. Ein solches Stück ist auch vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Tanzes mit seinen virtuosen Techniken, die das Publikum überwältigen und mitreißen, in der Tat ein ›schwacher Tanz‹. Darin aber liegt genau seine Stärke. Indem die Körper völlig unlesbar werden, vervielfältigen sie explosionsartig Fragen und mögliche Antworten im Bewusstsein der Zuschauer. Burrows und Ritsema rücken in Weak Dance, Strong Questions die symbolischen Rahmungen des Tanzes ebenso ins Blickfeld wie dessen innere Organisation, also das, was man als Choreographie, als Schreiben mit Bewegung, bezeichnet. Durch Kleidung, Licht und Bühnenorganisation wird eine Nähe zum Publikum etabliert, die die Grenze zwischen der Aktivität

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84 | Abwesenheit ausgewiesener Tänzer und der Aktivität des Zuschauens durchlässig macht. Jeder könnte sich in die Lage versetzen, aufzustehen und zu tanzen, weil es keine Rampe, kein Hindernis zwischen Tanzen und Zuschauen mehr gibt. Jonathan Burrows und Jan Ritsema eröffnen einen Raum, den man über das im Theater übliche Maß hinaus mit den Tänzern teilen kann. Dies wird verstärkt durch die Art des Tanzes, der auf virtuose Technik verzichtet. Mit Jan Ritsema ist dem Tänzer Jonathan Burrows sogar ein Nicht-Tänzer zur Seite gestellt, der sich unter den gleichen Vorgaben und Bedingungen bewegt wie der autorisierte Tänzer, ohne dass sich zwischen den beiden eine Hierarchie oder gar eine Opposition etablierte. Was dabei jedoch bewusst zum Tragen kommt, ist die Differenz der beiden unterschiedlich geformten Körper, wobei die Bewegungen des Tänzers stets ein wenig geschmeidiger, schneller und flüssiger erscheinen als die kantigeren, sperrigeren Bewegungen des Nicht-Tänzers. Doch zwischen diesen beiden Arten des Fragens wird keine Wertung vorgenommen und damit implizit auch nicht zwischen jedem anderen Versuch, so zu tanzen. Die Vorherrschaft des Tänzers als einer Person mit speziellen Fähigkeiten, die durch eine Pädagogik eingeübt wurden, die ihn berechtigt auf der Bühne für uns zu tanzen, wird hiermit in Frage gestellt. Zudem entsprechen weder Ritsema, Jahrgang 1945, noch Burrows, Jahrgang 1960, mit ihren nicht mehr ganz so jungen Körpern dem gängigen Bild eines Tänzers, dessen Karriere sich normalerweise mit Mitte Dreißig dem Ende zuneigt. Damit ist Weak Dance, Strong Questions auch eine Infragestellung gängiger Idealbilder von Tänzern, die uns auch unsere Erwartung von Schönheit und Faszination bewusst macht. Auf der Ebene der inneren Organisation des Tanzes haben die beiden das Weiß zwischen den choreographischen Linien zum Erscheinen gebracht, um diese neu ziehen zu können. Sie zeigen das Unformulierte, Offene, Fragende, was verschwindet, wenn aus einem Impuls, einem Antrieb eine Bewegung wird, die sich fortsetzt und entwickelt. Auf diese Weise besteht das Stück aus lauter potentiellen Anfängen, die immer wieder neu anfangen. »Is it that we try to dance in a way in which every moment contains the possibility of all directions?«, fragen die beiden in ihren Notizen zum Stück.112 Sie können »jede Richtung« zeigen, gerade weil sie keine Richtung verfolgen. Im Kurzschluss von Denken und Bewegen, die sich hier für einen Bruchteil einer Sekunde zusammenfinden, sind Ankommen und Werden, Aufbrechen und Verschwinden identisch. Burrows und Ritsema organisieren ihr Stück, das nur aus Unterbrechungen und Rissen besteht, um eine Fülle von Abwesenheiten herum, die zwei Dinge zur Folge haben. Zum einen tritt durch die Abwesenheit einer Choreographie als Vor-Schrift, als in irgendeiner Form notierte, die nur mehr re-präsentiert wird, der Akt der Präsentation in den Vordergrund. Was sich jedoch präsentiert, ist im 112 | Ibid., S. 31.

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eigentlichen Sinn keine Form, sondern die Möglichkeit, Moment für Moment Entscheidungen treffen zu können, die das Verhältnis der Tanzpartner zueinander und zum Publikum neu zu definieren vermögen. Das Produkt Weak Dance, Strong Questions als Stück, das auf dem Tanzmarkt verkauft wird, und der Prozess seines Herstellens, der prinzipiell offen bleibt, fallen hierbei zusammen. Darin liegt, wenn man will, die formgewordene politische Implikation des Stücks. Zum anderen, und das leitet an dieser Stelle über zum nächsten Abschnitt, rückt durch die Abwesenheit der Choreographie das Moment der Wiederholung in den Vordergrund. Das immer neue Bewegen, die Möglichkeit, jeden Moment wieder zu tanzen, bindet den Moment zurück auf das, was ihm vorausgegangen ist. Jeder Ansatz zur Bewegung wiederholt damit auch immer die vorangegangen und ihre Geschichte. Er wiederholt das Wiederholen und damit nicht die Präsenz, sondern die Abwesenheit.

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Sigmund Freud: Das anthropologische Spiel mit der Abwesenheit

Wie ist diese Abwesenheit, die produktiv ist, zu denken, ohne sie sofort, wie es Elinor Fuchs und Philip Auslander vorschlagen, als ironische Praxis zu verstehen? Sigmund Freuds »Jenseits des Lustprinzips« und darin vor allem seiner Darstellung des Fort-Da-Spiels stellen ein anthropologisches Modell bereit, das die Abwesenheit ins Zentrum des Spiels rückt, eines Spiels zumal, das sich in meiner Lesart als ein erster Tanz des Subjekts entspinnt. Vor dem Hintergrund dieses Textes erscheint der Tod nicht mehr, wie von Jean-Luc Nancy kritisiert, als stillgestellte Repräsentation, sondern als Motor der Bewegung, die von Freud nicht nur als geistige, sondern immer schon als körperliche verstanden wird. Freud versucht in diesem Text aus dem Jahr 1920 nicht mehr nur die traumatische Neurose in ihrem Funktionieren zu beschreiben, sondern darin gerade den Übergang zur normalen Arbeitsweise des seelischen Apparates zu markieren. Eben diese Normalität bringt er aufgrund von Beobachtungen zusammen mit dem Phänomen des Wiederholungszwangs, an dessen Ursprung er »das rätselhafte und andauernd wiederholte Tun« seines kleinen Enkels entdeckt, der sein Spielzeug ständig fortwirft, nur um es wieder zu holen.113 Freuds Text verbindet in unserem Zusammenhang die Vorstellung eines wiederholten, iterativen Tuns als performativer Praxis, in die sich schon der kleine Junge verstrickt, mit einem körperlichen Vorgang, 113 | Sigmund Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, in: Sigmund Freud, Studienausgabe Band III. Psychologie des Unbewußten, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1982, S. 213-272, hier: S. 224.

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86 | Abwesenheit also mit einem Handeln, das sich nicht nur auf der Ebene der Sprachzeichen, sondern vor allem als körperliche Aktion niederschlägt, die sich einübt. Freud beschreibt das Spiel des Kindes, das seinen Überlegungen zugrunde liegt, wie folgt: Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden umwickelt war. Es fiel ihm nie ein, sie zum Beispiel am Boden hinter sich herzuziehen, also Wagen mit ihr zu spielen, sondern es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so daß sie darin verschwand, sagte dazu ein bedeutungsvolles o-o-o-o und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen ›Da‹. Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man meist nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing.114

In diesem Kinderspiel, das für Freud die Arbeitsweise des seelischen Apparates in »seiner frühzeitigsten normalen Betätigung«115 darstellt, verschränken sich für eine Theorie des Tanzes mehrere zentrale Phänomene. Die Urszene des psychischen Apparates entwirft auch eine Urszene des Tanzes in all seinen Dimensionen. Die Geschichte lebt von einer Reihe binärer Oppositionen, die der Bindfaden der Spule überspringt und überbrückt, verbindet, aber auch trennt und auf Distanz hält. Für unseren Zusammenhang sind hier zunächst neben dem vom Freud explizit genannten ›Verschwinden und Wiederkommen‹ vor allem die Gegensätze von Bewegung und Stillstand sowie von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu nennen. Die Spule wird in Bewegung versetzt, geworfen und kommt, bevor sie wieder auf das kindliche Subjekt zurückkommt, im Bett kurzzeitig zur Ruhe. An jenem anderen Ort ist sie nicht nur verschwunden, sondern auch unsichtbar, wie Freud betont, denn das ›Bettchen‹ ist verhängt, so dass das Kind die Spule zwischen den Gitterstäben hindurch dort nicht mehr sehen kann. Blick und Bewegung erscheinen verschränkt, denn beide sind in einer gemeinsamen Aktivität verstrickt, in der sie nicht mehr voneinander zu trennen sind, ein Hin und Her, ein Kommen und Gehen, das die Leere ausmisst, die sich zwischen dem Fort! Und dem Da! beständig auftut. Freud deutet das kindliche Spiel als Entschädigung für das Fortgehen der Mutter, später auch allgemein als Weg, das »Unlustvolle zum Gegenstand der Erinnerung und seelischen Bearbeitung zumachen«, wie etwa einen Arztbesuch. »Indem das Kind aus der Passivität des Erlebens in die Aktivität des Spielens übergeht, fügt es einem Spielgefährten das Unange114 | Ibid., S. 225. 115 | Ibid., S. 224.

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nehme zu, das ihm selbst widerfahren war, und rächt sich so an der Person dieses Stellvertreters.«116 Indem das Kind heraustritt aus der für es unangenehmen Situation und im Spiel eintritt in eine »zeitweilige Sphäre«, wie es Johan Huizinga formuliert, wird der Konflikt symbolisch wiederholt, ausgetragen und vermag so zur Lösung gebracht werden, die auf »das ›gewöhnliche‹ oder das ›eigentliche‹ Leben« zurückwirken kann.117 Der Triebverzicht, der das Spiel nötig macht, wird daher auch von Freud als große »kulturelle Leistung« des Kindes bezeichnet.118 Wenn Freud am Ende des zweiten Abschnitts von »Jenseits des Lustprinzips« die Spule jedoch durch einen anderen Spielgefährten ersetzt, an dem das Kind sich stellvertretend rächt, geht er klammheimlich auch darüber hinweg, dass das erste Objekt seiner Geschichte ein besonderes Objekt war. Denn die Holzspule machte mit ihrem Bindfaden das nachhaltige Verhaftetsein von dem Objekt, das die abwesende Person ersetzt, und dem kindlichem Ich sinnfällig, das sich auch im Spiel von diesem Ersatzobjekt nicht völlig lösen kann. Vielmehr wirft es sich selbst in die Waagschale. Es entwirft sich hinein in den Raum, bringt sich selbst als anderen ins Spiel, indem es sich bewegt, indem es tanzt. Daniel Sibony versteht in diesem Zusammenhang den Tanz daher als »l’enfance de l’art«: als Kindheit der Kunst und mithin als erste Kunstform.119 Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang von Ich und Objekt, das mit Triebenergie besetzt ist, in einer Fußnote, in der Freud seine Beobachtungen durch eine weitere Geschichte erhärten will. Darin spielt das Kind mit sich selbst Verschwinden, indem es sein Bild vor einem Spiegel zum Verschwinden bringt. Das Kind nimmt sich in einer narzisstischen Wendung selbst zum Objekt und wiederholt mit sich selbst als anderem die Abwesenheit der Mutter. In diesem ersten bewusst ausgeführten, symbolischen Hin und Her, Auf und Ab einer Bewegung liegt der erste Tanzschritt. Sie markiert den Horizont, vor dem alle zukünftigen Tanzschritte stattfinden werden, die als Körperbewegung Subjekt und Objekt, Ausführende und Ausgeführte zugleich sind, sich aber immer auf ein Anderes hinspannen, das doppelt abwesend ist: die Mutter und in der Wiederholung der eigene Körper, der mit Hilfe der Bewegung zum Verschwinden gebracht wird. Doch von welchem Körper ist hier die Rede? Schon der Hinweis auf das 116 | Ibid., S. 227. 117 | Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, übers. von H. Nachod, Reinbek: rororo, 1987, S. 16; zur Spieltheorie und Kritik an Huizingas Prinzip des »agonalen« Spiels als allein kulturstiftend durch Roger Caillois vgl. Marvin Carlson, Performance. A Critical Introduction, London/New York: Routledge, 1996, S. 13-33. 118 | Freud, op. cit., S. 225. 119 | Sibony, op. cit, S. 113.

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88 | Abwesenheit Bild des Körpers legt nahe, dass wir es mit mehreren Körpern gleichzeitig zu tun haben. Da ist zum einen der reale Körper des tanzenden Kindes, sein Körper aus Fleisch und Blut. Dieser wird zum angeschauten Körper im Spiegel, der einen Blick von außen impliziert und den realen Körper in eine imaginäre Relation mit einem Gegenüber stellt. Als imaginäres Körperbild projiziert sich der tanzende Körper vor den Zuschauern, indem er eine mögliche Form, ein Wunsch- und Idealbild einer Gemeinschaft, durch Identifizierung und Faszination entwirft. Sowohl der reale als auch der imaginäre Körper sind eingelassen in eine symbolische Beziehung mit dem Körper der Mutter, der abwesend ist, auf den aber die Bewegung des Kindes zielt. Die Abwesenheit der Mutter, die in diesem Moment etwas anderes begehrt als das Kind und die daher etwas Drittes in deren dyadische Beziehung einführt, ermöglicht mithin jenen Eintritt des Kindes in die Kultur, von dem Freud spricht und der von einer weiteren binären Opposition unterstrichen wird: dem Phonempaar »a« und »o«. Die Bewegung hin zur Abwesenheit wird begleitet vom Eintritt in die symbolische Ordnung der Sprache, die die Abwesenheit ebenfalls wiederholt und wieder holt. Denn als Zeichensystem im Saussureschen Sinne können ihre distinkten Elemente nie die Sache selbst sein, sondern lediglich deren Ersetzung. Lacan betont diesen zeichentheoretischen Allgemeinplatz wenn er schreibt: »Das Symbol stellt sich so zunächst als Mord der Sache dar, und dieser Tod konstituiert im Subjekt die Verewigung seines Begehrens.«120 Doch die Abwesenheit der Sache ist kein Abschied für immer. Indem die (Sprach-)Bewegung die Kluft zwischen Fort und Da umtanzt, wiederholt die Abwesenheit als das movens der Bewegung ›die Sache‹ in Form einer gespenstischen, durchgestrichenen Präsenz. Durch das Wort, das bereits eine Anwesenheit darstellt, die auf Abwesenheit gründet, erhält in einem besonderen Augenblick die Abwesenheit selbst einen Namen. Genial hat Freud das kindliche Spiel als immer wiederholtes Neuschaffen dieses Moments begriffen. Aus der Modulation des Begriffspaars von Anwesenheit und Abwesenheit […] entsteht das Universum des Sinns einer Sprache, in dem sich das Universum der Dinge einrichtet.121

Die flüchtige Anwesenheit der Bewegung überspringt zwei Abwesenheiten, die eine, aus der sie entspringt, und die andere, in die sie unweigerlich wieder hinabsinkt. Ihr Wiederkommen ist jedoch ein Zurückkommen vom Tode, vom Punkt der absoluten Abwesenheit, der Grenze des Spiels, die der 120 | Jacques Lacan, »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, übers. von Klaus Laermann, in: Jacques Lacan, Schriften I, Weinheim/Berlin: Quadriga, 21986, S. 71-169, hier: S. 166. 121 | Ibid., S. 116-117.

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Tod ausmacht. Freud bettet seine Überlegungen zum kindlichen Siel ein in seine Suche nach dem Ursprung des Wiederholungszwangs, die ihn schließlich zum Postulat eines Todestriebes führt. »Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende«, schreibt er und verweist damit auf den Ursprung des Lebens im ›Fort‹.122 Die organischen Triebe kommen von jenem Ort, den Freud als ›da‹ bezeichnet und kehren ins ›da‹ zurück, womit sie, wie Samuel Weber betont, im ›da‹ schon ›fort‹ sind. Die Ununterscheidbarkeit von Abwesenheit und Anwesenheit macht es dem Leben streng genommen unmöglich zu entspringen. Die Wiederholung ist Wiederholung des Selben, das nicht von der Stelle kommen kann. Freud nimmt so eine mythische »ganz unvorstellbare Krafteinwirkung« an, die die tote Materie zum Leben erweckt habe. Damit öffnet er das hermetisch abgeschlossene ›Fort!‹ auf ein Außen, was der Wiederholung des Selben eine Differenz zufügt. »Was sie [die Triebe, d.Verf.] wiederholen, ist nicht mehr einfach das ›Selbe‹ – das Fort!, das Da! ist – sondern eher ein da, das fort ist: an einem anderen Ort und doch hier.«123 Damit ist dem Spiel der Differenz Tür und Tor geöffnet, einer Differenz, die, wie das Kinderspiel zeigt, als Bewegung die Spur des Lebens ist. Der Sprung erscheint damit als ein vehementes Heraustreten ins Leben, als Erscheinen des Lebens in der Bewegung auf ein verlorenes Objekt zu, das, weil es abwesend ist, den Sprung ins Leben überhaupt erst möglich macht. Was wiederholt wird, ist die Bewegung als Bewegung des Lebens auf immer andere Objekte zu, mit denen sich das Ich sowohl im imaginären wie im symbolischen Register in Beziehung setzt. In ihrem Dasein stehen sie ein für das ursprüngliche Objekt, das sich stets ›fort‹ und an einem anderen (unbewussten) Ort befindet. Bemerkenswerterweise fügt Freud die Deutung des Fort-Da-Spiels, dass etwas passiv Erlittenes aktiv durch Wiederholung an einem Stellvertreter bearbeitet wird, fast wortwörtlich in den dritten Abschnitt seines späten Textes »Über die weibliche Sexualität« ein. Darin rückt er die Kulturleistung des Triebverzichts in den Horizont des Ödipuskomplexes. Das Mädchen möchte in einer Phase seiner Sexualentwicklung aktiver Sexualpartner der Mutter sein, »bei voller Vernachlässigung des Vaterobjekts«,124 bevor es vom Penisneid ergriffen wird, mithin seine eigene Kastration entdeckt und

122 | Freud, op. cit., S. 248. 123 | Samuel Weber, Freud-Legende, übers. von Michael Scholl, Georg Christoph Tholen und Theo Waßner, Wien: Passagen, 1989, S. 141. 124 | Sigmund Freud, »Über die weibliche Sexualität«, in: Sigmund Freud, Studienausgabe Band V. Sexualleben, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1982, S. 273-292, hier: S. 286.

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90 | Abwesenheit damit in den Ödipuskomplex eintritt, wo es den Vater als Liebesobjekt nimmt, bevor dieser Wunsch schließlich verdrängt wird.125 Die Kastration installiert mit dem Eintritt in Sprache und Kultur den Mangel, der die Modulation von Anwesenheit und Abwesenheit und damit das Begehren nach dem Begehren des Anderen in Gang setzt. Der dritte Körper, der im Tanz neben dem realen und imaginären Körper ins Spiel gebracht wird, unterhält also eine Beziehung zum symbolischen Körper des Gesetzes. Damit sind zunächst einmal die Regeln und Codes gemeint, nach denen bestimmte Tanzästhetiken funktionieren und durch die sie sich im Theater repräsentieren. Obwohl mit dem Auftauchen der Spule, mit dem ›Da‹ des Objekts, die, wie Freud sagt, »größere Lust« verbunden ist, ist die Präsenz des Gegenstands oder des eigenen Körperbildes nicht das Ziel des Spiels. Daran lässt Freud keinen Zweifel, wenn er schon früh zu dem Schluss kommt, »daß das Kind alle seine Spielsachen nur dazu benütze, mit ihnen ›fortsein‹ zu spielen.«126 Der »erste Akt, das Fortgehen«, wird »für sich allein als Spiel inszeniert«.127 So fällt der Blick des Kindes nur selten auf die Tür, durch die Mutter wieder eintreten könnte, wie Lacan bemerkt.128 Vielmehr bleibt der Blick auf jenen Punkt geheftet, an dem die Abwesenheit aufgetreten ist, an dem die Mutter das Kind im Stich lässt. Was wiederholt wird, ist die Abwesenheit, die Kluft, die auftritt und um die das Kind das »Sprungspiel«129 der Spule in Szene setzt. Für Lacan liegt der Sinn dieses Spiels daher weniger in der Beherrschung der Situation als im Einüben in die fundamentale Spaltung des Subjekts. »Aber, im Gegensatz zu dem, was die gesamte Phänomenologie der Daseinsanalyse als radikalen Existenzgrund begreifen will, gibt es kein Dasein mit dem fort.«130 All die »kleinen Gegenstände, denen es habhaft werden konnte«, wie Freud schreibt,131 symbolisieren demnach nicht die Mutter, ersetzen also nicht ihre Präsenz im Hier und Jetzt, sondern all die kleinen Objekte, die in der Lacanschen Algebra als Objekt a firmieren, setzen das Begehren nach dem Begehren der Mutter in Gang, die, weil sie fort ist, etwas Drittes begehrt, zu dem das Kind keinen Zugang hat,

125 | Sigmund Freud, »Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds«, in: Studienausgabe Band V. Sexualleben, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1982, S. 253-266, hier: S. 262-264. 126 | Freud, »Lustprinzip«, op. cit., S. 225; meine Hervorhebung. 127 | Ibid. S. 226. 128 | Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoananlyse. Das Seminar Band XI, übers. von Norbert Haas, Weinheim/Berlin: Quadriga, 31987, S. 68. 129 | Loc.cit. 130 | Ibid., S. 25. 131 | Freud, »Lustprinzip«, op. cit., S. 224.

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weil es ihm unter Androhung der Kastration für immer versperrt bleibt. Sie sind mithin ein Einüben in die Abwesenheit.

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Nijinskys Sprungspiele: Le spectre da la rose

Ein solches »Sprungspiel«, das die Abwesenheit in den Bühnenraum zurückholt, indem sie sie als Imaginäre präsent macht, steht im Zentrum von Mikhail Fokines Ballett Le spectre de la rose, das 1911 von Diaghilews Ballets Russes in Monte-Carlo uraufgeführt wurde. Den Geist der Rose tanzte Waslaw Nijinsky, seine Partnerin war Tamara Karsawina. Die Handlung dieses etwa zehnminütigen Balletts ist einfach.132 Ein Mädchen kehrt von einem Ball zurück in sein Zimmer und träumt von der Liebe. Es sinkt in einen Sessel, der vor einem offenen Fenster steht, drückt eine Rose an seinen Busen und schläft ein. Der Geist der Rose springt aus dem Fenster herbei, umtanzt und berührt es und tanzt mit ihm einen Walzer. Während des gesamten Pas de deux’ hält es den Blick gesenkt, schaut ihn nicht an als Zeichen dafür, dass der Geist ihm nur im Traum erscheint. Schließlich führt er es zum Sessel zurück und entschwindet durch ein anderes Fenster. Das Mädchen erwacht und erinnert sich an seinen Traum. Die Geschichte ist von Anfang an eine des Begehrens, das sich auf etwas richtet, was jenseits der Szene, also ob-scena, liegt. Damit berührt es den Bereich des Irrealen, Nichtsichtbaren, den Bereich dessen, was nicht gesehen werden darf oder kann, weil es für den symbolischen Ort potentiell obszön, ob-scena, ist. Die Tänzerin eilt bei ihrem Auftritt zum Fenster und greift mit ihren ausgestreckten Armen hinein ins Leere, als wolle sie die Präsenz des Mannes heraufbeschwören, bevor sie sich erhitzt ihres Überkleides entledigt und in den Sessel sinkt. Die Rose, die sie sich aufgeregt mit ein paar Pas de bourrées aus der Vase holt, um sie an ihre Brust zu drücken, steht von Anbeginn ein für die Abwesenheit des Mannes. Sie fungiert als Fetisch, der auch am Ende zurückbleibt und liebkost wird, nachdem der Geist längst wieder verschwunden ist. Parallel zur Anfangsszene steht die Tänzerin am Ende erneut am Fenster, die Rose vor ihren Körper haltend, 132 | Zur Entstehung des Balletts aus einer Gedichtzeile von Théophile Gautier siehe Richard Buckle, Nijinsky, Herford: Busse Seewald, 1987, S. 127; zur Beschreibung des Balletts vgl. Buckle, op. cit., S. 136-138. Meiner Interpretation liegt Buckles Text zugrunde, sowie die Aufzeichnung einer Rekonstruktion des Balletts der Pariser Oper aus dem Jahr 1991 mit Manuel Legris als Rosengeist und Claude de Vulpian als junges Mädchen. Die Aufzeichnung unterscheidet sich zum Teil von Buckles Beschreibungen. So nimmt das Mädchen etwa die Rose nicht, wie Buckle schreibt, »von ihrem Busen«, sondern sie pflückt sie aus einer Vase, die auf einem Tisch im Bühnenhintergrund steht.

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92 | Abwesenheit und verlängert ihre Körperlinie mit nach hinten leicht weggestrecktem Bein nach vorne, als wolle sie ebenfalls hinaus aus dem Fenster ins Offene. Das Stück rahmt das Begehren der Frau, indem es in den Proszeniumsbogen des Theaters nochmals zwei Rahmen auf die Bühne stellt. Denn die beiden Fenster, durch die der Geist der Rose hinein- und wieder hinausspringt, sind mehr als bloße Bestandteile des biedermeierlichen Interieurs, das als Dekor dient. Sie markieren die Grenzen zum Nichtdarstellbaren und fungieren als Bilderrahmen oder Bildschirme, in deren Rahmung das Phantasma überhaupt erst sichtbar wird. Zum ersten Mal sehen wir den Tänzer auf Zehenspitzen und mit weit nach oben gestreckten, sich umeinander windenden Armen tatsächlich als Bild im Fensterrahmen stehen, bevor er zum Sprung ansetzt. Damit setzt sich die erstarrte Szene, in der selbst die Protagonistin eingeschlafen ist, in Bewegung. Mit seinem knappen Trikot und seinem Kopfschmuck aus rosafarbenen und roten Rosenblüten verkörperte Nijinsky die Abwesenheit als Objekt der Begierde. Auch er wird als Fetisch ausgestellt, als Äquivalent der Rose, die die Frau an sich drückt. Er fungiert als Zeichen der Abwesenheit, als Signifikant, der das Begehren der Frau und im übertragenen Sinn auch das der Zuschauer durch seinen Sprung ins Bild und damit in Gang setzt. Le spectre de la rose, das die Funktionsmechanismen von Tanz und seiner theatralen Rahmung bewusst reflektiert, ist berühmt geworden durch die beiden Sprünge Nijinskys durch den Fensterrahmen ins Zimmer und wieder hinaus. Das Ballett inszeniert den Sprung als Sprung hinein in die Repräsentation und wieder aus ihr heraus.133 Auf diese Art verwebt er das Innen und Außen, das Sichtbare und das Unsichtbare, das Darstellbare und Nichtdarstellbare, das immer wieder aus dem Rahmen fällt und das in der Bahn des Tänzers für zehn Minuten Gestalt annimmt. Die beiden Sprünge eröffnen und rahmen damit einen Zeitraum, in dem das Gesetz der Begierde in Szene gesetzt wird. Das, was im Tanz gezeigt wird, bleibt in der Schwebe, zum einen, weil es auf der Ebene des Dargestellten als Traum gekennzeichnet ist, zum anderen weil es auf der Ebene der Darstellung in der Luft stattfindet. Nijinsky war für seine Sprungkraft berühmt. So beschreibt ihn etwa Rebecca West:

133 | Ein vergleichbares Herausfallen aus der Ordnung der Repräsentation durch Begehren inszeniert Michail Fokine auch in Petrouschka. Im letzten der vier Bilder springt Petrouschka, verfolgt vom eifersüchtigen Mohren, aus dem Puppentheater auf die Bühne hinaus in die Menge, wo er vom Mohren erschlagen wird. Im Unterschied zum Rosengeist jedoch, der am Ende den Repräsentationsraum mit einem Sprung sprengt, indem er aus ihm verschwindet, läuft Petrouschka geradewegs aufs Publikum zu, dorthin, wo die Bühnenfiktion endet, um dort zu sterben.

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II Präsenz und Abwesenheit | 93 Der Gipfel seiner Kunst war der Sprung. Er sprang hoch in die Luft, und dort schien er mehrere Sekunden zu verharren. Gesicht und Körper suggerierten, daß er noch höher steigen, den indischen Seiltrick mit sich selbst als Seil vorführen, sich durch eine unsichtbare Decke in den Raum katapultieren und verschwinden würde. Aber dann kam er – und das war das zweite Wunder – langsamer herunter als er aufgestiegen war, und landete weich wie ein Hirsch, der eine Schneewehe überwindet.134

Nijinskys Schwester, Bronislawa Nijinska, führte die Wirkung seiner Sprünge auf die Übergänge und Nuancen während des Sprungs selbst zurück, die den Eindruck erweckten, er berühre nie den Boden.135 Der Sprung transformiert den Tänzer. Er erhebt ihn auf ein anderes Energieniveau, das ihn beinahe zum Verschwinden bringt. Der Sprung findet zwischen zwei Energielevels statt als etwas Herausgehobenes, im wahrsten Sinne des Wortes Erhobenes. Er markiert die Geburt eines neuen, eines zweiten Körpers des Tänzers, der seinen Ausgang vom Unendlichen nimmt. Der Sprung, wie es Daniel Sibony formuliert, ist »une discontinuité du côté de l’Autre ou dans le rapport à lui«, eine Diskontinuität, die durch eine Anrufung des Anderen hervorgerufen wird.136 Dieser neue Körper, »qui part de l’Infini de cette coupure, qui prend cet infini comme origine«, macht andere Sprünge möglich, »et celle-ci une fois inscrite permet d’inscrire d’autres sauts«,137 die an jenen ersten Sprung erinnern, indem sie als kulturelle Phänomene seine Spuren in sich tragen. Auf die Formation dieses von Sibony angesprochenen Gesetzes werden wir später zurückkommen. Erinnert werden soll hier an dieser Stelle noch einmal an die Fähig134 | Zitiert in: Richard Buckle, Nijinsky, S. 225. 135 | Bronislawa Nijinska, Early Memoires, London: Faber & Faber, 1981, S. 86. 136 | Sibony, op. cit, S. 109. Sibony führt sie kulturgeschichtlich zurück auf die Transformation des Menschenopfers in ein Tieropfer und damit auf Abrahams Opfer von Isaak, das im entscheidenden Moment von einem göttlichen Boten auf Messers Schneide unterbrochen wurde. Diese Unterbrechung, die etwas anderes, noch nicht Dagewesenes möglich macht, ist die erste Einschreibung des Sprungs in die abendländische Kultur, der in der Etymologie des hebräischen Wortes »Passah«, (Sprung, frz.: Pâque, dt.: Ostern) nachklingt. Helga Finter erinnert im Zusammenhang mit Mallarmés Konzeption des Livre an die sakrale Funktion des Sprungs. Im jüdischen Jom Kippur Fest wird an zentraler Stelle die Geschichte des Opfertieres erzählt, das anstelle von Abrahams Sohn Isaak geopfert wurde. Der Sänger fällt dabei dreimal zu Boden, wird selbst zum Sündenbock, das den Sturz und den Sprung des Opfers performativ vollzieht, um die ausgegrenzte Gewalt ins Symbolische zu integrieren; Helga Finter, »Le Livre de Mallarmé et Le Rite du Livre. Stratégies de l’hétérogène dans le rite et la performance«, in: Yehuda Moraly (Hg.), Perspectives. Le sacré dans la littérature et les arts, Jerusalem: Éditions Magnès, 1997. S. 9-21. 137 | Ibid., S. 108.

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94 | Abwesenheit keit des tanzenden Körpers, Räume auszuheben und zu schaffen, die, performativ iterativ etabliert, Möglichkeiten der Besetzung und der Verwendung eröffnen. Der Sprung und seine in die Präsenz geholte Abwesenheit in Le spectre de la rose sind ein Beispiel dafür. Obwohl Le spectre de rose auf allen Ebenen das Begehren inszeniert, sind viele Kritiker darauf bedacht, die sexuelle Wirkung von Nijinskys Tanz herunterzuspielen. Fokine hatte die Ausgestaltung der Rolle des Rosengeistes Nijinsky selbst überlassen, der sich die konventionelle Choreographie aus Diagonalen und Kreisen, mit denen der Rosengeist den Sessel umtanzt und die wie im klassischen Ballett die Bühnenbeherrschung des männlichen Tänzers signalisieren, zu eigen machte. Richard Shead bemerkt dazu: »With that extraordinary instinctive artistry (as opposed to intelligence) which he possessed, he had modified Fokine’s rather ordinary choreography and contrived to turn himself into a spirit rather than a powerful male dancer in an unusual and indeed potentially disastrous (because potentially ludicrous) costume and situation.«138 Als Mann konnte Nijinsky nicht so tanzen, wie er es tat. Als »geschlechtsloses, als Rose kostümiertes Wesen«, so Buckle, konnte er es sehr wohl.139 Doch in der Aufführungssituation lässt sich die Tatsache, dass es ein Männerkörper ist, der tanzt, kaum leugnen. Die Materialität des Signifikanten sperrt sich gegen die restlose Sublimierung des Begehrens ins Reich der reinen Spiritualität. Das zeigen bereits zahlreiche Photographien, auf denen Nijinsky als Rosengeist zu sehen ist. Leon Baksts Kostüm, im Rücken tief decolletiert, wurde von zwei Trägern gehalten, der eine auf den Schultern, der andere auf den Oberarmen, so dass diese Bereiche in ihrer Nacktheit betont wurden. Die kurze Trikothose endet mit ihrem Rosenblütenbesatz knapp unter den Pobacken und läuft vorne im Schritt zu einem kleinen Dreieck zusammen und hebt damit den Geschlechtsbereich hervor. Die Rolle des Rosengeistes fügt sich ein in eine Reihe von androgynen Phantasiefiguren, wie den goldenen Sklaven in Schéhérazade (1910), den blauen Gott in Le Dieu Bleu (1912), Narziss in Narcisse (1911) und natürlich den Faun in seiner ersten eigenen Choreographie L’Aprés-midi d’un faune (1912), mit denen Nijinsky berühmt wurde. Als ein der Realität entrücktes Fabelwesen, das gerade weil es auf der Ebene des Dargestellten eine Phantasiegestalt und kein Mann war, konnte er heterodoxe Männerbilder entwickeln, die sich nur artikulieren konnten, indem sie den begehrenswerten Körper des Manns durch Entrückung gesellschaftlich legitimierten.140 Ein Oszillieren zwischen dem realen Körper des Tänzers und dem imaginären Körper 138 | Richard Shead, Ballets Russes, New York: Knickerbocker Press, 1989, S. 45. 139 | Buckle, op. cit. S. 137. 140 | Zu Nijinskys Männerbildern im Diskurs seiner Zeit vgl. Ramsay Burt, The Male Dancer, London/New York: Routledge, 1995, S. 74-100.

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des Rosengeistes setzt ein, ein Flimmern, das Rahmenverschiebungen möglich macht, indem es Ausgegrenztes ins symbolische Darstellungssystem zurückholt. Ein solches Ausgegrenztes war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der männliche Tänzer schlechthin, der mit dem Kult um die Ballerina im romantischen Ballett und der Auflösung der männlichen Corps de ballets in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum stützenden Anhängsel der Tänzerin degradiert wurde. Dass es sich beim Geist der Rose um eine bewusste Umkehr der Geschlechterrollen handelt, lässt sich aus der künstlerischen Praxis Michail Fokines deduzieren. Fokine hatte schon 1907 in seinem Ballett Der sterbende Schwan ebenso wie im gleichen Jahr für Les Sylphides auf Randfiguren des romantisch-klassischen Balletts zurückgegriffen, um sie, befreit von jeglicher Handlung, als eigenständige Kräfte ins Zentrum seiner Ballette zu stellen. Plötzlich wird ein Schwänchen aus den anonymen Corps-Formationen von Schwanensee herausgelöst und zum Star im Rampenlicht, ironischerweise nur, um dort in einem letzten kurzen Aufleuchten der großen Ballett-Tradition zusammen mit dem 19. Jahrhundert zu sterben.141 Auch für Le spectre de la rose lässt sich ein solcher Bezug festmachen. Die Szene stellt nichts anderes dar als eine direkte Umkehrung der ersten Szene aus La Sylphide aus dem Jahr 1832. Filippo Taglioni hatte das Ballett, das heute als das erste große romantische Ballett gilt, an der Pariser Oper mit seiner Tochter Marie Taglioni als Sylphide und Joseph Mazilier als ihrem Partner James choreographiert. Auch darin hebt sich der Vorhang über einem Interieur. Er gibt den Blick frei auf einen Mann, James, der vor einem offenen Fenster auf der einen Seite und einem Kamin auf der anderen in seinem Sessel eingeschlafen ist. Auch La Sylphide erzählt die Geschichte von einem unmöglichen Begehren, das just in jenem Moment mit dem Tod der Sylphide zu Ende geht, in dem James glaubt, sie für immer an sich zu binden. James soll am nächsten Tag heiraten, doch er träumt von einer Sylphide, die prompt durch das Fenster hereinflattert und vor ihm kniet wie später der Rosengeist vor der Frau, die er nach einem Walzer zurück in den Sessel geleitet hat. Die Sylphide umtanzt den Sessel, erweckt James in einen merkwürdigen Dämmer-Wachzustand, in dem er sie festzuhalten versucht. Doch sie entschwindet durch den Kamin. Fokine hat in seiner Choreographie lediglich die Rolle der Tänzerin mit jener des Tänzers vertauscht. Statt der Frau hat er den Mann als Objekt des unerreichbaren Begehrens ins Bild gesetzt und im Gegenzug die Frau als begehrende Frau, die sexuelle Wünsche hat, zugelassen.142 Bei seinem ers-

141 | Vgl. Tim Scholl, Petipa to Balanchine. Classical Revival and the Modernization of Ballet, London/New York: Routledge, 1994. 142 | Mit dieser Umkehrung der Geschichte ist Fokine eigentlich zurückgekehrt

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96 | Abwesenheit ten Erscheinen als Bild im Fensterrahmen steht Nijinsky auf Zehenspitzen und trippelt auf der Stelle, gerade so als tanze er auf Spitze wie die klassische Ballerina. Innerhalb dieses veränderten Rahmens allerdings belässt Fokine alles beim Alten. Erweist sich der Rosengeist doch als derjenige, der die schlafwandelnde Frau sicher führt und lenkt und der mit seinen kontrollierten Drehungen am Platz, seinen Pirouetten, Arabesquen, Entrechâts und raumgreifenden Sprüngen die Bühne in allen Dimensionen beherrscht. Aber er tut dies alles unter veränderten Vorzeichen, die eine Umwertung des Ballettcodes des 19. Jahrhunderts sowie, damit verbunden, auch eine Umbesetzung traditioneller Rollenbilder und deren Repräsentation darstellen. Für Nijinsky ist die Bühne und die Zeit seines Auftritts in Le spectre de la rose nur eine Passage zwischen zwei Abwesenheiten, die er mit seinen Sprüngen zur kurzen Gegenwart des Tanzes verwebt. Das Fort-Da-Spiel, das er mit seinem Körper und seinen Bewegungen inszeniert, überspringt die Kluft, die die Abwesenheit auftut und erhebt sich tanzend-transformierend über sie. Inszenierung, Choreographie und Tanz von Le spectre de la rose, so die These, thematisieren nicht in erster Linie eine banale Liebesgeschichte, sondern sie haben diese Abwesenheit zum Thema, die den Kern des Begehrens und den Kern des Tanzbegehrens ausmacht. Das Ballett reflektiert auf die Struktur der Ersetzung, damit Etwas und nicht Nichts sei, und reduziert seine knappe Versuchanordnung auf diesen strukturellen Kern, den es ausstellt. Die Ersetzung ruft gleichzeitig im Sprung die rituelle Struktur des Sündenbocks auf, dessen Opfer für die anderen hier durch den männlichen Tänzer übernommen wird. Das ausgegrenzte Begehren kehrt als Phantasma, als Geist und Gespenst, zurück in den symbolischen Raum der Bühne.

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Das Bewegende – L’(é)mouvant: Georges Didi-Huberman

Nijinskys Sprung, in dem die Beine weit gestreckt wie auseinanderklaffende Scherenblätter in der Luft zu stehen scheinen, fügt sowohl dem faktisch Sichtbaren als auch der harmlosen Geschichte einer träumenden Frau einen Schnitt zu. Durch den Spalt, der sich durch Nijinskys perfekte Elevazu einer Figurenkonstellation, die der ursprünglichen Libretto-Idee zugrunde lag. In der Geschichte »Trilby, or the Imp of Argyll« von Charles Nodier aus dem Jahr 1822 verführt ein männlicher Geist die Frau eines Fischers. Adolphe Nourrit, der das Libretto für La Sylphide schrieb, hat schließlich den Rollentausch aus männlicher Sicht vorgenommen; vgl. dazu Deborah Jowitt, Time and the Dancing Image, op.cit., S. 2947.

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tion und den Ballon öffnet, blitzt etwas Anderes, Gefährlicheres auf, das das Publikum faszinierte und den Mythos Nijinsky, der bis heute nachwirkt, kreierte. Der Sprung eröffnet ein Begehren, das nicht nur die Frau im Sessel verspürt, sondern auch die Zuschauer. Mit Georges Didi-Huberman könnte man sagen, dass das Ballett, das wir sehen, uns von genau jenen Punkten aus anblickt, uns trifft und betrifft.143 Was geschieht an diesem herausragenden Punkt, an dem uns das Angeblicktwerden bewusst wird, mit der Erfahrung der Gegenwart, die unsere Beziehung zum Kunstwerk definiert? Georges Didi-Huberman entwickelt diese Frage anhand der minimalistischen Kunst im Amerika der 1960er Jahre, eben jener Kunst, der Michael Fried vorwarf, theatralisch zu sein und damit die modernistische ›presentness‹ zur unerträglichen banalen ›presence‹ zu degradieren. Der bildende Künstler Robert Morris hat diese Theatralität, welche für Fried die bildende Kunst ihrer Spezifik beraubt, in bezug auf seine Arbeit wie folgt beschrieben: Only one aspect of the work is immediate: the apprehension of the gestalt. The experience of the work necessarily exists in time. […] Some of the new work has expanded the terms of sculpture by a more emphatic focusing on the very conditions under which certain kinds of objects are seen. The object itself is carefully placed in these new conditions to be but one of the terms. The sensuous object, resplendent with compressed internal relations, has had to be rejected. […] But the concerns now are far more control of and/or cooperation of the entire situation. Control is necessary if the variables of object, light, space, body are to function. The object has not become less important. It has merely become less self-important. By taking its place as a term among others the object does not fade off into some bland, neutral, generalized or otherwise retiring shape. […] So much of what is positive in giving to shapes the necessary but non-dominated, non-compressed presence has not yet been articulated.144

Sobald wir das Kunstobjekt nicht nur sehen, sondern eine Erfahrung mit ihm machen, verlassen wir bereits, wie auch Seel festgestellt hat, die Immanenz des Werks. In dieser Erfahrung, die sich auf die gesamte Rezeptionssituation ausdehnt, spielen der Gegenstand, Körper, Licht und Raum 143 | Georges Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, übers. von Markus Sedlaczek, München: Fink, 1999. Im französischen Original lautet der Titel des Buches Ce que nous voyons, ce qui nous regarde. Damit spielt Huberman mit der Doppelbedeutung von »regarder« als »betrachten«, »anblicken« aber auch als »betreffen« und »angehen«. Das, was uns anblickt, ist also auch das, was uns betrifft. 144 | Robert Morris, »Notes on Sculpture«, in: Gregory Battcock (Hg.), Minimal Art. A Critical Anthology, Berkeley/London/Los Angeles: University of California Press, 1995, S. 222-235, hier: S. 234-235.

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98 | Abwesenheit als Variablen gleichberechtigte Rollen. Die Ausgestaltung des Objekts als solches tritt hinter dessen performativer Qualität in der konkreten Situation zurück. Das Objekt handelt in einer theaterähnlichen Situation, die Morris selbst für einige seiner geometrischen Objekte reklamiert hat: Der Vorhang geht auf. In der Mitte der Bühne erhebt sich eine acht Fuß hohe und zwei Fuß breite Säule aus grau bemaltem Sperrholz. Ansonsten ist die Bühne leer. Dreieinhalb Minuten lang geschieht nichts; niemand kommt herein, und niemand geht hinaus. Plötzlich fällt die Säule um. Dreieinhalb Minuten vergehen. Der Vorhang schließt sich wieder.145

In dieser in ihrer extremen Reduktion an Samuel Becketts PerformanceStücke der 1970er Jahre erinnernde Szene ist das Objekt zum agierenden Subjekt und damit zum Double des Schauspielers geworden. Doch welche Qualität hat dieses Double und was löst es aus? Die Säule aus Sperrholz hat zum einen die Kraft, uns zu verstören, weil sie Unerwartetes tut: Sie tritt auf, bewegt sich und fällt aus unerfindlichen Gründen sogar flach zu Boden, wie es ein Schauspieler oder gar ein Tänzer tun würde. Wie Nijinskys Sprung berührt uns diese Fallbewegung und öffnet damit den Raum und die Zeit für eine andere Erfahrung, die, daran lässt Huberman keinen Zweifel, eine des Todes und des Verlustes ist. Schon Michael Fried hatte in seiner Abwertung der Minimal Art auf den merkwürdigen Umstand hingewiesen, dass die Objekte unsere gewohnte Rezeptionshaltung unterlaufen. Egal ob es sich dabei um ein einzelnes Objekt handelt oder ob innerhalb eines skulpturalen Arrangements die gleiche Form mehrmals wiederholt wird, immer verweigern die Dinge eine interne Strukturierung von distinkten Teilen, die die Betrachter miteinander in Beziehung setzen könnten. Deshalb erscheinen die Kuben oder L-förmigen Teile zunächst banal zu sein. Auf der anderen Seite besitzen sie in ihrer Größe und Dimension wie Robert Morris’ umfallende Stehle anthropomorphe Qualitäten, die auf den Betrachter unheimlich wirken. Sie sind weder übergroß, um das Gefühl eines unbeherrschbaren Erhabenen auszulösen, noch zu klein, um als Objekt dominiert und benutzt zu werden. »In fact«, resümiert Fried daher, »being distanced from such objects is not, I suggest, entirely unlike being distanced, or crowded, by the silent presence of another person; the experience of coming unto literalist objects unexpectedly – for example, in somewhat darkened rooms – can be strongly, if momentarily, disquieting in just this way.«146 Obwohl sie uns abweisen, gehen und blicken sie uns an, weil sie

145 | Didi-Huberman, Was wir sehen, op. cit., S. 51. 146 | Fried, op. cit., S. 128; Für Fried sind minimalistische Objekte daher »literalist objects«, also »buchstäbliche« Objekte.

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auf gleicher Höhe mit uns agieren. Doch von welchem Ort aus sie uns anblicken, bleibt uns verborgen. Sie geben nichts preis. Diese Latenz des Sinns, die die Materialität des Objekts nicht symbolisch übersteigt und in eine Präsenzmetaphysik rettet, ist für Fried das Beunruhigende, weil die Erfahrung, die das Subjekt mit dem Gegenstand macht, nicht aufzuheben und abzuschließen ist.147 Die Identifikation des Theaters mit dem Spektakel, die Fried vorschnell vornimmt, basiert demnach auf der Verkennung der oszillierenden Bewegung zwischen Subjekt und der spezifischen Materialität des Kunstobjekts, das im Falle der Minimal Art das Subjekt gerade nicht spiegelt. Die ästhetische Erfahrung ist keine Qualität des Objekts, sondern spielt sich zwischen Objekt und Rezipient ab. Die ästhetische Erfahrung zwischen Subjekt und Objekt setzt vielmehr auch das Subjekt aufs Spiel, indem es dessen Geschlossenheit selbstreflexiv hinterfragt. Weil sich weder Sinn noch Subjekt in der ästhetischen Erfahrung abschließen lassen, unterliegen auch Sinn und Bedeutung der Werke historischer Wandlung; sie sind also auch deshalb nicht abschließbar und auf einen Blick in ihrer Fülle wahrzunehmen. Die Erfahrung, die die Objekte der Minimal Art auslösen, präsentiert uns in der Tat eine Welt, in der wir als Subjekte nicht vorkommen, eine Welt des Todes und der Abwesenheit also, die uns zugleich zutiefst anspricht und beunruhigt, weil unsere Abwesenheit auf der Seite des Objekts uns diesseits des Objekts, das uns als Subjekt anblickt, als geschlossene identische Subjekte infrage stellt. Diesem abwesenden, nicht zu verortenden Anderen müssen wir uns über das Theater, mehr noch über den Tanz und die Bewegung, annähern. Fried lässt keinen Zweifel, dass es der Anthropomorphismus ist, der die »unheilbare« theatrale Qualität der Minimal Art ausmacht.148 Durch die Variablen Licht, Raum, Körper und Zeit müssen wir uns und die Situation, in der wir uns befinden, performativ immer wieder anders erfahren. Das unheimliche Double macht das Subjekt demnach nicht zum Objekt. Vielmehr erfährt sich das Subjekt als hervorbringendes: von Bedeutung und von sich selbst in Abhängigkeit vom Objekt. Die verschobenen Zeitlichkeiten und Räumlichkeiten, die unterschiedlichen Dauern, die im Zusammentreffen verschiedener an der Situation beteiligten Subjekte entstehen, sind nun für Huberman gerade nicht präsent, obwohl sie performativ Gegenwart herstellen. Diese zeigt uns nicht eine menschliche Gegenwart, wie Seel es meint, sondern sie figuriert vielmehr 147 | Juliane Rebentisch setzt daher die Erfahrung der Minimal Art mit der ästhetischen Erfahrung allgemein gleich. Vor diesem Hintergrund kann es keine nicht-theatrale Kunst geben, wie es Fried behauptet, weil ästhetische Erfahrung prinzipiell eine offene ist. Gerade diese Unabgeschlossenheit macht ihre Autonomie aus; Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 60. 148 | Fried, op. cit., S. 130.

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100 | Abwesenheit die Abwesenheit einer solchen.149 In dieser Welt kommen wir nicht vor. Morris’ Stehle spiegelt uns nicht, sie repräsentiert den Menschen nicht, den sie dennoch in seiner Form anblickt. Ein »Band der Verlassenheit«150 wickelt sich mit jedem erneuten Wurf von der Freudschen Holzspule ab und entfaltet sich in der unendlichen rhythmischen Wiederholung der Abwesenheit mit jeder Bewegung neu. Die Spule und, in metonymischer Ausdehnung, unser Blick auf die Spule als Objekt wickelt die Abwesenheit auf, die sie als bewegende markiert. Die Verbindung der von Huberman an der bildenden Kunst entwickelten Theorie – allerdings einer bildenden Kunst, die ihren angestammten Platz schon längst verlassen hat, um sich auf das Terrain des Theaters zu begeben – zum Tanz kann auf zweifache Weise gezogen werden. Sie liegt zum einen in der tanzenden Holzspule, die in Hubermans Lektüre des Freudschen Textes das Begehren auf ewig in Bewegung hält. »Dies hat seinen Grund darin, daß die Holzspule nur darum ›lebt‹ und tanzt, um die Abwesenheit zu figurieren, und nur deshalb ›spielt‹, um das Begehren ewig dauern zu lassen«.151 Zum anderen liegt sie in der Art der Objekte, die Künstler wie Robert Morris, Donald Judd oder Tony Smith entworfen haben. Als Skulpturen sind sie in ihrer Dreidimensionalität ebenfalls Körper, die in Raum und Zeit situiert sind. Sie sind Volumina, die, so Huberman, »mit der Leere arbeiten«, indem sie verlorenen Objekten eine Masse, einen Körper geben.152 Für ihn sind die Kuben oder Schachteln Tony Smiths sargähnliche Gebilde, die den verstorbene Körper aufbewahren, ihn zugleich dem Blick entziehen und als abwesenden ins Spiel bringen. Insofern die Tänzer auf der Bühne für jene abwesenden Objekte einstehen, figurieren und inszenieren auch sie als handelnde Subjekte die Abwesenheit, die uns anblickt, um uns als Subjekte auf verschiedenen Ebenen ins Spiel zu bringen. Das (noch) Unbenannte und Unbenennbare, das sich doch im Tanz als abwesend-anwesendem artikuliert, erhält vor dem Hintergrund des Freudschen Denkmodells noch eine andere Bedeutung. Der Doppelcharakter der tänzerischen Bewegung webt die Abwesenheit in den Raum. Sie stülpt ihn um und höhlt ihn aus. Umfasst von der sichtbaren Bewegung, bildet sie einen Hohlraum, in dem der fundamentale Verlust des Objekts wie in den Skulpturen der Minimalisten eingeschlossen ist. William Forsythes gesamte Tanzästhetik ist auf diesen Punkt hin ausgerichtet, wenn er bestimmte Parameter des Balletts aus dem Zentrum seiner Stücke herausnimmt, um aus deren Abwesenheit heraus die abwesenden Bewegungen des Balletts, jene Be149 | Huberman, Was wir sehen, op. cit., S. 67. 150 | Ibid., S. 100. 151 | Ibid. S. 67. 152 | Ibid., S. 81.

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wegungen also, die das Ballett als System verwerfen muss und nicht ausdrücken kann, zu artikulieren. Wenn Jonathan Burrows und Jan Ritsema sich in Weak Dance, Strong Questions der Bearbeitung der Bewegung ebenso verweigern wie deren syntaktischer Verknüpfung zu einer Choreographie, machen sie den Tanz ganz im Sinne jenes Zitats von Robert Morris schwach und »less self-important«.153 Der Bewegungstext des Stücks als der eigentliche Gegenstandsbereich des Tanzes wird nicht nach internen, aus der Notwendigkeit der Bewegung resultierenden Maßgaben gegliedert und gestaltet. Vielmehr wird die Bewegung zur Variablen innerhalb einer performativen Situation, die auf den Austausch mit den Zuschauern gerichtet ist. Aus der Abwesenheit der Choreographie entstehen Bewegungen, die ihr Hervorbringen als einzelne, immer wieder neu gestellte performative Akte des Fragens zum Thema haben. Aus dem Beharren auf dem unverknüpften Moment resultiert jedoch weniger eine »maniacally charged presence«,154 von der Peggy Phelan spricht, als ein Bewusstsein für die Abwesenheit und Leere, aus der die fragenden Bewegungen auftauchen, nur um sofort wieder in sie zurückzusinken. Das rhythmische Öffnen und Schließen des Raumes lässt eine »non-dominated, non-compressed presence«,155 so Morris, erscheinen, die, als abwesende Erfüllung der Bewegung gleichzeitig die Bedingungen ihres Erscheinens als Impuls im Körper und als Rahmung im Theater offen legt. Zum Schluss gilt es in diesem Zusammenhang noch eine Kategorie einzuführen, die ich in Anlehnung an Georges Didi-Hubermans Begriff des »Visuellen« als das »Bewegende« bezeichnen möchte. Was ist damit gemeint? In Hubermans Verständnis gründet sich das Visuelle gerade nicht auf einem reibungslosen reziproken Austausch zwischen Betrachter und Objekt. Blinde Flecken, erzeugt durch Positionen, die Betrachter und Betrachtetes nicht gleichzeitig besetzen können, schreiben dem Visuellen stets einen Entzug in der Wahrnehmung ein. In diesem Sinn stellt er das »Visuelle« als etwas, das noch keine bildhafte Form besitzt, sowohl dem Sichtbaren als auch dem Unsichtbaren gegenüber.156 Auf dem Fresko Verkündigung von Fra Angelico im Kloster San Marco in Florenz nimmt eine aus weißen Kalkpartikeln bestehende Fläche, die zwischen dem Engel auf der linken Hälfte des Bildes und der knienden Maria auf der rechten Hälfte sich gleichsam aus dem Bildhintergrund nach vorne schiebt, das Blickzentrum ein. Dieser weiße Fleck ist weder sichtbar im klassischen Sinne, dass er etwas darstellt oder repräsentiert, wie es etwa die beiden Figuren tun, die man 153 | Morris, »Notes on Sculpture«, op. cit., S. 234. 154 | Phelan, op. cit., S. 148. 155 | Ibid., S. 235. 156 | Georges Didi-Huberman, Vor einem Bild, übers. von Reinold Werner, München/Wien: Hanser, 2000, S. 24 ff.

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102 | Abwesenheit ikonographisch lesen kann. Noch ist er unsichtbar, denn er ist ja sinnlich wahrnehmbar und daher nicht auf eine abstrakte Idee zu reduzieren. Das Weiß fungiert auf dem Bild Verkündigung als Ankündigung einer Gestalt, ohne sie selbst zu sein, als »Vorhof« eines Sinns, »[d]as heißt, etwas das erscheint, sich darbietet [se présente] – aber ohne zu beschreiben oder wiederzugeben [représenter]«.157 Huberman dreht damit die kunstgeschichtlich festgeschriebene Deutungshierarchie des Bildes um, indem er die identifizierbaren Gestalten in den Hintergrund und den Raum zwischen ihnen in den Vordergrund seiner Überlegungen rückt. Dieser negative Raum, das Weiß des Bildes, stellt für ihn einen Einschnitt in die normale Ordnung des Sichtbaren dar. Er reflektiert auf die Möglichkeitsbedingungen der Gestaltung, er ist »Gestaltbarkeit« und als solche bringt er Körper hervor, »unmögliche Körper […], um das reale Fleisch, unser geheimnisvolles, unser unbegreifliches Fleisch besser zu erkennen.«158 Huberman argumentiert mit dem Begriff der »Fleischwerdung«, den er aus der Diskussion der katholischen Theologie um die Trinitätslehre am Ausgang des Mittelalters übernimmt.159 Dabei ging es auch um die Legitimität bildlicher Darstellungen anbetracht des christlichen Darstellungsverbots und der Unmöglichkeit der Repräsentation von Gottes Wort und Stimme. Das Weiß in Fra Angelikos Fresko nimmt für Huberman genau jene Stelle zwischen dem Engel und der Jungfrau ein, »weil nichts Zeugnis ablegt von der unaussprechlichen und ungestaltbaren göttlichen Stimme, der sich Angeliko, so wie die Jungfrau, ganz und gar ausgeliefert hat[…]«160 Das Fresko gestaltet das Geheimnis der Fleischwerdung von Gottes Wort, ohne den Inhalt der Verkündigung, also den Körper, der kommen wird, erscheinen zu lassen oder nachzuahmen. Man könnte demnach sagen, Frau Angeliko figuriert das Imaginäre im Moment seines Entstehens, im Moment des Zögerns und Innehaltens, bevor sich das Bild eines Körpers als fleischgewordenes und eingeBILDetes Wort die Stelle der weißen Fläche setzt. Die weiße Fläche als das Visuelle, das die Ökonomie des Sehens durcheinander bringt, verweist auf das Mysterium der Fleischwerdung des Wortes. Er verweist mithin im Zentrum des Bildes auf die Ränder des Symbolischen, das sich gerade nicht als solches, als Gottes Wort, darstellen kann. In diesem Sinn kündet das Bild, wie Marie-José Mondzain darlegt, gerade nicht von der Präsenz Gottes, sondern von seiner Abwesenheit. »Christ’s icon is empty of its carnal or real presence – in this it differs radically from the eucharist – but is full of its ab-

157 | Ibid., S. 33. 158 | Ibid., S. 36. 159 | Ibid., S. 31. 160 | Ibid., S. 22.

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sence, which by the trace that it leaves and the lack that it incarnates, produces the very essence of the visible.«161 Es gibt das Bild zu sehen, ohne sich darin anders als als Abwesendes zeigen zu können. Die Essenz des Sichtbaren ist die Abwesenheit des Göttlichen, Symbolischen im Bild. Die Umrisse der körperlichen Figur künden in der Linie vom Rückzug Gottes, die Farbe vom licht-produzierenden Blick, der uns aus dem Bild heraus anblickt. Das Visuelle kündet von der Möglichkeit, imaginäre Körper herauszubilden, um unseren Körper, »unser unbegreifliches Fleisch«, so Huberman, »besser zu erkennen.« Das Zeichnen einer Linie mit dem Körper, das Zeichnen mit Bewegung, einer im Wortsinn ›Choreographie‹, erzeugt einen imaginären Körper, der von der Abwesenheit eines realen, selbstidentischen, ungespaltenen Körpers zeugt. In unseren Zusammenhang des Tanzes übertragen, ist das Hervorbringen von imaginären Körpern nicht nur eine Sache des Blicks. Beziehen wir die theoretischen Überlegungen, die wir im Anschluss von Freuds Fort-Da-Modell gemacht haben, an dieser Stelle mit ein, ist die Eröffnung der Möglichkeit eines Imaginären, um uns »besser zu erkennen«, gerade auch eine Sache der Bewegung. Im Spiel mit der Holzspule überlagert sich die Bewegung mit dem begehrenden Blick des Kindes auf den anwesend-abwesenden Körper. Analog zum »Visuellen« gibt es daher das »Bewegende«, das analog zu Hubermans Definition des Visuellen weder Sinn noch Nicht-Sinn, weder Wissen noch Nicht-Wissen ist. Das Bewegende ist nicht unsichtbar und damit auf eine abstrakte Idee zu reduzieren, weil es konkret körperlich ist. Gleichzeitig ist es nicht sichtbar, weil es zwischen der Bewegung stattfindet und gleichsam das Abwesende an der Bewegung ausmacht. Es findet zwischen der Bewegung statt als Moment der Entscheidung, als Moment des Umschlagens und des Stillstands, wie bei Jonathan Burrows und Jan Ritsema. Es macht das Abwesende an der Bewegung aus, weil es jeweils das ist, was nicht getanzt wird, was aber stets möglich wäre. Das Bewegende an der Bewegung teilt sich mit, ohne lesbares Zeichen zu sein. Das Bewegende an der Bewegung ist ihre Unlesbarkeit. Es eröffnet vielmehr Räume für potentielle Körper, die noch nicht und schon wieder nicht mehr sind. Im Anschluss an Paul Valérys Gedanken, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Tanz zur grundlegenden Kunstform für alle anderen Künste gemacht hat, drängt sich hier die Frage auf, ob die Bewegung nicht generell das Bewegende an Kunstwerken ist? Weil sie verschwindet, um dadurch hervorzubringen, zeugen ihre körperlichen Spuren, ihre Gesten, von ihrer eigenen Abwesenheit. Was an der Be-

161 | Marie-José Mondzain, Image, Icon, Economy. The Byzantine Origings of the Contemporary Imaginary, übersetzt von Rico Franses, Stanford: Stanford University Press, 2005, S. 94.

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104 | Abwesenheit wegung bewegt oder wirkt, ist gerade diese Abwesenheit, weil diese dazu in der Lage ist, den Zuschauer zu implizieren. Die Abwesenheit impliziert ihn, weil sie, wie Freud, Huberman und Phelan einträchtig bemerken, das Subjekt aufs Spiel setzt. Sie ist das, was an der Bewegung bewegend ist – bewegend im doppelten Sinn als motivierend und hervorbringend sowie emotional und affektiv. Wir müssen also versuchen, folgendes Paradox zu denken: daß ein Moment tödlicher Bewegungslosigkeit sowohl den Rahmen als auch das Zentrum, das Herz, dieses pulsierenden Skandierens bildet. Das zentrale Moment der Oszillation zwischen [entre] Diastole und Systole – die bewegungslose Höhlung [antre], die plötzlich entsteht in einem ›lebendigen‹, ja verrückten Schauspiel einer Holzspule, die ständig weggeworfen und wieder herangezogen wird. Das zentrale Moment aufschiebender oder definitiver Bewegungslosigkeit – wobei die eine stets als Erinnerung der anderen erscheint – wo wir vom Verlust angeblickt werden, das heißt, wo wir Gefahr laufen, alles, auch uns selbst, zu verlieren.162

Der mögliche Verlust, der uns von der Bühne herab anblickt, setzt uns in Bewegung. Das Bewegende formt uns. Es erscheint als »Eigenschaft von etwas Gestaltbarem [figurable], die hier massiv offengelegt wurde und den Blick eines Subjekts, dessen Geschichte, Phantasmen und innere Zerstückelungen impliziert.«163 Es bringt Körper in der Bewegung hervor, die mit den Grenzen unseres Körperbildes spielen, und setzt diese im symbolischen Rahmen der Bühne und der Institution Theater gegen tradierte und etablierte Körperbilder. Die Kategorie des Bewegenden ist auf einen anderen Subjektbegriff hin ausgerichtet als auf den des rationalen, seiner selbst bewussten Subjekts. In der Erfahrung des Tanzes geht es um mehr als um den intentionalen und intersubjektiv abgesicherten Austausch von Zeichen. Vielmehr impliziert sie das Subjekt in seinem Sein, dessen Grenzen im liminalen Raum der Bühne neu gezogen werden können. Die Abwesenheit als Motor eines Subjektentwurfs bezeichnet jedoch keine Leere. Durch das Vergehen der Bewegung, die sich in ihrer Flüchtigkeit ständig neu hervorbringt, schreibt sich die Abwesenheit in die Bewegung selbst ein. Damit höhlt sie einen Zwischenraum aus, der das, was ansonsten unerfahrbar bliebe, aufscheinen lässt. In diesem Raum, topos, den der Tanz aushebt, und der immer auch u-topos ist, setzt ein Spiel ein, bei dem »the human spirit responds to the impossible task of appropriating what must in every case remain unappropriable.«164 Es ist ein Tanz des Begehrens, der sich 162 | Didi-Huberman, Was wir sehen, op. cit., S. 70-71. 163 | Didi-Huberman, Vor einem Bild, op. cit., S. 25. 164 | Georgio Agamben, Stanzas. Word and Phantasm in Western Culture, übers. von Ronald L. Martinez, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1993 (1977),

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dem unmöglichen Objekt in Bewegungs-Phantasmen annähert und sich mit jedem Schritt gleichzeitig wieder von ihm entfernt wie der Weg des Tanzes im Labyrinth.165

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Verkörperung und imaginäre Körper

Für Georges Didi-Huberman ist Fra Angelicos Fresko der Verkündigung paradigmatisch für die visuellen Künste im Christentum, die ihre Darstellung im ›Visuellen‹ für das Unmögliche geöffnet haben. Die Forderung, die das Unmögliche an die Menschen wie die Künstler stellt, ist der Glaube an die Möglichkeit der Fleischwerdung des Wort Gottes in Jesus Christus.166 Bezeichnenderweise ist diese Realpräsenz des Wortes durch das Weiß zwischen den Figuren angekündigt. Sie kann mithin nur in der Abwesenheit einer positiven Bestimmtheit Bestandteil des Bildes sein, das diese Einheit gerade teilen muss. Dass sich diese Frage nicht nur in den visuellen Künsten stellt, sondern vor allem auch in der Körperkunst des Tanzes, liegt auf der Hand. Sinn verkörpert sich und erlöst den gefallenen Körper aus seinem Status als Kadaver und gibt ihm eine Seele. Auf den christlichen Hintergrund des klassischen wie modernen Tanzverständnisses wird später noch einzugehen sein. Doch zeichnet sich bereits hier die Vorstellung einer Zwei-Welten-Theorie ab, die den Sinn in die reine Sphäre des Geistes verbannt, während der Körper als Medium des Sinns sich entkörperlichen muss, bevor er diesen adäquat, das heißt unverfälscht, zum Ausdruck bringen kann. Mit dem Begriff der ›Fleischwerdung‹ wird im späten Mittelalter die Notwendigkeit der Bilder im Gegensatz zum Wort aufgewertet. Das Bild wird als Wert eingesetzt, der dank der Kraft der Darstellung die Inkarnation glaubhaft machen soll. Im Anschluss an die bildende Kunst erhält die theatrale Darstellung etwa in den italienischen Sacre rappresentazioni oder den spanischen Autos sakramentales eine ähnliche Funktion. Soll hierbei das Unsichtbare sichtbar und damit auch kontrollierbar werden, setzt Huberman in seiner Lektüre von Frau Angelikos Fresko mit dem von ihm entwickelten Begriff des Visuellen gerade auf die Dezentrierung der Seherfahrung und des Subjekts. S. xviii; Die Troubadourlyrik des 13. Jahrhunderts nennt den Kern ihrer Gedichte »stanza«, was soviel wie Raum oder Zimmer bedeutet, in dem ihre ›joi d’amour‹ eingeschlossen und aufgenommen ist, eine Lust, die, so Agambens Pointe, das abwesende unmögliche Liebesobjekt beherbergt, dem man sich nur mit großer Kunst nähern kann, will man es nicht zerstören; S. xvi. 165 | Agamben, S. xviii; vgl. zum Labyrinth als Toposformel des Tanzes Gabriele Brandstetter, Tanz-Lektüren, op. cit., S. 319-324. 166 | Didi-Huberman, Vor einem Bild, op. cit., S. 35-36.

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106 | Abwesenheit Hubermans Verwendung des Konzepts der Fleischwerdung im Zusammenhang mit dem Visuellen impliziert schon ein anderes Modell, dem sich die Theater- und Kulturwissenschaften in den neunziger Jahren verstärkt zugewandt haben, nämlich das der Verkörperung als Potential des Körpers. Das Wort, die Idee oder der Gedanke werden Fleisch, indem sie sich in einen Körper einBILDen. Ihm zufolge wird die Bedeutung, die ein Sprecher in einer Kommunikationssituation oder ein Schauspieler auf der Bühne beim Sprechen eines Rollentextes einnimmt, nicht mehr länger in eine ideale Sphäre verbannt und vom Körper abgetrennt. In der Linguistik beschreibt der Begriff der Sprachkompetenz jene ideale Sphäre, in der intentional ohne Berücksichtigung trübender Faktoren wie Machtanspruch, Kontingenz, Atmosphäre und Stimmung kommunikativ gehandelt wird.167 In der Theatertheorie, wie sie sich im Zuge des bürgerlichen Theaters seit der Mitte des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat, liegt die Anforderung an den Schauspieler darin, seinen Körper in einen durchlässigen Zeichen-Körper zu verwandeln, in dem er seinen leiblichen Körper seiner zu spielenden Rolle unterordnet. Sein leiblicher Körper muss verschwinden, um den Sinnaufbau seiner Rolle nicht zu stören. Dagegen meint der Begriff der »Verkörperung«, dass das Sprechen allgemein wie die Figur des Schauspielers nicht ohne den je spezifischen Körper des Sprechenden zu haben ist.168 Der individuelle phänomenale Körper wird gerade nicht ausgelöscht. Im Gegenteil: Er wird zum Medium, in dem Sprache überhaupt erscheinen kann, ein Medium, das hinter dem Rücken der Sprecher deren intentionales Sprechen mit Spuren versieht, die außerhalb ihrer bewussten Kontrolle liegen.169 In dieser von Erika Fischer-Lichte paradigmatisch formulierten Ausgangssituation liegt für den Tanz fast schon etwas Triviales. Jeder BallettTänzer übt den Ballettcode so lange ein, bis er seinen Körper, auch wenn er nicht tanzt, vollkommen geformt hat. Einzig und allein mit dieser verkörperten Sprache des Balletts gestaltet er oder sie schließlich seine oder ihre Rolle, die nur als individueller Sprechakt, der andere vorhergehende Sprechakte zitiert, existiert. Die Stoßrichtung von Fischer-Lichtes Argument 167 | Vgl. dazu Sybille Krämer, »Sprache-Stimme-Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 323-346. 168 | Vgl. dazu Erika Fischer-Lichte, »Verkörperung/Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen in eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie«, in: Erika Fischer-Lichte et.al. (Hg.), Verkörperung, Tübingen/Basel: Francke, 2001, S. 11-25. 169 | Zu einem solchen Theatermodell, das den körperlichen Riss im semiotischen Zeichenkörper des Schauspielers zu denken versucht, vgl. Gerald Siegmund, Theater als Gedächtnis, Tübingen: Gunter Narr, 1996.

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liegt darin, das Konzept der Verkörperung über das begrenzte Phänomen Theater hinaus auszuweiten, um es als grundlegende kulturwissenschaftliche Kategorie zu bestimmen. Für unseren Zusammenhang gilt es jedoch im Rahmen des Theaters und der Performance zu verharren, um das Spezifische der Verkörperung im Kontext der Kunst genauer zu betrachten. Auch hier liefert Fischer-Lichte erste Anhaltspunkte, in dem sie die Vorstellung vom Körper als Medium problematisiert. Den Körper als Medium zu begreifen, hieße letztlich, ihn als unveränderbaren neutralen Kanal für eine (sprachliche) Botschaft aufzufassen. Doch der Körper auf der Bühne ist nicht, er wird: Er schreibt sich im prozessualen Vollzug der Aufführung permanent um.170 Damit wird ihm kein Signifikat (etwa Gott oder das Heilige) zugeordnet, im Gegenteil: Die Bedeutungsfunktion wird abwesend gemacht zugunsten einer Selbstbearbeitung des körperlichen Signifikanten, der sich in komplexen Übertragungsprozessen zwischen Bühne und Parkett zeigt und sich hervorbringt.171 Sybille Krämer geht in ihren Erläuterungen zum Konzept der Verkörperung in diesem Sinn einen Schritt weiter. Für sie rückt die Frage nach den »›stummen‹, den vorprädikativen Formgebungen von Sinn«, wie sie schreibt, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. »›Verkörperung‹ kennzeichnet die Nahtstelle der Entstehung von Sinn aus nicht-sinnhaften Phänomenen.«172 Für sie ist jede Performanz, jeder individuelle Sprechakt, bereits eine Störung der rein geistigen Idealität der Sprachkompetenz, weil er stets mehr über den Sprecher selbst aussagt, als in der idealen Kommunikationssituation nötig wäre. Die Sache ist jedoch in doppelter Hinsicht komplizierter. Denn auch Krämer geht, ohne es zu merken, von einer Zwei-WeltenTheorie aus, die den Körper in den reinen Materialstand versetzt; dorthin, wo er unschuldig und unmittelbar gegeben wäre, um anschließend vom Geist gerettet zu werden. Das Verkörpern von Sinn muss den entkörperten Sinn, den Körper im paradiesischen Urzustand, wo er nichts von sich weiß, voraussetzen. Dies erscheint vor dem Hintergrund, dass Körper immer schon Teil einer Kultur und ihrer symbolischen Systeme sind, wie etwa der Sprache, die ihnen vorausgeht, geradezu als idealistische Annahme. Vielmehr artikuliert der Körper Sinn, weil er immer schon Teil sinnhafter Systeme ist, die ihn hervorbringen. Wie ist das zu verstehen? Bereits die Neuropsychologie legt der stö170 | Erika Fischer-Lichte, »Was verkörpert der Körper des Schauspielers?«, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München: Fink, 2004. S. 141162. 171 | Vgl. zur Vorstellung eines abwesenden Signifikats Hans-Thies Lehmann, »TheaterGeister/ MedienBilder«, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München: Fink, 1999, S. 137-145. 172 | Krämer, op. cit., S. 345.

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108 | Abwesenheit rungsfreien, als normal betrachteten Funktionsweise des Körpers zwei Schemata zugrunde, nach denen sich der Körper ausrichtet und die ihn als Körper intelligibel machen. Diese beiden Körperschemata beziehen sich zum einen auf die aufrechte Haltung des Körpers und zum anderen auf dessen Oberfläche. Das Haltungsschema ermöglicht eine Orientierung des Körpers im Raum, eine Unterscheidung verschiedener Richtungen der Bewegung im Raum, sowie die Beibehaltung einer bestimmten Muskelspannung, die den Körper aufrecht hält. Das zweite Schema ermöglicht es, bestimmte Reize und Empfindungen auf der Haut zu lokalisieren. Unser Wissen, das es uns erlaubt, täglich über unseren Körper zu verfügen, ihn zur Verrichtung selbst der banalsten Dinge einzusetzen, basiert auf der assoziativen Verbindung unserer Handlungen und Orientierungen mit den Körperschemata, die sich auf der Grundlage physiologischer Aktivität herausbilden.173 Der Körper ist demnach selbst für die Neuropsychologie nicht einfach gegeben, sondern eine Leistung des Bewusstseins. Körper ist ein kognitiver Akt der Aneignung von Körper. Diese Aneignung macht den Körper selbst zu einem performativ hervorgebrachten Phänomen, das es ohne Wiederholung von bereits existierenden, nicht auf den individuellen Körper reduzierbaren Normen nicht geben würde. Der Körper befindet sich immer schon in einem Universum von sprachlich nach dem Prinzip der Differenz strukturierten Körpern. Aus Sicht der Psychoanalyse erfolgt diese Aneignung von Körper zunächst nach dem Prinzip der Ähnlichkeit. Der eigene Körper wird zum eigenen Körper durch die Modellierung am Körper der Mutter oder einer anderen Bezugsperson. Dieses Nachbilden setzt schon lange, bevor der Blick des Kindes in den Spiegel fällt, ein und umfasst Phänomene wie die Muskelspannung, die sich auf das Kind überträgt und je nach Dauer des Haltens Lust oder Unlust erregen kann. Dieser Kontakt bildet die Grundlage für die Herausbildung eines psychischen Raumes, in dem der fremde Körper und das, was er an affektiv besetzen Vorstellungen auszulösen vermag, als Phantom wirksam bleibt. Hier liegt der Übergang von einem rein biologischen Modell des Körpers zu einem Modell, das den Körper zu einem begehrenden Körper macht. Freud entwickelt einen solchen Körper im Zusammenhang mit dem hysterischen Köper. Sein Körpermodell, das er in diesem Zusammenhang entwickelt hat, verschränkt Sprachlichkeit, die konkret körperliche Folgen zeitigt, Bildhaftigkeit, die den ›eigenen‹ Körper zu einem fremden Körper macht, mit einem Realen im Sinne eines Schmerzes, der den Körper auf seine Physis und Materialität zurückverweist. Freuds Körpermodell geht demnach nicht von einem ganzheitlichen Körper aus, sondern von einem dreifachen Körper, der das Subjekt an unterschiedliche psychische Instan173 | Vgl. dazu Michel Bernard, Le corps, Paris: Seuil, 21995 [1972], S. 25-26.

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zen bindet. In seinen »Studien über Hysterie«, die im Jahr 1895 zum ersten Mal veröffentlicht wurden, schildert Freud den Fall des »Fräulein Elisabeth v. R[…]«, einer Frau von vierundzwanzig Jahren, die nur mit »vorgebeugten Oberkörper« gehen konnte und »über große Schmerzen beim Gehen« klagte.174 In der Analyse stellte sich, verkürzt gesagt, heraus, dass sie in Liebe zu ihrem Schwager entbrannt war, diesen Wunsch jedoch verdrängte. Was ihr moralisch verwerflich war, wurde verdrängt und bahnte sich seinen Weg in Form körperlicher Schmerzen, die den psychischen Schmerz ersetzten. Die Verbindung des Schmerzes zum Gehen, Sitzen oder Liegen wurde durch traumatische Erlebnisse gestiftet, Begegnungen oder Spaziergänge mit dem Schwager, bei denen der Wunsch ins Bewusstsein zu drängen drohte: »jede der eindruckskräftigen Szenen« hatte, so Freud, »eine Spur hinterlassen, indem sie eine bleibende, sich immer mehr häufende ›Besetzung‹ der verschiedenen Funktionen der Beine, eine Verknüpfung dieser Funktionen mit den Schmerzempfindungen hervorbrachte«.175 Doch Freud hält noch eine andere Erklärung für die Wahl der Symptome bereit, bei der die Sprache ein zentrale Rolle spielt: Wenn die Kranke die Erzählung einer ganzen Reihe von Begebenheiten mit der Klage schloß, sie habe dabei ihr »Alleinstehen« schmerzlich empfunden, bei einer anderen Reihe, welche ihre verunglückten Versuche zur Herstellung eines neuen Familienlebens umschloß, nicht müde wurde zu wiederholen, das Schmerzliche daran sei das Gefühl ihrer Hilflosigkeit gewesen, die Empfindung, »sie komme nicht von der Stelle«, so mußte ich auch ihren Reflexionen einen Einfluß auf die Ausbildung der Abasie einräumen, mußte ich annehmen, daß sie direkt einen symbolischen Ausdruck für ihre schmerzlich betonten Gedanken gesucht und in der Verstärkung ihres Leidens gefunden hatte.176

Elisabeth von R[…] denkt sich einen Körper, der die Verschiebung und Verdichtung einer sprachlichen Formulierung ist. Sie lebt nicht ihren anatomischen Körper in seiner medizinisch für normal erachteten Funktion, sondern einen imaginären Körper, den ihr Begehren hervorgebracht hat. »Les mouvements de ses jambes ne sont pas ressentis dans leur nature organique et leur fonction biologique«, schreibt Michel Bernard, »mais comme signe de la jouissance interdite avec l’homme aimé et, par extension, substitut corporel de cet homme lui-même.«177 Der Körper von Elisabeth v. R[…] 174 | Sigmund Freud, »Studien über Hysterie«, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, Erster Band: Werke aus den Jahren 1892-1899, hg. von Anna Freud, Frankfurt am Main: Fischer, 1999 (1952), S. 75-312, hier: S. 196 ff. 175 | Ibid., S. 216. 176 | Ibid., S. 217. 177 | Bernard, op.cit. S. 78.

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110 | Abwesenheit wird gelebt als Ersatz für einen anderen Körper, der abwesend ist und sich nur im Symptom in verstellter Form kenntlich macht. Er ist ein mobiler Körper, welcher der Anatomie zuwiderläuft, obwohl die Körperschemata intakt bleiben. Das Ich kann sowohl seine Position im Raum als auch den Ort der Empfindung auf seiner Haut lokalisieren. Françoise Dolto bezeichnet diesen Körper, der vom Körperschema zu unterscheiden ist, weil er individuell und unbewusst ist, als Bild des Körpers, mithin als imaginären Körper.178 Was bedeutet die Vorstellung eines imaginären Körpers nun für die Diskussion um die Verkörperung? Dazu möchte ich anhand eines Beispiels einige Schlüsse ziehen. Der Tänzer und Choreograph Martin Nachbar hat sich im Jahr 2000 mit einer Rekonstruktion von Dore Hoyers Tanzzyklus Affectos Humanos aus dem Jahr 1962 beschäftigt. Von den fünf Tänzen, aus denen Hoyers Zyklus besteht, – Eitelkeit, Begierde, Hass, Angst und Liebe – hat Nachbar drei rekonstruiert: Begierde, Hass und Angst. Die Rekonstruktion stand ursprünglich im Zusammenhang mit dem Stück Affects der Gruppe B.D.C., die er zusammen mit Thomas Plischke und Alice Chauchat gegründet hatte. Das Stück, das im Februar 2000 im Frankfurter Mousonturm Premiere hatte, fragte in drei in ihren Mitteln heterogenen Teilen nach der Identität des tanzenden Körpers, der sich in den einzelnen Szenen in Bildern, Texten und anderen, historischen Körpern vor-, dar- und verstellte. Martin Nachbar, ein junger Mann im Zeitalter mediengesättigter Alltagskultur, tanzt die Bewegungen einer älteren Frau, die zum Zeitpunkt der Entstehung ihres Stücks fünfzig Jahre alt war und deren Grundhaltung aus dem Geist der fünfziger und sechziger Jahre heraus existentialistisch geprägt war. Er nimmt ihren Körper auf sich, tanzt Bewegungen, die sie mit ihrem Körper entwickelt hatte, ohne dieser Körper zu sein. Ohne die perkussive Musik des Originals tanzend, wird Nachbars Atem in seiner Version der Tänze zur Musik. Zwischen dem zweiten und dritten Tanz, zwischen Hass und Angst, steht er minutenlang still, um seinem während der ersten beiden Tänze aufgezeichneten und nun eingespielten Atemgeräuschen zu lauschen – der Beschwörung eines Körpers, der längst nicht mehr sichtbar ist. So ruft Nachbar in dieser Szene eine doppelte Abwesenheit ins Bewusstsein: die Abwesenheit des Körpers der Dore Hoyer und die Abwesenheit seines eigenen Körpers, der sich in der Begegnung mit dem Körper der Hoyer verändert. Zwischen dem Eigenen und dem Fremden entsteht etwas Drittes, Unformuliertes, das nur über die Differenz der beiden Pole zueinander artikulierbar ist. Der phantasmatische Körper Dore Hoyers wird als abwesender wieder(ge)holt, und damit rückt Nachbars ›eigener‹ Körper auf Distanz zu ›sich‹. Nachbar geht es um die Differenz zwischen den beiden 178 | Françoise Dolto, L’image inconsciente du corps, Paris: Seuil, 1984, S. 7-61.

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Körpern, darum, wie ihn Dore Hoyers Tänze affizieren, berühren und in der Wiederholung verändern. Obwohl er die Tänze der Affectos Humanos mit Hilfe der Tänzerin Waltraud Luley einstudiert hat, die mit Dore Hoyer befreundet war und die Rechte an dem Stück besitzt, kann man strenggenommen gar nicht von einer Rekonstruktion sprechen. Nachbar hat die Choreographie zwar einstudiert, sein Tanz aber ist ein anderer, weil sein Körper, durch den die Bewegungen hindurch gehen, ein anderer ist. Aus dieser Sicht verkörpert Martin Nachbar, banal genug, auf eine einmalige und unhintergehbare Weise den Körper Dore Hoyers, den sie in Affectos Humanos entworfen hat. Dann ist es aber nicht mehr ›sein‹ Körper, sondern der Körper der Hoyer, der durch seinen Körper Gestalt gewinnt. Umgekehrt ist es nicht mehr der Körper Hoyers, der als solcher verkörpert wird. Nachbar macht hier mit einem anderen abwesenden Körper ›Körper‹, die ›den‹ Körper unmöglich machen. Damit verbunden sind Erfahrungen der Fremdheit, des Entzugs und der Verfehlung, die man zuweilen auch im Alltag verspüren mag, wenn man in den Spiegel blickt oder im Blick von anderen den eigenen Körper als fremden erfährt, oder wenn man krank ist und den eigenen Körper nicht mehr zu kennen glaubt. Dazu schreibt Martin Nachbar selbst: Dass bei alledem die durch Dore Hoyer interpretierten AH [Affectos Humanos, d. Verf.] die Funktion eines Originals übernehmen, an dem ich mich orientiere, heißt nicht, dass ich ein Ideal erfüllen will. Vielmehr interessiert mich die Durchquerung eines Anderen, das mir fremd ist. Andersherum soll mich das Andere durchqueren. Dieses gegenseitige Durchqueren macht die Fremden miteinander bekannt. Tänze, die Affekte zum Thema haben, werden selber zu Affekten. Gegenseitige Affizierung findet statt, und Erinnern wird zu einer Art Virusübertragung.179

Wie verkörpert in diesem Fall ein Mann den Körper einer Frau? Wie ein junger Körper einen alten? Wie ein Wirtschaftswunderkörper einen durch zwei Weltkriege geprägten Körper? Der imaginäre Körper fügt demnach dem Gedanken der Präsenz, der sich hinter der Vorstellung der Verkörperung verbirgt, auch hier einen Riss zu und öffnet ihn auf das, was im Präsens nur als Abwesendes erscheinen kann. Das Abwesende, das hier auf eine Vervielfältigung der Körper im Imaginären abzielt, wirft ein anderes Licht auf das Konzept von Verkörperung als etwa Sybille Krämers oben dargelegte Argumentation. Denn ihr Verständnis von Verkörperung als »Einkörperung« von Sinn ruft in gewisser Weise die Vorstellung einer Realpräsenz auf den Plan, eine Vorstellung, die schon in ihrer Argumentation durch den Verweis auf Austins Idee der »ursprünglichen Performativa« an179 | Martin Nachbar, »ReKonstrukt«, in: Moving Thoughts, op. cit., S. 89-95, hier: S. 95.

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112 | Abwesenheit klingt. Denn in diesen »ursprünglichen Performativa« macht sie Reste eines nicht konventionellen, sondern rituellen Sprachgebrauchs fest. »Das Ritual ist der Ort einer communio ohne Kommunikation«, heißt es in ihrem Text, und als solches gewinnen die ursprünglichen Performativa ihre Kraft aus »der Wiederholung eines Vollzugs – im Grunde unabhängig davon, was sich jeder dabei denkt«.180 Damit suggeriert sie ein Modell vom Sprechakt als einem Theater der Realpräsenz analog zum katholischen Ritus des Abendmahls: die symbolische, imaginäre und die reale Funktion des Körpers fallen in der Realpräsenz des Leibes Christi zusammen. Der Körper hat Evidenzcharakter – im Grunde unabhängig davon, welche Akte der entstellenden Wiederholung ihn konstituieren. Im Gegensatz zu Hubermans Analysen rückt Krämer hierbei den weißen Fleck als Spur dessen, das unmöglich dargestellt werden kann, was Versprechen, was Potential bleiben muss, nicht in den Blick. Obwohl Martin Nachbar die Tänze Dore Hoyers auf einmalige, unhintergehbare Weise verkörpert, in dem Sinne, dass diese nur mit und durch den Körper Nachbars zur Erscheinung kommen, indem sie den Körper Dore Hoyers zitierend differenzierend wiederholen, bleiben die beiden Körper doch auf Distanz zueinander: als Spur eines Anderen und dessen Körper. Damit stellt sich vor dem Hintergrund, den Sybille Krämer aufgestellt hat, die Frage nach der Einheit des Körpers. Wenn durch die Nahtstelle der Verkörperung der Körper zu Sinnen und zum Sinn kommen soll, auf welchen Körper kommt dann der Sinn epiphanisch nieder? Ist der Sinn des Körpers nicht immer schon ein anderer, imaginärer Körper, der den einen, realen Körper unwiederbringlich verstellt? Als Teil einer Kultur steht ›der Köper‹ immer schon als Poly-Körper in verschiedenen Zusammenhängen, die ihn hervorbringen. Wenn der Körper als performative Kraft gedacht werden soll, der aus dem, das er nicht selbst erschaffen hat, hervorgeht,181 geht er immer schon hervor aus anderen Körpern, aus kulturellen und sprachlichen Artefakten und ihren Spuren, aus Abwesendem, das ihn in den Horizont von uneinholbaren Dingen, wie dem Schicksal oder dem Tod, rückt. Bezieht man diese signifikante Korrektur an Krämers Perspektive ein, erhält der Körper sein kreatives Potential und seine Potentialität zurück. Er wird zu einer körperlichen, materiellen Spur des Abwesenden, die dem gleicht, was Huberman in Anlehnung an die kunsttheoretischen Diskussionen der Renaissance als das »Visuelle« und ich im Hinblick auf den Tanz als das »Bewegende« beschrieben haben. Er wird zum Versprechen, weil er sich als anderen geben muss. Er muss sein Reales im Modus des imaginä-

180 | Krämer, op. cit. S. 335. 181 | Ibid., S. 345.

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ren Bildes und vor dem Horizont der symbolischen Verfasstheit unserer Kultur ausspielen. Diese Denkfigur ist nun keineswegs neu oder gar auf den avantgardistischen zeitgenössischen Tanz beschränkt. Schon die Tänzerinnen und Tänzer des freien und modernen Tanzes an der Wende zum 20. Jahrhundert haben mit ihren Körpern Sinn hervorgebracht, der nur an diese Körper gebunden war. Schon allein deshalb, weil es keine Vorbilder oder tänzerischchoreographisch ausformulierten Modelle gab, an denen sie ihre Körper hätten ausrichten können, können sie als Paradigmen der Verkörperung gelten. Mit ihrer Tanzkunst ist daher auch eine Kritik an der Vorstellung von Repräsentation verbunden, bei der sich eine Sprache – hier der Code des klassischen Balletts des 19. Jahrhunderts – lediglich im vollkommen geformten Körper des Tänzers oder der Tänzerin ›niederschlägt‹ und sich als Bedeutung von ihm ablösen lässt. Die Bewegungen, die der Körper ausführt und die ihn in der Wiederholung der performativen Praxis prägen, repräsentieren keine ihm vorgängige Sprache. Sie präsentieren bislang unformulierte Verhältnisse von Körper und Welt. Dieses veränderte Verhältnis von Körper und Welt, das den Tanz der Moderne prägt, ist in der Literatur als »neue Kinästhetik« beschrieben worden.182 War der klassische Ballettcode eine Technik, deren distinkte Elemente wie Pliés, Tendus oder Battements man durch Training einüben musste, um sie korrekt ausführen zu können, versteht sich die neue Bewegungsästhetik als energetisches Prinzip, das sich zwischen den Körpern bewegt und diese in Verbindung zur Welt setzen kann, deren Ordnung den gleichen Prinzipien folgt.183 Dieses Weltverhältnis ist in Loïe Fullers, Isadora Duncans, Mary Wigmans, Martha Grahams und Doris Humphreys verschiedenen Bewegungsansätzen, die auf dem Prinzip der Energie basieren, je individuell formuliert und ausgeformt worden. Bewegung, Körper und das, was durch den bewegten und bewegenden Körper artikuliert werden soll (die Natur, die innere Landschaft) stehen in einem Dreiecksverhältnis zueinander, in dem jeweils einer der Terme als abwesender operativ wird. Diese Abwesenheit ermöglicht dem Tanz eine theoretische Reflexion, in dem sie, durchaus entgegen der Selbstaussagen der Künstlerinnen, die Rezeptionshaltung eines empathischen Mitvollzugs der Bewegung durchkreuzen. Innerhalb der Verkörperung ist also eine rhetorische Verweisungsstruktur im Gange, die eine vorschnelle Identifizierung von Ausdruck und Bewegung verhindert. Nur in einer ganz bestimmten Ausprägung jenes Dreiecksverhältnisses von Körper, Bewegung und dem Dritten, das artikuliert werden soll, bei Martha Graham und Mary Wigman nämlich, ist Ver182 | Hilal Schwarz, »Torque. The New Kinesthetic«, in: Jonathan Crary/Sanford Kwinter (Hg.), Incorporations, New York: Zone Books, 1992, S. 71-127. 183 | Brandstetter, Tanz-Lektüren, op. cit., S. 66.

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114 | Abwesenheit körperung identisch mit Expressivität. Diese Beobachtung wirft wiederum die Frage auf, ob im Herzen der Verkörperung nicht bereits eine Kritik an der Verkörperung angelegt ist. Dies gilt es im nächsten Kapitel darzulegen. Die Möglichkeit einer solchen Kritik entfaltet sich im Sinne Peggy Phelans aus einer dem Tanz eingeschriebenen Abwesenheit heraus. Im Inneren der Ästhetiken genau jener Tänzerinnen, die sich selbst gerne die Befreiung des Impulses und damit des Körpers zuschreiben, wirkt die ›alte‹ Entkörperlichung des Balletts weiter. Dadurch werden gerade aus dem Zentrum des Verkörperungsparadigmas, dem freien Tanz, heraus Zweifel wach an der Verkörperung jener zu präsentierenden Formen. Denn es ist gerade der Körper, der hierbei paradoxerweise in der Bewegung entkörperlicht wird. Wenn Verkörperung auf die Frage zielt, »wie uns etwas gegeben ist«,184 so lässt sich hier sagen: im Modus der Abwesenheit. Gerade weil Material und Sinn nicht, wie Krämer es will, eins werden, sondern immer schon eins sind und deshalb zugleich aufeinander verweisen, vermag der Tanz dem Zwei-Welten-Modell der Verkörperung zu entkommen. In der Fähigkeit des Körpers, imaginäre andere Körper aufzurufen, besteht seine Möglichkeitsbedingung und seine Handlungsfreiheit.

184 | Krämer, op. cit., S. 345.

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III

Moderne Konfigurationen der Abwesenheit

Das Begriffspaar Abwesenheit und Präsenz hat sich als zentral für den Tanz der Moderne erwiesen. Mit Peggy Phelan können wir die Abwesenheit der Repräsentation als Ort des Widerstands und des potentiellen Einspruchs gegen etablierte Codes verstehen; gegen Peggy Phelan als Ort der Wiederholung, der sich nicht in seiner reinen Präsenz und Flüchtigkeit erschöpft, sondern Räume schafft, die, wie Giorgio Agamben sagt, die Abwesenheit umschließen, Räume die, wie Josette Féral argumentiert, (körperlich) real sind und die besetzt werden können. Die Verbindung mit der Freudschen Psychoanalyse und deren Interpretation durch Lacan erlaubt es, die Abwesenheit nicht als entkörperlichte Spur zu lesen, sondern sie gerade als körperliches Phänomen zu denken, was für den Tanz von zentraler Bedeutung ist. Vor dem Hintergrund des Freudschen Fort-Da-Spiels ist auch deutlich geworden, dass jede Abwesenheit eine Präsenz aushebt und jede Präsenz auf einer Abwesenheit basiert. Was durch dieses Oszillieren in den Blick rückt, ist der Zwischenbereich des Unformulierten, den der Tanz potentiell mit jeder seiner Bewegungen schafft, ein Zwischenbereich, der die binäre Opposition Präsenz-Absenz in ein Feld unendlicher Schattierungen und Abstufungen auflöst. Im Folgenden soll die Tragfähigkeit des Konzepts ›Abwesenheit‹ überprüft werden. Zu diesem Zweck schlage ich eine Reihe von Lektüren vor, die sich auf die zentralen Figuren der Tanzmoderne und deren Poetiken stützen. Dabei werden aus dem Blickwinkel der Abwesenheit heraus liebgewonnene Oppositionen zwischen einzelnen Protagonistinnen der Tanzmoderne, wie etwa der zwischen Isadora Duncan, die nach überlieferter Meinung an und mit ihrem Körper arbeitet, und Loïe Fuller, deren Körper hinter den sich fortrankenden Bewegungen verschwindet, problematisiert und das Feld neu gruppiert. Ich setze dabei voraus, dass sich in den Selbstaussagen der Tänzerinnen auch etwas von ihrer tänzerischen Praxis wiederfindet. Dabei sollen Konfigurationen der Abwesenheit kenntlich gemacht

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116 | Abwesenheit werden, unterschiedliche Arten und Weisen, Tanz aus der Absenz heraus zu denken, um einen neuen Tanz und, damit verbunden, andere Subjektpositionen zu entwickeln.

1 1.1

Metaphern der Natur »Because I have motion«: Loïe Fuller

An der Herausbildung des modernistische Topos einer Abwesenheit, der in der Kunst Präsenz gegeben wird, hatte eine Tänzerin entscheidenden Anteil: Loïe Fuller. Die amerikanische Vaudeville-Tänzerin, die 1892 zum ersten Mal in Paris auftrat, wurde zur Muse der Dichter und ihr Tanz zur perfekten Metapher für eine ›reine‹ Poesie. Mit Kostümen aus meterlangen Seidenbahnen, die sie mit zwei Stäben um ihren Körper herum führte, sowie einer ausgeklügelten Lichtregie, die ihr Kostüm unter Verwendung von farbigen Glasplatten mit elektrischem Licht anstrahlte, löste sie ihren Körper als Zeichen und Zeichenbildner im Rhythmus der reinen Bewegung auf. Licht und Kostüm entmaterialisieren sie gleichsam im wechselseitigen Spiel, indem sie sie in immer neue, nie stillzustellende und auf eine Gestalt zu reduzierende Formen tauchen. Die abstrakten, von den Stoffbahnen gewebten Formen kreisten um ihren Körper, der zwar als motorisches Zentrum der Bewegung fungierte, in den bewegten Stoffbahnen jedoch immer wieder verschwand. Zur leeren unsemantischen Mitte geworden, generierte er Bewegungen, die sich »aus sich selbst, ohne referentiellen Bezug zur Realität«1 fortranken. Gabriele Brandstetter fasst das Besondere an Fullers Ästhetik wie folgt zusammen: Das Neue an ihrem Tanz war nicht eine besondere »Technik« virtuoser Körperbeherrschung, sondern die Erschaffung eines gänzlich veränderten künstlichen Zeichen-Raums durch ein Bewegungsensemble, das als nahezu abstraktes szenisches Spiel von Stoff, von bewegtem Licht, Farben und Musik erscheint: Die Metamorphosen von Loïe Fullers Tanz verkörperten den Traum vollkommener Synästhesie, wie ihn Dichter des Symbolismus von Baudelaire über Mallarmé bis zu Yeats und Valéry immer wieder beschworen.2

Die bewegten Bilder, die Loïe Fuller mit ihren Tänzen erzeugte, hatte sie den Formen der Natur nachempfunden. Der Serpentinentanz, der Lilientanz, der Feuertanz, der Tanz der Schmetterlinge, Wolken und Wellen soll 1 | Gabriele Brandstetter/Brygida Maria Ochaim, Loïe Fuller. Tanz – Licht – Spiel. Art Nouveau, Freiburg: Rombach, 1989, S. 145. 2 | Gabriele Brandstetter, Tanz-Lektüren , op. cit, S. 333.

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über den Umweg der Natur und ihrer vegetabilen Formen Emotionen ausdrücken, genauer: er soll eine Idee im Geist des Betrachters hervorrufen, die auf das Bild der Elemente in der Natur zurückgreift. In ihrer Autobiographie Fifteen Years of a Dancer’s Life entwickelt sie ein dreistufiges Modell, das das Verhältnis von Empfindung und Ausdruck, von Impuls und Bewegung auf eine für den modernen Tanz signifikante Art zu beschreiben versuchte. Obwohl Loïe Fuller keine neue, an den natürlichen Bewegungsprinzipien des Körpers orientierte Tanztechnik schuf, war die Art, wie sie ›Natur‹ oder ›Leben‹ mit dem (weiblichen) Körper ausdrücken wollte, paradigmatisch für den modernen Tanz. Auch Fuller beginnt zunächst mit der Ablehnung des klassischen Ballettkodexes: Damit wir die eigentliche und umfassendste Bedeutung des Wortes Tanz begreifen können, wollen wir einmal versuchen zu vergessen, was die choreographische Kunst unserer Tage damit verbindet. Was ist der Tanz? Bewegung. Was ist Bewegung? Der Ausdruck einer Empfindung. Was ist Empfindung? Die Reaktion, die im menschlichen Körper durch einen Eindruck oder eine Idee, die der Geist empfängt, hervorgerufen wird. Eine Empfindung ist der Widerhall, der im Körper entsteht, wenn ein Eindruck den Geist trifft.3

Diese Eindrücke können emotionaler Natur sein, wie Furcht oder Freude, die von etwas dem Menschen Äußeren, wie etwa einem Musikstück, ausgelöst werden, oder sie können Formen der Natur betreffen, Bilder, die in der tänzerischen Bewegung nachempfunden werden. Der Geist fungiert dabei als ›Medium‹, das die Eindrücke an den Körper weiterleitet, der sie dann in Bewegung umsetzt. Da die Natur aus Bewegung besteht und der Mensch zur Bewegung, zum »Ausdruck einer Empfindung« fähig ist, vermag er die Natur auszudrücken. »Ich habe die Bewegung. Das heißt, alles Elementare in der Natur kann ausgedrückt werden.«4 Die Bewegung ist das Bindeglied zwischen Innen und Außen. Sie geht gleichsam durch den Körper hindurch und öffnet ihn auf ein anderes, einen »Eindruck oder eine Idee« hin. Das Ausdrucksmodell, das Loïe Fuller entwickelt, ist also ein dreigliedriges. Ein Eindruck oder Affekt löst in der Seele eine Empfindung aus, die durch Bewegung ausgedrückt wird. Mark Franko beschreibt diesen Dreischritt im Hinblick auf Isadora Duncan als »expression theory«: According to this theory, physical expression results from a series of events channeling from one to the other as they open onto the body’s surface from a spiritually interior and visually clandestine site. At that concealed site, an impression of the soul 3 | Brandstetter/Ochaim, op. cit., S. 170. 4 | Ibid., S. 171.

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118 | Abwesenheit (affect) was thought to give rise to a sensation within the body. The sensation (feeling) seeks release by emerging in outward movement (gesture).5

Diese drei Terme setzt Fuller nun in eine metaphorische Beziehung, in der Form und Inhalt, Bewegung und Affekt, der durch sie ausgedrückt werden soll, über die Empfindung verbunden werden. Doch die Empfindung bleibt als tertium comparationis unformuliert. Sie ist lediglich ein Widerhall im Körper, ein Echo von etwas anderem und als solches lediglich schwaches Abbild eines Urbilds, Erinnerung an etwas Abwesendes und selbst abwesend. Als Abwesendes gibt ihr das Bild der Tänzerin als Metapher Präsenz. Loïe Fullers für den frühen modernen Tanz charakteristische Ausdrucktheorie, die auf Impressionen basiert, erweist sich bei genauerer Betrachtung allerdings als viel stärker der alten Repräsentationsästhetik des Balletts verhaftet. Das Bindeglied zu jener Tanzform, die Fuller wie nach ihr Isadora Duncan jedoch ablehnt, liegt im abwesenden Körper, der hinter einer Rhetorik der sich selbst generierenden Bewegung als empfindender verschwindet. Das unterschiedliche Erscheinungsbild der neuen und der alten Tanzform sowie deren unterschiedliche kinästhetischen Ansätze können die unterschwellige Kontinuität im Konzept und im Denken des Tanzes kaum verbergen. Auf ganz ähnliche Weise wie die Fuller formuliert nämlich Claude-François Ménestrier 1682 als Ziel eines jeden Balletts den Ausdruck von Natur, die nachgeahmt wird: Cette imitation se fait donc par les mouvements du corps, qui sont les Interpretes des Passions, & des Sentiments interieurs. Et comme le corps a des parties differentes, qui composent un tout, & font une belle harmonie, on se sert du son des instruments & leurs accords pour regler ces mouevemens, qui expriment les effets des Passions de l’ame.6

Auch Ménestrier entwirft ein Dreistufenmodell, eines von Eindruck/Affekt, den die Seele empfängt und dem Körper weitergibt, wo er in Bewegung umgesetzt wird. »Cette imitation des mœurs & des affections de l’ame est fondée sur les impressions que l’ame fait naturellement sur le corps, & sur le jugement que nous faisons des mœurs & des inclinations des personnes sur ces mouvemens exterieurs.«7 Der Unterschied zwischen Fullers impressionistischen Bewegungen und den Ballettbewegungen Ménestriers liegt lediglich in dem, was man als Natur auffasst. Der Nachahmung von 5 | Mark Franko, Dancing Modernism/Performing Politics, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press, 1995, S. 8. 6 | Claude-François Ménestrier, Des ballets anciens et modenes selon les règles du theatre, op. cit., S. 41. 7 | Ibid., S. 160.

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menschlichen Handlungen, Sitten und Leidenschaften im Sinne der aristotelischen Poetik bei Ménestrier steht die Nachahmung von vegetativen Naturformen und elementaren Bewegungsformen bei Loïe Fuller gegenüber.8 Ménestrier isoliert drei Affekte, »amour«, »crainte« und »colère«, denen er verschiedene Schrittfolgen zuordnet9. Damit steht er mit seinen Überlegungen nach wie vor im rhetorischen Modell einer Affektrepräsentation. Fuller dagegen fühlt eine »unbestimmbare und schwankende Kraft« als Impuls in sich, der sie treibt und bestimmt. Aufgrund dieses Impulses vermag sie die Natur oder ein »tranche de vie« mit Empfindungen wie Überraschung, »Täuschung, Zufriedenheit, Unsicherheit, Resignation, Hoffnung, Verzweiflung, Freude, Ermüdung, Schwäche und schließlich Tod« auszudrücken.10 Was sich zwischen dem sich am Horizont von Ménestriers Schrift abzeichnenden Handlungsballett, das mit Jean-Georges Noverres Lettres sur la danse et les ballets 1760 eine abschließende Formulierung erhalten soll, und Fullers Impressionismus ereignet hat, ist eine Verlagerung des die Bewegung auslösenden Affekts von seiner abstrakten Idee zu einer inneren Möglichkeitsbedingung von Bewegung. Was sich zwischen 1682 und 1892 ereignet hat, ist der Verlust der Referenz des Bewegungszeichens in einem fest verankerten Bedeutungshorizont. Das romantische Ballett gab dieser Entleerung der Zeichen in seinen fabelhaften Frauenfiguren wie den Sylphiden oder den Wilis Gestalt, ätherischen Luftgeistern ohne Bodenhaftung. Hier wird die grundlegende Abwesenheit und Flüchtigkeit des Tanzes zum ersten Mal Thema der Stücke. Loïe Fuller braucht dazu keine Rollenfiguren mehr. Sie macht die Bewegung selbst zum entleerten Zeichen. Hier zeichnet sich ein radikaler Bruch mit der traditionellen Tanzgeschichtsschreibung ab, der im Rahmen dieser Arbeit nur angedeutet werden kann. Siedelte man bisher die zwei großen Reformen und Umschlagpunkte des Tanzes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und an der Wende zum 20. Jahrhundert an, ergibt sich jetzt ein verändertes Bild. Die Bruchlinie verläuft jetzt zwischen dem Handlungsballett des 17. und 18. Jahrhunderts inklusive Noverre11 und dem romantischen Ballett des frühen 19. Jahr8 | Menestrier bezieht sich in seiner Definition des Balletts auf Aristoteles, macht aber gleichzeitig deutlich, dass das Ballett nicht unbedingt nur menschliche Handlungen und Leidenschaften nachahmen müsse. Vielmehr stehe ihm bei der Stoffwahl auch das Reich des Übernatürlichen, Phantastischen offen; Ménestrier, op. cit., S. 135-137. 9 | Ibid., S. 160. 10 | Brandstetter/Ochaim, op. cit., S. 171. 11 | Claudia Jeschke hat darauf hingewiesen, dass bei Noverre eine Verankerung der Motivation der Schritte im Inneren des Tänzers zwar im Zuge größerer Natürlichkeit des Ausdrucks gefordert wird, er aber keinerlei Hinweise darauf gibt, wie

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120 | Abwesenheit hunderts, das eine Freisetzung der Bewegung initiiert, auf deren Grundlage auch die Moderne agiert. Was hier behauptet wird, ist die Kontinuität zwischen der Ballett-Tradition des 19. Jahrhunderts und der frühen Moderne Loïe Fullers und Isadora Duncans. Diese Kontinuität liegt in der spezifischen Form der Abwesenheit, einer Abwesenheit des Körpers inmitten von Eindruck und Ausdruck. Analog zum Dreischritt von Affekt, geistig-körperlicher Empfindung und Bewegung lässt sich das Verhältnis von Tanz, Körper und Natur beschreiben, wobei dem Tanz die Bewegung, dem Körper die Empfindung und der Natur der Affekt entspricht. Dabei erscheint die Bewegung gleichzeitig als ihre eigene Ursache und Folge. In dieser Verkettung streicht die Bewegung den Körper als Refugium der Empfindung durch. Die Form, die der Tanz annimmt, und sein Inhalt, die auszudrückende Natur, werden identisch und beziehen sich in einer endlosen Bewegung, die sich selbst generiert, auf sich selbst. Das Dritte, das Tanz und Natur verbindet, ist der empfindende Körper der Tänzerin, der in der Aufführungspraxis der Fuller in den Stoffbahnen versinkt und lediglich als abwesendes, weil weitgehend unsichtbares Verursacherprinzip, als »unbeschriebener Körper, der schreibt« fungiert. Der Körper der Tänzerin ist eine Metapher für die abwesende Idee oder Empfindung, die in der selbstreferentiellen Bewegung als Effekt von Präsenz aufscheinen kann. »Fuller is both signifier and signified. In her work, it’s impossible to distinguish a signified content from a signifying body, and the dance is itself also both a content and the act of producing the content.«12 Für Stéphane Mallarmé, der 1893 auf Empfehlung eines Freundes eine Vorstellung von Loïe Fuller besuchte, war der Tanz und gerade der Tanz Fullers »die Schauspielform par excellence von Poesie«.13 In seinen Beobachtungen zum Ballett in seinen Theaternotizen Crayonné au théâtre formuliert er ein »Axiom«, das seine Vorstellung von Dichtkunst mit der Ästhetik des Tanzes verbindet: das Innere zugänglich gemacht werden könnte: » [Noverre] nennt zwar die analoge Verbindung von Seele, Körper und Geist, untersucht aber weder den Vorgang der Vermittlung zwischen innen und außen, noch konfrontiert er Tanzbewegung und Ausdrucksbewegung; ihr Zusammenwirken, ihr Verhältnis auf der Bühne bleibt ungeklärt«; Claudia Jeschke, »Noverre, Lessing, Engel. Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«, op. cit, S. 93. 12 | Felicia McCarren, »Stéphane Mallarmé, Loïe Fuller, and the Theatre of Femininity«, in: Ellen W. Goellner/Jacqueline Shea Murphy (Hg.), Bodies of the Text. Dance as Theory, Literature as Dance, New Brunswick: Rutgers University Press, 1995, S. 217-230, hier: S. 219. 13 | Stéphane Mallarmé, Werke II: Kritische Schriften, französisch und deutsch, hg. und übers. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel, Gerlingen: Lambert Schneider, 1998, S. 181.

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III Moderne Konfigurationen der Abwesenheit | 121 Nämlich: daß die Tänzerin keine Frau ist, die tanzt, aus den miteinander verbundenen Gründen, daß sie keine Frau ist, sondern eine Metapher, die einen der elementaren Aspekte unserer Gestalt, Schwert, Kelch, Blume, etc., in sich faßt, und daß sie nicht tanzt, sie suggeriert vielmehr durch das Wunder von Raffungen und Schwüngen, mit einer Körperschrift etwas, wozu es ganze Abschnitte dialoghafter wie auch beschreibender Prosa zu einem schriftstellerischen Ausdruck bedürfte: Poem, losgelöst von allem Rüstzeug des Schreibers.14

Der Tanz der Fuller wird hier zur »Körperschrift«, zu einer Schrift im Raum, die aus Signifikanten besteht, die ihre Materialität zugleich im Hinblick auf eine Idee, »die Verkörperung findet«, transzendieren.15 Losgelöst von der Vorstellung eines Autors oder intentionalen Tänzersubjekts, das den Sinn der Schriftzeichen garantieren würde, entfaltet sich dieser erst im Wechselspiel der Signifikanten und ihrem räumlichen Abstand zueinander, den die Schritte der Tänzerin markieren. Das Räumlichwerden der Zeichen, denen durch »Raffungen und Schwüngen« des Kostüms ein Ort gegeben wird, setzt sie miteinander in Beziehung und hält sie zugleich auf Abstand. In diese Lücke fällt der in einer konventionellen Syntax festgeschriebene Sinn der Worte zusammen, die als »Alphabet der Nacht« sternengleich am Firmament funkeln.16 Sie werden jedoch keineswegs sinnlos, sondern eröffnen vielmehr ihren ganzen Assoziationsreichtum: Die einzige imaginative Übung, in den gewöhnlichen Stunden, in denen man Stätten des Tanzes ohne irgendein vorgefaßtes Ziel aufsucht, besteht darin, geduldig und müßig sich vor jeder dieser sonderbaren Pas-Bewegungen und Posituren, vor diesen pointes und taqués, allongés oder ballons zu fragen: »Was kann das bedeuten?« oder besser noch, sie intuitiv zu lesen.17

Das intuitive oder imaginative Lesen liest nicht auf einen Sinn hin, sondern unterwirft sich in einem Zustand der »Träumerei« dem Prozess des Werdens und Vergehens von Bedeutungen. Nur so »gewinnt das Sagen […] seine Virtualität zurück«.18 In Crise de vers beschreibt Mallarmé sein poetologisches Projekt folgendermaßen: Das reine Werk impliziert das kunstvoll beredte Verschwinden des Poeten, der die Initiative an die Wörter abtritt, die durch Schock ihrer Ungleichheit in Bewegung versetzt sind; sie entzünden sich mit wechselseitigem Widerschein wie ein virtuelles 14 | Ibid., S. 171. 15 | Ibid., S. 225, vgl. dazu Finter, Der subjektive Raum Band 1, op. cit., S. 80. 16 | Mallarmé, op. cit., S. 169. 17 | Ibid., S. 177-179. 18 | Ibid., S. 229.

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122 | Abwesenheit Leuchtfeuer von Lichtern auf Geschmeide und ersetzen so das im alten lyrischen Hauch spürbare Atmen oder die persönlich enthusiastische Lenkung der Tirade.19

Die Tänzerin, die auf der Bühne immer nur ein halber Mensch sein kann und selbstvergessen nur vom Zauber der Darstellung ihrer Schritte lebt, wird so zum »Emblem«20 für den literarischen Zeichenprozess, der keinen vorgängigen Sinnzusammenhang repräsentiert, sondern nur im verräumlichenden und verzeitlichenden Akt der Aufführung das Abwesende präsent machen kann. Das berühmte Beispiel, das Mallarmé für das Funktionieren von Sprache gibt, ist das der Blume: »Ich sage: eine Blume! und, jenseits der Vergessenheit, der meine Stimme jede Kontur übereignet, als etwas anderes als die gewußten Kelche, steigt, musikalisch, Idee selbst und sanft, die aus allen Sträußen abwesende auf.«21 Das Abwesende steigt durch den »letzten Schleier« der Tänzerin auf, den letzten Rest an Materialität und Stofflichem, der ihr Geheimnis zugleich hütet und ihm die Möglichkeit gibt, hindurch zu scheinen: »ja dann gibt durch eine Trautheit, deren Geheimnis ihr Lächeln auszustreuen scheint, unverweilt hinter dem letzten Schleier, der immer bleibt, sie dir die Nacktheit deiner Begriffe preis und schreibt deine Version auf in der Form eines Zeichens, das sie ist.«22 Die Tänzerin wird selbst zum Signifikanten, das den individuellen Sinn, den der Zuschauer ihrem Tun gibt, aufschreibt. Ist sie einerseits nur Zeichen, ist sie andererseits doch auch erkennbar ein verführerisches Zeichen, das das Begehren des Zuschauers auf sich zieht. Denn Mallarmés Beschreibung der Tänzerin als einer Metapher bringt deren Körper keineswegs zum Verschwinden. Mallarmé ist sich, wie Felicia McCarren angemerkt hat,23 sehr wohl bewusst, dass eine Frau tanzt: »Wenn eine Frau das Aufflattern von Gewändern dem Tanz assoziiert«, heißt es in einer elliptischen Formulierung im Text, »der so mächtig oder raumgreifend, daß jene von ihm gehalten werden, endlos, als wären sie seine Ausbreitung –«.24 Was dann folgen würde, wenn der Tanz die Gewänder hielte, verschweigt der Text. Die Frau assoziiert das Aufflattern der Gewänder, also zunächst eine unbestimmte Erregung, mit dem Tanz. Der Tanz wird zum Emblem für die Erregung, die Mallarmé – ganz im Gegensatz zu Valéry – durchaus 19 | Ibid., S. 225. 20 | Ibid., S. 171. 21 | Ibid., S. 229. 22 | Ibid., S. 179. 23 | »In Loie Fuller’s dance, the visible expansion and representation of feminine ›matter’, we see a complex construction of artistic and sexual identity which depends on the movement between passion and control, nothing and something, abstraction and femaleness«; McCarren, op. cit., S. 227. 24 | Mallarmé, op. cit., S. 181.

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als sexuelle kennzeichnet. In seiner Beschreibung der turtelnden Tauben in André Messagers Ballet Les deux pigeons (1886) lässt er keinen Zweifel über Ursprung und Funktion des Tanzes: »Das wird dann […] genau so als ob es sich, meine Dame oder mein Herr, bei einem von Ihnen abspielen würde, mit einem Kuß, der in der Kunst ohne Belang, da aller Tanz von solchem Tun nur die mysterienhafte heilige Übersetzung ist.«25 Der Tanz ist »vielleicht das ganze Abenteuer der geschlechtlichen Differenz«,26 die »Transfiguration der Logik des sexuellen Akts«,27 wie Helga Finter schreibt. Der Körper der Frau, der sich unter den Gewändern in einem merkwürdigen Zustand der Erregung befindet, ein Köper wie unter einer Stoffdecke beim sexuellen Akt, ist für Mallarmé die Inkarnation des Tanzes, eine ins Heilige übersetzte Erregung, die sich in die symbolische Ordnung der Bühne einschreibt. Die Frau kontrolliert die mächtigen Stoffbewegungen ebenso sehr, wie sie damit Ideen und Bilder umsetzt und im Rezipienten erzeugt, die sie zudecken, sie entkörperlichen. Das stoffliche Durchstreichen ihres Körpers in der Triade von Eindruck, Empfindung und Bewegung macht den Körper zur Metapher, die ihn maskiert. Die Tänzerin fungiert als Maskerade des Phallus des Begehrens, der sich nur als abwesender im Theater zeigen kann. »Die Tänzerin ist«, so Helga Finter, »einerseits – als Frau, die das Begehren auf sich zieht – sinnliche Qualität eines Signifikanten, und sie ist Gegenstand der Darstellung, die die Vorstellung immer wieder deplaziert durch ihre Bewegung, womit sie zur Allegorie des Fiktiven und Momentanen jeder Präsenz wird.«28 Der abwesend-anwesende Körper der Tänzerin eröffnet der Idee in der Bewegung einen Raum, einer Idee, die immer abwesend, weil nicht repräsentierbar ist und die sich nur als Effekt auf dem Schleier, als Lichtspiel »wie ein virtuelles Leuchtfeuer von Lichtern auf Geschmeide« auf den Gewändern Loïe Fullers abzeichnen kann. Das »reine Werk«, so Mallarmé, »impliziert das kunstvoll beredte Verschwinden des Poeten«.29 Der weibliche Körper als verschwundener produziert Metaphern, die zwischen Natur und Tanz als abwesendes Bindeglied eine Beziehung etablieren. Er ist eine metaphorische Hervorbringung, die sich als subjektiver Körper selbst transzendiert. Loïe Fuller verkörpert daher strenggenommen auch keine Idee. Vielmehr setzt sie über die Abwesenheit des Körpers ein rhetorisches Verweisspiel in Gang, das den Prozess der Bedeutungskonstitution hin und her schiebt und damit offen lässt.

25 | Ibid., S. 175. 26 | Ibid., S. 173. 27 | Finter, Der subjektive Raum Band I, op. cit., S. 82. 28 | Finter, op. cit., S. 81. 29 | Mallarmé, Vers-Krise, op. cit, S. 225.

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124 | Abwesenheit

1.2

»Das Göttliche im Menschen zum Ausdruck bringen«: Isadora Duncan

In den Schriften von Isadora Duncan, die neben Loïe Fuller als eine der Gründerfiguren des modernen Tanzes hochgehalten wird, rückt die Abwesenheit in einer für den modernen Tanz ähnlichen Konstellation wie bei Loïe Fuller ins Blickfeld. Der Begriff der Abwesenheit erlaubt es, die Ästhetiken beider Tänzerinnen, die man ansonsten in der Forschungsliteratur eher als unterschiedliche Pole der aufkommenden Tanzmoderne betrachtet, zusammenzudenken.30 Abwesenheit erscheint auch hier als ein metaphorisches In-Szene-Setzen einer Präsenz, in der Reales, Imaginäres und Symbolisches zusammenfallen sollen. Durch die rhetorische Figur der Metapher soll etwas Unsichtbares sichtbar gemacht werden. Doch diese Präsenz vermag nur zu erschienen, indem dasjenige Element, das sie trägt, sich nicht als es selbst zum Ausdruck bringt. Auch hier bleibt der Körper eine zum Fetisch erhobene Leerstelle. In ihren Memoiren schildert Isadora Duncan die Urszene des modernen Tanzes, der aus dem Stillstand, der Abwesenheit von sichtbarem Tanz, geboren wurde: »Stundenlang stand ich vollkommen regungslos, die Hände vor der Brust, über dem sympathischen Nervensystem, gefaltet, als befände ich mich in einem Trancezustand. Schließlich aber fand ich doch den Sitz aller Bewegung, die Triebfeder, die motorische Kraft, die Einheit, aus der die Vielfältigkeit des Bewegungskomplexes entspringt.«31 Duncan lehnt daraufhin den klassischen Ballettkodex ab, der an der aufrechten Körperachse, der Wirbelsäule, orientiert ist, von der die Gliedmaßen wie bei einer Gliederpuppe herunterhängen, um sich frei bewegen zu können. »Im Gegensatz hierzu forsche ich nach dem Sitz des inneren Ausdrucks, von dem aus die seelischen Erlebnisse sich dem Körper mitteilen und ihm lebendige Erleuchtung verleihen sollen.«32 Der Solarplexus, von dem die Bewegungen ausgehen, wird in Duncans Modell zur doppelten Schnittstelle. Er ist zunächst ein somatischer Punkt, der rein motorisch Bewegung generiert, gleichzeitig aber immer schon »Sitz des in30 | »Während Fullers Tänze die Nichtpräsenz des Körpers zum verspielten wie machtvollen Gestus eines imaginären Bewegungsrausches projizierte, strebte Isadora Duncan eine mit Ausdruck benetzte Gestaltung der ›natürlichen‹ Körperbewegung an, die mit einer gesteigerten Empfindungsfähigkeit des Körpers korrespondieren sollte«; Sabine Huschka, Merce Cunningham und der moderne Tanz. Körperkonzepte, Choreographie und Tanzästhetik, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000, S. 58-59. 31 | Isadora Duncan, »Zurück zur Natur«, in: Lydia Wolgina/Ulrich Pietzsch (Hg.), Die Welt des Tanzes in Selbstzeugnissen, Wilhelmshaven: Florian Noetzel, 1977, S. 7-39, hier: S. 7. 32 | Loc. cit.

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neren Ausdrucks«, der mehr ist als eine physiologische Kategorie. Im Solarplexus verwebt sich das Physische mit dem Psychischen und das Innen mit dem Außen der Tänzerin. Die Verbindung von Innen nach Außen wird in einem Dreischritt vollzogen, der mit dem von Fuller identisch ist. Für Duncan ist es zunächst die Musik, die einen Eindruck auf ihrer Seele hinterlässt, deren Schwingungen sich in ihr »als innere Vision, als Reflex der Seele widerspiegelten, wodurch ich befähigt war, sie tanzend zum Ausdruck zu bringen«. Der Eindruck der Musik erzeugt einen »Reflex der Seele«, ein Gefühl, das schließlich im eigentlichen Tanz, der »Sprache der Gebärden«,33 ›ausgedrückt‹ wird. Auch Phänomene der Natur, wie etwa die Wellenbewegung, die ihr als grundlegende rhythmische Bewegung überhaupt erscheint, werden musikalisch als »Melodien der Schöpfung«34 aufgefasst. Nur durch genaues Beobachten der Natur gewinnt die Seele eine Affinität zu ihren Vorgängen, die der trainierte geschmeidige Körper erfassen und zum Ausdruck bringen kann. Ist der Bewegungsfindungsprozess durch eine epiphanieartige blitzartige Erleuchtung einmal in Gang gesetzt, zieht jede Bewegung unwillkürliche eine weitere nach sich: »Each movement retains the strength to engender another«.35 In The Art of the Dance spricht sie im Zusammenhang mit griechischen Vasenbildern davon, dass es nicht eine einzige Haltung der dargestellten Figuren gebe, »which in its movement does not presuppose another movement.«36 Bewegung lebt nur dann, wenn sie unweigerlich andere Bewegungen hervorbringt: »giving rise inevitably to other movements.«37 Dadurch wird der erste Term des Dreischritts, der äußerliche natürliche Affekt, ersetzt durch etwas, was bereits einmal innerliche Bewegung war. Das bedeutet zunächst, dass das, was die Duncan für Natur hält, qua Bewegung Projektion einer Innerlichkeit ist. Duncan braucht den auslösenden Affekt gar nicht mehr, um zu tanzen. Die Bewegung setzt sich auch ohne Impuls unweigerlich fort und ersetzt in ihrem ständigen Vollzug die Natur durch subjektive Hervorbringungen. Doch damit nicht genug. Die Vorstellung eines inneren Refugiums, das sich in der Bewegung ausdrückt, wird in letzter Konsequenz nämlich ebenfalls aus der Bewegung eliminiert. Wenn Bewegung unaufhörlich aus Bewegung hervorgeht, muss sie den Umweg über die Empfindungen der Tänzerin gar nicht mehr einschlagen. Sie verkettet sich automatisch mit sich selbst. Die Bewegung, die sich selbst her33 | Duncan, op. cit., S. 26. 34 | Ibid., S. 25. 35 | Franko, op. cit, S. 8-11. 36 | Isadora Duncan »The Art of the Dance«, in: Cobbett Steinberg (Hg.), The Dance Anthology, New York/London: Plume Book, 1980, S. 35-44, hier: S. 38. 37 | Ibid., S. 44.

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126 | Abwesenheit vorbringt, ist der Tänzerin als empfindendem Körper immer schon äußerlich. Sie ist selbstreferentieller Ausdruck ihrer selbst und nicht Ausdruck der Subjektivität der Tänzerin. Derart abstrahiert und entkörperlicht, erscheint diese dem Betrachter entrückt zu sein. Dies führt zu einem Kurzschluss, der, wie Mark Franko betont, die Person der Tänzerin mit der Natur gleichsetzt und diese Natur wiederum mit dem Tanz. Das Weibliche ist gleich Natur ist gleich Tanz. So webt sich auch die Duncan in ihren eigenen Text ein, der sie auf sich zurückwirft in einer nicht-expressiven Weise, die der emblematischen von Loïe Fuller analog ist.38 Hinweise auf das Unpersönliche, das Duncans Tänze zu einem modernistischen selbst-reflexiven Text macht, der das Material der Bewegung als Essenz der Natur in sich aufnimmt, finden sich in den wenigen Bemerkungen, die Duncan zu den gestalterischen Prinzipien ihrer Tänze, also zur Choreographie, macht. Nur mit einer einzigen Geste »andeuten« wolle sie den »Aufschrei einer Begierde, welche die ganze Welt erfüllt«.39 »Der moderne Tanz ist nicht das Ergebnis von Entdeckungen in der Natur oder von Analogien zu ihr. Er ist das Ergebnis geometrischer und mechanischer Berechnungen«,40 schreibt sie weiter, nur um ihren Tanz mit der »Geburt der Pallas Athene«, der Göttin der Weisheit und Vernunft, zu vergleichen.41 »Es ist ein Irrtum, mich eine Tänzerin zu nennen: Ich bin das magnetische Zentrum zur Verkörperung des Bewegungsausdrucks für ein Orchester – aus meiner Seele blitzen feurige Strahlen und verknüpfen mich mit den zitternden, vibrierenden Tönen der Instrumente.«42 Das magnetische Zentrum ordnet Bewegungen lediglich an, ohne sie jedoch zu verkörpern. Es

38 | Für Franko siedelt sich die Ästhetik der Duncan im Paradox zwischen dem Ausdruck ihrer weiblichen Subjektivität in der öffentlichen Sphäre des Tanzes und der Abstraktion von Gefühlen, die den Selbstausdruck durchstreicht, an. Er sieht das Paradox von Expressivität und Abstraktion vor einem kulturgeschichtlichen Hintergrund, der die Rolle der Solotänzerin in der modernen patriarchalischen Gesellschaft betrifft: »Nevertheless, modernist rejection of subjectivism resulting in depersonalized emotion conflicts with Duncan’s ostensible social impact. Despite her social militancy and avant-garde attempt to bring art and life together, essentialist metaphors and syllogisms insulate her performance from social reality. This is the double bind of the female soloist in historical modern dance: The female soloist’s personality and the modernist subject’s self-effacement coalesce aesthetically but conflict politically.« Duncan behaupte mithin eine Subjektposition, ohne ihre Subjektivität in der Öffentlichkeit zu positionieren; Franko op. cit., S. 9. 39 | Duncan, »Zurück zur Natur«, op. cit., S. 14. 40 | Ibid., S. 27. 41 | Ibid., S. 28. 42 | Loc. cit.

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schiebt die Bewegungen auf, verschiebt sie auf die Musik und das Orchester, um sich mit ihnen in Einklang zu bringen und sich in diesem Aufschub als subjektiver Körper zu verlieren. Damit wird Duncans Körper zum Ermöglichungsgrund für natürliche, subjektiv empfundene, individuelle und weibliche Bewegungen, ohne »selbst« zu tanzen. Duncans Körper wird zur Idee von Weiblichkeit, weshalb Kritiker wie Georg Fuchs schon 1906 ihren Tanz auch als entrückte Philisterkunst bezeichnen konnten, die vor allem in einem von Winckelmanns Antikenbild geprägten Deutschland auf fruchtbaren Boden gefallen sei: Der Deutsche hatte seinen Körper noch nicht entdeckt – wenigstens noch nicht als kulturelles und künstlerisches Ausdrucksmittel. In seine ganz noch in der Abstraktion bestehende Kultursphäre brachte die Duncan den zugehörigen abstrakten Tanz, einen ›körperlosen‹ Tanz; denn bei der Duncan kam alles darauf an, daß man ihre fast diakonissenhaft-neutrale Körperlichkeit, vor allem aber die Geschlechtsformen übersah. Sie galten nur als unerläßliche Werkzeuge der Sichtbarmachung der verstandesmäßig, ja wissenschaftlich ausgewählten antiken Posen. Für diese Art der abstrakter Tanzkunst war der Leib der Tänzerin nicht mehr als der Gips für den Abguß […]. Die Duncan war, ehe sie sich zu der ballettmäßigen »Vorführung« Straußscher Walzer herabließ, vollkommen logisch, und genauso logisch war, daß sie von den gebildeten Deutschen, deren abstrakte Kultur im Gipsabdruck und Museum ihre höchste Ergebung feiert, mit Begeisterung aufgenommen wurde.43

Die körperliche Präsenz der Duncan ist das Gefäß für etwas Abwesendes, ihr Körper, wie sie sagt, ein transparentes »Medium der Seele und des Geistes«.44 Er gibt der Abwesenheit Form, um sie und nicht sich erscheinen zu lassen. »Duncan staged herself as a subject of expression, not an expressive subject«, fasst Franko zusammen.45 Körper und Seele werden hier ebenso austauschbar wie Innen und Außen, Abwesenheit und Präsenz. Tanz und Bewegung auf der einen sowie Natur und Affekt auf der anderen Seite stehen in einem metaphorischen Verhältnis zueinander, deren Verbindung der weibliche Körper ist. Duncans weiblicher Körper setzt sich selbst an die Leerstelle als verkörperte Abwesenheit. Ihr Körper verschwindet als physische, materielle Masse, die, vollkommen beseelt, von einem abwesenden Anderen, von einem Göttlichen, kündet. Ihr Körper ist das tertium comparationis, das in der metaphorischen Beziehung als solches nicht erscheinen kann, die beiden anderen Terme jedoch verbindet. Er ist äquivalent mit dem Gefühl, das als zweiter Begriff des Dreischritts die sichtbare Bewegung und 43 | Georg Fuchs, Der Tanz, Flugblätter für künstlerische Kultur 6, Stuttgart: Strecker & Schröder, 1906, S. 19-20. 44 | Duncan, »Zurück zur Natur«, op. cit., S. 20. 45 | Franko, op. cit., S. 11.

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128 | Abwesenheit den hörbaren musikalischen Eindruck, der den Affekt auslöst, aufeinander bezieht. Dass die Tänzerin fühlt, muss ich glauben. Auch Isadora Duncan kann das Abwesende nicht sichtbar machen, lediglich dessen Idee »andeuten«, für die ihr Körper wie ein Fetisch einsteht: »Ich will nur andeuten […]«.46 Damit steht ihre neue, moderne Tanzkunst dem verhassten Ballett viel näher, als ihr lieb sein konnte. Auch das haben wir bereits bei Loïe Fuller beobachten können. So loben zeitgenössische Kritiker wie Hans Brandenburg ihre »›Linienführung‹, die alle Bewegungen zu einem fließenden Ganzen verbindet«, als sei sie eine klassische Ballerina.47 Gleichzeitig kritisiert Brandenburg das Posenhafte ihrer Bewegungen, das analog zur Ballettästhetik in Tableaus das zu Vermittelnde gleichsam schlagartig evident und sinnfällig machen soll. »Mit philologischer und archäologischer Rekonstruktion reihte sie Posen aneinander und gab statt der Bewegung kopierte Bewegungsmomente, die zudem nicht dem Tanz, sondern der bildenden Kunst angehören.«48 John Schikowski, neben Brandenburg, Fritz Böhme und Oskar Bie einer der bedeutendsten Tanzkritiker und Theoretiker seiner Zeit, bemängelt 1926 Ähnliches: »Daß von einer Wiederbelebung der antiken griechischen Tänze das Heil [für eine neue, auf kinästhetisch-energetischen Prinzipien basierenden Tanzkunst, d. Verf.] nicht kommen könne, bewies Isadora Duncan durch ihre eigene Praxis. Was wir von den Griechentänzen kennen, beschränkt sich auf malerische und plastische Darstellungen, die alte Vasenbilder und Reliefs uns bieten. Es sind Stellungen, Posen, Attitüden. Solche Stellungen suchte nun die Duncan nachzuahmen, und ihr Tanz war im Wesentlichen eine rhythmische Bewegungsreihe, die eine dieser Posen mit einer anderen verband. Ein Verfahren, das allen künstlerischen und tänzerischen Gesetzen Hohn spricht.«49 Dass nicht nur die äußere Form der »lebende[n] Bilder«, »sondern auch der innere Gehalt« ihrer Tänze »nicht aus der eigenen Seele geschöpft« war, sondern gestaltete Musikstücke von »Chopin und Beethoven«50 als Quelle für die Affekte dienten, wie Schikowski schreibt, führt uns zum zentralen Punkt der Argumentation. Auch Brandenburg attestiert ihrer Kunst »etwas Äusserliches […] dessen Wirkungen mehr die Illusion von Bewegung hervorrufen als dass sie unmittelbar auf der Bewegung selbst beru-

46 | Duncan, op. cit., S. 15. 47 | Hans Brandenburg, Der moderne Tanz, München; Georg Müller, 1921, S. 30. 48 | Huschka, op. cit., S. 76. 49 | John Schikowski, Geschichte des Tanzes, Berlin: Büchergilde Gutenberg, 1926, S. 134. 50 | Ibid., S. 135.

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hen.«51 Duncan erzeugt lediglich die »Illusion von Bewegung«, weil sie die Gefühle und die Seele nur andeuten, nicht aber als Präsenz fühlbar und sichtbar machen kann. Das ist weniger ein »Gestaltungsproblem«, an dem die Tänzerin, gemessen an ihrem eigenen Anspruch, scheiterte, wie Sabine Huschka argumentiert.52 Es ist vielmehr die unhintergehbare Grundlage des abendländischen Tanzes, der auf einem Verbot basiert, dessen sich Isadora Duncan durchaus bewusst war und das sie nolens volens mit dem Ballett teilte.53 Die Duncan zitiert Bewegungen von Vasenbildern, weil sie ihrem Ideal von Harmonie und Schönheit entsprechen. Sie tanzt zu sinfonischer, d.h. als eigenständiges Kunstwerk anerkannter Musik, weil diese die Regungen ihrer Seele hervorruft. In beiden Fällen erkennt sie eine ihrem Körper äußerliche Instanz an, deren Impressionen in ihrer Seele sie durch Bewegung wiedergeben möchte. Doch die Bewegung basiert, wie wir gesehen haben, lediglich auf einer autopoetischen Selbsterzeugung, die die Seele als ihr Antriebsmoment nicht braucht. Duncans Tanz markiert sie gerade als Abwesende, vermag ihre Repräsentation in der Präsenz der Bewegung jedoch nie zu schließen. Duncans Konzept vom Tanz entspricht, um Mark Frankos Formulierung zu verwenden, dem einer »religiösen Allegorie«, weil der Körper der Tänzerin »a means to an elsewhere rather than an autonomously independent material« sei.54 Den Körper zum autonomen eigenständigen Material zu machen, das von Energie durchströmt und von Bewegungsimpulsen angetrieben wird, sollte erst der nächsten Generation von Tänzerinnen und Choreographinnen vorbehalten bleiben. Doch damit ist die »religiöse Allegorie« mit ihrem zentralen Beharren auf dem abwesenden Göttlichen in der Repräsentation keineswegs abgelöst oder am Ende. Auch Tänzerinnen wie Mary Wigman und Martha Graham machen ihren Körper, obwohl er als autonomes, eigenständiges Instrument ihres Tanzes fungiert, zum Tempel für ein Abwesendes. Auch ihr Körper wird gelöscht in bezug auf jenes Andere. Doch nutzen sie dieses Abwesende nicht mehr zur Herausbildung von Metaphern. Vielmehr versuchen sie in der tänzerischen Bewegung mit dem Anderen zu verschmelzen, eine Einheit von Ding und Zeichen herbeizuführen, um das Abwesende präsent zu machen. Damit einher geht eine Verschiebung des metaphorischen Verhältnisses von Affekt, Körper/Gefühl 51 | Brandenburg, op. cit., S. 20. 52 | Huschka, op. cit., S. 74. 53 | Obwohl die Bewegungsimpulse und das im Tanz erzeugte Körperbild evidentermaßen diametral entgegengesetzt sind, teilen Ballett und der moderne Tanz ihre symbolische Beziehung zum Gesetz des christlichen Körpers. Beide transformieren das gefallene Fleisch in die Idee eines körperlichen Ideals von Ordnung und Harmonie; vgl. Kapitel III.5 dieser Arbeit. 54 | Franko, op. cit., S. 1.

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130 | Abwesenheit und Bewegung. Mit der Anerkennung der zentralen Abwesenheit, die ihr Tanz ist, unterscheidet sich das tänzerische Verfahren der Duncan in markanter Weise von dem Mary Wigmans und Martha Grahams. Davon wird im nächsten Abschnitt die Rede sein.

2 2.1

Symbole der Teilhabe »[…] um sich an ein Größeres als er selbst zu verlieren«: Mary Wigman

Für John Schikowski war nach der Enttäuschung über den Tanz von Isadora Duncan klar, dass nur einer der »eigentliche Schöpfer und Begründer des modernen Kunsttanzes« sein konnte: Rudolf von Laban.55 Ihm kommt das Verdienst zu, den Tanz aus der Abhängigkeit von der Musik befreit und die menschliche Bewegung nach ihren dynamischen Eigengesetzlichkeiten wie Antrieb und Schwung und in ihrem Verhältnis zum Raum untersucht zu haben. Labans Schülerin aber, Mary Wigman, war es, »die den von ihrem großen Lehrer begonnenen Bau zu einem Gipfel der Vollendung führte.«56 Nach ihrer Ausbildung zur rhythmischen Gymnastiklehrerin an Emile Jacques-Dalcrozes Bildungsanstalt in Dresden-Hellerau kam Mary Wigman 1913 in die Schweiz zu Rudolf von Laban. Dort begann sie ab 1914 erste Solotänze zu choreographieren. Von 1923 bis 1928 unterhielt sie in Dresden eine eigene Kompanie von 14 Tänzerinnen.57 Im Jahr 1933 veröffentlichte Mary Wigman mehrere zentrale Essays über ihre Tanzkunst, die in der Zeitschrift Die Musik und in Rudolf Bachs Buch Das Mary Wigman Werk veröffentlicht wurden. Teile davon finden sich in leicht abgeänderter Form in dem 1935 in den USA erschienen Band von Virginia Stuart und Merle Armetage über den modernen Tanz. In ihrem Beitrag »Das Tanzerlebnis« spürt Wigman dem Ursprung der Kunst im allgemeinen und des Tanzes im besonderen nach. Dabei geht sie wie Duncan zunächst von einer Rückkehr der Tänzerin ›in sich‹ aus, einer Art Kontemplation, um zum Ursprung des Bewegungsimpulses zurückzukehren. Dort, im kreativen Urgrund, verliert sich der Mensch an ein Größeres als er selbst […] an das Unmittelbare, das unteilbare Wesen. Blitzhaft, sekundenlang vielleicht nur wird er aufgefangen und durchflutet von der Woge des großen Lebensstromes, die ihn als Einzelexistenz auslöscht und ihm Teilhabe am 55 | Schikowski, op. cit., S. 137. 56 | Ibid., S. 141. 57 | Zur Biographie von Mary Wigman vgl. Hedwig Müller, Mary Wigman. Leben und Werk der großen Tänzerin, Weinheim/Berlin: Quadriga, 1986.

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III Moderne Konfigurationen der Abwesenheit | 131 Ganzen im Erlebnis schenkt. Augenblick der Gnade, in dem der Mensch Gefäß wird und bereit, die in ihn einströmenden Kräfte aufzunehmen. Ekstatischer Zustand, der die Ebene des Wissens vertauscht mit der Ebene des Erlebens.58

Die von außen einströmenden Kräfte, das Affekte erzeugende Außen, das bei Duncan und Fuller noch einfach die Natur in ihren bewegten Formen war, erzeugt in seiner lebensphilosophischen Deutung eines den Körper »durchschwingenden Kraftstroms«59 einen ekstatischen Zustand. Das für Fuller und Duncan charakteristische Umweben der Abwesenheit, das Innenwelt und Außenraum des Tänzers als Bewegung füreinander durchlässig macht, ohne den Körper dabei zu berühren, weicht hier einem Zusammenfallen von Innen und Außen, das die Grenze nicht tänzerisch umspielt, sondern einreißt, um in einem herausgehobenen ekstatischen Moment zu verglühen, in dem der Tänzer »die Unteilbarkeit des lebendigen Daseins« erfährt. »Tanz ist Gegenwartsbekenntnis, Erleben des Da-Seins ohne jeden intellektuellen Umweg«, schreibt Wigman und weiter: »Ohne Ekstase kein Tanz! Ohne Form kein Tanz!«60 Die Formung, die den Tanz, zu dem jeder fähig ist, erst in ein Kunstwerk verwandelt, überführt die wilden ungeteilten Impulse und Regungen in eine abstrakte Gestalt, die Susan Manning als »Gestalt im Raum« bezeichnet und die sie wiederum als »configuration of energy in space« definiert.61 Das nur Private, »innerlich Erfühlte«62 soll geläutert und entpersönlicht werden. In dieser Entpersönlichung findet, wie Sabine Huschka in ihrer Kritik an Wigmans Tanzkonzept betont, einerseits ein Abrücken vom Körper als »Verkörperung von leiblich-gefühlten Erfahrungen«63 statt, was zur symbolhaften Darstellung von abstrakten seelischen Zuständen führt. Es führt mithin zu einer Verdinglichung des Körpers. Der besondere Körper der Tänzerin verliert sich im Allgemeinen, Universellen, das einen »gefühllosen Körper« hinterlassen muss, der zum rei-

58 | Mary Wigman, »Das Tanzerlebnis«, in: Walter Sorell (Hg.), Mary Wigman. Ein Vermächtnis, Wilhelmshaven: Florian Noetzel, 1986, S. 154-156, hier: S. 155. 59 | Loc. cit. 60 | Wigman, »Tanz«, in: Sorell, op. cit., S. 156-158, hier: S. 157. 61 | Susan Manning, Ecstasy and the Demon. Feminism and Nationalism in the Dances of Mary Wigman, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1993, S. 41; Manning sieht in der modernistischen Unpersönlichkeit der Tänze, die durch das Tragen von Masken dem männlichen Blick des Betrachters keine erotisierte Frau präsentiert, eine Subversion von Figuren des Weiblichen. 62 | Wigman, »Komposition«, in: Sorell, op. cit., S. 158-160, hier: S. 158. 63 | Sabine Huschka, Moderner Tanz. Konzepte – Stile – Utopien, Reinbek: rororo, 2002, S. 25.

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132 | Abwesenheit nen Instrument für die Darstellung eines Höheren wird.64 Rückt man einmal von Huschkas normativer Prämisse eines gefühlten Leibes für die Deutung und Beschreibung des modernen Tanzes ab, kann man Wigman analog zu Mark Frankos Formulierung für Isadora Duncan ebenfalls als »a subject of expression, not an expressive subject« bezeichnen. Andererseits erzeugt dieses Abrücken vom Körper im Unterschied zu Duncan und Fuller hier einen zweiten Körper, den Körper eines übersteigerten Ichs, einen Hyperkörper der narzisstischen Verschmelzung. Der Körper verkörpert nicht mehr metaphorisch die Leerstelle dessen, was nicht darstellbar ist. Er verkörpert das Erleben und die innere Erregtheit als mystisch präsente und darstellbare. Gerade weil sich der Körper an ein »Größeres als er selbst« verliert, wird er eins mit jenem Größeren, das er nicht mehr nur zeigt, sondern das er immer schon ist. Die Auflösung der Körpergrenzen, die dieser phantasmatischen Vorstellung zugrunde liegt, formuliert Mary Wigman im Zusammenhang mit ihrem Drehtanz, auf den wir später noch einmal zurückkommen werden, am deutlichsten. Der Drehtanz war bereits 1917 Teil des Zyklus’ Ekstatische Tänze, bevor er 1927 als Teil von Die Feier zur Drehmonotonie umgearbeitet wurde. Das Aufgehen im Raum und das Aufnehmen des Raumes im Drehen führt zu einer »Kommunion mit dem Raum«, die den Körper der Tänzerin auflöst und ihn in eine mystische »Einheit mit dem Element« überführt.65 Die Identifikation mit dem Anderen liegt auch ihrem wohl bekanntesten Solotanz zugrunde, dem Hexentanz (1914 und 1926). Als ich eines Nachts völlig aufgewühlt in mein Zimmer zurückkam, traf mein Blick den Spiegel. Was er zurückwarf, war das Bild einer Besessenen, wild und wüst, abstoßend und faszinierend. Die Haare zerwühlt, die Augen tief in ihre Höhlen zurückgesunken, das Nachthemd verschoben und den Körper fast unförmig erscheinen lassend: da war sie – die Hexe – das erdverwurzelte Wesen, in hemmungsloser Triebhaftigkeit, in unersättlicher Lebensgier, Tier und Weib.66

Dieses Urbild, das aus ihr selbst aufsteigt und das doch erst als ihr eigenes äußerliches Spiegelbild erkennbar wird, verleibt sie sich in einem zweiten Schritt der narzisstischen Identifikation mit dem Imaginären der künstlerischen Formung erneut ein. Form und Inhalt, das heißt Körper und seelischer Zustand, werden dabei »erhitzt und durchglüht, bis die gegenseitige Einschmelzung vollzogen ist«,67 bis der Körper der Tänzerin Hexe, und 64 | Huschka, Moderner Tanz, op. cit., S. 185-191; Huschka, Cunningham, S. 105-107. 65 | Wigman, »Das Drehen«, in Sorell, op. cit., S. 280. 66 | Mary Wigman, Die Sprache des Tanzes, München: Battenberg, 21986, S. 41. 67 | Loc. cit.

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die Hexe der Körper der Tänzerin geworden ist. Um dies zu erreichen, bedient sich Wigman der Maske. »Wann greift der Tänzer zur Maske? Immer dann, wenn der Gestaltungsdrang in ihm einen Spaltungsvorgang auslöst, wenn seine Phantasie ihm Gestalt und Wesen einer scheinbar fremden Gestalt offenbart, die, weil ein Teil-Ich aus seinem Gesamt-Ich gelöst, den Tänzer zur Gestaltverwandlung zwingt.«68 Die Maske verdeckt die Spaltung. Trägt sie die Tänzerin, ist das Andere, die Hexe wie eine Gottheit im Ritus, in ihr anwesend. Die Maske führt zusammen, indem sie auslöscht und eine höhere Wahrheit präsent macht, die nur narzisstisch sein kann, wenn der Andere immer schon Ich ist und das Ich immer schon Teil des großen Lebensstroms. In Wigmans absolutem Tanz kommt der Impuls zur Bewegung aus dem eigenen Ich, das identisch ist mit dem Körper, und nicht etwa aus etwas dem Körper-Ich Entgegengesetztem wie der Musik. Das Zusammenfallen des ersten Begriffs, des Affekts (der Natur) mit dem zweiten, dem Gefühl, das durch ihn ausgelöst wird, zum »seelischen Zustand«,69 der durch den dritten, die Bewegungsgestalt, ausgedrückt wird, bringt das System zum Einstürzen. Der weibliche Körper bleibt auch bei Wigman abwesend, weil er überhöht und überformt dem Gesetz übereignet wird, jedoch wird er bei diesem Manöver zu seiner eigenen ›anwesenden‹ Referenz. Verbinden sich bei Isadora Duncan und Loïe Fuller Affekt und Bewegung zur Metapher des Körpers, verbinden sich bei Mary Wigman Affekt und Körper zum Symbol der Bewegung. Isadora Duncan und Loïe Fuller konnten deshalb zum Paradigma für den Schriftgedanken der modernistischen Literatur werden, weil ihre Körper die Bewegung zwar erzeugten, ohne jedoch das Gefühl als deren Referenz körperlich darstellen zu können. Ihre Bewegungen waren selbstreferentiell körperlos wie der Schriftgedanke bei Mallarmé. In Mary Wigmans Tanzkonzeption steht nun der Körper ein für das innerlich Erlebte, das den Körper selbst affiziert, weil es immer schon Teil des Anderen, des »unteilbaren Wesens«, ist. Er wird zur beglaubigten Referenz für das Dargestellte, er »legt Zeugnis ab für das im Erlebnis empfangene Urbild«,70 auf das nicht mehr nur verwiesen wird, sondern das mit der Bewegungsgestalt identisch ist. Mary Wigmans Tanz ist nicht mehr selbstgenerative Schrift, deren Referenz im Spiel der Signifikanten aufgeschoben wird, sondern die Sache selbst. Entgrenzt sich in Wigmans Tanzpraxis der Körper der Tänzerin auf den großen Lebensstrom, ist dessen Beziehung zum Zuschauer in einer Thea68 | Wigman, »Komposition«, op. cit., S. 159. 69 | Wigman, »Tanz«, op. cit., S. 157-158: »Nicht Gefühle tanzen wir! […] Den Wechsel seelischer Zustände tanzen wir, wie sie als rhythmisch bewegtes Auf und Ab im Menschen lebendig sind.« 70 | Wigman, »Das Tanzerlebnis«, in: Sorell, op. cit., S. 156.

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134 | Abwesenheit tersituation dennoch eine ästhetische und kein rituelle Erfahrung. Eine Gestaltung, eine Übertragung muss stattfinden, die für Wigman auf dem Symbol beruht, zu dem sich der Körper eingeschmolzen hat. Das allgemeingültige Symbol der Bewegungsgestalt vermag die Kommunikation mit dem Zuschauer zu gewährleisten. So wird die Bewegung als symbolische von sich entrückt. Sie steht nunmehr als Fetisch für das Abwesende ein. Wigmans Konzeption einer in pure Präsenz verwandelten Abwesenheit des Tänzerkörpers ist in dieser Beziehung vergleichbar mit Martha Grahams Vorstellung von modernem Tanz.

2.2

»Movement never lies«: Martha Graham

Mark Franko attestiert dem Frühwerk Martha Grahams vor ihrer Trennung von Ruth St. Denis und Ted Shawn, in deren Schule Denishawn sie bis 1926 tanzte, eine ähnliche, für das zeitgenössische Publikum verstörend wirkende Formalität wie dem Tanz Duncans. Grahams Stücke wie Lamentations (1930) wurden wegen ihrer Unpersönlichkeit und Entrücktheit kritisiert, die u.a. durch den Verzicht auf die für die kanonisierte Tanzmoderne so zentrale Kategorie des ›flow‹ erzeugt wurden und abstrakte Kälte ausstrahlten. Damit widerspricht Franko der naiven Annahme, Grahams wie Duncans Kunst sei auf unvermittelte Art und Weise der subjektive Ausdruck ihrer Schöpferinnen.71 Dass ihre Tanzkonzeption der von Mary Wigman näher steht als der von Isadora Duncan, so meine These, hat mit ihrer Behandlung der für jedes Kunstwerk zentralen Kategorie der Abwesenheit zu tun. Im Zuge einer ideologisch-nationalistischen Begründung des Modernen Tanzes als rein amerikanische Kunstform hat Graham den Einfluss Wigmans, die sie auf ihren Amerikatourneen zwischen November 1930 und März 1933 gesehen hat, auf ihre Kunst und den Modern Dance stets geleugnet.72 Beide unterwerfen den Tänzerkörper einer rigiden Disziplin, die ihn zum Instrument für eine Wahrheit machen soll. Beide fassen den Tanz als absoluten auf, der, wie Graham schreibt, »not knowledge about something,

71 | Franko, op. cit., S. 38-74;vgl. André Lepeckie »Wie aktuell ist die Moderne? Die Relativität der Konstruktion«, in: Ballett International/Tanz Aktuell, 3 (August 1996), S. 67-69. 72 | Über die Rezeption des deutschen Ausdruckstanzes in den USA ist viel geschrieben worden. Die Debatte soll hier nicht noch einmal aufgerollt werden; vgl. dazu: Manning, op. cit., S. 255-286; George Jackson, »Blutsverwandschaften und Wahlverweigerungen«, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.), Ausdruckstanz, Wilhelmshaven: Florian Noetzel, 1992, S. 397-404; Gunhild Oberzaucher-Schüller, »Vorbilder und Wegbereiter«, in: Ausdruckstanz, S. 347-366.

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but knowledge itself« sei.73 Für beide war dieses Wissen verbunden mit dem privilegierten Zugang des trainierten Tänzerkörpers zu einem Unbewussten, das, wie Ramsay Burt betont, auf eine Begegnung mit der Lehre C.G Jungs zurückgeht.74 Wigman kam mit Jungs Gedanken in ihrer Züricher Zeit während des Ersten Weltkriegs in Berührung, Graham unterzog sich seit den vierziger Jahren einer Jungschen Analyse, teilweise um ihre Probleme mit ihrem Mann Erick Hawkins, dem ersten männlichen Tänzer ihrer Kompanie, zu lösen.75 Für beide formuliert sich im Tanz etwas, das das rein Individuelle übersteigt, das größer ist als das tanzende Subjekt. Dieses Andere suchte Graham seit dem Stück Primitive Mysteries aus dem Jahr 1931 überwiegend in den amerikanischen Indianerkulturen, die sie zum Ursprung der amerikanischen, im Gegensatz zur europäischen Identität, zurückführen sollten. Ab 1938 und dem Stück American Document rückten Beziehungsgeschichten zwischen Männern und Frauen immer stärker in den Vordergrund, die später zur Darstellung von mythologische Frauenfiguren wie Aridane, Klytämnestra oder Herodias führen sollten, Figuren, in denen die Graham sich selber spiegelte.76 Den Vorgang der Verschmelzung von Eigenem und Fremdem beschreibt Graham in einer Spiegelszene, die der Mary Wigmans vergleichbar ist: The theatre dressing room is a very special place. It is where the act of theatre begins – and make-up is a kind of magic – the means by which you transform yourself into the character you hope to play. You make up your face as you think she might have looked; you dress your hair as you think she might have dressed hers. And then, there comes a moment when she looks at you in the mirror and you realize she is looking at you and recognizing you as herself. It is through you, her love, her hope, her fear, her terror, is to be expressed.77

73 | Franko, op. cit., S. 38. 74 | Ramsay Burt, Alien Bodies. Representations of Modernity, »Race« and Nation in Early Modern Dance, London/New York: Routledge, 1998, S. 162. Leider setzt Burt in seinem Argument die Lehre Jungs mit der Psychoanalyse Freuds gleich, was ihm einige differenziertere Einsichten verstellt. 75 | Martha Graham, Blood Memory. An Autobiography, London: Macmillan, 1991, S. 178. 76 | Susan Manning führt diese Periodisierung ein, um Grahams Darstellung von Frauenfiguren mit denen Mary Wigmans zu vergleichen; Susan Manning, »The Mythologization of the Female«, in: Ballett International 14 (September 1991), S. 11-15. 77 | Martha Graham, »A Dancer’s World«, »Transcript of the Film ›A Dancer’s World’«, in: Dance Observer (Januar 1958), S. 5; zitiert in: Susan Leigh Foster, Reading Dancing, op. cit., S. 30.

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136 | Abwesenheit Die gegenseitige Durchlässigkeit von Darstellendem und Dargestelltem wird aufgrund eines Bewegungsverständnisses ermöglicht, das die Bewegung zum Königsweg zur Bergung von archetypischen unbewussten Erfahrungen macht. Für Martha Graham ist der Körper das Instrument des Tänzers und die Bewegung sein Ausdrucksmittel.78 Aufgrund der Kette von Substitutionen vermag Graham die Bewegung als Messgerät für die innere Wahrheit des Menschen aufzufassen. »Movement never lies. It is a barometer telling the state of the soul’s weather to all who can read it. This might be called the law of the dancer’s life – the law which governs its outer aspects«.79 Tanz versteht sie als »the performance of living«, eine Vorstellung, die »the inner landscape, which is the soul of man« offenbart.80 »The part a modern art plays in the world, each time such a movement manifests itself, is to make apparent once again the inner hidden realities behind the accepted symbols«.81 Ihre Tanztechnik, die auf dem binären Prinzip von contraction und realease, von Ausatmen und Einatmen, basiert, dient ihr als Mittel, den Körper als »tragical instrument«82 jeder Zeit zum Ausdruck der inneren Landschaft zu befähigen. Durch Training vermag er sich scheinbar spontan und frei der Seele zu öffnen. »I feel that the essence of dance is the expression of man – the landscape of his soul. I hope that every dance I do reveals something of myself or some wonderful thing a human being can be. It is the unknown – whether it is the myths or the legends or the rituals that give us our memories. It is the eternal pulse of life, the utter desire.«83 Das, was der wahrhaftige Körper durch ein Eintauchen in den ewigen Puls des Lebens, der vergleichbar mit Wigmans Lebensstrom ist,84 zur Sprache bringen kann, ist vorher schon existent. Es schlummert im individuellen wie im kollektiven Unbewussten und vermag durch den trainierten Körper aus der Tiefe aufzusteigen. Susan Leigh Foster liest Grahams apodiktisches Statement »movement never lies« folgendermaßen: »It signals a 78 | »Each art has an instrument and a medium. The instrument of the dance is the human body; the medium is movement«; Martha Graham, »A Modern Dancer’s Primer for Action«, in: Cobbett Steinberg (Hg.), The Dance Anthology, New York/London: Plume, 1980, S. 44-52, hier: S. 44. 79 | Graham, Blood Memory, op. cit, S. 4. 80 | Loc. cit. 81 | Graham, »Primer«, op. cit, S. 45. 82 | Graham, Blood Memory, S. 8. 83 | Ibid., S. 5. 84 | Die Differenz zwischen den beiden Tanzkonzepten liegt auf einer anderen, kulturgeschichtlich relevanten Ebene darin, dass Wigmans Tanzkonzeption im deutschen Kontext lebensphilosophisch gedeutet wurde, während Grahams vergleichbarer Ansatz im amerikanischen Kontext als ästhetisch-künstlerische Praxis verstanden wurde; vgl. Huschka, Cunningham, op. cit., S. 166-181.

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person’s true identity and feelings. Thus preparation for becoming a dancer or choreographer involves attending to the relationship between movement and psyche.«85 Was Foster dabei unterschlägt, ist die Beziehung der Bewegung zum Anderen, denn Grahams Identität ist ihrer eigenen Aussage gemäß immer schon eine überindividuelle kulturelle und ethnische Identität. »It can awaken memory of the race through muscular memory of the body«, schreibt Graham86 oder: »We carry thousands of years of that blood and its memory. How else to explain those instinctive gestures and thoughts that come to us, with little preparation or expectation.«87 Das Gedächtnis des Blutes, »the blood memory that can speak to us«,88 kann im Tanz plastisch und präsent gemacht werden, indem es den Tänzer zu jenem Anderen macht: »You get to the point where your body is something else and it takes on a world of cultures from the past, an idea that is very hard to express in words.«89 Ramsay Burts These, dass Grahams und Wigmans Auseinandersetzung mit so genannten ›primitiven‹ Kulturen und Ritualen nicht dazu diene, Bild und Realität zu verschmelzen, sondern eine Begegnung mit dem Anderen zu ermöglichen,90 trifft für die Ebene der Körperbilder und Körperkonzeptionen nicht zu. Hier wird die Differenz zum Anderen gerade durch die verkörperte reziproke Erfahrung, die als Archetyp der spezifischen Kultur oder der Weiblichkeit angehört und als solche im Grunde nie abwesend war, getilgt. Erst auf der Ebene der choreographischen Gestaltung hält die Differenz zwischen Bild und Realität und damit die Abwesenheit wieder Einzug in Grahams Tanz. Obwohl Grahams Tanztechnik an natürliche Körpervorgänge wie das Atmen angelehnt war, erschien das Resultat vielen Kritikern vollkommen künstlich. »The other thing that distinguished Graham’s theater from other forms was its unnaturalness«, beobachtet Marcia B. Siegel, die Graham eine Formalisierung natürlicher Impulse attestiert, die menschliche Gefühle zu einer expressiven Sprache abstrahiert.91 Grahams Körperdesign schuf […] zerborstene und bizarre Körperbilder, denen die Anspannung und der Schmerz in den Gliedern und Gelenken eingebrannt war. Die perkussive Kraft und die hochenergetische Schärfe des Bewegungsmaterials spannte die Körperfasern zu verwrungenen und gewinkelten Formen. Gleich einer lodernden 85 | Foster, op. cit., S. 28. 86 | Graham, »Primer«, op. cit., S. 45. 87 | Graham, Blood Memory, S. 10. 88 | Ibid., S. 9. 89 | Ibid., S. 13. 90 | Burt, Alien Bodies, S. 162. 91 | Marcia B. Siegel, The Shapes of Change, op. cit., S. 191.

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138 | Abwesenheit und erstickten Wut verkrampfen die Körper und kondensieren in ihrer Körpermitte und angespannten Gliedern eine machtvolle Kraft.92

Ziel des Oppositionspaares contraction and release ist es demnach nicht, Gefühle (oder, in Burts Argument, Rituale) im Sinne einer Imitation naturgetreu zu repräsentieren. Der Bewegungsmechanismus bleibt als eigenständiger, künstlicher erkennbar. Er hat zum Ziel, den Körper und die Bewegung als ›absolute‹ durchzuarbeiten, den Körper nicht reagieren, sondern agieren zu lassen. Für Mark Franko zerfällt Grahams Nachdenken über Bewegung in zwei Phasen. Von ihrem ersten öffentlichen Auftritt als Solotänzerin 1926 bis in die vierziger Jahre bleibt die Bewegungstechnik der Darstellung von Gefühlen äußerlich. »Graham viewed emotion as an injection of primary processes into a formalized use of space.«93 Erst durch den choreographischen Zusammenhang kann der Zuschauer »emotional inflections«94 in der Bewegung subsumieren. Erst in den vierziger Jahren wird die Bewegung selbst in der beschriebenen Weise mit Gefühlen in Verbindung gebracht. Diese Unterscheidung bleibt für den Gang unserer Argumentation jedoch unerheblich. Denn in beiden Fällen ist das Ziel das Herstellen einer unvermittelten körperlichen Präsenz durch Bewegung, die Primärprozesse wiedereröffnen kann, um das amerikanische Subjekt am Geist der Nation teilhaben zu lassen.95 Wie Mary Wigman bildet Martha Grahams Körper keine Metaphern aus. Er verschmilzt mit der Sache selbst, indem er durch die Bewegung als Gestaltungsmoment zu jenen verdrängten Erfahrungen vordringt, an denen er immer schon Teil hat, weil sie archetypisch sind. Erst in der choreographischen Formung bei Wigman und der Systematik einer Technik bei Graham wird die Bewegung des Körpers zum Symbol für die Sache, einem Symbol mithin, das für die Abwesenheit des Gefühls einsteht. Auch in ihrer Bewegungstechnik kennt Graham kein Anderes, das sich als wirkliches Loslassen und Entspannen der permanenten Anspannung entgegensetzen könnte. Das binäre Oppositionspaar contraction and release erzeugt zerborstene Körperbilder, die von Seelenqualen und anderen machtvollen Gefühlen erzählen. Dennoch bleiben sowohl das Zusammenziehen und Loslassen der Atemenergie im Torso monolithisch dem Prinzip

92 | Huschka, Cunningham, op. cit., S. 130. 93 | Franko, op. cit., S. 62. 94 | Loc. cit. 95 | Franko formuliert: »Unmitigated Presence was formulated as a theatrical goal of modern dance, suggested both by idealized […] and socially determined […] images of America«; op. cit., S. 55.

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der Anspannung unterworfen. »The word ›relaxation‹ is not used«, schreibt sie, »because it has come to mean a devitalized body.«96 Im Gegensatz zu Doris Humphreys Bewegungsästhetik, in der der Tod und der leblose Körper als Rahmung fungieren, über dessen anthropologischem Abgrund sich die Bewegung, bedroht von der permanenten Abwesenheit, im dynamischen Raum aufspannt, schaltet Martha Graham das radikal Andere in ihrer Theorie aus. So wird ihr Tänzerkörper zwar durch langjähriges Training modelliert und auf der Bühne durch Perücke und Kostüm in einen anderen verwandelt, jedoch bleibt er ohne Anerkennung der Differenz ein spekuläres Ich, das sich des Anderen aggressiv zu bemächtigen sucht. Marcia B. Siegal beschreibt Grahams theatralischen Stil, dem die Behandlung von antiken mythischen Stoffen in ihrer klassischen Phase ab Mitte der 1940er Jahre kongenial war, als declamatory more often than it was conversational or symphonic. In a Graham piece people make statements; people dance in small groups together; rarely people engage in dialogue, but more frequently they move and answer one another in formal, choral patterns. Graham was always in a sense choreographing for herself – solos, multiples of one, or inextricable combinations of bodies where two dancers make one image.97

Grahams Tänzer deklamieren, ihre Bewegungstechnik wird zur Rhetorik des Ausdrucks, die Universelles, stets bereits Anwesendes bergen soll.

3 3.1

Metonymien des Todes »The Arc Between two Deaths«: Doris Humphrey

In ihrem 1958 kurz vor ihrem Tod fertiggestellten Buch The Art of Making Dances macht Doris Humphrey den einfachen rhythmischen Schritt, der im Körper durch einen Gewichtswechsel ausgelöst wird, zur Keimzelle ihres Tanzverständnisses. »In the human animal, the walk is the key pattern of fall and recovery, my theory of motion – that is, the giving in to and rebound from gravity«.98 Bei der Entwicklung ihrer Tanztechnik kehrt Humphrey zu den als natürlich angesehenen Prinzipien von Schwerkraft und Schwungkraft zurück. Dabei stellt sie Folgendes fest: »The very first thing I discovered was that the body’s natural, instantaneous movement – its very

96 | Graham, »Primer«, op. cit, S. 51. 97 | Siegal, op. cit., S. 191. 98 | Doris Humphrey, The Art of Making Dances, Princeton: Dance Horizons Books, 1959, S. 106.

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140 | Abwesenheit first movement, is a falling movement.«99 Im Absinken des Körpers, dem Nachgeben gegenüber der Schwerkraft, liegt für sie eine primäre Lust des Menschen an der Bewegung begründet. Entspannen sich die Glieder, strömt die Energie in den Raum. Im Auffangen des Körperschwungs, also in der Anspannung der Muskeln, gewinnt der Körper erneut die Kontrolle über jene Kräfte, die ihm zuvor einen lustvollen Kontrollverlust beschert hatten. »When collapse is imminent, a self-protective mechanism goes into action […] and a counter movement takes place in which the body springs back as if with renewed life.«100 Für Humphrey liegt in diesem permanenten Wechsel zwischen fall and rebound oder fall and recovery, das »Drama des Lebens« begründet.101 »At either end of the movement there is death – the static death or constant equilibrium or the dynamic death in too extreme movement away from equilibrium.«102 Humphrey verbindet den statischen und den dynamischen Tod in ihren Notizen mit dem Begriffspaar des Dionysischen und des Apollinischen, das Nietzsche in Die Geburt der Tragödie entwickelte. Dabei wird das Dionysische mit dem Prinzip des lustvollen Fallens gleichgesetzt, während das Apollinische mit dem Streben nach Ausgleich und Balance identifiziert wird.103 So führt jede Art der Bewegung, jeder Schritt in seiner Dualität von ›fall and recovery‹, über das Lustprinzip hinaus in ein, um Freuds Essay zu zitieren, »Jenseits des Lustprinzips«, in dem der Körper als bewegte und bewegende Materie zur unbewegten Natur zurückkehren will.104 Denn sowohl im Kontrollverlust beim Sturz als auch beim Auffangen des Gleichgewichts lauert der Tod. Entweder stürzt der Körper zu Tode und bleibt regungslos liegen, oder aber er kommt im Gleichgewicht endgültig zum Stillstand. »There are two still points in the physical life: the motionless body, in which the thousand adjustments for keeping it erect are invisible, and the horizontal, the last stillness. Life and dance exist between these two points and therefore form the arc between two deaths«.105 Humphreys Tanz, der den Prinzipien des Lebens folgen soll, folgt damit einem Werden zum Tode zurück zur unbelebten Materie und zur ›letzten Ruhe‹. Die Abwesenheit der Bewegung und damit des Lebens und des Tanzes bildet in ihrer Tanzkonzeption nicht nur den negativen Horizont für die Aktivität der Bewegung. Vielmehr nimmt die Abwesenheit mit und durch jede 99 | Ernestine Stodell, The Dance Technique of Doris Humphrey and its Creative Potential, Princeton: Dance Horizons Books, 21990, S. 19. 100 | Ibid., S. 20. 101 | Huschka, Cunningham, op. cit., S. 116-125. 102 | Stodell, op. cit., S. 14. 103 | Ibid., S. 15. 104 | Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, op. cit. 105 | Humphrey, Art, op. cit., S. 106.

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Bewegung hindurch Gestalt an als Drama und Widerstreit der Bewegung selbst. Der Bogen zwischen den zwei Toden ist Leben und Tanz gleichermaßen, womit Humphreys bewegungsästhetischen Grundprinzipien ›fall and recovery‹ der Status einer tanzästhetischen Repräsentation der Freudschen Todes- und Lebenstriebe zukommt. Jede Bewegung wiederholt die Abwesenheit und kann nur diese wiederholen, weil sie sich wie die Holzspule von Freuds kleinem Enkel über den Graben einer ursprünglichen Trennung und antagonistischer Spaltung erhebt, um diese durch Wiederholung lustvoll zu machen und zu erinnern. Das in der Ästhetik von Doris Humphrey inhärente Verständnis von Abwesenheit ist weder individualpsychologisch gedacht, noch steht es mit einem kollektiven Unbewussten in Beziehung. Es umfasst vielmehr den gesamten Raum des Tänzers, den er durch die Bewegung und damit durch eine grundlegende Teilung kreiert und mit dem er im permanenten Dialog steht. Der Bogen zwischen zwei Toden erzeugt den tänzerischen Raum, dem Humphrey wie einer eigenständigen Person psychologische Valeurs zuschreibt. Humphrey unterteilt den Raum in sieben starke und sechs schwache Punkte, je nach Anzahl der stereometrischen Raumlinien, die sich an einem Punkt kreuzen. So kann die Position des Tänzers im Raum dessen starke und geschützte wie dessen schwache und verwundbare Situation im Drama des Lebens bestimmen. Doch ist es nicht das Individuum, das die Kräfte des Lebens am besten tänzerisch zu artikulieren vermag. 1931 sagte sie in einem Interview: »The solo dancer is too much herself. Her dancing is too much limited by size, by shape, by the color of hair and eyes. It is too characteristic and too limited to be the great dance of tomorrow. In the ensemble the audience receives only the true impressions of movement, design, accent«.106 Das Andere, das die Tänzerin ausdrücken soll, vermag nur durch den Bezug zu anderen Tänzern und dem Raum zur Geltung kommen. Erst die komplette choreographische Form macht das Drama des Lebens plastisch. Damit lehnt sie den exotischen Personenkult der ersten Generation von ›freien‹ Solotänzerinnen ab, den sie als Mitglied von Denishawn kennen gelernt hatte. Ebenso fern liegt ihr damit die Verkörperung des Anderen, wie es auf ihre je eigene Weise für Mary Wigman und Martha Graham in ihrer mittleren und späten Phase charakteristisch werden sollte. Weder die rauschhafte Verschmelzung mit der getanzten Figur der Hexe wie bei Wigman, noch die theatralische Verwandlung durch Bewegung und Kostüm wie bei Graham, vermögen die Abwesenheit in emphatischen Momenten mit Figuren oder tiefenpsycholisch-archetypischen Zuständen anzufüllen und damit präsent zu machen. Abwesenheit wird bei Humphrey nicht gefüllt, sondern im choreograpischen Wechselspiel innerhalb des Ensem106 | Zitiert nach Siegal, op. cit., S. 80.

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142 | Abwesenheit bles mit jeder Bewegung aufs Neue erzeugt. Abwesenheit ist ein Spannungsfeld, das den Tänzer bewegt. Liegt die Referenz der Bewegung in Isadora Duncans und Loïe Fullers Tanzkonzeption in der Bewegung selbst, geht sie bei Mary Wigman und Martha Graham auf den Körper über, der sich selbst als Anderer ausdrückt und sich damit selbst überhöht. Sowohl Wigman als auch Graham streben in ihrem Tanz die Verwandlung ihrer Körper in einen anderen Körper an, der immer schon der ihre ist. Auf der Ebene der Körpertechnik und des Bildes, das sie produziert, halten beide an einem Modell der Identität fest, das das Körperzeichen, das sie produzieren, mit der Präsenz des Dinges, auf das sie verweisen, verschmilzt. Bei Doris Humphrey wird der Bezugspunkt des Tanzes nach außen an den Raum abgegeben, der choreographisch gestaltet plötzlich affektiv wird. Statt metaphorischer Ersetzung und symbolischer Teilhabe wird der Körper des Tänzers bei Humphrey schließlich zur metonymischen Kontiguität, der Raum und Bewegung aufeinander bezieht. Was uns von der Bühne herunter anblickt, ist die Abwesenheit, der die Tänzer einen Raum geben.

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Räume schaffen, in denen das Denken sich ereignen kann

Abwesenheit konfiguriert sich in dem von mir umrissenen Teil der Tanzmoderne auf drei verschiedene Arten: als metaphorische Ersetzung des Körpers durch die Natur bei Loïe Fuller und Isadora Duncan, als symbolische Teilhabe des Körpers am Leben bei Mary Wigman und Martha Graham und als metonymischer Verweis des Körpers auf die Endlichkeit der Existenz bei Doris Humphrey. Die fünf Tänzerinnen der Moderne versuchen über die Abwesenheit ein neues Verhältnis von Körper und seinem Ausdruck zu etablieren. Indem sie den etablierten Ballettcode und dessen Ordnung des Sichtbaren ablehnen, positionieren sie ihren Körper im Verhältnis zur gesellschaftlichen Ordnung anders. Sie suchen nach einer eigenen Sprache des Tanzes, so der Titel des Buches von Mary Wigman, die ihrer Subjektivität andere, veränderte Orte eröffnet und ihr erlaubt, sich zu positionieren, ohne, wie Mark Franko meint, ›sich‹ zu sagen. Die Wege dorthin, das hat der Durchgang durch die tanztheoretischen Äußerungen der Tänzerinnen gezeigt, führen stets über ein Anderes – die Natur, das Leben, den Tod –, mit dem sich der tanzende Körper auf unterschiedliche Weisen in Beziehung setzt. Der Körper der Tänzerin setzt sich metaphorisch, symbolisch oder metonymisch mit der radikalen Unverfügbarkeit jenes Anderen, der dennoch den idealen Horizont ihres Tanzens bildet, auseinander und versucht, dessen Abwesenheit zu reformulieren oder ihn sogar in eine Präsenz zu verwandeln.

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Im Folgenden gilt es nun zu zeigen, welche Funktion diese paradoxe Ausrichtung auf die Abwesenheit des Anderen haben kann. Dazu bietet es sich an, noch einmal zurückzugehen zu jenem grundlegenden Modell von Affekt, Empfindung und Bewegung, um dort die Übergänge exemplarisch zu überprüfen. »Wenn der Baum sich biegt und wieder ins Gleichgewicht zurückschnellt, hat er einen Ein- oder Abdruck vom Wind oder vom Sturm empfangen«, beschreibt Loïe Fuller den Vorgang, der zunächst in der Seele einen »Ein- oder Abdruck« hinterlässt.107 Damit macht sie ähnlich wie Mary Wigman, die im Tanz ein Urbild empfängt, die Seele und mit ihr den Körper, der ja seinerseits von der Empfindung berührt und bewegt wird, zu einem der platonischen Wachstafel vergleichbaren Aufzeichnungsinstrument. Im dreiunddreißigsten Kapitel des Theätet vermutet Sokrates, dass es in unserer Seele einen Wachsblock gibt, den wir unter unsere Sinneseindrücke und Gedanken halten, damit diese sich wie ein Siegelring ins Wachs einprägen, um erinnert werden zu können (Kapitel 33, 191 C-D).108 Im Phaidon nimmt Sokrates an, dass es nicht nur Sinneseindrücke gibt, sondern auch Vorbilder, die wir nie gesehen haben und die unseren Seelen schon vor unserer Geburt angehören (Kapitel 19-22, 75 B-D).109 Unser Wissen entsteht dadurch, dass wir die in unserer Seele latenten Abdrücke der Ideen der Dinge mit ihren Spiegelungen, den tatsächlichen Sinneseindrükken, vergleichen. Die Abbilder dienen zum Wiedererkennen der Vorbilder, in deren Erkenntnis die Wahrheit liegt. Folgen wir Fullers Gedankengang: »Um eine Idee zum Ausdruck zu bringen, strebe ich durch meine Bewegungen an, sie im Geiste des Betrachters neu entstehen zu lassen, seine Vorstellungskraft zu wecken, damit sie bereit sei, das Bild zu empfangen.«110 Die Bewegung schafft das Bild, das sie gleichzeitig erinnert, weil sie es als Resultat des Affekts, den der Eindruck bei ihr ausgelöst hat, wiederholt. Doch diese Wiederholung ist keine Imitation. Die Bewegung ist keine Repräsentation des Affekts in der getanzten Empfindung. Sie ist Andeutung wie bei Isadora Duncan, Symbol wie bei Mary Wigman oder Verräumlichung zum Tode wie bei Doris Humphrey. Was in allen Fällen zu beobachten war, ist eine Ablösung vom Affekt, der seinerseits zur Bewegung wird, eine Ablösung, die die Bewegung originär macht, sie aus sich heraus generiert und ihre Elemente miteinander verkettet, ohne deren imaginären Bezug zum Anderen jedoch aufzugeben. Darin liegt die Modernität der verschiedenen Tanzästhetiken begründet. Sie erhe107 | Fuller, op. cit., S. 170. 108 | Platon, Theätet, Sämtliche Dialoge Band IV, übers. von Otto Apelt, Hamburg: Felix Meiner, 1998, S. 111-112. 109 | Platon, Phaidon, Sämtliche Dialoge Band II, übers. von Otto Apelt, Hamburg: Felix Meiner, 1998, S. 56-63, hier: S. 60. 110 | Ibid., S. 171.

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144 | Abwesenheit ben die Durchgestaltung der Bewegung als Bewegung zum unhintergehbaren Mittel des Tanzes.111 Stéphane Mallarmé formuliert das Ideal der reine Geste oder Bewegung als Metapher für seine Poesiekonzeption im kurzen Text Mimique, der seinen Betrachtungen zum Tanz eingeschoben ist: Die Szene illustriert nur die Idee, keine effektive Handlung, in einem sündigen, doch heiligen Hymen (aus dem der Traum hervorgeht) zwischen Wunsch und Erfüllung, Verüben und Sicherinnern: hier vorwegnehmend, dort gedenkend, im Futur, in der Vergangenheit, unter einem falschen Anschein von Gegenwart. So verfährt der Mime, dessen Spiel sich mit einer unablässigen Anspielung begnügt, ohne den Spiegel zu zerbrechen: er erstellt, derart, ein Milieu, ein reines, von Fiktion.112

Die Geste des Mimen imitiert nicht, sie deutet lediglich an und zwar in einer Weise, die das, was sie setzt, zugleich auch wieder auslöscht. Hierfür steht im Text der Hymen, der wiederum auf die Tänzerin als Frau verweist. Im Moment seiner Markierung oder Beschriftung, seiner Penetration, wird er zerstört. Für Jacques Derrida wird die Geste des Mimen in seiner Lektüre von Mallarmés Text, La double séance, daher zur Metapher für seine Konzeption der Spur, die, körperlos, stets abwesend-anwesend ist.113 Was sich in Mallarmés Text ereignet, ist das Zwischen, das Nichts ist, nur reine Gegenwart, die jedoch lediglich eine Täuschung ist. Auch Mallarmés Mime imitiert, wie die Tänzerin, nicht. In der Pantomime Pierrot als Mörder seiner Frau, auf die er sich bezieht, verwickelt sich der Mime Paul Margueritte in ein »stummes Selbstgespräch«, bei dem er »Mienenspiel sowohl als auch Gesten« erzeugt. Sein stummes Agieren hält »vor seine Seele das weiße Phantom […] wie eine noch ungeschriebene Seite.«114 Die Gesten erzeugen das Gesicht, das zudem noch unbeschrieben und weiß ist. Gerade weil es unmarkiert ist, vermag es allerdings auch nur ›nichts‹ an die Gesten zurückspielen. Und doch kreieren die Bewegungen mit dem Körper etwas, die Vorstellungen eines Gesichts nämlich, das es 111 | Es ist diese Forderung, die sich mit Susan Manning auch als gängige Definition der Moderne im Tanz jenseits der vermeintlichen Spaltung von Ballett und modernem Tanz durchgesetzt hat: »Responding in part to this larger change, choreographers around the turn of the century began to conceive of dance, not as the realization of picture and story, but as self-reflexive configurations of movement«; Susan Manning, »Modernist Dogma and Post-modern Rhetoric«, in: The Drama Review 32 (April 1988), S. 32-39, hier: S. 35. 112 | Stéphane Mallarmé, »Mimique/Die Mimik«, in: Mallarmé, op. cit., S. 186-187. 113 | Vgl. Abschnitt II.2 dieser Arbeit. 114 | Loc. cit.

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vorher noch nicht gab. Sie sind demzufolge nicht ›Nichts‹, wie es Derrida formuliert, sondern eine körperliche Praxis, die mit der Erinnerung an das Gesicht, das es noch gar nicht gibt, dieses als Abwesendes zu evozieren versucht.115 Statt die Spur also, wie es Derrida tut, körperlos zu machen, gilt es in bezug auf den Tanz gerade, sie als körperliche zu evozieren in ihrer Ambivalenz von Absenz und der von Mallarmé hervorgehobenen falschen Präsenz. Sie als körperliche zu evozieren heißt jedoch nicht zwangsläufig, sie zu verkörpern. Eine landläufige Vorstellung von Verkörperung würde, wie gezeigt, in diesem Zusammenhang gerade die Abwesenheit unterschlagen, die im Inneren der modernen Tanzästhetiken am Werk ist. Die Konzeption einer originären Bewegung, die das Gesicht ›zum Bild bringt‹, indem sie erinnert, was nie gegeben war, rückt die Bewegung, wie sie Loïe Fuller gedacht hat, in die Nähe des platonischen eidos: jenes dem individuellen Menschen vorgängigen Urbild in der Seele, das der Idee noch am nächsten steht, ja sie in einer Präsentation, die kein Vorbild hat, intelligibel macht. Die Bewegung formt das eidos körperlich. Mark Franko bezeichnet dieses ›Werden‹ als ursprüngliche Mimesis des Spiels, die wie der Mime nicht imitiert, sondern gleichursprünglich mit der Erinnerung, mneme, sei, als körperliche Praxis des Tanzes: »Conversely, primary mimesis does not imply reproduction of the self-same; it is the taking of bodily form by bodies, the material occasion for the presentation and transmisson of behaviour.«116 Was hier also auf dem Spiel steht, ist das Einstehen der Bewegungsspur für das Abwesende, an dessen Stelle sich der Körper setzt. Daher kann Franko sagen: »Dance performs still nonexistent social spaces constructed from the memory of what is not, and never was, ›under a false appearance of presence‹.«117 Dieses Einstehen ist produktiv: Es erzeugt imaginäre Körper und Körperbilder, deren Faszination – daran lässt Mallarmé keinen Zweifel – auf den Zuschauer wirkt. Es erzeugt Beziehungen zwischen Körpern, präsentiert Verhaltensweisen und artikuliert spezifische Umgangsformen mitein115 | Kritik an der Stichhaltigkeit von Derridas Mallarmé-Lektüre in Bezug auf eine Theaterästhetik wurde sowohl von Helga Finter als auch von Mark Franko geäußert. Finter sieht Derridas Text als Beispiel für dessen philosophisches Projekt einer Dekonstruktion der Metaphysik, die an den theatralischen Gegebenheiten wie dem Körper kein Interesse haben kann; vgl. Finter, Der subjektive Raum Band 1, op. cit., S. 80-81 Fn. Ähnlich argumentiert Mark Franko, der der Entkörperlichung in Derridas Argumentation im bezug auf den Tanz vehement entgegentritt; Mark Franko, »Mimique«, in: Ellen W. Goellner/Jacqueline Shea Murphy (Hg.), Bodies of the Text. Dance as Theory, Literature as Dance, New Brunswick: Rutgers University Press, 1995, S. 205-216. Beiden verdankt meine Argumentation wesentliche Impulse. 116 | Franko, »Mimique«, op. cit., S. 209. 117 | Ibid., S. 212.

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146 | Abwesenheit ander und stellt sie als symbolische in Beziehung zur gesellschaftlichen Ordnung. Statt von einem Verschwinden und Auslöschen des Körpers etwa in den Stoffbahnen Loïe Fullers oder in den antiken Posen Isadora Duncans auszugehen, muss man von einer Vervielfältigung der Körper im Tanz sprechen, einer Vervielfältigung, die den realen, tanzenden Körper als motorischen Sitz der Bewegung zugleich in eine imaginäre und eine symbolische Relation bringt. Das, was im Tanz dargestellt werden soll, bleibt der Darstellung unverfügbar, weil es ›es‹ noch gar nicht gibt. Erinnerung und Vorstellungskraft – Mallarmés Verüben und Sicherinnern, Futur und Vergangenheit – fallen an diesem Punkt in eins. Der moderne Tanz will nicht repräsentieren, sondern mit der Bewegung Unzugängliches präsentieren. Dabei kreist die Bewegung um die Abwesenheit, die im Spalt zwischen der subjektiven Erfahrung der Tänzerin und der theatral vermittelten Erfahrung entsteht. Abwesenheit ist der Motor des Tanzes, der hervorbringt, artikuliert. Abwesenheit darf also nicht als Oppositionsbegriff zur Präsenz verstanden werden. Sie produziert Körper imaginärer und symbolischer Art, die zwischen Präsenz und Absenz oszillieren. Tanz erzeugt mit dem Körper Orte. Daran zweifelt auch Mallarmé nicht: Dieser Übergang nun vom Klingenden zum Gewebten (gibt es einem Gaze-Flor besser Ähnelndes als die Musik!) ist einzig der Zauber, den die Loïe Fuller bewirkt, indem sie instinktiv, mit Übertreibung, dem Einraffen des Rocks oder Flügels, einen Ort errichtet. Sie zaubert die Umgebung herbei, zieht sie aus sich hervor und staut sie in sich zurück, mit einem Knisterschweigen von Chinakrepp.118

Die vorher nicht existenten Orte, die die Tänzerin mit ihrem bewegten und bewegenden Kostüm aushebt, können als abwesende, weil nicht existente, u-topische Orte, in der Aufführung erinnert werden, weil sie als performance und qua ihrer Performativität prinzipiell wiederholbar sind und ins kulturelle Gedächtnis eingehen. Der Tanz hebt Orte aus, die wieder und wieder von Körpern besetzt werden können, sind sie erst einmal geschaffen worden. Auch für den Philosophen Alain Badiou ist daher die »Notwendigkeit von Raum« das erste und oberste der sechs Axiome, mit denen er den Tanz als Denkbewegung charakterisiert.119 Badiou benutzt den Tanz, wie vor ihm schon Mallarmé und Derrida, als Metapher für die Möglichkeitsbedingungen des Denkens. Obwohl er (ganz im Gegensatz zu Mallarmés Auseinandersetzung mit der Fuller) von keiner konkreten Tanzanschauung 118 | Mallarmé, »Crayonné au théâtre«, op. cit., S. 183. 119 | Alain Badiou, Kleines Handbuch der In-Ästhetik, übers. von Karin Schreiner, Wien: Turin & Kant, 2001, S. 86.

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oder gar Tanzerfahrung ausgeht, kann man sein Nachdenken, das nicht auf den Tanz zielt, sondern auf die Philosophie, doch in umgekehrter Richtung für den Tanz fruchtbar machen. Nach Badiou hat der Tanz den Raum in sein Wesen integriert, er ist, um überhaupt zu sein, an den Raum gebunden. Für Badiou liegt hierin ein weiterer Aspekt der Abwesenheit, den er in seinen Betrachtungen explizit am Tanz entwickelt. Für Badiou ist der tanzende Körper doppelt. Er ist sichtbar in seiner Bewegung und unsichtbar in den Bewegungen, die er nicht tanzt, die ihn aber als Sichtbaren zeichnen. Dieser negative Raum bringt den bewegenden Körper hervor. Er verändert sich mit ihm und stützt ihn. Er wird mitgetanzt als Potentialität, die sich in der Bewegung nicht zeigen kann, die die realisierte Bewegung aber ermöglicht und zugleich wieder in Frage stellt. Potentialität definiert sich gerade dadurch, dass sie nicht oder nur verstellt zur Erscheinung kommen kann, will sie ihren utopischen Charakter nicht verlieren. In diesem Sinne ist der Raum, wie Alain Badiou es formuliert, eine »intrinsische Notwendigkeit« des Tanzes. »Beim Theater ist der Raum keine intrinsische Notwendigkeit. Der Tanz hingegen integriert den Raum in sein Wesen. Und zwar als einzige Denkform, so daß man behaupten könnte, der Tanz symbolisiere den Raum, den das Denken ausfüllt.«120 Ereignisbezogen in seinem eruptiven Werden und Vergehen, ist der Tanz an den Raum gebunden, den er als Denken ausfüllt und den er dem Denken eröffnet. Doch damit ist keine einfache Präsenz oder Sichtbarkeit gemeint. Denn in Anlehnung an Nietzsches Nachdenken über den Tanz in Also sprach Zarathustra liegt für Badiou das Wesen des Tanzes gerade in der Zurückhaltung des körperlichen Impulses. »So dass der Tanz den Körperimpuls bezeichnet, der aber prinzipiell weniger in den ihn umgebenden Raum projektiert werden soll, als vielmehr von einer affirmativen Anziehungskraft angezogen werden soll, die ihn zurückhält.«121 In der »Kraft der Zurückhaltung«, in dem, »was nicht stattgefunden hat«, eröffnet sich dem Tanz die Möglichkeit, verfeinertes körperliches Denken zu sein. In diesem Moment, wenn die Bewegung sich gegen sich selbst richtet, kommt das Abwesende als Möglichkeit des Denkens zum Tragen. Für Badiou ist dieses Denken ein »Denken, bevor ihm ein Name gegeben wird«,122 mithin die Möglichkeitsbedingung von Denken, die schon Daniel Sibony in seiner Formulierung vom Tanz als der Kindheit der Kunst anklingen ließ. Wie Derrida bezieht sich auch Badiou dabei auf Mallarmés Notizen über den Tanz, um aus ihnen die Vorstellung vom Tanz als einer grundlegenden, primären Denkbewegung herauszukristallisieren. Für Badiou artikuliert der Tanz das Prinzip des Begehrens, nicht jedoch das individuelle 120 | Ibid., S. 87. 121 | Ibid., S. 82. 122 | Ibid., S. 84.

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148 | Abwesenheit Begehren des Zuschauers. Dieses bleibt dem Theater vorbehalten. Deshalb gibt es im Tanz ebensowenig Geschlechtsunterschiede wie Rollenfiguren oder Personen. Im Tanz gibt es nur Idealität. Die Zuschauer sind »absolut«, die Tänzer in diesem Sinne bloße »nackte« Körper. Der Körper des Tänzers »stellt nichts dar«, wie es Badiou formuliert.123 Der Tänzer ist »unpersönliches Subjekt«, dessen Körper im Tanzen ausdrückt, »dass er inaugural ist«.124 Mit jedem tanzenden Körper schafft sich der Raum neu, wird dem Denken ein neuer Raum eröffnet. Der tanzende Körper kann dies tun, weil er das Wissen, das er in Form von Technik und Training angehäuft hat, im Akt des Tanzens vergessen muss. Er tanzt jedes Mal, als wäre es das erste Mal und entzieht sich damit seiner selbst als Selbst, das um sich weiß. Er ermöglicht ein körperliches Denken im Zustand der Nativität, der Visitation, oder, um noch einmal auf Hubermans Analyse der Verkündigung von Fra Angelico zurückzukommen, der Fleischwerdung, einer Gestalt also, die noch nicht ist. Da der Tanz eine flüchtige Kunstform ist, »ist er am stärksten mit der Ewigkeit belastet.«125 Er bewahrt nicht die Dauer, sondern die Vergänglichkeit einer Begegnung, die er immer wieder aufs Neue zeigt. Für Badiou ist der Tanz deshalb strenggenommen keine Kunst. Er ist Zeichen für die Möglichkeitsbedingung von Kunst, »wie sie im Körper eingeschrieben ist«.126 Er ist Ermöglichungsgrund jeder Kunst und jedes Denkens, das im Körper seinen Ausgang nimmt. Der Tanz kann deshalb als figurative metaphorische Darstellung des Denkens verstanden werden, das sich immer wieder selbst denkt. Das Denken ist wie der Tanz immer auf dem Wege, ohne jemals zu sein. Mit dieser »Entstehung zur Präsenz«, wobei Präsenz hier der Abwesenheit einen Raum aushebt, überschreitet es im Sinne Jean-Luc Nancys die Repräsentation von Subjekten, die auf dem Abwesenden als dem aus der Repräsentation Ausgeschlossenem basiert. Präsenz und Abwesenheit durchdringen sich in Nancys Entwurf dagegen gleichzeitig und erzeugen einen Aufschub von Sinn zugunsten einer Wahrnehmung der unendlichen Differenzen. Nancy redet in seinem kurzen Text nicht vom Tanz. Doch weist seine Begrifflichkeit eine starke Affinität zu jener Begrifflichkeit auf, die Badiou im Zusammenhang mit dem Tanz herausgebildet hat. Überhaupt ist es kennzeichnend für den französischen Diskurs über den Tanz, ihn von Mallarmés Definition ausgehend über Derridas Lektüre als Metapher für das Denken zu konzeptionalisieren. Damit ist auf der einen Seite gewonnen, dass der Tanz aufgrund seiner Flüchtigkeit nicht mehr länger als sprach123 | Ibid., S. 87. 124 | Ibid., S. 88. 125 | Ibid., S. 92. 126 | Ibid., S. 94.

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und kritiklose Praxis aufgefasst wird. Er wird vielmehr gerade wegen seiner Flüchtigkeit, wie Franko argumentiert, zur Grundlage für alle anderen Kunstformen, sein Körper-Denken zur »primären Mimesis« von Verhaltensweisen. Das Nicht-Begriffliche fungiert wie Adornos Nicht-Identisches nicht als Defizit, sondern als die große Chance des Tanzes. Auf der anderen Seite bleibt dieses Denken bei aller Kritik an der Idealität der körperlosen Repräsentation einer anderen entmaterialisierten Idealität verhaftet. Der cartesianischen ratio verpflichtet, wird der Körper im Tanz zwar in den Stand eines denkenden Körpers erhoben. Doch dabei wird das Denken betont und der Körper vergessen. In Badious Forderungen nach dem reinen Blick des Zuschauers und den absoluten geschlechtslosen Körpern der Tänzer wird von philosophischer Seite weiterhin jenes SinnlichReale geleugnet, das in jeder konkreten Aufführungssituation zum Tragen kommt. Der tanzende Körper ist nie nur Spur, die das Denken ermöglicht, ohne selbst zu sein. Schon Mallarmé war sich, wie gezeigt wurde, durchaus bewusst, dass es eine Frau ist, die tanzt, und nicht ausschließlich ein Emblem. Mary Wigman und Martha Graham konnten sich in einem Größeren, Abstrakten verlieren, es war dennoch ihr weiblicher Körper, der sich mit Nachdruck als dessen Referenz stilisierte. Auch Nijinsky konnte bei aller Idealität des Rosengeistes nicht leugnen, dass es ein Mann ist, der tanzt. Ein Mann, der eben nicht nur tanzt, sondern auch eine Figur, den Rosengeist eben, tanzt. Wohin mit den Heerscharen von Giselles und Albrechts, Siegfrieds und Odettes, die die Tanzgeschichte bevölkern, die zwar vor dem Hintergrund des idealen Gesetzes des Tanzes geschlechts- und körperlos sein mögen, aber dennoch geschlechtsspezifisch codierte Schrittfolgen tanzen? Was ist mit all den Männern und Frauen im Tanztheater Pina Bauschs oder Johann Kresniks, die im Krieg der Geschlechter konkrete, auch individuelle, gesellschaftlich geprägte Muster zum Vorschein bringen? Dagegen könnte man mit Badiou einwenden, dass es sich in all den genannten Tanzformen nicht mehr um den reinen Tanz, sondern eben um Tanz in der Nähe zum Theater als dem »positive[n] Gegenteil vom Tanz«127 handelt, das Rollenvorgaben und Handlung, mithin positive Setzungen, nötig mache. Vor der Tanzgeschichte aber hat es den ›reinen‹ Tanz ebenso wenig je gegeben wie das ›reine‹ Denken in der Geschichte der Philosophie. Denn allein die Tatsache, dass auch in abstrakten Balletten eines Georges Balanchine oder eines Merce Cunningham Männer und Frauen auftreten, ruft bei den Zuschauern gesellschaftlich und kulturell geprägte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit auf, die neben dem körperlichen Ideal immer auch Bilder, mithin Repräsentation von Männern und Frauen sind.128 Vom unterschied127 | Ibid., S. 93. 128 | Zur Kategorie des gender im Tanz vgl. Janine Schulze, Dancing Bodies Dan-

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150 | Abwesenheit lichen erotischen Begehren, das die tanzenden Körper als materielle Signifikanten auf sich ziehen, ganz zu schweigen. Die Faszination für den Tanz geht nicht nur von der Sphäre einer der cartesianischen Zwei-Welten-Theorie verpflichteten Idealität des Geistes aus, die er zugänglich macht. Sie geht auch aus von den konkreten Körpern und dem Begehren, das sie in Gang setzen, mithin von Subjekten, die ihre eigenen Grenzen aufs Spiel setzen. In der konkreten Aufführungssituation kommt man um Repräsentationen, die in den Tanzstücken explizit zum Thema werden oder auch verdeckt werden können, nicht herum, will man sich nicht, wie Badiou, in einer rein vergeistigen Sphäre des ewigen Werdens verlieren, die konkrete Unterschiede nur zudeckt, weil man ohnehin über sie nichts Konkretes sagen kann. Das Denken, mit dem der Tanz gleichgesetzt wird, kann sich nur an etwas entzünden. Der Unterschied zwischen dem Körper des Tänzers und dem des Zuschauers, der eben als solcher nicht die gleichen Erfahrungen macht, wird die Reinheit des Tanzes stets verunreinigen. Die Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum ist asymmetrisch und nicht linear. Hier liegt der Unterschied zur anglo-amerikanischen Tanzforschung, die sich verstärkt um die Repräsentation von Geschlechtern oder Ethnien auf der Bühne kümmert, mit der ebenso großen Gefahr, ähnlich reduktiv zu verfahren, in dem der alleinige Wert einer Aufführung auf die Gültigkeit des Dargestellten reduziert wird.129 Um der Komplexität des Tanzes jedoch gerecht zu werden, muss man das Werden der Bewegung, das Abwesenheit und Präsenz verwebt, das präsentiert und nicht repräsentiert, innerhalb der theatralen Repräsentation ansiedeln, damit das, was wird, auch einen Ort hat. Es ereignet sich mit und zwischen Körpern, die immer schon zumindest einen kulturell besetzten männlichen oder einen weiblichen Körper darstellen. Der Tanz hebt Orte aus, die, wie Mark Franko argumentiert, nicht wie die Derridasche Spur verschwinden, sondern performativ körperlich wiederholt werden können. Alle hier behandelten Tänzerinnen haben dem Tanz sowohl neue metaphorische als auch konkrete Ort erschlossen. Vom Museum über die Konzertbühne bis hin zum Dionysostheater in Athen und der freien Natur versuchten sie den Tanz aus dem Korsett erstarrter Theaterkonventionen zu befreien. Darüber hinaus erprobten Duncan mit ihrer Schule und Wigman, Graham und Humphrey mit ihren zunächst nur Täncing Gender. Tanz im 20. Jahrhundert aus der Perspektive der Gender-Theorie, Dortmund: Edition Ebersbach, 1999; Die vorliegende Arbeit ist keine Arbeit zum Gender-Thema. Hier sollte nur auf eine grundlegende Problematik hingewiesen werden, die der Metaphorisierung des Tanzes als Denken zugrunde liegt. 129 | Paradigmatisch hat Susan Leigh Foster in Reading Dancing den tanzenden Körper als lesbaren Repräsentationszusammenhang beschrieben; Foster, op. cit.

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zerinnen offenstehenden Kompanien andere Formen des Lebens und Arbeitens, die das weibliche Subjekt als Möglichkeitsbedingung von Expressivität positionierten.130 Auf der Bühne selbst entwarfen sie Körperbilder, die mit denen des herrschenden Ballettcodes brachen. Doch die knappen Analysen der jeweiligen Tanzästhetiken haben gezeigt, dass es ein weitaus fundamentaleres Einverständnis zwischen dem Ballett und dem modernen Tanz gibt. Angefangen bei der Theorie des Ausdrucks bis hin zur Präsentation eines körperlosen Ideals, das den Körper der modernen Tänzerin ebenso funktional betrachtet wie das Ballett, greift dieses Einverständnis auf die unausgesprochenen Gesetze unserer abendländischen Kultur und ihres Körperverständnisses zurück. Als implizite, unausgesprochene bilden sie den stillschweigend akzeptierten Horizont, vor dem sich der Bühnentanz ereignen kann und darf. Im folgenden möchte ich dieses Gesetz in Hinblick auf den Tanz explizit machen und beschreiben. Wie sieht die symbolische Ordnung aus, die unser Verhältnis zum Tanz regelt und in institutionelle Bahnen lenkt? Worauf gründet sie und wie wirkt sie bis in unsere Zeit hinein?

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Der christliche Text und der Tanz: Pierre Legendre

Der französische Rechtsphilosoph und Kulturwissenschaftler Pierre Legendre untersucht die Bindung des Tanzes an das, was er »Text« oder auch »Gesetz« nennt, mithin die Verwurzelung jeder als Kunst definierten Tanzhandlung in der symbolischen Ordnung des Abendlandes. Legendres Projekt ist das einer »Archäologie des Abendlandes«, dessen Grundlagen er mit dem Begriff des Textes zu analysieren sucht. Der »Text« beinhaltet für ihn drei Dimensionen. Zum einen misst er ihm eine historische Dimension bei. Er ist ein Funktionsprinzip, das andauert, auch wenn seine sichtbarsten Manifestationen, wie etwa die gesetzgeberische Kraft der christlichen Kirchen, verschwunden sind. Die zweite Dimension des Textes ist eine rhetorische. Der Text bringt Figuren hervor, die wiederum Subjekte erzeugen, die sich über die Figuren zueinander und zum Text in Bezug setzen. Solche rhetorischen Figuren sind das Ritual, das Buch und, für unseren Argumentationsgang besonders wichtig, der Tanz. Regeln die Figuren den Bezug der Subjekte zum Gesetz, ist dem Text als drittes schließlich eine mediale Funktion eigen. Der Text reguliert über Figuren wie den Tanz und andere künstlerisch-poetische Aussagen das Begehren und die Erotik der Subjekte.131 130 | Vgl. Brandstetter, Tanz-Lektüren, op. cit.; Manning, »Mythologizing the Female«, op. cit.; Müller, Mary Wigman, op. cit. 131 | Pierre Legendre, Leçons VI. Les Enfants du texte. Étude sur la fonction parentale des Êtats, Paris: Fayard, 1992; im deutschen Kontext hat Hubert Thüring Legend-

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152 | Abwesenheit Legendre stellt die Frage, warum die Menschen in der abendländischchristlichen Kultur keine tanzenden Menschen sind. Er beantwortet sie mit der Rolle, die die christliche Morallehre in der Gesetzgebung gespielt hat. Die Religion stellt für ihn das zentrale Dogma dar. Es ist ein Zeremoniell und ein Mythos, mit dem das Verhältnis der Subjekte zu ihrem Körper und damit auch zum Tanzen geregelt wird.132 Mit dem Verbot des Tanzes in der abendländischen Geschichte ist die Vorstellung der Reinheit und Idealität des Tanzes aufs engste verknüpft, die dem französischen philosophischen Denken über den Tanz so wichtig ist. War es für Alain Badiou das Denken in statu nascendi, das der Tanz figuriert, ist es für Legendre die Seele, zu der der Tanz einem entstofflichtem Körper Zugang verschafft. Die Seele ist der Sinn, der den materiellen Körper erlöst.133 Legendres Ausführungen weisen Badious Thesen rückwirkend als gesetzestreue Überlegungen aus. Auch Badiou ist ein ›Kind des Gesetzes‹. Die Darstellung der Thesen Legendres zum Tanz, die im Anschluss erfolgt, dient hier zur Hervorhebung einiger zentraler Kategorien, die in einer gleichsam entmythifizierenden Funktion später bei William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy und Meg Stuart Untersuchungsgegenstände ihrer Arbeiten werden. Damit wenden sich diese Choreographen sowohl gegen die immer noch ungebrochene Verbindung der Tanzmoderne zum Gesetz des beseelten Körpers wie auch gegen das Gesetz selbst. Mit ihrem Verständnis vom Körper als Medium, der etwas Abwesendes, Inneres zum Ausdruck bringt, haben Loïe Fuller, Isadora Duncan, Mary Wigman, Martha Graham und Doris Humphrey die grundlegende Beziehung des tanzenden Körpers zu seinem Anderen angesprochen. Der tanzende Körper artikuliert jenes Andere, das z.B. als Natur, Urbild oder Tod erscheint. Er evoziert es, ohne es verkörpernd präsent machen zu können, durch seine körperlich-tänzerische Hingabe an das Ideal. Für Pierre Legendre spielt der Tanz daher eine zentrale Rolle im Zivilisationsprozess, der die Körper und ihre anarchische Triebenergie analog zu Freuds kultureller Leistung des Triebverzichts sublimiert und in die Ordnung des Gesetzes res Überlegungen aufgegriffen; vgl. Hubert Thüring, Geschichte des Gedächtnisses. Friedrich Nietzsche und das 19. Jahrhundert, München: Fink, 2001, S. 42-48. 132 | Cornelia Vismann (Hg.), Pierre Legendre. Historiker, Psychoanalytiker, Jurist, Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft Band 26, Syndikat: Berlin, 2001. Der Band unternimmt den Versuch, Legendres in Deutschland nahezu unbekanntes Denken in verschiedenen Aufsätzen darzustellen. Zum Religionsbegriff vgl. darin Walter Seitter, »Illusion der Religionslosigkeit. Legendres Positionierung in einer französischen Diskursformation«, op. cit., S. 64-74. 133 | Die im Zusammenhang mit dem Begriff der Verkörperung erörterte ZweiWelten-Theorie (Kapitel II.10.) steht demnach ebenso fest auf dem Boden des abendländischen Gesetzes wie der moderne Tanz.

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einschreibt. Jeder Körper, der tanzt, gehört daher, ungeachtet welcher fortschrittlichen oder traditionellen Ästhetik er sich verschrieben haben mag, immer schon der symbolischen Ordnung einer Kultur an: »que la danse se manifeste comme rapport signifiant dans un discours figuratif de la Loi.«134 Legendre weist daher die weitverbreitete Vorstellung zurück, im Tanz »befreie« sich der Körper von zivilisatorischen Zwängen,135 jenen Mythos des modernen Tanzes, der ein wesentlicher Teil der agitatorischen Rhetorik Isadora Duncans gegen das Ballett und die gesellschaftliche Rolle der Frau war und den sie mit nachhaltiger kultureller Wirkung in Szene gesetzt hat. Im Tanz artikuliert sich im Gegenteil gerade das fundamentale Verhältnis des Körpers zu jenem Gesetz, das in den westlichen Gesellschaften durch das Christentum und die katholische Kirche inauguriert wurde. Die modernen säkularisierten Industriegesellschaften leugneten zwar ihre Wurzeln im christlichen Weltbild, doch fällt auch nach der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Sphären das Religiöse wie feiner Staub auf die Institutionen einer Gesellschaft. Für Legendre ist es daher vollkommen unerheblich, ob die Gesellschaften um den Ursprung ihrer Institutionen in christlichen Vorstellungen wissen. Denn das Gesetz braucht, um zu funktionieren, keineswegs bewusst zu ein. Vielmehr appelliert es gerade an das unbewusste Begehren, das den mythischen Zusammenhalt einer Gesellschaft unter dem Auge des Gesetztes, die Liebe zur Institution, garantiert. Legendre unterstreicht mit dieser Argumentation mithin auch die Notwendigkeit von Institutionen als jenen Orten, denen man seine Liebe und sein Begehren antragen kann, weil sie garantieren, dass sie dort, auf der Bühne der Institutionen, gesagt werden können. Als Gesagte finden sie schließlich ihren Platz in der Gesellschaft, die sie zu integrieren vermag. Der Tanz findet an jenem »lieu mystifiant« statt, »dont procède l’amour dans les organisations«.136 Wie sehen diese Organisationen nach Legendre in bezug auf den Tanz nun aus? Legendre definiert Tanz zunächst als »projection théâtrale de la scène intérieure de l’homme«.137 Diese innere Szene oder Bühne wird bestimmt von einem Verbot, das den Körper als kulturellen Körper hervorbringt. Das Verbot funktioniert als eine Art Kastration, das den Triebkörper auf immer von sich trennt, indem es ihm die direkte Wunscherfüllung verweigert und ihn in Abhängigkeit von den Gesetzen der kulturellen Ordnung hervorbringt. Die Ordnung, in der sich der abendländische Tanz als Bühnentanz herausgebildet hat, ist eine christliche. Ihr zentrales Merkmal ist der Aus134 | Pierre Legendre, La passion d’être un autre. Étude pour la danse, Paris: Seuil, 2000 [1978], S. 32. 135 | Ibid., S. 25. 136 | Ibid., S. 27. 137 | Ibid., S. 7.

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154 | Abwesenheit schluss des Tanzes aus der Liturgie und den offiziellen Feiern der Gemeinschaft. Infolge dieses Tanzverbots setzt eine Reihe von Verschiebungen ein, die den Tanz schließlich als Bühnentanz sanktionieren. Der Tanz repräsentiert das Begehren des Menschen, das auf der Bühne zum Sprechen gebracht werden soll. Deshalb tanzen Tänzer, deshalb tanzen sie für uns an unserer Statt: weil sie für uns mit ihrem Körper von unserem Begehren sprechen können. Doch der Körper ist zunächst stumm und gibt sein Geheimnis nicht preis. Im Tanz, den ein anderer – ein Tänzer, dem ich Bedeutung zumesse – an meiner Stelle in effigie ausführt, wird der stumme Körper in einen sprechenden Text transformiert: »S’aliéner dans une effigie animée et créditer ses mouvements d’être une parole, c’est l’essence de la danse«.138 Doch spricht nach der christlichen Liturgie nicht der Körper, sondern ein besonderer Teil des Körpers, ohne den es keine Bedeutung gäbe: die Seele. Für Legendre ist die Spaltung von Körper und Seele fundamental für die Transformationen, denen der tanzende Körper im christlich-abendländischen Text unterliegt. Diese Dualität ist das Resultat einer weiteren, grundlegenderen binären Oppositionen, die im Folgenden als »signe fondateur de toute division« fungiert.139 Es handelt sich hierbei um den aufrechten Gang des Menschen, der ihn vom Tier unterscheidet. Weil der Mensch aufrecht geht, kann er in der christlichen Vorstellungswelt den Himmel sehen und damit Gott, dem absolut Anderen, ähnlich sein.140 Er ist das Bindeglied zwischen Himmel und Erde, im wahrsten Sinne des Wortes ein Trennstrich, der die Ordnung der Schöpfung teilt. In der Abfolge seiner Körperteile vom Kopf, dem Höchsten, bis zu den Füßen, dem Niedrigsten, spiegelt sich die Ordnung der Gesellschaft. Das Gesetz bemächtigt sich des Körpers, indem es ihn zerstückelt und die Funktionsweisen der Körperteile, so etwa im Bewegungsablauf der Liturgie oder in den militärischen Formationen, neu regelt. Der Körper wird der Ordnung der Vernunft unterworfen, die allein ›wahr‹ sprechen kann, indem sie die ungezügelten Leidenschaften und Triebe reglementiert. Ihm widerfährt eine »solemnisation«, er wird zum ›feierlichen‹ Körper im juristischen Sinne: »contenir une parole et notifier son inscription dont personne ne viendra douter, statufier un jeu d’énoncés correspondre à la vérité au moyen de la mise en forme authentique«.141 Der Körper als Träger des authentischen Wortes, an dem niemand zweifelt, wird so zum Spielplatz und zum Austragungsort des Gesetzes, das durch den Körper ›wahr‹ spricht. Martha Grahams Postulat, das die Bewegung und damit der tanzende Körper niemals lügen könne, verbindet auch ihr Tanzverständnis 138 | Ibid., S. 9. 139 | Ibid., S. 38. 140 | Ibid., S. 37. 141 | Ibid., S. 86.

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und ihre Tanztechnik, die die Wahrheit hervorbringen will, mit dem Gesetz des christlichen Körpers. Wenn Martha Graham den Tänzer gleich zu Beginn ihrer Autobiographie als »athlete of God«142 beschreibt, beharrt sie zunächst auf der Beziehung des Tänzers zu jenem Anderen, zu jenem Ideal, das einzig und allein die Wahrheit und Aufrichtigkeit des Subjekts garantieren kann. Da das abstrakte Gesetz keinen Körper hat, muss es sich über den Umweg der Technik, die den Körper von sich entfremdet, einen zweiten Körper schaffen: »Une aliénation est mise en œuvre, théâtralement. Je danse, c’est-à-dire je fabrique ce corps étranger, ce corps inventé par une composition et travaillaint sous le nom fixé d’une danse, avec lequel je rencontre l’idéal.«143 Der Tanz ist daher keine Sache des Körpers, der Physis, sondern der Metaphysis. Im Tanz begegne ich dem Anderen, dem Ideal, das sich in meinem zweiten, hergestellten, Tänzerkörper artikuliert: »pour être conforme et vrai, le corps doit être fabriqué une deuxième fois«.144 Die Transformation der Physis mit den Gesetzen der Technik im Dienste des Anderen verbindet Ballett und modernen Tanz. Die Transformation des Körpers ist nun der zentrale Punkt, an dem Legendre sein Verständnis des abendländischen Gesetzes festmacht.145 Der Körper des aufrechten Menschen ist immer schon enteignet. Er gehört dem Himmel. Sein eigentliches Leben findet an einem anderen Ort statt, »où se réalisera le désir d’amour avec un corps-autre«.146 Der Körper, der auf Erden verloren ist, wird durch seine Transformation gerettet. Doch die Vereinigung des Körpers mit dem Ideal ist keine fleischliche. Sie ist eine Vereinigung der Seele mit dem Ideal. Die binäre Opposition Körper-Seele ist also diejenige Opposition, die im Akt des Tanzens auf dem Spiel steht. Denn wenn der Körper tanzt, riskiert die Seele zu stürzen.147 »L’homme comprend deux parties, son corps et son âme, et cette partition nous montre un être non seulement coupé et blessé par le péché, mais aussi promis à l’unité parfaite par une mutation radicale, s’il met au ciel son désir.«148 Vor diesem Hintergrund nehmen alle Bewegungen, Blicke oder Gefühle im Tanz eine moralische Bedeutung an. Weil der Körper im christlichen Verständnis ein sündiger Körper ist, gehört sein Begehren den Himmel. Was es im Tanz zu bergen gilt, ist das Andere des Körpers, die Seele des Körpers, die den gefallenen Körper allein zu retten vermag. Zu diesem 142 | Graham, Blood Memory, op. cit., S. 3. 143 | Legendre, La Passion, op. cit., S. 33. 144 | Ibid., S. 97. 145 | Ibid., S. 136. 146 | Ibid., S. 106. 147 | Ibid., S. 133. 148 | Ibid., S. 135.

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156 | Abwesenheit Zweck muss der Körper nach den Regeln der Tanzmeister zerlegt werden, um auf geheimnisvolle Weise zum Wissen seiner idealen Einheit zu gelangen. Für diesen mythischen Körper des Gesetzes existiert kein Geschlecht. Es ist ein idealer, empirisch nicht existenter Körper, der die beiden biologischen Geschlechter des Männlichen und des Weiblichen gleichermaßen mit dem Verbot der Kastration belegt. Im Tanzen rettet die Seele den sündigen Körper und transformiert ihn, offenbart und opfert ihn dem göttlichen Anderen als Ideal.149 Diesen tanzenden Körper, der entgegen aller Äußerungen der modernen Tänzerinnen nie Natur, sondern immer schon Gesetz ist und sein Begehren dem Gesetz unterworfen hat, dürfen wir dann im Theater auf legitime Weise genießen. In diesem paradoxerweise vollkommen entkörperlichten Spiel der Seelen der vereinigten Körper auf der Bühne reflektiert die Seele den Glanz Gottes und strahlt ihn aus. Dieser andere, ideale Körper wird als Körper des Tänzers auf die Bühne projiziert, wo er das Sehen und Gesehenwerden zelebriert. »En donnant à voir l’autre du corps halluciné, les modulations théâtrales de la danse ont accompli la métamorphose du sujet, et réalisé l’exploit d’une aliénation momentanée et contrôlable pour le plaisir.«150 Der Tänzer strahlt ab und wird dabei gleichzeitig vom Publikum angeblickt. In effigie, als Puppe und Stellvertreter, spiegelt er uns die Errettung unseres Körpers im Anblick des abwesenden Ideals vor, das der Tanz repräsentiert. Durch eine metonymische Verschiebung wird im Diskurs des Gesetzes das Tanzen identisch mit dem das Tanzen Sehen, eben jener Relation der inneren Kommunikation, die der Tanzkritiker John Martin als zentral allein für den modernen Tanz reklamiert hat. In beiden Fällen genießt man den anderen, abwesenden Körper des Ideal, um errettet zu werden. En l’espace du Texte où nous sommes, le terme »danse« est lui-même ambivalent, on ne sait jamais s’il concerne le corps danseur ou l’autre corps convoqué pour y voir son âme. Selon la propagande de la jouissance socialelement autorisée, danser et regarder danser, c’est la même chose, c’est toujours jouir d’un corps autre.151

Mit diesem Quidproquo von Tanzen und Sehen, das Legendre durchaus als Teil des Mythos, mithin als notwendige Verschleierungstaktik des Gesetztes, als »propagande«, betrachtet, verlässt Legendre die Ebene des Symbolischen und begibt sich auf das Feld des Imaginären. Die Identifikation mit dem Bild des anderen, idealen Körper des Tänzers dient zur Einübung in die vom Gesetz geforderte Identifikation mit dem Ideal und seinen Institutionen. Tanz hat demnach auch in der Industriegesellschaft eine zeremoni149 | Ibid., S. 195. 150 | Ibid., S. 136-137. 151 | Ibid., S. 217-218.

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elle Funktion, in der auch die narzisstische Relation des Tänzers zum Publikum eingebettet bleibt. Wie kommt diese zustande? An die Stelle des abwesenden Ideals tritt ein Bild des Tänzers, der die Seele des Zuschauers repräsentiert und für sie einsteht. Die Verbindung läuft über das Auge, in dessen Pupille sich das Bild meines Körpers befindet und an dessen Ideal ich die Bildung meines Ichs durch Identifikation mit dem Ideal ausrichte. La référence à l’image, en tant que cette image inscrit un élément essentiel de la constitution imaginaire du Je, c’est-à-dire sa capacité première de s’identifier dans l’Autre comme forme idéale, cette référence est à l’initiale de l’invention du danseur: corps symbolique appelé d’abord à la place même de l’âme pupilline pour rejouer indéfiniment la fable prototype du désir morcelé se projetant dans la forme idéale. Le danseur tel qu’il se conçoit et opère suivant ce que j’appelerais volontiers notre idéologie métaphysique, se tient au lieu de l’âme […].152

Im Tanz erhält damit jeder die Möglichkeit, den mythischen Parcours der Liebe zu durchlaufen, indem man auf die symbolische Vermittlung des tanzenden Körpers zurückgreift. Der Tänzer wird damit zur »effigie«, oder zur »poupée-fantoche«,153 zur Gliederpuppe, die das Andere des Bildes repräsentiert, das Begehren des Anderen, das im Bühnentanz als Institution symbolisch wiederholt wird. »On ne dialogue pas avec une effigie, on jouit d’elle de regard ou en la touchant«, stellt Legendre fest und unterstreicht damit die mystische Funktion des Tänzers im Diskurs des abendländischen Gesetzes.154 Das Bild des Tänzers entsteht im Auge des Betrachters, der ja nie nur Betrachter ist. Wie die religiöse Statue, die für den abwesenden Gott oder die Ahnen einsteht, markiert der Tänzer einen leeren Platz am Ort des Anderen, am Ort des Gesetzes, an dem der menschliche Körper sich als angeblickter, dem Blick des Anderen unterworfenes Subjekt erkennt. Das Bild des Tänzers ist demnach eine Art Narbe oder Siegel, das die Wahrheit verdeckt und zugleich prägt. Damit nimmt der Tänzerkörper den Platz eines Fetischs ein, eines begehrten Objekts, das für die Abwesenheit des Ideals einsteht. »Le corps danseurs est ce fétiche, mais c’est un fétiche qui sait.«155 Der Tänzer wird so zu einer »manifestation épiphanique du sujet du désir«.156 Der Tänzerkörper wiederholt in der Komposition einer Choreographie den ›Gott seines Begehrens‹, indem er sich und durch die Substitution des Blicks auch den Zuschauerkörper als anderen Körper, als Körper der Statue reproduziert. Das Tänzerkörper ist demnach der Effekt einer 152 | Ibid., S. 238. 153 | Ibid., S. 241. 154 | Ibid., S. 236; im Original kursiv. 155 | Ibid., S. 245. 156 | Ibid., S. 239.

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158 | Abwesenheit Abwesenheit: »l’opération de l’effigie montrant les dieux invisibles dans le miroir: il s’agit de faire advenir l’idole comme signe d’une absence, c’est-àdire, en référence à la légalité, comme preuve de la vérité.«157 Der Diskurs des Tanzes, das heißt die Bewegung und ihre Organisation in der Choreographie, fungieren daher als Objekt klein a:158 jenes Objekt in der Lacanschen Algebra, das an die Stelle des abwesenden Realen tritt, damit nicht Nichts, sondern Etwas sei, die Verkörperung des Mangels, der mit jedem Einsatz der Bewegung wiederholt wird, der wie die Spule im Fort-Da-Spiel das menschliche Begehren und damit das Leben im Gegensatz zum Tod und auf den Tod hin in Bewegung versetzt. Für Legendre ist das Postulat der Rationalität, das seit der Ballettreform von Jean-Georges Noverre im Zuge der Aufklärung auch den Tanz ergriffen haben soll, ein Irrtum. Auch das Handlungsballett erzeugt einen besonderen, anbetungswürdigen Tänzerkörper, den man genießt. So lange die westlichen Gesellschaften Unterteilungen vornehmen in Tanz und Nicht-Tanz, Tänzer und Nicht-Tänzer, in Bühnentanz und Volkstanz oder ethnischen Tanz, in Orte, an denen getanzt werden darf und an denen nicht getanzt werden darf, bleibt jenes Gesetz in Kraft, das die Übereignung des Begehrens an eine Institution überträgt, um es dort in der Leidenschaft, ein anderer zu sein, legitimiert als sein eigenes zu genießen. Das Gesetz nimmt Unterteilungen und in Folge davon Hierarchisierungen vor. Dies ist sein Kennzeichen und seine Funktionsweise.

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Zurückgeholte Abwesenheit: Re-Ritualisierung des Tanzes in der Moderne

Nun legen die oben untersuchten modernen Tanzästhetiken selbst die Vermutung nahe, sie hätten sich von dieser institutionellen Ausformung des Gesetzes verabschiedet. Indem sie die Zergliederung des Tänzers nach rationalen geometrischen Prinzipien durch ein energetisches Verständnis des Körpers abgelöst haben, haben sie damit auch die Grundordnung des Bühnentanzes, wie sie bis dato bestanden hat, abgelöst. Dass sie dennoch fest auf dem Boden des Gesetzes stehen, konnte an zahlreichen Beispielen gezeigt werden. An dieser Stelle soll abschließend nach der Konstitution des Körper gefragt werden, den das christliche Tanzverbot ausgeschlossen hat. Die modernen Tanzästhetiken versuchen, ihn in die kulturelle Ordnung zurückzuholen.

157 | Ibid., S. 266. 158 | Ibid., S. 251.

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6.1

Ausgegrenzte Körper

Kommen wir noch einmal auf Pierre Legendres Vorstellung eines kulturellen Gesetzes zurück, das den Tänzerkörper hervorbringt. Dieses Gesetz basiert auf dem Verbot der direkten körperlichen Wunscherfüllung, ein Verbot, das auf die christliche Vorstellung des gefallenen, sündigen Körpers zurückgeht, der von der Seele gerettet wird. Il s’agit de faire dire le désir par un corps qui ne soit plus le corps strictement anatomique, par un corps fait autrement, par le corps second, celui de la danse précisément, ou fait retour le sexe. […] Il faut construire un vrai corps qui, lui, sera rempli et comblé, en incarnant le signifiant, ce signifiant fameux dont procède le discours de l’amour. En fin de compte, le parcours de la science divisée souligne la condition, je veux dire le statut légal, de l’extrême beauté: l’invention esthétique est un produit d’interdit, ça ne peut pas se dire autrement.159

Die Schönheit ist ein Resultat des Verbots. Ohne Verbot keine Schönheit. Der zweite schöne Körper des Tänzers, der in allem, was er tut oder auslöst, immer schon ein moralischer Körper ist, spricht für uns auf der Bühne vom Anderen. Schön sein bedeutet daher moralisch sein. Damit diese Schönheit versprechende Neuordnung des Körpers gelingen kann, muss sie von oben her kontrolliert erfolgen. Das übergeordnete Prinzip des erhobenen Hauptes, das nicht nur für die Ratio und die Vernunft steht, sondern den aufrechten Körper darüber hinaus mit dem Himmel verbindet, wird als Garant für die ideale Ordnung eingesetzt. Die Kritik der Urkirche am Tanz bezog sich daher auf das Unordentliche und damit auch das Unschöne, Unmoralische des Tanzes, auf dessen auflösenden Charakter, der das noch junge Christentum erneut zu paganisieren drohte. Die heidnischen tanzenden Körper folgten, so meine These, einer anderen Ordnung und waren von einem anderen Bau als die christlichen – wenn letztere denn überhaupt tanzen durften. Im Jahr 387 verurteilte Bischof Ambrosius von Mailand in seiner Fastenpredigt den Tanz als Werk des Teufels. Darin beschreibt er das Erscheinungsbild eines solchen ekstatischen Tanzes. Die tanzenden Frauen führen auf öffentlichen Plätzen mit Männern gemeinsam schamlose Reigen im Anblick zügelloser Jünglinge auf. Wild schleudern sie ihr Haupthaar zurück, gürten die Tuniken, zerreißen das Obergewand, zeigen nackte Arme, klatschen mit den Händen, stampfen mit ihren Füßen, schreien mit ihren Stimmen durcheinander und reizen durch ihre Schauspielerschritte die Begierden der Jünglinge. Lüsternen Blicks und mit unziemlichen Witzen schaut der Kreis der Jünglinge zu. Ein erbärmliches 159 | Legendre, op. cit, S. 168.

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160 | Abwesenheit Schauspiel! Indem die Tanzenden stürzen und die Zuschauer mit sich reißen, wird der Himmel durch einen unreinen Anblick beschmutzt. Die Erde, durch obszöne Tanzschritte mißhandelt, wird durch einen widerlichen Tanz besudelt.160

Ein ähnliches Erscheinungsbild des Körpers bot sich dem christlichen Auge nicht nur im volkstümlichen Tanz, sondern auch im Bühnentanz der Zeit. Tacitus schildert eine Tanzaufführung im Hause der Messalina, die sich ein dionysisches Ritual zum Thema gewählt hatte: Das Bild einer Weinlese feierten sie im Hause. Keltern knarrten, Ströme von Wein flossen, mit Fellen gegürtete Frauen sprangen wie opfernde und rasende Mänaden umher. Sie selbst [sc. Messalina] schwang mit gelöstem Haar den Thyrsosstab, neben ihr der efeubekränzte Silius [Liebhaber der M.] […] So warf sie ihr Haupt zurück, umtobt von dem rasenden Chore.161

Bezeichnenderweise ist es in beiden Zitaten die sündige, gefallene Frau, die den Tanz anführt und die Männer ins Verderben reißt, in dem sie sie im wörtlichen Sinn zu Boden stürzt und dem Anblick des Himmels entzieht. Das Paradigma des Sehens, die aufrechte Haltung im Angesicht Gottes, spielt auch hier eine zentrale Rolle. Doch die heidnischen Körper bieten dem himmlischen Auge keine Seele, keine »âme pupilline«,162 dar, sondern nur nacktes Fleisch, aufgelöste wild fliegende Haare, ekstatisch zurückgeworfene Köpfe und scheinbar unkontrollierbare Körper in Bewegung. Carl Andresen hat folglich sowohl im spätantiken Sakraltanz wie auch im Volkstanz, der im Zusammenhang mit Hochzeitsfesten und Beerdigungsritualen stattfand, und im Bühnentanz – der Pantomime – Verfallserscheinungen ausgemacht. Der religiöse sowie der festliche Charakter der Tänze sei demnach immer weniger erkennbar gewesen und zum bloßen Vorwand für profane Lustbarkeiten und, in den Augen der christlichen Morallehre, zu verwerflichen und unsittlichen Auswüchsen, verkommen. »Man tanzt die alten Sakraltänze nicht mehr zu Ehren der Götter, sondern um des Applauses des Publikums willen. Sie sind austauschbar geworden, unterliegen der Willkür des Ballettregisseurs, sie werden profan.«163 Alle 160 | Zitiert nach: Georg Denzler, Die verbotene Lust. 2000 Jahre christliche Sexualmoral, Zürich/München: Piper, 1988, S. 230; vgl. auch: Carl Andresen, »Altchristliche Kritik am Tanz – ein Ausschnitt aus dem Kampf der alten Kirche gegen heidnische Sitten«, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 72 (1961), S. 217-262, hier: S. 252-253. 161 | Zitiert nach: Andresen, op. cit., S. 255-256. 162 | Legendre, La Passion, op. cit., S. 238. 163 | Carl Andresen, »Die Kritik der alten Kirche am Tanz der Spätantike«, in: Friedrich Heyer (Hg.), Der Tanz in der modernen Gesellschaft, Hamburg: Furche Verlag, 1958, S. 139-168, hier: S. 156.

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drei Arten des Tanzes gefährdeten daher die »christliche Hausordnung«.164 Obwohl sich die Kirchenväter einig waren in ihrer Verwerfung des Tanzes, gab es bis ins 4. Jahrhundert keine explizite Erwähnung des Tanzes. Er fiel, wie bei Apostel Paulus im ersten Korintherbrief 14,40, unter das allgemeine Ordnungsgebot in der Kirche. Erst mit der ›Kirche der Vielen‹, zu der die christliche Religion ab 313 unter Kaiser Konstantins Politik der Tolerierung, die ein Ende der Christenverfolgung bedeutete, werden konnte, wurde der Tanz für die Autoren zum Problem. Da die alten heidnischen Sitten und Bräuche nach wie vor zum Alltag der Menschen gehörten, drohten durch sie Gefahren für die Kirche. Sie mussten daher in einem »Prozeß der ›Theologisierung’« ihres heidnischen Charakters entledigt und zum christlichen Ritual umgewidmet werden.165 So gestaltete etwa Augustinus als Priester im Jahr 395 das alljährlich stattfindende Gräberfest, eine Art Nachtwache zu Ehren der Märtyrer, um. »Die ganze Nacht hindurch wurden hier nichtswürdige Gesänge gesungen und wurde unter Absingen von Liedern getanzt«,166 bis er die Feier in einen liturgisch geordneten Nachtgottesdienst umwandelte. Aus dem Totenmahl wurde eine Eucharistiefeier, zu deren Bestandteil der Gesang gehörte, aber nicht der Tanz. Was in dieser Umwidmung also auch geschah, war die Ersetzung des Körpers durch die Stimme in der christlichen Liturgie. Der Gesang, der das Tanzen abgelöst hatte, war nun die einzig legitime Form der körperlichen Betätigung. An den Psalm oder allgemeiner an das Wort zur Lobpreisung Gottes gebunden, unterlag der Körper erneut der christlichen Ratio. Unterdrücken ließ sich der Tanz deshalb dennoch nicht. 1682 berichtet Claude-François Ménestrier in seiner Einleitung zu Des ballets anciens et modernes selon les règles du theatre, einer Schrift, die landläufig als die erste Tanzgeschichte gilt und die historisch an dem Punkt angesiedelt ist, an dem sich die Entwicklung zum Bühnentanz auf erhöhter abgeschlossener Bühne vollendet hatte, dass noch im 12. Jahrhundert in bestimmten Diözesen in Frankreich während des Gottesdienstes getanzt wurde. »Odon Evêque de Paris en ses constitutions synodales, commande expressément aux Prêtres de sa Diocese d’en abolir l’usure.«167 Ménestrier berichtet sogar von Gesangsverboten in der Kirche. Anscheinend konnte man nicht nur beim Anblick von tanzenden Körpern, sondern auch beim Hören schöner Stimmen auf unfromme Gedanken kommen.168 164 | Andresen, »Altchristliche Kritik«, op. cit., S. 228. 165 | Ibid., S. 248. 166 | Ibid., S. 250. 167 | Ménestrier, Des ballets anciens et modenes, op. cit., S. 13. 168 | »L’Abus que l’on fit avec le temps de ses danses sacrées, qui etoient devenues libres & dissolues, les fit abolir […] C’est pour la même raison que plusieurs Eglises ont quitté la Musique & les Instrumens […] pour empêcher les desordres qui

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162 | Abwesenheit Nun gibt es zwei berühmte historische Stimmen, die das Tanzen unter bestimmten Voraussetzungen als durchaus christliche Tätigkeit verstehen und dem Tanz unter ästhetischen Gesichtspunkten innerhalb der christlichen Religion einen Platz einräumen. Es handelt sich hierbei um Augustinus und Thomas von Aquin. In De musica unterstreicht Augustinus die Bedeutung der musischen Ausbildung für den Theologen und erstellt mithin das Programm einer christlichen Erziehungswissenschaft. In diesem Rahmen kommt er in einer Bemerkung auch auf den Tanz zu sprechen: »Wenn sich unsere Glieder nur um des Schönen und der Anmut willen und wegen keines anderen Zwecks bewegen, nennen wir das nicht Tanz und nichts anderes?«169 Eingebunden ist diese Apologie des schönen Tanzes in die augustinische Erkenntnismetaphysik, die auf der grundlegenden Bedeutung der Zahl aufbaut: Wenn einer rhythmisch in die Hände klatscht, so daß ein Schlag eine Zeiteinheit, ein zweiter eine doppelte Zeiteinheit ausmacht, was bekanntlich als jambischer Versfußbezeichnet wird, wenn derselbe ferner die Schläge aneinanderreiht und fortsetzt, ein zweiter aber dazu tanzt, indem er nach dem Rhythmus die Glieder bewegt, sprichst du nicht auch dort von einem Zeitverhältnis zwischen dem Einfachen und Zweifachen der Bewegung, sei es im Klatschen, das du hörst, sei es im Tanzen, das du siehst? Oder ergötzt dich wenigstens die Zählbarkeit, die du wahrnimmst, auch wenn du die Zahlen nicht genau nachrechnen kannst?170

Der Tanz soll also bestimmten Grundzahlen folgen, um die Ordnung der Welt, die ewig in Bewegung ist, als Einheit widerzuspiegeln.171 Thomas von Aquin hält eine ungleich weltlichere aber dennoch christlich fundierte Rechtfertigung und Funktionsbestimmung des Tanzes bereit, die er aus dem Studium des aus der Sicht der damaligen Amtskirche heidnischen Autors Aristoteles gewann. »Der Tanz an sich ist nicht böse, vielmehr je nach dem auf welches unterschiedliche Ziel er gerichtet ist und in welchen unterschiedlichen Begleitumständen er erwächst, kann er ein Akt der Tugend oder des Lasters sein«, schreibt er in seinem Kommentar zu Jesaja und fügt hinzu, dass es unmöglich sei

se commettoient en des jours si saints, par le grand nombre de personnes que la symphonies & les les belles voix y attirent plûtôt que la pieté«; Menestrier, Des ballets anciens et modernes, op. cit. S. 3-4. 169 | Zitiert nach: Andresen, »Altchristliche Kritik am Tanz«, op. cit., S. 260. 170 | Loc. cit. 171 | Von dieser neoplatonistisch grundierten Vorstellung aus gelangt man zu einer Sicht des klassischen Balletts als Ordo; vgl. Gerhard Zacharias, Ballett – Gestalt und Wesen, Wilhelmshaven: Florian Noetzel, 21993.

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III Moderne Konfigurationen der Abwesenheit | 163 immer in der Ernsthaftigkeit eines tätigen oder kontemplativen Lebens zu bleiben, daß man manchmal unter die Sorgen ein wenig Freude mischen müsse aus Furcht, den Geist durch eine übertriebene Sorge zu brechen, und um sich dann umso entschiedener den Mühen der Tugend zu widmen. Zu einem solchen Zwecke ausgeführt, sind die Spiele [wie der Tanz] Akte der Tugend, der Eutrapelie [der körperlichen und geistigen Gewandtheit], und wenn die göttliche Gnade ihnen die Form gibt, werden sie selbst verdienstlich.172

Der Tanz war demnach zum Lobpreis Gottes erlaubt. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Ménestriers säkularisiertem Tanzverständnis im 17. Jahrhundert, das aber dennoch in der Kategorie des Sittlichen, die auf einer Formung des Körpers basiert, einen Reflex des christlichen Verbots in sich trägt. Auch Ménestrier bezieht sich im Studium der alten Texte in seiner Bestimmung des Tanzes auf die Bemerkungen, die Aristoteles in seiner Poetik gemacht hat. »Nous ne faisons plus des Actes de Religions des danses comme ont fait les Juifs, & les Infidèles, nous nous contenons d’en faire des divertissements honnêtes pour former le corps à des actions nobles, & de bienseance.«173 Egal ob man von Augustinus’ neoplatonistischem Hintergrund oder von Thomas von Aquins und Menestriers scholastischem Tanzverständnis ausgeht, sie alle stützen sich auf eine ähnliche Vorstellung: dass der Tanz sich auf der Basis geordneter Parameter abspielt, die den Tanz der Seelen (und nicht in erster Linie der Körper) ermöglichen. Vor diesem Hintergrund ist auch der Tanz in den französischen Hofballetten oder den englischen Masques im späten 16. und 17. Jahrhundert zu verstehen. Er dient hier, wenn schon nicht unmittelbar dem Lobpreis Gottes wie in Dantes Vorstellung vom Paradies, so doch zu Ehren dessen Stellvertreters auf Erden: dem Monarchen und der göttlichen Ordnung, die er repräsentiert. Die neoplatonistische Vorstellung eines himmlischen Tanzes der Engel, der auf Maß und Zahl beruht und der sich durch das ganze Universum fortsetzt, ging, hauptsächlich vermittelt durch den Kirchenvater Dionysos-Areopagita im 5. Jahrhundert, in der Renaissance eine synkretistische Verbindung mit der christlichen Morallehre ein.174 Legendres These von der Einsetzung der 172 | Zitiert nach: Friedrich Heyer, »Theologische Betrachtungen über den Tanz«, in: Friedrich Heyer (Hg.), Der Tanz in der modernen Gesellschaft, Hamburg: Furche Verlag, 1958, S. 9-28, hier: S. 12. 173 | Menestrier, op. cit., S. 4-5. 174 | Vgl. zur neoplatonistischen Tradition des Tanzes in der Renaissance: Françoise Syson Carter, »Celestial Dance: A Search for Perfection«, in: Dance Research, V (1987:2), S. 3-17 und Günter Berghaus, »Neoplatonic and Pythagorean Notions of World Harmony and Unity and Their Influence on Renaissance Dance Theory«, in: Dance Research, X (1992:2), S. 43-70.

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164 | Abwesenheit Ästhetik des Schönen aufgrund eines kulturellen Verbots wird hier noch einmal sinnfällig. Das Verbot zieht eine Pädagogik nach sich, die einen zweiten Körper schafft, den Körper des Tänzers nämlich, der zuerst dem Maß der Zahl, der Form und den Proportionen folgt, und dann der Tugend, um so der geistigen und körperlichen Gewandtheit zuträglich zu sein.175 Was demnach aus Gründen der Abgrenzung gegenüber heidnischen Bräuchen und der Selbstkonstitution der Urkirche abgelehnt wird, ist »Tanz ekstatisch-naturreligiöser Prägung«176, jene »heidnischen« Tänze also, die Kontrollverlust, Unordnung und damit verbunden Irrationalität implizieren. Gerade diese mit einem Verbot belegten abwesenden Körper aber versuchten die Tänzerinnen und Tänzer der Moderne für den Tanz zurückzugewinnen. Im bewussten Rückgriff etwa auf den Tanz der Mänaden bei Isadora Duncan soll das Vergessene und Verworfene des Tanzes als Ausdrucksmöglichkeit aktueller Befindlichkeiten wiedergewonnen werden.177 Für Ramsay Burt ist die Orientierung an anderen fremden Kulturen, wie sie bei Martha Graham in ihrer Auseinandersetzung mit der Kultur der Navajo-Indianer in Stücken wie Primitive Mysteries oder El Penitente oder bei Mary Wigmans Dreh-Monotonie in bezug auf die religiöse Praxis der SufiMönche zu beobachten ist, eine Möglichkeit für die Tänzerinnen, die Darstellungskonventionen des 19. Jahrhunderts zu durchbrechen. Damit einher geht, wie zu Beginn des Kapitels gezeigt, die Möglichkeit der Abstraktion verstanden als Selbstreflexion der Bewegung jenseits ihrer mimischmimetischen Funktion.178

6.2

Skandalöse Körper: Nijinskys Le sacre du printemps

Charakteristisch für dieses Hereinholen des dem neoplatonistisch grundierten christlichen Gesetz heterogenen Körpers ist dessen Verbindung mit dem Ritual. Es ist letztlich ein Körper, der nicht mehr vom Kopf als oberstes ordnendes und vernünftiges Prinzip ausgehend zusammengefügt werden kann. Über das Ritual erfolgt einerseits eine Verbindung des Körpers mit 175 | In der italienischen Renaissance gewann diese körperliche und geistige Gewandtheit Gestalt in den Tänzen an den Fürstenhöfen in einem den Prinzipien der »maniera«, des »movimento« und des »aiere« unterworfenen Körperbild der Tänzer; vgl. Rudolf zur Lippe, Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung des Menschen in der Renaissance, Hamburg: rororo, 1988, S. 95-162. 176 | Gotthard Former, »Tanz II«, in: Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Berlin/New York: de Gruyter, 2001, S. 647-655, hier: S. 649. 177 | Gabriele Brandstetter hat diesen Prozess als Aktivierung von Pathosformeln, die im kulturellen Gedächtnis hinterlegt sind, gelesen; Brandstetter, Tanz-Lektüren, op. cit.. 178 | Burt, Alien Bodies. op. cit., S. 160-189.

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der Sexualität. Andererseits wird der im Gesetz ausgeschlossenen Gewalt, auf die es doch gründet, durch diesen neuen Körper Raum gegeben. Am deutlichsten und wohl auch am nachhaltigsten ist diese Integration in Waslaw Nijinskys Choreographie zu Strawinskys Le sacre du printemps 1913 im Théâtre des Champs-Elysées in Paris in Szene gesetzt worden. Das Stück spielt in heidnischer, vorchristlicher Zeit in einem russischen Dorf. Es schildert die Suche nach einer Jungfrau, die, um die Fruchtbarkeit der Erde zu garantieren, im Frühling von der Gemeinschaft einer Gottheit geopfert wird, indem sie sich zu Tode tanzen muss. Charakteristisch für Nijinskys Choreographie ist die Wucht der unklassischen Bewegungen. »Als der Vorhang hochgeht, stehen die Mädchen zitternd im Kreis, mit einwärts gedrehten Füßen und gebeugten Knien, den rechten Ellbogen auf der linken Faust ruhend und mit der rechten geballten Hand den zur Seite gelegten Kopf stützend.«179 Das Zittern mit einwärts gedrehten Beinen und Füßen, gesenktem Kopf, das Stampfen und Hüpfen, das sich jeder Ausrichtung auf eine Idealität verweigert, ist verantwortlich für das Finden des Opfers. Nach und nach tritt jeweils ein Mädchen aus dem Kreis und integriert sich anschließend wieder in die Gruppe. Es ist diejenige, die stürzt, weil ihr Körper nachgibt und so auf seine Materialität und Stofflichkeit verweist, die zum Opfer auserkoren wird. Die Unregelmäßigkeit im Tanz, die das Gesetz ausschließen muss, wird hier als Movens des Tanzes beschrieben, das die Ausrichtung auf den Anderen, den Text, wie Legendre sagen würde, erst möglich macht. Jacques Rivière, der in seinem Artikel in der Nouvelle Revue Française nach der Uraufführung Partei für das Stück ergriff, erkannte seine Tragweite, als er schrieb: »Der Körper ist nicht mehr ein Fluchtweg der Seele, er sammelt sich vielmehr, um sie zu halten.« Der Tanz zielt nicht mehr auf ein Jenseits der Bühne, wie Rivière bemerkt: »Es ist nicht nur der Tanz der primitivsten Menschen, es ist der Tanz vor dem Menschen«,180 der die Menschen mit dem konfrontiert, was sie in ihrer Gemeinschaft ausschließen. Die Gewalt des Gründungsopfers drängt zurück in den symbolischen Raum des Theaters, wo es die Frage nach der Funktion des Tanzes als allabendliches Opferritual stellt, das sich als solches maskieren muss, um den Zusammenhalt der Gemeinschaft von Publikum und Tänzern zu garantieren.181 Dass die Körper Nijinskys nicht der Seele geopfert werden, macht Rivière daran fest, dass »das Gesicht keine eigene Rolle« spielt. Es sei »eine Erweiterung des Körpers«, und weiter: »Nijinsky lässt den Körper selbst

179 | Buckle, Nijinsky, op. cit., S. 229. 180 | Zitiert in: Buckle, op. cit., S. 231. 181 | Vgl. dazu Helga Finter, »Corps emblématiques«, in: Michèle Febvre (Hg.), La danse au défi, Montréal: Parachute, 1987, S. 96-105.

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166 | Abwesenheit sprechen.«182 Die Abkehr des Auges, das Verdecken der Pupille als Einfallstor zur Seele, wirft den Körper auf sich selbst zurück. Der Himmel, vor dem er sich nach wie vor darbietet, ist leer. Isabelle Launay interpretiert das Schlussbild der Uraufführung daher auch als unterbrochenes Ritual.183 Zum ersten Mal wird durch den nach oben gerichteten Blick der Auserwählten der Himmel einbezogen, und schließlich wird das Opfer am Schluss des zweiten Teils von sechs Männern über deren Köpfe empor gehoben. Die Gruppe trägt es allerdings nicht von der Bühne, um die Opferhandlung zu vollenden. Die Szene bleibt offen, unentschieden in ihrer Möglichkeit, Transzendenz zu eröffnen und die Gemeinschaft über dem Opfer zu schließen. Mit der verweigerten Erlösung geht ein Entsetzen über die getanzte Gewalt einher, ein Entsetzen, das sich durch Gewalt im Zuschauerraum artikuliert. Beschreibungen der Tumulte während der Premiere des Stücks, die in Ohrfeigen und Handgreiflichkeiten mündeten, sind Legion.184 Doch nicht nur die Zuschauer wurden im übertragenen Sinn geopfert. Auch die Tänzer hatten während der Proben große Schwierigkeiten, Nijinskys Vorstellungen und den neuartigen Schritten und Körperbildern zu entsprechen.185 In Le sacre du printemps steht der Bezug des Tanzes zum symbolischen Gesetz auf dem Spiel, dessen Text das Stück mit anderen Körpern und einer anderen Bewegungssprache befragen und erweitern will. Nijinskys Figuren sind ebenso geometrischer Abstraktion geschuldet, wie seine Bewegungen den Körper analytisch zerlegen. Er stellt dem Gesetz eine Choreographie gegenüber, die eine andere Sprache anvisiert als die des gültigen Codes. Als Choreographie – und nicht als mimetisches, repräsentatives Gestenspiel – ist Nijinskys Sacre Sprache, die sich über das Ritual und einen anderen Körper mit dem Text des Gesetzes auseinandersetzt.

6.3

Errettete Körper: Mary Wigmans Drehmonotonie

Die Auserwählte in Le sacre du printemps spinnt sich in ihrem finalen Tanz immer mehr in eine Drehbewegung um die eigenen Körperachse ein, eine Bewegung die sie bis zu ihrem Sturz für die Gemeinschaft unantastbar, heilig, macht. Doch dabei bleibt bis zuletzt offen, ob sie sich mit ihren Gesten und Bewegungen der Opferrolle fügt oder sich gegen sie auflehnt. Einen 182 | Buckle, op. cit., S. 232. 183 | Isabelle Launay, »Communauté et articulations. À propos du Sacre du printemps de Nijinski«, in: Claire Rousier (Hg.), Être ensemble. Figures de la communauté en danse depuis le xxe siécle, Pantin: Centre nationale de la danse, 2003, S. 65-87, hier: S. 85. 184 | Vgl. Buckle, op. cit., S. 231-236. 185 | Ibid., S. 215.

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vergleichbaren heidnischen Rundtanz choreographiert auch Mary Wigman mit ihrer Drehmonotonie aus dem Jahr 1927. Der Tanz, den sie als »Ahnherr aller späteren von anderen Tänzern und Tänzerinnen geschaffenen Drehtänze« beschreibt,186 war ein Solotanz aus dem Gruppenstück Die Feier, das 1928 seine endgültige Fassung erhielt. Noch unter dem Einfluss Rudolf von Labans hatte Wigman Bekanntschaft mit den Drehritualen der Mevlana Derwische, einem Sufi-Orden, gemacht und schon 1917 für das Sommerfestival auf dem Monte Verità bei Ascona einen Drehtanz entwickelt. Auch hier erfolgt eine Reflexion auf das abendländische Gesetz über das Ritual und dessen »kopflosen Körper«. Den Kopf zur Seite auf die Schulter gelegt, entgeht auch sie dem beseelten Blick. Rückblickend beschreibt Mary Wigman ihre Drehmonotonie wie folgt: An denselben Fleck gebannt und sich einspinnend in die Monotonie der Drehbewegung, sich allmählich an sie verlierend, bis die Umdrehungen sich vom eigenen Körper zu lösen schienen und der Umraum zu kreisen begann. Nicht mehr selbst sich bewegend, sondern bewegt werdend, selbst Mitte selbst ruhender Pol im Wirbel der Rotationen. Wölbung und Kuppel, kein freier Himmel über mir – keine Richtung, kein Ziel – kreisend sich drehend in spiralischem Auf und Ab, ohne Anfang, ohne Ende – zärtliches Wiegen, greifende Arme, leidvoll und wonnevoll – in selbstzerstörerischer Lust wieder sich steigernd […] Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung gelingt die Wiedereinschaltung des Willens. Ein Ruck geht durch den Körper, ihn im Augenblick der rasenden Umdrehung zum Stillstand zwingend, hochaufgereckt, auf die Fußspitzen gehoben, die Arme hinaufgeworfen, sich an einen nicht vorhandenen Halt klammernd. Atemholende Pause, eine Ewigkeit lang, die doch nur Sekunden dauert. Und dann das plötzliche Sich-Loslassen und der Sturz des entspannten Körpers in die Tiefe. Lebendig nur noch ein Gefühl: das der Körperlosigkeit. Und ein Wunsch: nie wieder aufstehen zu müssen, so liegenbleiben zu dürfen bis in alle Ewigkeit.187

Die Parallelen zu den heidnischen Rundtänzen und Reigen sind durch die Drehung, die ein rauschhaftes Erleben voll »selbstzerstörerischer Lust« ermöglicht, offensichtlich. Mit dem Drehen beginnt ein lustvolles, erotisches Spiel zwischen Hingabe und Verweigerung, zwischen Aufsteigen und Stürzen, Leben und Tod, das die Tänzerin geschickt durch Variation des Tempos selbst reguliert und kontrolliert. Das Liebesspiel ihres tanzenden Körpers entspinnt sich jedoch nicht, wie Mallarmé vermutet hat, auf »das ganze Abenteuer der geschlechtlichen Differenz«.188 Vielmehr setzt eine »Kom-

186 | Wigman, Die Sprache des Tanzes, op. cit., S. 38. 187 | Ibid., S. 39. 188 | Mallarmé, »Crayonné au théâtre«, op. cit., S. 173.

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168 | Abwesenheit munion mit dem Raum«189 ein, der allerdings der eigene Umraum der Tänzerin ist. Die Verschmelzung mit dem Raum, die den eigenen Willen, das Bewusstsein, doch ausschalten soll, ist letztlich ein autoerotisches Spiel mit dem narzisstischen Spiegelbild der Tänzerin.190 Sowohl Nijinsky als auch Wigman halten sich mit ihren Choreographien die Frage nach der Möglichkeit eines anderen Bezugs des tanzenden Körpers zur Sprache offen. Betonten Nijinskys Bewegungen die Immanenz der Seele und damit die Körperlichkeit der Bewegungen, zielt Wigmans Erfahrung in ihrem Solo jedoch auf das lebendige Gefühl der Körperlosigkeit ab. Auf der Ebene der Bewegung und des Körperbildes, das diese erzeugt, strebt sie auch hier eine Erfahrung an, die die Sache selbst ist. Sie wird im Drehen »Teil der schwingenden Weltkörper«,191 in deren Bewegung sie sich eindreht, bis sie, keinen Referenten außerhalb ihrer Selbst mehr kennend, eins wir mit dem Raum, der ihr eigener ist. Und doch wird ihr neuer, re-ritualisierter Körper im Rahmen einer Aufführungssituation dargeboten, die ihn unweigerlich zu einer symbolischen Form macht, die etwas für einen anderen darstellt und eben nicht die Sache selbst ist. Sie wird »Mittelpunkt der Welt für einen Augenblick, Mittelpunkt des großen Bewegungsgeschehens«,192 das sich auf sie als »Symbol« bezieht, in ihr seine Überhöhung, seinen Ausdruck wie seinen Grund der Darstellung findet. Mary Wigmans ›Kulttanz’ findet als Bühnentanz statt, der auch die Form des Tanzes bestimmt. Wigman führt in den Tanz bewusst symbolische Gesten wie das Hinaufwerfen der Arme, die keinen Halt finden, ein. Während die tanzenden Derwische ihre Arme seitlich ihres Körpers ruhig ausgestreckt halten, wobei eine Handfläche noch oben zum Himmel, die andere zur Erde nach unten zeigt, überhöht die Wigman das Geschehen dramatisch. Was sie darstellt, ist die Überwindung des Körpers, seine Abwesenheit in der Selbstwahrnehmung der Tänzerin, sein symbolischer Tod im Sturz zu Boden, mit dem der Tanz für die Zuschauer endet. Auch ihre neue ›alte‹ Kinästhetik hat die Beseelung des Körpers durch seine Überwindung zum Inhalt. So signalisiert ihr Tanz zwar ständig Kontrollverlust, doch die Tänzerin bleibt der ruhende Pol im Mittelpunkt des Geschehens, das sie mit Einsatz der Willenskraft kontrolliert. Im Überwinden eine Erhöhung, im Tod das ewige Leben – auch Mary Wigmans tanzender Körper untersteht der christlichen Zwei-Welten-Lehre von Körper und Geist. Ihr Körper ist ein kontrollierter Körper, der auch die Schwerkraft lediglich funktional-symbolisch einsetzt, sich willensstark gegen sie 189 | Wigman, »Das Drehen«, in: Sorell, op cit., S. 280. 190 | Gabriele Brandstetter hat darin deshalb »eine Gestaltung des Solipsismus des modernen Subjekts« gesehen; Tanz-Lektüren, op. cit., S. 260. 191 | Wigman, »Das Drehen«, in: Sorell, op cit., S. 280. 192 | Loc. cit.

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stemmt, um sich am Ende doch wieder zu erheben, den Applaus des Publikums dankend annehmend, und den aufrechten Körper den Sieg davontragen zu lassen.193 Interessanterweise hat Ramsay Burt darauf hingewiesen, dass die Mevlana-Derwische ihr Bewegungsritual gerade nicht als Tanz verstehen.194 Ihr Ritual strebt nach der mystischen Vereinigung mit Gott, mithin auf eine Realpräsenz ohne Abwesenheit. Ihr Drehritual gehört einer anderen institutionellen Ordnung an als der Tanz im christlich geprägten Kulturkreis. Auch die Versuche, den von der christlichen Liturgie ausgegrenzten und verworfenen Körper wiederzugewinnen, haben demnach stillschweigend die fundamentale Trennung der Zuschauer vom Tänzer akzeptiert, haben sich dem Verbot, das den Tanz als Bühnentanz in einer Sphäre des Ästhetischen überhaupt erst hervorbringt, gefügt. Diese Trennung bleibt auch außerhalb traditioneller Institutionen wirksam. Sie bleibt auch entgegen den Bestrebungen und Selbstaussagen der modernen Tänzer und Theoretiker gültig, die, wie John Martin, das Tanzen mit dem Tanzen Sehen gleichsetzen wollen, um die Zuschauer wie bei einer Zeremonie selbst zu Tänzern zu machen. Mit Legendre können wir die Institution, der wir unsere Liebe schenken, verstehen als den Ort der Integration von Symbolischem und Imaginärem, als Ort, der unser Begehren des Anderen reinigt und damit legitimiert. Dieses Begehren wird in Kraft gesetzt und erhalten durch die Figur der Abwesenheit, die ein spielerisches Erproben der Grenzen der Institution und der symbolischen Ordnung der Kultur, die sie trägt, überhaupt erst ermöglicht, um sie anschließend zu bekräftigen. Der tanzende Körper versucht, am leeren Ort des Anderen, der Bühne, seinen Platz zu finden. Die verschiedenen modernistischen Positionen haben gezeigt, wie die Abwesenheit auf verschiedene Arten und Weisen ins Spiel kommen kann und wie sie unterschiedliche Körperbilder produziert. Der Rückbezug auf Konzepte der Natur, des Fremden oder des Todes dient vor dem Hintergrund unseres Arguments und entgegen der Selbstaussagen der Künstlerinnen nicht zur Auflösung des Gesetzes. Er dient zur Rückversicherung der symbolischen Ordnung, zu der sich die Künstler auf ihre eigene Art jeweils anders in Beziehung setzen wollen. Dazu bilden sie ein körperliches Imaginäres heraus, das dem der um die Jahrhundertwende etablierten Ordnung des klassischen geometrischen Balletts formal entgegensteht. Greifen die Modelle der Moderne dazu auf den abwesenden Körper des 193 | Claudia Jeschke hat im Zusammenhang mit Wigmans »Hexentanz« auf der Bewegungsebene eine ähnliche unerwartete Kontinuität zwischen dem Einsatz der Schwerkraft im klassischen Ballett und im modernen Ausdruckstanz festgestellt; Jeschke, Bewegungstext, op. cit., S. 178. 194 | Burt, Alien Bodies, op.cit., S. 179.

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170 | Abwesenheit Rituals zurück, lehnen zahlreiche zeitgenössische Versuche, um die es mir im Fortgang der Arbeit zu tun ist, auch diesen scheinbar wiedergeholten Körper ab. In den Arbeiten von William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy und Meg Stuart haben wir es demnach mit einer doppelten Abwesenheit zu tun: Abwesenheit des geometrischen Körpers und Abwesenheit des modernen Körpers, die beide dem Ideal eines ordentlichen und geformten Körpers folgen. Was sich aber durch diese doppelte Abwesenheit in Szene setzt, ist ein verändertes Verhältnis zur symbolischen Ordnung, das sich eines anderen Imaginären bedient. Mit der Abwertung des Tanzes als energetisch überhöhte und nach bestimmten Prinzipien gestaltete Form geht eine Aufwertung des (Seh-)Apparates der Bühne, in dem der Tänzer erscheint und sich präsentiert, einher. Die Rahmung der Bühne und damit die Trennung vom Zuschauer wird sichtbar gemacht und untersucht, ohne die Grenze dabei in der aktiven Partizipation der Zuschauer am Geschehen überspringen zu wollen. Bühne und Zuschauerraum, Tänzer und Nicht-Tänzer, wechseln die Seiten, ohne den jeweiligen Platz zu verlassen, den ihnen die kulturelle Ordnung zugewiesen hat. Diese Grenzen kann man ausloten; aufheben aber kann man sie nicht, ohne die Institution und damit den eigentlichen Ort abzuschaffen, von dem aus man überhaupt als Tänzer oder Choreograph und nicht als Sozialarbeiter oder Pädagoge sprechen kann. Von daher lebt die Kunst von der Abwesenheit, die sie um ihrer selbst Willen nicht in die reine Präsenz überführen darf. Jede Art der tänzerischen Äußerung bleibt entweder als Positiv oder als Negativ auf die Herausbildung einer Sphäre des Ästhetischen bezogen. Aus den beseelten Körpern der Tanzmoderne werden in dem von mir im Folgenden untersuchten zeitgenössischen Stücken in erster Linie soziale Körper, die den Tanz als performativen Akt, der gesellschaftliches Verhalten konstituiert, sichtbar machen wollen. Aus der Arbeit am Symbolischen mit dem Imaginären, die auf das abwesende Reale als Ort des Widerspruchs zielt und aus diesem hervorgeht, lässt sich im Anschluss an diesen diachronen Blick auf den modernen Tanz ein Analysemodell herauskristallisieren, das auf der synchronen Ebene arbeitet und das für die weiteren Betrachtungen einzelner Choreographen und Tänzer wie William Forsythe, Meg Stuart, Jérôme Bel und Xavier Le Roy bestimmend sein wird.

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IV Das Modell | 171

IV

Das Modell

Der Vorschlag, Tanzaufführungen und Tanzästhetiken vom Ort der ihnen eingeschriebenen strategischen Abwesenheit aus zu untersuchen, wirft die Frage nach einem Modell auf, welches Analyseebenen bereitstellt, auf denen Abwesenheiten überhaupt festgestellt werden können. Aus dem bisher Ausgeführten hat sich eine lockere Reihe von Kategorien wie Institution, Körper, Technik und der zuschauende Blick ergeben, die einer systematischeren Einordnung bedürfen. Erste Hinweise, wie ein solches Modell aussehen könnte, liefert Daniel Sibony in seinem Buch Le corps et sa danse. Sibony bestimmt darin das tänzerische Dispositiv als ein dreifach gegliedertes: C’est un triple opérateur où se repère l’événement Danse. Il comporte le Corps dansant – qui peut être un groupe; la Foule – le public, dehors ou dans une salle obscure, ou dans l’œil d’une caméra; la foule c’est tout ce qui est pris à témoin; l’instance Autre – là, oú le corps visible s’articule à l’être. L’Autre, c’est aussi bien le corps secret, réel et virtuel, qu’une instance »sacrée« quelconque.1

Zwischen tanzendem Körper, zuschauender Menge und dem Anderen als dem, der jedem Körper fehlt, als Ideal und sprachliches Gesetz, auf das sich jeder Körper bezieht, entspinnt sich eine Kommunikation. Deshalb ist der tanzende Körper, auch wenn er ein Solo tanzt, nie allein. Er tanzt vor und für ein Publikum, dem sein Tanz Freude bereitet und das ihn mit seinen Projektionen und Wünschen belegt. Im Gegenzug führt er das Publikum mit seinem tanzenden Körper, der imaginäre Körper produziert, mit hin zu jenem Anderen, den er mit seinem verführerischen Tanz beschwört. Im Tanz versucht der Körper, den Anderen von seinem Platz zu bewegen. »Le Corps dansant transmet cela à la Foule et se charge avec elle d’émouvoir 1 | Daniel Sibony, Le corps et sa danse, op. cit., S. 129.

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172 | Abwesenheit l’Autre, de l’atteindre. Inversement, en l’atteignant il touche la Foule, il l’émeut, il la séduit.«2 Sibonys Einteilung entspricht der Lacanschen Trias von Realem (der unmögliche Körper), Imaginärem (die Menge) und Symbolischem (der Andere). Der tanzende Körper erscheint darin als relationales Gebilde zwischen den drei psychischen Instanzen; er tanzt auf drei »supports pulsionnels«,3 die ihn als dreifachen artikulieren. Er produziert sowohl imaginäre Körperbilder, die seinen realen Körper als imaginären Körper überlagern und verstellen, als auch einen anderen, neuen symbolischen Körper, der als Versprechen des Tanzes am Horizont erscheint und zu dem die Zuschauer bewegt werden sollen. Analog dazu ist die Bewegung des Körpers nicht einfach Ausdruck seiner selbst, sondern nur im Zwischenraum zwischen den drei Kategorien zu verstehen, einem Raum, der, wie die Poetiken der Tanzmoderne gezeigt haben, von Abwesenheiten durchzogen ist. Dieser Raum ist zunächst zu verstehen als psychischer Raum des Subjekts, der sich zwischen den drei Registern etabliert und dem Subjekt einen individuellen Freiraum des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens eröffnet. Dieser psychische Raum findet seinen Platz auf der Bühne, wo er durch den spezifischen Einsatz der theatralen Mittel inszeniert wird. Die Trennung von Hören und Sehen, die die Signifikantenketten zueinander auf Distanz rückt und Abwesenheiten zwischen ihren Registern etabliert, ist hierfür ein Beispiel. Der Raum findet seinen Platz auf der Bühne dadurch aber auch in der Leere des Bühnenraums zwischen den Körpern, in ihren Hohlformen, die als Negativ ihrer Bewegungen und Körperbilder ausgehoben werden. In diesem ›Weiß‹ kündigen sich potentielle Körper an, die das rezipierende Subjekt mit seinem Imaginären füllen kann. Dieser ›negative Raum‹, wie ich ihn nennen möchte, ist der Raum des Subjekts auf der Bühne, wo es de facto körperlich abwesend ist. Das Subjekt spannt sich zwischen Zuschauerraum und Bühnenraum auf, sodass die Trennung von sehendem Subjekt und objektiv zu Betrachtendem aufgehoben wird. Der ›negative Raum‹ ist sowohl zu unterscheiden ist von der Architektur des Theatergebäudes als auch von der Gestaltung des spezifischen Bühnenbildes. Darüber hinaus ist er nicht zu verwechseln mit der Kinesphäre des Tänzers, die in der Definition von Rudolf von Laban an den aufrecht stehenden Tänzer und seine ausgestreckten Gliedmaßen gebunden bleibt.4 Die Kinesphäre als Umraum des Tänzers geht also vom intentionalen Subjekt aus. Der ›negative Raum‹ hat das Subjekt als Volumen immer schon umschlossen. Sibonys Dreieck soll im Folgenden als Grundlage beibehalten werden. Bei genauerer Betrachtung bedarf es allerdings einiger Erweiterungen, die 2 | Ibid., S. 131. 3 | Ibid., S. 132. 4 | Rudolf von Laban, Choreutik, Wilhelmshaven: Florian Noetzel, 1991, S. 28.

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das unter die drei Instanzen Subsumierte differenzieren können. So bleibt bei Sibony die Instanz des Anderen in abstrakter Weise reduziert auf den geheimen idealen Körper, der erreicht werden soll. Mit einzubeziehen wären hier sowohl die institutionellen wie auch die technischen Bedingungen, die den tanzenden Körper im Sinne Pierre Legendres dazu befähigen, symbolisch an unserer Stelle zu agieren. Ist die Institution Theater der Ort, an dem sich Imaginäres und Symbolisches treffen, haben dessen implizite Gesetzmäßigkeiten auch Rückwirkungen auf das Symbolische und Imaginäre, das in ihnen gezeigt wird. In Freuds anthropologischer Dimension der Abwesenheit, die sich im Fort-Da!-Spiel artikuliert, ist ein Ur-Modell von Tanz angelegt, das auf der Verschränkung von Bewegung und Blick im Bezug auf das werdende Subjekt basiert. Deshalb sollen die beiden Kategorien Bewegung und Blick auch auf allen drei Ebenen für das hier vorgeschlagene Modell der Tanzbetrachtung leitend sein.

1

Das Symbolische: Arbeit an der theatralen Repräsentation

Für Pierre Legendre ist die Zweiteilung in zumindest für die Dauer der Aufführung privilegierte Akteure und Zuschauer, denen etwas zu schauen gegeben wird, wie es die Etymologie des Wortes Theater will, für die abendländische Kultur konstitutiv. Auf diesem Dispositiv baut auch Daniel Sibonys Dreieck auf. Die symbolische Ordnung unserer Kultur kann Tanz als Kunstform nicht ohne diese Zweiteilung denken, die auf ein abwesendes Drittes zielt. Gleichzeitig werden die, die stellvertretend und in exponierter Stellung im doppelten Wortsinn für das Publikum tanzen, einer bestimmten Ausbildung unterworfen. Daraus ergeben sich zwei Untersuchungsebenen, die sich mit dem Charakter der theatralen Repräsentation als symbolischem Gesetz der Kultur auseinandersetzen.

1.1

Der Rahmen des Theaters: Bühnenkonventionen und visueller Apparat

In welcher Art und Weise setzen sich die Tänzer und Choreographen, die ich im Fortgang der Arbeit untersuchen will, in ihren Produktionen mit den historisch gewachsenen Gegebenheiten der Bühne auseinander? Um diese Frage zu beantworten, gebe ich zunächst einen historischen Abriss über das Verhältnis des im Theater konstruierten Subjekts und dem visuellen Apparat der Bühne, bevor ich es an zwei zeitgenössischen Beispielen zu erhellen suche. In Frankreich war die Entwicklung hin zu einer räumlich getrennten

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174 | Abwesenheit Zweiteilung in Bühne und Zuschauerraum in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen. Marian Hannah Winter hält in ihrer Studie über das vorromantische Ballett fest: »The appearance [des vorromantischen Balletts; d. Verf.], in the mid-17th century, was marked by a change in style induced by a separation of performers from the public on a raised stage framed by a proscenium arch; vertical movement was imposed henceforward.«5 Wenn auch die Vorläufer des romantischen Handlungsballetts nach wie vor vor allem »a Franco-Italian hybrid« gewesen waren, stellt Winter trotzdem fest, dass sie in viel stärkerem Maß als das Hofballett »in London, Stuttgart, Berlin and Vienna«6 gepflegt und entwickelt wurden. Die Neuerungen von sowohl Bühnen- als auch Tanztechnik sowie der Funktion des Balletts, Affekte zu malen, können daher als gesamteuropäisches Phänomen aufgefasst werden. Die Konstruktion des neuzeitlichen Subjekts ist unlösbar verknüpft mit der Herausbildung der Zentralperspektive in der Malerei. Das zentralperspektivische Bild und, folgt man der These von George Kernodle, davon ausgehend und abgeleitet die zentralperspektivische Bühne der Renaissance7, die sowohl malerische als auch architektonische Elemente enthielt, stellen eine symbolische Struktur dar, in der sich das neuzeitliche Subjekt artikulieren kann. Die zentralperspektivische Konstruktion stellt einen formalen Apparat bereit, innerhalb dessen objektiver Koordinaten das Subjekt überhaupt erst konstruiert wird und innerhalb dessen ihm Bedeutung beigemessen werden kann.8 »The formal apparatus put in place by the perspective paradigm is equivalent to that of a sentence, in that it assigns the subject a place within a previously established network that gives it meaning«.9 Obwohl die Zentralperspektive und, so können wir in unserem Kontext ergänzen, die Bewegung ihren Ursprung außerhalb der Sprache auf der Bildfläche hat, drängt sie doch zur Sprache. Gibt sie doch dem Subjekt die Möglichkeit, sich diskursiv zu verorten, um dadurch Beziehungen zu anderen 5 | Marian Hannah Winter, The Pre-Romantic Ballet, London: Pitman Publishing, 1974, S. 1. 6 | Loc.cit. Winter führt detailliert Querverbindungen von Tänzern, Tanzmeistern und Truppen an den europäischen Höfen auf. 7 | George R. Kernodle, From Art to Theater. Form and Convention in the Renaissance, London/Chicago: University of Chicago Press, 1964; vgl. auch Götz Pochat, Theater und bildende Kunst, Graz: Adeva, 1990, S. 278 ff. 8 | Hubert Damisch leitet aus dieser grundlegenden Operation des subjektiven Raumes die ungebrochene Wirkung und Nachhaltigkeit des zentralperspektivischen Paradigmas ab. Meine Darstellung ist im Folgenden weitgehend Damisch verpflichtet; Hubert Damisch, The Origin of Perspective, übers. von John Goodman, Cambridge, Mass./London: MIT Press, 1995. 9 | Ibid., S. 446.

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herausbilden zu können, und gleichzeitig über sich zu reflektieren. Der Punkt innerhalb der Bildkonstruktion, der das Subjekt ›sagt‹ ist der Augenoder Fluchtpunkt. Er stellt innerhalb des Bildes die Position des Subjekts dar, die analog zu Personalpronomen und Subjektpositionen eines Satzes das Subjekt zur Sprache und damit in eine mögliche reflexive Distanz zu sich selbst bringt. Wie ist dieses Subjekt der Zentralperspektive konstruiert? Am Ausgangspunkt des zentralperspektivischen Entwurfs steht für Damisch jenes Experiment, das der Maler, Bildhauer und Architekt Filippo Brunelleschi Anfang des Quattrocento in Florenz durchführte. Damisch stützt sich bei seiner Interpretation auf die Darstellung des Experiments in der Biografie Brunelleschis von Antonio Manetti, seinem Schüler. Demnach malte Brunelleschi auf einer kleinen Tafel eine perspektivische Darstellung des Baptisteriums San Giovanni, wie es sich für den Maler darstellt, der sich in der Tür der gegenüberliegenden Kirche Santa Maria dei Fiori platziert hat. Das Experiment sollte der Demonstration dienen, dass man den Platz, den der Maler beim Malen des perspektivischen Bildes eingenommen hatte, aus dem Bild heraus rekonstruieren können sollte, mithin aus einem Punkt im Bild, der auf ein Außerhalb seines Rahmens verweist und diesen doch konstituiert. Zu diesem Zweck bohrte er ein Loch in die Bildtafel und zwar genau an jenem Punkt im gemalten Baptisterium, der auf Augenhöhe mit jenem Blickpunkt des Malers liegt, mithin im Fluchtpunkt des Bildes. Um den Beweis zu führen, musste ein Auge auf der Rückseite der Bildtafel in dieses Loch gepresst werden, das die Funktion einer Linse einnahm. Mit der einen Hand hält der Betrachter also das Bild, mit der anderen Hand hält er einen Spiegel in einem genau festgelegten Abstand vor das Bild, sodass er durch die Linse das Spiegelbild des Gemäldes sieht. Stimmen die Abstände, scheint das Spiegelbild des Gemäldes das Baptisterium tatsächlich in die Stadtlandschaft zu projizieren. What Brunelleschi’s experiment demonstrates, in effect, is that the point we today call the »point of view« coincides, in terms of projection, with the one we call the »vanishing point«: both are situated at the intersection of the perpendicular sight line and the picture plane – this perpendicular itself corresponding to the height of the visual pyramid, or, as it was dubbed by the perspectors, the centric ray; the same ray that Alberti qualifies as the »prince of rays«, »the most active and strongest of all the rays«, and that pierces (in quelle luogo dove percotava l’occhio) the picture plane, as would the point of an arrow the center of a target, coming straight from the eye (al dirimpetto) to that spot in the image homologous to the point from which the spectator established at the designated place would perpendicularly »pierce« the real object.10

10 | Ibid., S. 120.

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176 | Abwesenheit Der Grund für diese Versuchanordnung ist die Demonstration, dass Blickpunkt und Fluchtpunkt homolog sind. Durch Rotation vermag sich der Blickpunkt auf dem Fluchtpunkt abzubilden. Die entstandene Linie entwirft ein Subjekt, das sich aus der Distanz heraus, hinter dem Bild stehend und doch in seine Apparatur integriert, selbst sieht, sich tatsächlich qua Spiegel reflektiert. Das Subjekt wird auf einen Punkt, eben jenes Loch und jene Linse, reduziert und vermag als solches als geschlossenes zu operieren. Es projiziert sich in den Fluchtpunkt, der gleichzeitig die Möglichkeit der Distanznahme eröffnet. Das Schema entspricht genau jenem, das Ménestrier für die Konstruktion der Theaterbühne angenommen hat: das der zwei Pyramiden, deren jeweilige Spitzen sich an Blick- und Fluchtpunkt befinden, während ihre Basis die Bühne ausmacht.11 Doch dieser Projektion ist bereits eine Verfehlung des Subjekts eingeschrieben. Daran lässt Damisch keinen Zweifel. Der Fluchtpunkt, der den Ort des Subjekts innerhalb der symbolischen Struktur darstellt, ist zugleich dessen blinder Fleck. Denn das Subjekt sieht ›sich‹ nicht. Das Spiegelstadium der Malerei bewirkt nämlich zum einen, dass sich das gespiegelte Bild als Wahrheit vor die Realität setzt. Das Bild des Baptisteriums verstellt das reale Baptisterium oder jene Gebäude und Plätze, an denen das Experiment durchgeführt wird. Es erscheint an Orten, wo es gar nicht ist oder sein kann. Zum anderen schiebt sich das Bild, das dem Auge zurückgespiegelt wird, vor den Körper des Subjekts. Was es sieht, ist einzig sein perspektivisch erfasster und erzeugter Blick, der im Fluchtpunkt auf es zurückkommt. Der sichere, objektiv im Apparat verankerte Ort des Subjekts ist daher nur als idealtypischer garantiert. Er kann nur sicher sein unter der Prämisse der Reduktion des Subjekts auf ein Auge, das in bestimmten Abstand zu dem Raum operiert, der es umschließt. Die Projektion eines solchen Bildraumes fungiert demnach als Imaginäres; der Apparat, der den subjektiven Raum ermöglicht, fungiert als Symbolisches, das mehr und mehr aus dem Blick gerät. Deshalb kann Damisch sagen: »While Brunelleschi’s machine also put the subject outside himself, this was not to give him relief but rather to treat him as a hollow, and as a negative.«12 Als Negativ seiner selbst, als Hohlform – wir erinnern uns an Georges Didi-Hubermans Formulierung der Höhlung des Objekts – kommt es aus dem Bild und von der Bühne auf das Subjekt zurück. Als solches muss es prospektiv gefüllt werden. Das abwesende, verstellte Subjekt im Bild wird für Damisch in dem Tafelbild Città Ideale, das in Urbino zu sehen ist, paradigmatisch in Szene gesetzt. Bezeichnenderweise fehlt auf jenem Bild jegliche Darstellung von Menschen. Das Bild stellt eine Stadt dar, in der das Subjekt als bildliche Re11 | Vgl. das Schema, das Damisch davon gibt; op. cit, S. 122. 12 | Damisch, op. cit. S. 137.

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präsentation nicht vorkommt, wohl aber sein begehrender Blick. Damisch deutet das Bild, das auch eine Theaterkulisse gewesen sein könnte, als Darstellung der Perspektive als Perspektive, die, um erscheinen zu können, Architektur braucht. Die Häuser des Bildes dienen demnach dazu, das als solches Nichtdarstellbare, die Perspektive in Reinform, zum Erscheinen zu bringen. Die gespenstische Leere des Bildes, das ist die Perspektive. Sie blickt uns an und zieht uns ins Bild, wo wir umherlaufen müssen, um unseren Ort zu suchen. Als Perspektive dient das Bild als Falle des Subjekts, als Blickfang, in dem es sich verliert. Die Perspektive und ihr symbolischer Apparat eröffnen eine theatrale Szene des Subjekts.13 Dieses Öffnen und Infragestellen des Subjekts, das Brunelleschis Experiment durch die Homologie von Blick- und Fluchtpunkt möglich macht und die es dem Subjekt erlaubt, seinen Platz in der Ordnung der Dinge zu kennen, gerät schon im 17. Jahrhundert aus der Balance. Damisch betont in einer Relektüre von Michel Foucaults berühmter Interpretation von Velázquez’ Las Meniñas den doppelten Fluchtpunkt und die gespaltene Perspektive des Bildes.14 Neben einem geometralen Fluchtpunkt, der in der hinteren Tür liegt, gibt es einen zweiten, einen imaginären Fluchtpunkt, der im Spiegel liegt, der das Königspaar vor dem Gemälde ins Bild rückt. Zwischen diesen beiden Punkten verliert sich das Subjekt in der Bewegung, die ausgelöst wird, weil es seinen Ort nicht mehr sicher weiß und ihn suchen muss. Diese Szene hat Implikationen für das Theater, die über das hinausgehen, was Damisch in seiner Studie vorschlägt. In Brunelleschis Experiment befindet sich das Subjekt Auge in Auge mit sich selbst im Zentrum des symbolischen Raumes, den das Bild eröffnet und der das Subjekt umfasst. Das auf eine Linse oder Pupille reduzierte Subjekt befindet sich damit im Mittelpunkt der Ordnung der Dinge. Verrückt der Blick und rückt damit das Subjekt von seinem als objektiv gegeben verstandenen Platz ab, öffnet sich einerseits die Vorstellung eines Unendlichen als Horizont, den das Subjekt nicht mehr einfangen kann. Befand das Unendliche sich in der Renaissance hinter dem Kopf des gottähnlichen Subjekts abgeschirmt, öffnet sich nun ein Horizont, der nicht mehr besetzt ist, sondern aktiv und immer wieder neu besetzt werden muss.15 13 | Ibid., S. 169 ff. 14 | Ibid., S. 429. 15 | Auf die eng damit zusammenhängenden Konzeptionen von Kapitalismus und Kolonialismus ist Martin Jay näher eingegangen; Martin Jay, Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth-Century Thought, Berkeley: University of California Press, 1993. Die Implikationen für die Gender-Frage hat Rebecca Schneider dargelegt; Rebecca Schneider, The Explicit Body in Performance, London/New York: Routledge, 1997. Auf die Abkehr von der Vorstellung des Betrachters als einem entkörperlichten Auge im Tanz habe ich hingewiesen in: Gerald Siegmund, »Tanz im Blick: Die Wie-

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178 | Abwesenheit Dem entspricht Damischs Beobachtung, dass Sebastiano Serlio in seinem Entwurf einer räumlichen Perspektivbühne auf den Unterschied zwischen der korrekten Konstruktion der Zentralperspektive im Bild und im Theater hinweist. Freilich ist jene Form der Perspektive, von der ich jetzt reden werde, anders als die Regeln, die zuvor zur Sprache kamen, da man sich jene auf die flache Mauer projiziert vorstellen muß, während diese [Perspektive im Theater; d. Verf.] leibhaftig & plastisch verwirklicht wird – so tut man gut daran, sich den Unterschied zu merken.16

In seinem Traktat Trattato sopra la scene, das dem zweiten Buch Secondo libro di prospettiva (Paris, 1545) beigefügt ist, zeigt er ein Theater in der Seitenansicht, wie er es in kleinerem Maßstab 1539 im Palazzo Cornaro in Vicenza gebaut hatte. Aus seinen Beschreibungen lässt sich entnehmen, dass er, durch die Architektur bedingt, von zwei unterschiedlichen Fluchtpunkten im Theater ausgeht. Der eine entspricht der akkuraten Perspektivkonstruktion, die sich auf dem abschließenden Prospekt korrekt verjüngt. Der andere liegt jedoch hinter der Rückwand des Theaters und wird durch die architektonischen Elemente der Bühnenkonstruktion notwendig.17 Diese beziehen sich zwar auf den ersten Fluchtpunkt, lassen sich jedoch nicht in ihm abschließen. Der erste Fluchtpunkt im Theater verdeckt damit den imaginären zweiten außerhalb des Theaters. Die Schwierigkeit, den Ort zu finden, von dem aus das Subjekt angeblickt und zum Subjekt wird, erzeugt einen ganz und gar immanenten Raum des Imaginären, wie ihn Jonathan Crary anhand der Camera obscura und Ulrike Haß in bezug auf die Barockbühne gesehen haben. Mit der 1672 von Ludwig XIV. gegründeten Académie royale de musique, in der die 1661 gegründete Académie royale de danse aufging, entstand die Institution der Oper, die ihr Monopol für Musiktheater- und Ballettaufführungen bis 1856 behalten sollte. Aufführungen fanden im Palais Royal statt, derentdeckung des verkörperten Zuschauers«, in: Christopher Balme/Erika FischerLichte/Stephan Grätzel (Hg.), Theater als Paradigma der Moderne?, Tübingen/Basel: Francke, 2003, S. 417-428. 16 | Zitiert nach Pochat, op. cit., S. 310. Pochat spielt im Fortgang seiner Argumentation den Unterschied, den Serlio macht, herunter, indem er darauf verweist, dass Serlio auch Beispiele aus dem Bereich der Bühne anbringt, wenn er die Perspektive erläutern will. 17 | Damisch, op. cit., S. 392. Im Gegensatz zu Pochat besteht Damisch auf dem Unterschied. »If Serlio now says, one takes the point O to be the horizon, the line going from L to O will intersect plane P at a point that will serve in turn as its horizon; which we should take to mean that it will serve as the vanishing point of the planar perspective on the backdrop but not for the scenic apparatus itself.«

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das 1673 nach dem Tod Molières an Lullys Oper überging. In London erhielt das Queen’s Theatre im Haymarket 1708 das Monopol für Opern- und Ballettaufführungen. Mit den Veränderungen hin zu einer erhöhten Bühne geht auch ein Wandel in der Funktion des Betrachters einher. Jonathan Crary hat den Betrachtertyp des 17. und 18. Jahrhunderts aus wissenschaftstheoretischer Sicht als körperloses Auge beschrieben, das eine als objektiv gedachte Wirklichkeit passiv aufnimmt.18 Das Modell der Sehsituation ist die Camera obscura, die die Beziehung von Betrachter und Welt definiert. Der Betrachter nimmt im dunklen Innenraum der Apparatur Platz und beobachtet, mit dem Rücken zum Lichtloch sitzend, die Bilder, die durch ein Prisma auf die gegenüberliegende Wand fallen. Er befindet sich also in einem Raum, der für ihn kein Außen mehr hat und der seinen Bezug zur Welt als indirekten, dissoziierten beschreibt. Ulrike Haß hat die Barockbühne daher als »Innen ohne Außen« charakterisiert, in dem durch Spiel mit dem Licht Bilder entstehen, die der Betrachter jenseits der Rampe aufnimmt.19 Die Dinge werden nicht mehr, wie noch in der Renaissance, draußen an ihrem Ort gesehen, wo sie das Auge in der zentralperspektivischen Konstruktion als Bild erfasst, sondern auf der Rückwand des sehenden Auges selbst, als Repräsentation. In dieser Umkehrung der Blickrichtung wird der Betrachter selbst ins Bild gesetzt, wo er gesehen werden kann. In grober Analogie zu Descartes Sehtheorie La Dioptrique (1637) wird die Bühne als geometrische Sehapparatur konzipiert, die die Fläche des Proszeniums als leere Fläche denkt, auf der durch Einsatz von dahinter liegendem Licht Bilder erzeugt werden, die sich auf der Netzhaut des Betrachters davor niederschlagen.20 Der Betrachter ist zwar im Bild, kommt aber als Subjekt nicht vor. Er wird reduziert auf eine mechanische Funktion der Aufzeichnung von Netzhautbildern im Auge. Das privilegierte Auge ist das des Königs, der das perspektivisch korrekte Bild empfängt. Alle anderen Blicke richten sich paradigmatisch auf ihn, und werden von dort aus ihrerseits gesehen. Die bildschirmähnliche Proszeniumsfläche, deren Teil das Auge ist, wird »als flä18 | Jonathan Crary, Techniken des Betrachters, übers. von Anne Vonderstein, Dresden/Basel: Verlag der Kunst, 1996, S. 48-50. 19 | Ulrike Haß, »Netzhautbild und Bühnenform. Zur Medialität der barocken Bühne«, in: Martina Leeker (Hg.), Maschine, Medien, Performances: Theater an der Schnittstelle zu den digitalen Medien, Berlin: Alexander Verlag, 2001, S. 526-541. Haß verweist jedoch darauf, dass die barocke Bühne im Gegensatz zur Camera obscura nicht einmal mehr über ein Lichtloch als Verbindung zur Außenwelt verfügt, sondern deren Realität allein als Spiel mit Lichtprojektionen zu repräsentieren vermag, S. 533. 20 | Vgl. auch Crarys Diskussion von Descartes, bei dem der Betrachter in den »formalen Apparat objektiver Repräsentation eingefügt wird«; S. 57.

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180 | Abwesenheit chige Ansicht definiert, […] die alles, was auf ihr zur Darstellung gebracht wird, in ein Verhältnis zur Bildlichkeit zwingt. Die Bühne gleicht in diesem historischen Moment einem toten Auge, dessen Netzhaut repräsentiert, was sich auf ihr mit Hilfe des Lichts ›abmalt’«.21 Garantierte das Loch im Bild, das in de Renaissance direkt an das Auge angeschlossen war, den Zugang zu einem Außen, ist dieser nun verstellt zugunsten einer Suchbewegung des Subjekts mit dem Rücken zum Loch der Camera obscura. Die Lösung der Barockbühne für dieses Problem lag darin, den Fürsten auf den Platz des Königsstrahls zu setzen, um die drohende Spaltung des Subjekts in ein imaginäres, symbolisches und ein ganz und gar abgeschirmtes reales Subjekt zu verhindern. Das Phantasma eines ungespaltenen Subjekts wird auf den Fürsten projiziert, der durch seinen Platz im Theater die Spaltung repräsentiert und aufhebt. Die erste Verwendung eines zentralperspektivischen Prospekts auf einer Bühne, vor dessen Bild die Schauspieler agierten, fand 1508 am Hof von Ferrara statt und versetzte das damalige Publikum in Erstaunen.22 In Palladios Teatro Olimpico in Vicenza (1580-1585) wurde die bis dahin geschlossene Bildwand vorsichtig durch sieben Gassen, die in die Tiefe des als Holz modellierten Raumes hineinragten, aufgebrochen. Wenig später öffneten Scamozzi in Sabbioneta (1588/89) und Aleotti im Teatro Farnese in Parma (1617, eingeweiht 1628) die Bildwand und führten die perspektivisch gestaffelte Kulissenbühne ein. Der Grund für den relativ späten Einsatz der Perspektive im Theater (ca. 200 Jahre nach ihrer Entwicklung durch u.a. Brunelleschi), der seinen Höhepunkt im Absolutismus hatte, aber bis weit ins 20. Jahrhundert weiterbestand, liegt nach Damisch darin, dass der absolutistische Diskurs erst spät die Vorzüge dieses Modells zur Sicherung fürstlicher Macht erkannte.23 Er liegt sicher auch darin, dass das Theater das privilegierte Medium zur Behebung der Probleme war, die die Zentralperspektive dem Subjekt eröffnet hatte. Im Theater mit dem Körper des Fürsten als Zentrum ließ sich jene Lücke, jener horror vacui, symbolisch am Augenfälligsten korrigieren und jedem Subjekt mit Blick auf die zentrale Achse erneut einen sicheren Platz zuweisen. Es ist diese Bildbühne, in die sich, wie Claudia Jeschke gezeigt hat, schon mit Ménestriers Schriften 1658 und 1682 beginnend, der Tänzer als Ausdruckssubjekt zu platzieren beginnt, ein Tänzer, der mit Noverres Briefen über die Tanzkunst 1760 zu Prominenz gelangen soll. Claude-François Ménestrier nimmt in seiner Schrift Des Ballets anciens et modernes selon les 21 | Haß, op. cit., S. 538. 22 | Christopher Balme, »Stages of Vision. Bild, Körper und Medium im Theater«, in: Hans Belting/Dietmar Kamper/Martin Schulz (Hg.), Quel corps?, München: Fink, 2002, S. 349-364. 23 | Damisch, op. cit. S. 397.

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regles du theatre im Abschnitt über den Theaterapparat, »l’appareil«, explizit Bezug auf die Perspektivbühne von Vitruv. Der Apparat, der für die theatrale Rahmung des Tanzes verantwortlich ist, besteht für Ménestrier aus drei Dingen: »aux décorations de la scene, aux habits des personnages, & aux machines«.24 Solange diese drei Aspekte vorhanden sind, können auch außerhalb fester Theaterhäuser, so zum Beispiel im Garten der Tuillerien, Ballette aufgeführt werden.25 Die Gestaltung der Bühne folgt dabei der Perspektivkonstruktion der Vitruvschen Sehpyramide, deren Spitze im Auge des Betrachters liegt und die alle Sehstrahlen, die vom betrachteten Objekt ausgehen, bündelt. Doch Ménestrier fügt dieser optischen Figur eine zweite Sehpyramide hinzu, die der ersten entgegensteht. Die Basis des zweiten Dreiecks deckt sich mit der Grundlinie des ersten Dreiecks. Beide kommen auf der Proszeniumsfläche zum Liegen, während die Spitze des zweiten Dreiecks den Fluchtpunkt im Hintergrund der Bühne markiert, der nötig ist, um dem Auge des Zuschauers eine natürliche Anordnung der Dinge vorzutäuschen. »Car comme normalement nous voyons les objets par des rayons qui forment des Pyramides, dont la pointe vient aboutir dans la retine, c’est par des Pyramides opposées, que nous trompons la vûë en faisant prendre aux objets d’autres apparences de situations, que celles qu’ils ont naturellement.«26 Sind die Dinge zwar falsch dargestellt, erscheinen sie auf der Bildfläche des Proszeniums jedoch als richtig. Sind die Bilder zwar lediglich Schimären, treffen sie dennoch auf die Netzhaut des Betrachters als Repräsentation der Dinge. Die Konstruktion des Betrachters als körperloses Auge wird sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Entdeckung des Netzhautbildes verändern. Damit einher geht eine Auflösung des zentralperspektivischen Sehens – auch auf der Ballettbühne. Im 20. Jahrhundert schließlich, mit Adolphe Appias and Emile Jacques Dalcrozes rhythmisch durch Treppen und komplexen Lichteinsatz gegliedertem Bühnenraum im Festspielhaus DresdenHellerau 1912, mit Max Reinhardts Welttheater, mit Richard Schechners »environmental theatre« Ende der 1960er Jahre, Ariane Mnouschkines und Peter Steins modulierten Räumen in der Pariser Cartoucherie und der Berliner Schaubühne, löst sich die Geometrie weiter auf. Doch inwieweit ist dieses Ideal der Bildbühne in den heutigen Theatersälen, die in ihrer Grundanlage nach wie vor einer Zweiteilung mit Rahmung folgen, tatsächlich gebrochen? Wie setzen sich vor diesem hier skizzierten Hintergrund Tänzer und Choreographen mit dem Theaterraum, der sie zum subjektiv erfassten oder objektiv gerahmten Bild macht, auseinander? Der zentrale 24 | Ménestrier, Des Ballets anciens et modernes, op. cit., S. 212. 25 | Ménestrier nennt diese tragbaren Theater »théâtre portatif«; Ménestrier, op. cit., S. 212. 26 | Ibid., S. 217.

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182 | Abwesenheit Punkt ist hierbei die Auseinandersetzung mit dem Bild. Entsteht das neuzeitliche Subjekt zwar auch im Theater, wie gezeigt wurde, im Bild und als Bild, geht es in der imaginären Funktion jedoch nie auf. Die Bildmaschinerie des Theaters steht demnach im Widerstreit mit seiner symbolischen Funktion der, wie Hans-Thies Lehman einmal formuliert hat, »Anprache«. Sie ist das, was am und im Theater nicht dargestellt und zum Bild gerahmt werden kann, sondern was Relation zwischen Akteuren und Zuschauern bleibt, was sich als deren nuancenreiches Zwischen der Darstellbarkeit entzieht. Die Bilder entziehen sich und verweisen in ihrem Entzug auf die symbolische Funktion des Theaters, mithin auf ihren Rahmen. In diesem Zwischen finden Übertragungen, Projektionen und ein Austausch von Zeichen statt, die zwar alle mit Wahrnehmungs- und Vorstellungsbildern arbeiten, jedoch nicht auf diese zu reduzieren sind. 27 Was nach wie vor trotz der Auflösung der Bildvorstellung als zweidimensionaler Fläche, auf der sich etwas abzeichnet und etwas dargestellt wird, was diese Fläche bearbeitet,28 allerdings ungebrochen ist, ist das Versprechen des Bildes, dem betrachtenden Subjekt einen Ort zuzuschreiben. Daran möchte ich anknüpfen, auch wenn sich die räumliche Perspektivbühne im 20. Jahrhundert weitgehend aufgelöst hat. Die mit ihr in der Renaissance entwickelte Frage nach dem Platz des Subjekts bleibt weiterhin wirksam. In Anlehnung an Pierre Legendres Gesetz ist sie jener Apparat, der es dem Subjekt erlaubt, sein Begehren in der symbolischen Ordnung zu lokalisieren.

1.2

Die Tanztechnik als Regelung des Zugangs zur Bühne

Wenn, wie Pierre Legendre argumentiert, das Gesetz die Herausbildung eines zweiten Körpers verlangt, der das Subjekt dazu ermächtigt, für uns und vor uns zu tanzen, stellt sich auf der Ebene des Symbolischen die Frage nach der Tanztechnik. Wer darf tanzen? Wer kontrolliert die Befolgung der Regeln, und welche Rollen spielen dabei Choreograph und Tänzer? Mit der Etablierung der Bühne als tiefenperspektivisch gestaffeltem Bildraum geht ein Moment der Kontrolle der Körper einher, das aufs Engste mit der absolutistischen Herrschaft Ludwig XIV. verknüpft ist. Nach Beendigung der Regentschaft und mit Antritt seiner personalen Macht 1661 brachte Ludwig XIV. im Parlament die Patente für die Académie royale de danse in Paris ein, die schließlich am 30. August 1662 verabschiedet wurden. Die Akademie, 27 | Hans-Thies Lehmann, »TheaterGeister/MedienBilder«, in: Sigrid Schade/ Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München: Fink, 1999, S. 137-145, hier: S. 138. 28 | Gottfried Boehm bezeichnet diese Doppelung als »ikonische Differenz«, ohne die wir nicht von einem Bild sprechen können; Boehm, op. cit., S. 29-36.

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nach dem Vorbild der Académie royale de peinture & sculpture eingerichtet, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, dem durch Wildwuchs eingetretenen Verfall der Tanzkunst in Frankreich Einhalt zu gebieten. Jeder, der in Paris und den Vororten tanzen oder als Tanzmeister arbeiten wollte, musste sich von der Akademie registrieren lassen. Darüber hinaus mussten die Akademie und ihre dreizehn Mitglieder, les Anciens, jede Choreographie begutachten, bevor sie zur Aufführung kommen durfte. Choreographie wurde demnach explizit als Vorschrift verstanden, die unabhängig von einer getanzten Praxis vorab als notierte Schrift am Schreibtisch entstand.29 Choreographie übernahm die Funktion einer Sprache, nach der sich die tanzenden Körper auszurichten und in deren Ordnung sie sich einzufügen hatten. Die Sprache der Choreographie war überindividuell, weil körperlos. Erst wenn die Körper es gelernt hatten, diese Sprache zu sprechen, konnte ihr Anschluss an das Ideal des Staates erfolgen. Doch diese vermeintliche Qualitätskontrolle durch die Pädagogik des Körpers, die die Vorherrschaft der Gilden brechen sollte, wird bereits im Vorwort der Lettres patentes mit den Religionskriegen und der Fronde, den Aufständen adeliger Kreise gegen die absolutistische Herrschaft zwischen 1640 und 1653, in Verbindung gebracht. Es waren »les desordes & la confusion des dernieres guerres«,30 die den Verfall der Tanzkunst in burlesken und satirischen Balletten, die sich nicht selten gegen den absolutistischen Staat richteten, herbeiführten.31 Mit der Unterbindung derartiger vom Hof unabhängiger Ballette wird der Tanz als Instrument der Staatsräson betrachtet. Durch die königliche Kontrolle über das Ballett wird auch die Kontrolle des Herrschers über den Staat und die Fürsten wiedererlangt. Das Ballett ist nicht mehr nur Vorstellung einer idealen Ordnung wie noch im Hofballett. Es ästhetisiert die Ideologie des Absolutismus, weil es keiner Interpretation mehr bedarf, sondern per se, als reiner Tanz, vorgibt, die Ordnung selbst zu sein. Um diese zu garantieren, muss eine Pädagogik eingeführt werden, die den Körper zum universellen Instrument für Krieg und Frieden macht. Die Akademie begründete mit ihrem 1663 veröffentlichen akademischen Diskurs den Tanz als von der Musik unabhängige Kunstform, jedoch nicht, wie Mark Franko betont, im Sinne einer Herauslösung des Balletts aus Opern und Schauspielen, sondern bezeichnenderweise im Sinne einer pädagogischen Eigenständigkeit. »The technical standardization of Western theatri29 | Vgl. dazu: Laurenti, »Feuillet’s Thinking«, op. cit. 30 | »Lettres patentes du roy, pour l’etablissement de l’Academie royale de danse en la ville de Paris. Verifiées en Parlement le 30 mars 1662« ; abgedruckt in: Mark Franko, Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body, Cambridge: Cambridge University Press, 1993, S. 166-185, hier: S. 166. 31 | Franko, op. cit., S. 63-107.

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184 | Abwesenheit cal dancing was a consequence of the ideological struggle of court ballet history.«32 Tanz braucht eine körperbezogene Ausbildung, die nicht von Musikern und Violinenspielern, gegen die sich der Discours richtet, übernommen werden kann. Il ne peut pas aussi desavoüer qu’il ne soit absolument inutile à ceux qui aprennent à Danser, qui ne sçauroint suivre la cadance du Violin sans avoir auparavant appris à faire les pas, à porter leur corps & à former les figures necessaires.33

Die Ausrichtung der Bewegung auf die Musik erfolgt erst, nachdem die zukünftigen Tänzer ihren Körper zu beherrschen und im Sinne der Regeln einzusetzen gelernt haben. Im elften Paragraphen der Satzung wird festgelegt, dass die Akademie nach den Regeln ausgebildete Tänzer für die vom Hof ausgerichteten Spektakel zur Verfügung stellt: »lesdits Anciens sont tenus de luy en fournir incessament d’entre eux ou autres tel nombre qu’il plaira à sa Majesté d’ordonner«.34 Die Tänzer übereignen also dem König und mit ihm dem Staat ihre Körper. Durch die angestrebte Pädagogik werden ihre Körper geschult, geformt und zum Instrument der Machtentfaltung. Dadurch werden sie wieder in die Lage versetzt, ihre Waffen zu beherrschen, um dem König in Zeiten des Krieges für die Armee zur Verfügung zu stehen und in Zeiten des Friedens als Tänzer in seinen Balletten aufzutreten.35 Als vom Kopf ausgehend neu zusammengefügte Körper machen sie an Stelle des Publikums die ideale Ordnung evident. 1674 erhielt Pierre Beauchamps vom König die Aufgabe, ein Notationssystem für die Tanzschritte zu entwickeln. Es wurde schließlich 1700 von Raoul Auger Feuillet unter dem Titel Chorégraphie ou l’Art de Décrire la Danse par charactères, figures et signes démonstratifs veröffentlicht.36 »Feuillet’s vocabulary was that of the classic ballet, based on the five positions as defined by Pierre Beauchamps. Although some of the terms no longer have the same movement implications, the evolution is generally apparent. Only two of the eleven types of steps he names are no longer current usage«, schreibt Marian Hannah Winter und verweist damit auf die Kontinuität zwischen den Systematisierungen der Akademie und der heutigen Ballett32 | Franko, op. cit., S. 110. 33 | Lettres patentes, op. cit., S. 174. 34 | Ibid., S. 170. 35 | »[…] qui ont l’honneur de nous approcher, non seulement en temps de guerre dans nos armées, mais mesme en temps de paix dans le divertisssement de nos Ballets« ; ibid., S. 166. 36 | Raoul Auger Feuillet, Chorégraphie ou l’Art de Décrire la Danse par charactères, figures et signes démonstratifs, Nachdruck der Ausgabe Paris 1700, Hildesheim: Olms, 1979.

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Technik.37 Trotz Verbesserungen und Erweiterungen, darunter Pierre Rameaus Abbregé de la nouvelle Methode dans l’Art d’Ecrie ou de Tracer toutes sortes de Danses de Ville (1725) und Carlo Blasis’ Traité elementaire, thérorique et pratique de l’art de la danse (1820), bleiben die Vorgaben Beauchamps’ und Feuillets für den klassischen Bühnentanz gültig. Schon 1706 übersetzte John Weaver Feuillets System unter dem Titel Orchesography ins Englische. 1717 erfolgte ein deutsche Übersetzung durch Gottfried Taubert, Der rechtschaffende Tanzmeister, ein Beleg dafür, das Feuillets System eine Ausweitung über ganz Europa erfuhr. Die Tanztechnik erweist sich historisch als der symbolischen Ordnung einer Gesellschaft zugehörig, die Zugang zu jenem Anderen, dem fehlenden Ideal eines jeden Körpers, ermöglichen soll. Im Moment ihrer Etablierung durch die Akademie schließt sie Ludwig XIV. direkt an seinen absolutistischen Staatsapparat an, der sich an die Stelle jenes abwesenden Anderen setzt, um sich in der Ordnung des Balletts zu verwirklichen. Auch jenseits dieser konkreten historischen Situation bleibt die Technik stets auf ein Ideal gerichtet, etwa die Schönheit, Anmut und Schwerelosigkeit, zu dem sie durch ihre Pädagogik privilegierten Zugang ermöglicht. Sie wird damit auch zum Fetisch einer puren Präsenz, der die ihm zugrundeliegende Abwesenheit leugnet. Die Auseinandersetzung mit der Tanzaufführung auf der Ebene des Symbolischen bezieht sich auf jenen Ort, an dem die Bewegung Sprache, mithin Choreographie, wird. Sie beschäftigt sich mit dem Apparat des Theaters und seinen Gesetzen ebenso wie mit der Tanztechnik, die den Zugang zur Bühne regelt. Diese Auseinandersetzung mit dem Rahmen, der Tanz als Bühnentanz hervorbringt, geht in vielen Tanzaufführungen der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts nicht selten einher mit der Abwesenheit von Tanz als energetisch geprägter und leiblicher Erfahrung.38 Die Choreographie im Raum, die Choreographie des Raumes selbst und der Zuschauer im Raum gewinnen die Oberhand über dem Tanz, was als Zeichen für die Befragung der symbolischen Ebene, also der gesellschaftlichen Funktion, des Tanzes zu verstehen ist. Der Tanz, nicht aber die Bewegung oder die Möglichkeit einer Erfahrung mit der Bewegung, tritt in dem Moment in den Hintergrund, in dem der Rahmen in den Blick rückt. Diese Befragung der Funktion des Tanzes geht, wie schon in der Moderne, einher mit einer Befragung der rituellen Funktion des Tanzes und des Gewaltpotentials, das diese birgt. Doch erscheint die Funktion des Ritus’ vielfacher gebrochener 37 | Winter, The Pre-Romantic Ballet, op. cit., S. 4. 38 | Katja Schneider hat diese Debatte zusammenfassend umrissen in: Katja Schneider, »Das Verschwinden des Tanzes aus der Choreographie?«, in: Frieder Reininghaus/Katja Schneider (Hg.), Experimentelles Musik- und Tanztheater, Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert Band 7, Laaber: Laaber Verlag, 2004, S. 363-366.

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186 | Abwesenheit als noch in der Moderne. Suchte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Abwesende des klassischen Balletts in den symbolischen Text zu re-integrieren, erscheint er zu Beginn des 21. Jahrhunderts vielfach selbst von Abwesenheiten durchzogen zu sein, die das Präsenzversprechen des Ritus analytisch auflösen.

1.3

Thomas Plischke/B.D.C.: Events for Television (again): Choreographie statt Tanz

Vier adrett in Anzug und Krawatte gekleidete Herren und zwei elegante Damen, die eine in einem kurzärmeligen Kleid, die andere mit weißer Bluse und dunklen Hosen, begrüßen die Zuschauer einzeln im Foyer des Theaters mit einem Händedruck. In der linken Hand tragen sie einen Koffer mit sich herum, als seien sie lediglich Durchreisende an diesem Ort, die uns aus ihren Musterkoffern etwas zeigen wollen, bevor sie wieder aufbrechen. Die Koffer enthalten, wie sich später zeigen wird, ihr ganzes Hab und Gut: Kleidungsstücke und verschiedene Requisiten, Videobänder, kleine Puppen oder Briefe, die sie am Ende der Performance in ihre halbtransparenten Strumpfhosen stecken werden. Als wüchsen ihnen plötzlich Geschwüre, die jeden Moment aufzubrechen drohen, verformen die Dinge ihre Körper. Sie beulen sie aus wie Erinnerungen, die diese Körper geprägt und geformt haben, Erinnerungen, die nun, da der Tanz geendet hat, plötzlich sichtbar werden. Vorsichtig gehen sie mitten durch die versprengt stehenden Zuschauer hindurch und gewähren jedem, der sich nahe genug befindet, in einem beinahe schon intimen Akt Einblicke unter ihre zweite Haut. Dass die Strumpfhosen dabei an weiße Ballett-Trikots erinnern, ist sicher kein Zufall. Die glatte, wohlgeformte Linie der Beine, die der Ballett-Körper aufzuweisen hat, wird hier durchbrochen mit Privatem, das sich der strengen Linienführung im Wortsinn nicht unterordnen will. Dem entspricht die Anordnung des Theaterraums. Nachdem die Zuschauer zu Beginn freundlich begrüßt wurden, werden sie von den sechs Tänzern in den Theaterraum geführt. Doch dort befinden sich keine Stühle. Im Frankfurter Mousonturm, wo Events for Television (again) in seiner 90minütigen, abendfüllenden Version am 11. September 1999 uraufgeführt wurde, blieb lediglich die leere ansteigende Tribüne übrig, die der ebenso leeren Bühne gegenüber stand.39 In späteren Aufführungen, so z.B. in den Sophiensälen in Wien, war der Raum ungeteilt. Eine Bühnensituation stellte sich lediglich aus der jeweiligen Spielsituation ein. Thomas Plischke, Absolvent der Brüsseler P.A.R.T.S.-Schule für Tänzer und Choreographen von 39 | Ich habe das Stück u.a. in Frankfurt und in Wien mehrmals gesehen. Den Betrachtungen liegt außerdem ein Videomitschnitt der Frankfurter Uraufführung vom 11. September 1999 zugrunde.

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Anne Teresa de Keersmaeker, hat das Stück zusammen mit seinem damaligen Kollektiv B.D.C, zu dem auch Martin Nachbar und Alice Chauchat gehörten, entwickelt. Ergänzt werden die drei bei Events durch die Tänzer Erna Omarsdottir, Hendrik Laevens und J.B. Bonillo. Das Stück folgt einer kontinuierlichen Bewegung bis hinauf auf die Bühne, auf der sich das Publikum am Ende einfindet, während die sechs Tänzer unten im Zuschauerraum zu ihm hochschauen und ihren Applaus entgegennehmen. Bis dahin verteilt sich das Publikum nach freien Stücken im Raum und darf sich auch auf die Bühne begeben, während dort oben gespielt wird. Events for Television (again) untergräbt zunächst also die traditionelle Zweiteilung von Performer und Zuschauer. Niemand bekommt einen festen Platz zugewiesen, niemandem wird eine Blickrichtung vorgegeben. Vielmehr besteht die Aufführung aus einer Vielzahl von Perspektiven auf die simultan im Raum ablaufenden Szenen, die einander ausschließen. Die Hierarchisierung und Bündelung des Blicks wird unmöglich gemacht. Das Subjekt, das sich am Ende der Bühne selbst betrachtet, weil sein Blick den Raum umschließt, wird zum Teil der Aufführung in dem Sinn, dass es seine transzendentale Position verlassen muss und sich ins Bild hineinbegeben muss. Der Rahmen des Apparats stülpt sich um und wird so selbst Teil des Dargestellten. Dadurch büßt dieses aber auch seine Sicherheit als Dargestelltes ein. In jenem Moment elidiert der Rahmen die Tanzbewegung zugunsten alltäglicher Verrichtungen, deren Status als Fiktion, als Dargestelltes, stets infrage gestellt wird. Denn was heißt Darstellen in dem Moment, in dem sich eine Tänzerin unmittelbar neben mir umzieht und ein Tänzer mir nachläuft? Es sind Aktionen und Bewegungen, die jeder ausführen kann. Ohne Tanztechnik wird aber auch die Stellvertreterstellung der Tänzer, die für mich tanzen, aufgehoben, weil ich es tatsächlich bin, der sich hier bewegt. Der choreographierte Raum, dessen Dimensionen uns während der Aufführung uneinsehbar geblieben sind, verstellt uns unseren Ort. Wir können während der Aufführung nicht sicher sein, wie sich der Rahmen ziehen und schließen wird. Erst am Ende dürfen wir uns dort hinstellen, wo wir uns normalerweise als andere nur hineinprojizieren: auf die andere Seite der Bühne. Ich bin im Bild, das meinen Körper in der Logik der Bühne traditionellerweise verstellt. Und zwar nicht nur als Augenpunkt, sondern als sich bewegender Körper. So sehen wir diesmal von jenem Platz aus, wo wir normalerweise nur blinder Fleck und Hohlform sind, auf den Teil des Theaterraumes, der uns traditionellerweise vorbehalten ist, wo wir diesmal aber abwesend sind. Die Spaltung zwischen Imaginärem und Symbolischem wird hier erfahrbar gemacht als reziproker Ausschluss bei gleichzeitiger gegenseitiger Implikation. Die regulierende Funktion einer Tanztechnik wird auch auf inhaltlicher Ebene verhandelt. Auf der Rückwand des Raumes wird ein Video gezeigt, ein Ausschnitt einer Fernsehdokumentation über das Auswahlverfahren ei-

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188 | Abwesenheit ner Ballettschule. Tänzerische Begabung steht dabei allerdings nicht im Vordergrund. Überprüft werden die biologisch-körperlichen Voraussetzungen der Knaben, die sie dazu befähigen sollen, den Anforderungen der Balletttechnik gerecht zu werden. Die Körpergröße wird vermessen, die Haltung des Rückens bei vorgebeugtem Oberkörper überprüft, die Flexibilität und der Winkel der Auswärtsdrehung der Beine festgestellt. Das Ganze erinnert an eine medizinische Untersuchung oder gar eine Musterung beim Militär und macht den Angriff des Gesetzes auf den Körper überaus deutlich. Während das Video läuft, tanzt Martin Nachbar auf der Bühne einen ausgelassenen Tanz, der trotz starker rhythmischer Impulse, die den Körper fast spastisch zucken lassen, wie befreit wirkt.

Das Potential an Gewalt, das in dem Videoausschnitt steckt, wird auf der Bühne assoziativ aufgegriffen. Immer wieder ziehen sich die Tänzer Strumpfhosen wie Masken übers Gesicht. Martin Nachbar steht nicht nur mit den Füßen in einem Eimer, der seine Bewegungsfreiheit drastisch einschränkt, sondern er hat sich auch einen Eimer über den Kopf gestülpt, sodass man seine Sätze nicht verstehen kann. Rechts neben ihm kippt Hendrik Laevens mit seinem Oberkörper immer wieder nach vorne über, während auf der Rückwand Bilder der hyperventilierenden Tänzer bei den Proben zu sehen sind. Mit nacktem Oberkörper steht Erna Omarsdottir auf

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einem Podest und bewegt zackig ihre Brüste mit ihren Händen, während sie lauthals Kommandos brüllt, zu denen die Tänzer auf der Bühne unisono auf den Boden knallen, sich anheben und zur Seite rollen. Die Gewalt, die in der Technik als Disziplinierung des Körpers steckt, wird in dem Stück mit dem Opferritual verbunden. Zu Strawinskys Le sacre du printemps sitzen Alice Chauchat und Martin Nachbar in weißen T-Shirts und Shorts nebeneinander an einem Tisch und essen perfekt synchronisiert und choreographiert von leeren Tellern, wobei sie sich, das Opferthema anklingen lassend, beim Trinken immer wieder roten Saft über die T-Shirts kippen, bis diese aussehen, als wären sie in Blut getränkt. Der Ritus wird hier einerseits ins Alltägliche übertragen, etwa wenn Hendrik Laevens nur mit einer Schürze bekleidet zum Klingeln eines Weckers anfängt, sich zu kämmen oder mit einer Spülbürste zu schrubben. All das sind kleine Rituale, mit denen wir uns disziplinieren. Die Bewegungen, die Nachbar und Chauchat als Sacre ausführen,40 sind ursprünglich die Bewegungen von Thomas Plischke beim Essen. Die beiden haben seine Bewegungen von einem Video abgenommen, kopiert und choreographiert. Diese Beobachtung lässt sich nun auf die ganze Tanz-Performance übertragen. Die alltäglichen, rituellen Bewegungen stecken an. Sie infizieren durch ihre unmittelbare Nähe zu den Zuschauern auch deren Körper, springen über und verweisen die Zuschauer damit auch auf ihre Aktivität und darauf, dass sie sich und die Situation, in der sie sich befinden, mit performativen Akten hervorbringen und definieren. Damit verschwindet in letzter Konsequenz auch die Aufführung und die sie rahmende Theatersituation.41 Ist der Betrachter körperlich im Bild, hört die Aufführung auf zu existieren. Die Bühne wird zum Ort der Teilhabe, jedoch zu einem Ort, der uns immer zugleich zeigt, wie wir in das symbolische Gesetz des zweiten Körpers impliziert sind. Die Teilhabe, die hier durch die persönliche Begrüßung zu Beginn und das Zeigen der Körper zum Schluss inszeniert wird, fand in einer ersten Version des Stücks eine andere Umsetzung.42 In der Diagonalen gegen40 | Die Szene war der Ausgangspunkt für das Stück und wurde als solche zum ersten Mal beim Springdance Festival im April 1999 in Utrecht, Holland, gezeigt. 41 | In ihrem Stück Re(Sort) (UA: 19. Januar 2001, Mousonturm, Frankfurt) wurde dieses Prinzip weiterentwickelt. In einer offenen Bühnensituation wurden den Zuschauern von den einzelnen Akteuren Aufgaben ins Ohr geflüstert. So sollte ich mir z.B. die Bewegungen einer Zuschauerin genau anschauen, um sie anschließend auszuführen. Die Zuschauer werden dabei in der Tat zu Performern, die sich als zuschauende Gruppe selbst spielen. Die Bewegungen des Stücks bestehen auch aus den Bewegungen der Zuschauer, was die Aufführungssituation ausblendet. 42 | Eine erste 35-minütige Version wurde am 21. Mai 1999 in der Studiobühne des Mousonturms, Frankfurt, uraufgeführt. Diese Fassung, bei der nur Thomas

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190 | Abwesenheit über ihres Tischs stand ein weiterer Tisch, auf dem vier kleine Fleischwölfe befestigt waren. Chauchat und Nachbar gingen am Ende ihres Sacre-Rituals zu den Fleischwölfen hinüber, leierten Hackfleisch durch die Maschinen, tüteten es in kleinen Portionen ein und überreichten die Tütchen dem Publikum. Die Bewegungen und Aktionen der Tänzer werden in der Inszenierung auf signifikante Weise mit Sprache und Musik in Verbindung gebracht. Neben Strawinskys Sacre spielt Edward Elgars nationalistisch besetzte Komposition Land of Hope and Glory bei den Disziplinierungsaktionen eine herausragende Rolle. Die einzelnen Aktionen werden jeweils durch akustische Zitate eingeleitet oder gar begleitet. So sind zu Beginn der Sacre-Szene die Stimmen von Strawinsky, der sich an die Uraufführung erinnert, und die von Millicent Hodson, die Nijinskys Choreographie zusammen mit Kenneth Archer 1987 für das Joffrey Ballet in Los Angeles rekonstruiert hat, zu hören. Merce Cunningham gibt seine berühmte Definition von Tanz, »Dancing is movement in time and space. Its possibilities are only limited by our imagination and our two legs«,43 just in dem Moment zum Besten, in dem die Körper potentieller Ballett-Tänzer auf dem Video inspiziert werden. Marcel Duchamp philosophiert über das künstlerische Genie und die entscheidende Rolle des Zuschauers als zweitem Schöpfer des Kunstwerks, während die Tänzer den Zuschauern die Erinnerungsstücke in ihren Strumpfhosen zeigen. Events for Television (again) ist eine Auseinandersetzung mit der Tanzmoderne und ihrer Vorstellung von Tanz als autonomem Kunstwerk, das sich, wie Cunninghams Zitat deutlich macht, in der Auseinandersetzung mit den je eigenen Mitteln der Kunstform herausbildet. Schon der Titel des Stücks ist ein Zitat. Mit einem ironischen »again« versehen, rufen Thomas Plischke, Martin Nachbar und Alice Chauchat noch einmal Merce Cunninghams 1976 aufgezeichnetes Event for Television auf, in dem der Altmeister der Moderne neun seiner Choreografien für das Fernsehen zusammenstellte. Der Vorstellung von Freiheit, die Cunninghams Ästhetik impliziert, stellt Plischke die inhärente Disziplinierung von Körpern und die Gewalt, die diese bindet, gegenüber. Die Autonomie liegt für ihn weniger im Abschluss des Werks als selbstbezüglichem als in dessen selbstreflexiver Tendenz, die stets ein anderes, unabschließbares Verhältnis zwischen den Szenen und den Zuschauern möglich macht. Auffallend ist in diesem Zusammenhang auch die Spielweise der Tänzer. Ihre Aktionen sind gerahmt von Sprache, die den Kontext des kulturelPlischke, Martin Nachbar, Alice Chauchat und Hendrick Laevens mitwirkten, bestand aus vier Szenen, wobei das Sacre die erste war; vgl. dazu Gerald Siegmund, »Ritual des Frühlingsopfers«, in: FAZ/Rhein-Main Zeitung, 1. Juni 1999. 43 | Zitiert in: Sabine Huschka, Merce Cunningham, op. cit, S. 206.

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len Erbes der klassischen Moderne aufruft. Doch ihre Körper repräsentieren den Inhalt der Zitate nicht. Weder stellen sie sie dar, noch spielen sie Unterdrückung. Die Aktionsebene bildet vielmehr einen eigenständigen Strang innerhalb des Stücks, der nicht zwingend und nicht logisch auf den sprachlichen Inhalt verweist. Dennoch bleibt sie unweigerlich auf die Sprache und mit ihr auf die symbolische Sprache des Theaters mitsamt dessen Gesetzen bezogen. Die Körper werden zu Hieroglyphen (Artaud) oder zu Emblemen (Mallarmé), die all das immer schon sind, wovon das Stück spricht. Die Inszenierung sucht auf all den Ebenen, die ich aufgezeigt habe, eine anderes Verhältnis zum Gesetz, indem sie die ausgegrenzte Gewalt zu re-integrieren und als körperliche zur Sprache zu bringen versucht.

1.4

Sarah Michelson, Shadowmann Parts I & II: Relation statt Repräsentation

»[A] grandiose ›myth‹ that can conclude only with its utterly dainty deconstruction« – so beschreibt die britische Tänzerin und Choreographin Sarah Michelson die beiden Teile ihres Stücks Shadowmann.44 Den Mythos inszeniert sie im ersten Teil virtuos als Raumchoreographie, indem sie die funktionalen Zuordnungen im Theaterraum umdreht. Dort, wo sich in der Regel die Bühne befindet, befindet sich nun die Zuschauertribüne. Dort wo normalerweise die Zuschauer sitzen, tanzen jetzt die Tänzer, die sich zum Teil schon im Saal befinden, während das Publikum auf seine Plätze strömt. Um dorthin zu gelangen, muss es an sieben Kindern vorbei, die regungslos im Raum verteilt stehen. Im Rücken befinden sich zwei erhöhte Podeste. Während auf dem einen die Stühle der abgebauten Zuschauerreihen übereinandergestapelt herumstehen, befindet sich auf dem zweiten, höheren, der Platz des Soundtechnikers. Dort oben steht mit ausgestreckten Armen in Siegerpose der Tänzer Mike Iveson, der auch für die Musikcollage verantwortlich zeichnet. Später wird der Tontechniker des Theaters stellvertretend für ihn dort oben die Regler bedienen. Kaum haben die Zuschauer Platz genommen, schließen zwei Wächterinnen in knappen schwarzen Slips die Türen. Sie bleiben dort während der Aufführung zumeist regungslosen stehen. Die Kinder marschieren auf ihre 44 | Zitiert in: Sarah Valdez, »Rise west, set east«, in: Arts in America, Juli 2003; www.findarticles.com/p/articles/mi_m1248/is_7_91/ai_104836760; Part I wurde am 27. März 2003 in The Kitchen in New York City uraufgeführt, Part II am 9. April 2003 im P.S.122, ebenfalls in New York.Die Deutschlandpremiere war am 3. Juni 2004 im Frankfurter Mousonturm, bevor das Stück in Venedig, Zürich, Salzburg und Berlin zu sehen war. Meine Beschreibung bezieht sich auf die Vorstellung im Mousonturm, die, nach Aussage der Künstlerin, der in New York am nächsten kommt.

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192 | Abwesenheit Plätze links neben der Zuschauertribüne, so dass das Publikum, um sie zu sehen, den Blick von der Tanzfläche abwenden muss. Ihr Blick ist von vornherein gespalten, weil er nie das ganze Geschehen überblicken kann. Ein Mädchen läuft nach rechts zur vorderen Ecke der Tribüne, um dort regungslos wie eine Säule während der 75-minütigen Aufführung stehen zu bleiben. Sie alle sind mit Dolce & Gabbana T-Shirts und Kleidern ausgestattet, teuren Designerobjekten, die sie merkwürdig frühreif aussehen lassen. Unter Anleitung einer Vortänzerin (Adrienne Swan) gehen die verbliebenen fünf in einer minimalistischen Choreographie in strenger Formation ein paar Schritte auf und ein paar Schritte ab mit 180 Grad Drehungen der Körper bei den Richtungswechseln. Manchmal lehnen sie sich gegen die seitliche Bühnenwand und reiben ihre Oberkörper lasziv an der Mauer, was aufgrund ihres Alters einen leicht obszönen Unterton erhält. Doch kaum haben sich die Türen zu Vorstellungsbeginn verschlossen, werden sie von den zwei Hüterinnen auch schon wieder geöffnet.45 Das Licht bleibt nach wie vor an, und der Blick der Zuschauer wird durch die Saaltüren hinaus bis durch die Tür des Theaters auf die Straße gelenkt, wo Sarah Michelson und Parker Lutz in identischen gelben Blousons, weißen Strümpfen und hochhackigen Pumps entlang paradieren. Leicht versetzt zueinander und doch synchron, betreten sie gemessenen Schritts das Theater, steigen die Stufen hinab und knallen im Foyer zu Boden. Nach ein paar Drehungen, Bein- und Armbewegungen erreichen sie schließlich den Theatersaal. Drinnen entspinnt sich in den nächsten 60 Minuten ein höllischer Tanz, der aus allerlei, zum Teil bewusst an Kitsch und Pathos grenzenden, Versatzstücken besteht. Mit weit zurückgebeugtem Oberkörper bei einem gleichzeitig gestreckten und einem angewinkelten Bein posiert Greg Zuccolo auf dem Podest zwischen den Stühlen, und Jennifer Howard geht in paralleler Beinstellung durch den Raum, wobei sie ihre Beine abwechselnd im 90 Grad Winkel nach vorne streckt, als sei sie eine Balanchine-Ballerina aus Die vier Temperamente. Immer wieder rasen Grüppchen diagonal durch den Raum auf das einzelne Mädchen rechts von den Zuschauern zu, schütteln dabei ihre Hände und Arme aus, als wollten sie etwas abwehren. Ausladende Hinterteile rotieren solo oder in Formation, Finger schnippen wie beim Jazz Dance, und dazwischen stürmen alle immer wieder mit weitausgestreckten Armen wie bei Merce Cunningham durch den Raum. Obwohl die Choreographie hervorragend die Möglichkeiten des Raumes auszunutzen versteht, werden die Bewegungen doch jeden Abend pragmatisch je nach Machbarkeit verändert, ganze Teile weggelassen, ande45 | RoseLee Goldberg hat in ihrer Kritik der Uraufführung auf das Prinzip der Umkehrung hingewiesen; RoseLee Goldberg, »Sarah Michelson: The Kitchen/ P.S. 122«, in: ArtForum Juni 2003; www.findarticles.com/p/articles/mi_m0268/ is_10_41/ai_1 03989817.

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re in anderer Reihenfolge getanzt. Dies mag als Indiz dafür zu werten sein, dass es Michelson nicht in erster Linie um die Reproduktion und die allabendliche Repräsentation eines perfekten Bewegungstextes geht. Nicht die Choreographie erzählt, wie noch bei Martha Graham, eine Geschichte, und vermittelt sie, nach dramaturgischen Gesichtspunkten festgelegt, den Zuschauern. Hier wird keine Geschichte repräsentiert, sondern mit der Bewegung im Raum eine Beziehung etabliert zwischen den Tänzern und den Zuschauern. Auch in Shadowmann stülpt sich der Rahmen des Theaterapparates nach innen. Die Grenze zur Straße wird durchlässig, das nicht-choreographierte Leben draußen zum Bestandteil der Aufführung. Das Prinzip der Umkehrung, das die Zuschauer in der Raumchoreographie den Platz der Tänzer einnehmen lässt, geht dabei einher mit dem Prinzip der Stellvertretung. Die Tänzer stehen hier für die Zuschauer ein, die den Theatersaal durch die gleiche Tür betreten wie sie. Die Kinder stehen für die Tänzer ein, denn die Choreographie, die die Kinder tanzen, hat Michelsons Gruppe ein Jahr zuvor in den gleichen Designerkostümen selbst als eigenständiges Stück aufgeführt.46 Auch die Funktionen innerhalb des Theaters werden durch Stellvertretung in die Aufführung einbezogen. An den Ort, an dem zu Beginn noch ein Tänzer den Ton angibt, setzt sich wenig später ein Toningenieur des Theaters, der am Ende der Aufführung sogar das Publikum mit einem »Thanks for coming« aus dem Saal komplimentiert, während die Tänzer zu Säulen erstarrt an ihren Plätzen ausharren. Auf der Empore des Mousonturms taucht plötzlich ein Mann auf, der fünf Minuten eine Bewegungsphrase tanzt, die der Tänzer Greg Zuccolo zuvor im Dunkeln ebenfalls auf der Empore getanzt hatte. In Frankfurt übernahm ich in meiner Funktion als vielen im Publikum bekannter Tanzkritiker die Rolle, die keine Rolle ist, weil es Michelson darum geht, einen ›wirklichen‹ Kritiker in die Aufführung zu integrieren. Gottgleich harrte ich nach meinem Tanz auf der Empore aus, beobachtete kritisch und genüsslich das Geschehen unter mir, bis ich am Schluss meinen Namen in ein Mikrophon sprechen musste. Dieser Sprechakt, der umso auffälliger ist, weil sonst in der Aufführung kaum gesprochen wird und niemand seinen Namen nennen muss, hat die gleiche Funktion wie die Unterschrift des Kritikers unter seine Kritik. Ich signiere mit meinem Namen die Aufführung, die gleichsam in meinem Namen stattfand, die für mich stattfand, und von der ich doch ein integrier46 | Das Stück hieß Grivdon @ the Grivdon und wurde im Sommer 2002 in Jacob’s Pillow, New York State, aufgeführt. Die Aufführung begann regulär auf einer Freilichtbühne, doch im Verlauf der Aufführung verließen die Tänzer die Bühne, um sich in der freien Natur unter Bäumen zu bewegen. Dabei kontrastierten ihre Dolce & Gabbana-Kostüme als Inbegriff einer an Stil und Status orientierten Kultur mit der Natur.

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194 | Abwesenheit ter Bestandteil war. Die Bewegungen wandern nicht nur von drinnen nach draußen und umgekehrt. Sie wandern auch von Tänzer zu Tänzer und zu den verschiedenen Funktionsträgern, die an einer Aufführung beteiligt sind. Dazu gehört auch der Kritiker, der die Macht hat, mit seiner Rezension die Aufführung zu ›machen‹. Die Performativität der Bewegungen rückt dadurch in den Vordergrund. Nach dem Prinzip von Wiederholung und Differenz – je nachdem, wer die Bewegungen übernimmt und ausführt, wird sie anders aussehen – entsteht ein Beziehungsgeflecht zwischen den Beteiligten, das auf den immer wieder wiederholten Akt des Hervorbringens insistiert. Bewegung verbindet. Sie stiftet eine Gemeinschaft, die sich im Vollzug der Aufführung selbst erzeugt und beobachtet. Mit dem titelgebenden Shadowmann, dem Schattenmann, ist einerseits selbstredend der Kritiker gemeint, der im Halbdunkel der Empore die Aufführung als Teil des symbolischen Apparates hervorbringt. Andererseits lässt sich der Titel auf alle Beteiligten der Aufführung ausdehnen. Denn hier ist jeder der Schatten des anderen. Sarah Michelson greift das Thema der Gemeinschaft auch auf inhaltlicher Ebene auf. Wenn sie von der Inszenierung eines Mythos’ spricht, meint sie damit zunächst den Mythos eines Rockkonzerts, bei dem Zuschauer und Akteure gemeinsam von der Atmosphäre getragen werden. So steigert sich der Rhythmus der Aufführung, bis zum Schluss ganze Batterien von Flutlichtern die Tanzfläche in gleißendes weißes Licht tauchen und Trockeneisnebel die Tänzer umspielt, die sich zur melodiösen Gitarrenmusik von New Orders »Procession« durch den Raum bewegen. Mehr als 15 Minuten begleitet ein Soft-Rock Musikstück der siebziger Jahre, Uriah Heeps »Wonderworld«, die Aktionen des Stücks. Es ist diese Wunderwelt der Bühne, in die die Beteiligten hier eintauchen. Ihr Tanz fungiert als Selbstmythologisierung, als Ausdruck ihrer Sehnsucht nach großen Gesten, Bewunderung und Bedeutung. »I can take your pain away«, singt die Chorführerin der Kinder mit brüchiger Stimme, als wolle sie uns allesamt mit ihrem Gesang und ihren Bewegungen erlösen. Das Stück kann vor diesem Hintergrund auch als Ausdruck einer Sehnsucht gelesen werden, die kulturell und gesellschaftlich mit dem Theater und der Bühne verbunden ist: als uneingestandene Sehnsucht des Kritikers, einmal selbst zu tanzen, als Sehnsucht der Tänzer nach Anerkennung, als Sehnsucht der jungen Tänzerinnen und Tänzer, berühmt zu werden. Am Ende fährt eine weiße Limousine vor das Theater. Die Kinder eilen von der Tanzfläche, steigen ein und fahren davon. Der Übergröße und Weite des ersten Teils folgt die Enge des zweiten Teils. Shadowmann II spielt in einem kleinen Raum, der mit weißem Teppichboden und Blümchentapeten zurechtgemacht ist wie ein spießiges Wohnzimmer, das an zwei Seiten von Stühlen gesäumt wird. Zu einem melancholischen Klavierakkord führen die Tänzer meist in Duos die Bewe-

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gungen des ersten Teils aus. Zwei Mädchen in blauen fließenden Capes mit Schmetterlingsbroschen agieren neben den Zuschauern. Gegen Ende wird die eine den Blümchenvorhang zur Seite ziehen und den Blick durch die Fenster auf das gegenüberliegende Gebäude freigeben, auf dessen Balkon das zweite Mädchen tanzt. »Hey guys, what do you all believe in? You gotta believe in something«, fragt Parker Lutz, doch Greg Zuccolo, den Kopf tieftraurig zur Seite hängen lassend, brummt nur »hollowness«. Nach der Explosion des ersten Teils implodiert im zweiten Teil der große Mythos von Glück, Ruhm und Erfolg, bis die Tänzer auf Kommando von der Bühne stürzen. Als Gravitationszentrum inmitten all der aufgeschnappten Phrasen aus Text- und Bewegungszitaten, bei denen man nie sicher sein kann, ob sie ernst gemeint sind oder ob die Tänzer sich darüber lustig machen, kristallisiert sich allmählich eine undefinierbare Sehnsucht nach Nähe und Gemeinschaft heraus. Auch hier entzieht Michelson dem Wunsch letztendlich den Boden. Denn letztlich inszeniert sie ein grandioses Scheitern als Reflexion auf den Mythos, das sich der Mythologisierung widersetzt. Dazu gehört zum einen die Offenlegung der symbolischen Struktur und die damit verbundene Reflexion auf die Funktion der Beteiligten an der Aufführung. Zum anderen inszeniert sie die Abwesenheit und Leere im Zentrum der Gemeinschaft und verweist diese damit in die Sphäre der Potentialität. Das Scheitern wird zunächst auf der Ebene der Bewegungen deutlich. Diese sind zwar für versierte Tänzer wie die von Sarah Michelson an sich kein Problem, und auch der Kritiker kann sie, nach einigem Üben, relativ rasch erlernen. Jedoch werden sie in einem derart rasanten Tempo dargeboten und wiederholt, dass selbst trainierte Profis sie nach sechzig Minuten vor Erschöpfung nicht mehr korrekt ausführen können. Michelson führt ihre Performer an die Grenze, die den Einbruch des Realen markiert und den sicheren Bühnentod der Tänzer bedeutet. Auf diese Weise hält das Thema des Opfers Einzug in die Performance, deren beide Teile gerahmt werden von einer Aktion, die die christliche Eucharistie-Feier aufgreift. Vor Beginn des ersten Teils werden den Zuschauern kleine Gläser mit Rotwein gereicht, und am Ende des zweiten Teils verteilt eine Assistentin zuerst an die Tänzer, später, wenn diese bereits gegangen sind, an die Zuschauer Käse und Rotwein. Doch das Abendmahl erfolgt über die klaffende Wunde der leeren Bühne hinweg. Wie schon am Ende des ersten Teils kommen auch hier die Tänzer nicht zurück, um ihren Applaus entgegenzunehmen. Beide Male hinterlässt dies ein Gefühl des Unbehagens, ein Gefühl, das etwas nicht abgeschlossen ist und auch nicht zum Abschluss gebracht werden kann. Denn das Ritual des Applauses, das zur symbolischen Ordnung des Theaters gehört wie die Trennung von Bühne und Zuschauerraum, wird durch die Abwesenheit der Tänzer unterbrochen. Wir sehen das leere Theater, ihr Fehlen in der Ord-

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196 | Abwesenheit nung des Symbolischen, weil die Tänzer durch ihre Abwesenheit ihre Stellvertreterfunktion am Ort des Anderen bewusst machen. Die Tänzer, die an unserer Stelle als unser Alibi (wörtlich: an einem anderen Ort) für uns tanzen, opfern sich für uns. Mit der Funktion des Opfers verbunden ist die Bildung einer Gemeinschaft, die sich über den Ausschluss des Opfers, das die Gewalt der Gemeinschaft auf sich nimmt und abführt, als Gemeinschaft zusammenschließt. Als Sündenbock ist das Opfer ein Stellvertreter, der im doppelten Sinn des Wortes sacer ist: zugleich heilig und unantastbar, sowie unrein und verdammt.47 Das Ende von Michelsons Shadowmann verhindert die Reintegration des Bühnenopfers in die symbolische Ordnung. Das gegenseitige Würdigen durch den Applaus, bei dem sich beide Seiten anerkennend gegenüber stehen, wird ausgesetzt und die Stellvertretung dadurch kenntlich gemacht. Die Wunde kann sich nicht schließen, weil die Tänzer ausgeschlossen bleiben. Konfrontiert mit unserer eigenen Abwesenheit am Ort des Anderen, zerspringt der Mythos der Gemeinschaft. Das Opfer wird ausgesetzt und das Publikum alleine gelassen, weil sich kein imaginärer Körper mehr in die Lücke in der symbolischen Struktur setzt. Um diese imaginären Körper und ihre Bilder soll es nun im nächsten Teil gehen.

2

Das Imaginäre, oder: Arbeit am Körperbild

Jeder Tanztechnik liegt eine bestimmte Vorstellung eines Körpers zugrunde. Sie ist ein Werkzeug, um imaginäre Körper zu erzeugen, Körper, die wie Freud gezeigt hat, nicht der geregelten Anatomie entsprechen, sondern Wunschkörper sind, die das Begehren des Subjekts symptomatisch artikulieren.48 Der Tänzer lebt einen anderen Körper, den Körper eines anderen, den er dem Publikum präsentiert. Der imaginäre Körper basiert auf einem Verbot des symbolischen Gesetzes (z.B. dem Tanzverbot) mit dem der Wunsch des Subjekts in Konflikt steht, weshalb er verdrängt werden muss. Da er als körperliches Symptom dieses Wunsches wiederkehrt, stellt er mithin gleichzeitig ein bestimmtes Bild des begehrenden Körpers dar (z.B. der ideale Körper des Balletts als körperliche Antwort auf das Verbot, die das Begehren in körperlich-entstellter Form ermöglicht). Das Imaginäre wird hier nicht als dem Symbolischen zeitlich vorgängige Phase idealer Einheit 47 | Zur Logik des Opfers vgl. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt am Main: Fischer, 1992: »Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt, es lenkt die ganze Gemeinschaft auf andere Opfer außerhalb ihrer selbst. Die Opferung zieht die überall vorhandenen Ansätze zu Zwistigkeiten auf das Opfer und zerstreut sie zugleich, indem sie sie teilweise beschwichtigt«; S. 18. 48 | Vgl. Kapitel II.10 der vorliegenden Arbeit.

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zwischen Mutter und Kind verstanden, die durch das Verbot des Vaters, mithin mit dem Einsatz der sprachlichen Funktion, zerstört würde. Vielmehr entsteht es gleichursprünglich mit der symbolischen Funktion. Das Imaginäre ist eine Notwendigkeit des Symbolischen, um den Mangel des Anderen mit Bildentwürfen zu besetzen. Weil sich mein Begehren nach dem Begehren des Anderen nie erfüllen kann, weil ich also nie Einssein kann mit der Zeichenordnung der Sprache, die mir doch Halt gibt, brauche ich Bilder von mir, um mir eine Vorstellung von mir und meinem Ort innerhalb der kulturellen Ordnung zu machen. Diese Bilder sind trügerisch, entwerfen sie mich doch an einem Ort, wo ich nicht bin und als Bild, das mein Körper als realer nicht ist. Die Körperbilder als verkörpertes Begehren nach dem Anderen entstellen mich und verweisen mich dadurch gleichzeitig zurück auf das Symbolische und das Reale. Sowohl die Tanztechnik als auch der visuelle Apparat der Bühne müssen daher noch einmal auf einer anderen Ebene thematisiert werden: als Körperbewegung, auf die sich das Begehren des Zuschauers im Tanz richtet, und als Blick, der die Bewegungen zu Körperbildern arretiert und diese begehrt. Nicht mehr die symbolische Ordnung einer Sprache des Tanzes und des Theaters steht hier im Vordergrund, sondern die imaginären und imaginativen Leistungen und Projektionen der Tänzer, die tanzend imaginäre Körper produzieren, und die der Betrachter, die diese Körper wahrnehmen. Wie kommt die Bildlichkeit des Körpers jenseits perspektivischer Rahmungen, die wir im vorangegangenen Kapitel diskutiert haben, zustande? Was verändert sie an der Wahrnehmungssituation innerhalb des symbolischen Rahmens? Die Bildlichkeit des imaginären Körpers basiert auf einer Abwesenheit des realen Körpers in dem Moment, in dem ich ihn in der Aufführungssituation sehe. Diese Grundthese widerspricht Martin Seels Ästhetik des Erscheinens, die die Abwesenheit, von der aus die Phänomene, die gegenwärtig sind, überhaupt erst Kontur gewinnen und gesehen werden können, unter das Primat eines phänomenologischen Gegebenseins stellt. Er bleibt, wenn man so will, einer cartesianischen Optik verbunden, die die Gegenstände in einem vorgegebenen Raum des Sichtbaren lokalisiert, wo sie als präsent in ihrer ganzen Fülle wahrgenommen werden. Bringen sie sich, wie Freuds Fort-Da-Spiel gezeigt hat, jedoch stets vor dem Hintergrund einer Abwesenheit zum Erscheinen, wirft diese unweigerlich ihre Schatten auf die Phänomene und machen sie zu etwas andrem, begehrten, was sie nicht sind. Die Schattenmänner von Sarah Michelson sind dafür nur ein Beispiel. Die Abwesenheit überlagert den Raum des Sichtbaren mit einem psychischen Raum, in dem eine andere Zeitlichkeit herrscht. Dadurch erfährt die Annahme eines ungeteilten Sehens, einer Selbstgegebenheit der Phänomene in einer lebendigen Gegenwart, eine Spaltung, mit der sich die späte Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys und die

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198 | Abwesenheit Psychoanalyse Jacques Lacans auseinandergesetzt haben.49 Beide versuchen im expliziten Bezug aufeinander den »Verlust (in) der Wahrnehmung«50 mit der Unterscheidung von Auge und Blick zu begreifen.

2.1

Der Blick der Zuschauer auf den Körper

Auf den tanzenden Körper sind in der symbolischen Situation einer Theateraufführung die Blicke der Zuschauer gerichtet, die sich innerhalb der auf eine bestimmte Art gestalteten und vorgegebenen Opsis der Bühne entfalten. Im Gegensatz zum Auge allerdings, das in einem geometralen Raum Dinge sieht und identifiziert, kommt dem Blick eine destabilisierende Funktion zu. Sowohl Merleau-Ponty als auch Lacan gehen davon aus, dass das Sehen keine Einbahnstraße ist, sondern dass die Dinge, die sich draußen befinden, zurückblicken. Sie ziehen Aufmerksamkeit auf sich, geraten in mein Blickfeld, das sie mit ihren Blicken durchkreuzen. Sie stellen mich in Frage, weil sie notwendigerweise eine andere Sicht auf mich und die Dinge haben müssen. »Was einzukreisen wäre auf den Bahnen, des von ihm [Merleau-Ponty] gewiesenen Wegs, ist die Präexistenz eines Blicks – ich sehe nur von einem Punkt aus, bin aber in meiner Existenz von überall her erblickt.«51 Dieses Gesehenwerden von einem anderen Ort her, dem ich in der Welt immer schon unterworfen bin, impliziert eine Asymmetrie der Wahrnehmung. Denn dass »Du mich nie da erblickst, wo ich dich sehe«,52 heißt, dass wir nie gleichzeitig den gleichen Platz einnehmen können, von dem aus Dinge als identisch wahrzunehmen wären. Die Präsenz des Anderen macht mir, wie im umgedrehten Schlussbild Thomas Plischkes Events For Television (again), das deutlich, was ich nie sehen kann. In der Wahrnehmungssituation sind mir die Dinge nie vollständig gegeben, weil sie aus einer Abwesenheit heraus erscheinen. Mein eigener Rücken entzieht sich meinem Blick ebenso wie alle Ansichten eines Gegenstandes, der mir immer nur von einer Seite aus perspektivisch zugänglich ist. Meine Abhängigkeit vom Blick des Anderen, der mich einkreist und bestimmt, ermöglicht also gleichzeitig eine Nähe und eine Distanz zu den Dingen.

49 | Georg Christoph Tholen hat sich in Die Zäsur der Medien eingehend mit dieser Schnittstelle beschäftigt. Mein Text folgt im Wesentlichen seinen Überlegungen; Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 61-110. Zum Übergang von Psychoanalyse und Phänomenologie in bezug auf das Sichtbare vgl. auch Amelia Jones, Body Art: Performing the Subject, Minneapolis/ London: University of Minnesota Press, 1998, S. 37-46. 50 | Tholen, op.cit., S. 61. 51 | Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, op.cit., S. 78. 52 | Ibid., S. 109.

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IV Das Modell | 199 Damit der Andere wirklich ein Anderer ist, ist es […] [notwendig und hinreichend], daß er die Kraft hat, mich zu dezentrieren, eine Zentrierung meiner eigenen entgegenzusetzen, und dies kann er nur, weil wir nicht zwei Nichtungen sind, die in zweierlei Universa des Anderen eingerichtet und sich wechselseitig unzugänglich sind, sondern zwei Zugänge zu demselben Sein verkörpern, wobei jeder nur einem von uns zugänglich ist, dem anderen aber als grundsätzlich begehbar erscheint, weil alle beide am gleichen Sein teilhaben. Es ist notwendig und hinreichend, daß der Leib den ich sehe, und sein Sprechen, das ich höre, das also, was mir in meinem Gesichtsfeld als unmittelbar gegenwärtig entgegentritt, mir auf meine Weise all das gegenwärtigt, was ich mir niemals gegenwärtigen werde, was mir immer unsichtbar bleiben wird, dessen direkter Zeuge ich niemals sein kann – eine Abwesenheit also, jedoch nicht irgendeine, sondern eine gewisse Abwesenheit, eine gewisse Differenz im Verhältnis zu den Dimensionen, die uns allen von vornherein gemeinsam sind […].53

Dieser Einschluss der Absenz in die Präsenz betrifft jedoch nicht nur den Ort, sondern auch die Zeit. In seinem Aufsatz Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion spricht Lacan dem Spiegelbild als privilegiertem Anderen die Funktion zu, das Subjekt zu entwerfen und zu rahmen.54 Das Idealbild im Spiegel entspricht nicht den biologischen Tatsachen. Es ist mithin eine Vorstellung oder Projektion von einer Einheit, die es noch nicht gibt und deren Status immer ein prekärer bleiben wird, wovon die Phantasien des zerstükkelten Körpers zeugen. Als vor-gestellter, auch räumlich distinkter Entwurf kommt das Bild des Körpers als Fremdes und Ähnliches zugleich aus einer Zukunft auf das Subjekt zurück. Es markiert an einem anderen Ort meine Abwesenheit. Das Bild, das das Subjekt anblickt, kommt auf es zu als imaginäre Einheit, die das Subjekt gerade deshalb verfehlt, weil sie nur imaginär ist. Das Imaginäre und damit die Körperbilder ereignen sich demnach in jenem raum-zeitlichen Dazwischen, das der Blick aushebt. Für MerleauPonty ist dieses Dazwischen definiert als Leiblichkeit. Zwischen die Sichtbarkeit der Dinge schiebt sich der Leib des Anderen, der die Dinge von sich und mich von mir trennt. Zwischen das selbstgegebene Sein der Dinge schiebt sich die Zwischenleiblichkeit als Textur der Blicke, die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Sehen und Fühlen, miteinander verwebt. Ist mein Blick immer schon draußen bei den Dingen, findet er sich dort nicht selbst. Er sieht sich nicht sehen, sondern er tastet und sucht unter dem Blick des Anderen, der sich nicht selbst zeigt. Denn das Erscheinen, das die Dinge 53 | Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, übers. von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München: Fink, 1986, S. 114-115. 54 | Jacques Lacan, »Das Spiegelbild als Bildner der Ichfunktion«, übers. von Peter Stehlin, in: Jacques Lacan, Schriften I, Weinheim/Berlin: Quadriga, 21986, S. 61-70.

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200 | Abwesenheit zum Erscheinen bringt, erscheint selbst nicht. In Martin Seels Ästhetik des Erscheinens wird diese zentrale Abwesenheit nicht in Betracht gezogen, weil er den Blick als neutralen betrachtet. Dieses Erscheinen ist nun der Blick, den Merleau-Ponty als »Einkörperung des Sehenden in das Sichtbare« beschreibt. Weil ich sichtbar bin und sehen kann, muss es »Blick« geben, der sich in meinem Leib und mich in das Sichtbare »einkörpert«. Erst durch den Blick kann von den zwei Blattseiten des Körpers als empfindendem und empfindbarem Leib einerseits sowie objektivierbarem Körper andererseits gesprochen werden. Diese Zwischenleiblichkeit des Blicks, in die ich in meiner Existenz immer schon eingelassen bin, hat aber noch eine weitergehende Funktion als die Produktion von Bildern. Sie verhindert gleichzeitig deren Totalitätsanspruch, der durch ihre glatte Vorbildfunktion entsteht. Immer schon mehr als Bild, nämlich eine Verkreuzung von Sichtbarem und Unsichtbarem, Sehen und Tasten, öffnet sich das Imaginäre hier zum Anderen, mithin dem Symbolischen. Der verleiblichte Blick ist der nicht im Bild totalisierbare Rand, der das Bild erzeugt, in ihm aber nicht auftaucht. MerleauPonty verwendet hierfür die Metapher des Fleisches. »Fleisch« (chair) ist »Urpräsentierbarkeit«,55 die hervorbringt und zu Sehen gibt, ohne selbst Erscheinen zu können. Die »Urpräsentierbarkeit« ist zugleich das im Bild Unrepräsentierbare. Tritt es als Blickgeflecht auf, geht sein Auftauchen auf Kosten des Bildes, das sich, wie in Hubert Damischs Interpretation der Città Ideale, entleert. In der Metapher des Fleisches, das weder »Materie« noch »Geist« noch »Substanz« ist,56 steckt die Vorstellung einer Tiefenstruktur des Körpers, dessen Oberfläche, die Haut, wir zwar sehen, die aber auf der anderen Seite von Muskeln und Fett unterfüttert, gestützt und plastisch gemacht wird, Fleisch eben, das in der Regel verborgen bleibt. Ausgehend von der Vorstellung einer Tiefenstruktur ergibt sich in traditioneller phänomenologischer Lesart hier die missverständliche Möglichkeit, das Fleisch erneut auf ein unhintergehbares ursprüngliches Leibsein zu reduzieren, das reziprok sehend-tastend mit anderen Körpern kommuniziert. Dass dies hier aber nicht gemeint sein kann, darauf hat Georg Christoph Tholen mit Nachdruck hingewiesen.57 Schließlich lokalisiert Merleau-Ponty das Fleisch nicht unter, sondern zwischen den Dingen und dem Subjekt. Diese Membran des Fleisches zwischen den Dingen, die wir sehend abtasten, ist ebenso Oberfläche wie die imaginären Bilder, die sie stützt. Das Fleisch ist Oberfläche, die ins Sichtbare ›eingerollt’ ist, mithin eine anwesende Abwesenheit analog zur Oberfläche eines Möbiusbandes. Gerade hier hakt Lacan ein. Denn das Fleisch als »die Abhängigkeit des 55 | Merleau-Ponty, op. cit., S. 177 Fn. 56 | Ibid, S. 183. 57 | Tholen, op. cit., S. 87.

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Sichtbaren auf, die Abhängigkeit von dem, was uns unter das Auge des Sehenden stellt«58 ist für ihn nichts anderes als die symbolische Ordnung der Sprache, von der das menschliche Subjekt abhängt. Symbolisches und Imaginäres berühren sich in gegenseitiger Abhängigkeit und Ausschließlichkeit. Was dem Register des Sehens vorausgeht »läßt sich definieren als Geflecht der Signifikanten, als Netz des Symbolischen. Dessen Ortlosigkeit ist der sich entziehende Blick als dasjenige, was uns zu sehen gibt.«59 Das Fleisch als Geflecht der Sprache (und nicht des realen Körpers) entzieht sich unserem Blick und eröffnet dadurch unseren je individuellen Blick auf die Dinge. Es ermöglicht uns als Angeblickte, in Abhängigkeit von den Signifikanten, überhaupt erst einen Zugang zu und eine Perpsektive auf die Welt. In einem impliziten Verweis auf Lacan hat Merleau-Ponty die Ordnung des Signifikanten in seine phänomenologischen Überlegungen bereits aufgenommen, wenn er von der Rede spricht, deren Wirken im »Bereich des vorsprachlichen Seins«60 geklärt werden müsse. Sprechendes Subjekt: dies ist das Subjekt der Praxis. Es hat nicht gesagte und verstandene Worte vor sich als gedankliche Gegenstände oder Ideate. Es verfügt durch sie nur durch eine Vorhabe, die jener Vorhabe des Ortes ähnlich ist, die mein Leib ausübt, wenn er sich dorthin begibt. Das heißt: es ist ein gewisser Mangel an […] diesem oder jenem Signifikanten, der sich kein Bild macht von dem, was ihm fehlt.61

Das Subjekt, das spricht ist mithin für Merleau-Ponty das gleiche wie das Subjekt, das wahrnimmt. Folglich gibt es keine Wahrnehmung ohne »das Bewußtsein von«, ohne das »Cogito«.62 Das Subjekt ist gekennzeichnet durch eine »Abweichung in Bezug auf ein Niveau«,63 die das Subjekt in bezug auf seinen Ort dezentriert. Es muss sich in der Differenz der Siginifikanten und Signifikate verorten, einer Leerstelle, die sich kein Bild von sich machen kann. Weil dieser Signifikant, der sich ein Bild von der Abwesenheit machen könnte, fehlt, setzen wir im Imaginären Bilder an dessen Stelle, Bilder, die versuchen, das Subjekt zu umreißen, zu definieren und zu verorten. Für Merleau-Ponty ist jener zwischenleibliche Blick mit einem Verfehlen der Wahrnehmung verbunden, die Lacan auf den selbst nicht spiegelbaren Negativsignifikanten zurückführt, der im Bereich des sekundären Narzissmus das Subjekt von der Erfüllung seines Begehrens trennt und es verschiebt. Das Verbot, das ›Nein‹ des Vaters, das das Subjekt mit 58 | Lacan, Grundbegriffe, op. cit., S. 78. 59 | Tholen, op. cit., S. 87-88. 60 | Merleau-Ponty, op.cit., S. 259. 61 | Ibid., S. 258. 62 | Ibid., S. 259. 63 | Loc. cit.

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202 | Abwesenheit der Kastration belegt, »jener konstitutive manque/Fehl der Kastrationsangst«64, wird für ihn schließlich im Blick symbolisiert. Der Blick, der die Bilder hervorbringt, sich selbst aber in der Regel in ihnen verstellt und unzugänglich macht, bindet Objekte, die die Abwesenheit füllen. Er zeigt und bindet sie imaginär, weil er selbst als Fleisch, als Symbolisches, nicht einzufangen ist, weshalb er aber gerade begehrt wird. Er bannt sie im Versuch, die Lücke im Symbolischen durch das Imaginäre zu füllen. Das Imaginäre entsteht daher in der von der symbolischen Ordnung gerissenen Lücke, wo es kein Bild geben kann, wo die Bilder aber zu wuchern beginnen. So ist Freuds Hysterikerin Elisabeth von R., von der im Zusammenhang mit der Verkörperung schon die Rede war,65 der Ort, von dem aus sie also angeblickt und begeht wird unklar. Weil sie ihn nicht besetzen kann, produziert sie durch Identifikation mit dem Verbot ein Körperbild, das ihren Körper auf den Anderen hin entwirft, ihn gleichzeitig dadurch aber auch verstellt. Aufgrund dieser Lücke, dieser Hohlform des Subjekts an einem anderen Ort, muss das Subjekt seine Verortung innerhalb der Ordnung unserer Kultur aller erst suchen. Doch der Ort der Bilder und der Ort im Symbolischen kommen nicht zur Deckung. Es sind virtuelle Bilder außerhalb des Subjekts, an einen Platz, wo das Subjekt nicht ist und die das Subjekt von sich absehen lassen. Für den Tanz ergeben sich an dieser Stelle nun drei Überlegungen. Die Bild(er)schirme, die das Imaginäre im geometralen Wahrnehmungsraum aufstellt, um diesen zu öffnen und zu verschieben, werfen die Frage nach dem Einsatz von Medien auf, ein Einsatz, der an dieser Stelle analytisch seinen Platz hat. Die Vervielfältigung von Körperbildern durch Videoeinspielungen, Filmbilder oder Computeranimationen in Tanzaufführung macht deutlich, dass der Körper immer schon ein doppelter ist, der sich an der Schnittstelle von Symbolischem und Imaginärem dem Blick darbietet. Er ist überlagert von einer Vielzahl von Projektionen, die die Medienbilder aus dem Unsichtbaren an den Rand des Sichtbaren führen. Dabei bringen sie die Zeit ins Spiel, wiederholen die Vergangenheit als Zukunft und fügen der Vorstellung einer erfüllten Gegenwart so einen Riss zu. Doch diese Arbeit am Körperbild kann auch anders aussehen. Nicht nur interpolierte Medienbilder, die die Spaltung des Körpers in drei Körper im Prinzip nur noch einmal verdoppeln, stehen ihr zur Verfügung. Auch Bilder aus dem kulturellen Gedächtnis und aus dem Symbolischen einer (anderen) Kultur werden verwendet, wenn es darum geht, auf dem Tanzboden ein anderes Imaginäres ins Spiel zu bringen, das sich mit der symbolischen Ordnung neu auseinandersetzen muss. Die berühmtesten Beispiele für eine derartige Praxis sind wohl Isadora Duncans Beschäftigung mit den 64 | Lacan, Grundbegriffe, op. cit., S. 79. 65 | Vgl. Kapitel II.10. dieser Arbeit.

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Vasenbildern der griechischen Antike, die ihr zum Vorbild für ihre Bewegungsstudien dienten, sowie Waslaw Nijinskys Auseinandersetzung mit alten ägyptischen Reliefs für die Choreographie L’Aprés-midi d’un faune. Beide stellen den Körper bewusst als Bild aus: Duncan, indem sie von Pose zu Pose, von Bild zu Bild, fällt; Nijinsky, indem er dem Tanz den Raum nimmt und ihn auf eine zweidimensionale Fläche reduziert.66 Der Leib ist nie ganz bei sich. Er ist immer schon gesehenes Körperbild, das von einer symbolischen Struktur, wie etwa der des Theaters, gestützt wird. Das Bild stößt mich von meinem Platz, versetzt mich in Bewegung, lässt mich nach einem Ort in der ortlosen symbolischen Ordnung, der meiner wäre, suchen. Doch weder der Körper noch der Ort, an dem er stattfinden kann, sind bereits. Er entsteht performativ zwischen den Instanzen in der Inszenierung, die ihn rahmt. Der Tanz erscheint als Imaginäres, das Orte aushöhlt, wie wir es im Anschluss an Mallarmés Überlegungen zum Tanz formuliert hatten: Orte und Körper, die im Entstehen begriffen sind und die performativ-iterativ wiederholt werden müssen, um zu sein. Wir haben gesehen, dass der Blick auf der Ebene des Imaginären Körperbilder erzeugt, um sich der Abwesenheit zu bemächtigen. Das dies gerade im Theater aufgrund seiner symbolischen Verfasstheit nie ganz gelingen kann, haben wir im vorhergehenden Abschnitt erörtert. Das dritte Moment führt uns jetzt schließlich zur Bewegung selbst, die Körperbilder erzeugt, als dem Eigentümlichen des Tanzes, das die Abwesenheit wiederholend überspringt.

2.2

Die Bewegung als begehrtes Moment

Jenseits der Tanztechnik, die als symbolische Struktur ein bestimmtes imaginäres, ideales Körperbild vorgibt, kann man die Bewegung verstehen als imaginäre Suche nach einem Körper, der Ideal ist, der anders ist, der woanders ist. In der Diskussion um Freuds Fort-Da-Spiel hatten wir festgestellt, dass die Bewegung in Verbindung mit dem Blick jenes Faszinosum ist, das die Kluft, die sich durch die Abwesenheit der Mutter im Subjekt auftut, überspringt. In der Lacanschen Algebra befindet sich die Bewegung damit in der Position des Objekts a, das sich, die Abwesenheit symbolisierend, an ihre Stelle setzt. Damit nicht Nichts ist, ist Bewegung. Das Objekt a ist wie die Holzspule von Freuds Enkel ein vom Subjekt abgelöster Teil, der sich nach vorne in den Raum hineinwirft. Es wird damit zum Negativ des Körpers, das ein scheinbar Volles im äußeren Leeren markiert. Für Lacan mar66 | Vgl. dazu: Brandstetter, Tanz-Lektüren, op. cit, sowie dies., »Die Inszenierung der Fläche. Ornament und Relief im Theaterkonzept der Ballets Russes«, in: Claudia Jeschke/Ursel Berger/Birgit Zeidler (Hg.), Spiegelungen. Die Ballets Russes und die Künste, Berlin: Vorwerk Verlag, 1997, S. 147-163.

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204 | Abwesenheit kiert das Objekt daher lediglich »das Dasein einer Höhle, einer Leere, die, wie Freud anmerkt, mit jedem beliebigen Objekt besetzt werden kann«.67 Der Übergang vom Inneren des Körpers zum äußeren Objekt, von einer Leere in eine scheinbare Fülle, wird durch den Trieb veranlasst. Der Trieb ist jene Energie, die sich vom Körper löst, um das Objekt a einzukreisen, um erneut zum Körper als erogener Zone zurückzukehren. In der Bewegung des Triebes stülpt sich der Körper um, um sich im Objekt a, das er einfängt, zu komplettieren. Der Trieb, um den es sich in unserem Kontext handelt, ist selbstredend der Schautrieb, der sich begehrend auf die Bewegung der Tänzer richtet. Der Schautrieb setzt das zuschauende Subjekt selbst in Bewegung. Für Freud sind die vier Entwicklungsstufen des Schautriebs, die er in »Triebe und Triebschicksale« im Zusammenhang mit den neurotischen Störungen Voyeurismus und Exhibitionismus behandelt, verbunden sowohl mit einem Wechsel des Triebziels von aktivem Anschauen zu passivem Angeschautwerden als auch mit einem Objektwechsel.68 Der Voyeur sucht den Blick eines anderen; der Exhibitionist zeigt sich dem Blick des anderen. Für Freud ist jedoch offensichtlich, dass auf jede der Stufen die vorangehenden weiter wirksam bleiben. Eine klare Trennung zwischen Subjekt und Objekt unterbleibt, sodass auch der Voyeur letztlich ein Exhibitionist ist, der sich selbst als Objekt an die Stelle des anderen setzt, der ihn lediglich vertritt. Im Sehen bin ich immer schon mittendrin, anwesend-abwesend am Ort des Anderen, der Bühne. Der Trieb stülpt den Körper nach außen, um den Mangel des ursprünglich verlorenen Objekts zu kompensieren. Doch die Bewegung entgleitet dem feststellenden Blick der Zuschauer immer wieder aufs Neue. Sie verweigert sich der Arretierung zum und im Bild, das auf den Betrachter zurückblicken könnte. Dennoch stellt sich die Bewegung dem Blick. Sie setzt sich den Blicken der Betrachter von der Bühne herunter aus, um gesehen und anerkannt zu werden. Tanz oszilliert so immer zwischen der Bewegung einerseits, die das Faszinosum des Blicks mit »Hast, Elan, Vorwärtsbewegung«69 verschleiert, und dem Stillstand andererseits, der den Blick herausfordert und, um den Preis des Todes der Bewegung (oder, wie bei Plischke, der Aufführung), manchmal sogar zu erkennen gibt. Dieses Verschleiern ist hier durchaus nicht negativ als Täuschung zu verstehen, sondern als Verführung und Entführung zu jenem Ort hin, wo

67 | Lacan, Grundbegriffe, op. cit, S. 188. 68 | Sigmund Freud, »Triebe und Triebschicksale«, in: Sigmund Freud, Studienausgabe Band III, Psychologie des Unbewussten, Frankfurt am Main: Fischer, 1982, S. 75-102, hier: S. 91. 69 | Ibid., S. 125.

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mich der Blick des Anderen, den ich begehre, treffen könnte. In der klassischen Ballettästhetik kulminieren die Schritte und Schrittkombinationen daher stets in gehaltenen Posen. Sie stellen sich in einem Bild still, das dem Betrachter die Einheit mit dem Ideal zu sehen gibt. Umspielt eine zeitgenössische Ballettästhetik wie die William Forsythes jene Posen mit einem anhaltenden Fluss von Bewegungen, verweigert sie gleichsam jenes begehrte imaginäre Objekt.70 Was die Bewegung dem Blick hier also offeriert, ist das ewige Versprechen nach Einheit und Erfüllung, um es gleichzeitig immer offen zuhalten und zu pulverisieren. Was dieser stets fortgerissene Blick begehrt, ist das »Objekt als Absenz«, weil nur durch die Absenz die unaufhörliche Bewegung in Gang gesetzt werden kann. Lacan bringt dieses Sehen mit der Figur des Voyeurs in Zusammenhang, der stets nur »einen Schatten hinterm Vorhang« sucht. Zwar wird er sich irgendeine magische Präsenz zusammenphantasieren, das zierlichste aller Mädchen, selbst dann, wenn auf der anderen Seite nur ein behaarter Athlet ist. Er sucht nicht, wie man sagt, den Phallus – sondern justament dessen Absenz […] Das, was man anblickt, ist das, was sich unmöglich sehen läßt.71

Die Fülle zu sehen, ist demnach eine Täuschung, die zudem überlagert wird von imaginären Bildern, die sogar aus einem »behaarten Athleten« das »zierlichste aller Mädchen« machen können. Von hier aus teilt sich die Dimension des Sehens. Der Anspruch auf der einen Seite, den ich an das Schatten-Bild richte, ist der, es möge das, was fehlt, ganz zeigen. So wird das Körperbild des Tänzers zum Fetisch für das abwesende Objekt, der Präsenz an dem Ort vorspielt, wo nur Absenz ist. Das Begehren nach dem Anderen in Gestalt des Blicks, der das fehlende Objekt symbolisiert, auf der anderen Seite löst eine Suche nach dem Platz des Subjekts aus. Die Bewegung verspricht mir, mich dorthin zu führen, wo mein Blick erwidert wird. Doch dieser Platz bleibt letztlich unbesetzbar, weil meine Position mit dem Ort des Objekts a als tanzendem Körper, als Körper in Bewegung, inkompatibel ist. Ich komme dort nicht an. Ich bin stattdessen ständig im Prozess der Veränderung, des Entstehens, Werdens und des Vergehens begriffen. Die Bewegung im Blick reflektiert die Möglichkeitsbedingung meiner Subjektwerdung, ohne mich ›sein‹ zu lassen: ohne mich los zu lassen und ohne mich in Ruhe zu lassen. Der Preis, den das Subjekt für das erfüllte ›Sein‹ zu entrichten hat, ist die Bewegungslosigkeit, mithin der Stillstand zum Tode. »Die Welt ist allsehend, aber sie ist nicht exhibitionistisch – sie provoziert nicht unseren

70 | Vgl. dazu Kapitel V. dieser Arbeit. 71 | Ibid., S. 191.

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206 | Abwesenheit Blick. Wenn sie anfängt, den Blick zu provozieren, setzt auch schon das Gefühl des Befremdlichen ein.«72 Der böse Blick ist das fascinum, das, was durch seine Wirkung die Bewegung stocken läßt und buchstäblich das Leben ertötet. Im Augenblick, wo das Subjekt einhält und seine Gebärde unterbricht, wird es mortifiziert. […] Der Augenblick des Sehens kann hier nur als Nahtstelle auftreten, als Verbindung zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen […].73

Der offengelegte Blick, der mein Begehren nach dem Anderen an einem anderen Ort offenbart, löst mich aus der imaginären Verhaftung und verweist mich auf meinen Platz in der symbolischen Ordnung jener hypothetischen Gesellschaft, die Zuschauer und Tänzer für die Dauer einer Aufführung bilden. Doch diese Anerkennung, endlich im Bild zu sein, macht mich zum totalen Objekt, wie wir es aus Zuständen des Verliebtseins kennen. Nur aus der Differenz zum Symbolischen sind wir Subjekte, weil uns diese Differenz unsere Bewegung ermöglicht, uns mit Hilfe von Bildern immer wieder anders zu entwerfen, uns und den Anderen mithin immer wieder neu zu befragen. Aus diesem metaphorischen Gebrauch des Begriffs der Bewegung kann man Schlussfolgerung für die konkret im Theater getanzte Bewegung ableiten. Die Bewegung stellt Fragen an den Anderen. Nur aus der Distanz zur Bühne sind wir Subjekte, weil uns diese Distanz in Bewegung versetzt. Die Distanz ermöglicht es uns, uns von der Bewegung auf der Bühne mitreißen zu lassen auf den Entwurf einer Gemeinschaft hin. Der Tanz gestaltet diese Relation zwischen Identifikationen mit den imaginären Bewegungs- und Körperbildern einerseits und der symbolischen Identifikation mit den Orten des Anderen auf der Bühne aus. »[D]er Andere ist also der Ort, wo sich das ich/je konstituiert, das spricht, mit dem, der hört«,74 formuliert Lacan und gibt damit auch eine Definition von Theater. Die Bewegung der Tänzer, die sich dem arretierenden bösen Blick entzieht, erzeugt Orte. Sie vermag den Blick des Zuschauers einzufangen und zurückzugeben, indem sie sich dem Blick stellt. Das Stillstehen als Ende der Bewegung ist die Offenlegung des Symbolischen als immer schon Angeblicktsein. Der leere Ort des Theaters, der Apparat, aus dem die Bilder gewichen sind, blickt mich, wie in Sarah Michelsons Shadowmann, an. Die Abwesenheit zeigt sich und mit ihr der Ort, an dem ich nicht sein kann. Das Stillstehen beschwört den Blick, der, wird er enthüllt, das Verlassen der 72 | Lacan, Grundbegriffe, op.cit., S. 81. 73 | Ibid. S. 125. 74 | Jacques Lacan, Die Psychosen. Das Seminar Buch III, übers. von Michael Turnheim, Weinheim/Berlin: Quadriga, 1997, S. 322 (im Original kursiv).

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IV Das Modell | 207

imaginären Ordnung und die Öffnung aufs Symbolische anzeigt. Denn plötzlich wird der Rahmen des Theaters sichtbar, innerhalb dessen das Subjekt aus der Bewegung als in der symbolischen Ordnung zu positionierendes auftaucht. Dieser Verlust der imaginären Identität, die Öffnung hin zu einem noch nicht Fassbaren, beschreibt noch einmal das, was Georges Didi-Huberman als ›Verlust‹ bezeichnet hat, der einen beim Betrachten von Kunstwerken anblickt und bewegt.

2.3

Vanity: Vincent Dunoyers Spiel mit den Medien

Auch an dieser Stelle sollen zwei Beispiele die Arbeit des Imaginären am Körperbild in Raum und Zeit veranschaulichen. In Vincent Dunoyers zwei 30-Minuten-Stücken Vanity (1999) und The Princess Project (2001) werden Videos dazu benutzt, die lineare Zeitvorstellung und die Einheit des Raumes aufzubrechen. Sie werden zum integralen Teil der Zeitstruktur der Stücke und verwickeln das Publikum in ein Spiel von Präsenz und Abwesenheit, Wiederholung und Erinnerung, Liebe und Verlust. 1962 in Paris geboren, begann Dunoyer seine professionelle Karriere mit Wim Vandekeybus, bevor er 1990 Mitglied von Anne Teresa de Keersmaekers Truppe »Rosas« wurde. 1997 präsentierte er drei für ihn choreographierte Soli von Elizabeth LeCompte von der Wooster Group, Steve Paxton und Anne Teresa de Keersmaeker. Er tanzt nicht seinen Körper, sondern den der anderen. Wenn das Solo im Modernismus den Tänzer sein eigenes Material erschaffen sah und ihn so zum Autor seiner selbst machte, schaffen Dunoyers Soli am Ende des 20. Jahrhunderts eine Distanz zwischen Autor und Performer. Er selbst als imaginärer Anderer – Vincent Dunoyers Aufführungen spielen mit den Gespenstern der tanzenden Körper: den Schatten der Liebe, die den Tanz bis zurück zum klassischen Pas de deux verfolgen, den Schatten der physischen Präsenz als dem Ideal von Intimität, das von Tänzern und Publikum geteilt wird. Der Solist wird »une palette d’échos, une carte de citations«, wie es Rebecca Schneider nennt, ein Ort, an dem das Multiple und Heterogene zum Vorschein kommt.75 In dieser Hinsicht ist Dunoyers Anderes auch das Andere des Tanzes. Die unhintergehbare Präsenz von Körpern, auf denen der Tanz basiert, wird zu ihrer medialisierten Abwesenheit. Diese wiederum gebiert die potentiellen Körper des Tanzes. Vanity ist, so informiert uns das Programmheft, ein Stück »for a dancer, a percussionist, a video camera and a tape-delay system, on a music by James Tenney.« Diese distinkten Elemente sind in drei getrennten Teilen 75 | Rebecca Schneider, »Unbecoming Solo«, in: Claire Rosier (Hg.), La danse en solo. Une figure singulière de la modernité, Pantin: Centre national de la danse, 2002, S. 77-94, hier: S. 86.

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208 | Abwesenheit arrangiert. Zuerst betritt der Musiker die Bühne und beginnt, mit dem Rücken zum Publikum einen großen Gong auf der linken Bühnenseite zu spielen. Langsam beginnt der Klang anzuschwellen, bevor er dann wieder in einem Meer von Tremolos verebbt. Links von der Bühne nimmt ein Tonbandverzögerungssystem die Musikdarbietung inklusive des Publikumsapplauses auf, während der Schlagzeuger sich verbeugt und geht. Jetzt wird das aufgezeichnete Konzert rückwärts vorgespielt. Mit dem Applaus beginnend, betritt Vincent Dunoyer die Bühne und beginnt ein Solo zu tanzen. Sein angespannter Körper ist ausgestreckt, auf die Unterarme gestützt, bevor er einen Arm unter den Körper zieht und darüber abrollt. In der Hand hält er einen kleinen grauen Kasten, scheinbar eine kleine Kamera, mit der er seinen Tanz gleichzeitig aufnimmt. Die Schiene einer Spielzeugeisenbahn ist am vorderen Bühnenrand zu sehen. An einem Punkt des Tanzes platziert Dunoyer die Kamera auf einem Wagon und schiebt diesen an. Wie ein Kamerawagen in einer Filmproduktion filmt nun die Kamera den Tänzer in Bewegung. Als der Tanz endet, verlässt Dunoyer die Bühne. Der dritte Teil der Aufführung besteht dann aus dem Stummfilm des Tanzes, der scheinbar gerade vor unseren Augen aufgezeichnet wurde.76 Dunoyers Stück ist ein Spiel mit Wirklichkeit und Täuschung, Präsenz und Abwesenheit, denn während die Musik tatsächlich live aufgezeichnet wird, ist die vermeintliche Live-Aufzeichnung des Tanzes eine vorher präparierte Täuschung. Was aber wichtiger für mein Argument ist, ist der Perspektivwechsel, der mit dem Film verknüpft ist. Ganz egal, ob sie nun wirklich zur Live-Aufnahme verwendet wird, führt die Kamera einen zweiten Blick auf der Bühne ein, einen Blick, der sich von dem des Publikums und des Tänzers unterscheidet. Während wir Dunoyers Tanz im zweiten Teil trotz aller kinästhetischen Erfahrung dennoch mit einem distanzierten Blick betrachten, bringt uns die cinematische Wiederholung viel näher an seinen Körper heran, obgleich der wirkliche Körper jetzt abwesend ist. Die Kameras zeigt Details, fällt mit seinem Körper, bewegt sich mit ihm, fragmentiert ihn und arrangiert seine Anatomie um. Die Wiederholung spielt noch einmal den Blick des Tänzers auf seinen eigenen Körper als einen Blick außerhalb seiner selbst ab, um unseren objektivierenden Blick auf den Tänzerkörper zu unterwandern. In der minimalen und unmarkierten Distanz zwischen der Kamera und der Haut des Tänzers entstehen neue Körper, Körper, die beständig ihre Form verändern.

76 | Ich habe die Uraufführung im Mousonturm in Frankfurt am Main am 8. Oktober 1999 gesehen. Außerdem lag mir zur Analyse ein Video einer Aufführung vor.

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In Vanity versteht es Dunoyer, die Richtung der Projektion mit einem Trick umzukehren. Es ist jetzt nicht länger das Publikum, das Bilder auf den Körper des Tänzers projiziert. Es ist jetzt der Tänzer auf der Bühne, der fragmentierte und ungesehene Bilder von sich selbst an das Publikum zurückspielt und dadurch den scheinbar stabilen Blickwinkel des Publikums, der für das Erfassen und Reduzieren seines Körpers zum Bild verantwortlich ist, (zer-)stört. Die Intimität, die durch die close-ups der nahe an den bewegten Körper gehaltenen Kamera erzeugt wird, ist dabei natürlich viel größer als die, die von einem umfassenden Gesichtsfeld gewährt wird. Es ist allerdings eine Intimität, die allein auf der Abwesenheit des Tänzers beruht. Der Blick der Kamera tötet den Tänzer und macht ihn zu einem Phantasma. Was Vincent Dunoyer mit seinem kleinen Stück Vanity deutlich macht, ist die asymmetrische Kommunikationssituation zwischen Bühne und Zuschauerraum. Den Blick auf die kleine graue Box der Kamera gerichtet, erzeugt der Tänzer mit jeder Bewegung einen anderen Blickpunkt auf seinen Körper und mit jeder Bewegung einen anderen Raum, der nicht der sein kann, den das Publikum sieht.77 Erst das nachträgliche Einspielen des Films, der als Zeugnis einer Vergangenheit aus der Zukunft des Bühnenraums auf uns zurückkommt, macht uns die räumliche und zeitliche Verschiebung dessen deutlich, was man unter phänomenologischen Gesichts77 | Rudi Laermans hat ebenfalls auf diese Spaltung hingewiesen; vgl. Rudi Laermans, »The Spatial Vanishing Point of the Dancing Body«, in: Hugo Haeghens (Hg.), Media Meditations. On Vincent Dunoyer and Others, Maasmechelen: Cultureel Centrum Maasmechelen, 2003, S. 76-81.

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210 | Abwesenheit punkten gerne verkürzt als Ko-Präsenz von Tänzer und Zuschauer im Theaterraum darstellt. Denn »daß - Du mich nie da erblickst, wo ich dich sehe«, wie es Jacques Lacan in seiner Analyse des Blicks formuliert, besagt, dass wir nie gleichzeitig den Platz einnehmen können, von dem aus die Dinge als identisch wahrzunehmen wären.78 Inmitten des geometralen Raum des Theaters mit seinen Sichtlinien, die durch seine Architektur vorgebeben sind, öffnet sich ein zweiter Raum, der einer anderen Logik folgt. Es ist die Logik des Begehrens, das sich in den verfehlten Blicken zwischen Tänzer und Publikum auftut und das einen Anspruch an den Tänzer formuliert, sich zu zeigen. Doch das, was wir sehen, ist nicht das, was Vincent Dunoyer uns zeigen kann. Abgeschirmt voneinander in zwei disjunkten Räumen, belegen wir uns mit Projektionen, die als Wunsch- oder Idealbild das, was ist, unwiederbringlich verdecken. Um diese Projektionen geht es auch in Dunoyers anderem Solo, The Princess Project, auf das ich jetzt zu sprechen kommen möchte.

2.4

The Princess Project: If love were real […]

Mit The Princess Project entwickelt Vincent Dunoyer ein Stück um die Idee einer abwesenden Partnerin. Ursprünglich als Duett geplant, haben in der Entstehungsphase des Stücks Kamerabilder den Platz der Partnerin eingenommen. Der Einsatz der Bilder verdeutlicht die Idee eines asymmetrischen Raumes und der ihm innewohnenden imaginären Bilder. Das Stück ist eine Reflektion auf die Struktur von Liebe und Begehren. Daher wird – ganz wie im klassischen Ballett – die Prinzessin zum Ideal von Liebe, die hier allerdings als das ausgestellt wird, was sie ist: ein Teil unserer Vorstellung. Die Schritte, die Prinz und Prinzessin als Demonstration ihrer Liebe tanzen, heißen Pas de deux. Vincent Dunoyer nimmt die Zweideutigkeit des französischen Worts ›pas‹ ernst und macht so die Tanzschritte zu ihrer eigenen Negation. Der pas de deux als Ausdruck von Liebe wird so zu einem doppelten Solo, in dem Dunoyer mit seinem eigenen Bild tanzt. Dunoyer bringt das Phantasma der Liebe zur Aufführung, das immer mehr mit Projektionen als mit Wirklichkeit zu tun hat. Das Stück ist in vier Teile und einen Epilog aufgeteilt. Die Titel der Szenen werden auf einen Bildschirm auf der linken Bühnenseite projiziert. »Opening scene – A room – Two persons – B and B – They had the same dream at the same time – Music« steht dort zu lesen. In der Eröffnungsszene sitzt Dunoyer mit seinem Rücken zum Publikum auf dem Boden und bewegt sich, sein Körpergewicht von links nach rechts verlagernd, über die Tanzfläche. Später steht er auf, geht auf und ab und bringt schließlich seinen Körper aus dem Gleichgewicht, bis er vornüber fällt. Seine konzentrier78 | Jacques Lacan, Grundbegriffe, op. cit., S. 109.

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IV Das Modell | 211

ten Bewegungen sind angespannt und kraftvoll. Der erste Akt wird von einer Kamera aufgezeichnet und im zweiten Akt abgespielt. Gleichzeitig produziert dann die Kamera eine Liveaufnahme von Dunoyers Tanz und fügt diese der ersten Aufzeichnung hinzu, so dass Dunoyer einen Pas de deux mit seinem eigenen Bild tanzt.79 In der Tat sind nun drei Dunoyers gleichzeitig auf der Bühne. Das aufgezeichnete Bild aus der unmittelbaren Vergangenheit koexistiert nun mit der Live-Aufzeichnung seines Körpers, während an der Bühnenvorderseite der wirkliche Vincent Dunoyer alleine tanzt. Die Koordination der Bewegungen und Blicke ist perfekt und schafft so die Illusion eines Paares in einer Liebesbeziehung, in der selbst ihre Körper miteinander verschmelzen. Für den Epilog verlässt Dunoyer die Bühne, während »I’m Set Free« von den Velvet Underground gespielt wird. Die Tür zum Foyer öffnet sich, und das, was vom Tänzer bleibt, der für die Dauer der Aufführung auch der Geliebte des Publikums war, ist bloß ein Bild auf unserer Netzhaut. Wie Vanity besteht auch The Princess Project aus einem dritten Blick, der zwischen Tänzer und Publikum interveniert, um die Abhängigkeit des Imaginären vom symbolischen Apparat zu zeigen. Teil des visuellen Apparates sind zwei Fernsehbildschirme, die einander auf der Mittelachse der Bühne zugewandt sind, wobei der vordere mit der Rückseite zum Publikum steht und es dem Tänzer ermöglicht, sein eigenes Bild zu überprüfen. Hinter dem Bildschirm an der Bühnenrückseite zeichnet eine Kamera Dunoyers Bewegungen von einer anderen Position als der des Publikums auf. Die Kamerasicht überlagert und verschiebt so in der Filmprojektion den Blick des Publikums und lenkt ihn um. Dadurch wird die imaginäre Beziehung zwischen Publikum und Tänzer auf der Bühne gedoppelt durch die Beziehung zwischen dem Tänzer und seinem Bild. Die physische Abwesenheit der Prinzessin deckt so das Grundprinzip auf, dem jeder tanzende Körper unterworfen ist, nämlich seine eigene Spektralisierung in einem kontinuierlichen Prozess von Projektionen. In Vanity löst die Wiederholung einer vergangenen Zeit auch einen Vergleich aus mit dem, was wir gerade gesehen oder gehört haben. Wenn der zweite Teil, der Live-Tanz, das akustische Gedächtnis des ersten Teils enthält, dann enthält der dritte Teil, der Film, das imaginäre Gedächtnis von Teil 2. Das gleiche gilt für The Princess Project. Die Wiederholung der Tanzsequenz auf Video und deren Live-Synchronisation mit ihrer leibhaftigen Wiederholung an der Bühnenvorderseite überlagert nicht nur die imaginären Körperbilder. Es überlagert auch Zeitschichten. Diese Wiederholungen sind nicht die Wiederholungen bestimmter Dinge oder Momente, die aus 79 | The Princess Projekt habe ich in der Uraufführung am 2. Februar 2001 im Mousonturm Frankfurt am Main gesehen. Auch hier lag mir außerdem ein Video der Aufführung für die Analyse vor.

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212 | Abwesenheit ihrem ursprünglichen Kontext herausgerissen sind. Sie sind Wiederholungen der Vergangenheit selbst, die mit jedem Moment der Gegenwart koexistiert. Folgt man Gilles Deleuzes Interpretation von Henri Bergsons Matière et mémoire, dann erzeugen sie Zeit-Bilder, die die gesamte Vergangenheit als kristalline Architektur enthalten.80 Jedes aktuelle, reale Bild ist mit einem virtuellen, imaginären Bild gedoppelt, das die gesamte Welt des ersten Bildes wie in einem Zerrspiegel enthält. Jeder Körper ist immer zugleich all seine vorangegangenen Körper, die als imaginäre weiterexistieren. Kreisläufe der Erinnerung entstehen, die das Subjekt aus seiner Zeit in eine andere Zeit versetzen, eine Zeit, die auch die Zeit des Anderen ist, an einem anderen Ort nämlich, dorthin, wo die Bilder den Tänzer projizieren. Dunoyer hebt den Zwischenraum zwischen den imaginären und symbolischen Körpern ins Bewusstsein, einen Raum, der phänomenologisch nicht definiert ist, weil er lediglich Abstand ist. Die Leere zwischen den drei Körperbildern eröffnet jedoch einen psychischen Raum, in dem die Bilder eindringen können, um die Abwesenheit zu füllen, ohne sie jedoch unkenntlich machen zu können. Im Gegenteil. Die Abwesenheit als das, was sich zwischen den Körpern abzeichnet, was sie hervorbringt und auszulöschen droht, bleibt sichtbar als das, was uns am Tanz bewegt.

3

Das Reale, oder: die Arbeit am Unmöglichen

Beschreibt das Register des Symbolischen den Tänzer als Teil einer gesellschaftlichen Ordnung, auf die er sich bezieht, verweist ihn das Imaginäre auf seine Möglichkeiten in Form von Körpern und Bildern, die sich an der Grenze des Symbolischen zeigen. Das Reale schließlich als die dritte Ebene verweist den Tänzerkörper auf seine Materialität. Erfahrungen wie Schmerz und Verletzungen rücken hier ins Blickfeld als Erfahrungen, die das tanzende Subjekt aus den symbolischen und imaginären Ordnungen hinauskatapultieren in einen Bereich des Nichtsymbolisierbaren. Das Reale kann als Reales nicht dargestellt oder repräsentiert werden. Es ereignet sich zwischen den anderen Funktionen als deren Zusammenbruch.

3.1

Die Materialität des Körpers

In Lacans dreiteiligem Modell besetzt das Reale die strukturelle Position des traumatischen Kerns, auf den jede Signifikation aufbaut. Das Reale ist demnach nicht zu verwechseln mit der Realität unserer Lebenswelt. Es ist vielmehr gerade das, was zu ihr keinen Zugang finden kann aufgrund des 80 | Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, übers. von Klaus Englert, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, S. 95.

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IV Das Modell | 213

fundamentalen Seinsmangels, der jedes Subjekt auszeichnet. Dieser Mangel resultiert aus einem Verlust, den Freud in der Entwicklung des Subjekts gleich doppelt verortet. Im primären Narzissmus bezeichnet er das Ablösen von der ursprünglichen Einheit mit der Mutter, die verloren wird, noch bevor sie als Objekt in den Blick geraten kann. Im sekundären Narzissmus bezeichnet der Mangel das Inzestverbot des Vaters, der das begehrte Liebesobjekt, die Mutter, unter Androhung der Kastration unerreichbar macht. Lacan fasst beide unter dem Verbot des Namens-des-Vaters zusammen, das die symbolische Ordnung der Sprache in Gang setzt und sie zugleich für das Subjekt und sein Begehren öffnet. Der traumatische Kern der Kastration wird verworfen, das heißt der Verlust des Phallus’ wird geleugnet und umgangen, indem an die Stelle dieses Mangels nun das Objekt a tritt, das die Lücke im Subjekt vermeintlich zu schließen vermag.81 Das Reale bezeichnet nun den Verlust des ursprünglichen Signifikanten, den Phallus der Mutter, von dem sich das Subjekt kein Bild machen kann. Doch gerade dadurch setzt er den Prozess der Signifikation in Gang, an dem sich das Subjekt aufrichtet. »Was derart Objekt einer Verwerfung* gewesen ist, kehrt im Realen wieder«, schreibt Lacan, so zum Beispiel in Form von Halluzinationen.82 Das Ausgeschlossene, Verworfene bleibt trotzdem Teil der Subjektkonstitution, die auf das Reale als Abwesendes aufbaut. Es bedroht die Grenzen des Subjekts als Abjekt, dessen Rückkehr ins Symbolische nicht durch ein erinnerndes Durcharbeiten bewerkstelligt werden kann, weil sie die Auflösung des Subjekts zur Folge hätte.83 Diese grundlegende Abwesenheit im Symbolischen, um die das Subjekt errichtet wird, das nichtlebbare Trauma, welches das Subjekt begründet, 81 | Lacan findet das Konzept der Verwerfung, das er gegenüber Freuds Konzept der Verdrängung aufwertet, in Freuds Fallbeschreibung des »Wolfsmanns«, des Gerichtsrats Schreber, der »nichts wissen wollte von der Kastration, selbst im Sinne der Verdrängung«. Aus diesem Verwerfen der Kastration, die einem anderen Mechanismus folgt als die Verdrängung, von der das Subjekt im Symptom weiß, resultiert der strukturell psychotische Zustand des Subjekts. Ist Freuds Subjekt prinzipiell neurotisch, ist Lacans Subjekt strukturell psychotisch; Lacan, Psychosen, op. cit., S. 178. 82 | Ibid., S. 226. 83 | Während Slavoj Zizek annimmt, dass das Reale noch nie zum Symbolischen gehörte, gehen Michael Walsh und mit ihm Judith Butler davon aus, dass das Reale schon einmal Symbolisch war und nur verworfen wurde. Dieser Unterschied hat Auswirkungen auf die Veränderbarkeit dessen, was als real bezeichnet wird. Bei Zizek wird das Reale zur ontologischen Essenz, bei Marsh und Butler kann es als historisch kontingent betrachtet werden; Slavoj Zizek, The Sublime Object of Ideology, op. cit. S. 69-84; Judith Butler, Bodies that Matter, op. cit., S. 203-207; Michael Walsh, »Reading the Real«, in: Patrick Colm Hogen/Lalita Pandit (Hg.), Criticism and Lacan, Athens: Univ. of Georgia Press, 1990, S. 64-86. ^ ^

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214 | Abwesenheit liegt im Tanz fast schon selbstverständlich auf der Hand. Das, was aus der symbolischen Ordnung der Bühnensituation ausgeschlossen werden muss, ist die Brüchigkeit des Materials. Es sind die Verletzungsgefahren, denen die Tänzer ausgesetzt sind, Schmerzen, Stürze, Risse und Brüche, die die Ordnung des Tanzes und ihrer imaginären Körper stören und zu Fall bringen. Sie umzingeln den tanzenden Körper, bilden das Trauma seiner Identität und müssen, will er erfolgreich den Anderen bewegen, indem er sich einen imaginären Körper gibt, verworfen werden. Denn ihr Wiedereintritt in die Aufführungssituation würde hier tatsächlich eine körperliche Auflösung des Tänzersubjekts zur Folge haben. Das Spiel mit der Rückkehr des Realen, das die Grenzen des Symbolischen umspielt, ist Teil der Strategie verschiedener Choreographen, die verstärkt seit Mitte der 1980er Jahre auf den Tanzböden Europas und Nordamerikas zu sehen sind.84 In den Arbeiten von Jan Fabre, Wim Vandekeybus oder LalaLa Human Steps werden Schmerz und Verletzungsgefahren nicht mehr länger als Handlungsmoment dargestellt, sondern durch Verfahren der exzessiven Wiederholung und Beschleunigung, die die Tänzer bis zur physischen Erschöpfung treiben, zur körperlichen Erfahrung gemacht. Die Körper der Tänzer artikulieren nicht nur den Schmerz. Sie machen umgekehrt auch erfahrbar, dass jede Form der Artikulation im Tanz mit Schmerz verbunden ist, einem Schmerz, der normalerweise verworfen wird, um die symbolische Ordnung zu schließen.85 Verbunden mit jenen waghalsigen Sprüngen und Stürzen ist eine weitere Dimension des Realen, die Slavoj Zizek als »the Thing and its embodiment« bezeichnet.86 Das Reale ist für Zizek nämlich nicht nur jene nicht symbolisierbare Abwesenheit, sondern gleichzeitig etwas, was sich an deren Stelle setzt, um die Lust des Subjekts zu binden. Die Lust verkörpert sich also in einem ›Ding‹, das zum Körper gehörend sich von diesem ablöst. Zizeks Beispiel hierfür ist die Wunde, an der sich das Subjekt festhält und die ihm gegen seinen Willen Genuss bereitet. Dieses verkörperte Symptom oder, in der Lacanschen Nomenklatura, sinthome, stellt für Zizek nun einen Kurzschluss dar. Denn es ist an keine symbolische Ordnung angeschlossen, sondern stellt eine Verbindung her zum Realen des Subjekts als demjenigen, das das Subjekt zusammenhält. ^ ^

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In so far as the sinthome is a certain signifier which is not enchained in a network but immediately filled, penetrated with enjoyment, its status is by definition ›psychoso84 | Vgl. dazu u.a. Malve Gradinger, »Die neue Gewalttätigkeit im Tanz«, in: Akzente, 40 (1993), S. 141-151. 85 | Als eine Utopie des Tanzes formuliert das Hans-Thies Lehmann, »DIS/ TANZ«, in: Akzente 40 (1993), S. 116-121. 86 | Zizek, Sublime Object, op. cit, S. 122. ^ ^

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IV Das Modell | 215 matic‹, that of a terrifying bodily mark which is merely a mute attestation bearing witness to a disgusting enjoyment, without representing anything or anyone.87

Als stummes, vorprädikatives Zeichen, als Markierung des Realen, das Angstlust oder Ekel hervorruft, manifestiert sich das Ding oder gar der Körper als Ding in den Körperflüssigkeiten wie Blut, Schleim oder Schweiß, mit denen etwa Jan Fabre in seinen Inszenierungen gerne spielt. Das Tierische im und am Menschen, das Fabre in seiner Choreographie Parrots und Guinea Pigs (2002) zum Thema macht, steht als Reales dem christlichen Körperbild des Tanzes als beseeltem Körper entgegen. Das Reale zeigt sich auch in bestimmten Reflexen, wie etwa dem Röten der Haut, mit denen Jérôme Bel in seinem gleichnamigen Stück spielt. Es erscheint auch im leblosen (erschöpften) Daliegen eines Körper wie in Xavier Le Roys Self-Unfinished als Tod der Signifikation, nicht als ursprüngliche Leiblichkeit, sondern als Zwischen von Imaginärem und Symbolischen, das jeden Körper immer schon erfasst hat.

3.2

Bewegung als jouissance ^ ^

Das Reale ist für Zizek zugleich eine Abwesenheit und ein Ding, das ihren Platz einnimmt. Mit dieser Erkenntnis setzt in seiner Argumentation eine Permutation der Begriffe ein. Aus dem Symptom wird das sinthome als lustvoll zu genießendes Ding, als materieller Signifikant, der keinen Anschluss an symbolische Deutungen findet. Dieses verkörperte Ding setzt er im nächsten Schritt mit Lacans Objekt a gleich, indem er es als »objectification of a void, of a discontinuity opened up by the emergence of the signifier« beschreibt.88 Das Objekt a als Objektivierung der Leere markiert mithin »the real-impossible«. In einem nächsten Schritt wird dieses Ersatzobjekt, das sich als Fantasieobjekt an die Stelle der Leere setzt, als »fetishistic embodiment«89 zum Fetisch erhoben. Was auf der Ebene des Imaginären als Objekt a noch identifikatorische Faszination auslöst, wird auf der Ebene des Realen zum Genießen: »it is the signifier as bearer of jouis-sense, enjoyment-in-sense.«90 Jouissance beschreibt das Genießen der Bedeutung, die das Objekt für das Subjekt annimmt. Warum mir der andere etwas bedeutet, liegt daran, dass etwas an ihm diese Bedeutung genießbar macht, ein Mehr an Sinn und ein Mehr als Sinn, das, so Zizeks Lesart, das Subjekt als solches konstituiert und zusammenhält. Ohne diesen Fels des Realen, an dem das Subjekt strandet ^ ^

87 | Ibid. S. 76. 88 | Ibid., S. 95. 89 | Ibid., S. 127. 90 | Ibid., S. 75.

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216 | Abwesenheit und an den es sich klammert, würde das Subjekt in die Psychose abdriften. Sein Symptom zu lieben, heißt, sich selbst zu lieben, weil man ohne sein Symptom nichts ist. Im Tanz stehen der imaginäre Körper und die Bewegungen, die ihn erzeugen, für jenes Fantasiebild des Objekts a. Doch folgen wir Zizeks Argumentation, ist das Bild nicht alles, wenn es um das Genießen geht. Es verführt uns zwar zu begehren, verstellt uns aber mit seinen Bildschirmen den Ort des Begehrens im Anderen. Die Bilderschirme verstellen die Abwesenheit im Anderen, die wir als dessen Reales akzeptieren müssen. Die jouissance als Grund unseres Begehrens wird als solche erst dann sichtbar, wenn wir durch die Fantasie hindurchgegangen sind. ^ ^

Fantasy conceals the fact that the Other, the symbolic order, is structured around some traumatic impossibility, around something which cannot be symbolized – i.e. the real of jouissance: through fantasy, jouissance is domesticated, ›gentrified‹ – so what happens with desire after we ›traverse’ fantasy? Lacan’s answer, in the last pages of his Seminar XI is drive, ultimately the death drive: ›beyond fantasy’ there is no yearning or some kindred sublime phenomenon, ›beyond fantasy‹ we find only drive, its pulsation around the sinthome. ›Going-through-the-fantasy’ is therefore strictly correlative to identification with the sinthome.91

Nachdem das sublimierende Bild und dessen Ideal zusammengebrochen sind, erscheint die Bewegung als reines Pulsieren, als nicht symbolisierbare Intensität, als Tic, als Zucken, als diskrete Sensibilität diesseits einer Tanztechnik oder eines Stils. Bewegung rückt als sinthome der Abwesenheit des Realen, an deren Horizont auch hier der Todestrieb erscheint, ins Zentrum. Durch eine metonymische Verschiebung kann nun der ganze Körper des Tänzers, an den die Bewegung gebunden ist, zum Fetisch, der begehrt wird, erhoben werden. In diesem, an Zizek angelehntem Verständnis des Fetisch bezeichnet dieser nicht mehr einzig und allein ein idealisiertes Objekt. Strukturell gedacht, kann er jedes Objekt sein, das sich um den nichtsymbolisierbaren Kern des Subjekts herum lagert. Reales, Imaginäres und Symbolisches bezeichnen dann unterschiedliche Qualitäten und Funktionsweisen ein und desselben Fetischs. Für Freud ist der Fetisch eben jenes Objekt, das für die zentrale Abwesenheit einsteht, die das Subjekt an die symbolische Ordnung bindet: ^ ^

Wenn ich nun mitteile, der Fetisch ist ein Penisersatz, so werde ich gewiß Enttäuschung hervorrufen. Ich beeile mich darum, hinzuzufügen, nicht der Ersatz eines beliebigen, sondern eines bestimmten, ganz besonderen Penis, der in frühen Kinderjahren eine große Bedeutung hat, aber später verlorengeht. Das heißt: er sollte nor91 | Ibid., S. 123-124.

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IV Das Modell | 217 malerweise aufgegeben werden, aber gerade der Fetisch ist dazu bestimmt, ihn vor dem Untergang zu behüten. Um es klarer zu sagen, der Fetisch ist der Ersatz für den Phallus des Weibes (der Mutter), an den das Knäblein geglaubt hat und auf den es – wir wissen warum – nicht verzichten will. Der Hergang war also der, daß der Knabe sich geweigert hat, die Tatsache seiner Wahrnehmung, daß das Weib keinen Penis besitzt, zur Kenntnis zu nehmen. Nein, das kann nicht wahr sein, denn wenn das Weib kastriert ist, ist sein eigener Penisbesitz bedroht, und dagegen sträubt sich das Stück Narzißmus, mit dem die Natur vorsorglich gerade dieses Organ ausgestattet hat.92

Der Fetisch hält den Glauben an den Phallus der Mutter aufrecht, um den Knaben vor der eigenen Kastrationsangst zu schützen. Dennoch wischt er, so Freud, die Wahrnehmung, dass da ›Nichts‹ ist, keineswegs einfach weg. »Es ist nicht richtig, dass das Kind sich nach seiner Beobachtung am Weibe den Glauben an den Phallus des Weibes unverändert gerettet hat. Es hat ihn bewahrt, aber auch aufgegeben«.93 Aufgrund der Stärke des Wunsches kommt es in den unbewussten Primärvorgängen zu einer Kompromissbildung, die beides gleichzeitig zulässt, die Akzeptanz der Kastrationsdrohung und damit verbunden das Aufgeben des Wunsches nach dem Phallus der Mutter und die Anerkennung der Realität, sowie das Leugnen der Kastration und damit verbunden das Aufrechterhalten des Wunsches im Fetisch.94 Der Fetisch ist demnach die Präsenz der Abwesenheit, die nur präsent sein kann, weil sie sich als etwas anderes verkleidet. An dieser Verkleidung aber hängt das Genießen des Subjekts, das so die verkleidete Abwesenheit genießt. Die Flüchtigkeit des Tanzes, von der wir ausgegangen sind, ist vom Blickpunkt des Realen aus nichts, was arretiert werden müsste, um es aus 92 | Sigmund Freud, »Fetischismus«, in: ders, Studienausgabe Band III. Psychologie des Unbewußten, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1982, S. 379-388, hier: S. 383384. 93 | Ibid., S. 384-385. 94 | Freud nähert sich hier dem Tatbestand der Psychose, deren Verbindung zum Fetisch er in »Die Ichspaltung im Abwehrvorgang« direkt aufgreift. Das Ich lässt sich zwar vom Es dazu »fortreißen […], sich von einem Stück der Realität zu lösen« (ibid., S. 386), es fällt aber dennoch nicht in die Psychose, weil es »keinen Penis dorthin halluziniert, wo keiner zu sehen war, sondern er hat nur eine Wertverschiebung vorgenommen, die Penisbedeutung einem anderen Körperteil übertragen«; Freud, »Die Ichspaltung im Abwehrvorgang«, in: ders., Studienausgabe Band III. Psychologie des Unbewußten, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1982, S. 389-394, hier: S. 393. Von diesem Punkt aus ließe sich auch eine Kritik an Lacans Hypostasierung der Psychose als Grundstruktur des Subjekts ableiten, wie es etwa Hanna Gekle getan hat; vgl. Hanna Gekle, Tod im Spiegel. Zu Lacans Theorie des Imaginären, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996.

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218 | Abwesenheit Angst vor dem Verlust, der ohnehin immer schon stattgefunden hat, in etwas Positives, Gegebenes und deshalb Analysierbares zu verwandeln. Im Realen und nur hier steht die Bewegung für ein hemmungsloses Genießen, gerade weil sie mit der Abwesenheit spielt. Dass es eben jene Ebene des Realen ist, die wie Pierre Legendre gezeigt hat, verworfen werden muss, damit sich der Tanz als ordentlicher legitimiert, wird historisch am Ballett besonders deutlich. Hier berühren wir die ideologische Funktion des Fetischs. Schon Freud hat bemerkt, dass der Fuß oder der Schuh oder Teile davon bevorzugt zum Fetisch taugen, weil sie sich »von unten« dem weiblichen Genital nähern.95 Ebenso wie der Schlüpfer, der das Genital verdeckt, stehen Fuß und Bein in metonymischer Verschiebung, die nach wie vor eine räumliche Nähe und Kontiguität zum begehrten Objekt impliziert, für den Phallus. Übertragen auf das Ballett kann man daher vom gestreckten Bein und dem Spitzenschuh der Ballerina sowie vom Tutu, das in dem Maße kürzer wird, wie der Spitzentanz zentraler wird, als Fetische sprechen. Schon in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts wurde mit dem Tanz auf Spitze experimentiert. Doch da die Schuhe das gestreckte Bein nur schwer stützen konnten, vermochten die Tänzerinnen nicht lange auf Spitze zu bleiben. Erst Maria Taglioni setzte nach jahrelangem rigorosen Training in den dreißiger Jahren neue Standards für das mühelosen Gleiten vom flachen Fuß auf Spitze.96 Die Form des gestreckten Beines bietet sich für die Verschiebung der Penisfunktion geradezu an. Théophile Gautier beschreibt 1871 die Ballerina Léontine Beaugrand an der Pariser Oper als »ferme sur ses pointes acérées comme sur des fers de flèche«.97 Die Spitzenschuhe, die sich wie Pfeilspitzen aus Eisen in den Boden bohren, sind für Gautier in einer Mischung aus Angst und Lust ebenso faszinierend wie gefährlich, eine Gefährlichkeit, die dem realen Objekt in keiner Weise zukommt. Besteht doch der Schuh lediglich aus Satin und einer verstärkten Vorderpartie. »Wir befinden uns mitten im Phantasma«, schreibt Philippe Verrièle. »Denn der Charme dieser geheimnisvollen Hülle scheint so betörend, dass er sich selbstständig macht und am Ende den Fuß völlig überdeckt. Die Tänzerin ist zum pfeilgeraden 95 | Freud, »Fetischismus«, op. cit., S. 386. 96 | Susan Leigh Foster untersucht die neue Spitzentechnik, die allein den Tänzerinnen vorbehalten war, vor dem Hintergrund der geschlechtlichen Codierung des Balletts, im Zuge dessen die Frau als ätherisches Wesen zum Objekt degradiert werde; vgl. Susan Leigh Foster, Choreography and Narrative. Ballet’s Staging of Story and Desire, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press, 1998, S. 203 und Susan Leigh Foster, »The Ballerina’s Phallic Pointe« in: Susan Leigh Foster (Hg.), Corporealities. Dancing Knowledge, Culture and Power, London/New York: Routledge, 1996, S. 1-24. 97 | Théophile Gautier, Écrits sur la danse,op. cit., S. 348.

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IV Das Modell | 219

Phänomen aus Geheimnis und seidigen Stoffen geworden.«98 Durch die Verkleidung des Fußes mit dem Seidenstoff wird der Fuß mehr als nur ein Fuß. Er wird mit einem Genießen besetzt und überhöht. Die Seide des Schuhs ist ebenso wie die weiße Musseline des Rocks im Wortsinn ein Hauch von Nichts. Die Materialien suggerieren Weichheit, Leichtigkeit und Durchlässigkeit und spielen so mit dem Blick des Voyeurs, indem sie zu Zeigen vorgeben, nur um das begehrte Objekt doch zu verdecken. Nun wäre dieser ›corps-fetiche‹ vom dem Legendre bereits spricht, nichts Außergewöhnliches, ersetzt er doch unsere Abwesenheit am Ort des Anderen, auf der Bühne nämlich, um das Andere begehren zu können. Mit dem romantischen Ballett des 19. Jahrhunderts wurde jenes Andere als weiblich definiert. Hier berühren wir die ideologische Funktion jenes Fetischs, der zum privilegierten Signifikanten erhöht wird, um das Ballett als System zu schließen. In der neuen Pädagogik, die sich am Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte, wurden zwei Ideale miteinander verknüpft. Charles Blasis, Ballettmeister an der Mailänder Scala, beschreibt in seinem Werk Traité elémentaire, théorique et pratique de l’art de la danse 1820 die aufrechte Haltung des Körpers als grundlegend für jede Art der Tanzbewegung. »Il faut que le corps soit toujours droit«, legt er fest, »cependant il faut qu’il se trouve sans cesse assis sur les hanches, en équilibre sur ses pivots«.99 Fest in den Hüften verankert und im Gleichgewicht in seinen Achsendrehpunkten, besteht der Körper aus geraden Linien, deren Kombinationsmöglichkeiten er der Geometrie entlehnt hat. Als Hilfsmittel zu Lehrzwecken dient ihm dabei ein Strichmännchen, das, wie jeder BallettKörper, aus einer zentralen geraden Achse besteht, an der die Gliedmaßen angehängt sind.100 So ist das Skelett Stütze und Sitz der Bewegung, dessen kombinierbare Einzelteile, daran lässt Théophile Gautier keinen Zweifel, der Fetischisierung zuträglich sind: Mlle Elssler a des bras ronds, bien tournés, ne laissant pas percer les os du coude, et n’ayant rien de la misère de formes des bras de ses compagnions, que leur affreuse maigreur fait ressembler à des pinces de homard passées au blanc d’Espagne. Sa poitrine même est assez remplie […] L’on ne voit pas non plus s’agiter sur son dos ces deux équerres osseuses qui ont l’air des racines d’une aile arrachée. Quant au caractère de sa tête, nous avouons qu’il ne nous paraît pas aussi gracieux que l’on dit.101

98 | Philippe Verrièle, »Der Stoff, aus dem die Ballerina ist«, in: Ballettanz 10 (2), Februar 2003, S. 72-75, hier: S. 73. 99 | Charles Blasis, Traité elémentaire, théorique et pratique de l’art de la danse, Nachdruck der Ausgabe Mailand 1820, Arnaldo Forni Editore, 2000, S. 52. 100 | Ibid., S. 15-16. 101 | Gautier, op. cit., S. 49.

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220 | Abwesenheit Aussehen und Knochenstruktur unterliegen der Bewertung, weil sie als »dons de la nature«, als Gaben der Natur, so Blasis, Voraussetzung für die Tanzkunst sind.102 Um jedoch mehr zu sein als nur Knochen, müssen, wie Pierre Legendre gezeigt hat, diese Körperteile überhöht und beseelt werden. Das geschieht durch das Prinzip der élévation und der damit verbundenen Vorstellung von Leichtigkeit und Schwerelosigkeit. Vom männlichen Ballon (der Spannweite zwischen Absprung und Landung) fordert Blasis, dass er den Eindruck gewinnen müsse, der Tänzer sei bereit, sich in die Luft zu erheben: »que je puisse croire que vous effleurez à peine la terre, que vous êtes prêt à vous envoler dans les airs«103, und die Arabesque, eine Figur, die Blasis ins Repertoire eingefügt hat, als perfekt gerundete Streckung des Körpers im Raum, überzeugt ihn »par leur légèreté presque aérienne«.104 Im Spitzentanz der Ballerina und in ihrem gestreckten Bein, Fuß und Schuh, verbinden sich beide Vorstellungen. Das Bein auf Spitze ist zugleich die größtmögliche Streckung des Körpers, der ihn in die himmlischen Sphären der (idealen) Liebe erhebt und die perfekte Betonung der Körperachse.105 Interessanterweise finden sich in Blasis’ Traktat keinerlei Hinweise auf den Spitzentanz, mit dem zur gleichen Zeit, als er seine Schrift verfasste, Tänzerinnen und Ballettmeister experimentierten. Der Fetisch, der zugleich den Wunsch erfüllt und die Kastration akzeptiert, der Fetisch als Anwesenheit, die eine Abwesenheit umschließt, manifestiert sich so auch im offiziellen pädagogischen Diskurs als Abwesenheit, die das Phantasma füllt. Im Diskurs des Balletts bleibt das Genießen an die korrekte Erfüllung der Technik gebunden. Jedes Fehlschlagen der korrekten Bewegung würde das Phantasma durchbrechen und den Fetisch auf seinen Status als Ding, als Ausscheidung und Verwerfung, reduzieren. Der Einbruch des Realen verweigert zunächst jenen genießerischen Mehrwert der Bewegung. Befreit vom Fantasiebild, das der Fetisch auf der Ebene des Imaginären festhält, kann er auf der Ebene des Realen anders zu wirken beginnen. Damit kommt dem Wechsel der Ebenen auch eine kritische Funktion zu: Bringt sich die Bewegung auf der Ebene des Realen ins Spiel, hinterfragt und analysiert sie ihre Funktion als Fetisch auf der Ebene des Imaginären. Rückblickend auf Mallarmé und den Diskurs der Moderne im Tanz kann man sagen, dass ein Austausch des Fetischs stattgefunden hat. Der 102 | Blasis, op. cit., S. 41. 103 | Ibid., S. 27. 104 | Ibid., S. 25. 105 | Giorgio Agamben benutzt das Konzept des Fetischs als Anwesenheit, die eine Abwesenheit umschließt, in seiner Analyse der mittelalterlichen Minnedichtung; Agamben, Stanzas, op. cit.

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IV Das Modell | 221

Spitzenschuh wurde abgelöst von Loïe Fullers fließenden Gewändern, die als Signifikant für die fließende Flüchtigkeit der Bewegung einstehen, einer Bewegung, die stets abwesend sein muss, um Effekte der Faszination auszulösen. Die Substitution tastet die Logik des Fetischs nicht an, die die gleiche ist wie im Ballett. Mallarmé hat selbst festgestellt, dass der letzte Schleier der Tänzerin niemals fallen darf. Offenbarte sich doch dann das Nichts, das er so zauberhaft in Szene setzt. Über die Verschiebungen innerhalb der Trias von Körper, Bewegung und dem, was sie (re)präsentieren soll, bleibt in den unterschiedlichen Konfigurationen jeweils ein Glied in der Kette abwesend, das, wie Isadora Duncans ›Körper‹, genau jener neuralgische Punkt ist, über dem sich der Tanzdiskurs der Moderne als vermeintlich ›neuer‹, ›revolutionärer‹ schließt. Wir werden im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit William Forsythe darauf zurückkommen. An dieser Stelle schließt sich nämlich das Reale an den symbolischen Text einer Kultur an und verweist damit zurück auf das Symbolische als Arbeit an der Repräsentation.

3.3

Boris Charmatz, Con forts fleuve: Körper zwischen Sprache und Stimme

Eine Arbeit am Realen des Körpers unternimmt Boris Charmatz. Der junge französische Tänzer und Choreograf ist weder auf der symbolischen noch auf der imaginären Ebene an der Arbeit mit Körperbildern interessiert. Vielmehr arbeitet er an einer Aufladung des realen organischen Körpers, der den Tanz auf der Bühne gefährdet und der die Wahrnehmung des Körpers auf der Bühne verändert. 1973 in Chambéry geboren, erhielt Charmatz zunächst eine Ausbildung als klassischer Tänzer an der Pariser Oper, bevor er sich sechs Monate lang am Konservatorium in Lyon mit zeitgenössischen Tanzformen und -techniken auseinandersetzte. Zusammen mit dem Tänzer Dimitri Chamblas entwickelte er 1993 seine erste eigene Arbeit, A bras le corps. Das Duo der beiden, das auf Techniken der Kontaktimprovisation aufbaut, wird auf einer quadratischen Fläche getanzt, die auf allen vier Seiten dicht von Stuhlreihen oder Bänken gesäumt wird. Zwei Stühle bleiben jedoch zunächst frei. Erst später nehmen die beiden Tänzer dort Platz, um auf die leere Tanzfläche zu schauen, als seien sie Zuschauer in ihrem eigenen Stück, das in diesen Momenten jedoch gerade unterbrochen scheint, weil es auf der Bühne nichts zu sehen gibt. Die unmittelbare Nähe des Publikums zum Geschehen und zu den Tänzern, deren Atmen man hört und deren Körper man riecht und spürt, hat den Effekt, dass man sehr bald die Choreographie und sogar den Tanz vergisst. Das lauter und heftiger werdende Atmen der Tänzer, das harte Aufprallen der Körper auf dem Boden, das Quietschen, Rutschen und Abstoppen der Füße auf dem Tanzboden, das Rascheln des Stoffes und der dumpfe Klang des Körpers, wenn der jeweils andere ihn mit dem Arm umfasst – all

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222 | Abwesenheit diese Eindrücke, die jeder Tänzer, auch wenn er auf einer Opernbühne tanzt, unweigerlich produziert, drängen sich hier in den Vordergrund. Nur werden sie hier gerade nicht kaschiert, sondern aufgrund der geringen Distanz zur Bühne für die Zuschauer unmittelbar körperlich erfahrbar gemacht. Jenseits des bedeutenden Bildes, das der tanzende Körper auf einer gerahmten Bühne abgibt, entwickelt er hier durch seine Physis in der Wahrnehmung der Zuschauer eine andere Art der Körperlichkeit, die noch diesseits ihrer gesellschaftlichen und bedeutenden Funktion liegt. Hier zeichnet sich am Horizont das Auftauchen eines neuen, anderen Körpers ab, ein Körper im Zustand reiner Potentialität. »Wir arbeiten eher an Investments, Qualitäten und Präsenzformen als an von außen wahrnehmbaren Bildern«, sagt Charmatz in einem Interview.106 Wir arbeiten in keiner Weise an den Bildern, sondern aus dem Inneren des Tanzes heraus, auch dann noch, wenn in einem Stück nicht ausgebildete Tänzer mitarbeiten. Ich finde die Fragestellungen für meine Arbeit in der Kinästhesie, im Inneren des Körpers selbst. Dabei kämpfe ich auch gegen das Bild meines eigenen Körpers. Als Choreograph betrachtet man von außen, was auf der Bühne geschieht. Das versuche ich zu verhindern, indem ich mich als Tänzer mitten hinein begebe in die Szene.107

Charmatz’ Absage an die Arbeit am Körperbild gründet für ihn in der Ablehnung eines Stils, der dazu benutzt wird, bestimmte Disziplinen und Genres voneinander zu unterscheiden. In letzter Konsequenz hängt die Definition dessen, was als Tanz gilt und was zum System des Tanzes gehört, vom Stil und der damit verbundenen Technik ab. Charmatz lehnt die Systematisierung des Tanzes ab. Il est très important pour nous de rejeter le travail du visible (ça a commencé avec A bras le corps). Ce n’est pas pour rien si, dans les studios et même dans certains studios de danse contemporaine, il y a une barre et mirroir: la danse travail la redressement et l’image, au sense spéculaire. Alors le fait de déployer les spectateurs en carré, et de traviallé sur la nudité, permt de dépasser cette posture de perception visuelle et d’entrer dans des affaires d’investissements et de tensions qui nous connecte aux couches les plus larges, le plus chargées de potentiel de l’expérience du sujet, et pas seulement à une petite »théâtralité des passions«.108

106 | Helmut Ploebst, No Wind No Word, op. cit., S. 170. 107 | Das Zitat stammt aus einem Gespräch, das ich mit Boris Charmatz im August 2000 in Wien anläßlich des Festivals Tanz2000.at geführt habe. 108 | Laurence Louppe, »Boris Charmatz. La communauté à venir«, in: Art Press 252 (Dezember 1999), S. 45-48, hier: S. 46.

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Diese veränderten körperlichen Sensibilitäten und Motilitäten, die das Subjekt über die visuelle Repräsentation hinaus führen, werden in den einzelnen Stücken in je spezifischen Versuchsanordnungen erzeugt und präsentiert. Unter Ausblendung des visuellen Imaginären109 schließen sich dabei das Symbolische und das Reale kurz, was zu einer Choreographie des Unlesbaren, Unsichtbaren und damit zu einer körperlichen jouissance führt. Diese körperlichen Investments werden in Zonen der Abwesenheit artikuliert, die sowohl den Theaterraum als auch den Körper selbst betreffen. Dies soll im Folgenden am Beispiel von Boris Charmatz’ großem Bühnenstück Con forts fleuve aus dem Jahr 1999 untersucht werden.110 Beim Betreten des Theaterraums stellen die Zuschauer fest, dass die linke Hälfte der Sitzreihen mit einem Streifen rot-weißen Markierungsband abgesperrt ist. Die Teilung des Raumes setzt sich bis hinunter auf die Bühne fort, deren linke Hälfte ebenfalls leer bleibt. Nur einmal gegen Ende des Stücks löst sich eine Gestalt aus der rechten Hälfte und schiebt sich rückwärts, in sich gedreht in der Diagonalen tanzend, in die Leere, um in der hinteren Ecke zu verschwinden. Ein Gefühl der Enge, des Zusammenrükkenmüssens, stellt sich sofort ein, obwohl jeder Zuschauer nach wie vor einen eigenen Sitzplatz einnehmen kann. Wenn das Licht im Zuschauerraum erlischt, wird zunächst die rechte Bühnenhälfte beleuchtet. Eine bräunliche Decke bedeckt den Boden, während oben ein Baldachin aus Decken ein Dach bildet. Das Licht beginnt zu wandern. Es kehrt der Bühne den Rücken und erleuchtet als nächstes die rechte, besetzte Hälfte der Zuschauertribüne, um dann die leere linke Seite in den Blick zu nehmen. Plötzlich bemerkt man zwischen den leeren Stühlen Gestalten, die sich blitzschnell über die Stuhllehnen rollen, auf dem Boden in den Gängen liegen bleiben, bevor sie krachend nach unten klettern, um von der Bühne Besitz zu ergreifen. Das Aufprallen einzelner Gliedmaßen auf die Stühle, das Geräusch, wenn die Körper die Stufen zur Bühne hinunterrollen, erzeugt ein Gefühl der Verletzbarkeit, als schabten die Körper ihre Haut ab. Unten angekommen, stellt man fest, dass sie verpackt sind wie Skulpturen von Christo. Sie tragen Jeanshosen über ihren Köpfen und dicke Handschuhe, was ihr Geschlecht weitgehend unkenntlich macht. Die bräunliche Decke wird nun an zwei Seilen langsam nach hinten weggezogen, bis sie die Bühnenrückwand abgehängt hat. Ein Ghettoblaster wird an der Rampe freige-

109 | Inwieweit es auch andere, z.B. taktile Formen eines Imaginären geben kann, muss an dieser Stelle offen gelassen werden, vgl. dazu Kapitel VIII. der vorliegenden Arbeit. 110 | Die Uraufführung fand am 7. Oktober 1999 in Brest, Frankreich statt. Ich habe das Stück in den Sophiensälen in Wien am 4. August 2000 sowie wenige Tage später im Theater am Halleschen Ufer, Berlin gesehen.

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224 | Abwesenheit legt, wo auch ein Mikrophon hängt. Ein dumpfes spannungsgeladenes Brummen erfüllt den ganzen Raum.

Bereits in dieser Anfangsszene lässt sich ein Prinzip erkennen, das sich in der Choreographie und der Bewegungsgestaltung fortsetzt. Charmatz’ Methode der Verdichtung und der Kompression setzt Zuschauer und Tänzer gleichermaßen unter Spannung. Für die Tänzer bedeutet ihre Vermummung, die ihnen auch die Sicht auf ihre Partner auf der Bühne nimmt und das Atmen erschwert, eine signifikante Einschränkung ihrer konventionellen Ausdrucksmöglichkeiten von Mimik und Gestik sowie ihrer Bewegungsfreiheit. Umgekehrt wird es dem Zuschauer durch das Verhüllen von Gesicht und Händen erschwert, sich mit den Tänzern in irgendeiner Form zu identifizieren. Was er oder sie wahrnimmt, sind nicht in erster Linie Personen mit wiedererkennbaren Körperbildern und -schemata, sondern körperliche Energien und Zustände. Sie werden entsubjektiviert, indem sie auf ihr ungenutztes und noch unbestimmtes Potential an Energie zurückgeworfen werden, und skulpturalen Objekten angenähert, die uns auf unheimliche Art und Weise begegnen. Diese Art einer fast subkutanen Wahrnehmung wird auch auf der Ebene der Choreographie unterstützt. Das Verfahren, das Charmatz hierzu anwendet, besteht aus dem Wechsel von schnellen bewegten Phasen, in denen sich die Tänzer auf der einen Bühnenhälfte neu gruppieren, und Phasen des Stillstandes, in denen sie sich in verschiedenen Konstellationen von Duos und Trios gegenseitig blockieren, so dass, sofern sie möglich ist, Bewegung nur am Platz auf engstem Raum stattfinden kann. Dies führt zu Konglomeraten und Zusammenballungen von Körpern, die extrem verdichtet erscheinen. Findet das Stocken aufgestauter Bewegungsenergie, die in den Körper zurückfließt und ihn von innen heraus mit Spannung auflädt,

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für den Zuschauer sichtbar statt, ist die eigentliche Bewegungsphase durch Blackouts ins Dunkel gehüllt und somit nur hörbar. Sowohl die Körper als auch ihre Bewegungen werden damit ausgeblendet. Sie werden der Sichtbarkeit entrissen, entleert und nur mehr als abwesende anders wahrnehmbar. Charmatz selbst spricht von einer »présence désinvestie«, einer ausgehöhlten Präsenz. »Le corps devient un lieu de flottement, de ›vacance‹, et nous nous livrons au regard du public.«111 Die Vorstellung von Präsenz wird hinterfragt, gar ausgelöscht, indem in ihre scheinbare Ungeteiltheit Abwesenheiten, Leerstellen eingefügt werden, die die Wahrnehmung der Tänzer und der Zuschauer stören und öffnen. Ein solcher nicht definierter Raum entsteht durch die Spaltung von Hören und Sehen. Dass die Bewegungen überwiegend hörbar und nicht sichtbar sind, wurde bereits festgestellt. Aber auch Körper werden in Con forts fleuve auf der akustischen Ebene erzeugt. Eine zentrale Szene des Stücks besteht aus einer zehnminütigen Toncollage, in der verschiedene Stimmen überlagert werden. Über der Bühne kreist ein Mikrophon, das Töne, Laute und Geräusche der Tänzer, die dabei zum Teil auf dem Rücken liegen, einfängt. Sie experimentieren mit den materiellen Qualitäten ihrer Stimmen, Tonalität, Timbre, ihrer Rauheit und Kehligkeit, wenn etwa die Luft sich an Kehlkopf, Luftröhre und Mundhöhle reibt. Die Stimme wird hier mit Körper aufgeladen und erscheint als eine Abzweigung, die der Körper nimmt, um mit und in der Stimme zu tanzen.112 In dem allgemeinen Heulen, Brüllen und Lallen sind die Quellen der Laute nicht mehr auszumachen. Ein einziger, in sich differenzierter Klangkörper wird evoziert, der kein physisches Pendant auf der Bühne hat, der als Körper abwesend ist, aber von den Stimmen als Triebkörper imaginiert wird. Dieser Körper, der auf dem Weg zur Sprache ist, wird nun von zwei nur als Tonaufnahme existierenden oral poems des amerikanischen Poeten John Giorno aus den sechziger Jahren punktiert. Sowohl »Pornographic Poem« als auch »Give It To Me, Baby« werden zum Teil live in einer französischen Übersetzung auf der Bühne schnell und rastlos gesprochen, zum Teil aber auch vom Band eingespielt. Auch Giornos Gedichte sind körperliche Texte, in denen sich alltägliche Vorgänge wie das Essen mit Gewalt und Begehren, Revolution und sexueller Befreiung mischen. Die Sprache, sowohl in ihrer semantischen als auch in ihrer lautlichen Dimension, erzeugt mithin begehrende Körper, die im Kontrast stehen zu den entsexualisierten Körpern der verhüllten Tänzer auf der Bühne. Zwischen Körper und Sprache bleiben

111 | Louppe, op. cit., S. 47. 112 | Zu dieser Szene vgl. Boris Charmatz/Isabelle Launay, Entretenir. A propos d’une danse contemporaine, Pantin: Centre nationale de la danse, 2002, S. 116-121.

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226 | Abwesenheit die stimmlich evozierten begehrenden Körper abwesend, weil sie keine Repräsentation auf der Bühne finden können.113 Als drittes Element kommt in dieser Szene eine Kakophonie aus Geräuschen hinzu, die Giornos Texte regelrecht zerkratzt und zerreißt. Im Bühnenhintergrund steht ein vermeintlicher DJ hinter seinem Mischpult, erzeugt scheinbar Feedback, fällt über sein Gerät und umarmt es, als sei er völlig außer Kontrolle geraten. Doch die Geräusche sind aufgezeichnet, der DJ ist kein DJ. Seine Bewegungen ändern an der Musik nichts, was als ein ironischer Verweis auf den Kult des Livegeschehens und der Vorstellung von Präsenz verstanden werden kann, die sich mit der Figur des DJ, der darüber hinaus als einziger unverhüllt auf der Bühne agiert, verbindet. Am Schluss wird die Szene vor den Augen der Zuschauer ausgelöscht. Die Tänzer werden mit Pfeilen, die aus dem Schnürboden herabfallen, erschossen und bleiben in einem sternenförmigen Arrangement auf dem Boden liegen. Eine Figur im weißen T-Shirt bleibt in deren Mitte stehen, während »Pornographic Poem« noch einmal eingespielt wird. Schließlich geht auch sie zu Boden. Die Figur des DJ ist vor das Pult getreten und zieht an einem Seil. Damit löst er die grauen Wolldecken unter der Decke aus ihrer Verankerung und lässt sie einzeln nacheinander auf die Tänzer herunter segeln, bis sie darunter begraben sind. Was Boris Charmatz choreographiert, sind nicht mehr länger in erster Linie Bewegungen in Raum und Zeit. Es sind Sensibilitäten, die den Körper durchlaufen und die er durch das Aufbauen von Hindernissen, von Blockaden, erzeugt und hervorlockt. Diese erscheinen als unbedeutende Symptome des Körpers in einem symbolischen Raum, der durch seine Gestaltung stets auf sich aufmerksam macht. Als Reales brechen sie in den Raum des Tanzes ein, um das, was in ihm bislang aus Gründen des Stils oder der Technik verworfen werden musste, zurückkehren zu lassen.

3.4

Thomas Lehmen, Mono Subjects: Die Uneinholbarkeit des Realen

Bei der zweiten Vorstellung seines Solos Distanzlos in Hong Kong sei es passiert. Gelangweilt, weil der zweite Abend nur mehr eine blasse Kopie des ersten zu werden drohte, ließ seine Konzentration nach. Dann zeigt er uns, was passierte. Thomas Lehmen rennt über die Bühne, knickt ein und fällt hin. Laut schreiend ruft er ins Publikum, dass das nicht zur Show gehöre, sondern echt sei. Eine alte Sportverletzung am Knie habe sich wieder gemeldet, doch statt die Vorstellung abzubrechen, habe er die Zähne zusam113 | Vgl. Helga Finter, »Die Theatralisierung der Stimme im Experimentaltheater«, in: Klaus Oehler (Hg.) Zeichen und Realität, Tübingen: Stauffenberg Verlag, 1984, S. 1007-1021.

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mengebissen und den Abend gut über die Bühne gebracht. Seitdem, so erklärt er dem Publikum, wisse er, das es möglich sei, auf der Bühne etwas Echtes zu machen. Mono Subjects kreist, wie die anderen Stücke von Thomas Lehmen, um Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Fiktion.114 Lehmen, 1963 in Oberhausen geboren, hat in den achtziger Jahren an der School for New Dance Development in Amsterdam studiert, bevor er 1990 nach Berlin kam, wo er in verschiedenen Kompanien, u.a. auch mit Mark Tompkins, getanzt hat. Seit 1997 erarbeitet er seine eigenen Stücke, die wie Mono Subjects versuchen, das Reale einzukreisen. Lehmen sucht darin nach Wegen für Tänzer und Darsteller, auf der Bühne einfach sie selbst zu sein, ohne den Umweg über ein darzustellendes Drittes nehmen zu müssen. Dazu schreibt er selbst: Was passiert, wenn ich keine Haltung mehr einnehme, wenn ich mich vor ein Publikum stelle? Was passiert, wenn die Tanzenden sich nicht in eine Rolle hineinbegeben und noch nicht einmal die Rolle der Tanzenden einnehmen wollen? Trotzdem aber tanzen und sich nur durch ihr Bewusstsein vom Publikum […] unterscheiden […]. Dieses Heranrücken an die Privatheit der Performer oder sogar das Überschreiten der Grenzen zwischen Privatperson und Bühnendarstellung kann eine gewisse Reaktion des Unbehagens […] hervorrufen. Die Tanzenden lassen die Haltung, ein Bild zu produzieren, fallen. Sie erfüllen nicht mehr die traditionelle Funktion der Figur, die betrachtet wird, sondern gleichen sich dem betrachtenden Publikum an. Das Publikum verliert sein Projektions-Objekt, und niemand auf der Bühne bietet diesem noch Lösungen an. […] Die Form der traditionellen Trennung von Realität und Spiel löst sich auf.115

Wie Boris Charmatz geht es Thomas Lehmen nicht um eine Arbeit am Bild des Tänzers, das »Projektions-Objekt«, das durch einen bestimmten Tanzstil definiert wäre. Seine Versuche, das Reale auf der Bühne einzuholen, münden jedoch notgedrungen in die Feststellung, das das Reale uneinholbar ist. Das Trauma der Verletzung auf offener Bühne, das jede Form der Illusion und Fiktion radikal durchbricht und aufhebt, beendet gleichzeitig die Aufführung und sprengt damit den Rahmen, innerhalb dessen es doch erscheinen soll. Das Reale kann sich in der Aufführung nicht ereignen, ohne diese aufzulösen. Kann das Publikum in Mono Subjects in den ersten 114 | Das Stück wurde am 5. April 2001 im Podewil, Berlin uraufgeführt. Ich habe eine Voraufführung im Frankfurter Mousonturm am 22. März 2001, sowie eine Aufführung beim Springdance Festival im Utrecht, Holland, am 20. April 2001 gesehen. 115 | Thomas Lehmen, »Lecture Demonstration«, in: Janine Schulze/Susanne Traub (Hg.), Moving Thoughts, op. cit, S. 69-75, hier: S. 71.

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228 | Abwesenheit Sekunden, in denen Lehmen zu Boden stürzt und vor Schmerzen schreit, glauben, der Tänzer habe sich tatsächlich verletzt, weiß Lehmen in jenem Moment jedoch, dass er die Verletzung nur zitierend wiederholt und damit vortäuscht. Wenig später löst er die Situation auch für die Zuschauer auf. Umgekehrt werden die Zuschauer bei einer tatsächlichen Verletzung, wie der während der Aufführung in Hong Kong, zunächst daran festhalten, dass der schmerzhafte Sturz zur Als-Ob-Realität der Bühne gehört, mithin Teil des Spiels ist. Damit thematisiert Lehmen die grundlegenden Parameter von Theatralität überhaupt, aus denen es keinen Ausweg gibt. Josette Féral definiert Theatralität als doppelte Spaltung des Blicks. Die erste Spaltung betrifft den Blick der Zuschauer, die einen Vorgang bewusst zum Gegenstand der Betrachtung machen. Dieser Vorgang kann sich auch abseits einer definierten Theatersituation, zum Beispiel beim Flanieren durch die Fußgängerzone einer Stadt, abspielen. Die zweite Spaltung betrifft den Blick des Betrachteten, der sich darüber bewusst ist, dass er in diesem Moment für jemanden etwas darstellt. Sowohl der Betrachter als auch der Darsteller können den Vorgang der Spaltung in Gang setzen, wobei der jeweils andere folgen wird. Durch die Überkreuzung dieser beiden Blicke entsteht ein anderer Raum, der des Theaters und der Fiktion. [T]heatricality is the result of a perceptual dynamics linking the onlooker with someone or something that is looked at. This relationship can be initiated either by the actor who declares his intention to act, or by the spectator who, of his own initiative, transforms the other into a spectacular object. By watching, the spectator creates an »other« space, no longer subject to the laws of the quotidian, and in this, he inscribes what he observes, perceiving it as belonging to a space where he has no place except as an external observer. Without this gaze, indispensable for the emergence of theatricality and for its recognition a such, the other would share the spectator’s space and remain part of his daily reality.116

Thomas Lehmen spielt nun mit diesem doppelten Blick, in dem er Zeitverzögerungen einbaut, die die Justierung der Blicke aussetzen lassen. Entweder hält das Publikum an der Theatralität der Situation fest, oder der Tänzer. Beides macht das Reale unmöglich. Indem stets eine Seite den theatralen Pakt aufzukündigen scheint, gerät die Situation in die Schwebe und wird undefinierbar. Für Momente, bevor sich die Grenze wieder erneut zieht, wird der andere Raum tatsächlich aufgehoben und beide Parteien teilen den gleichen, alltäglichen, Raum. Aus dieser Spannung, die immer 116 | Josette Féral, »Theatricality: The Specificity of Theatrical Language«, in: Josette Féral (Hg.), Substance XXXI (Februar/März 2002), Special Issue on Theatricality, S. 94-108, hier: S. 105.

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mehr einem Grenzgang gleichkommt, zieht das Stück seine Motivation und seine Energie.

Artig stellt Lehmen zu Beginn von Mono Subjects seine Mitspieler inklusive dem Lichttechniker vor und beschreibt den Raum mitsamt seinem Inhalt. Jeder ist, wer er ist. Der Raum ist der Raum und sonst nichts. Keine verklärende Illusion soll hier aufkommen. Überraschungen bleiben ausgeschlossen. Deshalb zeigt uns die Tänzerin Maria Clara Villa-Lobos in einem Prolog gleich alle Bewegungen im Schnelldurchlauf, die im Stück vorkommen werden. Am Ende wiederholt sie sie noch einmal. Doch da haben sich längst schon Zweifel eingeschlichen. Hat man wirklich alle Bewegungen, die Villa-Lobos hier isoliert, um sie flink wieder in Fluss zu bringen, auch vorher gesehen? Maria Clara Villa-Lobos lässt ihr Kollegen eine JazztanzRoutine üben, spielt mit Lehmen ›die nackte Wahrheit‹, ein Spiel, bei dem ihr Partner nur die Wahrheit sagen darf. Doch ob er wirklich einmal in London als Stripper gearbeitet hat, bleibt sein Geheimnis. Zwischen den einzelnen Szenen kehren die drei Tänzer immer wieder zur Bühnenrückwand zurück, wo sie zum Auftanken kräftig in die Saiten von drei Elektrobässen greifen. Während der Raum sich verdunkelt, beschreibt der Tänzer Gaëtan Bulourde mit dem Rücken zum Publikum stehend am Ende noch einmal das, was er sieht. Doch was sieht man wirklich im Dunkeln? An der Grenze der Theatralität taucht so die Performativität auf: das Wiederholen von Handlungen und gesellschaftlichen Praktiken, das das Publikum in die Verantwortung nimmt, weil es die Frage nach der Aufrichtigkeit der Ausführung in den Vordergrund stellt. Lügt Lehmen, oder kann ich ihm glauben? Woran mache ich fest, dass ich ihm vertrauen kann? Aus der Abwesenheit, die sich zwischen Blick und Blick eröffnet, entspringen

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230 | Abwesenheit wie bei Charmatz auch bei Lehmen Intensitäten und körperliche Sensibilitäten, die als Symptome des Realen verstanden werden können. Das Reale als solches bleibt der uneinholbare, utopische Fluchtpunkt der Aufführung, der in ihr nicht erscheinen kann, diese jedoch eröffnet.117 Die Bewegung funktioniert auf der Ebene des Realen als Objekt a, das als zu genießendes sinthome fetischisiert wird. Hier ist der Ort der Lust, des Genusses am Tanz, an der Bewegung und an den tanzenden Körpern, einer Lust, die mit keiner noch so detaillierten Methode der Bewegungsanalyse zu fassen ist. Eine solche führt Lehmen in Mono Subjects selbst ad absurdum wenn er Tänzer Körperhaltungen detailliert beschreiben lässt, die dann von den anderen ausgeführt werden müssen. Je konkreter die sprachliche Beschreibung jedoch ist, desto unterschiedlicher sind die Resultate. Je genauer die Beschreibung, desto mehr löst sich die tatsächliche Bewegung von ihr ab und eröffnet neue, andere Bewegungen. Lehmen insistiert auf dem Moment der Ausführung dieser Bewegungen, ein Insistieren, das nur möglich wird durch die Abwesenheit, mit der er die theatrale Situation durchzieht, durch den leeren Raum, der sie in Bewegung versetzt.118 Das in dieser Arbeit vorgeschlagene Modell der Tanzbetrachtung geht davon aus, das sowohl der Tanz als auch der tanzende Körper kulturelle Phänomene sind, die auf drei Ebenen eine Kommunikation zwischen Tänzern und Zuschauern anstreben. Jede dieser drei Ebenen des Symbolischen, Imaginären und Realen verbindet die am Tanzereignis beteiligten Subjekte auf unterschiedliche Arten und Weisen miteinander und darüber hinaus mit der Ordnung einer bestimmten Kultur, in und an der sie arbeiten. Das Symbolische fragt nach dem Ort des Subjekts innerhalb der Kultur. Thematisiert wird damit die Theatersituation und das Verhältnis des tanzenden Körpers zur Tanztechnik und zur Verbalsprache, in deren Horizont er immer schon steht, ohne in ihm aufgehen zu können. Weil er darin als begehrender Körper nicht aufgehen kann, inszeniert das Subjekt imaginäre Körper und entwirft Körperbilder, die als Ideal den Zugang zum Gesetz ermöglichen sollen. Auf der Ebene des Imaginären rücken daher sowohl Verfahren der Verbildlichung des Körpers durch Medien als auch Fragen nach der (idealen) Bewegung als begehrtes Objekt ins Zentrum. Auf der Ebene des Realen schließlich wird einerseits die Frage nach der Lust am Tanz aufgeworfen, die sich an verworfenen Bewegungen und Intensitäten entzündet. Andererseits kann hier die Reibung des Materials, des materiel117 | Zu Lehmens utopischem Körper vgl. Gerald Siegmund, »Strategies of Avoidance. Dance in the Age of the Mass Culture of the Body«, in: Performance Research 8:2 (Juni 2003), S. 82-90. 118 | Vgl. dazu: Gerald Siegmund, »Thomas Lehmen oder: Die Kunst des Insistierens«, in: Thomas Lehmen (Hg.), Schreibstück, Wien: Springerin Verlag, 2002, S. 2-7.

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len Körpers und seiner Brüchigkeit an den symbolischen und imaginären Vorgaben zum Thema gemacht werden. Dabei können die gleichzeitig auftretenden Ansprüche, Vorstellungen und Wünsche an den jeweils Anderen auf den drei Niveaus durchaus widersprüchlicher, ja sogar unvereinbarer Natur sein, so wie etwa das grundsätzliche Begehren nach Fetischisierung auf der Ebene des Realen mit einer ideologiekritischen Haltung gegenüber bestimmten Körperbildern auf der Ebene des Symbolischen koexistieren kann.Diesen Widerspruch gilt es gerade im Tanz mit seinen begehrenden Körpers auszuhalten.119 Die interessante Frage, die sich dann stellt, wäre die nach der Vermittlung und Bearbeitung dieses Konflikts. Dabei wird von einem Subjektbegriff ausgegangen, der vielschichtiger ist als die Vorstellung eines sich selbst gegebenen rational erkennenden Subjekts. Gerade weil der Körper und die Bewegung als anthropologisch grundlegend in der Subjektbildung anzusehen sind, kann der Tanz, dessen Instrument der Körper und dessen Kommunikationsmittel die Bewegung ist, auf jene psychischen Instanzen als kulturstiftende Instanzen rekurrieren und sie ausspielen. Die Bewegung des begehrenden Körpers erscheint hier konsequenterweise nicht als phänomenologisch gegebene, die als präsentes Objekt Interpretationen zugänglich wäre. Sie erscheint vielmehr nur über den Umweg durch ihren eigenen negativen Raum, die ihr eingeschriebene Abwesenheit, die auf sie zurückwirkt. Dieses Oszillieren zwischen Abwesenheit und Anwesenheit, das jede Fixierung auf den reinen Moment des Daseins zum Fetisch erhebt, der das Verschwinden nur zu leugnen sucht, vermögen die Theorien strukturalistischer Bewegungsanalyse nicht zu denken. Das Erscheinen erscheint selbst nicht. Die Präsenz berührt die Zuschauer nur dann, wenn sie sich der in ihr eingeschlossenen Abwesenheit des Erscheinens stellt. Sie wird nur dann zum kritischen Instrument, wie es Peggy Phelan fordert, wenn sie sich auf die Position ihrer Abwesenheit begibt, um von dort auf das Präsentierte und Repräsentierte zu blicken. In den folgenden Kapiteln soll der Umweg über die Abwesenheit in der Präsenz gegangen werden. Die vorgestellten künstlerischen Projekte arbeiten auf den drei Untersuchungsebenen mit der Abwesenheit von unterschiedlichen Parametern, um die Bedingungen ihres eigenen Erscheinens zu reflektieren und sichtbar zu machen.

119 | Im Gegensatz zu vielen feministischen Ansätzen (vgl. Susan Leigh Foster, Choreography and Narrative, op. cit, S. 228, und Janine Schulze, Dancing Gender, op. cit. S. 215) möchte ich darauf hinweisen, dass wir ohne den Vorgang der Fetischisierung des Körper, einzelner Körperteile und/oder der Bewegung, keine Lust am Tanz entwickeln würden. Umgekehrt heißt das nicht, dass diese Lust auf einer anderen Ebene nicht kritisch reflektiert werden kann.

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Abwesenheit reflektieren: William Forsythe

Als Überwinder der Neo-Klassik gilt er den einen,1 als melancholisch gestimmter Reisender durch die »Schatzkammer« des Balletts den anderen.2 In William Forsythes Repertoire stehen Stücke, die die Möglichkeiten des akademischen Tanzes virtuos ausleuchten und erweitern, neben großangelegten theatralischen Stücken, die neben der Bewegung mit Text, Film, Computer und Sprache als gleichberechtigten Mitteln der Darstellung arbeiten. Was auf den ersten Blick aussieht wie ein heterogenes choreographisches Werk, das sich von seiner ersten Choreographie, Urlicht 1976 für die Stuttgarter Noverre-Gesellschaft, in immer tanz- und ballettfremdere Bereiche vorgewagt hat, wird zusammengehalten von der andauernden Auseinandersetzung mit der Kunstform des Balletts. So stellt Roslyn Sulcas fest: »Ballet, its history and tradition, reside as a physical presence in both his body and the bodies of his dancers, to be more or less directly evoked by the specific demands of any single work, and is perhaps the most consistent element of his oeuvre.«3 Welche Form die Auseinandersetzung mit dem Ballett, seiner Geschichte und seinen Formprinzipien in der Arbeit William Forsythes genommen hat, möchte das vorliegende Kapitel zeigen. Dabei rückt die Frage nach dem Modus des Gegebenseins von Ballett in den Vordergrund, die Frage also nach dem Status dessen, was heute als Ballett gilt. Die Antwort, die Forsythe selbst auf die Frage gegeben hat, ist die, dass das Ballett keine Ideologie sei, sondern eine Form des Wissens, mit der man arbeiten und umgehen muss.4 1 | Jochen Schmidt, Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band, Berlin: Henschel, 2002, S. 213. 2 | Sabine Huschka, Moderner Tanz, op. cit., S. 295. 3 | Roslyn Sulcas, »William Forsythe«, in: Hall of Fame. Ballettanz Jahrbuch 2002, Berlin: Friedrich Verlag, 2002, S. 46-53, hier: S. 49. 4 | »I see ballet as a point of departure – it’s a body of knowledge, not an ideo-

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234 | Abwesenheit William Forsythe, 1949 in New York geboren, studierte an der Jacksonville University in Florida Kunstgeschichte und Geisteswissenschaften. Zwischen 1967 und 1969 nahm er auch Unterricht in Modern Dance und Ballett und schloss sich einer lokalen Ballettkompanie unter der Leitung von Nolan Dingman an. 1969 erhielt er ein Stipendium für die Joffrey Ballet School in New York, wo er zum klassischen Tänzer ausgebildet wurde. Kurze Zeit tanzte er im Corps de ballet des Joffrey Ballet, bevor er 1973 von John Cranko ans Stuttgarter Ballett geholt wurde. Ab 1976 entstanden dort seine ersten Choreographien. 1980 verließ er die Kompanie, um als freier Choreograph für Ensembles wie das Nederlands Dans Theatre, das Bayerische Staatsballett oder das Ballett der Pariser Oper zu arbeiten. 1984 übernahm er die künstlerische Leitung des Ballett Frankfurt, dessen Intendant er 1989 wurde. Die Kompanie wurde im Jahr 2004 aufgelöst. Der Reduktion von Ballett auf ein Ensemble von identischen Figuren und deren Verknüpfungen stellt Forsythe die Arbeit des Tänzers als permanente Hervorbringung von Bewegungen entgegen. Die Posen des Balletts werden in ihrem Fluss lediglich gestreift, ohne sie auszustellen oder bei ihnen zu verharren. Dadurch rückt die Flüchtigkeit der Bewegung ins Zentrum der Betrachtung und mit ihr die Frage nach ihrem ontologischem Status. Wenn Bewegung im Moment ihres Erscheinens schon wieder der Vergangenheit angehört, muss sich der Choreograph ihrer fundamentalen Abwesenheit und mit ihr der Figuren des Balletts als grundsätzlich leeren Formen stets bewusst sein. Die These, die hier anhand verschiedener Stücke von William Forsythe argumentativ verfolgt werden soll, ist die von der Abwesenheit im Zentrum von Forsythes Auseinandersetzung mit dem Ballett. Forsythe hat für in ihrem Bewegungsansatz und szenischen Erscheinungsbild so unterschiedliche Stücke wie Artifact, Die Befragung des Robert Scott †, Eidos:Telos oder The Loss of Small Detail verschiedene Methoden entwickelt, Abwesenheit zu thematisieren und für die Produktion von Bewegung fruchtbar zu machen. Die Analysen dieser und anderer Stücke folgen dabei weitgehend der Chronologie ihrer Entstehung, so dass sich auf diesem Weg auch ein Überblick über die Entwicklung von Forsythes Arbeit ergibt.

1

Ballett als Text

Am Ausgangspunkt seiner Arbeit seit Anfang der 1980er Jahre steht für William Forsythe die Auseinandersetzung mit dem Ballett als einem diskursiv konstituierten Phänomen. Das, was wir als Ballett wahrnehmen, ist logy«; Roslyn Sulcas, »Kinetic Isometries«, in: Dance International 2 (1995), S. 6-10, hier: S. 8.

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die Summe vieler verschiedener Sprachen über das Ballett, das auf diese Weise seine Homogenität und Geschlossenheit als Objekt verliert. Forsythe behandelt das Ballett als Struktur, deren Syntax er untersucht. Was Roland Barthes über die strukturalistische Tätigkeit formuliert, trifft auch auf die frühen Arbeiten William Forsythes zu: Das Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit, sei sie nun reflexiv oder poetisch, besteht darin, ein »Objekt« derart zu rekonstruieren, daß in dieser Rekonstruktion zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine »Funktionen« sind). Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein simulacrum des Objekts, aber ein gezieltes, »interessiertes« Simulacrum, da das imitierte Objekt etwas zum Vorschein bringt, was im natürlichen Objekt unsichtbar war, oder, wenn man lieber will, unverständlich blieb. Der strukturalistische Mensch nimmt das Gegebene, zerlegt es, setzt es wieder zusammen […]5 Zerlegung und Arrangement. Indem man das Objekt zerlegt, findet man in ihm lose Fragmente, deren winzige Differenzen untereinander ein bestimmte Bedeutung hervorbringen; das Fragment hat an sich keine Bedeutung, ist aber so beschaffen, daß die geringste Veränderung, die man an seiner Lage und Gestalt vornimmt, eine Änderung des Ganzen bewirkt […].6

Forsythe beschreibt seine Tätigkeit zu diesem Zeitpunkt als »attempts to substitute dancing for language, or vice versa – one sign for another, in linguistic terms. I wanted to see how the two could suspend and support one another, and that conceptual idea led to my using linguistic models as an analogy for choreography – for example, what would happen to a step when

5 | Roland Barthes, »Die strukturalistische Tätigkeit«, in: Günther Schiwy (Hg.), Der französische Strukturalismus, Reinbek; Rowohlt, 1969, S. 153-158, hier: S.154; »Le but de toute activité structuraliste, qu’elle que soit reflexive ou poétique, est de reconstituer un ›objet‹, de façon à manifester dans cette reconstruction les règles de fonctionnement (les ›fonctions‹) de cet objet. La structure est donc un simulacre de l’objet, mais un simulacre dirigé, interessé, puisque l’objet imité fait apparaître quelque chose qui restait invisible, ou si l’on prèfère, inintelligible dans l’objet naturel. L’homme structural prend le réel, le décompose, puis le recompose« […]; Roland Barthes, »L’activité structuraliste« , in: Roland Barthes, Oeuvres complètes, Band I, 1942-1965, hg. von Éric Marty, Paris: Seuil, 1993, S. 1328-1333, hier: S. 1329. 6 | Ibid., S. 155; »[…] découpage et arrangement. Découper le premier objet, celui qui est donné à l’activité de simulacre, c’est trouver enlui des framents mobiles dont la situation différentielle engendre un certain sens; le fragment n’a pas de sens en soi, mais il est cependant tel que la moindre variation apportée à sa configuration produit un changement de l’ensemble […]«; ibid., S. 1330.

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236 | Abwesenheit you alter one aspect of its logic, or the conventional planes of orientation?«7 Das Zerlegen und Arrangieren der konstitutiven Elemente eines Gegenstands der Anschauung erzeugt mithin ein Objekt in zweiter Potenz, das Barthes als Simulakrum bezeichnet. Der Begriff des Simulakrums zielt auf den Aspekt der Simulation des Objekts, das Punkt für Punkt, Element für Element entsprechend verdoppelt wird, um eine selbstbezügliche Wirklichkeit zu erzeugen, die ihre Referenz in der Realität verloren hat. Die Präsenz des Simulakrums schließt demnach eine grundlegendere Abwesenheit (des ursprünglichen Objekts, des Bezugs zur Wirklichkeit) mit ein, eine Abwesenheit, auf der es seine Gegenwart errichtet. Geht man mit Jurij M. Lotman davon aus, das der künstlerische Texte stets ein »sekundäres modellbildendes System« ist, ist er stets auch eine Form des Wissens und Denkens, die Erfahrungen vermitteln kann.8 Die Struktur erscheint mithin als sekundäres abstrahiertes Modell des beobachtenden Gegenstandes, der als solcher verschwindet. Damit wird der Unterschied zwischen künstlerischem und analytisch-wissenschaftlichem Schaffen hinfällig. Reflektiert das Modell doch grundsätzlich auf das, worauf es sich errichtet. Barthes setzt zu diesem Zeitpunkt noch ein in sich geschlossenes Objekt voraus, das sich modellhaft abbilden lässt. Doch schließt sich hier bereits die Frage an, was mit dem Objekt geschieht, wenn der Künstler/Forscher das in seine Produktion hereinholt, was »am natürlichen Objekt unsichtbar blieb«. Lassen sich auch dann noch klare Grenzen errichten, die das Model braucht, um als bestimmtes Modell von etwas zu gelten? Hier setzt die Arbeit William Forsythes am Ballett als »geschichtlich Gewesenem« an.9 Seine Arbeiten sind bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Mittel stets Reflexionen auf Axiome des Balletts. Die Texte, die er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mittel des Theaters immer wieder webt, stellen jedoch nie die singuläre Struktur des Balletts dar. Im Gegenteil. Sie sind stets immer wieder neue und andere Möglichkeiten, das Abwesende des Balletts szenisch zu reflektieren. Jedes Stück stellt die Untersuchung eines spezifischen Parameters des Balletts dar, es versteht sich mithin als Hypothese über das Ballett. Mit Michel Foucault kann man Forsythes Haltung gegenüber dem Ballett als die eines Genealogen bezeichnen. Nicht mehr länger die Frage nach dem Ursprung bestimmter Phänomene stehen für sich im Zentrum der Untersuchung, sondern die Frage nach den »unzähligen Anfängen«, die die Identität des Phänomens fraglich machen.

7 | Roslyn Sulcas, William Forsythe: Channels for the Desire to Dance, in: »Dance Magazine 69« (September 1995), S. 52-59, hier: S. 56. 8 | Jurij M. Lotmann, Die Struktur literarischer Texte, übers. von Wolf-Dietrich Keil, München: UTB Fink, 1972, S. 22. 9 | Huschka, Moderner Tanz, op. cit., S. 295.

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V Abwesenheit reflektieren: William Forsythe | 237 Die Genealogie geht nicht in die Vergangenheit zurück, um eine große Kontinuität jenseits der Zerstreuung des Vergessenen zu errichten. Sie soll nicht zeigen, daß die Vergangenheit noch da ist, daß sie in der Gegenwart noch lebt und sie insgeheim belebt, nachdem sie allen Zeitläufen eine von Anfang an feststehende Form aufgedrückt hat. […] Dem komplexen Faden der Herkunft nachgehen heißt vielmehr das festhalten, was sich in ihrer Zerstreuung ereignet hat: die Zwischenfälle, die winzigen Abweichungen oder auch die totalen Umschwünge, die Irrtümer, die Schätzungsfehler, die falschen Rechnungen, die das entstehen ließen, was existiert und was für uns Wert hat. Es gilt zu entdecken, daß an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit und das Sein steht, sondern die Äußerlichkeit des Zufälligen.10

In vergleichbarere Weise versucht William Forsythe nicht, das Ballett als festgefügte Form, die ein für alle mal ist, weiterzugeben. Seine Ballette sollen nicht von der großen ungebrochenen Tradition zeugen, die der Gegenwart immer noch Impulse zu geben vermag. Vielmehr fragt er nach dem Ausgeschlossenen, nach dem, das verworfen wurde, um Ballett in einer bestimmten Form entstehen zu lassen, einer Form, die nun als alleinige Recht beansprucht, Ballett genannt zu werden. Er fragt nach den anderen Möglichkeiten, die in der Form liegen und diese verändern, geht man ihren verschlungenen Pfaden erst einmal nach. Er spürt die Fragmente auf, die, wenn man sie, wie Roland Barthes vorschlägt, verschiebt, eine andere Bedeutung annehmen. Dabei streift er Fragen nach den ideologischen Gründen für das Ausblenden der Alternativen, die er in den Bühnenraum zurückholt. Doch das Heterogene des Balletts ist auch Ballett; es ist eine andere kontingente Möglichkeit, Ballett zu realisieren. Die ersten beiden abendfüllenden Stücke Gänge und Artifact, die William Forsythe 1983 und 1984 für das Ballett Frankfurt choreographiert hat, sind in ihrer Methode noch eng an das strukturalistische Zerlegen und Arrangieren angelehnt, bevor mit Stücken wie LDC und Die Befragung des Robert Scott † das Modell schließlich gesprengt wird.

1.1

Gänge als Intertext

Bereits 1982 befasste sich William Forsythe zusammen mit seinem Bühnen- und Lichtdesigner Michael Simon und dem Musiker Thomas Jahn mit der Frage des Status’ der Tanzperformance. In seinem zweiten abendfüllenden Ballett Gänge: Ein Stück über Ballett, dessen erster Teil im gleichen Jahr in Den Haag beim Nederlands Dans Theatre Premiere hatte und des10 | Michel Foucault, »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, übers. und hg. von Walter Seitter, München: Hanser, 1974, S. 83-109, hier: S. 89-90.

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238 | Abwesenheit sen komplette Version ein Jahr später am 27. Februar 1983 in Frankfurt zur Aufführung kam, weigert sich Forsythe, Schwanensee aufzuführen. Spuren dieser Quintessenz von Ballett laufen aber durch die gesamte Aufführung. Doch sehen wir nie das fertige Produkt, eine Aufführung von Schwanensee. Stattdessen fächert Forsythe die verschiedenen Ebenen auf, die zur Entstehung eines Balletts beitragen. Das Ballett wird ständig evoziert, wird aber nie präsent. Es wird beschrieben und diskutiert, nimmt aber nie außerhalb der vielfältigen Perspektiven und Praktiken, die es so in seiner Absenz konstituieren, Existenz an.11 Der Titel des Stücks reduziert das Ballett auf eine einfache, grundlegende Tätigkeit: das Gehen. Gleichzeitig ist es ein Wort, das verwandelbar ist, das sich zu ›gang‹, ›Ausgang‹, ›Vorgang‹, ›Übergang‹ kombinierten lässt. Der Titel beschreibt mithin die Art und Weise, wie Tänzer und Publikum Ballett betrachten und konzeptualisieren, sowohl mit ihren Körpern als auch mit Sprache. Man muß Ballett beschreiben. Ballett ist ein Komplex von Interaktionen auf verschiedenen Ebenen von Sprache. Es gibt die Fachsprache, die Alltagssprache, die Geschichte des Balletts, die Rollenbeschreibung der Tänzer im 19. Jahrhundert; auch wie sie sich selbst beschreiben in ihren Rollen; es gibt aber auch Abhängigkeiten, z.B. erzieherische Abhängigkeiten, d.h. wie die einzelnen Tänzer als Tänzer erzogen wurden. Das alles sind Erfahrungen, jeder Tänzer hat seine eigenen Geschichte, aber er kennt auch die Ballettgeschichte.12

Ballett erscheint in diesem Zitat als sprachlich vermitteltes Phänomen, das absieht vom tanzenden Körper in Aktion. Der tanzende Körper des Balletts, der bestimmte Schritte ausführt und in bestimmten Figuren verharrt, ist nicht mehr länger Ziel der Vorstellung. Er wird zum abwesenden Körper, der es dem Choreographen durch seine Abwesenheit ermöglicht, seine ›Natürlichkeit‹ im Sinne einer Selbstverständlichkeit zu entmythifizieren. Choreographie als Abfolge von Schritten und Figuren ist analog der Abfolge von Worten oder Lexemen in einem Satz. Anstatt das fertige Produkt darzustellen, verfolgt Forsythe in Gänge seinen Werdegang und webt so einen Text, der die Fäden von allen Arten historischer und persönlicher Quellen aufnimmt. So beschreibt die Tänzerin Nora Kimball den Probenprozess wie folgt: »I think that this was the first time that Billy created a piece by assembling and then processing a lot of information from the dancers. We spent

11 | Ich danke dem Ballett Frankfurt für die Möglichkeit der Einsichtnahme in eine Videoaufzeichnung einer Aufführung vom 10. März 1984. Außerdem habe ich ein Aufführung in Frankfurt am Main am 21. März 1984 gesehen. 12 | Programmheft Gänge, Intendanz Ballett Frankfurt 1983.

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weeks just writing or drawing, or showing our holiday slides, rather than starting with a particular piece of music or a sequence of steps the way most choreographers tend to do.«13 Das Ballett wird so zu etwas, was der Tanzhistoriker Mark Franko im Anschluss an Michael Riffaterre einen »Intertext« nennt, in dem die Tänzerkörper an verschiedenen Diskursen teilhaben, die sie wiederum als tanzenden Körper konstituieren. »The intertext […] is a presupposition or series of presuppositions compressed within a word or phrase and locatable in another text.«14 In diesem Falle öffnet sich die Annahme des ›Klassischen‹ hinter dem Signifikanten Ballett auf eine Reihe von komplexen Formierungsprozessen wie der Ausbildung der Tänzer, der Ballettgeschichte, die ihren Körpern eingeschrieben ist, dem Training und den Proben, die den Text des Balletts ausmachen. Die körperliche Erfahrung im Sinne eines Trainings, das den Ballett-Körper erzeugt, wird zu einer Form des Wissens, das immer schon diskursiv-sprachlich vermittelt ist. »Ballett ist nicht mehr eine Gruppe von Schritten, sondern eine Art Material, das behandelt wird, in einem bestimmten Raum, in einer bestimmten Zeit.«15 Es ist dieses körperliche Wissen, das die zweite ganz wesentliche Komponente von Forsythes Arbeit ausmacht. Ist der Tanz zwar eine flüchtige Kunstform, eine choreographische Raumschrift ohne materielle Spur,16 so macht ihn das Körpergedächtnis der Tänzer doch zu etwas überaus Dauerhaftem und Festem. Die Materialität der signifikanten Tänzerkörper, die ein komplexes System von Erinnerungen ist, bildet die Grundlage für die Handlungsfreiheit der Tänzer, für ihren je aktuellen Körper, der sich zwischen heterogenen Körpern herausbildet. Durch tägliches Training und Probieren wird er zum Tänzerkörper ausgebildet, bis nach Jahren harter Arbeit der Körper bestimmte Bewegungsabläufe und Koordinationen von Muskelgruppen und Gliedmaßen automatisch ausführt. Dieses verkörperte Wissen, wie Ballett oder andere Tanzformen funktionieren, macht sich Forsythe zu eigen. Seine Arbeit am Ballett braucht das Körpergedächtnis der Tänzer, die sich mit jeder Bewegung auch an das Ballett erinnern. Deshalb arbeitet er gerne mit klassisch ausgebildeten Tänzern zusammen, weil sie Fähigkeit besitzen, hochkomplexe Abläufe schnell auszuführen. Die Geschichte des Balletts ist daher auch in all seinen Stücken gegenwärtig, auch wenn sie nicht aussehen wie Ballett, weil sie die Geschichte der Tänzer ist.

13 | Zitiert in: Sulcas, »Channels for the Desire to Dance«, op. cit., S. 54-55. 14 | Mark Franko, The Dancing Body in Renaissance Choroegraphy, Birmingham, Alabama: Summa Publications, 1986, S. 11. 15 | Programmheft Gänge, op. cit. 16 | Vgl. Kerstin Evert, DanceLab. Zeitgenössischer Tanz und Neue Technologie, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 134-139.

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240 | Abwesenheit Die absolute Gegenwärtigkeit des Tanzes enthält auf diese Weise die lebendige Vergangenheit, die immer mitgegeben und mit jeder Bewegung gleichsam zitiert wird. Jede Bewegung zitiert die Norm und verändert sie im Akt des Tanzes. Durch das unwillkürliche Aufrufen wird ihr aber auch eine neue Perspektive, also eine Zukunft, eröffnet. Verschiedene Stimmen werden in das Gewebe der Aufführung von Gänge eingesponnen. Am Anfang liegt ein junger Mann dem Publikum zugewandt auf dem Boden, sein Gesicht von einem Stück Papier verdeckt. Er wiederholt ständig die Phrase »the most beautiful girl in the whole wide world«, während er ein kleines Flugzeug fliegen lässt, das er aufs Papier gemalt hat. Drei Tänzerinnen treten auf und tanzen ein paar Battements gegen die Rückwand, die die Spuren ihrer Bewegungen in dünnen blutroten Linien trägt. Bilder von manchmal gewaltsamen Übungen werden so ständig sichtbar, während die Tänzer versuchen, mit dem sich ständig beschleunigenden Tempo von »two to the back, two to the front« Schritt zu halten. Zwei Tänzerinnen in vorklassischen langen weißen Musselineröcken springen im hinteren Bühnenteil und treten mit ihren im Flug gestreckten Beinen gegen eine verschlossene Tür. Später ruft ein Tänzerchor, der offenbar im internationalen Ballettzirkus die Orientierung verloren hat »Stuttgart, Miami, Honolulu«. Wenn sie Adjektive wie »langweilig«, »fantastisch« oder »wundervoll« benutzen, überlappt sich ihre eigene Perspektive mit den Reaktionen des Publikums auf das, was es gesehen hat. Hoffnungen und Träume werden ebenso artikuliert, wie Ängste ständig präsent sind: »Du kommst auf mich zu. Du hebst mich. Du lässt mich nicht fallen.« Messlatten werden herab- und fallen gelassen; ihr Gepolter fungiert als zusätzliche rhythmische Unterbrechung der unzähligen Miniaturszenen, die zudem von harschen Blackouts getrennt werden. Der erste Akt endet mit einer Ballerina im roten Trikot, die sich für ihre Rolle vorbereitet. Der junge Mann vom Anfang nähert sich ihr, immer noch auf der Suche nach dem schönsten Mädchen auf der großen weiten Welt. Ihr Zusammentreffen kann man natürlich mit dem ersten Treffen des Prinzen und Odile zusammendenken, aber es ist auch die Begegnung einer übenden Ballerina und eines Mannes, der in seinen Frauenfantasien verloren ist – und damit die Allegorie des Begehrens des Balletts, das hier unbefriedigt bleibt. Die Ballerina betrachtet den jungen Mann und wendet sich ab. Arbeit geht hier vor Liebe – ein scharfer Kontrast zum romantischen Inhalt des Balletts. In Gänge wird die Romanze als Ideologie entmystifiziert im Sinne Roland Barthes, demzufolge der Mythos das historisch Gemachte verkleidet, um es natürlich, organisch und als von ewigem Wert erscheinen zu lassen. Forsythe führt hier wieder die Geschichte in die Gleichung ein, um die dominierende Sicht des Balletts als ›natürliches Kunstwerk‹ zum Bröckeln zu bringen. In seinen drei Akten verengt die Aufführung ihren Fokus vom Training

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im ersten über die Proben im zweiten zur Aufführung im dritten Akt. Wenn die Anspielungen auf Schwanensee zunehmen, zum Beispiel wenn die Ballerina erklärt »the room spins around me 32 times« und damit auf Odettes berühmte 32 Fouettées anspielt, ist das, was wir auf der Bühne sehen, nur eine Abstraktion des geometrischen Prinzips von Ballett, ein Prinzip, das Forsythe mit den Worten »but together« als Anweisungen an Tänzer zusammenfasst. Immer wieder verweisen von ihrem Kontext abstrahierte Phrasen wie »and then they enter, and then they exit«, »ich bin die erste, ich bin die zweite«, oder: »from this position I can’t« auf das Machen eines Ballettabends. Im zweiten Teil versperrt eine Wand den Blick nach hinten in den Bühnenraum. Ein rotes Sofa steht davor, eine Tür befindet sich auf der vom Zuschauer aus gesehen rechten Seite. Tänzer stecken ihre Köpfe durch die Tür und erzählen von einer Party, die anscheinend hinter der Wand stattfindet. In gewisser Weise kann man das Zusammensein als das Axiom auffassen, das in Gänge untersucht wird: Zusammensein als synchrone unisono Bewegung, Zusammensein der Tänzer auf einer privaten Feier während der Proben, Zusammensein des Prinzen und der Prinzessin auf der Ebene der Geschichte. Im dritten Teil, der ›Vorstellung‹, werden Tänzer von einer diagonalen Reihe von Türen ausgespuckt, die, als sie geöffnet werden, die Bühne mit Licht überfluten, während ein Tänzer über die Erschaffung einer Linie redet: »He will walk from here to there. She will walk from here to here; and that’s how we’ll make a perfect diagonal.« In sich ständig verändernden Formationen, hauptsächlich in der dynamischen Diagonale, sind die Tänzer in der Tat zusammen, aber die Aktivität ihres Corps ist ohne jeden narrativen Inhalt. Forsythe hat wiederholt betont, dass er das Arbeiten mit klassisch ausgebildeten Tänzern liebt, weil ihre Körper die Spuren der Ballettgeschichte in sich tragen. Dies ist der Grund, warum Forsythe exzessiv von Corps-Formationen Gebrauch macht und damit das historisch kodierte und konditionierte Funktionieren des Ballett-Körpers betont. Der Tänzerkörper tritt in Gänge nur auf als Teil der Diskurse des Balletts, deren Machtstrukturen Forsythe aufzeigt und destabilisiert. Der Körper verkörpert nichts weiter als den Prozess seiner eigenen Strukturierung (›Rollen‹ oder ›Stars‹ etwa). Die Vorstellung, das Gedächtnis und die Ontologie des Balletts sei ohne Essenz, wird in seinem nächsten Stück weiter erforscht. Die Destabilisierung des machtvollen Achsenmodells führt Forsythe dann in die Erforschung von zunehmend komplexerer Bewegung.

1.2

Artifact als Kunsteffekt

Artifact, das seine Premiere am 5. Dezember 1984 in Frankfurt am Main erlebte, fängt mit einer glatzköpfigen grauen Figur an, die das Programmheft als »Other Person« identifiziert, die in beinahe völliger Dunkelheit die

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242 | Abwesenheit Bühne überquert.17 Ein einziger Spot erhellt den Boden auf der linken Seite der leeren Bühne. Eine »Person with Historical Costume« mit herrisch aufgebauschten langen Kostümärmeln tritt auf und nimmt eine zentrale Position ein. Sie klatscht in die Hände, und auf dieses Signal hin beginnt die Musik: Eva Crossman-Hechts »Bach Variations«, die im zweiten Akt von Bachs »Chaconne in D-Moll« abgelöst werden. »Step inside«, lädt uns die Frau ein. Hinter ihr erscheint im Zwielicht der Bühne der Schatten einer anderen Figur, der »Person with Megaphone«. »I forget the dust. I forget the rocks«, hört man ihre blecherne körperlose Stimme sagen. »I remember a story and it went like this. She stepped outside and she always saw it. She stepped inside and she has always seen it.« Der Kopf und der Oberkörper der »Other Person« erscheinen nun aus einer Falltür am Bühnenboden. Der Mann mit dem Megafon beugt sich zu ihr hinab und spricht zu ihr: »I forget the story about you. Remember, remember, remember.« »Good evening. Remember me?«, erwidert die Frau im historischen Kostüm in gekünstelter Showmanier. Doch ihre Worte gehören ihr nicht. Der Mann mit dem Megafon fordert sie auf, die richtigen Worte zu benutzen. Sie gehorcht widerstrebend, bis die beiden sich schließlich im dritten Akt laut und unbeherrscht streiten: eine Art Ehestreit, der den historischen Anlass, Hofballette zur Hochzeit von Adeligen aufzuführen, ironisch reflektiert. Etwas später erscheint die »Other Person« erneut aus der Falltür, um kraftvolle ports de bras auszuführen. Jedes Mal wenn sie ihre Arme vor ihrem Körper und über ihrem Kopf zusammenführt, klatscht sie. Eine fast unsichtbare Reihe von Tänzern beantwortet ihre Signale aus den Tiefen der dunklen Bühne mit einem doppelten Klatschen auf den Offbeat. Gegen Ende des ersten Akts und am Anfang des zweiten steht sie vor dem corps de ballet wie eine Lehrerin, deren Schüler ihre grundlegenden Arm- und Beinbewegungen als Wiederholungsübung aufnehmen – tendu avant, arrière, croisé. Klang, Bewegung und selbst der sparsame Gebrauch von Licht funktionieren in Artifact auf ähnliche Weise. Die entsprechenden Zeichensysteme sind individuell strukturiert, und folgen doch demselben Paradigma, so wie die Worte eines Gedichts ein dichtes Gewebe an Bedeutung herstellen. Auf allen drei Ebenen folgt das Ballett der Struktur des Doppelgängers oder Gespensts: Das ›Artefakt‹, das wir zu sehen glauben, ist deshalb bloß ein ›Kunsteffekt‹, die Illusion eines Gegenstands, der längst vergangen ist, wenn wir ihn zu sehen glauben. Das ästhetische Verfahren, das in Artifact 17 | Ich verlasse mich hier auf meine Erfahrung von mehreren Aufführungen des Stücks im Frankfurter Opernhaus. Darüber hinaus wurde als Gedächtnisstütze eine Videoaufzeichnung der Aufführung vom 16. Februar 1997 benutzt. Ich danke dem Ballett Frankfurt für die Möglichkeit, das Video einsehen zu dürfen.

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zum Tragen kommt, ist das der Parallelisierung von oppositionellen Paarungen. »Other Person« spiegelt sich in »Person with Historical Costume«. Denn auch die Frau im historischen Kostüm tanzt. Mit ihren ausladenden ports de bras, die sie mit »Other Person« teilt, untermalt sie ihre Worte nahezu pantomimisch. Damit steht sie in Verbindung mit der sprechenden Bewegung, mithin mit dem narrativen Ballett, während »Other Person« der Struktur, dem abstrakten Skelett des Balletts zugeordnet werden kann. Die eine steht aufrecht, die andere verschwindet halb im Bühnenboden; die eine ist reich kostümiert, die andere fast nackt. Das attributslose Weiß der »Other Person« bildet eine unmarkierte Negativfolie zur ausgestellten glitzernden Ballettgeschichte. Ähnlich verhält es sich mit der Strukturebene der Sprache. »Person with Megaphone« als die zugrundeliegende Sprachstruktur, deren Funktion durch das Sprechinstrument Megafon hervorgehoben wird, verbleibt überwiegend im Halbdunkel der Bühne, während die Erzählung in Gestalt der Frau im historischen Kostüm herausgehobenen Charakter hat. Genau um die Sichtbarmachung der im Dunkel verharrenden abstrakten Struktur der Sprache und des Balletts ist es William Forsythe in Artifact nun zu tun. Während die historische Figur Worte neu arrangiert, indem sie sie innerhalb einer gegebenen grammatischen Struktur variiert und damit ihrer Bedeutung entleert, ordnet das Corps de ballet das Ballettvokabular neu. Der zweite Akt besteht aus zwei pas de deux, die von mehreren Gruppenformationen gerahmt werden. Immer wieder fällt der Vorhang überraschend und unterbricht das Betrachtungskontinuum. Jedes Mal wenn er sich wieder hebt, haben die Formationen ihre Position gewechselt: von der Aufreihung an den drei Seiten der Bühne über die Spitze eines Dreiecks und eine einfache Linie hinten hin zu zwei parallelen Linien an den Bühnenseiten. Indem er sich weigert, weiche Übergänge zu choreographieren, die (historische) Lücken und Brüche nur übertünchen würden, betont Forsythe die strukturellen Möglichkeiten der Linie, deren Positionen in Zeit und Raum er isoliert. Beide Sprachen verlieren ihre Bedeutungen, wenn ihre bedeutenden Elemente vereinzelt und ohne Kontext gegeneinander ausgespielt werden. Worte wechseln ihre Positionen wie in einer grammatischen Übung. Erinnern ist gleich Vergessen ist gleich Denken, Sehen und Hören, und dies einfach weil sie in der gleichen strukturellen Position erscheinen. In dieser Hinsicht können sie als Echos voneinander angesehen werden, als paradigmatische Ähnlichkeiten, von denen das präsente Objekt die absenten anderen erinnert. Das Resultat ist ein ebenso verwirrendes wie faszinierendes Eröffnen eines Denk- und Wahrnehmungspotenzials. Aus einer strikt limitierten Anzahl von Grundwörtern und einer Reihe von eingeschränkten Bewegungen ergeben sich unendliche Möglichkeiten. Indem Forsythe Ballett und Sprache bis auf ihre Skelette entkleidet, setzt er ihre Knochen und Echos neu zusammen.

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244 | Abwesenheit William Forsythe beschreibt diese Herangehensweise an Bewegung in Artifact wie folgt: What I began to do was imagine a kind of serial movement and, maintaining certain arm positions from ballet, move through this model, orienting the body towards the imaginary external points. It’s like ballet, which also orients steps towards external points (croisé, effacé[…]) but equal importance is given to all points, non-linear movements can be incorporated and different body parts can move towards the points at varied rates in time.18

Die geisterhafte Struktur ist nicht bloß ein Muster aus fragmentierten und wiederholten Bewegungen. Sie ist auch, bedingt durch die harten Schwarz-Weiß, Hell-Dunkel-Kontraste und den Einsatz von langen expressionistischen Schatten, ein optisches und ein akustisches Muster. Wörter, oder vielmehr die Qualität ihres Lautmaterials, ihre Signifikanten, übernehmen die Rolle der Musik als Begleitung für den Tanz. Die vier unterschiedenen Charaktere von Artifact – »Other Person«, »Person with Historical Costume«, »Person with Megaphone« und das corps de ballet als Einheit – sind durch Klangechos aufeinander bezogen. Corps und »Other Person« werden durch klatschende Echos verbunden. Das Klatschen ist gleichermaßen ein Aufruf zur Aufmerksamkeit und das Zeichen für Synchronizität, des ›Zusammenseins‹, das wie ein Imperativ die historische Formationen des Balletts beherrscht. Die historische Figur ist mit dem Megafonmann durch das Widerhallen seiner Sätze verbunden. Seine Stimme ist von seinem natürlichen Körper getrennt und erhält einen zweiten Körper in Gestalt eines technischen Instruments. Das Megafon betont und isoliert die ent- und wiederverkörperte Stimme durch den metallischen Ton, den es ihr verleiht. Die menschliche Stimme wird dadurch einerseits mechanisch, was auf ihre strukturelle Funktion im gespenstischen Gefüge von Artifact verweist, andererseits erscheint sie dadurch zugleich als eigenständiges Phänomen, als Objekt, das mit imaginären Qualitäten belegt wird. Die Stimme wird zur Quelle von Faszination und Phantasien, gerade weil sie zum Objekt gemacht wird, das als die Stimme des Anderen begehrt werden kann. Die Stimme nähert sich uns aus der Distanz. Auf diese Weise erschafft sie einen dritten Raum als imaginären Zwischenraum, in dem die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verwischt werden. Artifact ist ein Schattenkabinett und eine Echokammer der Vergangenheit des Balletts. Seine Echos sind Effekte, Wiederholungen von Fragmenten, die den ideellen Ballett-Körper zersplittern, um sich in Wiederholung auf Wiederholung zu verlieren. Die Geschichte des Balletts markiert so ihr eigenes Ver-

18 | Sulcas, »Channels for the Desire to Dance«, op. cit., S. 59.

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schwinden im Akt ihrer Präsenz durch die Wiederholung.19 Die Präsenz des Balletts ist daher lediglich ein Effekt seiner Abwesenheit. Seine Gegenwart ist von Geschichte durchschossen, die selbst wiederum nur von widerhallenden Lauteffekten konstituiert wird.

2

Ballett als Impuls

Beschäftigten sich Gänge und Artifact mit dem Ballett als sprachlichem Phänomen, das von der Abwesenheit eines fixierten Objekts zugunsten eines relationalen Gefüges von Elementen ausging, kommt in den darauf folgenden Stücken wie LDC und vor allem in Die Befragung des Robert Scott † die Abwesenheit über die Bewegung selbst ins Spiel. Forsythe hat Die Befragung des Robert Scott † als »Lehrstück« für seine Arbeit und seinen Umgang mit dem klassischen Ballett bezeichnet. Von hier aus rückt die Abwesenheit als Motor der Bewegung in den Blickpunkt. Das 47-minütige Stück hatte am 29. Oktober 1986 im Schauspiel Frankfurt Premiere und wurde im Jahr 2000 zu einer abendfüllenden Neufassung umgearbeitet, die wiederum als ScottWork 2002 mit den Stücken 7 to 10 Passages und One Flat Thing, Reproduced noch einmal eine Bearbeitung erfuhr. Robert Scott fungiert als Keimzelle, in der Forsythe zum ersten Mal eine Vorstellung von Bewegungsmöglichkeiten um den klassischen Ballettkodex herum entwickelt, die als charakteristisch für viele seiner späteren Stücke angesehen werden kann. Zum ersten Mal wurde hier ein Bewegungsvokabular sichtbar, das sich auf den ersten Blick radikal vom Ballett absetzte. Forsythe Arbeit an der Technik des klassischen Balletts, das, was ich zusammen mit der Arbeit am Rahmen des Theaters als das Symbolische des Tanzes bezeichnet habe, erhält mit diesem Stück demnach seine erste manifeste Ausprägung.

2.1

Die Befragung des Robert Scott †

Die Tänzer sind bereits am Arbeiten, wenn das Publikum den Theatersaal betritt, um sich durch die Reihen auf seine Plätze zu zwängen. Ein Durcheinander von Körpern breitet sich vor uns im kühlen hellen Licht aus, das sich während der Vorstellung nicht verändern wird. In dunkler Trainingskleidung strecken und spreizen sich die Tänzer, als wollten sie sich für eine Vorstellung aufwärmen. In der Tat hat die Szene den Charakter einer Übungsstunde, in der die Tänzer verschiedene Möglichkeiten, sich fortzubewegen, ausprobieren. Verknüpfungen von einzelnen Bewegungen wer19 | Heidi Gilpin, »Lifelessness in movement, or how do the dead move?«, in: Susan Leigh Foster (Hg.), Corporealities, London: Routledge, 1996, S. 106-128, hier: S. 110.

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246 | Abwesenheit den gesucht, doch schon bald darauf wieder abgebrochen und verworfen. Grundfiguren der Tänzer sind immer wieder Drehungen in verschiedenen Haltungen, sowie Arabesquen, die jedoch nie zur Pose gerinnen, sondern stets nur angedeutet für Sekunden als Möglichkeiten innerhalb eines Kontinuums von anderen Bewegungen aufscheinen. Dieses Stop-and-Go-Verfahren, dem die einzelnen Tänzer unterliegen, überträgt sich auf die gesamte 24-köpfige Gruppe. Immer wieder bewegen sich alle gleichzeitig, nur um darauf für wenige Sekunden zu erstarren, bevor einer aus dem Ensemble sich erneut zu bewegen beginnt und die anderen sukzessive mitreißt. Eine Tänzerin des einzigen Duos auf der Bühne hält in der Phase der Erstarrung eine tief nach vorne gebeugte Arabesque penchée, während sie ihr Partner an den Händen stützt. Einzelne Tänzer und Tänzerinnen sowie das Duo folgen dabei ihrem eigenen Tempo, das sich gleichzeitig mit anderen Tempi entfalten kann. Der Raum wird dabei zeitlich aufgeteilt. Den Zuschauern bietet sich ein Bild mit verschiedenen Zentren, zwischen denen der Blick hin und her wandern muss. Um dem Stück so etwas wie einen richtigen Anfang zu geben, gehen die Tänzer nach fünf Minuten zu beiden Seiten ab, stellen sich an den Bühnenrändern auf und schauen ihren Kollegen beim Tanzen zu. Zurück bleiben ein Tänzer und eine Tänzerin, die nebeneinander, den Blick ins Publikum gerichtet, die Bühnenmitte einnehmen. Aus der Körpermitte heraus beginnen sie ihre jeweiligen Bewegungssequenzen, doch während sich der Tänzer auf der linken Bühnenseite in den Raum hinein öffnet, seine Arme nach oben an die Peripherie seiner Kinesphäre streckt und dabei sein Gewicht und seinen Körperschwerpunkt in die Hüften verlagert, knickt die Tänzerin auf der rechten Bühnenseite ihren Oberkörper nach unten und schließt ihren Körper. Erst langsam öffnet sie sich, indem sie Oberkörper und Arme von der Körpermitte wegstreckt und sie in Linie mit ihrem rechten nach vorne gestreckten Bein zu bringen versucht. Ein dritter Tänzer geht ruhig entlang der Bühnenrückwand von der linken auf die rechte Seite. Dort stülpt er sich einen Eimer über den Kopf und beginnt, die Bühne mit einem Brummgeräusch zu umrunden. Mit leicht gebeugten Knien schiebt er sich steif vorwärts, die Arme vor der Brust angewinkelt, und aus dem Ellbogengelenk heraus bewegend, erweckt er den Eindruck, als sei er ein Roboter oder eine mechanische Kampfmaschine. Was wir im Folgenden sehen, sind verschiedene Antriebsmöglichkeiten, die den Körper in Bewegung versetzen. Mal laufen zwei Tänzer leichten Fußes durch eine Gruppe hindurch, mal joggen zwei rückwärts schwingend durch den Raum. Tänzer laufen auf die Bühne und fallen auf den Boden, wo sie zunächst liegen bleiben, bevor sie von unten versuchen, eine neue Bewegung in Gang zu setzen. Eine Gruppe in der linken hinteren Bühnenecke wippt aus dem Becken heraus und lässt dabei die leicht angewinkelten Arme aus den Schultern heraus nach vorne und nach hinten schwingen. Andere

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nehmen regelrecht Anlauf, um plötzlich abzuspringen und sich in die Luft zu erheben. Die Bewegungen sind in ihrer räumlichen Ausrichtung und in ihrem zeitlichen Verlauf ebenso verschieden wie in ihrem Fluss und in ihrem Umgang mit dem Gewicht des Körpers.

Mit dem Beginn des Hauptstücks setzt auch die Musik von Thom Willems ein. Ein einziger lang andauernder elektronischer Ton schwillt dynamisch an und verebbt wieder, wobei er leicht moduliert wird, was ein unwirkliches Flirren in der Luft zur Folge hat. Dynamik und Modulation erzeugen den Effekt eines tranceartigen hypnotischen Zustands, der, vergleichbar mit der Choreographie, keiner logischen Progression folgt. Mit der Musik beginnt auch der Text. Rechts und links an den Bühnenrändern steht je ein Tisch. Auf der vom Zuschauer aus gesehen rechten Seite sitzt dahinter ein Sprecher, dessen Gesicht auf einen Monitor auf dem Tisch auf der gegenüberliegenden Seite übertragen wird. Zeigt sich der Sprecher den Zuschauern nur im Profil, ist sein Bild frontal auf den Zuschauer gerichtet.20 Leise, mit monotoner ruhiger und beruhigender Stimme beginnt er eine 20 | Bei der Uraufführung 1986 wurde der männliche Sprecher ergänzt von einer weiblichen Stimme, die Elizabeth Corbett übernommen hatte. Corbett sprach ihren eigenen Text aus dem Stück LDC; vgl Eva-Elisabeth Fischer, »Der Computer als Choreograph. William Forsythes neue Stücke beim Ballett Frankfurt«, in: Süddeutsche Zeitung 13. November 1986. Bei einer Aufführung 1990 im Pariser Théâtre Chatelet erwähnt die Kritik einen männlichen Sprecher; vgl. Nadine Meisner, »Choreographer for Today«, in: Dance Theatre Journal 1990, S. 21-26, hier: S. 23. Bei der Wiederaufnahme des Stücks 1992 in Frankfurt wurde Corbetts Rolle gestrichen, weil sie, so Forsythe, nicht mehr nötig erschien. Ich habe sowohl die Urfassung als auch die Wiederaufnahme gesehen. Meiner Betrachtung liegt außerdem eine Videoaufzeichnung der Vorstellung am 10.10.1992 zugrunde.

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248 | Abwesenheit Befragung, auf die der Titel des Stücks anspielt. Doch kein Dialog entspinnt sich, vielmehr gibt er sich die Antworten auf seine Fragen mit einem knappen »Yes« oder »No« selbst. »Shall I go in any particular order?«, fängt er an und liest die Fragen von Blättern ab, die vor ihm liegen. Nach ca. 20 Minuten setzt die Musik einen lauten Akkord, woraufhin sich das Sprechtempo und die Lautstärke des Sprechers erhöhen. And then we said: Do you know what you’re doing? And then we said: I do that works. And then we said: You used what you know. And then we said: I know what to use. […] And then we said: Hours of work. And then we said: Hours of use. And then I said: I used it for hours. And then I said: I know cause I’m done. And then I said: I don’t know what I’m doing. Did we know what to do? Yes. We were the first? No. We were lost? Yes. Was I the first? No.21

Nach einiger Zeit übernimmt eine weibliche Stimme den Part des Fragens, während der Mann antwortet (»Do you know what you’re doing? Yes.«). Wenig später werden die Rollen vertauscht. Jetzt ist es die Frau, die antwortet (»Did you have to get there first? Yes. Were you aware where you were? No.«). Eine zweite männliche Stimme übernimmt schließlich den Text, der in immer ähnlichen Permutationen um die Themen Arbeit, Kompetenz, Wissen, einen Wettlauf und die damit zusammenhängende Orientierungslosigkeit kreist. In den letzten Minuten des Stücks stellt sich eine Tänzerin in die Mitte der Bühne und schwingt in endlosen Wiederholungen ihre durchgestreckten Arme zu einem V in die Luft. Dabei stößt sie jedes Mal einen spitzen 21 | In dem Programmblatt der Uraufführung sind sechs Textblöcke abgedruckt, die aber nicht mit den verwendeten Fragen in der Aufführung von 1992 identisch sind. Sie stellen vielmehr die sechs zentralen Dialoge aus dem Stück LDC dar, die bei der Premiere 1986 noch Verwendung fanden. Kerstin Schlotter schreibt sie in ihrer Betrachtung über die Verwendung von Sprache in den Stücken William Forsythes Robert Scott zu; vgl. Kerstin Schlotter, »Literarisch-sprachliche Zeichensysteme in William Forsythes Konzeption des Tanztheaters aufgezeigt an fünf Choreographien«, in: Gaby von Rauner (Hg.), William Forsythe – Tanz und Sprache, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 1993, S. 47-62, hier: S. 53.

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Schrei aus. Der Mann, der zu Beginn den Eimer über dem Kopf trug, geht hinten von rechts nach links zurück, setzt sich dort wieder den Eimer auf, um mit mechanischen Bewegungen erneut die Bühne zu umrunden. Die Szene erstirbt in einem Freeze und endet mit der Frage: »Am I dead? Yes.« Die Befragung des Robert Scott † ist also die Befragung eines Toten, Robert Falcon Scott, des britischen Marineoffiziers, der 1911 mit dem Norweger Roald Amundsen um die Entdeckung des Südpols wetteiferte. Ende März 1912 erfror er, nachdem er den Wettlauf verloren hatte, auf dem Rückweg vom Pol zusammen mit seinen Kameraden. Die Eroberung des Südpols stellt jedoch nur einen Themenkomplex des Stücks dar, vor dessen Hintergrund sich etwa die schrillen Schreie der Tänzerin als Ruf eines Pinguins deuten lassen. Fragen wie »Are we talking about the same piece?« oder »Did you go through the motions?« eröffnen jedoch einen zweiten Bedeutungshorizont, der das Thema der Arbeit und der Eroberung eines unbekannten Kontinents auf die Arbeit der Tänzer an ihrem eigenen Stück und auf ihre Expedition ins unbekannte Land des Balletts zurückbindet. Darauf verweist auch die litaneiartige Einleitung »And then we/I said«, die die gesprochenen Texte als Zitate vorangegangener Rede ausweisen, einer Rede, die hier in einem veränderten Kontext wiederholt wird. Ähnliches gilt auch für die Bewegungen. Auch sie sind, von einem Computerprogramm aufgelöste und neu geordnete, Zitate aus einem anderen Stück von William Forsythe, das im Untertitel zu Die Befragung des Robert Scott † als »Eine Untersuchung über LDC« kenntlich gemacht wird. Die Befragung des Robert Scott † ist also auch eine Autopsie eines toten, vergangenen Stücks und damit zusammenhängend eine Selbstbefragung des Choreographen über seine bisher geleistete Arbeit, seine Ansätze und deren Erfolg oder Misserfolg.

2.2

LDC

Worum ging es also in LDC, das nach einer kritischen Selbstbefragung verlangte? Das abendfüllende Ballett wurde am 1. Mai 1985 in der Oper Frankfurt uraufgeführt, bezeichnenderweise am Tag der Arbeit, was als ein kleiner ironischer Verweis auf den Inhalt des Stücks verstanden werden kann.22 Die zeitgenössische Kritik hat das Stück als Auseinandersetzung des Menschen mit der Technik aufgefasst, als »Zukunftsvision«, in der der Mensch der Technik unterlegen ist.23 In der Tat spielt Technik auf allen Ebenen des Stücks eine zentrale Rolle. Doch ist es nicht die Technik an sich, die hier zum Thema wird, sondern bestimmte Prinzipien des (mechanischen) Antriebs, der Körper in Bewegung versetzt und sie arbeiten lässt. 22 | Der Betrachtung liegt eine Videoaufzeichnung der Uraufführung zugrunde. 23 | Hartmut Regitz, »Endzeit mit viel Technik«, zitiert in: Helga Heil, Frankfurter Ballett von 1945 bis 1985, Stuttgart: Theiss Verlag, 1986, S. 280.

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250 | Abwesenheit Das Bühnenbild von Michael Simon wird dominiert von zwei zentralen Objekten, die auf einer Drehbühne angeordnet sind. Ein großer Kubus beherrscht die eine Seite der Bühne. Er ist an den Seiten nochmals in kleinere quadratische oder rechteckige Zonen unterteilt, worin auf der einen Seite Lautsprecher eingebaut sind. Quadratische Schrifttafeln, die ihren Inhalt in schwarz-weißen Computerstreifen codiert festhalten, bestimmen die andere Seite. An den Seiten können Leitern angelegt werden, um den Tänzern die Möglichkeit zu geben, den Kubus wie einen Berg zu erklimmen. Auf der anderen Seite der Bühne steht eine riesige Turbine, die wie ein überdimensioniertes Auge über die Tänzer wacht. Sie kann als Sinnbild für das Industriezeitalter, als dessen Motor und Antrieb, verstanden werden. Kleinere Gegenstände, so etwa eine Handkurbel und eine große Schaufel, die einer Antenne gleich in den Himmel ragt, kommen in einzelnen Szenen zusätzlich zum Einsatz. Die Schaufel wird 1991 in dem Stück The Loss of Small Detail erneut Verwendung finden. Im zweiten Akt des zweistündigen Stücks werden diese harten, baulich festen Objekte konterkariert durch den Einsatz von fließenden Stoffen, die mal zum Bauen eines Zeltes verwendet werden, mal als Prospekte einer Szene mitten auf der Bühne einen Raum verschaffen. Zu Beginn des zweiten Aktes setzt sich ein Tänzer in das Zelt und spielt einen kläffenden, jaulenden, knurrenden Hund, der von einem Interviewer mit Mikrophon, der neben ihm kniet, gebeten wird, verschiedene Geräusche zu machen. Auf dem Boden liegen Kabel, Stangen und Halterungen herum, die ein regelrechtes Netzwerk von Verbindungen schaffen, das die Tänzer als Relaisstationen einbezieht.24 Drei Leitern führen nach vorne in den Orchestergraben hinab, der als Auftrittsort für die Tänzer fungiert. Manchmal werfen sie von dort aus auch Decken auf die Bühne. Elemente dieses Bühnenbildes werden in Die Befragung des Robert Scott † aufgegriffen und ordentlich an den Seiten der Bühne verstaut. Lautsprecherboxen, Kabel und sieben der Schrifttafeln säumen die Ränder, während das Zentrum diesmal den Tänzern gehört. Der Einsatz der Drehbühne erzeugt eine Art mobile Geographie, bei der sich der Kubus und die Turbine ständig perspektivisch gegeneinander verschieben.25 Abgeschattet durch den Kubus taucht plötzlich die Turbine 24 | Ein Aufführungsfoto zeigt die Tänzer, wie sie auf dem Rücken liegen, abgedeckt von im quadratischen Muster verlegten Stoffdecken, über die Kabel hinweg führen; Heil, Frankfurter Ballett, op. cit., S. 289. 25 | Der Höhe- und Endpunkt der Zusammenarbeit von William Forsythe und Michael Simon war 1990 das Stück Limb’s Theorem, für das Simon ein drehbares Segel im ersten Akt sowie verschiedene mobile Holzobjekte im zweiten und dritten Akt baute. Sie basierten auf Ausschnitten aus Architekturzeichnungen von Daniel Libeskind. Die Tänzer mussten sich ähnlich wie in LDC in dieser beweglichen Landschaft regelrecht behaupten.

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im Hintergrund auf wie ein riesiger Eisberg. Am Ende des ersten Aktes etwa dreht sich der Kubus von links nach vorne, während die Turbine von hinten rechts ins Bild rückt, bis der Kubus sie komplett verdeckt. Die einzige Lichtquelle befindet sich in einer offenen Seitenwand auf der rechten Seite, die sich im Laufe der Szene langsam schließt. Am Ende des zweiten Aktes kommt der Kubus am linken vorderen Bühnenrand zum Stehen, während die Turbine etwas nach hinten versetzt die rechte Seite dominiert. Beide Objekte bilden in dieser Szene einen Rahmen, der in der Mitte einen langen Gang nach hinten schafft, in dessen zentralperspektivischem Fluchtpunkt eine Lichtbatterie aus acht Scheinwerfern platziert ist. Auf vergleichbare Art entstehen so offene und geschlossene Räume, Räume, die die Tänzer auf ein Band vor der Rampe zusammendrängen oder kleine verwinkelte Schluchten schaffen, in denen die Tänzer zwischen Metallstangen und Wänden agieren müssen. Die Beleuchtung der Szenen erfolgt oft nur punktuell durch gezielt ins Spiel integrierte Lichtquellen. So stehen etwa auf dem Boden einzelne Glühbirnen herum, die die Tänzer von unten anleuchten und ihren Gesichtern ein scharfes Profil geben. An Kabeln werden Glühbirnen durch die Luft geschwungen, als zuckten Blitze durch die Luft. Gegenlicht reduziert die Tänzer auf ihre Konturen und verändert ihre Größe. Die Stimmungen, die so geschaffen werden, haben stets etwas Geheimnisvolles, Undurchsichtiges. Die Tänzer werden einer Umwelt ausgesetzt, die sie nicht überschauen können, deren Horizont sich ständig verändert und deren Perspektive unklar bleibt. Durch die überdimensionierten Objekte eingegrenzt, entsteht so der Eindruck von Bedrohung. Benedikt Ramm hat das Ensemble in weite Hosen und Mäntel mit großen Taschen gesteckt. Einige tragen Hemden mit Westen und Hüten, andere Mützen auf dem Kopf und Decken über den Schultern. Das Farbspektrum ist begrenzt und reicht von braun und beige bis hin zu schwarz und grau. Die Kostüme sind eine Mischung aus Arbeiterkleidung aus der Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert und Expeditionskleidung: Mäntel und Decken, die in einer unwirtlichen Gegend vor Kälte schützen sollen.26 Aus dem Ensemble sind eine Tänzerin und ein Tänzer mit besonderen Rollen hervorgehoben. Elizabeth Corbett hat die Position einer Sprecherin inne, die über Mikrophon der Gruppe von Arbeitern Anweisungen gibt. Sie stellt eine Art Autoritätsperson dar, die, während sie spricht, auf der rechten Bühnenhälfte vor und zurück und seitlich nach rechts und zurück schreitet. Um ihre Position zu unterstreichen, trägt sie dunkle Hosen, ein weißes Hemd mit einer schwarzen, männlich konnotierten Krawatte. Das Stück beginnt mit ihrer Stimme, die mehrmals »Present Text« wiederholt. Während das Ensemble im Halbdunkel der Bühne Metallstangen montiert, for26 | Die Figurinen sind abgebildet in: Heil, op. cit., S. 287.

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252 | Abwesenheit dert sie sie mit ruhiger Stimme, die jedoch zunehmend beschleunigt, zu bestimmten Tätigkeiten auf: Person J assist expansion. Person L assist expansion. Person P assist expansion. Accelerate expansion. Persons CVOHTRYQUZG review and recite extremity over 2 short circuit. Go ahead! No go. Retracting persons CVOHTRYQUZG. Retracting, repeat: retracting, review and recite. Persons N and W assist accelerated expansion. Persons MKS go ahead, rotating assemblage, present text.27

Nach etwa dreißig Minuten tritt sie in einen Dialog mit einem Tänzer, Michael McGrath, ein, der im vorderen Bühnenbereich lange dreifüßige Metallständer zusammensteckt. »I suppose you refuse«, unterstellt sie ihm, woraufhin er »We resume« antwortet. Im zweiten Teil geraten die beiden in Streit um die richtigen Worte und Phrasen, der an den Streit der Frau im historischen Kostüm mit dem Mann mit dem Megaphon aus Artifact erinnert. Auch die paradigmatischen Wortketten von »reverse, request, retract, review, recite, recover, relocate, repeat, respond, readjust«, die Elizabeth Corbett litaneiartig für ihre Befehle verwendet, erinnern an das Prinzip der syntaktischen Verknüpfungen aus dem vorangegangenen Stück. Dazwischen mischen sich immer wieder Stimmen einzelner Tänzer, die in ihrer jeweiligen Muttersprache Worte wie »brauchbar«, »unbrauchbar«, »verbraucht«, »ça marche«, »ça ne marche pas«, »Make it work!« rufen. »Let’s get this show on the road«, ruft einer in der zweiten Szene des zweiten Akts und präzisiert: »What’s happening with the sound?« »Could you reconstruct the scene«, fragt jemand, und ein anderer möchte wissen: »When you were there, did you notice any movements?«, woraufhin erst einige Szenen später die Antwort erfolgt: »Als sie da war, hat sie keine Bewegung wahrgenommen.« Das Stück thematisiert in solchen Stellen durchaus auch ironisch, was den vermeintlichen Mangel an wiedererkennbaren Ballett- oder gar Tanzbewegungen ausmacht, seinen eigenen Arbeitsprozess, der hier zur Phrase geronnen und abstrahiert zum Teil der Aufführung wird. »Work. Work« skandieren sie im Chor gegen Ende des ersten Akts, bevor sie zu tanzen anfangen. »Work. Work«, peitscht sie eine Tänzerin gegen Ende des zweiten Akts ein, womit zu einem wieder das Tanzen gemeint ist, zum anderen aber auch der Versuch, die Turbine in Gang zu setzen. »It 27 | Der Anfang der Partitur ist ebenso wie die sechs zentralen Dialoge zwischen Corbett und McGrath als Programmblatt zu Die Befragung des Robert Scott † erschienen (vgl. Fn. 2), Intendanz Ballett Frankfurt, 1986.

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doesn’t work!«, stellt ein Tänzer resigniert fest, doch das Ensemble sitzt vor dem riesigen Objekt und schaut es an wie ein Götzenbild. Am Schluss schieben sie es nach vorne an die Rampe, woraufhin es sich doch wie von Geisterhand getrieben in Bewegung setzt. Sowohl am Ende des ersten als auch am Ende des zweiten Aktes gibt es längere Tanzsequenzen, die mit »Work. Work«-Rufen eingeleitet werden. Forsythe hat ein Alphabet aus hundert Bewegungen geschaffen, das aus Übungen für Jazz- und Modern Dance besteht. Die Sprecherin ruft immer wieder wahllos eine Zahl zwischen eins und hundert in die Runde und ruft so die einzelnen Bewegungen ab.28 Viele der Bewegungen werden in Die Befragung des Robert Scott † aufgenommen. Sie folgen jenen Prinzipien, die Elizabeth Corbett in ihren Befehlen an das arbeitende Ballettensemble weitergibt: »accelerate expansion« und »rotating assemblage«, beschleunigte Ausdehnung der Köper im Raum und Drehbewegungen einzelner Gliedmaßen, die den Körper wie eine zusammengeschraubte Maschine wirken lassen. Dabei wird einmal sogar die Drehung eines Unterarms aus dem Ellbogengelenk parallelisiert mit der Drehung eines Metallstücks, das mit einem Gelenk an einem zweiten Stab befestigt ist. Doch der Vorstoß und das Eindringen in ein unbekanntes Gebiet, das Erschließen von Räumen durch Körper in Bewegung, stößt wie die Südpolexpedition von Robert Scott immer wieder auf Schwierigkeiten. Forsythe arbeitet sowohl in LDC als auch in Die Befragung des Robert Scott † mit einer Kette von gedanklichen Analogien, die es ihm erlauben, historische Ereignisse, wie die Eroberung des Südpols, mit literarischen Texten, der Geschichte des Balletts und den eigenen Arbeitsprozess aufeinander abzubilden. Durch diese Überlagerungen und Interferenzen entsteht eine dicht gewobene Textur von Mitteln, die Bedeutungshöfe bildet, ohne dabei einer linearen Erzählung wie beim Handlungsballett zu folgen. Eine dritte, bislang nicht erwähnte Inspirationsquelle für den Stückkomplex ist Mary Shelleys Schauerroman Frankenstein aus dem Jahr 1818. Viktor Frankenstein ist besessen von der Idee, das Elixier des Lebens zu finden. Der Naturwissenschaftler setzt aus Leichenteilen einen menschenähnlichen Körper zusammen, dem er Leben einhaucht. Doch Frankensteins Geschöpf erregt bei den Menschen und selbst bei seinem Schöpfer nur Abscheu, und weil es nicht lieben darf, wird es zum Mörder. Es jagt seinen Erschaffer durch ganz Europa, bis die beiden schließlich im ewigen Eis der Arktis aufeinandertreffen. Von diesem monströsen Körper, der mechanisch erzeugt wurde, mag der Tänzer mit dem Eimer über dem Kopf mit seinen roboterhaften Antrieb erzählen. Forsythe projiziert in seinen Choreographien LDC und Die Befragung 28 | Eva-Elisabeth Fischer, »Liebe zur Vergeblichkeit«, in: Süddeutsche Zeitung 4./5. Mai 1985; Jochen Schmidt, »Das überaus schicke Chaos«, in: F.A.Z. 3. Mai 1985.

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254 | Abwesenheit des Robert Scott † den Südpol auf das Ballett, Frankensteins Monster auf die Gliederung des Tänzerkörpers und die Arbeit der Forscher und Entdecker auf die Arbeit des Choreographen und der Tänzer mit dem Ballett. Der Ballett-Körper dient hier als Modell für die Maschine, deren Produkt und Funktionsweise er untersucht. Auch der Ballett-Körper ist, um ihm einen größeren Bewegungsradius zu ermöglichen, ein zergliederter, unnatürlicher Körper, der anschließend harmonisch zusammengesetzt wird. Was die drei Ebenen in den beiden Stücken verbindet, ist die Vorstellung oder das tatsächliche Scheitern ihrer Macher. Dieses Scheitern, und darauf kommt es mir hier besonders an, ist auch ein Scheitern der Technik, was in diesem Kontext sowohl technisches Gerät als auch Tanztechnik meint. Robert Scott hat den Wettlauf um die Eroberung des Südpols verloren und ihn mit dem Leben bezahlt. Während der Norweger Amundsen mit Hilfe von Hundeschlitten über Eis und Schnee zum Sieg glitt, kam Scott nicht voran, weil die Motorschlitten mit ihrer avancierten Technik, die ihm zum Sieg verhelfen sollten, wegen der Kälte nicht mehr funktionierten und von Hand gezogen werden mussten. Das Stück erzählt so auch vom Scheitern des Industriezeitalters im Packeis. Gescheitert sind sowohl Scott und Frankenstein als auch Forsythe an einer Idee, die nicht nur aus Gründen menschlichen oder technischen Versagens nicht eingeholt werden kann. Die Gründe für das Scheitern sind struktureller Natur, wobei es im Falle von William Forsythe neue Möglichkeiten der tänzerischen Bewegung eröffnet, die zwar nicht tot sind wie Robert Scott, die Abwesenheit aber zu ihrer Bedingung und ihrem Ziel gemacht haben. In mehreren Interviews betont William Forsythe eine zusätzlich Pointe bei dem Wettlauf um den Südpol: der Südpol ist, wie die Bühne von LDC, lediglich »eine mobile Geographie«, ein sich ständig verschiebender Boden von Eisplatten, den Scott ständig umkreiste. In der Tat kann man die Pole der Erde, wie der Geophysiker Klaus Strobach bemerkt, nie an ihrem tatsächlichen Ort in Augenschein nehmen. Für alle Bewohner der Erde, die sich ja alle auf einer der über den Erdmantel driftenden Platten befinden, ändern sich im Lauf der Zeit die Positionen des Nordpols und des Südpols. Es handelt sich bei dieser wahrgenommenen Änderung aber nur um eine scheinbare Polwanderung, die deshalb als scheinbar bezeichnet wird, weil sich nicht die Lage der Rotationsachse gegenüber dem Erdmantel verändert, sondern die geographische Position des Betrachters auf einem bewegten Kontinent. Dasselbe Phänomen erlebt ein Schiffsreisender auf einer Nord-Süd-Route.29 Daneben kennt die Geographie auch tatsächliche Polwanderungen, die mit den Verschiebungen der Kontinentalplatten und den damit verbunde-

29 | Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001.

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nen Klimaveränderungen zu tun haben und die tatsächlich die Lage der Rotationsachse gegenüber dem Erdmantel verändern. Für Forsythe stellt auch das klassische Ballett ein solches Abstraktum, eine Idee, dar: Ballett existiert nur in der Theorie. […] Jeder Tänzer muß lernen, daß das Ballett nur eine potentielle Existenz führt. Niemand kann eine absolute, richtige Arabesque tanzen. Alles, was ein Tänzer machen kann, ist, sich mit seinem individuellen Körper und seinen Fähigkeiten durch die Figur Arabeske hindurchzubewegen wie durch eine leere Form. Die Vorstellung, den Südpol erobern zu können, folgt einer ähnlichen Logik. Wenn es den Südpol als konstanten Punkt streng genommen gar nicht gibt, kann man auch nicht dagewesen sein.30

Kein Tänzer kann also mit seinem verkörperten Wissen eine Arabesque tanzen. Er kann sich ihr nur annähern wie Scott dem Südpol. Doch wenn er glaubt, da zu sein, hat sich ihm die Figur schon wieder entzogen. Sie stellt lediglich eine mögliche Form im Kontinuum der Bewegung und Perspektiven dar, durch die der Tänzer hindurchgehen kann, ohne jemals dort bleiben und sie korrekt besetzen zu können. 1989 gibt Forsythe diesem Phänomen den Namen ›Parallaxe‹.31 Aus der Astronomie kommend, bezeichnet der Begriff die augenscheinliche Abweichung eines Himmelskörpers oder Objekts von seinem Platz, die auf einer minimalen Veränderung der Betrachterposition basiert. Parallaxe bezeichnet damit zusammenhängend auch den Winkel, der entsteht, wenn ein Objekt von zwei Standpunkten aus wahrgenommen wird. In dieser Poetik der Abweichung hat der eigentliche Gegenstand, die Arabesque, keinen festen Ort. Sie und mit ihr das gesamte figurale System des klassischen Balletts erscheint als Leerform, als leere Mitte oder als strukturelle Abwesenheit, um die herum sich die Bewegungen aus verschiedenen Perspektiven kommend entfalten. Hier liegt der Schlüssel zu Forsythes Bewegungsverständnis, das Abstand nimmt vom Ballett als einer zu verkörpernden idealen Form und stattdessen die Bewegung als performativen Akt des Verschwindens begreift. Die Bewegung artikuliert ihre eigene Abwesenheit. Diese Abwesenheit resultiert aus der Abwesenheit des Balletts als technischer Form.

30 | Gerald Siegmund, »Wir arbeiten, um uns arbeiten zu sehen«, F.A.Z. 23. Januar 2000. 31 | Parallax hieß ein dreiteiliger Ballettabend, der am 25. November 1989 im Frankfurter Schauspiel Premiere hatte. Das dazugehörige Programmheft entfaltet damit zusammenhängende theoretische Fragen in mehreren Aufsätzen.

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256 | Abwesenheit

2.3

Der Antrieb der Tänzer

»Ich habe versucht, die Artikulationen zu definieren, die es den Menschen ermöglichen, sich mechanisch fortzubewegen. Was ist eine nützliche, verwertbare, was eine unnütze Bewegung?«32 So beschreibt Forsythe seinen Ansatz für die Stücke LDC und Die Befragung des Robert Scott †. Ist diese Frage in LDC noch eingebunden in eine große theatrale Landschaft, wird sie in Robert Scott auf die Bewegung und deren Organisation reduziert. Robert Scott erscheint als bewegungstechnisches Destillat von LDC. Mit seiner Frage stellt sich Forsythe in den Kontext der Theorien des Antriebs und der Dynamik von Bewegungen, die der deutsche Ausdruckstänzer, Choreograph und Tanztheoretiker Rudolf von Laban über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren entwickelt hat. Forsythe ist mit Labans Schriften zum ersten Mal 1971 in Berührung gekommen, als er wegen einer Knieverletzung nicht tanzen konnte. Er nutzte die Zeit zu intensiven Studien der Theorien Labans, die dem Studium der Bewegung ein wissenschaftliches Fundament geben wollten. Im Gegensatz zu Forsythes Auseinandersetzung mit Labans Modell der Kinesphäre und den Dimensionen des Raumes, auf das ich später zurückkommen werde, hat dieser dynamische Aspekt in der Forschung bisher keine Beachtung gefunden. Obwohl die rhythmische Dynamik, mit der das Ensemble Bewegungen initiiert und ausführt, eine der herausragendsten und mitreißendsten Qualitäten der Tänzer und Tänzerinnen des Ballett Frankfurt darstellt, fehlt bislang jede Betrachtung des Phänomens.33 Erste Überlegungen zur Dynamik der Bewegungen, die er nach seiner Emigration nach England 1938 verstärkt vorantreiben sollte, hat Laban schon 1926 in seinen beiden Büchern Choreographie und Gymnastik und Tanz angestellt.34 In Choreographie unterscheidet er zum ersten Mal vier Regulatoren der Bewegungsintensität, die er später in seinen Theorien der ›Eukinetik‹ und des ›Effort‹ modifiziert wieder aufgegriffen hat. Mit dem Begriff ›Eukinetik‹, der von den griechischen Begriffen Eu (gut) und Kinesis (Bewegung) abgeleitet ist, beschreibt Laban, die »gute Bewegung in bezug auf die harmonischen Gesetze des Tanzes.«35 Laban unterscheidet dabei acht »dynamische Grundaktionen« menschlicher Alltagshandlungen: Peit32 | Siegmund, »Wir arbeiten, um uns arbeiten zu sehen«, op. cit. 33 | Roslyn Sulcas attestiert Forsythes Choreographien »a distinctive flow or dynamic«, führt diese Qualität aber auf den persönlichen Stil Forsythes, »Forsythe’s own way of moving«, zurück; Sulcas, Hall of Fame, op. cit., S. 49. 34 | Vera Melatic, Body-Space-Expression: The Development of Rudolf Laban’s Movement and Dance Concepts, Berlin/New York/Amsterdam: de Gruyter, 1987, S. 93; meine Darstellung bezieht sich auf Melatic. 35 | Ibid., S. 97.

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schen, Gleiten, Drücken, Wringen oder Ziehen, Schweben, Stoßen, Flattern und Tupfen. Durch das Studium der Eukinetik »kann die dynamische Struktur dieser Bewegungen genau festgelegt werden.«36 Jede dieser acht Grundaktionen des Bewegungsantriebs ist bestimmt durch eine Reihe oppositioneller Faktoren: Zeit, Kraft und Raum, zu denen sich später noch die Kategorie des Bewegungsflusses gesellen sollte. Jede dieser vier Kategorien ist nochmals in ein binäres Oppositionspaar unterteilt. Eine Bewegung kann in der Zeit langsam und andauernd oder plötzlich und schnell vollzogen werden. Der Einsatz von Kraft oder Gewicht kann leicht oder stark erfolgen; ihre Ausdehnung im Raum kann direkt oder indirekt, gerade oder krumm, sein; ihr Fluss gebunden oder offen. Das Antriebsmuster für die Bewegung des Drückens bestimmt sich daher aus den Kategorien »langsam«, »stark« (großer Widerstand gegen die Schwerkraft) und »gerade« (zielgerichtet), das Muster des Flatterns dagegen aus »schnell«, »leicht« und »krumm«.37 Laban fasst die vier mal zwei Möglichkeiten des Antriebs, die immer auch ein psychisch-mentales Moment bezeichnen, schließlich als »Effort-Graph« zusammen.38 In seinem 1947 zusammen mit C.F. Lawrence veröffentlichten Buch Effort entwickelt Laban die Motivationsstruktur der Bewegung weiter. Geht er in seiner Theorie der ›Eukinetik‹ zwar von Alltagshandlungen aus, fällt das Studium des harmonischen Zusammenspiels der Ausdrucksqualitäten jedoch in den Bereich des Tanzes. Das Konzept des Effort ist dagegen weiter gefasst: Laban and Lawrence refer to Effort as mental and manual processes of individual people building up collective actions such as »cultural effort« and »industrial effort«. The term thus appears to be derived from the notion of humans striving for values and human efforts for survival. As Efforts are visibly expressed in the rhythms of bodily movement, the authors propose to study movement rhythms in order to extract from them those elements which will help in forming a systematic survey of Effort manifestations in human action. The most significant carriers of rhythmic movement are phenomena such as children’s play, mime, dance, and work.39

Vera Melatics Versuch, Labans Effort-Theorie in ihrer ganzen Tragweite darzustellen, liest sich wie der Versuch, Forsythes Antrieb für LDC zu beschreiben. Wie in einem Versuchslabor stellt er auf der Bühne die kollektive 36 | Rudolf von Laban, Choreutik. Grundlagen der Raum-Harmonielehre des Tanzes, Wilhelmshaven: Noetzel, 1991, S. 40. 37 | Ibid., S. 43-44. 38 | Rudolf von Laban, The Mastery of Movement, London: MacDonald and Evans, 21960, S. 81. 39 | Melatic, op. cit., S. 99-100.

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258 | Abwesenheit Anstrengung einer Gruppe dar, sich in ihrer feindlichen Umwelt einzurichten und sie sich durch Arbeit zu eigen zu machen. Er beleuchtet ihren ›kulturellen‹ wie ›industriellen‹ Antrieb auf der Suche nach Werten und im Kampf ums Überleben. Der Rhythmus der menschlichen Bewegung, der zum Untersuchungsgegenstand wird, bezieht sich nicht mehr länger nur auf den Bereich des Tanzes oder der Kunst, sondern erstreckt sich auch auf das Gebiet der Arbeit, der industriellen Produktion und die Lebensweisen, die sie hervorbringt. Die Welt des Tanzes und die Welt der Produktion sind über die Bewegung und ihren Antrieb miteinander verflochten. Die zweite Erweitung des Konzepts liegt in der Betonung der mentalen oder psychischen Prozesse, die Menschen zu einer Bewegung oder, darauf aufbauend, zu einer Handlung motivieren. Lisa Ullmann, langjährige Mitarbeiterin und Herausgeberin von Labans Werken, bemerkt in einer Fußnote zur Choreutik, Effort sei der »innere Bewegungs-Antrieb«.40 Effort kann also verstanden werden als das Zusammenspiel aller quantitativen, messbaren und aller qualitativen, virtuell-psychologischen Antriebsmomente des Menschen. Laban entwickelt den zweiten Aspekt, in dem er eine weitere Grundopposition aufstellt. Jedes Bewegung kann in ihrer dynamischen Qualität danach bewertet werden, ob sie die vier grundlegenden Bewegungsformen akzeptiert oder gegen sie opponiert. Jede Bewegung ist demnach auch mit psychologischen Attributen belegt. Je nachdem, welcher der vier Faktoren betont wird, tritt eine andere Haltung in den Vordergrund. Betont die Bewegung den Raum, drückt sich in ihr die Denkfähigkeit des Menschen aus. Betont sie dagegen die Zeit, sind verstärkt Aspekte der Einfühlung und der Intuition in Situation mit ihr verbunden. Hier berührt die Effort-Theorie grundsätzliche Aspekte der menschlichen Wahrnehmung. Schon die ersten Bewegungen des Tänzers und der Tänzerin im Hauptstück von Die Befragung des Robert Scott † führen exemplarisch eine Grundopposition des Labanschen dynamischen Systems vor. Das Öffnen des Tänzers und das Schließen der Tänzerin rekurrieren auf die für Laban wichtigen Raumfaktoren, nach denen eine Bewegung zentriert, also nah am Köper, oder peripher, also vom Körper wegstrebend, verlaufen kann. »The relationship of the centre of weight to the active limb is crucial in determining the spatial extension, i.e., in central, narrow movements the centre of weight moves with the gesture, whereas in peripheral, wide movements it pulls against the gesture.«41 Damit verbunden sind Gewichtsverlagerungen und Verschiebungen, die der Tänzer etwa durch das Anheben der Hüfte noch verstärken oder gar steuern kann. Jede Bewegung der Arme oder der Schultern nach oben und nach hinten lösen dabei eine entsprechende 40 | Laban, Choreutik, S. 40. 41 | Melatic, op. cit., S. 98.

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Bewegung im diagonal gegenüberliegenden Glied aus: hier also eine Bewegung der Beine nach vorne. Durch dieses Kreuz, das Norbert Servos als »Laban-X« bezeichnet,42 erhält der Körper eine für das klassische Ballett ungewohnte Plastizität und Dreidimensionalität. Er löst sich aus dem Tableau der Frontalität und greift hinein in den Raum, der dadurch selbst dynamisiert wird. Als Bewegungszentrum hatten wir die Körpermitte um die Bauch- und Beckenregion ausgemacht. Der Impuls zur Bewegung aus der Kontraktion der Mitte heraus zieht den Körper »in eine Rückwärts-Richtung«43, die Forsythe als gleichberechtigte Raumrichtung exploriert. In der Tat kann diese »Rückwärts-Richtung«, die er dadurch komplizierter macht, dass er die einmal initiierte Bewegung dem Gewicht der Körper folgend nach unten fallen lässt, aus der Körpermitte heraus als initialer Impuls vieler ForsytheBewegungen gelten.44 In Stücken wie The Vile Parody of Address (1988/ 1991) werden die Körper regelrecht nach hinten gezogen, und in The Loss of Small Detail wird der Beckenbereich als Verlängerung des Rückens immer wieder betont. Weitere Parameter werden in Die Befragung des Robert Scott † erforscht: das lockere Schwingen im einfachen Laufen, die impulsive Explosion in den Sprüngen, nach denen die Intensität der Bewegung abnimmt, die Spannung im wiederholten Wippen des Beckens, bei dem sich die Bewegung nicht fortsetzen kann, sondern gestaut wird. Die Plötzlichkeit der Impulse, ihre Stoßhaftigkeit,45 wird dadurch verstärkt, dass keine der Bewegungen sich in einer Kette voll entwickelter Figuren harmonisch entfalten kann. So üben sich die Tänzer zwar immer wieder in Préparation, Port de bras, Drehung und Fini, doch darauf wird in der Choreographie nicht aufgebaut. Wie in Gänge und Artifact isoliert Forsythe einzelne Figuren und Bewegungen und lässt sie in einer Art serieller Reihung ständig wiederholen und variieren. Dadurch wird das Augenmerk auf das Antriebsmoment gerichtet, weil die Tänzer und Tänzerinnen immer wieder neu anfangen und sich immer wieder neu für ihre Bewegungen motivieren müssen. Die Arbeit mit dem Impuls der Bewegung führte nach Die Befragung des Robert Scott † zu einer Reihe von Stücken wie Skinny (1987), bei denen das rhythmische Moment im Vordergrund steht. Im vierten Teil des abendfüllenden Stücks Impressing the Czar (1988), der den vielverspre42 | Vgl. dazu Norbert Servos, »Laban Meets Ballet: Formprinzipien bei William Forsythe«, in: Tanzdrama 40 (März 1998), S. 4-9, hier: S. 8. 43 | Laban, Choreutik, S. 41. 44 | So Dana Caspersen bei einer Podiumsdiskussion in Reggio Emilia, Italien, am 23. Mai 2003. 45 | Laban definiert Impuls in seinem Buch Choreographie als »a movement starting from the middle of the body, the centre of movement, and has mostly a thrust-like character«; zitiert nach Melatic, op. cit., S. 96.

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260 | Abwesenheit chenden Titel »Bongo Bongo Nageela« trägt, tanzt das Ballettensemble, von der Kostümbildnerin Férial Simon in einheitliche Schuluniformen mit Röckchen gesteckt, im Kreis um die tote Figur des Amor, der von seinem eigenen Pfeil getroffen wurde. Wie bei einem afrikanischen Stammesritual pulsiert die Gruppe, wogt nach vorne und hinten, hüpft, stampft mit nach vorne gebeugtem Oberkörper und ändert ihre Bewegungsrichtung. Was sich bei Die Befragung des Robert Scott † jedoch nicht einstellt, ist ein Erkennen der psychischen Motivation der Bewegung, wie es Laban forderte. Die Erkundungsreise ins unbekannte Land des Balletts führt zu einer Entfaltung von Möglichkeiten der Artikulation von Bewegung, die als solche wahrgenommen wird. Ganz im Gegensatz zu Laban insistiert Forsythe auf der Abhängigkeit des ›Tanzzeichens‹ vom Kontext, in dem es auftritt. »Wenn ich das Tanzzeichen in verschiedenen Zusammenhängen zeige, vor einer hellen oder dunklen Wand, vor Wasser, Flammen, Erde oder Bäumen, wird es jedes Mal eine andere Bedeutung annehmen.«46 Das Ensemble arbeitet in der Tat, um sich arbeiten zu sehen.

2.4

Raumordnungen

An die vier Bewegungsindikatoren sind, wie im Falle der Impulsbewegung, die den Körper nach rückwärts zieht, im Verständnis Labans immer schon Raumrichtungen gekoppelt. Deshalb ist das Studium der ›Eukinetik‹ und des ›Effort‹ Teil seiner größer angelegten ›Choreutik‹, der Raum-Harmonielehre des Tanzes. Laban geht dabei zunächst von zwei Räumen aus: einem architektonischen Raum und einem beweglichen Raum, der den menschlichen Körper umgibt und sich mit ihm fortbewegt. Diesen Umraum des menschlichen Körpers nennt er ›Kinesphäre‹. Die Kinesphäre eines Menschen ergibt sich aus den Punkten, die der aufrecht stehende Mensch von seinem Platz aus erreichen kann, indem er seine Gliedmaßen in die verschiedenen Richtungen ausstreckt. Dabei ergeben sich prinzipiell Ebenen, auf denen die Bewegung ausgeführt werden kann: Kopf, Rumpf und Füße. Auf jeder dieser Ebenen gibt es neun Möglichkeiten, die Bewegung zu platzieren: hinter dem Körper, parallel zum Körper und vor dem Körper jeweils links, mittig oder rechts. Laban fasst diese siebenundzwanzig Grundrichtungen in einem Tetraeder, einem Würfel, zusammen, der die menschliche Gestalt umgibt. Der Würfel bildet auch den Kern eines Ikosaeders, eines Zwanzigecks, der die diagonalen Bewegungsrichtungen stärker berücksichtigt. Die kristalline Struktur dieser Modelle ermöglicht eine vielschichtige Beschreibung der Bewegung unter verschiedenen Gesichtspunkten. 46 | Eva-Elisabeth Fischer, »Im besten Fall drückt Tanz nichts anderes aus als sich selbst«, Interview mit William Forsythe am 20.10. 1987 im Hessischen Rundfunk, abgedruckt in: Programmheft Artifact, Intendanz Ballett Frankfurt, 1988.

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An diesem Punkt nun setzt die bisherige Forschung an, will sie Forsythes Bewegungsverständnis erläutern. Geht Laban noch von einem aufrechten Körper mit einem einzigen Schwerpunkt aus, bringt Forsythe den Kubus zum explodieren, in dem er verschiedene Zentren und Schwerpunkte im Körper zulässt. Zum ersten Mal haben Heidi Gilpin und Patricia Baudoin im Programmheft zu Parallax 1989 Forsythes Umgang mit dem Modell Labans wie folgt beschrieben: Aber was wäre, wenn eine Bewegung nicht von einem zentralen Körperschwerpunkt ausgeht? Was wäre, wenn es mehr als nur einen zentralen Punkt gäbe? Was wäre, wenn der Ursprung einer Bewegung eine ganze Linie oder Ebene und nicht nur einfach ein Punkt wäre? Choreutics regt solche Fragen an. William Forsythe folgt den Versprechungen von Labans System und sprengt es zugleich dadurch, daß er dessen zentrale Punkt endlos über den Körper verteilt. Forsythe geht sozusagen gleich von einer ganzen Ansammlung von Kinesphären aus; jede ist fähig, völlig zusammenzubrechen und sich zu erweitern. Eine unendliche Anzahl entstehender, sich drehender Achsenschnitte könnten z.B. die Fersen des rechten Fußes, das linke Ohr, den rechten Ellbogen, oder ein ganzes Körperglied zum Zentrum haben. Indem Forsythe Labans Modell abbaut und im Schwebezustand beläßt, kann jeder Punkt, jede Linie im Körper oder Raum zum kinesphärischen Zentrum einer bestimmten Bewegung werden. Ein ähnliches Modell kann ausgehend von jedem beliebigen Punkt innerhalb und außerhalb der Kinesphäre erzeugt werden; und die Kinesphäre ist durchzogen von einer unendlichen Anzahl von Ausgangspunkten, die alle gleichzeitig an verschiedenen Punkten des Körpers auftauchen können.47

Ein solches Verfahren ermöglicht es dem Körper, mehrere Bewegungszentren gleichzeitig zu haben, die sich unabhängig voneinander verhalten können. Dadurch werden die schönen Linien des Balletts aufgebrochen und zersplittert. Der Körper wird zu einem asymmetrischen, gedrehten und verwinkelten Gebilde, das sich amöbenartig in verschiedene Richtungen gleichzeitig ausdehnt. Darüber hinaus können die verschiedenen Zentren auch verschiedenen Tempi folgen, das Bein sich in einer anderen Geschwindigkeit bewegen als der Torso oder der Arm. Übertragen auf den ge47 | Patricia Baudoin/Heidi Gilpin, »Proliferation and Perfect Disorder. William Forsythe and the Architecture of Disappearance«, in: Parallax, Intendanz Ballett Frankfurt, 1989, S. 9-23, hier: S. 12. Vgl. im Anschluss daran: Norbert Servos, »Choreographie? Regie? Gratwanderungen zwischen den Sparten«, in: Tanz International 5 (1990), S. 10-13. Der Artikel erfährt eine substantielle Erweiterung in: Servos, »Laban meets ballet«, op. cit.; Gabriele Brandstetter, »Defigurative Choreographie. Von Duchamp zu William Forsythe«, in: Gerhard Neumann (Hg.), Postrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, 1997, S. 598-623; Kerstin Evert, DanceLab, op. cit., S. 124-139.

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262 | Abwesenheit samten Bühnenraum heißt das, das Gruppen oder Einzeltänzer simultan mit ihren je eigenen Bewegungssequenzen beschäftigt sein können, so dass der Bühnenraum multiple Foki erhält, zwischen denen sich der Zuschauer entscheiden muss. Einiges bleibt ihm dabei verborgen, sei es, weil er es nicht ins Blickfeld bekommt, sei es, weil die Aktion durch Lichtstimmungen oder Bühnenelemente tatsächlich verstellt ist. Hier zeichnet sich die Vorstellung eines Entzugs der Wahrnehmung ab, weil sich das Bühnengeschehen nicht zu einem abschließbaren fetischisierbaren Objekt formieren lässt. Wir kommen später darauf zurück. In enger Anlehnung an die Ideen von Baudoin/Gilpin entwickelt Gabriele Brandstetter aus diesem Sachverhalt die Theorie einer ›Defigurativen Choreographie‹. Das Zittern der Linien, das zu einem Desequilibrium und sogar zum Fall, zum Sturz des Tänzers als einer Möglichkeit der Bewegung führen kann, führt zu einer Dekomposition regulärer Figuren. Die Defiguration kommt durch den Verzicht Forsythes zustande, Übergange zwischen den einzelnen Figuren wie Arabesque, Drehung, oder Pirouette zu choreographieren. »Forsythes Choreographien inszenieren das Fehlen dieser Verbindungsglieder in der Figur, die Haarrisse in der Linie: das Verschwinden der Kopula.«48 Daraus entstehen defigurierte Bewegungsserien, die zwar nicht aussehen wie Ballett, aber stets auf es rekurrieren. Forsythe verfolgt die Idee des Neukombinierens von Bewegungen allerdings noch viel radikaler, als es in Brandstetters Vorschlag erscheint. Legt er doch nahe, die Figuren des Balletts blieben intakt und würden nur gestaucht wie ein Auto nach einem Unfall. Diese ›gecrashte‹ Linienführung, die das Bild des Tänzerkörpers zu einem ›polymorphen‹ macht, basiert jedoch noch auf einer anderen Operation, die uns wegführt vom linguistischen Satzmodell hin zu einem performativen Modell als Grundlage für die Betrachtung von Forsythes Stücken.

2.5

Kinetische Isometrien

Kommen wir noch einmal auf das Stück Die Befragung des Robert Scott † zurück. In einem Interview mit Roslyn Sulcas beschreibt Forsythe die Idee, die seiner Entstehung zugrunde lag: I began the ballet with the idea that I mentioned, that you cannot »do« arabesque, but that we could try, which was a lot of fun, and what the work is all about. You can’t pin down the South Pole on a map, and so obviously Robert Scott’s arrival there was purely hypothetical – just like doing ballet, where the decision as to whether you have »arrived« is a subjective one. It’s a moment that can’t be formulated very well. Actually, it can be formulated brilliantly by someone else, but not me! With Scott, the dancers 48 | Brandstetter, »Defigurative Choreographie«, op. cit., S. 614.

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V Abwesenheit reflektieren: William Forsythe | 263 and I began to see that we could actually create a whole vocabulary to describe some of the things that we were doing in enacting this idea. We developed the notion of kinetic isometries where the dancers tried to register an exterior and interior refraction of movement in their bodies, and proceed according to the »reading« that they achieved of their own states. Suddenly, mental agility had to be equal to physical agility, and that was really important.49

Was bei den Versuchen, die Arabesque nicht zu ›machen‹, sondern sich ihr anzunähern und durch sie hindurch zu gehen, zu Tage gefördert wurde, war eine andere Art der Bewegungskoordination. Der Körper des Tänzers funktioniert dabei wie ein Prisma, in dem sich Lichtstrahlen oder, in diesem Fall, Linien brechen. Diese »äußeren und inneren Brechungen« der Bewegung, von denen Forsythe im obigen Zitat spricht, werden vom Tänzer registriert und sofort wieder in Bewegungen umgesetzt. Was bei Robert Scott zu beobachten ist, ist der Versuch, Linien, Flächen oder Punkte von einem Körperteil auf ein anderes zu übertragen, um so Parallelisierungen von Formen zu erzielen, die die aufrechte achsensymmetrische Organisation des tanzenden Körpers in Frage stellt. Forsythe belegt dieses Vorgehen mit dem Begriff der ›kinetic isometries‹. Auf William Forsythes CD-Rom Improvisation Technologies, die als Lehrprogramm für seine Art der Bewegungsfindung und Koordination konzipiert wurde, taucht das Schlagwort ›Isometrien‹ unter der Oberrubrik ›reorganizing‹ auf. Dort definiert Forsythe den Begriff als »relationship between forms«, die »to other parts of the body« transferiert werden. Diese Transposition kann sich an der Körperachse als Brechungs- und Spiegelungspunkt orientieren, jedoch ist dies nicht zwingend. Vielmehr kann jeder Punkt im Körper zur Mitte erklärt werden, um den herum sich Isometrien ausbilden. Forsythe weitet das Konzept noch aus, indem er nicht nur Formen auf Körperpartien überträgt, sondern auch die Energie der Bewegung. Die so genannten ›movement isometries‹ übertragen die Kraft und den Impuls einer Bewegung auf eine andere Köperpartie. Die Energie, der Fluss und die Kraft der Bewegung wird erhalten, verlagert und von einem anderen Ort aus fortgesetzt.50 Forsythe denkt in diesem Zusammenhang auch an eine »innere kristalline Struktur«, die es ihm ermöglicht, die Reorientierung der Formen und Bewegungen im Raum vorzunehmen. »Laut traditioneller Auffassung gehen im Ballett Bewegungen vom Körperzentrum aus in einen hypothetischen Raum. Ich hingegen setze eine körpereigene, interne, kristalline 49 | Sulcas, »Channels for the Desire to Dance«, op. cit., S. 56-57, vgl. zu diesem Komplex auch: Sulcas, »Kinetic Isometries«, op. cit., S. 7-9. 50 | William Forsythe, Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye, Karlsruhe: ZKM digital arts edition, 1999.

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264 | Abwesenheit Geometrie voraus, die wiederum die Bewegung im Raum beeinflußt.«51 Forsythe nimmt also den großen Würfel Labans um den aufrechten Körper aus dem System heraus, verkleinert und vervielfältigt ihn und legt ihn an jeder nur möglichen Körperpartie an, die so ihre je eigene Kinesphäre erhält. Die Auflösung der Bewegungsfiguren wie etwa der Arabesque erscheint vor diesem Hintergrund weniger das Resultat einer Auslassung von Verbindungsgliedern zu sein, als im Gegenteil ein weiträumiges Umschreiben und Umgehen der Übergangszonen, ein Ausloten verborgener Möglichkeiten, durch das die Verbindungen eher verlängert als verkürzt werden. Dieses Umgehen oder Umtanzen des Codes erhält in bezug auf die kinetischen Isometrien dadurch Gestalt, dass das übergeordnete Zentrum, die Labansche Kristallstruktur, ausgespart wird. Forsythe nimmt sie heraus, macht sie abwesend, um anderes hervorzubringen. Die Befragung eines Toten, die Befragung von jemandem, der nicht mehr ›da‹, sondern ›fort‹! ist, die mit Robert Scott begann, führt zu einer anderen Abwesenheit, die das Zentrum des Balletts betrifft.

3

Ballett als performativer Akt

Die Methodik der Isometrien hat Auswirkungen auf die Arbeit der Tänzer und letztlich auch auf die Art der Choreographien. Wenn Forsythe in den Improvisation Technologies von seinen Tänzern verlangt, ein Gefühl »for inscribing form in your body and translating it immediately to other areas« zu entwickeln, verlangt er von ihnen eine rasche Informationsverarbeitung, die nicht mehr länger auf das bloße Ausführen von einstudierten Bewegungen abzielt. Ihre ›mental agility‹ wird ebenso wichtig wie ihr tänzerisches Können. Die Methode soll die Tänzer in die Lage versetzen, eigenständig Kombinationen zu entwickeln und selbst Entscheidungen zu treffen, wann sie eine Bewegung wie aus- oder fortführen. Tänzer des Ballett Frankfurt erzählen immer wieder, dass Forsythes sie nach einer gelungenen Vorstellung nicht mit dem Kompliment »gut getanzt« empfängt, sondern sie zu ihren »guten Entscheidungen« beglückwünscht. Damit haben die Tänzer auch großen Anteil an der Entstehung der Choreographien und werden in Stücken wie Sleepers Guts (1996) auch als Mitchoreographen genannt. Von Anfang bis Mitte der neunziger Jahre hat Forsythe eine Reihe von computergestützten Choreographien entwickelt, deren tatsächlicher Ablauf sich erst während der Aufführung entschied. Die Choreographien funktionierten als Systeme, die es den Tänzern gestatten, während sie auf der Bühne tanzen, eigene Bewegungsphrasen zu entwickeln und selbstständig Entscheidungen zu treffen, deren Ergebnisse sofort 51 | Fischer, »Im besten Fall«, op. cit.

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ins System zurückgeführt werden, wo sie neue Reaktionen und Aktionen hervorrufen.52

3.1

ALIE/NA(C)TION

Nach ersten Versuchen bei Die Befragung des Robert Scott † wandte sich Forsythe 1992 wieder dem Computer zu, um Strukturen für die raum-zeitliche Organisation von Bewegungen zu entwickeln. Der erste Teil des Dreiakters ALIE/NA(C)TION basiert auf einem solchen System, das Forsythe zusammen mit dem Tänzer David Kern erarbeitete.53 Dabei dient ihnen der Tetraeder von Rudolf von Laban aus Choreutik als Grundlage. Das dreidimensionale Raummodell wird als zweidimensionales Diagramm auf den Boden projiziert, wodurch es leicht verzerrt und gestaucht wird. Die siebenundzwanzig Raumrichtungspunkte bleiben als Bodenmarkierungen erhalten und geben den zehn Tänzern und Tänzerinnen je nach dem Punkt, an dem sie sich befinden, die Richtungen und die Höhe ihrer Bewegungen vor. Die Punkte dienen als Informationsspeicher, an denen bestimmte Bewegungen auszuführen sind. Ein Alphabet kurzer Bewegungen, das von den Tänzern selbst vorher erstellt wurde, wird an den Punkten von ihnen in ihre Bewegungsmöglichkeiten einbezogen und abgerufen, woraus der Tanz und die Choreographie entsteht. Neben Raum- und Bewegungskürzeln enthalten die Punkte auch Angaben zur Zeit. Per Zufallsgenerator erstellte Zahlen von eins bis dreißig sind den Punkten zugeordnet. Sie geben die Sekunden an, in denen sich ein Wechsel von Punkt zu Punkt zu vollziehen hat. Der Weg von Punkt zu Punkt, der demnach bis zu dreißig Sekunden in Anspruch nehmen kann, kann von den Tänzern mit Hilfe des Alphabets frei improvisiert werden. Wichtig für den Zusammenhalt der Choreographie ist nur, dass die Zeiteinheiten eingehalten werden, um Anschlüsse an anderen Raumpunkten zu ermöglichen. Befinden sich mehrere Tänzer an einem Punkt, sind sie sich gegenseitig dabei behilflich, die Raumorientierungen auszuführen.54 Auf diese Weise entsteht eine 25-minütige Choreo52 | Im Programmheft von Eidos:Telos wird dieses Rückführen ins System mit dem mathematischen Komplex der ›fraktalen Geometrie‹ in Verbindung gebracht, selbstähnlichen Strukturen als Bilder »of the way things fold and unfold, feeding back into each other and themselves«; Programmheft Eidos:Telos, Intendanz Ballett Frankfurt, 1995, S. 22. 53 | Das Stück hatte am 19. Dezember 1992 Premiere, die ich gesehen habe. Eine Neufassung wurde am 5. November 1993 gezeigt, wobei die Überarbeitungen vor allem den zweiten Akt betrafen. In ein Video einer Aufführung vom 18. Juni 1999 hatte ich Einsicht. 54 | Für ihre Erläuterungen des Systems danke ich den Tänzern Nik Haffner und Richard Siegal.

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266 | Abwesenheit graphie, die losgelöst ist von subjektiven Vorlieben und Affekten sowohl des Choreographen als bis zu einem gewissen Grad auch der Tänzer. Der Choreograph erstellt lediglich ein Raster, das nach bestimmten Vorgaben auszufüllen ist. Dabei entsteht im Wortsinn eine flache Choreographie, die die Hierarchien zwischen dem Choreographen als Autor einer zu realisierenden Vorschrift und den Tänzern als bloßen Ausführenden außer Kraft setzt. Die kinetischen Isometrien, auf deren Grundlage die Bewegungen entwickelt wurden, dienen den Tänzern als ›tools‹, als Werkzeuge, um sich selbst in Bewegung zu versetzen, sich selbst zu organisieren und anzutreiben. Der Choreograph und die Tänzer schauen so gleichermaßen auf eine Choreographie, die ihnen fremd ist: »Das Programm, das wir entwickeln, macht es den Tänzern unmöglich, zu wissen, wohin sie gehen, wann sie gehen, wie lang sie stehen, was sie tun, welche Intensität es hat. Die Situation ist die, das du auf ein Stück schaust, das nicht deins ist. Ich nannte es ›Alie/n‹. Ich habe ein Stück gemacht, das mir selbst fremd ist. Ich kenne die Choreographie nicht. Sie wird mir langsam vertrauter.«55 Das sich selbst Fremdwerden in der Bewegung und der Choreographie bestimmt als Thema des Fremdseins auch die Szenographie des Stücks. Schon der Titel ALIE/NA(C)TION greift in seiner verschachtelten Komplexität die Themen des Stücks dadurch auf, dass sich die Buchstaben und Buchstabenkombinationen gegenseitig stören und fremd werden. So kann man aus dem Wort ›alien nation‹, die fremde Nation, das fremde Land ebenso bilden wie ›alienation‹, die Entfremdung oder auch ›alien action‹, was das Treiben, die Aktionen von Außerirdischen umfasst. Eine weitere Lesart ›a lie in action‹, eine Lüge, die ausagiert wird, kann man auf den Kunstcharakter des Stücks beziehen, das aufgrund der Verwendung bestimmter Zeichen den Eindruck einer Welt erweckt. Das Wort Alien, ›fremd‹ oder eben ›der Außerirdische‹, bildet die Grundlage für die verschiedenen Codes des Stücks. Die Tänzer des Stücks haben sich vorher mit den ersten beiden Filmen der Science-Fiction Tetralogie Alien auseinandergesetzt und mit Bewegungen aus diesen Filmen zu probieren begonnen. Sie haben einzelne Bewegungsmuster zunächst kopiert, nur um sie anschließend mit Hilfe des Labanschen Würfels und der Isometrien bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Über der rechten Bühnenhälfte hängt ein Bildschirm, der für die Zuschauer uneinsehbar ist. In einer Szene des ersten Teils stehen Dana Caspersen und Christine Bürkle, zwei Tänzerinnen, die an der Ausarbeitung des Bewegungssystems beteiligt waren, vor dem Monitor und schauen zu ihm auf. Sie beschreiben, Caspersen in englisch, Bürkle in deutsch, die Szenen, die sie gerade auf dem Bildschirm sehen. Thom Willems’ musikalische Struktur greift Dialoge aus den Filmen eben55 | William Forsythe im Gespräch mit Johannes Odenthal, in: Ballett International/Tanz Aktuell 2 (Februar 1994), S. 33-37, hier: S. 36.

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so auf wie das markerschütternde Quietschen des Aliens aus Ridley Scotts Film. ›Ent-World-ET‹ steht in einer Anspielung auf den beliebten Außerirdischen aus Steven Spielbergs gleichnamigem Film ET in der linken unteren Ecke des eisernen Vorhangs zu lesen, der die Bühne nach hinten abschließt. Sechs Holzbänke, wie man sie aus dem Sportunterricht kennt, werden im Verlauf des Stücks zu verschiedenen Konstellationen zusammengeschoben. Einmal bilden sie eine Art Tisch, der mit Klebestreifen verschnürt wird, damit sich die Bänke nicht wieder auseinanderbewegen. Die Positionen, die die Tänzer zum Tisch einnehmen, etwa ob sie darauf sitzen oder gar darunter liegen, hängt ab von den Raumrichtungen, die der Labansche Tetraeder vorgibt. Auf der vom Zuschauer aus gesehenen rechten Seite der Bühne sitzt parallel zur Rampe mit dem Gesicht nach links ein Mann auf einem Stuhl, den das Programmheft als »Zähler« ausweist. Mit hohem Druck, fast peitschend zählt er laut die Sekunden und gibt mit »One minute«, »Two minutes« die jeweils größeren Einheiten bekannt. Nach drei Minuten und achtzehn Sekunden jedoch hört er plötzlich auf, pausiert für einige Sekunden, nur um dann von Neuem bei »eins« anzufangen. Nach elf Minuten wird seine Stimme leiser, er wirft ein »I’m fading« ein, zieht aber kurz darauf Tempo und Lautstärke wieder an. Der Countdown, dem in seiner Präzision auch etwas Maschinelles anhaftet, setzt die Szene unter Druck; als gelte es, das Raumschiff zu Evakuieren, bevor es zerstört wird. Über der linken Bühnenhälfte hängt ein zweiter Monitor. Er ist verbunden mit einer fahrbaren Maschine, einer bizarren Stuhlkonstruktion aus einer Kamera, Kabeln und Spiegeln, halb Hi-Tech-Zahnarztstuhl, halb Folterinstrument, die von David Kern nahe an der Rampe in der linken Hälfte bewegt wird. Die Kamera projiziert vergrößerte Live-Aufnahmen von Kerns Gesicht, seinen Zähnen oder seinem Daumen auf den Monitor, ein Verfahren, das seinen Körper ihm selbst und den Zuschauern fremd macht. Später fängt sie Bilder von Tänzerformationen ein und wirft sie ausschnitthaft auf den Bildschirm. Kern nimmt an die Projektion seines Körpers anknüpfend in einem zweiten Schritt die Bildinformation vom Monitor ab und zeichnet mit der Maschine etwa die Form seiner Lippen auf dem Bühnenboden nach.56 Der Einsatz von Medien wie Filmaufnahmen oder Live-Kameras dient hier dazu, Bewegungen zu erzeugen, Bewegungen, die von den Tänzern aktiv gelesen, umgesetzt und verändert werden, um so die Choreographie als ein Ensemble von Entscheidungen im Moment ihrer Ausführung selbst hervorzubringen. Dass David Kerns Maschine aus Aluminium gefertigt wurde mag nur als ein zufälliges Moment erscheinen. Doch Aluminium teilt mit Alien die ersten beiden Buchstaben ›Al‹ und ist darüber in die Struktur des Textes 56 | Für diese Informationen danke ich David Kern.

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268 | Abwesenheit eingewoben. Gleichzeitig verdeutlicht sich damit noch einmal das Spiel mit den Buchstaben, Silben oder Lexemen, das zu einer Umformulierung der Sprache und der Sprache des Balletts führt.

Doch ausgehend von den Erforschungen des Stückkomplexes LDC und Die Befragung des Robert Scott † zeichnet sich eine andere Wertigkeit im Umgang mit dem Lexikon ab. Nicht mehr das Isolieren und Neukombinieren von ballett-typischen Figuren wie noch in Gänge und Artifact steht im Vordergrund, sondern das Hervorbringen eines neuartigen Bewegungsflusses und Bewegungsduktus, bei dem das Ballett nur mehr im Hindurchgehen durch die leere Mitte gestreift wird. Die Perspektivverschiebung, die mit der Entdeckung der Isometrien in Robert Scott ermöglicht wurde, führte aber erst in den 1990er Jahren zu einer neuartigen Bewegungssensibilität, die wegführt von Forsythes neo-klassischen Arbeiten der 1980er Jahre. Abstrakt lässt sich diese Entwicklung wie folgt zusammenfassen: Betont das Raummodell Labans den linguistischen Aspekt der Arbeit Forsythes, hebt das Antriebsmodell den performativen Akt der Hervorbringung hervor. Geht das Raummodell vom Satz als Modell für die kodierten Bewegungssequenzen des Balletts aus, deren Elemente gegeneinander verschoben werden können, betont das Antriebsmodell den Aspekt der Wiederholung der Ballett-Norm im Moment ihres Neu- und Anders-Hervorbringens. Dehnt

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ersteres die Norm bis zum Äußersten, umgeht sie letzteres und lässt sie nur noch ex negativo als abwesende erscheinen. Performativität meint hier nicht nur, dass eine Choreographie im Beisein der Zuschauer aufgeführt wird. Im Anschluss an Judith Butler (vgl. Kapitel II.4) bezeichnet der Begriff hier auch ein Verfahren des Zitierens und Wiederholens von Normen, die im Akt der Wiederholung einerseits tradiert, andererseits aber auch verändert werden können. Performativität bezieht sich dabei sowohl auf das Umspielen der leeren Mitte in den einzelnen Bewegungssequenzen als auch auf das ständige Umspielen der Vorgaben auf der Ebene der Choreographie, die als »Real time choreography« jeden Abend neu entsteht und eine Anzahl von Variationen erzeugt.57 In beiden Fällen müssen die Tänzer keine Norm oder kein Vorbild erfüllen (das Tanzen einer Arabesque, die von einer Ballerina besser, von einer anderen schlechter realisiert wird), sondern Arten des Antriebs und der Bewegungsorganisation entwickeln, die abhängig sind von den Vorgaben und dem jeweiligen Kontext. Auf der Bewegungsebene zitieren sie implizit die Normen und Formen des Balletts, das als Idee im Raum stehen bleibt. Auf der Ebene der Choreographie zitieren sie aufgrund der strukturbildenden Vorgaben unweigerlich alle vorausgehenden Varianten ihrer Realisierung. Dies ist zwar bei jeder Theateraufführung der Fall, doch potenziert sich das Phänomen der Unwiederholbarkeit eines Live-Geschehens hier durch die Art des Arbeitens. Bei Forsythe wird es zum Thema. Die Fort- und Umschreibung des Zitierten bringt die Norm erneut in Fluss, verweist darüber hinaus aber auch auf die Flüssigkeit ihres Entstehens, d.h. auf die alternativen Möglichkeiten, die sie im Zuge ihrer Etablierung ausgegrenzt und verworfen hat, um sich als monolithisches System zu schließen. In diesem Sinn hat Forsythe seine eigene Arbeit stets als kontinuierliche Weiterführung das Frage, was Ballett sei, verstanden. Robert Scott greift auf Bewegungen von LDC zurück, die Neufassung von The Vile Pardoy of Address aus dem Jahr 1991 basiert auf Bewegungen aus Limb’s Theorem aus dem Jahr 1990. Einakter wie In the Middle, Somewhat Elevated (1987), Enemy in the Figure (1989) oder Self Meant To Govern (1994) werden später in die abendfüllenden Ballette Impressing the Czar (1988), Limb’s Theorem (1990) und Eidos:Telos (1995) integriert und damit in einen veränderten Kontext gestellt, der sie in einem anderen Licht erscheinen lässt. Das Wiederhereinholen von ausgegrenzten Möglichkeiten hat auch Auswirkungen darauf, wie Ballett konzeptionalisiert wird. Wenn die Arbeit an der Sprache des Balletts, wie ich sie anhand einzelner Stücke von William Forsythe entwickelt habe, 57 | Kerstin Evert verwendet diesen Begriff, um anhand des Stücks Self Meant to Govern (1994), dem ersten Teil des Dreiteilers Eidos:Telos (1995), die Choreographien Forsythes als »informationsverarbeitendes System« zu beschreiben; Evert, DanceLab, op. cit., S. 119-132.

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270 | Abwesenheit eine Arbeit an der symbolischen Ordnung der Kultur ist, hat diese Arbeit Auswirkungen darauf, wie sich Ballett als Repräsentation gesellschaftlicher Systeme darstellt und wie es sich diese Repräsentation vorstellt. Dem möchte ich im Folgenden anhand von Slavoj Zizeks Theorie des erhabenen Objekts nachgehen. Zizeks Theorie stellt eine Verbindung zwischen Lacans Psychoanalyse und Althussers ideologiekritischem Ansatz dar, die es erlaubt, die Form kultureller Phänomene als politische zu begreifen. ^ ^

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3.2

Das Ballett als erhabenes Objekt der Ideologie ^ ^

Slavoj Zizek geht mit Jacques Lacan davon aus, dass die Identität des Subjekts abhängig ist von einer symbolischen Struktur, die dem Subjekt immer schon vorausgeht. Identität hängt ab vom Verhältnis des Subjekts zum Anderen und damit von der Sprache, deren Verwendung die bewussten Intentionen des Subjekts stets übersteigt. Identität kann sich daher nie allein auf Kategorien wie Vernunft, Bewusstsein oder Selbstgegebenheit gründen. Für Zizek konstituiert sich die Identität eines Subjekts, womit er auch die Identität gesellschaftlicher Programme wie Demokratie, Freiheit oder Feminismus meint, auf dem Vorgang der Verwerfung, den Jacques Lacan im dritten Seminar-Buch Die Psychosen entwickelt hat. Im Gegensatz zur Verdrängung, die einen Wunsch, der für die Identität des Subjekts gefährlich werden könnte, ins Unbewusste verdrängt, umgeht die Verwerfung das Unbewusste. Sie spaltet den gefährlichen Teil der Realität ab, schließt ihn weg, und stellt, so Lacan, keine Fragen. Die Verwerfung ist eine Form der Abwehr, die darin besteht, »sich nicht der Stelle zu nähern, wo es keine Antwort auf die Frage gibt.«58 Gehört die Verdrängung mit ihrer Frage nach dem Begehren des Subjekts zur Neurose, findet sich die Verwerfung bei den Psychosen. Die Frage nach der Anerkennung des Subjekts im und durch den Anderen stellt sich dem psychotischen Subjekt dort, »wo es keinen Signifikanten gibt, wenn das Loch, der Mangel als solcher spürbar wird.«59 Der fehlende Signifikant, der nicht repräsentiert werden und der sich kein Bild von sich machen kann, ist mehr als nur das ›Nein‹ des Vaters, das im ödipalen Dreieck dem Jungen mit Kastration droht und ihn den Wunsch nach der Mutter verdrängen lässt. Der fehlende Signifikant ist der Vater, mithin die Instanz des Gesetzes, selbst. Damit stellt das psychotische Subjekt die signifikante Struktur insgesamt und nicht nur ihre Bedeutung in Frage, das Verhältnis nämlich, das ein Signifikant nur für einen anderen Signifikanten in einer Art Kette Bedeutung vorstellen kann.60 Für Zizek ist in Anlehnung daran daher jede symbolische Struktur und ^ ^

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58 | Jacques Lacan, Die Psychosen, op. cit., S. 239. 59 | Ibid., S. 240. 60 | Ibid., S. 240-243.

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jedes diskursive Feld um ein zentrales Loch oder eine Leere herum organisiert, das durch die Verwerfung des Signifikanten entstanden ist. Doch was aus dem Symbolischen ausgeschlossen ist, kehrt im Realen etwa in Form von Halluzinationen wieder. Die Identität des Subjekts, das sich als sprachliches konstituiert, hängt also ab von dem, was es verwirft. Das, was ausgeschlossen ist, hört nicht auf, das Subjekt zu bedrängen, weil es schon immer ein konstitutiver Teil von ihm ist. Es hängt an seinen Grenzen als Abjekt, das die Grenzen jeder Zeit wieder aufzulösen vermag.61 Wenn jedes diskursives Feld, womit in unserem Fall das Ballett gemeint ist, bestimmt wird von dem, was es innerhalb seiner Grenzen nicht aufnehmen kann, erscheint das, was es aufnimmt, als notwendig kontingent. »What«, so Zizeks Frage, »creates and sustains the identity of a given ideological field beyond all possible variations of its positive content?«62 Um diese Frage zu beantworten, bezieht sich Zizek auf die Theorie der radikalen Demokratie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Laclau und Mouffe gehen in ihrer ›Dekonstruktion des Marxismus‹ davon aus, dass jede ideologische Formation von einem prinzipiellen Antagonismus bestimmt wird, der die Bindungen und Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen der Formation als kontingent ausweist. Jede Formation ist daher bemüht, diese Kontingenz zuzudecken, um die Elemente, mit denen sie operiert, als notwendig erscheinen zu lassen. Bestimmte Zeichen, Worte oder Waren werden ständig wiederholt, um ein Netz von gesellschaftlichen Beziehungen zu erzeugen, das zwar keinerlei ontologische Fundierung besitzt, aber allein durch die ständige Wiederholung der Zeichen den Effekt der Notwendigkeit und Naturgegebenheit erzeugt. Darin besteht die ideologische Operation jedes Systems. Zizek bezeichnet diese Zeichen, die die Einheit und Geschlossenheit, mithin die Identität eines Feldes garantieren, als Stepp-Punkte: »[T]he multitude of ›floating signifiers‹, of proto-ideological elements, is structured into a unified field through the intervention of a certain ›nodal point‹ (the Lacanian point de capiton) which ›quilts‹ them, stops their sliding and fixes their meaning.«63 Durch dieses Steppen oder Nähen werden die Signifikanten zu Teilen eines strukturierten Netzwerks von Bedeutung, dessen Zusammenhalt erst nachträglich vom Stepp-Punkt aus erzeugt wird. Der ^ ^

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61 | Den Begriff das Abjekts hat Julia Kristeva Anfang der 1980er Jahre entwickelt. Sie beschreibt damit körperliche Phänomene des Ekels und des Unreinen, die eine Art Angst-Lust auslösen und die sich dem festumgrenzten Ich entgegenstellen, um es zu destabilisieren; Julia Kristeva, Pouvoirs de l’horreur, Paris: Editions de Seuil, 1980. 62 | Slavoj Zizek, The Sublime Object, op. cit, S. 87. 63 | Loc. cit. ^ ^

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272 | Abwesenheit Effekt von Bedeutung wird rückwirkend vom Stepp-Punkt aus auf die gesamte Anordnung der Signifikanten übertragen. Diese privilegierten Signifikanten halten die Identität des Feldes aufrecht, weil sie im Netz der Signifikanten überdeterminiert sind mit Bedeutungen und Erwartungen. Sie werden mit phantasmatischer Energie besetzt, die von einer Identifikation mit dem Signifikanten zeugt. Erst die Identifikation mit dem Zeichen oder Symbol für die Werte einer Gemeinschaft macht das Symbol zum begehrten Fetisch, der, einem Kurzschluss gleich, als er selbst, als Ding, mit dem auf was er verweist, identisch ist. Zizek macht dies am Beispiel von CocaCola als Zeichen für Amerika deutlich: ^ ^

Coke first connotes »the spirit of America«, and this »spirit of America« (the cluster of features supposed to express it) is then condensed in Coke as its signifier, its signifying representative: what we gain from this simple inversion is precisely this surplus-X, the object-cause of desire, that »unattainable something« which is »in Coke more than Coke« and which, according to the Lacanian formula, could suddenly change into excrement, into undrinkable mud (it is enough for Coke to be served warm and stale).64

Die phantasmatische Besetzung des Signifikanten garantiert einerseits die Stabilität der Formation, weil sie Lust bereitet, bietet aber gerade, weil sie hohe Erwartungen weckt, die nicht immer erfüllt werden können, Möglichkeiten der Neuorganisation der Signifikantenrelation. Ich möchte an diesem Punkt einhaken, um die Übertragbarkeit dieser Theorie auf die Arbeit von William Forsythe auszuleuchten. Forsythe hat immer deutlich gemacht, dass Ballett für ihn in erster Linie eine Kunst der Organisation des Körpers im Raum ist. Beim Ballett ist diese Organisation von Kopf, Armen, Beinen, Füßen, Händen und Torso nach bestimmten komplexen Regeln durchzuführen.65 So beschreibt Charles Blasis 1820 in seinem Lehrbuch für Tänzer den Tanz in erster Linie als eine Kunst der Posen, die aus dem harmonischen Zusammenspiel der Gliedmaßen hervorgehen. Kontrapost und eine feste Verankerung in den Hüften, die den Torso relativ unbeweglich erscheinen lassen, verleihen dem Tänzer Stabilität. Um einen guten Tänzer hervorzubringen, so Blasis, il fallait l’arrêter au moment d’une position, d’une attitude quelconque, et l’examiner: que l’oeil même devait l’arrêter, pour ainsi dire, dans l’instant où il s’est enlevé, pour battre quelque Temps; si alors cet artiste se trouve placé dans les vrais principes, et

64 | Ibid., S. 96. 65 | Vgl. etwa Hans Joachim Fuchs, »Sich im Raum organisieren. Ein Gespräch mit William Forsythe«, in: Parnass 2 (1988), S. 66-69, hier S. 67.

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V Abwesenheit reflektieren: William Forsythe | 273 que son corps, ses bras, ses jambes forment un ensemble harmonieux, agréable et digne d’être dessiné, le danseur a réussi, et mérite la palme.66

Die einzelnen Posen, die sich jederzeit durch Arretierung herstellen lassen müssen und deren Richtigkeit sich daran ablesen lässt, ob ein Maler sie zeichnen könnte, garantieren die Entfaltung der Körpergeometrie im Raum, mit der Ideale wie Proportion, Harmonie, Grazie, Eleganz, Schwerelosigkeit und Schönheit verbunden sind. Folgen wir Zizeks Ansatz, findet sich das so genannte klassische Ballett in der Position des Subjekts, dessen Identität nur durch das gewährleistet ist, was es ausschließt. Dabei fungieren Figuren wie die Arabesque als Stepp-Punkte, points de capiton, die das Ensemble von Relationen rückwirkend mit Bedeutung (Schönheit, Harmonie, Schwerelosigkeit) überdeterminieren. In seinem Traktat rühmt sich Blasis dafür, der erste gewesen zu sein, der die Bedeutung der Arabesque für die Tanzkunst erkannt hat.67 Mit Arabesque meint er jedoch zunächst keine bestimmte Figur, sondern er beschreibt damit ein Ensemble von Tänzern und Tänzerinnen, die sich auf ›tausendfache Weise‹ zu Girlanden verbinden. Das Gleiche gilt für den Begriff der ›Attitude‹. Auch er beschreibt zunächst keine spezifische Figur, vielmehr, wie aus dem oben angeführten Zitat hervorgeht, ist er ein Sammelbegriff für alle möglichen Figuren oder Posen. Bereits an ihrem theoretischen Ursprung ist die Arabesque also keine einheitliche Figur. Vielmehr müsste man von einem Arabesquen-Komplex sprechen, der die Attitude und das was sie ermöglicht, mit einbezieht. Im fünften Kapitel seines Lehrbuchs bezeichnen Attitude und Arabesque schließlich bestimmte Figuren, wobei die Arabesque als Untergruppierung der Attitude erscheint. Beide jedoch stellen sie den Gipfel der Tanzkunst dar, sind sie doch in ihrer Ausführung besonders schwierig und lassen den meisterhaften Tänzer erkennen. ^ ^

La position, que les danseurs appellent particulièrement l’attitude, est la plus belle de celles qui existent dans la danse, et la plus difficile dans son exécution; elle est, à mon avis, une espèce d’imitation de celle que l’on admire dans le celèbre Mercure de J. Bologne. Le danseurs qui se posera bien dans l’attitude sera remarqué, et prouvera qu’il a acquis des connaissances nécessaires à son art. Rien n’est plus gracieux que ces attitudes charmantes que nous nommons arabesques […].68 66 | Blasis, op. cit., S. 24. 67 | »[…] par leur légéreté presque aérienne, à laquelle se réunit en mêmetemps la vigueur et le contraste des oppositions, ont en quelque sorte rendu naturel à notre art le mot arabesque. Je puis me flatter d’avoir été le premier à donner raison de cette expression«; Blasis, op. cit., S. 25. 68 | Ibid., S. 67-68.

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274 | Abwesenheit Auf den Abbildungstafeln, die Blasis seinem Traktat beifügt, wird deutlich, dass der Unterschied zwischen der Figur der Attitude und der der Arabesque im angewinkelten bzw. im gestreckten Bein besteht.69 »Allgemein und schematisch betrachtet ist die Attitude die Stellung auf einem Bein bei Hebung und gleichzeitig Beugung des anderen Beins, wobei eine entsprechende Armrundung erfolgt. Die Arabesque ist die Stellung auf einem Bein bei Hebung und gleichzeitiger Streckung des anderen Beins; die Arme sind gleichfalls ausgestreckt.«70 In beiden Fällen orientieren sich die Linien der Arme an denen der Beine, nehmen deren Rundung auf und führen sie in der oberen Körperhälfte fort, oder, im Fall der Arabesque, verlängern die Linie mit einem Arm, während der andere die Gegenrichtung anzeigt. Wenn für Blasis der Arabesquen-Komplex die Krönung der Tanzkunst darstellt, liegt das daran, dass sich in ihm das Ideal des klassischen Balletts verdichtet. Er fungiert als Stepp-Punkt, der die ideale geometrische Ausrichtung des Körpers im Raum und damit die Ordnung des Balletts organisiert. Attitude und Arabesque sind in sich geschlossene, zentrierte Figuren, deren Kreischarakter bei der Attitude durch das angewinkelte Spielbein auch optisch geschlossen wird. So symbolisiert sie Perfektion und Harmonie, weil sie die Dreidimensionalität des Körpers im Raum unterstreicht. Als solche setzt George Balanchine die Arabesque 1928 in seiner Choreographie Apollon Musagète ein. Sehen wir zu Beginn einen jugendlich ungestümen Apollo, beendet er seine erste Variation mit der Figur der Arabesque, die er als Promenade auf der Stelle im Kreis tanzt. Er findet damit gleichsam zu seinem Zentrum, zur perfekten Form, die in Balanchines Stück auch die perfekte Figur des neo-klassischen Balletts ist. Handelt das Stück doch davon, dass der Gott Apollon die Muse der Tanzkunst als schönste der drei Musen auszeichnet, weil sie am besten in der Lage ist, die Harmonie zwischen Musik und Körper auszudrücken. Die Arabesque betont dagegen die Offenheit und das Streben des Tänzers nach oben, in den Bereich des Spirituellen, Entrückten, Vergeistigten. Sie unterstreicht mithin das Ideal der Schwerelosigkeit des Balletts. Hier rückt der Spitzenschuh als Fetisch erneut ins Blickfeld. In einer auf Spitze getanzten Arabesque schrumpft die Arabesque auf ihren kleinstmöglichen Punkt. Der Spitzenschuh ist die metonymische Verschiebung der Arabesque. Schließlich ist er die letzte Bastion des Beines, bevor die Kastration des Balletts enthüllt würde. Kastration bedeutet hier: Zusammenbruch des Phantasmas des Antigraven, womit auch die Identität des Balletts zu Boden stürzt. Der Spitzenschuh und mit ihm der Fuß und das Bein der Ballerina sind der letzte Kontaktpunkt des Körpers mit dem Boden. Er hält den kurzen Moment fest, bevor die Tänzerin sich tatsächlich in die Luft erhebt, eine 69 | Ibid., S. 139 (Tafel VIII), S. 143 (Tafel X). 70 | Gerhard Zacharias, Ballett – Gestalt und Wesen, op. cit., S. 79-80.

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Unmöglichkeit wie der Phallus der Mutter, dessen Abwesenheit der Fetisch nach Freud verdeckt. Arabesque und Attitude fungieren als erhabenes Objekt des Balletts, das dessen Identität als geschlossene phantasmatisch verbürgt. Forsythe reartikuliert diese Verbindungen, indem er ihre Logik auflöst. Damit holt er das Abjekte, Ausgrenzte von den Rändern der Subjektivität ins Zentrum. Schon Blasis stellt fest, dass die Arabesque die einzige Figur ist, bei der der Torso nicht vertikal auf den Hüften sitzt, sondern verschoben wird. Was Forsythe vorschlägt, ist eine symbolische Ordnung der Neuartikulation von Elementen, die nicht hierarchisch strukturiert ist, sondern es als Aufgabe betrachtet, das Verhältnis der Elemente zueinander und damit ihre Bedeutung immer wieder neu zu verhandeln. Das bedeutet auch im politischen Sinn von Zizek eine radikale Demokratie als Organisationsform, die auf Emanzipation der am demokratischen Prozess beteiligten Tänzersubjekte aufbaut. Dadurch kommen die nicht mehr länger in Figuren wie der Arabesque als Stepp-Punkte zum Stillstand. Die Arabesque und auf ihr aufbauende größere Figurenkomplexe, wie der abschließende Pas de deux des Liebespaares in den Handlungsballetten, arrettiert nicht mehr, weil in ihr der Sinn des Balletts sich selbst transparent macht. Sie ist kein Zizeksches Ding mehr, das mit Erwartungen von Perfektion phantasmatisch belegt ist. Sie erscheint als mögliche Formation im Fluss der Bewegung, eine Position, die man kurzzeitig einnehmen kann, ohne auf ihr beharren zu können. Der Einbruch des Verworfenen, die Vielzahl möglicher Verbindungen aufgrund kinetischer Isometrien, desartikuliert die Sprache des Balletts, treibt sie an den Rand der Verstehbarkeit, von wo aus sie sich immer wieder neu und anders entfaltet. Strukturell befindet sich Forsythes Ballett damit in der Position der Psychose, in der halluzinatorisch das Verworfene des Klassischen wiederkehrt, um die Signifikantenkette des Balletts als solche in Frage zu stellen – ein Vergleich, der vielleicht weniger gewagt erscheint, ruft man sich die Bewegungsqualität der Tänzer ins Gedächtnis, deren Komplexität die bewusste Wahrnehmung stets übersteigt. Jenseits der korrekten Erfüllung der Posen kann man das identitätsstiftende Moment des Balletts grundlegender in der Tanztechnik verorten. Ist sie es doch, die die Figuren erst ermöglicht. Das Tänzer-Subjekt erhält durch sie sein phantasmatisches Versprechen der Identität. Umgekehrt erscheint jedoch die Identität des Balletts, die die Technik ermöglicht, als phantasmatischer Ort, der seine eigene Kontingenz verbirgt. Die phantasmatische Besetzung der Figuren und des Spitzenschuhs lässt sich nicht, wie wir gesehen haben, aus der reinen Objektqualität des Schuhs oder des Fußes begründen. Dennoch hängt die Geschlossenheit des Balletts als System, das auf einer Technik basiert, die den Tänzerkörper zu jenen Idealen befähigt, von ihm ab. Die Technik schreibt dem Tänzerkörper das Potential von Sinn ein. Sie macht ihn zum sprechenden Körper. Der zerstückelte Körper der ^ ^

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276 | Abwesenheit Ausbildung, der bei Blasis in Beine, Körper und Rumpf sowie Arme zerfällt, wird nur dann zum sinnvoll erzählenden und sprechenden Körper, wenn sich seine Einzelteile mit der Achse und der Schwerelosigkeit identifizieren. Um diese Identifikation zu gewährleisten, schlägt Blasis ein ›exercise‹ vor, dem sich der Tänzer, will er es in seiner Kunst zu etwas bringen, täglich unterwerfen muss. Susan Leigh Foster beschreibt die Ballett-Technik als Anpassungsprozess des eigenen wahrgenommenen, physiologisch-biologischen Körpers an einen idealen Körper: Dancers begin a standard daily sequence with one arm stabilizing the body by holding a barre. They perform movements, announced (in French) by the teacher, originating in, and returning to, basic positions – first on one side and then, switching arms and barre, on the other. The movements work the legs (always in turned-out position) and, to a lesser extent, the arms to create variations and embellishments on circular and triangular designs. The torso provides a taut and usually erect center connecting the four appendages and the head. Approximately one half of the class section takes place at the barre. Students then move on to the center of the room for longer, more intricate combinations at varying tempos. Class ends with sequences of leaps and turns in which dancers travel across the room diagonally, two or three at a time. Descriptions of movements and corrections are phrased so as to ask parts of the body to conform to abstract shapes; they place the pelvis or head in specific locations, or extend the limbs along imaginary lines in space. Additional criteria based on the precision of timing, clarity of shape and lightness of quality all measure the student’s performance.71

Das Einüben des idealen Körpers erfolgt durch strikte Wiederholung bestimmter Bewegungsabläufe. Jede Wiederholung zitiert dabei die vorangegangene Bewegung einer Übungsphase und verändert sie zwangsläufig, weil mit jeder Wiederholung die Kompetenz zunimmt, das Ideal zu erreichen. Diese performative Einschreibung der geometrischen Ordnung in den Tänzerkörper fungiert einerseits normstabilisierend. Die Körpertechnik des Balletts, die historisch, wie in Kapitel IV.1. ausgeführt, direkt an den absolutistischen Staat Ludwig VIX. angeschlossen war, zielt auf die perfekte Repräsentation der als vernünftig geltenden Ordnung. Auch die Tänzer und Tänzerinnen des Ballett Frankfurt zitieren diese Norm, die sich als Wissen in ihren Körpern sedimentiert hat. Sie sind die verkörperte Geschichte des Balletts. Deshalb bleibt das Ballett Bezugspunkt der Arbeit von William Forsythe. In der Praxis der Tänzer während des Trainings und der Proben interferiert diese reine Technik jedoch mit anderen Techniken oder Stilen, mit denen die Tänzer vertraut sind. Sie sind gleichzeitig viele Körper: neben Ballett-Körpern auch Kontaktimprovisations- oder Modern Dance-Körper, biologische Körper und Alltagskörper, die 71 | Foster, »Dancing Bodies«, op. cit., S. 486.

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täglich anderen Körpern auf der Straße begegnen. Zwischen all diesen Körpern, die ihren je eigenen Körper immer schon zu einem Zwischenkörper machen, treffen sie (unbewusst) Entscheidungen und spielen sie aus. Die Zwischenkörperlichkeit dient ihnen als Grundlage für ihre Handlungsfreiheit, für das, was Susan Leigh Foster als »agency« bezeichnet.72 Hier liegt andererseits das normdestabilisierende Moment des Trainings.73 Fügt Forsythe etwa in As A Garden In This Setting (1993) den Parameter der Atmung hinzu, erzielen die Tänzer mit ihren klassischen Drehbewegungen und Pirouetten andere Resultate. Die geschlossenen Figuren öffnen sich plötzlich, erzielen einen größeren Radius und führen zu anderen Raumpositionen. Diese Veränderungen schreiben sich durch Wiederholung erneut in den klassischen Körper ein und modifizieren rückwirkend dessen Ausrichtung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Forsythe den Fetisch der Tanztechnik und damit verbunden der Arabesque und des Spitzenschuhs aus seiner Position des ideologischen Objekts der Lust aus dem Zentrum des Balletts herausnimmt. Er begreift sie als kontingente Position, die die Identität und Reinheit des Klassischen garantieren soll. Der Kodex des Balletts als Sprache, mithin die Technik des Balletts steht als Fetisch ein für die Abwesenheit, die sie ausspielt, aber gleichzeitig mit ihrem normativen System auch leugnen muss. Statt der konstitutiven Abwesenheit der Bewegung sehen die Zuschauer dann schöne Figuren, die sie als Objekte fetischisieren. Wenn William Forsythe nun den Fetisch selbst abwesend macht, kommt die Abwesenheit der Bewegung als Positivum ins Spiel. Versteht man den klassischen Kodex und die in ihm sanktionierten Verbindungen als Positiv, lassen sich all die möglichen, aber abjekten Verbindungen als dessen Negativ ansehen. Diese sind normalerweise nicht sichtbar, bestimmen sich nur ex negativo über das, was das Klassische nicht ist. Forsythe dreht nun dieses Verhältnis um. Er belichtet, um im Bild zu bleiben, das Negativ und blendet damit das eigentliche Positiv ab. Forsythe hat dieses Verfahren in den Improvisation Technologies als ›avoidance‹, als Vermeidung von bestimmten Linien, beschrieben. »You establish a substantiality and you move your body around it thereby establishing the presence of the line«, heißt es da zum Beispiel, oder in unserem Kontext noch deutlicher: »You image where you were in a balletic form and then you move around it.« Die Präsenz der klassischen Linie wird nur über ihre Abwesenheit erzeugt. Die substantielle Einheit, von der Forsythe hier spricht, wird so aufgelöst in ver72 | Susan Leigh Foster, »Choreographies of Protest«, in: Theatre Journal 55 (2003), S. 395-412, hier: S. 395. 73 | Randy Martin hat die Wechselwirkung zwischen Systemerhalt und Veränderung im Tanzunterricht untersucht in: Randy Martin, Critical Moves. Dance Studies in Theory and Practice, Durham/London: Duke University Press, 1998.

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278 | Abwesenheit schiedene Bewegungsmöglichkeiten, die die Grenzen der Einheit aufrecht erhalten, ohne in ihr erscheinen zu können. Ist der Fetisch die Leugnung der Kastration, wird diese bei Forsythe gerade nicht umgangen. Die fundamentale Abwesenheit wird nicht mit Objekten verstellt, sondern als Mangel an einem ontologischen Fundament anerkannt. Forsythes Ballettverständnis nimmt die Abwesenheit der Figuren zum Ausgangspunkt, um Bewegung frei zu setzen, die ihre eigene Abwesenheit nicht leugnet. Bewegung ist flüchtig. Sie verschwindet im Moment ihres Auftauchens sofort wieder. Man kann eine einmal ausgeführte Bewegung nirgendwo mit hinnehmen. Diese von Forsythe beschriebene ›Poetry of disappearance‹ betreibt ein doppeltes Spiel. Sie führt einerseits zu einem Beharren auf der unhintergehbaren Gegenwärtigkeit der Bewegung, die sich permanent performativ hervorbringt. Andererseits steigert sie mit jedem Hervorbringen das Bewusstsein für ihre eigenen Vergänglichkeit. Das, was wiederholt wird, ist, wie Lacan bemerkte, nicht das verlorengegangene Objekt. Es gibt hier kein Objekt, nur ein Netz von Beziehungen, das die Tänzer aufgrund ihres Körpergedächtnisses, das gerade nicht flüchtig ist, sondern bleibt, artikulieren können. Das, was wiederholt wird, ist die Abwesenheit selbst. »Ich habe im Moment das Gefühl«, so Forsythe in einem Gespräch mit Johannes Odenthal, »daß Kunst eine Manifestierung von Tod ist, verbunden mit dem Moment des Geheimnisses; wenn sich Menschen bewußt sind über den Mechanismus von Abwesenheit.«74

3.3

Bewegung als sinthome

Rufen wir uns kurz Pierre Legenderes Klassifikationen das Tanzes zurück ins Gedächtnis. Der ausgebildete Tänzerkörper fungiert für Legendre als Fetisch, dem es qua erlernter Technik erlaubt ist, uns als Ideal vor dem Anderen zu vertreten. Als Fetisch besetzt er am Ort des Anderen, der Bühne, die Leerstelle, die Abwesenheit, die die unsere ist. Der Tänzerkörper sucht im Symbolischen einen Ort, von dem aus er sprechen kann. Die Bewegungen, die er dabei ausführt, werden als Objekt a begehrt, als Objekte der Perfektion, die den Zugang zum Anderen ermöglichen. Folgen wir für einen Moment noch Sklavoj Zizek Argumentation. Zizek fasst diesen Komplex der Besetzung der Abwesenheit mit dem Begriff des Symptoms zusammen. Der Fetisch-Körper des Tänzers und wiederum in metonymischer Verschiebung die Bewegungen, die von ihm ausgehen, ^ ^

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74 | Odenthal, op. cit., S. 36. Diese Äußerung William Forsythes ist auch im Kontext des Todes seiner Ehefrau, der Tänzerin Tracy-Kai Maier, zu sehen, die 1994 einem Krebsleiden erlag. Dennoch wäre es eine unzulängliche Reduktion, wolle man sie nur auf ein biographisches Moment beziehen, ohne ihre Implikationen für Forsythes Kunst ernst zu nehmen.

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setzen sich an Stelle der Abwesenheit, damit nicht Nichts, sondern etwas sei. Wie in Freuds Fort-Da-Spiel, das den ersten inszenierten Tanz des Kindes darstellt, sind sie Symptome, die das Trauma der Abwesenheit verdecken. Als solche sind sie, wie die Figuren des Balletts, überdeterminiert. Es könnten immer auch andere Figuren sein, und um dies auszuschließen, werden sie zu erhabenen Objekten der Ideologie. Das Symptom ist eine kodifizierte Nachricht an den Anderen, der die Antwort parat hält. Das Tanzen ist eine durch Technik kodifizierte Nachricht an einen Dritten, Gott im Kontext des Heiligen oder die Gesellschaft als symbolische Ordnung, der sie zu lesen weiß. Doch warum, fragt Zizek mit Lacan, hört das Symptom nicht auf zu existieren, auch wenn man es analysiert hat und die Antwort auf die Frage kennt? Warum hört der Ballettliebhaber nicht auf, den Spitzentanz und die Arabesque zu mögen, auch wenn er weiß, das das Ideal des Antigraven eine Fiktion ist? ^ ^

The Lacanian answer is, of course, enjoyment. The symptom is not only a cyphered message, it is at the same time a way for the subject to organize his enjoyment – that is why, even after the completed interpretation, the subject is not prepared to renounce his symptom; that is why he ›loves his symptom more than himself‹.75

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Diese Lust am Symptom ist für Zizek der Kern jeder Form von Subjektivität, weil sie die Identifikationsmechanismen, durch die das Subjekt sich selbst als solches wahrnimmt, aufrecht erhält. Dieses Symptom, das nicht weggehen will, bezeichnet er im Anschluss daran als sinthome: »Symptom as sinthome is a certain signifying formation penetrated with enjoyment: it is a signifier as a bearer of jouis-sens, enjoyment-in-sense.«76 Das Subjekt genießt die Überdeterminierung des Symptoms, weil sie es mit dem undarstellbaren Realen, dem Trauma der Abwesenheit, seiner Subjektivität, in Verbindung bringt. In so far as the sinthome is a certain signifier which is not enchained in a network but immediately filled, penetrated with enjoyment, its status is by definition »psychosomatic«, that of a terrifying bodily mark which is merely a mute attestation bearing witness to a disgusting enjoyment without representing anything or anyone.77

Das sinthome markiert also innerhalb der symbolischen Ordnung die Stelle, an der das Symbolische sich mit dem undarstellbaren Realen kurzschließt. Es stellt so etwas wie den Einbruch des Realen ins Symbolische in Form ei-

75 | Ibid., S. 74. 76 | Ibid., S. 75. 77 | Ibid., S. 76.

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280 | Abwesenheit nes stummen ›Dings‹ dar, das keine Verknüpfung mit der Signifikantenordnung des Symbolischen eingeht. Die Signifikantenordnung der Sprache wird umgangen genauso, wie William Forsythe die Sprache des Balletts umgeht: Er vermeidet sie und legt ›Etwas‹ um sie herum. Die Bewegungen, die Forsythe und seine Tänzer produzieren, rücken vor diesem theoretischen Modell in die Position des sinthome. Sie bereiten gerade auch aufgrund ihrer Komplexität, die sie jeder einfachen Bedeutungszuschreibung enthebt, als solche und direkt Lust und Vergnügen. Wie das ›Ding‹, das in Balletten wie ALIE/NA(C)TION den an der Produktion und Rezeption beteiligten Subjekten gleichermaßen fremd bleibt, setzen sie sich an die Stelle der Abwesenheit und penetrieren das symbolische Feld des Balletts mit Lust. Die Bewegung und die Choreographie, die sie strukturiert, werden selbst zum Alien, zu einem unkontrollierbaren Monster, das uns ebenso abstößt wie fasziniert. Der erste Teil von ALIE/NA(C)TION ist das Abjekte des Balletts, das im Realen wiederkehrt. Forsythe verharrt damit nicht länger im Bereich des Symptoms, also der geordneten Figuren. Er geht vielmehr durch das Symptom (Arabesque) und die Phantasien (Schwerelosigkeit), die es stützt, hindurch. Dieses Hindurchgehen kann man vergleichen mit dem Hindurchgehen der Tänzer durch die Figuren des Balletts wie durch eine hohle und leere Form. Was am anderen Ende der Phantasie liegt, ist das sinthome als Reales. Für Zizek ist daher »Going-through-the-fantasy« gleichbedeutend mit der Identifikation mit einem sinthome.78 Dieses sinthome, das die abjekte Bewegung ist, hat keinen Bedarf mehr an erhabenen Objekten. Es beschreibt das reine Pulsieren, das ins Unendliche potenzierbare Wuchern der Bewegung um die Abwesenheit herum, die es als solche anerkennt. Diese Anerkennung des Verschwindens und der lustbesetzten Poesie, die sie auszulösen vermag, führt nach Zizek letztlich zum Todestrieb als anthropologisch fundierter Abwesenheit. Denn das, was hinter der Phantasie zum Vorschein kommt, ist der Trieb, der Antrieb, der Bewegungstrieb, der wie in LDC und Robert Scott die Abwesenheit wiederholt, weil er immer zu ihr zurückkehren muss. Zizek schwankt in seiner Lesart des Lacanschen Realen zwischen zwei Möglichkeiten. Einmal ist das sinthome selbst der Mangel oder die Leerstelle: die Bewegung als verkörperte Abwesenheit. Was dies auf der Ebene des Realen bedeutet, habe ich gerade ausgeführt. Dann wieder ist das sinthome lediglich das, was sich an die Stelle der Leere setzt, die Abwesenheit also nicht ist, sondern lediglich repräsentiert. Hier stößt, wie Judith Butler festgestellt hat, Zizeks Argumentation auf ihre eigene verworfene ideologische Fundierung.79 Zizek gehe, so Butler, vom Gesetz des Vaters aus, das mit ^ ^

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78 | Ibid., S. 124. 79 | Vgl. Judith Butler, Bodies That Matter, op. cit., S. 187-222. Auch dafür fin-

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der Kastrationsdrohung die Verwerfung des Phallus der Mutter in Gang setzt. Da Zizek dies als universales Gesetz betrachtet, nehme er, so Butler weiter, einen Ort an, für den die Kontingenz des diskursiven Feldes nicht gelte. Zizek zementiere damit die heterosexuelle Norm der Geschlechterrollen, die keiner Reartikulation ihrer Signifikanten zugänglich sei. Damit rückt die Frau in die Position des Symptoms des Mannes, weil sie den Phallus nicht hat, sondern der Phallus ist und als solcher, phantasmatischer, begehrt wird. Die Frau wird mit der Leerstelle als Phantasie identifiziert und damit zum undarstellbaren Realen gemacht, zum Phantasma, das, wie die Ballerina, keinerlei Eigengewicht besitzt. In unserem Zusammenhang erscheint diese Kritik insofern berechtigt, als sie auf die von Zizek ausgesparte Kategorie des Imaginären abzielt. Zizek schließt in seiner Argumentation das Symbolische mit dem Realen kurz und lässt keinen Raum für eine Intervention der imaginären Relation, die Tänzer wie Zuschauer zur Bewegung entwickeln können. Gestützt wird diese Beobachtung durch die Szene, die Freud als Fort-Da-Spiel beschreibt, findet sie doch noch vor dem ›Nein‹ des Vaters der phallischen Phase statt und liegt also rein entwicklungsgeschichtlich vor der angedrohten Kastration, die das Kind in die symbolische Ordnung überführt. Die Abwesenheit der Mutter, die das Kind mit seinem Spiel inszeniert, bedroht die Identität des Kindes auf einer anderen, primär-narzisstischen Ebene, die die Körpergrenzen des Kindes betrifft. Insofern rückt die Bewegung, die die Spule stellvertretend für das verlorene Objekt ausführt und die das Kind zugleich anblickt, in die Position des Objekts a. Die Bewegung fungiert mithin nicht ausschließlich als sinthomatischer Lustfaktor, sondern sie produziert auch andere, neue Körperbilder, die begehrt werden können. Die Ebene des Imaginären betont den Entwurfscharakter der Bewegung. Bezeichnenderweise verweigern diese Entwürfe auch im Imaginären die Rahmung zu einem Bild. Forsythes Tänzerkörper erscheinen extrem fragmentiert, hochkoordiniert und ständig im Fluss. Obwohl ihre Bewe^ ^

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det sich eine Entsprechung in der Tanzgeschichte. Ein ideologisches Element des romantischen Balletts als bürgerlicher Kunstform etabliert sich über diese Verwerfung der Frau, die als Widergängerin oder Zwischenwesen wie in Robert, le diable (1831), La Sylphide (1832) oder Giselle (1841) die Männer heimsucht. Die schwerelose Ballerina auf Spitze wird mit der Abwesenheit identifiziert, deren Fetisch-Objekt sie ist. Sie wird zum Symptom des Mannes, das er mehr genießt, als sich selbst, weil sein Selbst von der Verwerfung der Frau konstituiert wird. George Balanchines berühmter Ausspruch »Ballet is woman« markiert genau jene ideologische Schließung des Feldes Ballett, wie sie Zizek beschrieben hat. Ballett wird mit dem Signifikanten »Frau« identifiziert. Der Stepp-Punkt »Frau« durchdringt das Ballett mit Genuss und nimmt als erhabenes ideologisches Objekt den Sinn des Balletts (Entkörperlichung, Schwerelosigkeit) in sich auf. ^ ^

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282 | Abwesenheit gungssequenzen oft überraschende Wendungen und Wechsel der Richtungen und Ebenen enthalten, wirken die Tänzer nie unkontrolliert oder gar hilflos. Auch beim Fallen finden sie Wege, die Bewegung fortzuführen. Ihre Körper sind ständig im Werden begriffen, eine Potentialität von vielen Körpern, die ihr Ziel nicht etwa in einer bildhaften Pose, wie sie noch Blasis forderte, sondern gerade in der Unabschließbarkeit hat. Die Gründe dafür haben wir hinreichend dargestellt. Worauf es an dieser Stelle noch ankommt, ist der Verweis auf das Ideal des denkenden Körpers, eines Körpers, der blitzschnell in der Lage ist, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Daraus resultiert die Vorstellung eines Netzwerks von gleichberechtigten Elementen, die ihr Wissen weitergeben und gemeinsam fortschreiben. Auf der Ebene des Imaginären repräsentieren diese Körper das Ideal einer Wissens- und Informationsgesellschaft.

3.4

Der Blick ins Unsichtbare: Eidos:Telos

Die Abwesenheit eines Körpers oder, allgemeiner, einer Form, hat William Forsythe 1995 in Eidos:Telos zur methodischen Grundfrage des Balletts erhoben. Auch hier begegnen wir dem Tod als Ausgangs- und Endpunkt aller Bewegung. Doch ist er eine Abwesenheit, die dadurch etwas Neues hervorbringt, indem sie wiederholt wird. It was using the space that the body occupies as a kind of brain, as a way to remember. It came about because, after my wife died, I had this sensation of her arms around my neck. It was so real that I could really feel it, I was aware that this was a wish but it was a sensation that actually could be experienced and so I thought »what if we tried to intensify the body’s memory of itself, wrapped around itself, so to speak«.80

Der abwesende, tote Körper seiner Frau löst in ihm eine körperliche Empfindung aus, deren Ort zum Ausgangspunkt für neue Bewegungen wird. Der Körper schlingt sich um sich selbst wie um ein leeres Zentrum. Denn er erinnert sich an den Ort, an dem er nicht mehr sein kann und an die Form, die nicht mehr da ist. Die erhöhte Selbstwahrnehmung im Moment des Erinnerns, führt zu einer verstärkten Präsenz des Tänzers, die auf nichts anderem gründet als auf der Abwesenheit einmal gefühlter oder wahrgenommener Formen. Der tanzende Körper wird gleichsam zum Gefäß für die Abwesenheit, die er umschlingt und die er mit jeder Bewegung 80 | Julie Copeland, »Eidos:Telos and William Forsythe: Radio National’s ›Arts Talk‹ Presenter Julie Copeland interviews Choreographer William Forsythe about Eidos:Telos«, 13. Dezember 2001, in: ABC Arts Online 2003 www.abc.net.au/arts/per formance/stories/s439792.htm.

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aufs Neue herstellt. Das Spannungsverhältnis zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Auftauchen und Verschwinden, Leben und Tod, das diese biographische Entdeckung ausgelöst hat, wird im Stück Eidos:Telos gebündelt in der mythologischen Figur der Persephone, die die Welt der Toten mit der Welt der Lebenden verbindet. Forsythe überlagert in seinem Stück seinen Bewegungsansatz mit anderen Texten, vor allem mit Roberto Calassos Die Hochzeit von Kadmos und Hermonia, und webt damit ein dichtes Netz intertextueller Bezüge, ein Netz, das sich im Stück selbst thematisiert und reflektiert.

Mit der Persephone-Figur geht Forsythe zurück zu den Wurzeln europäischer und westlicher Kultur, die er als Zusammenhang von Tod und Zerstörung und von Erkenntnis und Schönheit versteht. In der griechischen Mythologie ist Persephone, die häufig auch als Kore bezeichnet wird, die Tochter von Zeus und Demeter und wie ihre Mutter eine Göttin des Wachstums und der Fruchtbarkeit. Beim Blumenpflücken wird das junge Mädchen von Hades, dem Gott der Unterwelt, geraubt und ins Totenreich entführt, wo sie als seine Gattin zur Herrscherin über die Seelen der Toten wird. Ihre Mutter sucht drauf die gesamte Erde nach ihr ab, doch es findet sich keine Spur ihres Verschwindens. Während ihrer Suche vernachlässigt Demeter ihre Aufgaben so sehr, dass die Menschheit zu verhungern droht.

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284 | Abwesenheit Also schickt Zeus den Götterboten Hermes in die Unterwelt, der Hades gebietet, Persephone zu ihrer Mutter zurückkehren zu lassen. Um sie dennoch an sich zu binden, steckt Hades ihr zum Zeichen der ewigen Verbundenheit ein Stück Granatapfel in den Mund. So muss Persephone für ein Drittel des Jahres in die Unterwelt zurückkehren. Für den zweiten Akt von Eidos:Telos hat die Tänzerin Dana Caspersen einen Text geschrieben, der auf Calassos Text basiert, der sich wiederum auf den elften Gesang von Homers Odyssee stützt, in dem Odysseus die Toten befragt. Caspersens Figur, die sie auch selbst spielt, spricht einmal als Demeter, einmal als Persephone oder Kore, aber auch als Odysseus, wenn sie Odysseus Befragung der Toten in die Ichform transferiert. In der Arbeit am Stück haben Forsythe und die Kompanie mit verschiedenen Filmscripts gearbeitet, die zwar am Ende alle verworfen wurden. Davon ist aber die Idee einer Spinnenfrau übriggeblieben, die Caspersen in ihre Figur mit eingewoben hat. Auf der vom Zuschauer aus gesehen rechten Bühnenhälfte steht eine Art Tisch, der die Form einer Badewanne oder eines Sarges hat. Auf einem Stuhl rechts daneben sitzt der Musiker Maxim Franke, der mit seiner Geige immer wieder filigrane Töne in die Runde wirft, die allerdings von drei apokalyptischen Posaunen nahezu übertönt werden. Es sind rutschende, gleitende Posaunentöne, die regelrecht unsauber wegschmieren. Joel Ryan hat sie zu elektronischen Klangflächen verarbeitet, die immer wieder zu einem kakophonieartigen Crescendo anschwellen, bevor die Bühne wieder still wird. Auf der vom Zuschauer aus gesehen linken Bühnenhälfte steht ein Bildschirm auf dem Boden, auf der rechten Seite hängt ein zweiter an zwei Drahtseilen befestigt über dem Tisch. Beide Monitore dienen während der Aufführung teilweise als einzige Lichtquelle. Ein einzelner Spot befindet sich in der Mitte. Auch er ist mit zwei diagonal nach oben aufstrebenden Seilen befestigt. Weitere Seile sind waagrecht oder diagonal nach oben rechts wie ein Spinnenetz über die Bühne gespannt. Dana Caspersen, mit nacktem Oberkörper und einem orangefarbenen langen, weiten Rock, betritt die Bühne von der linken Seite, und begibt sich hinein in ihre Textur. Sie stellt sich hinter den Tisch und beginnt ihren Text zu sprechen. Vom »spinnen« und »drehen« erzählt sie und weist den Ort, von dem sie spricht, als Vorhof zu einem Spalt aus, durch den sie hindurch gleiten kann: »I’m looking into the open earth«, heißt es da einmal, oder: »I slip through this point«. Zwei große Lichtrechtecke, die im Winkel zueinander stehen, beleuchten im raschen Wechsel mal die eine, mal die andere Bühnenhälfte. Kabel liegen wie fallengelassene Fäden auf dem Boden herum.81 81 | Das Stück hatte am 28. Januar 1995 in Frankfurt am Main Premiere, die ich gesehen habe. Eine Videoaufzeichung der Aufführung vom 28. Juni 1996 in Amsterdam lag mir ebenfalls zur Einsicht vor.

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An den Drahtseilen hängen einzelne weiße Blätter wie auf Wäscheleinen. Ein solches Blatt zieht Caspersen von links nach rechts, bis sie es über dem Tisch platziert hat. Mit rudernden Armbewegungen dreht sie sich um die eigene Körperachse, von den Fliehkräften aus dem Zentrum gekippt, lacht manisch, beugt sich nach vorne, um mit ihrem nach oben gestreckten Hintern zu wackeln, als sei sie eine Spinne, die gerade dabei ist Fäden zu spinnen. »She’s spinning a spider’s web«, erzählt sie auf dem Rücken liegend, wobei sie ihre Beine in die Luft streckt und umeinander windet. »It is nighttime«, heißt es weiter, woraufhin sie eine riesige orangefarbene Lichtfolie unter infernalischem Knistern in den Scheinwerfer stopft, der daraufhin leuchtet wie die untergehende Sonne. Plötzlich setzt der Rhythmus eines Herzschlags ein. Eine Frau fliegt mit weit vorgestrecktem Oberkörper und weit nach vorne gestrecktem Arm in einem langen Rock, der mit einem Cul de Paris verstärkt ist, von links auf die Bühne. In der Mitte kommt sie an der Rampe zum Stehen, krächzt und ächzt wie ein altes Weib eine Zeile aus dem Lied »Luck Be A Lady Tonight« aus dem Musical Guys & Dolls ins Mikrophon. Daraufhin fliegen weitere identische Figuren in Formation walzertanzend auf die Bühne. Ob Männer oder Frauen – sie alle sind in dieser Szene glücklich, Damen sein zu dürfen. »The ranks of the dead appear«, beschreibt Caspersen das Hereinschweben der Frauenformation, das begleitet wird von einem betörenden Duft der Blumen, einem delicate move of desire. And they move toward me because they all want to drink the blood and talk at the same time. This throng of women, all particles of the same cloud. And then I began to separate them from one another. […] The women come into line and one by one they drink the blood. One speaks of the amorous works of Poseidon. She had been bathing in the river when a wave rose above her high as a mountain. Another spoke of hanging. Another of precious gifts accepted in return for betrayal. Another of a hunt for some elusive flowers. And as I listened, this delicate web settled over my mind. And now the threads come together again in this web. Some become superimposed over each other, knotted together, fragile shapes that turned in on themselves, and others trail away in the darkness, abandoned […].82

Die walzertanzenden Frauen, die sich in zwei Reihen ineinanderwinden oder sich gegenüberstehen, sind Widergängerinnen aus dem Reich der Toten. Sie sind das »Gedächtnis in seinem Naturzustand«,83 wie es bei Calasso heißt, was man im Kontext des Stücks nicht nur als allgemeinen Ver82 | Roberto Calasso, Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia, übers. von Moshe Kahn, München: Goldmann, 2001, S. 385-366. Der gesprochene Text, den ich hier wiedergebe, ist nicht mit Calassos Text identisch. 83 | Ibid., S. 385.

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286 | Abwesenheit weis auf das Körpergedächtnis der Tänzer ansehen kann, sondern spezifischer als Erinnerung an eine untergegangene Tanzkultur der Wiener Gesellschaft und der k.u.k.-Monarchie im 19. Jahrhundert. Doch diese Rahmung des Tanzes als Tanz der lebenden Toten wird nochmals gerahmt. Caspersens Beschreibung wird unterbrochen von einer Frauenstimme, die die Szene als Filmaufnahme ausweist. Da sie mit der Aufnahmen der Szene aufgrund von technischen Schwierigkeiten unzufrieden ist, bricht sie sie ab: »People, this isn’t working. Stop. Cut, please. […] George, can you hear me? I want to go here with this shot. Yes, time is money.« Während sie aufhört zu tanzen, um Anweisungen zu geben, fängt ein weiterer Tänzer an zu reden. Mit »You’re fucking dead man« beschreibt er einerseits die pulsierende Parade der Tänzer, könnte aber nun ebenso eine Figur aus dem Film sein, der gerade seinen Text probt. Mit einer Ansammlung von Obszönitäten und Gewaltphantasien steht seine Rede im Kontrast zum weichen Fluss der Tänzer, deren Anmut er geradezu beschmutzt. Plötzlich wechselt er die Stimme und fordert die Truppe auf: »Get in line«, was diese auch tun. Wie ein Tanzlehrer gibt er mit »one, two, three« den Rhythmus vor. Die Aufforderung zum Tanz verbindet sich wiederum mit Caspersen Text, die gerade davon erzählt, wie sich die Frauen in einer Linie aufstellen und zum Sprechen bereit machen. Die Bildung einer erkennbaren Formation aus dem wilden Durcheinander auf der Ebene des Tanzes wiederholt sich auf der Ebene der Sprache. Denn erst nachdem Caspersen in ihrem Text die Gestalten getrennt hat, ihnen also wie aus dem Saussureschen Sprachnebel eine individuelle Position zugewiesen hat, kann sie ihre Stimmen und Klagen vernehmen. Die Tänzer fangen wenig später tatsächlich an, in ihrer jeweiligen Muttersprache zu reden. Die Filmrahmung wird am Ende nochmals aufgenommen, wenn ein Tänzer verschiedenen imaginären Kameras ihre Positionen zuweist. Zwei Tänzer erzählen sich eine Szene aus einem Film, bis plötzlich einer von beiden seinen Rock fallen lässt, und in eine Art Gesangsprobe übergeht. »Quel tradittore« singt er immer wieder, während ihn Caspersen, immer noch hinter ihrem Tisch sitzend, korrigiert. Mit »It isn’t working« – eine ironische Anspielung auf die Turbine in LDC – bricht er ab, während der Vorhang über der Szene fällt. In der Nacht der lebenden Toten, die Forsythe hier inszeniert, oszillieren die einzelnen Elemente ständig zwischen verschiedenen Genres. Film, Theater oder Tanz, Probe oder Aufführung – alles spiegelt und bricht sich ineinander. Daraus ergibt sich ein rasanter Wechsel zwischen Formbildung und Formauflösung, der den gesamten zweiten Akt zurückbindet auf das Thema, das mit der Persephone-Figur zu Anfang etabliert wurde.84 Rober84 | Diese Polarität lässt sich auch mit den verschiedenen Prinzipien des Apollinischen und Dionysischen beschreiben. Hinweise darauf gibt die Musik von Thom

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to Calassos Interpretation des Mythos‹ verleiht diesem eine erkenntnistheoretische Dimension, die Forsythe für eine Ontologie des Tanzes fruchtbar macht. Für Calasso wurde der Raub der Persephone vom »Unsichtbaren«, Hades, durchgeführt, der sie ins »Unsichtbare«, das Totenreich als den »unterweltlichen Palast des Geistes«, entführte.85 Dieser Raub fand nun just in jenem Moment statt, indem Kore oder Persephone eine Narzisse pflücken wollte, jene Blume also, die ihrerseits schon einen versteinerten Blick darstellt, wurde doch der Jüngling Narziss, nachdem er sich von seinem eigenen Spiegelbild nicht lösen konnte, in eine Narzisse verwandelt. In der Begegnung der beiden Blicke steckt ein Moment der Selbsterkenntnis, das jedoch jäh von einem dritten Blick unterbrochen wird. In Hades’ Pupille erblickt Kore sich selbst zum einen als Begehrte, zum anderen als zum Bild geronnene Tote. Diese erschreckende Selbsterkenntnis findet genau im Moment des Weggerissenwerdens statt, als Kore aus der Bewegung heraus den Blick nach hinten zum Unsichtbaren wendet. Kore, deren Name, darauf weist Calassso hin, auch der Name für die Pupille ist, blickt dem Tod, dem Unsichtbaren, Abwesenden, ins Gesicht. Ist der Hades oder Orcus definiert als ein Ort, an dem es keine Körper gibt, nur die Seelen der Toten, ist Kores Einzug ins Totenreich verbunden mit dem Einzug des erotischen Körpers in die Unterwelt.86 Gegen Ende des dritten Aktes von Eidos:Telos steht Dana Caspersen lange Zeit in der rechten hinteren Bühnenecke, als sei sie in der Tat durch den Spalt der Erde gekrochen und schaute nun im Totenreich dem Tanz der Seelen zu. Begleitet von den drei Posaunisten, schreitet sie schließlich auf der Diagonalen in den Bühnenraum hinein und entledigt sich dabei ihres Rockes, so dass sie nackt, gleichermaßen als begehrte Kore, in die Unterwelt einzieht. Persephones Blick ins Unsichtbare ist vergleichbar mit Forsythe Blick auf die unsichtbare Form seiner verstorbenen Frau. Er ist, und das ist viel wichtiger, in Eidos:Telos vergleichbar mit dem Blick der Tänzer auf sich selbst und auf den Ort, an dem sie gerade noch waren, von dem sie aber bereits schon wieder weggerissen wurden. Persephone ist die Figur des Willems, die im ersten Akt auf einer Bearbeitung der Partitur von Strawinskys Apollon musagète basiert. Die klassische Ordnung, die mit dem Gott Apollo verbunden ist und die Balanchine in seiner Choreographie 1928 zum Inbegriff der neo-klassischen Tanzkunst erhoben hat, wird in den weiteren Akten durch die Posaunenflächen in die Auflösung getrieben. Vor diesem Hintergrund kann man den Geiger Maxim Franke, der die Musik im ersten Teil live auf der Bühne spielt, auf der szenographischen Ebene als Apollon, den Musenführer, interpretieren, der mit seinem Geigenbogen die sechs Tänzer und Tänzerinnen führt. 85 | Calasso, op. cit, S. 229. 86 | Ibid., S. 230.

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288 | Abwesenheit Wechsels und der Wiederkehr: sie wechselt ihre Gestalt im Übergang der Welten, ohne dass von ihnen Spuren zurückblieben. Von der Partie, die einstmals zwischen der einen Form und der anderen gespielt wurde [den Metamorphosen, d. Verf.], bleibt jetzt nichts weiter übrig als der Wechsel von Erscheinen und Verschwinden. Zu akzeptieren war nicht mehr bloß das Leben in Gestalt einer festgefügten Form, sondern die Gewißheit, daß diese Form verschwinden würde, ohne eine Spur zu hinterlassen.87

Dieses spurlose Verschwinden wird hier übertragen auf das Verschwinden der Bewegungsformen und mit ihnen der Kinesphäre als dem Ort, den sie gerade noch schufen und an dem sie stattfanden. Es macht eine Rückerinnerung notwendig, die nur eine Erinnerung an das Abwesende sein kann. Der Blick der Kore fungiert damit als eidolon, als Urbild, das der reinen Idee am nächsten ist. In der Diskussion um die Mimesis im modernen Tanz88 hat Mark Franko die Idee der ›ursprünglichen Mimesis‹ ins Spiel gebracht, weil das eidolon die Idee nicht einfach repräsentieren kann. Vielmehr muss es ihr erst Körper und Form geben. Das eidolon blickt sozusagen dem Unsichtbaren ins Gesicht, das deshalb unsichtbar ist, weil es vor dem Blick noch gar keine spezifische Form haben kann, die als Idee intelligibel wäre. Das Eidos ist nicht die Idee, und doch schafft es die Idee, die ohne den gestaltgebenden Rahmen des Blicks nicht wahrnehmbar wäre. Das Telos dieses Eidos’, sein Ziel, kann es nur sein, zur Idee und damit zum Paradox des Todes als ›körperloser‹ Idee zurückzukehren. Die Erinnerung des eidolon an die Idee ist damit eine Erinnerung an etwas, was es vor dem Akt der Erinnerung als Form nicht geben kann. Diese Idee, die nur durch das eidolon als erste ästhetische Form zu schauen ist, korrespondiert mit der Idee des Balletts, dessen Formen und Figuren letztlich nur leere Formen sind. Auch sie sind Artikulation dessen, was man im Unsichtbaren sieht. Und was man im Unsichtbaren sieht, ist notwendigerweise eine Konstruktion, die, wie im Falle des sich als klassisch verstehenden Balletts, ihre eigene Kontingenz als Essenz verbirgt. Von diesem Punkt aus ergeben sich Rückverweise auf Pierre Legendres Diskussion um den Tanz der Seele in der Pupille als Tanz der reinen abstrakten Idee, die den Körper negiert.89 Indem Forsythe die performative, hervorbringende Qualität des eidolon betont, die, um hervorzubringen, sich körperlich an vorangegangene Akte erinnern muss, die es zitierend wieder-

87 | Ibid., S. 232. 88 | Vgl. Kapitel III.4. 89 | Vgl. Kapitel III.5.

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holt, spricht er die Ballettbewegung los von der Repräsentation der Idee. Er erzielt statt dessen einen denkenden Körper, der seinem Tod und damit seiner Abwesenheit ins Auge schaut. Dieser denkende Körper betont geradezu mit jeder Bewegung seine Körperlichkeit, weil er sein telos akzeptiert und damit arbeitet. Forsythe hat für seinen Blick ins Unsichtbare des Balletts, dessen Unmöglichkeit der Gestalt er Form geben will, zusammen mit dem Ensemble ein Alphabet von 135 kurzen Bewegungssequenzen erarbeitet. Vergleichbar mit dem ersten Teil von ALIE/NA(C)TION bilden sie die Grundlage für eine ›Real Time Choreography‹, die von den sechs Tänzern des ersten Aktes, Self Meant to Govern, nach bestimmten Prinzipien jeden Abend neu artikuliert wird. Ausgangspunkt für diese Arbeit waren die 26 Buchstabe des Alphabets. Hinter jedem Buchstaben verbirgt sich ein Wort, das mit dem jeweiligen Buchstaben anfängt und bis zu fünf weiteren Worten, die assoziativ mit dem Hauptwort verbunden sind. So steht der Buchstabe B für das Wort ›book‹, dem die weiteren Worte ›shelf‹, ›flip‹, ›table‹ und ›open‹ zugeordnet sind. Jedes Wort wurde von den Tänzern in eine kurze prägnante Bewegung umgesetzt. Das imaginäre Buch wird bei ›shelf‹ durch eine Streckung des Körpers vom ebenso imaginären Regal geholt, während es bei ›table‹ von vor dem Körper von links nach rechts gezogen wird, um dann mit dem rechten Arm um ein Tischbein herumgeführt zu werden. In der Aufführung sind fünf große Uhren auf dem Bühnenboden verteilt. Statt Zahlen finden sich auf ihren Zifferblättern jedoch die Buchstaben, die von einem Zeiger im zwei Sekundentakt angetickt werden. Auf den beiden Seitenbühnen stehen, nur für die Tänzer einsehbar, je drei Monitore. Dort tauchen die Buchstaben als Grapheme auf, die eingeblendet werden und sich wieder wegdrehen. Darüber hinaus ist jedem Wort ein kurzer Videoclip zugeordnet. Auch die Videoclips werden auf den Bildschirmen gezeigt, um den Tänzern zusätzliche Information für ihre Entscheidungen zu geben. Die Anzahl und die Reihenfolge der Buchstaben variiert von Vorstellung zu Vorstellung. Die Positionen der sechs Tänzer im Raum sind festgelegt. Der Boden ist dazu in neun Felder unterteilt, vergleichbar mit der Neuner-Tastatur eines Telefons, die den Rahmen für die Improvisationen bilden. Die Tänzer bewegen sich nun in diesen Informationsfeldern und nehmen, je noch Blickrichtung und Position im Raum, die Buchstaben von den Uhren oder Bildschirmen ab und setzen sie in Bewegung um. Dabei können sie sich wiederum entscheiden, ob sie das Lexikon eines Buchstabens einfach ausführen oder die Bewegungsphrasen variieren. Wird der Buchstabe B angeklickt, kann man zum Beispiel nach allen Worten mit B suchen, also auch nach denjenigen, die sich hinter anderen Buchstaben verbergen, und ihre Phrasen ausführen. Für die Tänzer bedeutet das eine immense Informationsdichte, mit der jeder auf individuelle Art und Weise umgehen lernen muss. So hat mir Nik Haffner erzählt, dass er sich vor je-

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290 | Abwesenheit der Vorstellung bereits ein kleines Paket mit Optionen geschnürt hatte, die er dann während der Vorstellung bearbeitete.90 Der dritte Akt greift das Material des ersten Akts auf. Szenisch bleibt er mit den anderen beiden Teilen durch verschiedene Bühnenelemente verbunden. Sind im ersten Teil zwei Drahtseile entlang der Bühnenrückwand gespannt, teilen sie den Raum im dritten Akt in der Diagonalen von links hinten nach rechts vorne. Der Scheinwerfer aus Akt zwei wurde nach oben, der Bildschirm auf der rechten Seite noch ein Stück weiter in den Schnürboden gezogen und umgedreht. Die Choreographie basiert auf zwei Quartetten, die sich zu einem Oktett ausweiten. Part one is constructed from the outside, and around the inner vision of the individual. Part three is all the material from part one, but reconfigured by looking at it from the inside. How that happened was by getting each dancer to look at his quartet, or his octet from the inside and to present their conception of what was happening. And then there’s a system of counterpoint, which consists of organising kinds of alignments in time. Either it organises shape, or it organises flow of movement, or change in motion. It’s complicated!91

Wurden die Bewegungsfolgen im ersten Akt durch die objektive, von Zufallsgeneratoren bestimmte Abfolge der Buchstaben organisiert, basiert Teil drei nur noch auf der Eigenwahrnehmung der Tänzer. Das, was Forsythe in dem Zitat als »inner vision« oder »from the inside« bezeichnet, beschreibt für beide Teile im Prinzip das, was ich im Zusammenhang mit Akt zwei als den Blick ins Unsichtbare beschrieben habe.92 Die Tänzer erinnern sich an das, was nicht mehr da ist – an die Position bestimmter Gliedmaßen im Raum – springen gleichsam zu dieser imaginierten Position zurück und setzen von dort, aus der Abwesenheit heraus, ihre nächste Bewegungsphrase an. Eidos:Telos basiert damit auf einem Prozess der Rückerinnerung. Es ist rückwärtsgewandt und auf das gerichtet, was im Raum zurückgelassen wurde: Körper, Bewegungen, die der Tänzer abgestreift hat, die wie Persephone in ihrem Übergang zum Totenreich keine Spuren hinterlassen haben und deren Abwesenheit uns und die Tänzer doch körperlich affiziert. Viel radikaler als die Gegenwart, die die flüchtige Bewegung produziert, muss man hier den Tod betonen, dem die Bewegung übergeben wird, der

90 | Für die Beschreibung des Systems danke ich Nik Haffner. 91 | Roslyn Sulcas, »Interview: Paris 1998«, www.frankfurt-ballett.de. 92 | Das System von Eidos:Telos ist schon mehrfach beschrieben worden, ohne jedoch auf die zentrale philosophische Rolle der Abwesenheit hinzuweisen; vgl. Evert, op. cit., S. 119-132 oder Klaus Kieser/Katja Schneider, Reclams Ballett Führer, Stuttgart: Reclam, 2002, S. 161-162.

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sie raubt und der Erinnerung anheim stellt.93 Forsythe beschreibt diesen Prozess hin zur Auflösung von Bewegung und Form als Verflüchtigen. Bewegung wird nicht mehr länger produziert, was ein nach vorne auf die Zukunft Gerichtetsein implizierte; sie wird abgestreift und dem Tod übereignet. You try to divest your body of movement, as opposed to thinking that you are producing movement. So it would not be like pushing forward into space and invading space – it would be like leaving your body in space. Dissolution, letting yourself evaporate. Movement is a factor of the fact that you are actually evaporating.94

3.5

Zyklische Zeit: Quintett

Persephone ist eine Figur der ewigen Verbundenheit mit dem Tod. Wenn sie im Winter die Erde verlässt, um ins Totenreich zurückzukehren, stirbt das Leben auf der Erde; kehrt sie im Frühling zurück, beginnt es von Neuem. Mit ihr ist daher eine zyklische Zeitvorstellung verbunden, die der linearen, auf das Ziel der Erlösung und Rettung der Seele gerichteten Zeitvorstellung widerspricht. Am Ende des zweiten Aktes von Eidos:Telos bringt Dana Caspersen die Zeit in Form von zwei weiteren Intertexten ins Spiel. Beide beziehen sich auf den Ort, an dem die Figur der Spinnenfrau agiert, den Ort am Spalt der Erde, durch den die Toten wieder an die Oberfläche gelangen können. Der erste der beiden Texte stammt von der amerikanischen Avantgarde-Filmemacherin Maya Deren: If the earth is a sphere, then the abyss below the earth is also its heavens; and the difference between them is no more than time, the time of the earth’s turning. If the earth is a vast horizontal surface reflecting, invisibly, even for each man his proper soul, then again, the abyss below the earth is also its heavens, and the difference between them is time, the time of an eye lifting and dropping.95

93 | Gabriele Brandstetter beschreibt die Choreographie als »Grab-Mal« des Todes der Bewegung, als den Versuch, sie erinnernd im Gedächtnis zu behalten. Forsythe hat sich in Stücken wie ALIE/NA(C)TION und Eidos:Telos allerdings auch von dieser Vorstellung der Choreographie verabschiedet. Als Gedächtnis der Bewegung kann sie daher nicht mehr fungieren. Dieses hat sich vielmehr in das eidolon, das der Tänzer (körperlich) an sie erinnert, verlagert; vgl. Gabriele Brandstetter, »Choreographie als Grab-Mal. Das Gedächtnis von Bewegung«, in: Gabriele Brandstetter/Hortensia Völckers (Hg.), ReMembering the Body, Ostfildern: Cantz, 2000, S. 102-134. 94 | Programmheft Eidos:Telos, op. cit., S. 33. 95 | Ibid., S. 9. Das Zitat stammt aus ihrem Buch Divine Horseman: The Living

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292 | Abwesenheit Dieser magische Punkt, an dem oben und unten, Himmel und Erde, zusammenfallen, wird einzig durch den Verlauf der Zeit, die wiederum auf verschiedene Arten gemessen wird, unterteilt und von sich selbst getrennt. Himmel und Erde können sich nicht selbst einholen. Vom Gesichtspunkt des Bewusstseins und damit des Seins aus betrachtet gibt es keine Selbstidentität, auch nicht im Rückerinnern.96 An ihre Stelle tritt die Erfahrung des Verlusts und das Bewusstsein davon. In der Premiere des Stücks am 28. Januar 1995 war auf dem Bildschirm, der vom Schnürboden über dem Tisch hing, ein Zitat von T.S. Eliot aus dem Gedicht Burnt Norton zu lesen: »At the still point of the turning world.« Forsythe nahm das Zitat aus den darauffolgenden Aufführungen heraus. Nichtsdestotrotz setzt es die Auseinandersetzung mit dem Ort und der Zeit, die in der zitieren Passage von Maya Deren ins Spiel gebracht wird, fort und überträgt sie auf den Tanz. At the still point of the turning world. Neither flesh nor fleshless; Neiher from nor towards; at the still point, there the dance is, But neither arrest nor movement. And do not call it fixity, Where past and future are gathered. Neither movement from nor towards, Neither ascend nor decline. Except for the point, the still point, There would be no dance, and there is only the dance. I can only say, there we have been: but I cannot say where. I cannot say, how long, for that is to place it in time.97

Der Ruhepunkt der sich drehenden Erde ist der Punkt, an dem sich Zeit und Ewigkeit berühren. Er befindet sich zugleich außerhalb und innerhalb der Zeit, denn die Bewegung, die an diesem Ort des Tanzes stattfindet, impliziert ein »there we have been«, also ein Nicht Mehr. Nur durch die Form, »the pattern«, kann »stillness«, Ruhe, erreicht werden. Wenn Eliot formuliert »The detail of the pattern is movement«, macht er die Form zur Ewigkeit, vor deren metaphysischem Hintergrund das Detail, die Bewegung, einzig Bedeutung und Geltung erlangen kann. Die fragmentierten Momente eines individuellen Lebens (»The moment in the rose garden/The moment in the arbour where the rain beat«) werden aufgehoben in ein übergeordnetes stabiles Ganzes, das ihnen nachträglich Sinn verleiht.98 Gods of Haiti (1953), eine Beschreibung der Voodoo-Religion und ihrer Praktiken, die sie nach ihrer ersten Reise nach Haiti 1947 verfasste. 96 | Vgl. dazu Paul de Man, »The Rhetoric of Temporality«, in: Paul de Man, Blindness and Insight, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1983, S. 187-228. 97 | T.S. Eliot, Collected Poems 1909-1962, London/Boston: Faber & Faber, 1974, S. 191-192. 98 | Vgl. Rainer Emig, Modernism in Poetry. Motivations, Structures, Limits, London/New York: Longman, 1995, S. 80-87.

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V Abwesenheit reflektieren: William Forsythe | 293

Ist das Hindurchgehen durch die Zeit, das die Zeit aufhebt, bei Eliot religiös besetzt, bleibt Forsythe der Auseinandersetzung mit der Form, dem stabilisierenden eidolon als Form des Todes, verpflichtet. Das Muster, das Eliot über die Bewegung gelegt hat, wird hier selbst zur Bewegung, die, ihren Blick in die Vergangenheit gerichtet, um die Abwesenheit ihrer selbst kreist. Ein solches unerlöstes Kreisen, ein Zyklus der ewigen Wiederkehr, der den Tod und die Vergangenheit des Balletts in jedem Moment als Abwesende wiederholt, hat Forsythe 1993 mit dem Einakter Quintett choreographiert.99 Die Choreographie ist in enger Zusammenarbeit mit den fünf Tänzern Dana Caspersen, Jone San Martin, Stephen Galloway, Jacopo Godani und Thomas McManus entstanden. Die Bühne ist leer bis auf eine Bodenluke auf der vom Zuschauer aus gesehen linken hinteren Bühnenecke. Ein runder Spiegel steht im 45Grad-Winkel an einer Ecke und gewährt so Einblick auf eine Treppe, die vom vorderen Rand der Luke hinunter führt. Diagonal dazu ist auf der vorderen rechten Bühnenseite ein altertümlicher Projektor platziert, dessen langes Lichtrohr jedoch nach links ins Off gerichtet ist. Erst kurz vor Schluss des Stücks dreht ihn ein Tänzer um. Ein Rechteck mit sich langsam drehenden Wolken, die den Hintergrund zum Spiegel und zur Luke bilden, fällt nun auf die linke untere Ecke der Bühnenrückwand. Zu Beginn klettert ein Tänzer (Stephen Galloway) aus der Luke, die Arme auf den Boden gestützt, als krieche er gerade aus einem Versteck hervor. Er positioniert sich aufrecht und beginnt, ein paar klassische Tendus, Port de bras und Epaulements vorzuführen, bevor er eilig wieder in der Luke verschwindet. Währenddessen schauen ihm die anderen vier am Rand stehend oder sitzend zu. Kurz darauf kehrt er zurück, eine Tänzerin (Dana Caspersen) krabbelt ebenfalls auf allen Vieren auf ihn zu, und sie beginnen, unisono zu tanzen. Immer aufgelöster werden ihre Figuren, langgestreckt, geknickt und gedreht, stürzen zu Boden, winden sich, oder bleiben wie tot liegen. In der Regel wird in zwei Duos getanzt, wozu sich ein Solo oder mehrere Soli gesellen; einmal entsteht gar ein Trio. Allmählich wird die Musik von Gavin Bryars, Jesus’ Blood Never Failed Me Yet, die nur aus einer Refrainzeile besteht, die in einer Endlosschleife wiederholt wird, immer lauter. Die beiden Frauen tragen kurze luftige Kleidchen in orange und violett, die Tänzer Hosen und blaue, beige oder braune Oberteile. Immer wider setzen sie sich an den Rand der Falltür oder gehen dahinter in Deckung, so dass nur der Kopf herausragt, als wären sie Kinder, die Versteck spielten. Am Schluss versucht Jone San Martin mehrmals rückwärts mit steifem Körper in die Luke hineinzufallen. Doch ein

99 | Die Uraufführung fand am 9. Oktober 1993 im Frankfurter Opernhaus statt. Ein Video der Vorstellung vom 25. April 1998 lag mir zur Einsicht vor.

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294 | Abwesenheit Tänzer katapultiert sie immer wieder zurück auf den Dachboden der Welt, dorthin wo die Wolken vorbeiziehen und die Zeit sich in der Tat im Kreis zu drehen scheint. Von hier oben gibt es keinen Ausweg, nur das selbstvergessene Weitertanzen wie in Trance, immer und immer wieder wie die Musik, die sich im Kreis dreht und nie aufzuhören scheint. Etwas Geheimnisvolles spielt sich hier ab, das sich aus dem Wissen der Tänzer um den Mechanismus der Abwesenheit heraus entfaltet, um das Zurücklassen des Bewusstseins, um in einen anderen Zustand der Hypnose oder der Trance überzugehen.

3.6

Das fehlende Objekt der Melancholie: The Loss of Small Detail

Sowohl Quintett als auch Teile von Eidos:Telos entfalten aufgrund dieses Wissens um die Abwesenheit eine Atmosphäre des Zauberhaften und Unergründlichen. Ein Körper, der sich um sich selbst legt an dem Ort, an dem er nicht mehr ist, erinnert diesen Ort als Abwesenden. Diese Leere, die auf eine Leerstelle in der symbolischen Struktur verweist und die von den getanzten Figuren lediglich umfasst wird, hat Forsythe in seinem Ballett The Loss of Small Detail explizit zum Thema gemacht. Dieser Verlust des kleinen Details ermöglicht es uns an dieser Stelle, die Abwesenheit noch einmal unter einem anderen Aspekt in den Blick zu bekommen: den der Melancholie. Dass The Loss of Small Detail100 eine gewissen Melancholie ausstrahlt, ist beim Sehen des Stücks nicht von der Hand zu weisen. Doch worin liegt dieser Eindruck begründet? Wie kommt er zustande und was sagt er über Forsythes Verhältnis zur Bewegung als symbolischer Struktur? Das Ballett spielt in einem weißen Würfel, der an ein Museum erinnert. Seine Wände können hoch- oder heruntergerollt werden wie Pergamentrollen, während sie gleichzeitig den Hintergrund für allerlei Projektionen bilden. Zeilen aus Yukio Mishimas Werk erscheinen auf dem Hintergrund, nur um gleich wieder aufgerollt zu werden: Each passing year, never failing to exact its toll, keeps altering what was sublime into the stuff of comedy. Is something eaten away? If the exterior is eaten away, is it true, then, that the sublime pertains by nature only to an exterior that conceals a core of

100 | Eine erste Version hatte am 4. April 1987 in Frankfurt Premiere, wurde aber schnell vergessen, bis Forsythe am 11. Mai 1991 eine komplett neue Version vorstellte, die wiederum am 21. Dezember 1991 eine radikale Neubearbeitung erfuhr. Ich habe alle drei Vorstellungen gesehen. Zudem lag mir eine Videoaufzeichnung der Aufführung vom 27. April 1996 zur Einsicht vor.

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V Abwesenheit reflektieren: William Forsythe | 295 nonsense? Or does the sublime indeed pertain to the whole, but a ludicrous dust settles upon it?101

In diesem Zitat klingt das Thema des Stücks bereits an. Das Vergehen der Zeit erzeugt einen Verlust, von dem nicht klar ist, ob er von einer Veränderung am wahrgenommenen Gegenstand selbst ausgeht oder ob dieser Gegenstand lediglich in einem anderen Licht erscheint. Löst sich der Gegenstand auf, »the exterior is eaten way«, um seinen wahren, lächerlichen Kern zu offenbaren, oder verändert er plötzlich sein Aussehen, »a ludicrous dust settles upon it«, woraufhin er lächerlich erscheint? Das Ballett stellt die Frage nach dem Verhältnis zu seiner Geschichte, und es stellt sie auch und gerade in bezug auf die Konstitution seines Objekts, das einst als erhaben, »sublime«, wahrgenommen wurde, jetzt aber lächerlich erscheint.

Wenn sich der Vorhang hebt, fällt der Blick zunächst auf einen schlanken Tisch mit einem Hocker, der in der Bühnenmitte steht. Im Hintergrund und an den Seiten sind weitere Hocker zu sehen, die die Form von Würfeln haben und zu Türmen übereinandergestapelt oder zu langen Bänken zu101 | Programmheft The Loss of Small Detail, Intendanz Ballett Frankfurt 1991.

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296 | Abwesenheit sammengeschoben werden können. Vom Zuschauer aus gesehen rechts vom Tisch steht eine Art Schaufel, die ihre breite Fläche wie eine große Antenne nach oben streckt. Einige Minuten nach dem Beginn des Stücks beginnt langsam Schnee auf die Bühne zu fallen und sie mit einer metaphorischen Schicht des Vergessens zuzudecken, während er gleichzeitig ihre Geräusche dämpft. Ein Tänzer greift die Schaufel, die noch aus dem Stück LDC übrig geblieben ist, und schiebt damit rennend den Schnee zur Seite. Einige Tänzer setzen sich mit dem Rücken zum Publikum auf die Hocker, die sie zur Rampe getragen haben. Während eine Art Frage-und-AntwortSpiel beginnt, tanzen drei Duos im weiten Raum verstreut. Eine Tänzerin nimmt ihren Platz hinter dem Tisch ein, während eine weitere Tänzerin auf dem Boden zu ihrer Rechten liegt. Aus ihren Notizen und Übersetzungen liest sie Fragen vor wie »What is the door?« oder »What are the two sides of the river?« und versucht, etwas Bedeutung aus prähistorischen Geschichten zu gewinnen, die Forsythe einer Sammlung von Erzählungen von Jerome Rothenberg entnommen hat. Die erste Frau interpretiert diese Fragen auf explizit sexuelle Weise, so dass aus der Türschwelle ein Krokodil, aus dem Türgriff ein Penis und den zwei Ufern eines Flusses Mann und Frau werden. Das Schild auf dem Tisch jedoch sagt »Version III A« und deutet damit eine unbegrenzte Anzahl anderer Möglichkeiten an, die ans Licht gebracht werden könnten, falls die Sitzung weitergeführt, andere Fragen gestellt oder jemand anderes befragt würde. Alles kann in der Tat alles bedeuten wegen des ursprünglichen Verlusts oder des Verlusts des Ursprungs, des Verlusts des kleinen Details, auf das sich der Ballett-Titel bezieht, das einen sicheren Ursprung garantiert, auf den man seine Interpretationen aufbauen kann. The Loss of Small Detail inszeniert den Verlust eines Ursprungs und regt doch gleichzeitig zu einer unentwegten Produktion von Bedeutung an, selbst wenn es sich um mögliche Missverständnisse handelt. Vergessen wird hier als produktive Aktivität gesehen. Es wird als nötig erachtet für die Eröffnung neuer Möglichkeiten. »But our attempt to read the page«, erklärt Forsythe, is initially frustrated because we have not yet agreed upon a common basis from which to comprehend these glyphs as a system of language. Let us assume that this text could nonetheless be deciphered in some way – perhaps by repositioning ourselves? Then again, we could consider repositioning the text. Perhaps the spatial redeployment of these glyphs would enable us to approximate their meaning.102

Solch eine räumliche Verschiebung des Texts des Balletts wird durch die Bewegungen der Tänzer ausgelöst. Zu Anfang erhebt sich eine Tänzerin 102 | Ibid.

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langsam vom Boden; ihre Arme sind ausgestreckt, ihr Körper nach innen gedreht. Sie scheint aufwärts zu schweben; ihr Körper wirkt fast knochenlos und flüssig. Ein Tänzer in schwarzem Kostüm nähert sich und bringt ihr einen Stuhl. Sie setzt sich und wendet sich der Frau hinterm Tisch zu, die sie später befragen wird. Plötzlich geht sie zum Tisch und windet ihren Körper um ihn, die Beine unter ihm ausgestreckt, die Arme auf ihm ruhend. Der Mann in Schwarz trägt sie dann davon, indem er ihren steifen Körper horizontal in seinen Armen hält wie ein Brett. Diese Sequenz wird mehrfach wiederholt und markiert das erste Auftreten von Vergessen in diesem Ballett: das Vergessen von etwas, das zuvor getan wurde, wenn auch ohne Erfolg, und das doch wieder und wieder getan wird, scheinbar ohne eine Spur im Gedächtnis des Tänzers hinterlassen zu haben. Es ist eine Bewegung, die genau dann verschwindet, wenn sie wieder aufgenommen wird. Die spezifische Qualität der Bewegung des Balletts ist eine unglaubliche Weichheit und Transparenz. Die Tänzer scheinen alle Kraft verloren zu haben. Sie gleiten wiederholt zu Boden, nur um in bizarren Drehbewegungen wieder aufzustehen. Dies wird durch eine Technik ermöglicht, die Forsythe »disfocus« nennt.103 Der Fokus des Blicks der Tänzer wird dabei nicht auf einen Punkt vor ihnen gerichtet, der als Achse des Körpers dient. Er wird stattdessen mental auf die Hinterseite ihrer eigenen Köpfe gelenkt, was die Wahrnehmung der Tänzer erweitert. Ihre Fähigkeit ihre Umgebung wahrzunehmen vermindert sich zugunsten einer erhöhten Wahrnehmung ihrer eigenen Gliedmaßen und Muskelgruppen. Diese »internally refracted co-ordinations« verhindern es, dass die Tänzer so tanzen, wie es ordentlich ausgebildete und trainierte Ballett-Tänzer tun. »It’s not that you destroy the foundations«, erklärt Forsythe; »you just end up in an opposing state of support. The small detail that is lost is your physical orientation. Your body gives up one kind of strength, but another comes into play.«104 Der Verlust der Orientierung und damit des aufrechten axialen Körpers des Balletts führt zu seiner Umschreibung als abwesendem Körper. Wie lässt sich diese Umschreibung oder dieses im doppelten Wortsinn Umgehen der leeren Mitte nun mit der Melancholie in Verbindung bringen? In seinem berühmten Aufsatz »Trauer und Melancholie« von 1917 stellt Freud den Mechanismus des melancholischen Bewusstseins dem der Trauer gegenüber.105 In diesem Prozess ähneln die Grundstrukturen der Melancho103 | Gerald Siegmund, »Interview with William Forsythe«, Dance Europe 23 (1999), S. 12-17, hier: S. 16. 104 | Roslyn Sulcas, »Kinetic Isometries«, op. cit., S. 8. 105 | Sigmund Freud, »Trauer und Melancholie«, in: Sigmund Freud, Studienausgabe Band III. Psychologie des Unbewußten, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1982, S. 175-212.

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298 | Abwesenheit lie nicht nur jenen der literarischen und poetischen Produktion, wie oft behauptet wird, sondern auch und noch spezifischer, wie ich zu zeigen versuchen werde, denen solcher körperlichen Praktiken wie Gesang, Tanz und ihrer Repräsentation auf der Bühne. Der Ausgangspunkt für Freuds Argument ist der gemeinsame Katalog von Symptomen von Trauer und Melancholie wie Schmerz, Desinteresse an der das Subjekt umgebenden Umwelt, der Verlust der Liebesfähigkeit und ein generelles Nachlassen von Effizienz, welche in beiden Fällen mit dem Verlust eines geliebten Objekts in Verbindung gebracht werden können. Nach einer Zeit des Leidens gewinnt bei der Trauer das Realitätsprinzip wieder die Oberhand. Das verlorene Objekt wird aufgegeben und die Libido der oder des Trauernden davon abgezogen, um wieder in der Lage zu sein, auf ein anderes Objekt übertragen zu werden. Der oder die Trauernde akzeptiert den Verlust der oder des Geliebten. Im Falle der Melancholie allerdings weiß die leidende Person, wen oder was sie verloren hat, ignoriert aber, was sie mit dem verlorenen Objekt verloren hat. Die melancholische Person kennt die Gründe für ihre Traurigkeit nicht, ein Charakteristikum, das der Melancholie seit Aristoteles zugeschrieben wird. Freud erkundet dann die weiteren Unterschiede zwischen den zwei verwandten Geisteszuständen. Er beginnt mir der Beobachtung, dass eine melancholische Person im Unterschied zu einer trauernden sich häufig abwertet. Die topische Position des Ich wird aufs Spiel gesetzt, entleert und ausgelöscht. Um Freud zu zitieren: »Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.«106 Paradoxerweise geht dies oft Hand in Hand mit einer großen Redseligkeit von Melancholikern. Sie werden nie müde, jedermann zu erzählen, wie schrecklich und schlecht es ihnen geht, obwohl, wie Freud aufzeigt, das Reden hier nur eine andere Form des Nichts-Sagens, des Verschweigens, ist, mit dem sie sich stumm stellen gegenüber dem wahren Adressaten ihrer Rede. Hier liegt der zentrale Schritt in Freuds Argument. Ein Teil des Ichs stellt sich gegen einen anderen Teil des Ichs; eine Art Über-Ich oder Gewissen bestraft das Ich für seine Missetaten. Nur entsprechen die Selbstbeschuldigungen des Ichs kaum seinem wirklichen Verhalten. In Wirklichkeit sind sie geheime verkleidete Anschuldigungen an das verlorene Objekt. Die Selbstbeschuldigungen sind tatsächlich Beschuldigungen, die zurück an das Subjekt selbst gewendet werden. Die Libido, die durch den Verlust des Objekts freigesetzt wurde, ist nicht auf ein anderes Objekt übertragen worden. Stattdessen hat sich das Subjekt mit dem ursprünglichen verlorenen Objekt identifiziert, das nun als Selbst am Leben gehalten und gleichzeitig als Nicht-Selbst abgewertet wird. Was wir hier sehen, ist eine Figur der Reziprozität oder der metonymischen Substitution. Das Subjekt ist das Objekt, welches das Subjekt ist, das wiederum das Objekt ist, und so 106 | Ibid., S. 200.

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weiter. Das Selbst als Anderes und das Andere als Selbst – zusammen mit der Ambivalenz der Gefühle, die ihre Beziehung ausmacht: Liebe ist Hass, und Hass ist Liebe – behauptet seine eigene Antithese im Akt des Behauptens. Was die Melancholie charakterisiert, ist daher die Instabilität des Bedeutungsprozesses, die Abwesenheit eines Referenten, der immer bereits schon sein Gegenteil ist, niemals positiv, aber immer bereits schon negativ; niemals präsent, aber immer bereits schon abwesend in seiner Präsenz.107 Die Abwesenheit in der Präsenz oder die Präsenz in der Abwesenheit des Objekts als melancholische Struktur gewinnt für das Feld des Tanzes und des Balletts, wie Forsythe es darstellt, noch einmal eine größere Zuspitzung durch das Konzept der ›Inkorporation‹, der Einverleibung, das Maria Torok und Nicholas Abraham in die Diskussion eingebracht haben.108 In ihrer Lektüre von Freuds Fallstudie »Der Wolfsmann« versuchen Abraham und Torok die melancholische Repräsentation dieses verwirrenden Objekts, von dem das Subjekt nichts weiß, das es aber bis zur Selbstzerstörung treibt, zu rekonstruieren. Sie richten ihre Aufmerksamkeit dabei auf die Sprache als dem primären psychoanalytischen Ausdruckmittel. Durch die Sprache erlangen sowohl die Psychoanalyse wie auch die Patienten Zugang zu ihren Objekten. Es ist ein Sprache, die eng mit künstlerischen Verfahren verwandt ist, weil sie wie Gedichte nie das sagt, was sie meint. Im Zentrum von Toroks und Abrahams Argument liegt das Konzept des Kryptischen, das auch im Zentrum der Symbolisierungen des Melancholikers zu finden ist. In diesem Kryptischen liegt das präverbale Trauma des Patienten begraben. Da der Ursprung des Traumas nicht symbolisiert werden kann, da es präverbal ist, können das Kryptische und mit ihm das Grab des Traumas nicht lokalisiert werden. Das Konzept des Kryptischen basiert auf der terminologischen Unterscheidung zwischen »Introjektion« und »Inkorporation«. Introjektion109 ist 107 | Für eine Zusammenfassung psychoanalytischer Positionen zur Melancholie vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration, Stuttgart/Weimar: Metzler, 1997, S. 159-174, hier: S. 162. 108 | Nicholas Abraham/Maria Torok, Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns, vorangestellt »FORS« von Jacques Derrida, übers. von Werner Hamacher, Frankfurt am Main/Wien/Berlin: Ullstein, 1979. 109 | Der Begriff wurde von Sandor Ferenci zum ersten Mal 1909 verwendet und von Karl Abraham, einem Schüler Freuds, in einem Briefwechsel mit Freud 1915 auf die Melancholie bezogen. Abraham betont damit den oralen und analen, also den kannibalistischen Aspekt der Melancholie, die aufgrund einer narzisstischen Objektwahl zustande kommt. Im Narzissmus gewinnt die Libido Befriedigung aus oralen und analen Quellen, die natürlich das Äquivalent zu Essen und Ausscheiden darstellen oder zur Kontrolle und Zerstörung des Objekts führen, indem es wortwörtlich verinnerlicht wird; vgl. Wagner-Egelhaaf, op. cit., S. 165-166.

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300 | Abwesenheit die völlig normale Art, in der Subjekte ihr Selbst konstituieren. »Wir verstehen unter ICH«, betonen Abraham und Torok, »die Gesamtheit der Introjektionen und unter Introjektion das Zusammentreffen der Libido mit den unzähligen möglichen Instrumenten ihrer symbolischen Darstellung,«110 Das Subjekt wird zu einem solchen durch die Internalisierung von Objektbindungen. Inkorporation, im Kontrast hierzu, ist eine gescheiterte Introjektion. Gescheitert in dem Sinne, dass das verinnerlichte Objekt wegen seiner traumatischen Natur von diesem Inneren ausgeschlossen wird. Es errichtet ein Außen im Innen, ein innerliches Heterogenes. Inkorporation beschreibt daher die Introjektion eines Objekts, das umgebracht wird, während es gleichzeitig in der Krypta am Leben erhalten wird, in der die Subjektivität begraben liegt. Jacques Derrida betont in seiner Lektüre von Abrahams und Toroks Text, dass die Krypta einen »unauffindbaren Ort als Grund, mit Grund« am Ort des Subjekts selbst darstellt.111 In ihr wird das Trauma des Subjekts weggeschlossen. Die Krypta ist daher in erster Linie eine »Architektur, ein Artefakt eines Ortes, der in einem anderen begriffen, aber von ihm streng geschieden, vom allgemeinen Raum durch Verschläge, Schotten, Enklaven, isoliert ist.«112 Der Raum im Raum, der ein reines »Kunstgebilde« ist, wird nun aufgrund seiner traumatischen Motivierung selbst weggesperrt: »Eine Krypta präsentiert sich nicht. Es wird eine gewisse Anordnung von Orten getroffen, um zu verkleiden: etwas, eine Sache, immer einen Körper in irgendeiner Form. Doch um auch die Verkleidung zu verkleiden, verbirgt die Krypta, wie sie verdeckt, auch sich selbst.«113 Die Krypta ist der Ort des Subjekts, der zum Nicht-Ort, zur Atopie, wird, weil er nicht nur das Trauma wie ein Schrein umgibt, sondern gleichzeitig seine eigenen Wände verbirgt. Da in der Krypta der Tod der Lust des Subjekts, jenes halluzinierte verbotene erste Objekt, aufbewahrt ist, stellt sie auch eine Art Grabkammer dar. »Der Bewohner einer Krypta ist«, so Derrida, »immer ein lebendig Toter, ein Toter den man am Leben halten möchte, aber als Toten, den man bis in seinen Tod bewahren will unter der Bedingung, daß man ihn bewahrt, nämlich in sich, sicher erhält, ausgenommen also am Leben.«114 Die Krypta ist also ein »Kontrakt mit dem Toten«,115 stillzuhalten, an seinem Platz zu bleiben, damit er nicht in Begleitung des Traumas des Verlusts wiederkomme. Gleichzeitig umhüllt sie, um auf Slavoj Zizeks Terminologie ^ ^

110 | Abraham/Torok, op. cit., S. 68. 111 | Derrida, »FORS«, S. 7. 112 | Ibid., S. 9. 113 | Loc. cit. 114 | Ibid., S. 20. 115 | Ibid., S. 44.

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zurückzukommen, den ›Kern des Realen‹, den das Subjekt als letzte Bastion und Stütze seiner Subjektivität braucht. Die Wand der Krypta installiert im Inneren des Subjekts eine Spaltung. Sie markiert die Grenze zwischen dem Inhalt der Krypta, der als Imaginäres keine Sprache kennt und schweigt, und dem Symbolischen der Sprache, die von der Krypta ihren Ausgang nimmt. Die Wände der Krypta sind also lesbar, doch ist ihre Botschaft verstellt, kryptiert. Was beim Durchqueren der Grabesstille der Orte auf der Suche nach der Krypta zu lesen ist, ist, so Derrida, »ein auf die Wände einer Krypta kryptierter Text, Krypta auf einer Krypta. Doch die Trennwand geht ihm nicht voraus, sie ist selbst aus dem Material des Textes konstruiert.«116 Die chiffrierte Botschaft ist die Wand zum Schweigen selbst. Weil die Introjektion vor allem in der oralen Phase stattfindet, gehen Abraham und Torok davon aus, dass die Krypta vor allem ein Phänomen des Verbalen und der Sprache ist.117 Die Erfahrung des leeren Mundes ist bedeutsam, weil das Kind versucht, die Leere dieses Hohlraums mit Worten zu füllen, mit Sprache also den ursprünglichen Verlust zu ersetzen, und damit die labyrinthischen Erzählungen seiner Subjektivität ausformt, das, was Freud im Falle von Schreber ›Deckerinnerungen‹ nennt, Erinnerungen, die weitere Erinnerungen abschirmen. Nach dem traumatischen Verlust dürfen bestimmte Worte nicht mehr ausgesprochen werden, Worte, die für immer im Kryptischen begraben werden, dessen Wände daher aus Worten, die andere Worte ersetzt haben, bestehen. Es sind Worte, die sich maskieren wie Schauspieler, um ihren Referenten zu verschweigen: Anagramme, Wörter in Wörtern, der Rebus. Derrida spricht daher von einem »Theater von Wörtern.«118 Wie ist an dieser Stelle nun eine Übertragung des Konzepts des Kryptischen erstens auf den Tanz und zweitens auf Forsythes Ästhetik zu leisten? Um den ersten Teil der Frage zu beantworten, genügt ein erneuter und deshalb kurzer Verweis auf Freuds Fort-Da-Spiel. Dabei wird klar, dass nicht nur die beiden Phoneme |a| und |o|, die die Zustände des Daseins und Fortseins begleiten, Abwesenheit symbolisieren, sondern dass bereits die Bewegung der Spule, die vom Kind in metonymischer Stellvertretung seines eigenen Körpers verwendet wird, eine Symbolisierungsleistung darstellt. Bevor wir Ding-Worte haben, die weggeschlossen werden, haben wir Bewegung, die eine andere Bewegung wegschließt. Das Kryptische, aus 116 | Ibid., S. 42. 117 | Auf diese sprachliche Interpretation der Krypta stützt sich auch Julia Kristeva in ihrem Buch Soleil noir. Depression et mélancholie, Paris: Seuil, 1987. Das Sprechen des Melancholikers verstreut das Ding, das nie Objekt war. Seine Sprache ist gleichzusetzen mit der poetischen Sprache, die keinen Referenten kennt. 118 | Derrida, »FORS«, op. cit., S. 42.

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302 | Abwesenheit dem Subjektivität ihren Ausgang nimmt, hält das Subjekt beständig in Bewegung. Das Kryptische ist deshalb primär als Bewegung konstituiert, die gleichzeitig das Subjekt außerhalb und innerhalb seiner Wände hält.119 Kehren wir noch einmal zu Eidos:Telos zurück. Die Rückerinnerung der zweiten Bewegung an ihren Ausgangspunkt erblickt dort den Ort, an dem sie nicht mehr ist, an dem sie schon gestorben ist. Sie setzt dort erneut an und umschließt so die Abwesenheit, indem sie sie fortschreibt. »Körper im Körper«, sagt Derrida dazu, was Forsythe ähnlich formuliert, wenn er sagt: »the body’s memory, wrapped around itself«. Jede Bewegung ist das Grab einer anderen, deren Grabmal durch das permanente Abschreiten der Wände errichtet wird, die nirgends lokalisierbar sind, weil sie durch die Bewegung selbst entstehen und mit jeder Bewegung aufs Neue verstellt werden. Die mobile Architektur der Krypta macht Winkelzüge, labyrinthische Bewegungen notwendig, um sie aufrecht zu erhalten. Die Verbindung zwischen The Loss of Small Detail und der Melancholie liegt also in dem verlorenen Detail am Objekt, das eine bestimme Artikulation von Bewegung als melancholisches Sprechen ermöglicht. Dieses Sprechen ist eng an die Architektur der Krypta gebunden, die das Objekt wegschließt und für immer aufbewahrt. Eine solche Architektur stellt nun der Körper des Ballett-Tänzers da. Er ist die Inkorporation, die Verkörperung eines Objekts, das es, so Forsythe, nicht gibt. Seine vertikale und achsenzentrierte Ausrichtung errichtet einen idealen Körper im Körper, um mit dem Körper eine Architektur von geometrischen Linien und Figuren im Raum zu entfalten. Diese Architektur ist mit ihren Figuren und geregelten Übergängen stabil genug, um die Frage nach dem Status des Objekts gar nicht aufkommen zu lassen. Die Flüchtigkeit der Bewegung, ihre konstitutive Abwesenheit, die sich um jede Präsenz legt, wird auf diese Weise ge119 | Das Kryptische als architektonische Struktur ist deshalb eng verwandt, darauf hat Martina Wagner-Egelhaaf verwiesen, mit der Architektur des Labyrinths, welches auch der originäre Tanzort ist als Nach-Außen-Verlagerung der kryptisch sich bewegenden inneren Struktur des tanzenden Subjekts. In der altgriechischen Mythologie war es der Architekt Dädalus, der nicht allein das Labyrinth für den Minotaurus in Kreta errichtete. Er baute auch, wie Homer in seiner Ilias berichtet, Ariadnes Tanzplatz in Form eines Labyrinths. Labyrinthe wurden als choreographische Strukturen benutzt, die mythologische Ideen verkörperten, wie etwa die Initiationsriten, die den Weg des Subjekts in die Gesellschaft darstellten. Die zu initiierende Person betrat das Labyrinth und folgte seinem mäandernen Pfad, nur um in dessen Zentrum den Minotaurus als angsteinflößendes Bild ihrer selbst zu treffen, mit dem sie kämpfen musste, bevor sie das Labyrinth wieder als nun normales und gereinigtes Vollmitglied ihrer Gesellschaft verlassen konnte. Wagner-Egelhaaf, op. cit., S. 171. Zum Labyrinth als Raumfigur des Tanzes vgl. Brandstetter, Tanz-Lektüren, op. cit., S. 319-324.

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leugnet. Man kann die Formen des Balletts als Architektur gegen die Abwesenheit verstehen, deren monumentale Stärke die melancholische Proliferation von Bewegungen und Subjekten verhindert, um sie, wie Ludwig XIV., auf ein gesellschaftspolitisches Machtzentrum zurückzubinden und auf Linie zu bringen. Im romantischen Ballett zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Architektur von Tanzmeistern wie Charles Blasis als innere Struktur des Körpers etabliert. Damit eröffnete sich ein Innenraum und eine Innerlichkeit, die eine Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre nach sich zieht, deren Zugang für Frauen und Männer unterschiedlich geregelt ist. Die Melancholie tritt erst als wahrnehmbare auf, wenn die Stützpfeiler dieser Architektur ins Wanken geraten. Erst dann wird die Sprache fremd und verliert ihre pragmatische Dimension der Mitteilung. Die Bewegungen verändern sich, werden kryptisch, weil sie plötzlich etwas von dem weggeschlossenen Objekt und seiner Abwesenheit erahnen lassen. Wenn Forsythe die Außenorientierung des Körpers im Raum und damit das axiale Modell des Körpers als verlorenes Detail bezeichnet, dann reißt er in der Tat den stärksten Pfeiler der Ballett-Architektur ein. Die durch die innere Orientierung, den ›disfocus‹, ermöglichte Bewegung wird plötzlich transparent auf die Abwesenheit, die in jeder Bewegung als deren imaginäres Double oder Supplement mittransportiert wird. Die Bewegungen von The Loss of Small Detail sind das imaginäre Doppel des abwesenden Balletts. Forsythe bezeichnet sie als ›glyphs‹, als Hieroglyphen, deren Position im Raum man verändern muss, um hinter ihr Geheimnis zu kommen. Die Bewegung wird zu einer Art poetischem Sprechen, welches das ›Ding‹ lustvoll im Raum zerstreut. Das Verschieben der Wände der Krypta reißt diese jedoch nicht vollständig ein. Die Melancholie richtet sich daher nicht nur auf die Abwesenheit des Objekts, sondern auch auf die gegebene Bewegungs-Architektur selbst, nämlich auf die Ordnung des Balletts. Freud beschreibt in »Trauer und Melancholie« Fälle von Melancholie, in denen das Objekt noch gar nicht gestorben ist. Trotz dessen Präsenz antizipiert der Melancholiker den Verlust, ohne zu wissen, was es ist, das er am Objekt verloren hat. Das Objekt ist etwa nicht real gestorben, aber es ist als Liebesobjekt verlorengegangen […]. In noch anderen Fällen glaubt man an der Annahme eines solchen Verlusts festhalten zu sollen, aber man kann nicht deutlich erkennen, was verloren wurde, und darf um so eher annehmen, daß auch der Kranke nicht bewußt erfassen kann, was er verloren hat. Ja, dieser Fall könnte auch dann noch vorliegen, wenn der die Melancholie veranlassende Verlust dem Kranken bekannt ist, indem er zwar weiß wen, aber nicht, was er an ihm verloren hat.120 120 | Freud, »Trauer und Melancholie«, op. cit., S. 199.

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304 | Abwesenheit Aus dieser Perspektive bleibt der Melancholiker in Besitz des Objekts, ignoriert aber, warum es ihn nicht mehr interessiert. Das Detail, welches ihn das Objekt hat begehren lassen, ist verloren gegangen. Wenn Forsythe nun einen solchen Verlust des Details inszeniert, stellt auch er die Frage nach dem veränderten Status des Balletts, das einst begehrt wurde, jetzt aber kaum mehr etwas von seinem erhabenen Status behalten hat. Das Ballett ist überflüssig geworden, weil sein aufrechter hierarchisch gegliederter Körper einer anderen Gesellschaftsformation angehört. Diese Beobachtung hatte Forsythe schon in Die Befragung des Robert Scott † gemacht. Denn die Eroberung des Südpols war für die Industrienationen eine nutzlose Angelegenheit. Auch das Ballett, das einst zur Demonstration und Repräsentation höfischer Herrlichkeit und Macht diente, ist in einer demokratisch kapitalistischen Gesellschaft in seiner alten Form funktionslos geworden. Das Ballett erobert das Nutzlose: es wird zur autonomen Kunst, gerade weil es nicht verwertbar ist. In den Befragungsszenen von The Loss of Small Detail wurde deutlich, dass es kein Objekt gibt, das man über die Geschichte hinweg selbstidentisch transportieren könnte. Demnach gibt es auch kein Ballett als zu fetischisierendes Objekt. Diese Nicht-Identität des leeren Objekts übersetzt Forsythe in Bewegungen, die auf die historische Form der Krypta bezogen bleiben, allerdings unter Vergessen des kleinen Details. Die Verlagerung des Fokus’ vom Außen zum Innen verändert den Ballett-Körper. Doch sie zerstört ihn nicht. Der historische Körper scheint als eine Schicht durch seine gegenwärtige palimpsest-artige Beschriftung hindurch. Der BallettKörper nimmt sich zwischen äußerer und innerer räumlicher Orientierung selbst wahr; er gewinnt Selbstbewusstsein und vielleicht gar ein Selbstwertgefühl, das ihn jedoch genau in dem Moment untergräbt und zu Fall bringt, indem er zu sich findet. Der Melancholiker produziert Text, um das Objekt zu zerstreuen. Doch weil sich sein Sprechen auf die Abwesenheit bezieht, ist es ein Sprechen, das die »symbolische Gegebenheit fragmentiert.«121 Es ist ein anti-semantisches Sprechen. Man kann diese Körper nicht mehr lesen, weil sie zu viele uneindeutige Schriften in sich vereinen, die sich im Prozess ständiger Neuartikulation auslöschen. Er wird zum Träger eines »Puzzles von Scherben, von denen man nichts weiß: deren Kombinationsform man ebensowenig kennt wie den größten Teil der Fragmente.« Die kryptische Festung schützt diesen Rebellen, indem sie die symbolische Fraktur provoziert. Sie bricht das Symbol in winklige Fragmente, errichtet interne (intrasymbolische) Verschläge, Höhlungen, Gräben, Flure, Ausfallgräben, Schießscharten, Flucht-

121 | Derrida, »FORS«, op. cit., S. 17.

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V Abwesenheit reflektieren: William Forsythe | 305 gänge. Solche »Höhlungen« stellen immer einen Effekt der Brüche dar: als solche wirken die Wände der Krypta.122

Eine solche Höhlung als Bruch in Raum und Zeit, durch die uns das Abwesende verstellt ins Gesicht blickt, inszeniert Forsythe in einer Szene in der Mitte des Stücks. Donner grollt und die weißen Wände werden heruntergelassen. Das Licht wird abgedämmt, so dass sich die Konturen dreier zu Posen gefrorene Figuren in spitzen bizarren Issey Miyake-Kostümen vor dem Hintergrund abheben. Kurz darauf heben sich die Wände wieder, und zwei Filme werden auf die Rückwand projiziert. Der eine zeigt in ruckartigen schwarz-weiß Bildern eine karge Landschaft, in der immer wieder ein Hund mit schwarz-weiß geschecktem Fell ins Bild rückt. Auf der linken vorderen Bühnenhälfte wird eine Art Tür mit flackerndem Stroboskoplicht angeleuchtet, vor er ein Tänzer zu erkennen ist. Aus dem donnerndem Krach heraus kann man eine elektronisch verzerrte Stimme hören, deren Körper lange im Wortsinn im Dunkeln bleibt. Einzig ein Spot in der Bühnenmitte zeigt an, wo er sich befinden könnte. Schnee fällt auch hier vom Schnürboden, der im Licht glitzert und funkelt. Nachdem der Sturm sich beruhigt hat, steht eine nackte Figur auf einem Stuhl. Ihr Körper ist weiß bemalt mit schwarzen Punkten, als ob sie tatsächlich mit Schnee bedeckt wäre oder mit dem im Mishima-Zitat erwähnten »ludicrous dust« als Bedeckung der erhabenen Essenz der Dinge. Der Schnee/Staub hat so das Erscheinen der Figur, das zu einer anderen Zeit und in einem anderen Kontext das des erhabenen Kriegers oder Schamanen hätte sein können, zu einem lächerlichen und komischen gemacht. Doch darüber hinaus macht ihn die Körperbemalung auch zum Negativ, zur filmtechnischen Umkehrung eines ›Wilden‹, eines Pygmäen mit dunkler Hautfarbe und weißer Bemalung. Im Programmheft beschreibt Forsythe eine imaginäre Szene, aus der einige Elemente einen Teil der tatsächlichen Bühnenszene bilden: very very slowly. The film fades to black. it is snowing. apparently, it has been snowing for quite some time. The light that now increases reveals several figures that are watching a film of primitive people portrayed by contemporary performers. The figures are snow covered as are the primitive Performers in the film. the film watched in printal negative. The snow is black. The primitive performers, white. They are watching a scene in a contemporary film, printed in negative. It is also snowing in this film, white. The real snow falling On STAGE is back-lit by the film, and appears to be Black.123

122 | Ibid., S. 17-18. 123 | Programmheft The Loss of Small Detail.

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306 | Abwesenheit Diese komplexe Rahmenverschiebung, die wir schon bei Eidos:Telos beobachtet hatten, findet ihr Gegenstück auf der Bühne in einem Darsteller, der einen Primitiven in einem Negativbild portraitiert, als wäre er tatsächlich einem Film entsprungen, der noch nicht entwickelt wurde. Über dem sichtbaren Raum wird ein Zwischenbereich errichtet, in dem wir nicht länger zwischen Innen und Außen unterscheiden können, zwischen Film und Theater, Betrachter und Betrachtetem. Das Innen enthält immer schon das Außen; das Ausgegrenzte, abwesend Geglaubte, befindet sich inmitten des Ausgrenzenden und höhlt es aus. Diese Höhlung, die den Bühnenraum wie einen umgestülpten Handschuhfinger zur Tasche macht, führt uns in einen verstörenden Zwischenbereich ein, in dem Gespenster der Vergangenheit vortreten können, wenn auch nur in komischer, maskenhafter Umkehrung oder Umstülpung. Sie sind die lebenden Toten als halluzinatorischimaginäre Objekte, die die Krypta bewohnen wie der bemalte Wilde oder die walzertanzende Phalanx der Frauen in Eidos:Telos. Dass sich Forsythe, um die imaginäre Ebene in seinen Stücken aufzurufen, des Films als Medium bedient, ist nur konsequent. Schließlich halten seine Bilder die Toten lange jung, schön und lebendig. Ihr bewegungstechnisches Äquivalent erhält diese Tasche oder Höhlung im ›disfocus‹ der Tänzer. Ihr Innenraum wird zum eigentlichen Wahrnehmungsraum, der nach außen gestülpt wird und damit die Architektur des Körpers und des Raumes verändert. Um diesen Komplex der Abwesenheit und des Todes der Bewegung zusammenzufassen, möchte ich noch einmal Roberto Calasso zitieren: Als sich Persephone auf den Thron des Hades setzte und ihr duftendes Gesicht hinter dem Spitzbart ihres Gemahls auftauchte, als Persephone vom Granatapfel kostete, der in den Gärten der Finsternis gewachsen war, erfuhr der Tod eine nicht weniger entscheidende Veränderung, als sie das Leben erfahren hatte, seit ihm das Mädchen genommen worden war. Die beiden Reiche waren jetzt nicht mehr im Gleichgewicht, und jedes öffnete sich zum anderen hin. Hades setzte die Abwesenheit auf der Erde durch, er setzte durch, daß sich um jede Präsenz ein weitaus größerer Mantel aus Abwesenheit legte. Persephone setzte unter den Toten das Blut durch: doch nicht mehr das schwarze Blut der Opferungen, nicht mehr das Blut, an dem sich die Toten gierig satt tranken, sondern das unsichtbare Blut, das weiter durch ihre Adern floß, das Blut dessen, der weiterhin ganz lebendig ist, auch im Palast des Todes.124

Vielleicht sind Live-Performances im Allgemeinen und das Ballett von William Forsythe im Besonderen die einzigen lebendigen Formen der Präsenz, die den Mantel der Abwesenheit um die Dinge erfahrbar machen können. Und umgekehrt erscheint das, was mit jeder Bewegung dem Tod übereignet wird, nirgends so präsent und voller Leben. 124 | Calasso, op.cit., S. 232-233.

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4

Der visuelle Apparat des Theaters und der Blick

Die bisherigen grundsätzlichen Ausführungen zur Ästhetik William Forsythes bezogen sich weitestgehend auf die Bewegung in ihren drei Dimensionen des Symbolischen, Imaginären und Realen. Sie kommuniziert mit den am Tanzereignis beteiligten Subjekten, dem Choreographen, den Tänzern und Tänzerinnen sowie den Zuschauern, auf diesen drei Ebenen und stellt dabei festgefügte Identifikationen in Frage und knüpft Verbindungen neu. In dem in Kapitel IV. vorgeschlagenen Modell sind jedoch noch andere Aspekte zur Sprache gekommen, die auf den Ebenen des Symbolischen und des Imaginären nicht in erster Linie auf die Bewegung, sondern auf den Blick auf die Bühne zielen. Diese Analyseebenen haben zum einen die in die Theatersituation eingeschriebenen Normen und Gesetze zum Thema. Zum anderen thematisieren sie den Blick auf die Tänzerkörper in seiner Tendenz, sie zu Bildern zu machen und festzustellen. Einige der hier relevanten Aspekte sind bereits in der Analyse verschiedener Stücke zur Sprache gekommen. Die multiplen Zentren des Bühnengeschehens untergraben die historisch gewachsene Erwartung nach einem Zentrum. Sie entziehen den Zuschauern in der Wahrnehmung die Wahrnehmung und damit die (visuelle) Kontrolle über das Gesehene. Durch abrupte Lichtwechsel bleiben Teile der Choreographie, wie in In the Middle, Somewhat Elevated, an den Rändern der Bühne nahezu im Dunkeln, um die als klassisch verstandene Distanz zwischen Corps de ballet und Solisten in der Mitte der Bühne bis zum Zerreißen auseinander zu ziehen. Bühnenobjekte. wie in Limb’s Theorem, verdecken Teile der Tänzer, die sich ihren Platz in der Architektur der Linien erst erkämpfen müssen. Ihre Körperbilder werden angeschnitten, nie aber als totale und ganze präsentiert. In den folgenden beiden Abschnitten rücken zwei Stücke ins Zentrum, die diese Aspekte explizit zum Thema machen und bearbeiten. Endless House, das Forsythe als sein ›Architekturstück‹ bezeichnet hat, stellt die Normen der Theaterarchitektur aus. Kammer/Kammer, das man in vielerlei Hinsicht als das Pendant zu Endless House betrachten kann, spielt mit der Faszination der imaginären Bilder im Kontrast zu dem, was live auf der Bühne geschieht. Die Stücke gehören zu Forsythes jüngsten Arbeiten. Mit ihnen schließt sich der Bogen, der mit den Anfängen des Frankfurter Balletts 1983 begann, bis zur Gegenwart.

4.1

Arbeit am Symbolischen: Endless House

William Forsythe hat sein zweiteiliges Stück Endless House, das am 15. Oktober 1999 in Frankfurt uraufgeführt wurde, in einem Interview als kriti-

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308 | Abwesenheit sche Auseinandersetzung mit der »Politik des Sehens« bezeichnet.125 Die Praktiken des Sehens, die immer auch eine Politik und eine Ökonomie des Sehens beinhalten, sind für ihn in die Geschichte des Balletts eingeschrieben, mit der er sich als zeitgenössischer Ballettchoreograph zwangsläufig auseinandersetzen muss. Schon in Artifact zerriss er das Sehkontinuum der Zuschauer dadurch, dass er im zweiten Akt über den beiden Pas de deux den Vorhang mit lauten Krachen herunterfallen ließ. Im Entzug des Sehens und des Objekts, das es zu sehen gibt, wird das Publikum auf das Sehen als aktiven Vorgang explizit aufmerksam gemacht. Ähnliches gilt für Steptext (1984). Durch Blackouts wird der Fluss und die harmonische Abfolge des Quartetts gestört. Der Tanz bricht an diesen Stellen jedes Mal ab, die drei Tänzer und die Tänzerin verändern ihre Position im Raum und setzen die Choreographie an einem anderen Ort fort. In Endless House legt Forsythe die Gespenster der Ballett-Tradition schon in der Theaterarchitektur offen. Bereits in der Aufteilung in Bühne und Parkett sowie den Sichtlinien auf die Bühne leben bestimmte historische Formationen weiter, die in der höfisch-aristokratischen Zeit des Balletts begründet wurden. Der erste Teil des Abends findet im Frankfurter Opernhaus statt, dessen Parkett jedoch leer bleibt. Die Zuschauer verteilen sich auf die Ränge, von wo aus sie einen distanzierten, aber vollständigen Überblick über die Bühne haben. Viel geschieht dort aber nicht. Im Zentrum, etwas nach hinten versetzt, dort wo sich die Seitenlinien zum Fluchtpunkt zu verjüngen beginnen, stehen in großem Abstand zueinander zwei indonesische Sitzmöbel. Auf der hinteren der Bänke nehmen zwei Männer, bei der Premiere William Forsythe selbst und Ron Thornhill, Platz. Sie steigen über einen am Boden liegenden Prospekt, der allmählich nach oben gezogen wird und so die Hinterbühne mit der Brandmauer und dem dort herumstehenden Gerät verdeckt. Ihre beiden Oberkörper neigen sich einander zu, bis ihre Schultern und Köpfe sich berühren und ihre Körper ein Dreieck bilden, dessen Spitze den Fluchtpunkt der Zentralperspektive ausmacht. Den Text, den dieses merkwürdige Doppelwesen mit vier Armen, vier Beinen und zwei Köpfen auf der Bank sitzend stammelt, als bräche er gegen großen Widerstand aus seinem Körper hervor, hat Dana Caspersen geschrieben. Er basiert auf der Verteidigungsrede von Charles Manson, The Testimony, die er bei seinem Prozess 1970 vor einem amerikanischen Gericht hielt. Manson, für viele der Antichrist schlechthin, war der Anführer 125 | Gerald Siegmund, »Choreographische Intervention«, in: Schluss mit der Spasskultur, Jahrbuch Ballett International/Tanz Aktuell 2001, S. 73-74. Ich habe die Uraufführung gesehen und außerdem in eine Videoaufzeichnung der Aufführung vom 22. Oktober 1999 (für den ersten Teil) und vom 2. Februar 2001 (für den zweiten Teil) Einsicht erhalten.

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einer apokalyptischen Miliz, dessen ›Familie‹ aus ihm hörigen Anhängern 1969 ins Haus des Regisseurs Roman Polanski eindrang und dessen schwangere Frau, die Schauspielerin Sharon Tate, sowie Freunde und Anwesende, ermordete. Schon mit vierzehn wurde Manson ins Gefängnis gesteckt und erst 1966 im Alter von 30 Jahren wieder entlassen. Seit 1970 sitzt er wieder in einem kalifornischen Gefängnis. Was Forsythe an der Figur Manson interessiert, ist der okkulte und rituelle Kontext, in den die Manson-Morde gestellt werden, ein Kontext, der unserem westlichen Verständnis von Rationalität zuwiderläuft. Die beiden Männer bewegen sich langsam zuckend, ihre Gliedmaßen verdrehend und kriechend, zur vorderen Bank vor, bevor sie einfach abgehen. Dass sie dabei in ihrer merkwürdigen Verbundenheit einer asiatischen Gottheit ähneln, ist nicht zufällig. Die Musik- und Theaterkultur der Balinesen ist der zweite Intertext, der das Stück mitkonstituiert. Das javanesische Gamelan-Stück Sirimpi, ›Vorbereitungen für den Tod‹, erfüllt nach dem Abgang der beiden Männer die Bühne des Opernhauses, den Tod, den man sowohl inhaltlich auf die Manson-Morde als auch formal auf die Theatersituation selbst beziehen kann. Denn während der folgenden dreiviertel Stunde senken und heben sich Lampions und Prospekte meditativ aus dem Schnürboden und erzeugen einen hypnotischen Effekt. Sind sie zunächst in schwarz und weiß gehalten, fügt Forsythe gegen Ende auch Farben, blau, rot und gelb, hinzu. Forsythe ermöglicht im ersten Teil von Endless House jedem Zuschauer einen nahezu gleichen Blick auf die Bühne, doch was das Auge des Betrachters sieht, ist die Kulissenmaschinerie des technischen Apparates Theater. Die Illusionsmaschine Theater läuft leer. Was sie reflektiert und dem Betrachter zurückgibt, ist sein Blick, der sich in erhobener Position hier einmal nicht dem Geschehen, das ja ausbleibt, sondern seiner selbst bemächtigt. Was hier ausgestellt wird, sind die Implikationen der Zentralperspektive, die, wie in Kapitel IV.1. gezeigt, ja auf einem allsehenden Auge beruhen, das sich außerhalb des Sehfeldes gleichsam in transzendentaler Position befinden muss. In eben dieser Situation befinden sich die Zuschauern auf den Rängen des Opernhauses. Die Prospekte, die man als Leinwand oder gar als Kinoleinwand betrachten kann, die das Sehfeld durchschneidet, damit sich auf ihr ein Gegenstand abzeichnen kann, dienen hier jedoch nur dem Lichtspiel. Das Licht erzeugt hier nur Schatten und Schemen, die auf den Akt des Sehens zurückverweisen. Die Perspektive ist, wie es Nelson Goodman formuliert, eine »wiedererzeugte Wirklichkeit«.126 Ein Eingriff in das Symbolsystem der Perspektive impliziert daher einen Eingriff in die symbolische Ordnung unserer Gesell126 | Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, übers. von Bernd Philippi, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995, S. 15.

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310 | Abwesenheit schaft, ihrer Subjekte und ihrem Verhältnis zu den Bildern, die sie sehen und in denen sie als Subjekte immer schon gesehen sind. Der zweite Teil von Endless House löst die starre hierarchisch gegliederte Sehordnung des ersten Teils komplett auf. Nach einem Ortswechsel, der die Zuschauer mit der U-Bahn in ein altes Straßenbahndepot bringt, findet sich der Betrachter inmitten eines offenen Feldes wieder. In der ganzen, über dreißig Meter ausmachenden Länge des Bockenheimer Depots finden gleichzeitig verschiedene tänzerische Aktionen statt, um die der Betrachter nicht nur herumlaufen kann. Der komplette Raum dient als Spielfläche, auf der sich Tänzer und Zuschauer begegnen können. Selbst auf den wenigen ansteigenden Bankreihen am Rand der Halle finden Aktionen statt. Tänzer bereiten sich vor und werden dabei aus unmittelbarer Nähe von Zuschauern beobachtet, was ihre Vorbereitungen selbstredend schon zu einem Auftritt macht. Ein Tisch steht am Rand, an dem die Tänzer die Zuschauer ins Spiel mit einbeziehen und vor den Augen Dritter zu Akteuren machen. Die Bar bleibt während der Aufführung geöffnet. Getränke dürfen im ganzen Raum mitgenommen werden.

Über die gesamte Länge des Depots hinweg ist ein Tanzboden ausgelegt. Handzettel weisen die Zuschauer darauf hin, dass sie sich auch hier bewegen dürfen, sofern sie die Schuhe ausziehen. Stühle stehen auf dem Spielfeld in Reihen verteilt herum. Fahrbare Holzwände gliedern den Raum zunächst in drei distinkte Zentren der Aktivität. Führt eine Formation von Tänzern in Reihe im hinteren Raum Ballettgrundschritte vor, liegt im mittleren Feld ein weißer Flokatiteppich auf dem Boden. Eine fahrbare Kleiderstange ist über und über behängt mit Kostümen und Perücken. Im vorderen Bereich finden ein paar sparsame forsythe-typische Bewegungen statt. Durch fahrbare Wände werden die Anordnung des Raumes und damit die Sichtlinien auf das Geschehen immer wieder verändert. Unmöglich, alles zu se-

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hen. Unmöglich aber auch, von einem Platz aus einen Ausschnitt zu verfolgen. Immer wieder wird die Sicht versperrt, wird man zu Positionswechseln im Feld angehalten, ohne ihnen jedoch nachkommen zu müssen. Jeder kann seine Perspektive, die ihre Begrenztheit offen zur Schau stellt, frei wählen. Es können sich Gruppen um einzelne Tänzer oder Formationen bilden, die sich ebenso schnell wieder auflösen. Sah in Endless House I jeder alles und letztlich nur seinen Blick, sieht jetzt keiner alles, nicht einmal der Choreograph, der sich mitten im Feld befindet, um Anweisungen zu geben. Im Verlauf des Abends wird deutlich, dass sich der hintere Raum in dem Maße verengt, wie sich der mittlere und schließlich der vordere ausweitet. Die choreographierte Bewegung des Raumes von hinten nach vorne gleicht dem Drücken auf eine Zahnpastatube. Im mittleren Spielfeld wird in einer Party-Szene mit typischen 1960er-Jahre-Requisiten das Manson-Thema wieder aufgegriffen und zugleich mit zwei weiteren Intertexten verwoben. Ebenfalls präsent sind laut Programmheft Emily Brontë, Heathcliff und Heathcliffs unerreichbare Liebe Cathy aus Brontës Roman Wuthering Heights, der sich wie alle aufgeführten Intertexte über das Thema des Dämonischen und des Irrationalen, das einen Zugang zur Sphäre des Unsichtbaren, Abwesenden ermöglichen soll, mit dem Stück verbindet. Heathcliff, der dunkle Außenseiter, wird am Ende des Romans von Cathy aus dem Geisterreich hinüber in den Tod gerufen. Während die Tänzer in langen Reihen mit geschlossenen Augen im vorderen Bereich Trance-Zustände nachempfinden sollen, ist über Lautsprecher die Tonspur des Filmes Island of Demons (Insel der Dämonen) zu hören, den der bildende Künstler Walter Spies zusammen mit Baron Viktor von Plessen 1931 auf Bali gedreht hat. Der Spielfilm erzählt die Geschichte zweier Liebenden, deren Dorfgemeinschaft durch eine Epidemie, die die böse Hexe Rangar geschickt hat, zu zerbrechen droht. Die fiktionale Handlung wurde mit dokumentarischem Material von balinesischen Ritualen und Tänzen angereichert, um die Authentizität der Szenen zu unterstreichen. Auch daraus übernimmt Forsythe kleine Spielsequenzen, wenn etwa Dana Caspersen von der Hexe Rangar erzählt, die ihr Kind geraubt habe.127 Da in Bali ein Gamelan-Musikstück, wie in Endless House I, nie in einer Konzertsituation, wie wir sie aus der westlichen Tradition kennen, aufgeführt wird, sondern immer als Begleitung von Zeremonien, Ritualen und Theateraufführungen, werden auch die Zuschauer in Endless House II in ein informelleres, offeneres Verhältnis zum Bühnengeschehen gesetzt. Gamelanmusik ist dabei allerdings nicht mehr zu hören. Thom Willems und Eck127 | Walter Spies, 1985 als Sohn eines Diplomaten in Moskau geboren, ließ sich 1927 auf Bali nieder, wo er bis kurz vor seinem Tod 1942 lebte. 1932 erschien eine Sammlung von Beschreibungen balinesischer Tanz- und Theaterformen in Buchform; Walter Spies, Dance and Drama in Bali, London, 1932.

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312 | Abwesenheit hart Ehlers haben eine kurze harmonische Tonfolge endlos wiederholt, so dass auch hier das Thema der Trance wiederaufgegriffen wird. William Forsythe bedient sich hierfür des Modells eines Rituals, das auch auf inhaltlicher Ebene zum Tragen kommt. In Endless House II gibt es nur Teilnehmer. Wir alle als Teilnehmer nehmen jedoch unterschiedliche Rollen ein, die die Differenz zwischen Performer und Nicht-Performer nach wie vor aufrecht erhalten. Zuschauer und Besessene, die sich zum Teil als Drag-Queens präsentieren, was eine Anspielung auf den Geschlechtertausch oder das Tragen von Masken, der in bestimmten Ritualen vorgenommen werden kann, darstellt, sowie eine Art Dirigent, Forsythe selbst, der aufpasst, dass die derart Beseelten nicht zu Schaden kommen. Was hier im Rückgriff auf die sechziger Jahre also keineswegs intendiert ist, ist eine Re-Ritualisierung des Theaters und des Tanzes.128 Auch Forsythes Stück findet in einem als Theater ausgewiesenen Ort statt und will dies auch gar nicht leugnen. Beide Teile von Endless House, die unbedingt zusammen gehören, stellen vielmehr eine Reflexion auf die Perspektive mitsamt ihren Strategien der Ermächtigung sowie deren Auflösung dar. Sie sind eine Reflexion auf die Grenzen der ästhetischen Erfahrung, an deren einem Ende die Blindheit des Alles-Sehens, an deren anderem Ende die Auflösung der Kunst durch das Wegfallen bestimmter Rahmungen steht. Stellt der Blick im ersten Teil still, mortifiziert er seinen Gegenstand zum Objekt und droht dabei, selbst mortifiziert zu werden, setzt er im zweiten Teil das aus dem Blickfeld Ausgeschlossene in Szene. Auch hier wird das Abwesende, Unsichtbare in Form von Wiedergängern thematisiert, die das Leben mit dem Tod affizieren. So ist der Raum, den Endless House etabliert, nicht nur ein »immersiver Raum«,129 in den sich die Zuschauer analog zu einem dreidimensional simulierten Bildraum körperlich hineinbegeben können, sondern auch ein Raum, der mit der Abwesenheit und dem Entzug der Wahrnehmung arbeitet, um eine grundlegendere anthropologische Abwesenheit, die auch die der Medien ist, zu reflektieren: »A void that is not nothing, which shares the essential divinity of the sublime, yet can be inhabited by mortals«.130 Dieser leere Raum, den die Lebenden wie die Toten, die Zuschauer und die Akteure, gleichermaßen bewohnen können, legt dem Zuschauer eine größere Eigenverantwortung auf. Jeder konstruiert sich aus seinen gewählten Perspektiven sein eigenes Stück. Keines gleicht dem anderen, weil niemand alles sieht. Und jeder etabliert dadurch auch sein persönliches Ver128 | Zu den Gründen dieser Unmöglichkeit vgl. Erika Fischer-Lichte, »Postmoderne Performance: Rückkehr zum rituellen Theater?«, in: Arcadia 22 (Frühjahr 1987), S.191-201. 129 | Vgl. Evert, op. cit., S. 141-144. 130 | Programmheft Endless House, Intendanz Ballett Frankfurt, 1999.

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hältnis zu den Tänzern, für die die Zuschauer im geteilten Raum Verantwortung übernehmen müssen. Greifen sie in das Geschehen ein, weichen sie zurück oder behindern sie die geplante Aktion? So wird Endless House auch zu einem sozialen Experiment, das auf der Auseinandersetzung mit dem visuellen Apparat Theater aufbauend eine andere Form des symbolischen Miteinanders erprobt, die nicht mehr länger aus der binären Opposition Bühne-Zuschauerraum und ihren Bildern lebt, sondern ihre Kraft aus einem Feld der individuellen Differenzen heraus bezieht.

4.2

Kammer/Kammer als Arbeit am Imaginären

In Kammer/Kammer, das am 8. Dezember 2000 im Bockenheimer Depot in Frankfurt/Main uraufgeführt wurde, überträgt William Forsythe die Struktur eines Films oder einer Fernsehshow auf einen Theaterabend. Dabei setzt er das Live-Geschehen, dem die Zuschauer beiwohnen, in Beziehung zu vorgefertigten Videos und live aufgenommen Videobildern, die abgemischt und zum Teil durch Computerprogramme verfremdet werden. Das Bühnengeschehen fungiert so zunächst lediglich als Rohmaterial für einen Film, der auf eine Reihe von Plasmabildschirmen übertragen wird. Die Bildschirme setzen sich von der Rampe in den Zuschauerraum hinein fort, wo sie in einer sich weitenden Schere über den Köpfen der Zuschauer befestigt sind. Das Publikum ist frontal auf die Bühne ausgerichtet, wobei sich der Blick ständig zwischen dem Geschehen auf der Bühne und den komponierten Bildern auf den Bildschirmen aufspaltet. Diese Interferenz zwischen Bühne und Film wird gleich zu Beginn schon zum Thema gemacht. Die Bühne besteht aus einer Reihe von verschiebbaren Holzwänden, die als Kulissen eines Filmsets dienen. Sie bilden im Folgenden eine Reihe von Räumen, die zum Teil nach vorne offen und für das Publikum einsehbar sind, zum Teil aber auch verschlossen, so dass man nur durch die Zwischenräume hindurch einen flüchtigen Blick auf das Geschehen dahinter werfen kann. Matratzen liegen dort herum, auf denen kleine Gruppen von Tänzern mit kräftigen und abrupten Bewegungen liegend oder stehend einen Tanz beginnen. Diese Szenen dienen William Forsythe als Ausgangspunkt für ein weiteres Stück, Double/Single, das als Einakter aus Kammer/Kammer ausgekoppelt wurde und nun zusammen mit anderen Stücken aufgeführt wird. Die Ränder der Bühne werden gesäumt von einzelnen Buchstaben, aus denen man verschiedene Worte bilden kann, darunter auch die programmatische Formulierung »je traduis«, ich übersetze. Denn in der Tat lässt sich das Stück auf verschiedenen Ebenen als Übersetzungsvorgang begreifen, von denen der Medienwechsel zwischen Theater und Film nur einer ist. Wenn die Zuschauer den Theatersaal betreten, ist das Geschehen auf der Bühne schon in vollem Gange. Inmitten der Holzwände schauen wir

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314 | Abwesenheit einer Ballettkompanie beim Aufwärmen und Proben zu. Ein Choreograph, Chris (Christopher Roman), versucht vor der Vorstellung noch einen letzten Durchlauf des Stücks zu organisieren. Doch auf der Bühne herrscht Durcheinander. Da betritt von hinten eine weitere Figur die Bühne, Tony (Antony Rizzi), der mit einem blauen Pullover und einer blauen Wollmütze bekleidet ist. Er stellt sich als Produktionsassistent vor, eine Funktion, die Rizzi beim Ballett Frankfurt in der Tat inne hat. Er hält zahlreiche Zettel in der Hand und versucht, zwischen den Parteien zu vermitteln. Während das Ensemble probt, spricht Tony das Publikum direkt an und erklärt uns das Stück. Er bittet die Technik, das Video einzuspielen, das als Grundlage für das Stück gedient habe. Darin sehen wir einen jungen Mann, Martin Schwember, der in einem Hotelzimmer Geige spielt – zum ersten Mal, wie uns Tony erzählt. Eine weitere Hauptfigur wird uns vorgestellt. Hinter einer Stellwand waren zuvor schon die Beine einer Frau zu sehen gewesen, die sich gerade ihre Stiefel anzieht. Tony spricht sie mit Dana (Dana Caspersen) an, stellt sie uns dann aber als Catherine Deneuve vor. Im beigen Kostüm und Sonnenbrille tritt sie nach vorne, begleitet von einer Kamerafrau, die Close-ups ihres Gesichts auf die Monitore projiziert. Der zweistündige Abend basiert auf zwei literarischen Texten, die den beiden Protagonisten zugeordnet sind. Dana Caspersen spielt Catherine Deneuve in Ann Carsons Text Irony is Not Enough: Essay on My Life as Catherine Deneuve. Der Text bezieht sich auf die Rolle der Marie, die Deneuve in André Techinés Film Les Voleurs aus dem Jahr 1996 gespielt hat, eine Philosophieprofessorin, die sich mit Sappho, Sokrates und dem Wesen der Liebe auseinandersetzt und selbst in einem Liebesdreieck verstrickt ist. Antony Rizzi spielt The Boy in the Blue Sock Hat von Douglas A. Martin, der von seinem Leben mit einem bekannten Rockstar erzählt. Obwohl Tony von Dana mit ›Tony‹ angesprochen werde, sei er der Junge im Video, was durch den blauen Pullover kenntlich gemacht werde. Später sei er jedoch der Junge mit der blauen Strickmütze. Die Situation des Jungen mit der Geige im Hotelzimmer, der eine gewisse Verlorenheit und Verletzlichkeit innewohnt, spiegelt sich so in der Liebe des Jungen mit der Wollmütze zu seinem Freund, mit dem er auf ausgedehnten Tourneen von Hotelzimmer zu Hotelzimmer gereist und dabei immer einsamer geworden ist. Diese Geschichte spiegelt sich wiederum in der Bühnensituation, in der die Holzwände zwei Kammern, zwei Hotelzimmer, nachstellen. Forsythe inszeniert in Kammer/Kammer auch ein Vexierspiel der Identitäten rund um zwei Geschichten vom Sterben und Scheitern der Liebe, die sich als tragischer Kern inmitten der ironischen Brechungen durch das Stück ziehen. Aus den Privatpersonen, die mit ihren Vornamen angesprochen werden, werden auf der Bühne Figuren mit dem gleichen Namen, die wiederum als Spiel-im-Spiel weitere Rollen spielen. Niemand ist hier, wer er zu sein vorgibt. Jeder lebt das Leben eines oder einer anderen. Jeder ist

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V Abwesenheit reflektieren: William Forsythe | 315

Teil der Phantasie eines anderen, aus der er sich, wie der Junge mit der Strickmütze, herauszuwinden versucht. Diese mentalen Projektionen werden im Stück ganz konkret auf die Rahmungen und Projektionen der Filmbilder bezogen. Immer wieder versucht das Stück, die reale Aufführungssituation mit der erzählten Geschichte zur Deckung zu bringen und das Augenmerk des Zuschauers auf das Hier und Jetzt des Herstellens eines Theaterabends und eines Films zu lenken. So schauen wir dem Machen eines Filmes ebenso zu wie dem Machen eines Theaterabends, der sich entfaltet, während wir zuschauen. Doch während die Filmbilder streng komponiert und ästhetisch ansprechend präsentiert werden, ist das Live-Geschehen auf der Bühne stets etwas schäbig. Die Bilder lassen uns abdriften in einen imaginären Raum, der sich von der realen Situation gelöst hat und der seine eigene Faszination und suggestive Kraft entfaltet. Über die Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern im Theaterraum breitet sich ein asymmetrischer psychischer Raum aus, der das Reale verstellt. Der Effekt ist der gleiche, den wir bereits in der Analyse von Vincent Dunoyers Stücken Vanity und The Princess Projekt in Kapitel IV.2. beobachtet hatten. Doch im Gegensatz zu den Bildern eines Filmes, die ihre Rahmung stets verschweigen müssen, um als Bilder zu erscheinen, führt die Selbstreflexion des Mediums bei Kammer/Kammer zu einer gegenseitigen Brechung der Medien. Die Gemachtheit der Bilder wird stets ausgestellt und damit die totalitäre Schließung des einen Mediums durch das andere verhindert. Kammer/Kammer ist auch eine Reflexion auf die Möglichkeiten des Theaters: nämlich durch die Fremdheit der Mittel das Erscheinen des Erscheinens der Bilder und ihrer Rahmen kritisch zu reflektieren. »In relation to movement performance […] the performances of absence enables us to recognize the performance of presence«, schreibt Heidi Gilpin in bezug auf William Forsythes Arbeit.131 Das ›Performen‹ von Abwesenheit nimmt in den Stücken William Forsythes verschiedene Formen an. Es erstreckt sich vom Fehlen von einzelnen Verbindungsstücken in der Choreographie der Bewegungen, dem performativen Erinnern von abwesenden Bewegungen, bis hin zum Herauslösen des klassischen Ballettcodex, der nur mehr als negativer Horizont aufscheint. Von dieser Position des Abwesenden aus vermag das Ballett und seine ideologischen Setzungen und Schließungen im Tanzen kritisch analysiert zu werden, indem verworfene 131 | Heidi Gilpin, »Aberrations of Gravity«, in: ANY: Architecture New York 5 (März 1994), S. 50-55, hier: S. 50; Gilpin definiert die Performance über die Abwesenheit als »full escape from consciousness« und damit als traumatisches Ereignis. Diesem Argument bin ich in dem vorliegenden Kapitel nicht gefolgt, weil mir weder die Bewegung noch der sie ausführende Körper prinzipiell als verdrängt und daher abwesend erscheinen.

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316 | Abwesenheit Möglichkeiten, die die Stabilität des Systems verhindern würden, erkundet werden. Als Abwesendes wird das Ballett allerdings gleichzeitig erinnert. Die Flüchtigkeit der Bewegungen, die als abwesende wiedergeholt werden, basiert auf dem stabilen Körpergedächtnis der Tänzer, das alles andere als vergänglich ist. In der Verkörperung von heterogenen Erinnerungsspuren, zu denen unterschiedliche Tanz- und Improvisationstechniken gehören, liegt das Potential, Unvorhergesehenes, Neues und Anderes auszuspielen. Dieses Potential an Möglichkeiten macht die Tänzer zu Entscheidungsträgern innerhalb der Choreographie.

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VI Die Schreibweisen des Körpers: Jérôme Bel | 317

VI

Die Schreibweisen des Körpers: Jérôme Bel

Sein erstes Stück schrieb er 1992. Doch Nom donné par l’auteur sollte erst 1994 im Rahmen des Festivals SKITE in Lissabon zur Aufführung gelangen. Zu diesem Zeitpunkt lag sein zweites Stück bereits fertig in der Schublade. 1993 geschrieben, wurde Jérôme Bel, das Stück das den Namen seines Autors und Choreographen trägt, obwohl dieser darin gar nicht auftritt, erst 1995 in Brüssel uraufgeführt. Der Name des Autors Jérôme Bel war zu der Zeit, als er seine Stücke schrieb, noch ein unbekannter. Doch er setzt schon allein mit der Tatsache, dass diese Stücke am Schreibtisch und nicht durch Improvisation im Tanzstudio entstanden, ein Nachdenken über Tanz in Gang, das seinen Kollegen Xavier Le Roy 1999 zu folgender Beschreibung veranlasste: Les quatres pièces de Jérôme comptent parmi les quelques rares spectacles qui transforment radicalement des possibilités chorégraphique en proposant une nouvelle perspective, en l’occurance, des projets de corps enchevêtrés dans une pensée sémiotique de leur présentation et de leur perception. […] Les chorégraphies de Jérôme font partie des rares moments durant lesquels j’ai pu voir une pensée se développer sur une scène de théâtre. De son déroulement se dégagent non seulement des moments de réflexion et de sollicitation intellectuelle mais aussi des plages de poésie et d’humeur.1

Um diesen sich auf der Bühne entwickelnden Gedanken soll es im folgenden Kapitel gehen. Ob sich die Stücke Bels allein mit einem »semiotischen Denken«, wie es Le Roy vorschlägt, erschöpfend erschließen lassen, wird zu überprüfen sein. Aufgewachsen in Algerien, im Iran und in Marokko, wo sein Vater als

1 | Alain Buffard/Xavier Le Roy »Dialogue sur et pour Jérôme Bel«, in: Mouvement 2 (Mai 1999), S. 29-31, hier: S. 29.

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318 | Abwesenheit Ingenieur tätig war, hat Jérôme Bel schon früh seine Begabung entdeckt, Bewegungen durch Beobachtung nachzuahmen und sie sich zu eigen zu machen. Seine Ausbildung als Tänzer hat er schließlich 1985 im französischen Angers am dortigen Centre Nationale de Danse Contemporaine erhalten, bevor er in den Kompanien von Angelin Preljocaj, Joelle Bouvier/ Régis Obadia und Daniel Larrieu tanzte. Als Assistent von Philippe Découflé wirkte er 1992 bei der Arbeit an der Eröffnungszeremonie der Olympischen Winterspiele in Albertville mit. Seine eigenen Stücke entstanden danach in der Auseinandersetzung mit seinen Erfahrungen als Tänzer in angesehenen zeitgenössischen Kompanien und als Mitinszenator eines Tanzund Theaterspektakels. Zeichneten sich William Forsythes Stücke, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde, durch einen hohen Komplexitätsgrad und eine Vielschichtigkeit aus, die durch Überlagerung verschiedener Texte entsteht, sind Jérôme Bels Stücke reduzierte minimalistische Versuchsanordnungen, die mit wenigen Mitteln auskommen. Forsythes Arbeit am symbolischen System des Balletts setzte am negativen Raum um die klassischen Ballettfiguren an, um das Abwesende als Bewegendes und damit als Auslösendes für die Bewegung nutzbar zu machen. Jérôme Bel setzt dagegen an der symbolischen Ordnung des Theaters selbst an, die er mit Abwesenheiten durchzieht, um durch das Ausspielen eines gesellschaftlichen und individuellen Imaginären zu einer anderen Funktionsweise vorzustoßen. Welche Einsätze und Verfahren dafür notwendig sind, soll im Anschluss in den Analysen der einzelnen Stücke gezeigt werden.

1 1.1

Schreibweise am Nullpunkt des Tanzes Nom donné par l’auteur

Jérôme Bels erstes Stück ist gekennzeichnet durch eine Versachlichung und Verdinglichung der theatralen und tänzerischen Codes. Zwei Tänzern, Frédéric Seguette und Jérôme Bel selbst, kommt einzig und allein die Aufgabe zu, Gegenstände während der Aufführung über die Bühne zu rücken.2 Die Haltung, die die beiden Tänzer dabei einnehmen, ist neutral und sachlich, so dass keine Affekte oder Gefühlsregungen ins Spiel kommen. Den affektiven, energetischen und lebendigen Qualitäten, die dem Tanz und den Tänzern während einer Tanzaufführung normalerweise zugesprochen wer-

2 | Ich habe das Stück in Montpellier im Juni 1999 gesehen. In der undatierten Videoaufzeichnung des Stücks, das mir vorlag, hat Claire Haenni die Rolle von Jérôme Bel übernommen.

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den, steht hier die Bewegungslosigkeit der Objekte und die Mechanik ihres Bewegtwerdens gegenüber. Das Verwenden von Objekten, die Abwesenheit jeglicher Bühnenillusion und die maximale Zurücknahme unserer Präsenz auf der Bühne waren Teil einer Strategie, eine Choreographie erscheinen zu lassen, bei der paradoxerweise nicht der kleinste Tanzschritt auch nur markiert oder skizziert wird! Nach dieser Operation blieb von der Tanzaufführung nur das Skelett übrig: ein choreographisches Skelett das sich des Fleischs des Tanzes entledigt hatte.3

Die Präsenz der Choreographie erscheint, weil alle anderen Parameter des Tanzes abwesend gemacht werden. Zu Beginn der Aufführung trägt Frédéric Seguette vier Buchstaben aus weiß gestrichenem Holz auf die Bühne und platziert sie auf zwei sich kreuzenden Diagonalen. N, S, E und O stehen für die französischen Bezeichnungen der vier Himmelsrichtungen ›nord‹, ›sud‹, ›est‹ und ›ouest‹, wobei der Buchstabe für den Norden sich auf der Bühne an der tatsächlichen Himmelsrichtung ausrichtet. Der Platz des ›N‹ und der anderen Buchstaben ist mithin von Vorstellung zu Vorstellung verschieden. Die Bühne als Aktionsfläche wird so mit der Windrose eines Kompasses gleichgesetzt, die Aktionen der Tänzer mit dem Ausschlagen der Kompassnadel, die über die Windrose tanzt. Bereits hier erfolgt eine Verschiebung des Begriffs der Choreographie, die von Tänzern als Ausführenden und vom Theater als deren Rahmen abgelöst wird. Auch die mechanische Bewegung einer Nadel kann als Choreographie erachtet werden, befreit man sie von ihrer pragmatischen Dimension der Orientierung im Raum. Sind die Buchstaben, die das Geschehen auf der Bühne als immer schon sprachlich gerahmt ausweisen, einmal etabliert, tragen Seguette und Bel die zehn Objekte auf die Bühne, mit denen sie in den folgenden sechzig Minuten ihre Choreographie entwickeln. Ein Staubsauger, der Seguette auch als Sitzgelegenheit dient, ein Teppich, auf den die anderen Dinge gelegt werden, ein Salzfass, ein paar Schlittschuhe, ein Wörterbuch, ein Hocker, auf den sich Bel seinem Partner parallel zur Rampe gegenübersetzt, ein Ball, ein Geldschein, eine Taschenlampe und ein Föhn. Im Zentrum der Bühne hat sich so noch einmal eine kleine Insel etabliert, die in ihrem achsensymmetrischen Aufbau mit den beiden Akteuren an jeder Seite dem traditionellen Bühnenraum des klassischen Balletts entspricht. Eine ganze Weile halten sie nur simultan je ein Objekt in die Mitte: Seguette greift zum Wörterbuch, und Bel hält den Ball dagegen. Der Geldschein wird mit dem Salzfass, aus dem das Salz auf den Teppich gekippt wird, gepaart; der gelbe Ball mit der roten Taschenlampe, die ihn anstrahlt. Der Teppich wird um 3 | Gerald Siegmund, »Jérôme Bel«, in: Hall of Fame. Jahrbuch Ballettanz 02, Berlin: Friedrich Verlag, 2002, S. 24-31, hier: S. 26.

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320 | Abwesenheit einhundertachtzig Grad gedreht, so dass die Gegenstände die Seiten wechseln. Mit der Zeit werden die Aktionen und Verbindungen immer komplexer, wobei deutlich wird, dass auch die Tänzer nichts anderes sind als zwei weitere Objekte, die sich als solche behandeln. In der Mitte der Bühne werden alle Gegenstände in den Teppich eingewickelt, verborgen und dem Blick entzogen. Seguette und Bel legen sich eingerollt davor und dahinter, so dass die drei Körper eine Diagonale von hinten rechts nach vorn links bilden. Objekte und Körper liegen hier in der Tat auf einer Linie. Auf diese Art entstehen darüber hinaus Verkettungen, die die Objekte im Raum verteilen. So bläst der eine den Geldschein mit dem Föhn über eine zuvor ausgestreute Linie aus Salz, während der andere am Ende der Linie auf den Schein tritt, um ihn zu stoppen.

Auch kleine Pas de deux werden inszeniert. Das Salzfass ergießt sich auf den Teppich, während es auf den Schlittschuhen sitzt und von ihnen gestützt wird. Auf dieses Zusammenziehen der Aktion auf einen Punkt im Raum erfolgt die Dispersion der Objekte und ihre Ausbreitung im Raum. Bel saugt hinten rechts die Worte aus dem aufgeschlagenen Wörterbuch, eine Art Nullpunkt der Bedeutung von Worten, während sie der Föhn vorne links Seguette ins Gesicht bläst, so dass er sie aussprechen kann. Nicht nur Körper und Objekte befinden sich auf einer Ebene. Alle Objekte sind hier die sprechenden Elemente einer Choreographie. Auch die Worte sind Objekte, und die Objekte Worte. Obwohl in der Aufführung kaum gesprochen wird, ist nichts stumm. Am Ende wird die Windrose nach links verschoben, auf dass alle Objekte ins Off getragen werden, nur um anschließend nach rechts zu wandern, bis nur noch das ›O‹ in der Kulisse steht. Wie die Tänzer treten die Objekte durch die seitlichen Gassen auf und ab. Doch zum Applaus kommen sie alle wieder zurück. Seguette und Bel tragen alle Objekte wieder auf die Bühne und platzieren sie in der Mitte unmittelbar vor

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der Bühnenrückwand. Aus drei der Buchstaben bilden sie mit Hilfe der Gegenstände das Wort ›FIN‹. Nom donné par l’auteur bringt vom Pas de deux bis zur Corps Formation, von der Diagonalen über Reihen bis hin zu Kreisen, von den Auf- und Abtritten bis hin zu Tableaus, von Symmetrien bis zu Parallelismen, sämtliche idealtypischen Elemente einer klassischen Choreographie auf die Bühne. Dabei macht das Stück deutlich, dass auf der Ebene der Choreographie auch der Tänzer nur ein Objekt ist, das dazu dient, die Choreographie erscheinen zu lassen.

1.2

Roland Barthes und der Nullpunkt der Literatur

In einer Ausstellung über Roland Barthes, die im Herbst 2002 im Centre Pompidou in Paris stattfand, gehörte auch die Videoaufzeichnung eines Stücks von Jérôme Bel zu den Exponaten. Der Grund, warum er Theaterund Tanzstücke mache, wurde Bel zitiert, liege darin, dass sie es ihm ermöglichten, Roland Barthes zu lesen.4 In der Tat hat sich Bel in Interviews immer wieder auf den französischen Denker bezogen, dessen Analysen und Reflexionen über Kunst und Kultur er auf den Bereich des Tanzes übertragen hat. Als Folie für seine ersten Stücke Nom donné par l’auteur und Jérôme Bel hat er selbst Roland Barthes erstes Buch aus dem Jahr 1953, Am Nullpunkt der Literatur, ins Spiel gebracht.5 Worin liegen die Bezüge zu Bels Stücken? Auf welche Begriffe und Konzepte zielt Bel ab, wenn er Roland Barthes zitiert? Roland Barthes unterscheidet in Am Nullpunkt der Literatur drei Begriffe, die literarisches Schreiben kennzeichnen. Sprache, Stil und Schreibweise stellen für Barthes die drei Dimensionen der literarischen Form dar, auf die der Schriftsteller auf je spezifische Weise zurückgreifen muss. In Auseinandersetzung mit Marx und Jean-Paul Sartre versucht Barthes mit Hilfe der Schreibweise die Utopie einer engagierten Literatur zu entwickeln, deren Engagement in der Form des Kunstwerks begründet liegt und nicht in seiner inhaltlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen.6 Die Sprache (langue) stellt für Barthes zunächst den allgemeinen Horizont einer möglichen Aussage dar. Jeder Schriftsteller ist gezwungen, 4 | Marianne Alphant, »A propos Roland Barthes«, in: Marianne Alphant/ Nathalie Léger (Hg.), R/B-Roland Barthes, Paris: Édition Seuil-Éditions du Centre Pompidou-Imed, 2002. 5 | Vgl. Gerald Siegmund, »Im Reich der Zeichen: Jérôme Bel«, in: Ballett International/Tanz Aktuell 5 (April 1998), S. 34-37, hier: S. 35; Gerald Siegmund, »Jérôme Bel«, in: Hall of Fame., op. cit., S. 29. 6 | Vgl. Ottmar Ette, Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S. 59-82.

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322 | Abwesenheit auf sie zurückzugreifen; sie ist »nur Reflex ohne Wahl, das ungeteilte Eigentum aller Menschen, nicht das der Schriftsteller«.7 Um die allgemeine Sprache, die niemandem gehört, zur bestimmten Sprache eines Schriftstellers zu machen, bedarf es des Stils. Der Stil stellt für Barthes fast so etwas wie einen Impuls oder eine Triebregung dar. Er ist »eine Erscheinung keimartiger Natur, er ist die Transmutation eines ›humors‹, eines Lebensgefühls.«8 Sowohl Sprache als auch Stil sind etwas Gegebenes, dem Schriftsteller Vertrautes, ohne dass er mit ihnen eine gesellschaftliche Haltung artikulieren könnte. Dazu bedarf es des dritten Begriffs, den der Schreibweise. Barthes entwickelt ein Achsenmodell, in dem die Sprache als Vertrautheit mit der Geschichte die Horizontale einnimmt, der Stil als Tiefenschicht, die in die Vergangenheit des Schriftstellers führt, die Vertikale. Die Schreibweise ist dagegen ein Vektor, der quer zu den anderen steht. Er geht durch Sprache und Stil hindurch und zielt auf den geschichtlichen und gesellschaftlichen Ort des Schreibens. Sprache und Stil sind blinde Kräfte, die Schreibweise ist ein Akt historischer Solidarität; Sprache und Stil sind Objekte, die Schreibweise ist eine Funktion: sie bedeutet die Beziehung zwischen dem Geschaffenen und der Gesellschaft, sie ist die durch ihre soziale Bestimmung umgewandelte literarische Ausdrucksweise, sie ist die in ihrer menschlichen Intention ergriffene Form, die somit an die großen Krisen der Geschichte gebunden ist.9

Als Funktion ist die Schreibweise zum einen wandelbar, zum anderen immer schon als relationales Phänomen bestimmt. Sie spielt sich zwischen zwei Elementen ab, dem Werk und der Gesellschaft, und öffnet damit das geschlossene Modell einer selbstbezüglichen Kunst auf deren historischen Ort und ihre gesellschaftliche Notwendigkeit. Die Schreibweise ist eine Art bewusster Strategie, sich in einem bestimmten Moment auf eine bestimmte Weise zu verhalten. In den Arbeiten von Jérôme Bel tritt nun die Funktion der Schreibweise 7 | Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, übers. von Helmut Scheffel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982, S. 15; »un refléxe sans choix, la propriété indivise des hommes et non pas des écrivains«; Roland Barthes, Ouevres complètes, hg. von Éric Marty, Band I 1942-1965, Paris: Seuil, 1993, S. 145. 8 | Ibid., S. 17; »Le style est proprement un phénomène d’ordre germinatif, il est la transmutation d’une Humeur«; ibid., S. 146. 9 | Ibid., S. 20-21. »Langue et style sont des forces aveugles; l’écriture est un acte de solidarité historique. Langue et style sont des objets; l’écriture est une fonction: elle est le rapport entre la création et la société, elle est le langage littéraire transformé par sa destination sociale, elle est la forme saisie dans une intention humaine et liée ainsi aux grandes crises de l’Histoire«; ibid., S. 147.

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in den Vordergrund, weil er eine Tanzsprache im Sinne eines universal gültigen Codes und Vokabulars und einen Stil im Sinne eines Ausdrucks abwesend macht und in eine latente Position rückt. Bel formuliert in bezug auf sein zweites Stück Jérôme Bel die Gründe für die Abwesenheit von Sprache und Stil folgendermaßen: Zwei Sachen wollte ich vermeiden: den erotischen Körper und den perfekten, muskulösen Körper, den Körper als Krieger. Sex und Macht: beides sind in unserer gesamten Kultur – nicht nur im Tanz – die vorherrschenden Repräsentationen des Körpers. Ich habe den Körper, das primäre Instrument des Tanzes, daraufhin untersucht, wie ich ihm seine gängigen Zeichen verweigern kann.10

Das Zitat skizziert einen größeren gesellschaftlichen Horizont, in dem Körper im Allgemeinen und tanzende Körper im Besonderen dem Markt anheim gestellt sind, der ihren Wert über ihre (sexuelle) Potenz bestimmt. Die Virtuosität, mit der Choreographen und Tänzer seit der Explosion des freien Tanzes in den achtziger Jahren mit verschiedenen Techniken und Stilen umgehen, schließt den Tanz mit dem Markt kurz.11 Wenn heute, wie Baudrillard glaubt, schöne Körper überall sind, wenn sie unaufhörlich in Musikvideos tanzen und in der Werbung Konsumprodukte und Lebensstile verkaufen, was bleibt vom Tanz, dessen Instrument eben jener Körper ist, der, durch Training und Technik potent gemacht, uns doch, wie es die Moderne wollte, zur (inneren) Wahrheit oder zurück zur Natur führen sollte? In einer Gesellschaft, in der Flexibilität und Mobilität von Kapital und Menschen zum Imperativ geworden sind, setzt sich der Tanz, dessen Mittel zur Kommunikation doch die unendlich flexible Bewegung ist, dem Verdacht aus, nur mehr die Mechanismen einer globalisierten Wirtschaft abzubilden. Vor diesem Hintergrund markiert Jérôme Bels Schreibweise genau jenen Moment der Sättigung und der Abkehr, um dem Bühnentanz jenen Spielraum der Reflexion zurückzugeben, der durch die Besetzung seiner Prinzipien durch den Markt verloren gegangen ist.12 Doch wie kann man diese Schreibweise genauer bestimmen? Aus den 10 | Siegmund, »Im Reich der Zeichen«, op. cit., S. 36. 11 | Vgl. Kapitel I.2. 12 | Von Veranstaltern im Bereich Tanz wurde der Zusammenbruch des Marktes für zeitgenössischen Tanz des alten Stils seit Ende der neunziger Jahre vielfach festgestellt oder, je nach persönlicher Vorliebe, sogar beklagt. Der Wechsel zu jener anderen Schreibweise, für die Jérôme Bel ein frühes Beispiel ist, wird in diesem Fall oft als Sackgasse verstanden, aus der sich der Tanz wieder befreien muss. Vgl. am deutlichsten »Ein Neubeginn. Gerald Siegmund spricht mit Dieter Buroch über die Zukunft des Künstlerhauses Mousonturm in Frankfurt«, in: Tanzjournal 1 (April 2003), S. 68-70.

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324 | Abwesenheit generellen Möglichkeiten der Bewegung, die an sich keine Sprache ist, und den zahlreichen Sprachen des Tanzes, so etwa dem Ballett oder den Techniken des Modern und Postmodern Dance, wählt er keine aus. Die rein funktionalen Bewegungen, die die Figuren auf der Bühne ausführen, um die Gegenstände in Nom donné par l’auteur zu bewegen, sind zudem in keiner Weise individuell geformt und stilistisch überhöht. Sie werden mit keiner bestimmten Energie ausgestattet und mit keiner anderen Intention ausgeführt, als ihre Funktion zu erfüllen. Die Bewegung rückt nicht als bedeutende Bewegung oder als individueller Ausdruck des Choreographen ins Blickfeld. In der entsubjektivierten objektiven Darstellung von Regeln, die für alle Stücke von Jérôme Bel zentral ist, wird die Relation zwischen Bühne und Zuschauerraum hervorgehoben. Das Geschaffene und die gesellschaftliche Situation, wie Barthes schreibt, werden bei Bel auf das Verhältnis Bühne Zuschauerraum abgebildet. Die Abwesenheit von Tanz-Sprache und Stil lässt die Schreibweise in den Vordergrund treten und zwar in dem Sinne, dass die gesellschaftliche und soziale Funktion der Theatersituation ins Zentrum der Untersuchung rückt. Die Abwesenheit des Tanzes spielt den metaphorischen Ball den Zuschauern zu, die keine idealen Körper und schönen Seelen mehr konsumieren können. Statt dessen müssen sie sich ihrer Position gegenüber dem Gezeigten als aktive Mitspieler bewusst werden, die ebenso wie die Tänzer auf der Bühne an den gleichen Funktionsmechanismen unserer Kultur teilhaben. Bels erste beiden Stücke sind das Äquivalent zu dem, was Roland Barthes als »neutrale Schreibweise«, als »écriture blanche«, beschreibt, die er bei Albert Camus auszumachen glaubt.13 Ob man mit Barthes’ Analyse von Camus Werk übereinstimmt oder nicht, ist in diesem Fall unerheblich. Wichtig sind die von Barthes in diesem Zusammenhang getroffenen Feststellungen über die Schreibweise, die sich nahtlos auf die Arbeiten am Tanz von Jérôme Bel übertragen lassen. Die Neutralität der Schreibweise stellt zunächst eine Befreiung »von aller Unterwerfung unter eine gekennzeichnete Ordnung der Sprache« dar.14 Das Nichtgekennzeichnete verharrt im Modus des Indikativs, des Feststellens, und lehnt somit jede unerwünschte Komplizenschaft mit dem historischen Ballast und dem Mythischen der Sprache, mithin mit Sprache und Stil, ab. Sie steht inmitten all der anderen, pathetischen oder instrumentalisierten Schreibweisen, an denen sie ex negativo Teil hat als deren Abwesenheit, »doch diese Abwesenheit ist vollständig, sie birgt keinen Zufluchtsort und kein Geheimnis.«15 Ebenso wenig wie Barthes’ neutrale Basis-Sprache der Literatur oder der Alltagssprache ange13 | Barthes, Nullpunkt, op. cit. S. 88-91; Oeuvres complètes, op. cit, S. 179-180. 14 | Loc. cit. 15 | Ibid., S. 89; »mais cette absence est totale, elle n’implique aucun refuge, aucun secret«; ibid., S. 179.

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hört, ist auch Bels Tanz weit vom Bühnentanz jedweden Stils wie von der Alltagsbewegung entfernt. Schließlich ist auch er geformt und wird trotz ihrer indikativen Funktionalität auf einer Bühne vor Publikum präsentiert. Der Gewinn dieser bewussten Geschichtslosigkeit im doppelten Sinn als Abwesenheit einer erzählten Geschichte und als Abwesenheit einer Tradition ist eine Art von Ehrlichkeit, die das Denken des Schriftstellers oder Choreographen als einem, der mit Bewegungen schreibt, nicht aus seiner Verantwortlichkeit entlässt. Hier wird nichts der Geschichte übereignet, die den Autor entlasten könnte. Wenn die Schreibweise wirklich neutral ist, wenn die Ausdrucksform, statt ein lästiger unbezähmbarer Akt zu sein, zum Zustand einer reinen Gleichung wird, die angesichts der Leerheit des Menschen keine andere Dichte hat als eine algebraische Aufgabe, dann ist die Literatur besiegt, die menschliche Problematik ist entdeckt und wird ohne Färbung dargeboten, der Schriftsteller ist wieder ein ehrlicher Mensch.16

Ohne Eleganz oder Ausschmückungen stellt Jérôme Bel in Nom donné par l’auteur algebraische Gleichungen auf: ein gelber Ball plus eine rote Taschenlampe, ein Geldschein plus ein Salzfass, oder komplexer: ein Buch, dessen offene Seiten um ein Stuhlbein gelegt werden gleich den Beinen eines Darstellers, oder ein Objekt plus ein menschlicher Körper und letztlich auch: ein Tanzstück minus Tanz gleich Choreographie. Im Schweigen des Tanzes, das das ›Nein‹, le non, des Autors dem Stück auferlegt hat, zu existieren, heißt nach Barthes, die menschliche Problematik zu entdecken. Doch die »Leerheit des Menschen«,17 das ausdruckslose Ausführen der Aktionen, nimmt bei Bel eine andere Färbung an als die existentialistische Dimension, die dem Kontext der frühen fünfziger Jahre, in denen das Buch geschrieben wurde, geschuldet sein mag. Das französische Original spricht nicht von einer »Leerheit des Menschen«, sondern von »le creux de l’homme«, das man auch mit ›Höhlung‹ oder ›Aushöhlung‹ übersetzen kann.18 Was hier ausgehöhlt wird, um in seiner Dichte mit einer algebraischen Formel gleichgesetzt zu werden, ist die Vorstellung, mit dem tanzenden Körper eine Wahrheit aussprechen zu können, die unabhängig von ihrem Kontext oder ihrer zeichenhaften Verfasstheit im Verborgenen existierte. Werden die beiden Tänzer auf die gleiche Stufe gestellt wie die Ob16 | Ibid., S. 90-91; »Si l’écriture est vraiment neutre, si le langage, au lieu d’être un acte encombrant et indomptable, parvient à l’état d’une équation pure, n’ayant pas plus d’épaisseur qu’une algèbre en face du creux de l’homme, alors la Littérature est vaincue, la problématique humaine est découverte et livrée sans couleur, l’écrivain est sans retour un honnête homme«; ibid, S. 180. 17 | Ibid., S. 90. 18 | Vgl. Kapitel II.9.

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326 | Abwesenheit jekte, mit denen sie wechselnde Verbindungen eingehen, wird die Vorstellung von Subjektivität als wesenhaft erfüllter ausgehöhlt. Die Subjekte in Jérôme Bels Stück markieren eine Abwesenheit, die den Ort des Subjekts innerhalb der symbolischen Ordnung des Theaters als Leerstelle kenntlich macht. Innerhalb der symbolischen Sprache der Choreographie ist das Subjekt nichts anderes als ein einem Personalpronomen vergleichbarer Shifter, hinter dem die Erfahrungen des Subjekts im gleichem Moment verschwinden, wie sie sagbar werden. Als Objekte blicken uns die Subjekte auf der Bühne als Punkte innerhalb der symbolischen Ordnung an, um die Ordnung hervorzuheben. Erst durch die mathematischen Zeichen der Gleichungen, deren Ergebnis nicht unabhängig von ihren jeweiligen (choreographischen) Verknüpfungen in der Zeit zustande kommen kann, gelangen wir zur Bedeutung. Die existentielle Dimension, die der Autor in Nom donné par l’auteur offen legt, ist mithin die Uneinholbarkeit des Körpers, der immer schon sprachlich gerahmt und damit in seiner Eigentlichkeit verstellt ist. Durch die Aushöhlung im Bühnenraum wird diese Abwesenheit sichtbar. Die Aushöhlung markiert den Punkt, an dem die symbolische Ordnung den Zuschauer anblickt und ihn anspricht. Das Spiel mit der Homonymie von nom, ›Name‹, und non, ›nein‹, markiert den Eintritt des Tanzes in die Ordnung der Sprache unter Negation seiner anderen Möglichkeiten. Gleichzeitig weist es Jérôme Bel als Begründer, als ›Vater‹ eines Diskurses über Tanz aus, der die Sprachlichkeit von Körper und Choreographie zum Thema macht. Die Ehrlichkeit, die der Schriftsteller-Choreograph durch diese Operation erlangt, liegt darin, zu sagen: »Seht her! Ihr seid es, die den Dingen eine Bedeutung zuschreibt.« Die Lösungen der Gleichungen und Operationen obliegen allein den Zuschauern. Nom donné par l’auteur ist der Versuch, auf der Basis einer neutralen Schreibweise Potentiale zu öffnen, die das Verhältnis von Tanz und Publikum überdenken und überprüfen. Bels Stücke plädieren in diesem Sinn für eine Vertragsverlängerung zwischen Bühne und Zuschauerraum, die dahin führt, das Bühnengeschehen nicht mehr als eine abgeschlossene Welt zu betrachten, sondern es als Extension des Zuschauerraums in seiner gesellschaftlichen und kulturellen Bedingtheit zu verstehen. Diese Verstelltheit des Körpers rückt in Bels zweitem Stück, Jérôme Bel, ins Zentrum der Betrachtung.

2 2.1

Die Diskurse des Körpers Jérôme Bel

Am Nullpunkt der Schreibweise, wie die deutsche Übersetzung von Barthes Buch korrekt heißen müsste, sieht sich der Choreograph mit der Abwesen-

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heit eines ›natürlichen‹ Körpers konfrontiert. »Der Körper ist nicht das Heiligtum der Wahrheit« sagt Jérôme Bel, »der Authentizität oder der Garant der persönlichen Identität. Er ist dem Kulturellen, Politischen und Geschichtlichen zutiefst unterworfen.«19 Um diese Unterworfenheit auszuspielen, inszeniert Bel einen Nullpunkt der Theater- und Tanzaufführung, indem er deren konstitutive Elemente isoliert und präsentiert. Entkleidet ist die leere Bühne, entkleidet sind die vier Körper, die sie betreten. Drei nackte Frauen und ein nackter Mann betreten nacheinander die Bühne. Alle vier sind keine klassischen Schönheiten, ganz normale, typische Frauen- und Männerkörper verschiedenen Alters, weder dick noch dünn, nicht zu muskulös oder gar als Tänzerkörper identifizierbar. Eine ältere Dame (Gisèle Tremey) hält eine nackte Glühbirne am Kabel in der Hand, die einzige Lichtquelle des ganzen Stücks, und schreibt mit Kreide »Thomas Edison« an die Rückwand, bevor sie zur Rampe geht und sich auf den Boden legt. Nach ihr betritt vom Zuschauer aus gesehen von hinten rechts Yseult Roch auf und fügt »Stravinsky, Igor« hinzu, stellt sich unter den Schriftzug und singt den ganzen Abend mit sanfter Stimme tadellos die Partitur von Strawinskys Le Sacre du Printemps. Die Tänzerin Claire Haenni und der Tänzer Frédéric Seguette schreiben ihre Namen links von der Mitte daneben und geben darunter Alter, Größe, Gewicht, Kontostand und Telefonnummer an, als wollten sie als Privatpersonen und nicht als Bühnenfiguren mit dem Publikum kommunizieren. Zusammen stellen sie nichts Geringeres dar als die vier Grundprinzipien einer Tanzaufführung: Licht, Musik, ein männlicher und ein weiblicher Körper in einem Raum, die sich in den folgenden 50 Minuten des Stücks gegenseitig erhellen und untersuchen.20 Ein wesentliches Element der Aufführung ist die Beschriftung der Körper von Claire Haenni und Frédéric Seguette. Haenni sitzt auf dem Boden, das linke Bein aufgestellt und holt einen roten Lippenstift aus ihrer Mundhöhle hervor. Sie schreibt »Christian Dior«, den Namen des Herstellers des Lippenstifts, auf ihr linkes Bein und vergisst auch nicht, den Preis auf ihrem rechten Bein zu notieren. Sie steht auf und beginnt, auf ihrer Taille und Brust den Umriss eines Korsetts zu zeichnen, das ihr Seguette mit einem roten Strich entlang ihrer Wirbelsäule verschließt. Er schreibt sich sein Geburtsdatum um den Bauchnabel; sie das Datum ihres ersten Geschlechtsverkehrs um den Schambereich. Selbst unmittelbare körperliche Reaktionen wie Schmerz oder das Lachen, wenn man gekitzelt wird, werden 19 | Siegmund, »Jérôme Bel«, op. cit., S. 27. 20 | Das Stück hatte am 1. September 1995 in Brüssel Premiere. Ich habe es im Frühjahr 1998 im Mousonturm Frankfurt am Main gesehen. Jérôme Bel, the Film von Luciana Fina wurde mir dankenswerterweise von der Kompanie zur Verfügung gestellt.

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328 | Abwesenheit in sprachliche Zeichen übersetzt. Frédéric Seguette schreibt sich »Aie«, also »aua«, in die Handfläche und schlägt damit Claire Haenni, so dass sich das Wort anstelle des Ausrufs auf ihrer Haut abdrückt. Wenig später kitzelt er sie mit dem Wort »Ha« auf ihren Fußsohlen. Er malt ihr ein anatomisches Herz auf die linke Rückenpartie, das anfängt zu pumpen, sobald er ihr von hinten für das Publikum unsichtbar an der Brust zieht. Sie malt ihm das Sternbild des großen Wagens auf die rechte Rückenhälfte.

Danach bewegt sich Gisèle Tremey mit dem gelblich fahlen Licht, das die Szenen beleuchtet hatte, nach hinten zur Rückwand und taucht die vordere Bühnenhälfte in Dunkel. Während Claire Haenni von der Dunkelheit beschützt wird, bleibt Frédéric Seguette bei der nächsten Aktion für das Publikum sichtbar. Beide urinieren auf die Bühne, tauchen ihre Hände in den Urin und fangen an, ihre Daten auf der Rückwand damit auszuwischen. Yseult Roch befeuchtet sich ihre Hände zunächst mit ihrem Achselschweiß, bevor auch sie in die Pfütze greift, um »Stravinsky, Igor« in »Sting« zu verwandeln. Kaum erscheint der Name des britischen Popsängers auf der Wand, fängt sie an, dessen Lied »An Englishman in New York« zu singen. Ein Mann, der Eric heißt und ganz und gar angezogen bleibt, betritt die Bühne und stellt sich daneben.21 Nachdem Haenni und Seguette den Schriftzug »Eric chante Sting«, »Eric singt Sting«, gebildet haben, übernimmt er das Lied. Wenn er fertig ist, ist auch das Stück zu Ende. Vergleichbar mit Nom donné par l’auteur ist auch Jérôme Bel ein Stück, das aus der Verknüpfung weniger Elemente lebt. Nichts tritt von außen hinzu, Veränderungen werden nur durch Elemente bewerkstelligt, die, wie der 21 | »Eric« wurde im Laufe der Jahre von insgesamt sechs verschiedenen Darstellern gespielt, die alle mit Vornamen Eric hießen.

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Lippenstift und der Urin in den Körpern der Tänzer, bereits auf der Bühne sind. Durch die Beschriftung der Körper bringt Bel diese mit verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Bereichen in Verbindung, die den Körper formen, prägen und letztendlich auch hervorbringen. Vom Diskurs der Medizin über die Astrologie hin zur Mode ist der Körper verschiedenen Wissensbereichen ausgesetzt, die ihren je spezifischen Körper durch ihre Praxis erzeugen. So ist Christian Dior, der Modezar, der nach dem zweiten Weltkrieg mit seinen Wespentaille-Kleidern Furore machte, für Bel nur ein weiterer Erfinder von Körperbildern, die in unserem kulturellen Gedächtnis abrufbar sind. Zwischen all jenen Bildern, medial gespeichert und unendlich kombinierbar, verortet sich Bels Körper, der, je nach dem Wissensbereich, mit dem er in Beziehung gesetzt wird, immer wieder neu hervorgebracht wird. Die Abwesenheit von Tanzsprache und Stil führt in Jérôme Bel jedoch nicht zur Präsenz der Choreographie. Sie legt eine Vorstellung eines performativ hervorgebrachten Körpers nahe, eines Körpers, der, noch bevor er auf der Bühne agiert und interagiert, durch gesellschaftliche Einschreibepraktiken erzeugt wird. Es sind diese Einschreibungen von sich überlagernden Mustern und deren Wiederholung, die Bel in seinem Stück in Szene setzt. Der Körper seiner Tänzer wird dabei zu einem lesbaren Palimpsest, dessen Spuren zum Teil verdeckt oder weggewischt werden wie die rote Farbe des Lippenstifts und der dennoch prägende Spuren im Körper hinterlässt. Wenn Jérôme Bel sagt, Jérôme Bel sei ein kritischer Diskurs »über den Körper mit den Mitteln des Körpers«,22 macht er dessen Abhängigkeit von der symbolischen Ordnung einer Kultur zum Thema. Der Körper wird enteignet; er ist nicht mehr der abgeschlossene Hort einer unhintergehbaren Identität. Er wird zum Austragungsort von Sprachen und kulturellen Praktiken, die miteinander in Konflikt treten. »Er ist eine Masse«, schreibt Michel Foucault, »die ständig abbröckelt.« Und weiter: [A]m Leib findet man das Stigma der vergangenen Ereignisse, aus ihm erwachsen auch die Begierden, die Ohnmachten und die Irrtümer; am Leib finden die Ereignisse ihre Einheit und ihren Ausdruck, in ihm entzweien sie sich aber auch und tragen ihre unaufhörlichen Konflikte aus.23

Doch diese Auseinandersetzung mit der Unterworfenheit des Subjekts unter die symbolische Ordnung hat eine Kehrseite, die das Stück auf hintergründige Weise thematisiert. Gerade weil der Ort des Subjekts in der symbolischen Ordnung ein problematischer bleibt, gerade weil die Sprache ih22 | Siegmund, »Jérôme Bel«, op. cit., S. 27. 23 | Foucault, »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«; op. cit., S. 91.

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330 | Abwesenheit rerseits auf einem Mangel als der Abwesenheit des ersten Signifikanten basiert, kommen die imaginären und realen Dimensionen ins Spiel.

2.2

Die Sensibilität des Realen

Nicht nur die Choreographie ist ein Text, der gelesen werden kann; auch der Körper ist ein offenes Buch, das entziffert werden will. Doch Jérôme Bel spielt in Jérôme Bel ein doppeltes Spiel. Hinter der fast schon barocken Rhetorizität des Körpers als kultureller Figur steht der nackte Körper der Tänzer, der Imaginäres freisetzt. Der Riss in der symbolischen Ordnung, die den Namen Jérôme Bel trägt und von diesem initiiert wurde, setzt Bilder frei, nach denen sich der Körper modellieren möchte. Dem Subjekt kommt auf der Ebene des Imaginären also nicht nur die Funktion des Abhängigen zu, sondern auch die des Produzierenden. André Lepecki hat in seinem Essay »Skin, Body, and Presence« auf die Nähe vieler zeitgenössischer Choreographen zur Performancekunst und Body Art der siebziger Jahre mit ihren ›expliziten Körpern‹ auf der Bühne hingewiesen. Den zentralen Unterschied zwischen beiden Praktiken macht er daran fest, dass der Tanz sich zum ersten Mal in seiner Geschichte seinem konstitutiven Problem der Flüchtigkeit stellt. Jérôme Bel insistiere auf einer »maniacally charged present«, indem er einen »historically dense body« choreographiere, der, wie es Peggy Phelans »ontology of performance« will, die Gegenwart mit Präsenz auflädt.24 Ein weiterer Unterschied zur Body Art, der nicht minder zentral ist und den Lepecki nicht erwähnt, beruht in der Zeichenhaftigkeit der ausgespielten Erfahrungen. Ritzte sich Marina Abramovic in ihrer Performance Thomas Lips 1975 mit einer Rasierklinge einen fünfzackigen Stern in den Bauch, malt Claire Haenni Frédéric Seguette ein Sternbild auf die Schulter. Performancekünstler und -künstlerinnen wie Marina Abramovic, Gina Pane, Vito Acconci oder Chris Burden setzten ihren Körper aufs Spiel, um an seinen Grenzen Fragen nach der Repräsentation von Weiblichkeit und Männlichkeit zu stellen. Damit verbunden waren Fragen nach spiritueller Erneuerung, dem Opfer, und der Möglichkeit, den Vertrag des Künstlers mit der Gesellschaft, in und für die er oder sie arbeitet, zu überdenken und zu erproben.25 Jérôme Bel dagegen arbeitet mit Zeichen und Bildern. Nicht der Körper als realer und verletzbarer kommt in erster Linie ins Spiel. Vielmehr werden Körperbilder 24 | André Lepecki, »Skin, Body, and Presence in Contemporary European Choreography«, in: TDR 43 (April 1999), S. 129-140, hier: S. 130. 25 | Vgl. dazu Marina Abramovic, Artist Body. Performances 1969-1997, Mailand: Charta, 1998; Kathy O’Dell, Contract with the Skin. Masochism, Performance Art and the 70’s, Minneapolis/London: University of Minnesota Press, 1998; Jones, Body Art. Performing the Subject, op. cit.

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entworfen, die den realen Köper bei aller Nacktheit zunächst einmal überdecken. Ein anderes Imaginäres rückt ins Blickfeld, das nicht über das Phantasma des Realen an Verletzung, Schmerz und deren Folgen für die symbolische Ordnung interessiert ist, sondern an der unendlichen kulturellen Produktion von Bildern und Bewegungen, die die Vorstellung eines selbstidentischen Subjekts pulverisiert. Es gibt kein Echtes hinter dem Falschen mehr. Vielmehr konstituiert sich das vermeintlich Echte immer schon über das vermeintlich Falsche. Bels Körper dienen als Projektionsfläche für imaginäre Entwürfe des Körpers, die potentiell unabschließbar sind. Das Erfinderische und Verspielte erzeugt einen gewissen Humor und eine Leichtigkeit, die allen Stücken Bels eigen sind. In seinem dritten Stück, Shirtologie, das er 1997 in Lissabon für den Tänzer Miguel Pereira entwickelt hat und das seither von Frédéric Seguette getanzt wird, spielt er die Enteignung des Körpers durch die kapitalistische Konsumgesellschaft an diese zurück. Mit gesenktem Blick steht der Tänzer auf der Bühne und zieht sich ein T-Shirt nach dem anderen über den Kopf wie eine Zwiebel, die geschält wird. Auf die T-Shirts sind verschiedene Werbeslogans gedruckt, die einerseits den Körper erneut als lesbaren Körper markieren, andererseits aber auch Entwurfscharakter haben, sich den Träger als bestimmtes Subjekt vorzustellen. »Just do it«, »New Man« oder »Chanel« haben Appellcharakter, der dadurch in den Vordergrund tritt, dass die Menschen, die damit aufgerufen werden, im Aufführungstext abwesend, mithin vom Zuschauer imaginierte sind. »Es funktioniert doch so, dass die T-Shirts, die mit ihren Werbeslogans eigentlich den Triumph des Kapitalismus vorführen, wenn man sie in eine bestimmte Ordnung bringt, es dem Träger erlauben, einen ganz persönlichen Diskurs zu produzieren, der die herrschende Ideologie unterläuft.«26 Dennoch hat Lepecki recht, wenn er in Jérôme Bel das sprachliche Verfahren der Bedeutungserzeugung unterlaufen sieht. Lepecki macht dies vor allem an einer Szene des Stücks fest, in der Frédéric Seguette auf dem Boden sitzend mit dem Lippenstift jene Körperpartien mit einem Kreuz markiert, die in der aufrecht stehenden Position des Körpers nicht zu sehen sind: die beiden Fußsohlen, die beiden Achselhöhlen, die beiden Handflächen, die beiden Augenlider und die Rückseite des Penis. Lepecki setzt die 26 | Siegmund, »Jérôme Bel«, op. cit., S. 27; Bel beschreibt mit diesem Zitat eine Strategie der Populärkultur, wie sie Michel de Certeau in Kunst des Handelns entwickelt hat. Die produktive und subjektive Verwendung (auch im Sinne von ›entführen‹ oder ›stehlen‹) von Zeichen markiert den Freiraum des Subjekts innerhalb der kapitalistischen Ordnung. John Fiske baut auf de Certeaus Studie seine gesamte Theorie des Populären auf; Michel de Certeau, Kunst des Handelns, übers. von Ronald Vouillé, Berlin: Merve, 1988; John Fiske, Understanding Popular Culture, Boston/London: Unwin Hyman, 1989.

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332 | Abwesenheit an Stigmata erinnernden Markierungen Wunden gleich, in denen die Signifikation ausblutet. This hole-that-punctures initiates a hermeneutics of the wound, where the power of the image becomes the power of its excessive bleeding of signification. Meaning becomes a bleeding wound. It is in this juncture that the marking of the body in Jérôme Bel transcends writing.27

Die Hermeneutik der Wunde öffnet den Körper, so dass die Wunden zu »points of entrance for interpretation« werden.28 Nun wird in diesen Zitaten ganz und gar nicht klar, warum die Markierungen von Wunden die Schrift und ihre Lektüre transzendieren sollen. Statt eines Zusammenbruchs der Signifikation, wie es seine Intention war, beschreibt Lepecki hier einen Exzess an Signifikation, ein Lesen und Schreiben, das unendlich ist und sich selbst generiert und fortsetzt. Vielleicht führt er deshalb ein zweites Argument an, das mit der Ontologie der Performance zusammenhängt. Nachdem Seguette sich die symbolischen Wunden zugefügt hat, steht er auf und bringt sie zum Verschwinden. Lepecki liest die Szene als Allegorie auf das unumgängliche Verschwinden der Performance und die Zeitlichkeit des Tanzes, der, gerade weil er verschwinden muss, die Gegenwart manisch auflädt. Zwischen der Präsenz der Wunden und ihrer Abwesenheit, ihrem Geheimnis, das nur ihr Träger kennt, öffnet sich ein Zwischenraum, der offen ist für Interpretation. Das Punktieren des Aufführungstextes mit Abwesenheit, die auch hier für die Ontologie der Performance zentraler ist als die Präsenz, erscheint daher als Voraussetzung der Signifikation und weniger, wie Lepecki meint, als deren Aussetzen. In dem Stück gibt es aber außer den schon beschriebenen Szenen noch eine andere Serie von Szenen, die das Transzendieren der Schrift für mein Empfinden eher zu leisten scheinen. In einer Szene relativ am Anfang des Stücks tritt Claire Haenni nach vorne und zieht ihre Bauchfalten nach oben. Als männliches Pendant stülpt sich wenig später Frédéric Seguette seinen Hodensack über den Penis. Beide suchen ihre Körper nach Muttermalen und Leberflecken ab, auf die sie mit ihren Fingern zeigen. Mit Spucke reibt sich Frédéric Seguette die Haare auf seinen Armen und Beinen zu kleinen Kreisen. Ein Klaps auf den Hintern lässt die Haut erröten. Hier werden akustische und taktile Reize ins Spiel gebracht, die auf die Materialität des Körper-Signifikanten zurückzuführen sind und nicht auf dessen Beschriftung. Gerade hier tritt die Doppelbödigkeit des Stücks zu Tage. Sind es doch einfache Reiz-Reaktionsschemata, die noch diesseits einer möglichen Signifikation liegen und die die Lesbarkeit der Körper zugunsten einer sinnli27 | Lepecki, op. cit., S. 133. 28 | Ibid., S. 132.

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chen Wirkung aufheben. Diese physischen Reaktionen werden im Stück stets gedoppelt von den Zeichen für Erröten oder Schmerz (der rote Lippenstift, mit dem Flecken auf die Haut gemalt werde, der Schmerz mit dem Wort »Aie!«, das auf die Haut geschlagen wird). Auf diese Weise wird der Körper sichtbar von Sprache besetzt, ohne dass dieser Prozess die körperlichen Reaktionen auslöschen könnte. Bel selbst beschreibt in einem Interview die Wirkung dieser Szenen wie folgt: Ich möchte, daß der Zuschauer vom Voyeur zum Komplizen wird, daß er sich mit der Nacktheit der Körper auf der Bühne und deshalb auch mit seinem eigenen Körper wohl fühlt. Wenn ich auf der Bühne meine Haut streichele, löst das etwas im Zuschauer aus. Wenn Claire ihre Haare zwischen die Beine von Frédéric steckt, ist das lustig, weil es mit der Idee von Männlichkeit und Weiblichkeit spielt. Wenn sie die Haare aber wieder zurückzieht, höre ich, wie im Zuschauerraum die Leute den Atem anhalten, als spürten sie die Haare auf ihrer eigenen Haut.29

An dieser Stelle muss man Lepeckis These radikalisieren. Es ist weniger das Verschwinden der Male, wie Lepecki argumentiert, das beim Publikum erstaunte Reaktionen hervorruft. Vielmehr ist es die Sensibilität der Stellen – die Unterseite des Penis‹, die Augenlider – die den Zuschauern das Gefühl einer Verletzbarkeit evozieren, die auch die ihre ist. Bel rührt damit an den traumatischen Kern jeder Subjektivität und jeder Tanzaufführung, die sie in Szene setzt. Die Körper in Jérôme Bel gehen weder in ihrer sprachlichen Funktion noch in ihrer imaginären Bildhaftigkeit auf. Der Zuschauer soll seine Position als Voyeur verlassen, in der er die Abwesenheit gerade nicht sehen will, sondern nur deren Supplemente in Form von Bildern und Sprache. Der Spalt zwischen der Bezeichnung und dem Körper, der bezeichnet wird, erzeugt wohlig-schaurige Phantomschmerzen, weil er – insofern hat Lepecki recht – offen wie eine Wunde bleibt. Diese springen direkt, vom inszenierten Körper zum wahrnehmend-empfindenden Körper ohne Umweg über den Intellekt ins Parkett über.30 An dieser Stelle kommt das Reale des Subjekts ins Spiel, das als solches uneinholbar und undarstellbar bleibt, aber als Wirkung zwischen Bühne und Parkett für die Lust am Text als Wirkungsüberschuss und als Faszination am Überschuss an Bildern und Sprache, die es produziert, verantwortlich ist.31 29 | Siegmund, »Im Reich der Zeichen«, op. cit., S. 37. 30 | Vgl. dazu Gerald Siegmund, »Von Monstren und anderen Obszönitäten. Die Sichtbarkeit des Körpers im zeitgenössischen Tanz«, in: Erika Fischer-Lichte/ Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit, 1999, S. 121-132. 31 | Pirkko Husemann hat auf diese Dimension hingewiesen in Ceci est de la danse. Choreographien von Meg Stuart, Xavier Le Roy und Jérôme Bel, Frankfurt am

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334 | Abwesenheit Lepecki setzt jene wunden Stellen im Bild mit dem Konzept des punctum gleich, das Roland Barthes in Die helle Kammer entwickelt hat. Im Gegensatz zum studium, das den Bildbetrachter als Angehörigen einer Kultur auszeichnet, der der Photographie Bedeutung und die gebührenden Affekte beimessen kann, zielt das punctum auf das plötzliche Durchkreuzen der Bedeutung. Das punctum springt dem Betrachter unvermittelt ins Auge, ausgelöst von einem kleinen Detail, und löst ein Begehren aus: »Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).«32 Barthes fährt fort, das punctum mit dem Tod zu verbinden: »Dieses punctum, das die Überfülle und die Buntscheckigkeit der Aktualitätsphotos mehr oder weniger ausradiert hat, tritt in der historischen Photographie klar lesbar zutage: immer wird hier die ZEIT zermalmt: dies ist tot und dies wird sterben.«33 Das Reale der Körper verweist in der Aufführung auf eine Katastrophe, die zwar nicht wie im Falle der historischen Photographie, um die es Barthes in dem Zitat geht, schon stattgefunden hat, die dafür aber noch stattfinden wird und zwar immer und immer wieder in jedem Moment. Vor diesem Hintergrund erzählt Jérôme Bel auch vom Verlust als anthropologischer Dimension der Abwesenheit. Das Verständnis des Tanzkörpers als Bildoberfläche und Sprachkörper, wie es Jérôme Bel inszeniert, hat Theoretiker wie Gabriele Klein dazu verleitet, den »Körper der Bezeichnung« dem »Körper der Erfahrung« wie er in der Tanzmoderne gedacht wurde, entgegenzusetzen. Mit der Freisetzung der Körperphysis verliert der Körper seinen Status als Vermittler sinnlicher Erfahrung. Indem das Spiel mit der Körperphysis in den Mittelpunkt rückt, geht die Aufmerksamkeit für die Einschreibungen in den Körper und die Normierungen der Körpersprache verloren.34

Main: (FK )medien, 2002, S. 93. Ob die Lust am Text allerdings, wie Husemann argumentiert, außerhalb der Sprache angesiedelt ist, sei dahingestellt. 32 | Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übers. von Dietrich Leube, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989, S. 36; »Le punctum d’une photo, c’est ce hasard qui, en elle, me point (mais aussi me meurtrit, me poigne)«; Roland Barthes, »La chambre claire«, in: Ouevres complètes, hg. von Éric Marty, Band III 1974-1980, Paris: Seuil, 1993, S. 1105-1200, hier: S.1126. 33 | Ibid., S. 106; »Ce punctum, plus ou moins gommé sous l’abondance et la disparité des photos d’actualité, se lit à vif dans la photographie historique: il y a toujours en elle un écrasement du Temps: cela est mort et cela va mourir«; ibid., S. 1175. 34 | Gabriele Klein, »Körper der Erfahrung – Körper der Bezeichnung. Leibliche Wirklichkeit im Tanz«, in: Tanzdrama 13 (April 1999), S. 27-31, hier: S. 31.

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Dem muss, nach all dem bisher Ausgeführten, widersprochen werden. In der Tat gibt es in Jérôme Bel keine Vermittlung zwischen Innen und Außen, jener Trennung, welche die Tänzerinnen der Moderne mit ihren verschiedenen ästhetischen Sprachen ideologisch zu überbrücken suchten. Es geht aber durchaus um eine sinnliche Erfahrung, die mit der Freisetzung der Körperphysis verbunden ist und die die Zuschauer zusammen mit den Körpern auf der Bühne machen können, um eine andere Art der Wahrnehmung der Körper, die vielleicht privater Natur ist, nichtsdestotrotz aber Wirkungspotential der Stücke ist. Nachdem Claire Haenni ihre Haut mit »Christian Dior« beschriftet hat, reibt sie einzelne Buchstaben wieder aus, verwischt sie zu einer roten Fläche, bis das Wort ›chair‹, ›Haut oder ›Fleisch‹, zum Vorschein kommt. Maurice Merleau-Pontys Konzept des Fleisches zielt auf einen Chiasmus von Sehen und Berühren über das Fleisch als Sprache hinweg, der in jeder Szene von Bels Stück geradezu vorbildlich zum Tragen kommt. Die haptische Qualität des Blicks auf den Körper wird durch dessen Zustand des Nullpunkts in Reinform ausgespielt. Dass das Fleisch nun keineswegs der Hort einer ursprünglichen fühlend-gefühlten Leiblichkeit ist, macht diese Szene aus Jérôme Bel sehr schön deutlich. Schließlich taucht das Fleisch nur inmitten von Buchstaben auf, zwischen der roten zerriebenen Farbe eines Lippenstifts, der den Körper immer schon als kulturellen und damit als sprachlichen markiert hat.

3

3.1

Die Anrufung vom Ort des Anderen: Le dernier spectacle Tanzgeschichte als performativer Akt

Mit Le Sacre du printemps hat Jérôme Bel ein tanzgeschichtliches Moment in sein Stück Jérôme Bel eingeführt, das beim Betrachter sofort die Vorstellung des Neuen und Unerhörten wachruft. Kein Tanzereignis hat die Vorstellung von Modernität im Tanz als einem Bruch mit der Tradition derart geprägt wie die Uraufführung von Waslaw Nijinskys Choreographie zu Igor Strawinskys Musik von Le Sacre du printemps am 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Elysées in Paris. Bel greift die Auseinandersetzung mit der Tanzgeschichte auch in seinem nächsten Stück, Le dernier spectacle, wieder auf. Doch anstatt ein einmaliges Ereignis schaffen zu wollen, legt Bel darin die auf dem Prinzip der Wiederholung basierenden performativen Mechanismen frei, die unseren Umgang mit der Tanzgeschichte prägen. Das Stück, das am 12. November 1998 im Kaaitheater in Brüssel uraufgeführt wurde, wurde verschiedentlich als Thematisierung von Theatermechanismen gelesen, in dem die Tänzer »als Vorführer eines Diskurses über Darstellung«

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336 | Abwesenheit fungieren, wie Helmut Ploebst schreibt.35 Peter Stamer interpretiert das Stück als »theatrale Repräsentationsmaschine«, in der die Mechanismen theatraler Figurenkonstitution und deren defigurierender Entzug vorgestellt werden.36 Diesen semiotischen Lektüren möchte ich in diesem Kapitel eine andere entgegenstellen, die auf die Mechanismen kultureller Produktion und die damit verbundene Position des Subjekts eingeht. In dieser Perspektive lässt Jérôme Bel das Theater als rein ästhetisches Phänomen weit hinter sich und weitet den Blick auf das Verhältnis der Zuschauer zur symbolischen Ordnung, in der sich ihre Identität konstituiert. Die Bühne ist mit schönen schwarzen Theatervorhängen ausgehängt. Le dernier spectacle beginnt mit einem Mann, der mit einer Jacke aus roten Schottenkaros, Hose und T-Shirt bekleidet, an die Rampe vor das Mikrophon tritt und behauptet: »Je suis Jérôme Bel«. Danach stellt er seine Armbanduhr auf Weckfunktion, wartet, bis sie 60 Sekunden später piepst, und geht dann wieder ab. Ein zweiter Mann in weißer Tenniskleidung tritt an seine Stelle und behauptet:« I am André Agassi«. Der Vorhang vor der Bühnenrückwand wird zurückgezogen, um die Mauer freizulegen, gegen die der vermeintliche André Agassi dann gekonnt ein paar Bälle schlägt, bevor auch er wieder abgeht. Ein junger Mann (Antonio Carallo) gibt sich mit dem bekannten Zitat »I am Hamlet« als Hamlet zu erkennen, bevor eine Frau (Claire Haenni) mit langen blonden Haaren in einem weißen Kleid auftritt. Sie sagt, sie sei Susanne Linke, legt sich auf den Rücken und beginnt zu Schuberts «Der Tod und das Mädchen« den Anfang von Linkes Solo »Wandlung« aus dem Jahr 1978 zu tanzen. In den ersten vier Szenen des Stücks wird, wie Peter Stamer bemerkt, das Augenmerk auf die grundlegende Theatersituation gerichtet: X gibt vor, Y zu sein, während Z zuschaut. So ist es in der Tat unwichtig, ob es Frédéric Seguette ist, der Jérôme Bel spielt oder Jérôme Bel selbst, der wiederum André Agassi spielt – auf dem Theater werden Figuren durch die sprachliche Bezeichnung, das Kostüm, ein paar Requisiten und eine bestimmte Tätigkeit wie das Tennisspielen oder das Tanzen erzeugt, denen wir für die Dauer der Aufführung glauben, das sie das sind, was sie zu sein vorgeben. Wenn Antonio Carallo als Hamlet seinem »To be«, das er noch auf der Bühne spricht, ein »or not to be« aus dem Off nachschickt, verbindet er des Problem des Seins auf der Bühne mit dem Gesehenwerden durch einen Dritten. Nur wer angeschaut wird, existiert in der Welt des Theaters. Wer nicht zu sehen ist, ist tot. 35 | Ploebst, No Wind, op. cit., S. 199. Ich habe das Stück im November 1998 in Nürnberg gesehen. Ein Video lag mir ebenfalls zur Einsicht vor. 36 | Peter Stamer, »›Ich bin nicht Jérôme Bel‹. Überlegungen zum Verhältnis Figuration/Repräsentation im Tanztheater«, in: Bettina Brandl-Risi/Wolf-Dieter Ernst/Meike Wagner (Hg.), Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge, München: ePodium, 2000, S. 138-157, hier: S. 148.

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Diese theatralen Setzungen werden anschließend in einer zweiten Serie von Auftritten negiert.37 Sowohl die sprachliche Benennung als auch einzelne Attribute der Figuren werden jetzt gestrichen. Der Aufbau der Szenen bleibt zwar gleich, die Darsteller aber sind andere. Nun tritt Jérôme Bel auf und behauptet; »Je ne suis pas Jérôme Bel«. Claire Haenni im Tennisdress sagt »I am not André Agassi«, und Frédéric Seguette verneint es, Hamlet zu sein. Im Gegensatz zu Haenni, die trotzdem ein paar Bälle gegen die Bühnenrückwand schlägt, ist Seguette konsequent und zieht sein Hamlet-Kostüm aus. Nur mit einer weißen Unterhose bekleidet, behauptet er jetzt, Calvin Klein zu sein, spricht »Obsession« ins Mikrophon, geht ab, nur um von hinter der Bühne »Escape« zu rufen. Er kommt zurück, widerspricht seinem Abgang also, und sagt daher folgerichtig: »Contradiction«. Doch danach verlässt er erneut die Bühne und ruft aus dem Off »Eternity«. Alle vier Worte sind Namen von Parfums von Calvin Klein, die in dieser Szene mit den Aussagen Hamlets gleich gesetzt werden. Dessen »to be« entspricht dessen »Obsession«, »or not to be« seiner Flucht (escape), seine Rückkehr (»that is the question«) seinem Widerspruch (contradiction) und seinem Abgang die Ewigkeit (eternity). Verweigert Seguette der Figur des Hamlet das im System der Aufführung ihm zugeschriebene Kostüm und verwandelt sich, indem er ein anders anlegt, verweigert Jérôme Bel Susanne Linke die Tätigkeit des Tanzens. Im weißen Kleid behauptet er, »Ich bin nicht Susanne Linke«, während er mit einem Walkman auf dem Kopf Schuberts Melodie laut vor sich hin summt.

37 | Peter Stamer hat ein Szenario der siebzehn Szenen des Stückes erstellt, das mir hier als Grundlage dient; op. cit., S. 147.

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338 | Abwesenheit Doch bereits hier haben sich Szenen dazwischengeschoben, die über die theaterimmanente Reflexion hinausweisen. Schon nach Claire Haennis erstem Auftritt als Susanne Linke erfolgen drei weitere, in denen nacheinander Jérôme Bel, Antonio Carallo und Frédéric Seguette im weißen Kleid Susanne Linkes Solo tanzen. Insgesamt viermal sehen wir die ersten sieben Minuten des emotional aufgeladenen Solos, sehen wir einen Körper unter höchster Spannung, wie er sich auf dem Rücken liegend in fragile Balancen mit ausgestreckten Beinen oder Armen bringt, wie er sich hin und her rollt, wegdreht und schützt, bevor er sich mit Schwung herumreißt. Viermal sehen wir das gleiche Solo als Zitat; vier Körper gehen durch es hindurch, doch spätestens beim dritten Mal ist es egal, ob die Choreographie, die so heißt, wie das, was Bels Stück vollzieht, tatsächlich von Susanne Linke stammt oder nicht. Die Kopie entfaltet ihr faszinierendes Eigenleben, das das Wissen um das Original unerheblich macht. Jérôme Bel hat mit Wandlung bewusst auf ein Stück zurückgegriffen, das von einer Tänzerin und Choreographin stammt, die nicht nur ein anderes Geschlecht hat als er, sondern auch einer anderen Kultur und einer anderen Tanztradition angehört. Susanne Linke, 1944 geboren, wird häufig mit dem Erbe des deutschen Ausdruckstanzes in Verbindung gebracht, weil sie zwischen 1964 und 1967 zunächst in Berlin bei Mary Wigman studierte, um später nach Essen zu gehen, wo sie an der Folkwangschule die andere deutsche Tanztheater-Tradition in der Linie von Kurt Jooss und Sigurd Leeder kennenlernte.38 Was Bel daran interessiert, ist die Möglichkeit, sich in die Tradition der Tanzgeschichte zu stellen und Einflüsse und Filiationen geltend zu machen. Doch diese Vorstellung erweist sich als Irrtum. Denn es gibt zwar eine Tanzgeschichte, die in Text- und Bilddokumenten, Zeugnissen und Erinnerungen hinterlegt ist, doch diese kann im Zusammenhang der Aufführung, der Performance, nicht ausgespielt werden. Mit jeder Wiederholung des Solos wird deutlich, dass die Vorstellung eines Originals, das man wiederbeleben und kopieren könnte, hinfällig ist. So wiederholen die Tänzer zwar die Choreographie von Linkes Solo, doch der Tanz muss notwendigerweise ein anderer sein, weil der Körper der Tänzer ein jeweils anderer ist. Unter den vier Tänzern ist nur eine Frau, die zwar ungefähr genau so alt ist wie Susanne Linke, als sie ihr Solo zum ersten Mal aufführte, allerdings aus Frankreich kommt und einer anderen Generation angehört. Die drei Männer sind von unterschiedlicher Größe und Statur, die sich nicht nur in das weiße Frauenkleid zwängen, sondern auch in eine von einer Frau mit ihrem Körper und seinen individuellen wie kulturell codierten geschlechtsspezifischen Erfordernissen, Empfindungen und Möglichkeiten entwickelte Choreographie. Durch die Serie von Wiederholungen und »die darin wirksam werdende performative Differenz«, wie es 38 | Vgl Schmidt, Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts, op. cit., S. 315-318.

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Gabriele Brandstetter in bezug auf das Stück formuliert, wird die »Differenz der Wiederholung selbst« ausgespielt und wahrnehmbar gemacht.39 Schreibt man Claire Haennis Version noch eine gewisse Verletzlichkeit zu, wirken die gleichen Drehbewegungen bei Frédéric Seguette kräftiger und damit kämpferischer. Ein Mann hätte solche Bewegungen, die Verführung und Hingabe ebenso signalisieren wie Angst, Ausgeliefertsein und Abwehr, womöglich gar nicht so erfunden. Wann also liest man die Bewegungen auf eine bestimmte Art, schreibt ihnen weiblich oder männliche Attribute zu? Auch hier verweist Bel auf die kulturelle Verfasstheit der Deutungsmuster der Zuschauer. Avec le Dernier Spectacle, je fais explicitement référence au passé de la danse en citant le solo de Suzanne [sic] Linke de 1978; je veux par là historiciser la danse, ne pas tuer le père, comme pourrait être tenté de le faire tout jeune artiste chorégraphe. Je dis: allons chercher l’origine. Or, au final, par la répétition en série, je m’apperçois que le propos a été déplacé, la reproduction impossible, que l’original n’existe pas, que la question des origines ne se pose pas en ces termes. Le projet était de dire: on a une histoire, il y a filiation, et soudain, le fait de refaire plusieurs fois à trente secondes d’intervalle ce qui s’est dansé il y a vingt ans demontre le contraire: l’histoire se pulverise.40

Das Pulverisieren der Geschichte während der Aufführung, das Jérôme Bel beschreibt, hat aber auch eine positive Kehrseite. Haftet jedem performativen Akt stets die Wiederholung eines vorangegangenen Aktes als Zitat (Jacques Derrida) oder gar einer der Intention des Subjekts entzogenen kulturellen und gesellschaftlichen Norm an (Judith Butler), kann diese mit jedem Akt prinzipiell auch verändert werden. Aus der ontologischen Abwesenheit des Originals, des ersten Aktes, heraus, entfaltet das Stück seine produktive Wirkung. Es wiederholt mit jedem Körper, der es tanzt, und jedes Mal, wenn es getanzt wird, den potentiellen Raum, den Susanne Linke ausgehöhlt hat, die ihm zugehörigen Gesten und Bewegungen, die weiterleben, weil sie, einmal geschaffen, prinzipiell immer wiederholt werden können. Leben sie doch weiter im Gedächtnis einer Kultur und ihrer Menschen, wo sie in und aus der Erinnerung verwendet und entwendet werden können – als Appell und als performativum, das sie als Andere am Leben hält. Le dernier spectacle stellt die Abwesenheit von Susanne Linkes Tanz über die Wiederholung der Choreographie und eines Tanzes, der den ihren nur zitiert, sicher. Die Abwesenheit bewahrt ihn als abwesenden auf. Ursprünglich sollte Le dernier spectacle noch aus anderen choreographischen Zitaten z.B. von 39 | Gabriele Brandstetter/Sibylle Peters, »Einleitung«, in: Brandstetter/ Peters (Hg.), de figura, op. cit., S. 7-30, hier S. 18. 40 | Goumarre, »Jérôme Bel. La perte et la disparition«, op. cit., S. 16.

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340 | Abwesenheit Pina Bausch bestehen, um das performative Werden und die Unabgeschlossenheit der Identitätskonstitution von Subjekten und Bewegungen aufzuzeigen. Aus urheberrechtlichen Gründen war dies jedoch nicht möglich.41 Doch nicht nur aus dem Bereich des Tanzes sollten Zitate einfließen. So war geplant, das Stück Dances with Wolves zu nennen, weil Bel den Tanz von Kevin Costner um das Feuer aus dem gleichnamigen Film rekonstruieren wollte.42

3.2

Die Stimme seines Herrn

Neben dieser Serie von Wiederholungen weist das Stück noch eine dritte Reihe mit Szenen auf, die das Thema der Abwesenheit in die Hände der Zuschauer spielt. Nach der Setzung und dem Durchstreichen der Figuren und des Tanzes gibt es fünf weitere Szenen, die allesamt von Antonio Carallo in der roten Jacke der Jérôme Bel-Figur gespielt werden. Carallo reißt die Szenen nur noch an, stellt ohne ein Wort zu sagen seine Armbanduhr, geht jedoch ab, bevor sie gepiepst hat. Er schlägt ein paar Tennisbälle an die Wand und greift dann zu einem Parfumflakon, um zweimal ›Eternity‹ von Calvin Klein in Richtung des Publikums zu sprühen. Anschließend hält er ein schwarzes Tuch mit ausgestreckten Armen vor seinen Körper und greift damit auf eine vorhergehende Szene zurück, in der er im Susanne LinkeKostüm hinter dem Vorhang, der von Seguette und Haenni gehalten wird, und damit für das Publikum unsichtbar, den Beginn von Wandlung getanzt hatte. Die Szenen dünnen immer mehr aus, Aktionen und Attribute werden nur noch angerissen, Figuren fröhlich durcheinandergemischt, so dass, wie Pirkko Husemann meint, eine hybride Figur entsteht.43 Doch spätestens mit dem Parfumduft wehen auch sämtliche imaginative Leistungen von der Bühne in den Zuschauerraum hinüber, um sich dort mit Hilfe des Erinnerungsvermögens in den Köpfen der Zuschauer zu entfalten. Das Stück verlagert den Schauplatz weg von der architektonischen Bühne hin zum mentalen Theater der Vorstellungskraft. Dass Carallo dabei das mit Jérôme Bel identifizierte Kostüm trägt, kann als Verschwinden der Figur Jérôme Bel und damit mit dem Verschwinden der Autor-Person Bel verstanden werden. Aufgrund der Wiederholungen können wir die Szenen 41 | Susanne Linke überließ Jérôme Bel den Anfang ihres Solos, nachdem sie Bel in einem Workshop im Rahmen des ImPulsTanz-Festivals in Wien 1998 kennengelernt hatte. Bei der deutschen Erstaufführung des Stücks im November 1998 in der Tafelhalle Nürnberg verlas Jérôme Bel diesbezüglich eine Erklärung und machte seine Motivation, mit Zitaten zu arbeiten, öffentlich. Die Szene ist in der jetzigen Fassung des Stücks nicht mehr enthalten. 42 | Ploebst, No Wind, op. cit., S. 197. 43 | Husemann, op. cit., S. 73.

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ergänzen, können sie für uns selbst und vor uns selbst realisieren. Wir können, ist die Figur des Autors Bel einmal verschwunden, selbst zu Autoren des Stücks werden. Doch damit nicht genug. Zum Schluss kehrt Antonio Carallo noch einmal auf die Bühne, um dort den kleinen Walkman auf den Boden zu legen, den Jérôme Bel für die Szene »Ich bin nicht Susanne Linke« verwendet hatte. Nachdem er abgegangen ist, werden in einer gespenstischen Szene aus dem Walkman die Namen der Zuschauer verlesen, die auf der leeren Bühne verhallen und in die Zuschauerreihen hinübergetragen werden, wo sie auf ihre Besitzer treffen.44 Jérôme Bel selbst hat die Szene mit der Unabdingbarkeit der Zuschauer für die Theatervorstellung erklärt. »Deshalb war es mir wichtig«, sagt er, »in einem Stück, in dem wir alle Personen auf der Bühne benennen ›Jérôme Bel, André Agassi, Hamlet, Susanne Linke und Calvin Klein‹ auch die anderen Autoren zu nennen: die Zuschauer.«45 Die Zuschauer werden durch die Nennung ihrer Namen zu Figuren des Stücks, die sich ihrer Rolle gerade dann bewusst werden, wenn die Akteure und Aktionen auf der Bühne abwesend gemacht werden. Erst in dem Moment, wo es nichts mehr zu sehen gibt, wo es auf der leeren Bühne keine Vorstellung mehr gibt, wird sich der Zuschauer seiner Funktion als Autor des Stücks, das er gerade gesehen hat, bewusst. Zurückgeworfen auf seine Singularität, erkennt er sich als Produzent von Vorstellungen und deren Bedeutung. Doch entgegen Bels eigener Konzeption kann man die Szene auch anders lesen. Denn die Zuschauer werden durch die Nennung ihrer Namen keineswegs »auf der Bühne anwesend gemacht«, wie es Stamer formuliert.46 Im Gegenteil. Was durch das Verlesen der Namen ausgelöst wird, ist das Bewusstsein, dass man dort gerade nicht ist, von wo aus man angerufen wird. Die szenische Realität des Theaters hält die Substitution der Tänzer mit den Zuschauern uneingelöst in der Schwebe. Auch der angerufene Zuschauer sieht sich nur als Abwesender auf der Bühne, wo er mit dem Ende der Vorstellung ebenfalls stirbt, weil es nichts mehr zu sehen gibt. Aus der Liste der Lebenden, die aus dem Walkman ertönt, wird so rasch eine Liste der Toten, deren Nachruf verlesen wird. Auch der Zuschauer tritt in das Spiel mit der Abwesenheit ein. Er wird Teil einer Choreographie »où les corps reviennent pour marquer une présence qui se retire et une absence qui est rendue visible.«47 Von der Bühne verschwunden, hört er seinen Namen, für den es, anders als für ›Jérôme Bel‹, ›André Agassi‹, ›Hamlet‹, ›Susanne Linke‹ und ›Calvin Klein‹ keine Kostüme, Re44 | Jérôme Bel greift für diese Szene auf die Liste der Namen zurück, unter denen an der Kasse Karten für die Vorstellung reserviert wurden. 45 | Siegmund, »Jérôme Bel«, op. cit., S. 30. 46 | Stamer, op. cit., S. 153. 47 | Buffard/Le Roy »Dialogue sur et pour Jérôme Bel«, op. cit., S. 31.

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342 | Abwesenheit quisiten oder Aktionen gibt. Für den Namen gibt es keine Zeichen auf der Bühne. Die Stimme trennt damit den Ton vom Bild, das leer und körperlos bleibt. Mit Michel Chion kann man die Stimme aus dem Walkman als »akusmatische Stimme« bezeichnen, deren Eigenschaft es ist, ihren Ursprung außerhalb des Gesichtsfeldes der Zuschauer zu haben.48 Solche Stimmen sind für Chion genuine Erfindungen des Kinos, wo sie Stimmen aus dem Off bezeichnen, Erzählerstimmen etwa, die allsehend und allwissend sind. Sie sind, wie Helga Finter bemerkt, einer »auktorialen Transzendenz zugeordnet und beziehen ihre verisimilitudo nicht aus körperlicher Präsenz, sondern gerade aus der Tatsache ihrer Immaterialität.«49 Der Walkman fungiert in Le dernier spectacle als Medium, das die Stimme, die von einem Ort kommt, den wir nicht lokalisieren können, einfängt und weiterleitet. Bedingt durch die kleinen Lautsprecher des Kopfhörers wirkt die Stimme zusätzlich entrückt, sind doch ihre Eigenschaften wie Klangfarbe oder Tonhöhe technisch verfremdet und gebrochen. Was damit erschwert wird, ist die Möglichkeit, aus ihrem Klangbild ein Körperbild zu erzeugen. So ist das Erschrecken beim Hören des Namens auch ein Erschrecken über das Erkanntsein von einem Unbekannten, der keinen Ort hat und damit überall ist und der sich kein Bild von sich machen und sich somit nicht zeigen kann. Es ist das Erschrecken darüber, nicht zu wissen, wo dieser Ort genau ist und was dort von jedem Einzelnen erwartet wird. Die körperlose Stimme, die mich bezeichnet, indem sie meinen Namen spricht, fungiert als entsubjektiviertes Objekt, das mich von mir trennt.50 Ich bin körperlich nicht auf der Bühne, bin dort abwesend, wo ich gerufen werde, und dort präsent, wo ich nicht bin. Die Stimme, die mich ruft, bleibt ein Fremdkörper, ein Fleck, den ich mit imaginären Bildern zu erhellen versuche. Was Jérôme Bel damit ins Spiel bringt, ist die auktoriale51 Stimme der

48 | Michel Chion, L’Audio-Vision. Son et image au cinéma, Paris: Nathan, 1990, S. 63. 49 | Helga Finter, »Musik für Augen und Ohren: Godard, das neue Theater und der moderne Text«, in: Volker Roloff/Scarlett Winter (Hg.), Theater und Kino in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen: Stauffenberg, 2000, S. 125-135, hier: S. 126. 50 | Slavoj Zizek, Looking Awry. An Introduction to Lacan through Popular Culture, Cambridge, Mass: MIT Press, 1992, S. 125-128. 51 | Freud hat diese Instanz mit dem Begriff des ›Über-Ich‹ belegt, das auf einer Identifizierung »mit dem Vater der persönlichen Vorzeit« basiert (Freud, »Das Ich und das Es«, op. cit., S. 298-299). Als richtende Instanz macht sie, wie in der Melancholie, das Subjekt zum Objekt und entleert es. Für Freud ist das ›Über-Ich‹ vor allem an Worte und an die Stimme gebunden, die im Unbewussten weiterwirken; ibid., S. 319. ^ ^

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symbolischen Ordnung der Sprache. Weil Sprache ubiquitär ist, kann sie sich nicht als Ganzes repräsentieren. Sie heftet sich an uns, ruft uns an und fordert uns auf, unseren Ort innerhalb ihrer Ordnung einzunehmen. Unser Name bezeichnet diesen Ort, den aber (noch) kein Körper ausfüllt, um ihm Volumen zu geben. Diesen Ort gibt es ebenso wenig schon, wie es den Ort des Tänzers auf der Bühne, weil er sich seinen Ort aufgrund des Verschwindens seiner Bewegung ständig neu suchen muss. Die akusmatische Stimme aus dem Walkman fordert uns auf, ihrer Körperlosigkeit einen Körper zu geben, was geschähe, wenn wir auf die Bühne träten. Doch diese ist wiederum lediglich ein Zeichen für die symbolische Ordnung der Kultur, also ihrerseits nur ein Ort, der auf einen anderen Ort verweist, der jenseits der Grenzen der Kunst liegt. Indem er das Stück mit einer Aufforderung beendet, rückt Jérôme Bel unsere Auseinandersetzung mit der symbolischen Ordnung ins Zentrum des Stücks. Unseren Ort auf der Bühne einzunehmen heißt, sich in das Spiel von Wiederholung und Differenz zu begeben, sich inmitten von Zeichen und Aktionen zu platzieren, die uns performativ hervorbringen, aber uns damit immer auch in eine Distanz zu uns selbst bringen. Gerade weil wir uns innerhalb der symbolischen Ordnung der Sprache, die ein Allgemeines ist, in unserem individuellen Begehren und unseren Affekten aber nicht ohne weiteres artikulieren können, öffnet sich zwischen den Signifikanten im Riss der symbolischen Ordnung das Imaginäre. Die Sprache ruft mich wie die Stimme aus dem Walkman immer nur als Toten an. Die Position als Lebender, zu der uns die akusmatische Stimme auffordert, kann nur durch das Aufklaffen des Imaginären eingenommen werden. In Le dernier spectacle ist es zum einen gesellschaftlicher Natur, wie Jérôme Bel mit Figuren aus Sport, Theater, Tanz sowie der Welt der Mode und der Werbung nahe legt, zum anderen ist es aber auch ein individuelles Imaginäres, das quer stehen kann zum gesellschaftlich sanktionierten. Das Stück Jérôme Bel verleitet dazu, durch den freigesetzten tastenden Blick auf die nackten Körpern der Tänzer subjektive Reaktionen und Phantasien zu entwickeln. Le dernier spectacle formuliert dagegen am Ende die Aufgabe für den Zuschauer (der dann allerdings keiner mehr ist), sich mit Hilfe seines Imaginären in die Aufführung einzuschreiben und sich darin seine Position zu suchen. Die Bühne ist am Ende der Ort, an dem ich nicht bin, an dem ich abwesend bin, die ich aber dadurch mit meinen Vorstellungen füllen kann. Le dernier spectacle erzählt deshalb in erster Linie davon, wie kulturelle Produktion und Rezeption von Identität funktionieren, wenn durch die Medien Archive unseres kulturellen Gedächtnisses sperrangelweit offen stehen und jedes Erinnern zugleich immer auch ein Vergessen bedeutet. Le dernier spectacle operiert demnach vornehmlich auf der symbolischen Ebene unserer Kultur, die sich in den Gesetzen des Theaters, die Bel reflek-

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344 | Abwesenheit tiert, modellhaft abbildet. Angesprochen sind damit zwei weitere Fragen, die schon in den vorangegangenen Interpretationen unterschwellig vorhanden waren und die in den nun folgenden zwei Kapiteln näher ausführt werden sollen. Da ist zum einen die Frage nach der Autorschaft der Stücke. Wem gehören sie, wenn die Zuschauer sie letztlich produzieren und welche veränderte Vorstellung eines Autors liegt den Stücken zugrunde? Diese Frage rückt mit dem Stück Xavier Le Roy in den Vordergrund, das Jêrôme Bel als Autor zwar signiert hat, das aber von dem Tänzer und Choreographen Xavier Le Roy konzipiert und realisiert wurde. Zum anderen stellt sich am Ende von Le dernier spectacle auch die Frage nach dem Status der Tänzer, deren besonderer Status sich nach Pierre Legendre gerade auf einem kulturellen Tanzverbot gründet. Wenn es aber nicht mehr Tänzer sind, die für uns am anderen Ort der Bühne vor den Augen des Anderen tanzen, sondern wir selbst, welche Funktionsveränderung bringt das für den Bühnentanz mit sich? Diese Frage soll anhand des Stücks The Show Must Go On diskutiert werden. Doch zunächst zur Autorschaft.

4 4.1

Die zwei Körper des Autors Xavier Le Roy von Jérôme Bel

In Le dernier spectacle wird uns vorgeführt, wie Susanne Linke durch körperliche Praktiken wie das Tanzen performativ enteignet wird. Ihr Solo Wandlung gehört ihr nicht mehr, weil es sich mit jeder Wiederholung durch einen anderen Tänzer verändert. Selbst wenn sie es persönlich noch einmal tanzen würde, wäre die Choreographie zwar die gleiche, aber der Tanz wäre auch hier ein anderer, weil Linkes Körper in der Zwischenzeit ein anderer geworden ist. Natürlich hat Linke das Solo 1978 einmal erfunden. Auf vergleichbare Weise hat Jérôme Bel das Stück Le dernier spectacle erschaffen, in dem er als Person, als ausführender Tänzer, und als Figur »Jérôme Bel« auftritt – zwei Positionen, die sich in der Ausführung des Stücks jedoch gegenseitig negieren. In diesem Zusammenhang stoßen wir auf das Problem der Autorschaft und deren Verbindung mit einem Eigenamen, dem Namen des Autors, der im Falle von Jérôme Bel schon in seinem ersten Stück Nom donné par l’auteur gleichzeitig gesetzt und durchgestrichen wurde. Sein zweites Stück Jérôme Bel trägt dann seinen Namen, obwohl er in ihm weder als Figur noch als Person auftritt. Die Frage, wer der Autor seiner Stücke sei, und darüber hinaus, was ein Autor im Bereich des Tanzes überhaupt sein kann, stellt sich verschärft im Stück Xavier Le Roy. Es ist ein Stück von Jérôme Bel, realisiert jedoch hat es dessen Kollege und Freund Xavier Le Roy. Wie Jérôme Bel trägt auch Xavier Le Roy den Namen einer Choreographenpersönlichkeit, die hier jedoch

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nicht der Autor, sondern nur der Ausführende ist. Das Stück wurde am 26. April 2000 beim Time-Festival in Gent uraufgeführt.

Die Aufführung beginnt während die Bühne noch im Dunkeln liegt mit Bernard Herrmanns Musik zu Alfred Hitchcocks Film Vertigo. Nach ein paar Minuten strahlt ein Scheinwerfer einen Stuhl und einen schwarzen Paravant an, bevor plötzlich eine Gestalt in Turnschuhen, grauen Hosen, einem blauen Hemd und einer blonden Perücke, deren Haare das Gesicht verdecken, auf die Bühne stürmt. Sie rennt, die Hände aufgeregt an die Wangen gepresst, läuft kreuz und quer über das Spielfeld und fällt schließlich mit einem Schrei hinter dem Paravant zu Boden. Kurz darauf rennt sie wieder los und kracht dabei in den Stuhl, der mit ihr zu Boden geht. Wie der arme James Stewart in Hitchcocks Klassiker an den Abgrund gerät, weil er es plötzlich auf unheimliche Art und Weise mit der Doppelgängerin einer Frau zu tun hat, die er beschatten sollte, weiß der Zuschauer auch bei Xavier Le Roy lange nicht, ob es sich um ein Solo oder ein Duo handelt. Nachdem die Musik verstummt ist, kommt die Figur hinter der Wand hervor und geht wieder ab. Das ganze Geschehen spielt sich in den folgenden

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346 | Abwesenheit vierzig Minuten auf diesem etwa drei Meter langen Streifen ab, der vom Zuschauer aus gesehen rechts von dem Paravant und links von dem Stuhl begrenzt wird. Derart in die Ferne des Bühnenhintergrundes gerückt, wird das Wahrnehmungsvermögen der Zuschauer noch mehr verunsichert und herausgefordert. Mit jeder Wiederholung führt die Figur in der blonden Perücke eine andere, leicht wiederzuerkennende Pose vor: den Gang von Charlie Chaplin, den Hitlergruß, Michael Jacksons Moonwalk, den gekreuzigten Jesus, Marlene Dietrich im Blauen Engel, den Sprung des Basketballspielers Michael Jordan, Napoleons Handhaltung und Marilyn Monroe über dem Lüftungsschacht, die Pose des Affen aus Stanley Kubricks Film 2001: Odyssee im Weltraum, gefolgt von einfachem Auf- und Abgehen, Stehen, Sitzen und Liegen – alles mit dem Rücken zum Publikum. Mit jeder Pose wagt sich die Figur ein Stück weiter in Richtung Stuhl vor, den sie für das Marlene Dietrich-Zitat wieder mit auf die Bühne bringt, um sich darauf zu setzen. Zwischen Jesus und Napoleon läuft sie einmal mit den Händen vor dem Gesicht auf die Bühne. Ebenso wie beim einfachen Gehen oder Stehen stellt sich hier die Frage, ob auch solche Aktionen Zitate aus dem kulturellen Gedächtnis sind, ob sie von berühmten Persönlichkeiten ausgeführt wurden, die sie zu Ikonen gemacht haben, und die wir nur im Moment nicht zuordnen können. Zitate aber sind es in jedem Fall, denn schließlich steht, geht, sitzt oder liegt jeder Mensch tagtäglich auf die eine oder andere Weise. In der nächsten Szene misst die Figur die Entfernung zwischen der Wand und dem Stuhl mit den Füßen, doch beim zweiten Mal stimmt der Abstand plötzlich nicht mehr. Es bleibt eine Lücke zwischen Stuhl und Fuß, den die Figur dadurch überbrückt, dass sie den Stuhl einfach heranzieht. Ein drittes Mal wird ein Fuß exakt vor den anderen gesetzt. Doch diesmal ist der Abstand zu kurz. Die Figur zieht kurzerhand ihre Schuhe und Strümpfe aus, und versucht auf diese Weise, die Länge für ihre Schritte passend zu machen. Am Ende zieht sie sich Schuhe und Strümpfe wieder an, nimmt den Stuhl und verschwindet hinter dem Paravant. Zur allgemeinen Überraschung treten anschließend zwei identisch gekleidete Figuren hintereinander mit gesenktem Kopf hinter dem Paravant hervor. Nachdem das Geheimnis gelüftet wurde, wird die Zitat-Sequenz mit kleineren Auslassungen und Verschiebungen in der Reihenfolge noch zweimal wiederholt: einmal mit Kleidung und einmal nackt, wobei die Ausführung der Posen durch Frédéric Seguette und Pascale Paoli nicht geschlechtsspezifisch erfolgt. Am Ende tritt eine grau verhüllte Gestalt auf, ein Neutrum, das alle entfalteten Differenzen zwischen dem ersten naiven und dem zweiten informierten Sehen, zwischen Mann und Frau, einfach schluckt. Mit jeder Wiederholung wird dem Zuschauer zusätzliche Information über die Konstruktion des Stücks an die Hand gegeben. So weiß er bei der ersten Wiederholung, dass es sich um zwei Figuren handelt, bei der

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zweiten, dass die eine von einem Mann, die andere von einer Frau gespielt wird. So kann er rückwirkend überprüfen, was er gesehen hat, ob es in den einfachen Posen und Gängen etwa schon geschlechtsspezifische Differenzen gab, oder ob er sie aufgrund seines Wissens erst nachträglich konstruiert. Was Xavier Le Roy in Namen von Jérôme Bel mit dem Stück Xavier Le Roy inszeniert ist natürlich im Sinne von Vertigo auch ein Schwindel. Es ist ein Taumel von Identitäten, die nur noch aus den Archiven unseres kulturellen Gedächtnisses, in denen auch alltägliche Gesten deponiert sind, zitiert werden. Und ein Betrug an der Wahrnehmung der Zuschauer, die ständig dazu angehalten werden, minimale Differenzen abzugleichen, um Zwischenräume auszuloten.

4.2

Der Autor als Diskurs

Das Stück vollzieht in seinem inneren Kommunikationssystem auf der Ebene des Dargestellten genau das, was es im äußeren Kommunikationssystem auf der Ebene der Darstellung ebenso vollzieht. Es spielt mit der Identität der Figuren, und es spielt mit der Identität des Autors als Funktion, als Figur, die am Rand des Stücks dessen Übergang zu gesellschaftlichen Diskursen markiert. Wie kann man Jérôme Bels Nachdenken über das Problem der Autorschaft hier also verstehen? Mit der Negation einer Tanzsprache und eines Stils im Sinne einer wie auch immer gestalteten bewussten individuellen Formung der Bewegung nimmt Jérôme Bel Abschied von den Parametern der Tanzmoderne, zu denen auch das der Autorschaft der Bewegung gehört. Konstitutiv für die Modernität von Tänzerinnen wie Isadora Duncan, Loïe Fuller, Mary Wigman, Martha Graham und Doris Humphrey war ihre Ablehnung des klassischen Ballettcodexes. Bewegung wurde zum energetischen Prinzip, mit dessen Hilfe innere Befindlichkeiten oder seelische und kulturelle Archetypen ebenso ausgedrückt wie die Vermittlung von Sinneseindrücken geleistet werden konnte. Diese neuen Bewegungen blieben aber an die Körper ihrer Erfinderinnen gebunden; sie entsprangen ohne den Umweg über bereits existierende Codes oder eine niedergeschriebene Choreographie ihren Trägerinnen, die sie mit Hilfe verschiedener Methoden und Techniken schließlich zur Darstellung brachten. Die Tänzerinnen der Moderne wurden damit zu Autorinnen ihrer eigenen Bewegungssensibilität oder gar -sprache. Sie wurden zu Autorinnen ihrer eigenen Stücke, deren Darstellung etwa in Form eines Solos nicht von der Person der Tänzerin und Choreographin losgelöst werden konnte. Auch die Übertragung der entwickelten Sprache auf andere Tänzerinnen und Tänzer in Gruppenstücken und die objektiven Notwendigkeiten der choreographischen Gestaltung verwiesen immer noch auf die Person der Schöpferin und deren fühlend-gefühlten Leib als Garanten für die Glaubwürdigkeit der dargestellten Emotionen oder Spannungsverhältnisse. Wie in Kapitel III. ge-

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348 | Abwesenheit zeigt wurde, kann dies nur gelingen, wenn die Abwesenheit bestimmter Parameter in der Trias Eindruck, seelische Regung/körperlicher Niederschlag und Ausdruck in Bewegung, geleugnet werden. Wenn Jérôme Bel in seinen Stücken gerade auf der Abwesenheit des Autors Jérôme Bel als Person beharrt, nimmt er eine gegenüber der Tanzgeschichte kritische Position ein, die auf die Sonderstellung des Tänzers und Choreographen als Spezialisten reflektiert. Auf dem Spiel steht mithin die von Pierre Legendre ausgemachte Tradition des wahrhaftigen Körpers, der aufgrund seines speziellen Trainings berechtigt ist, für uns vor den Augen des Anderen zu tanzen, um ihm zu gefallen. Für Michel Foucault ist der Begriff Autor zunächst »der Angelpunkt für die Individualisierung in der Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte, auch in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte.«52 Bestimmte Texte oder gar ganze Diskurse, wie der der Psychoanalyse oder des Marxismus, werden als Werke einem bestimmten Individuum zugeschrieben, das als Garant der Wahrheit am Ursprung des Textes oder Diskurses steht. In der klassischen hermeneutischen Tradition bilden Autor und Werk eine Einheit. Im Rückgriff auf den Autor als Person, auf sein Leben, sein Umfeld, seine Persönlichkeit, seine Vorlieben und sogar seine unbewussten Wünsche können Texte gedeutet und dunkle Stellen erhellt werden. Darüber hinaus dient der Begriff Autor dazu, bestimmte Texte überhaupt zu einem einheitlichen Werk zusammenzuschließen: »[…] mit einem solchen Namen kann man eine gewisse Zahl von Texten gruppieren, sie abgrenzen, einige ausschließen, sie anderen gegenüberstellen. Außerdem bewirkt er die Inbezugsetzung der Texte zueinander.«53 In diesem Zusammenhang unterscheidet Foucault auch zwischen dem Eigennamen, der ein Individuum benennt, das er zugleich beschreibend mit bestimmten Eigenschaften ausstattet, und dem Autorennamen, der nicht zwangsläufig auf ein Individuum verweist, sondern auf ein als Werk verstandenes Ensemble von Texten: »[…] die Verbindung des Eigenamens mit dem benannten Individuum und die Verbindung des Autorennamens mit dem, was er benennt, sind nicht isomorph und funktionieren nicht in gleicher Weise.«54 Zwischen Werk und Individuum steht der Name des Autors, der sich von beiden unterscheidet, weil er eine spezifische gesellschaftliche Funktion erfüllt: Er macht das Ereignis eines gewissen Diskurses sichtbar, und er bezieht sich auf das 52 | Michel Foucault, »Was ist ein Autor?«, in: Michel Foucault, Schriften zur Literatur, übers. Von Karin von Hofer und Anneliese Botond, Frankfurt am Main: Fischer, 1988, S. 7-31, hier: S. 10. 53 | Ibid., S. 17. 54 | Ibid., S. 16.

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VI Die Schreibweisen des Körpers: Jérôme Bel | 349 Statut dieses Diskurses in einer Gesellschaft und in einer Kultur. Der Autorenname hat seinen Ort nicht im Personenstand des Menschen, nicht in der Werkfiktion, sondern in dem Bruch, der eine bestimmte Gruppe von Diskursen und ihre einmalige Seinsweise hervorbringt.55

Der Autor markiert den Bruch zwischen dem Schriftsteller als Person und dem Erzähler in einem Text. Personalpronomina oder Eigennamen in einem Text, die als Platzhalter des Autors fungieren zu scheinen, verweisen daher nicht auf ein reales Individuum. Die Funktion des Autors »kann gleichzeitig mehreren Egos in mehreren Subjekt-Stellungen Raum geben«.56 Die Individualisierung, die mit dem Autorbegriff verbunden ist (und auch urheberrechtliche Konsequenzen hat), zielt dennoch nicht auf das Individuum, das die Texte geschrieben hat, sondern auf dessen Funktion innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses, der bestimmten Regeln gehorcht, einen bestimmten Stoff zur Erscheinung bringt und eine Summe von Aussagen umfasst, die diesen wiederum konstituieren. Der Name des Autors grenzt eine Gruppe von Diskursen von einer anderen ab. Vor diesem Hintergrund eröffnet das Stück Jérôme Bel, das den Namen des Autors vor sich her trägt wie eine Visitenkarte, auf programmatische Weise den Diskurs ›Jérôme Bel‹. Zu ihm gehören eine Reihe von Aussagen wie etwa die Stücke Nom donné par l’auteur, das die Trennung von Individuum und Autor vollzogen hat, Jérôme Bel, Shirtologie, Le dernier spectacle, The Show Must Go On und eben auch Xavier Le Roy. Zu ihm gehört ein bestimmtes Thema, wie etwa die gesellschaftlich-kulturelle Konstitution von Körpern über performative Akte und deren Repräsentation im Theater, und ein bestimmtes Verhältnis zur Tanzgeschichte und zur Mediengesellschaft. Zu ihm gehören weiterhin bestimmte Regeln, die die Aussagen verknüpfen, damit diese zu Aussagen dieses Diskurses werden können. Wenn, wie Foucault es nahe legt, der Name des Autors eine Art Sammelbegriff für verschiedene Individuen sein kann, kann sich auch Xavier Le Roy im Diskurs ›Jérôme Bel‹ verorten, vorausgesetzt er befolgt dessen Regeln. Dort erscheint er dann allerdings auch nicht als Person, sondern als Name, als Titel, der die getroffene Aussage signiert, ebenso wie Jérôme Bel auf der nächst höheren Ebene des Diskurses als Autor das Stück signiert. In Xavier Le Roy hat sich Xavier Le Roy den Regeln des Diskurses ›Jérôme Bel‹ bedient und als Subjekt unterworfen. Schon bei der Beschreibung des Stücks ist unschwer zu erkennen, dass Xavier Le Roy sich an Le dernier spectacle anlehnt. Der Paravant, hinter dem die beiden Figuren verschwinden, greift das schwarze Tuch aus Le dernier spectacle wieder auf, hinter dem letztlich der Tanz verschwunden ist. Gesten von berühmten Per55 | Ibid., S. 17. 56 | Ibid., S. 23.

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350 | Abwesenheit sönlichkeiten werden zitiert, um an das kulturelle Gedächtnis der Zuschauer zu appellieren, die die Gesten und Körper lesen können. Die Gesten werden wiederholt, um mit jeder Wiederholung das Spiel von Differenzen in Gang zu setzen, bis die Szenen immer mehr ausdünnen. Mit den einfachen alltäglichen Gesten wird die Realisierung des Stücks schließlich den Zuschauern übergeben, wobei sich die graue Figur am Schluss als Projektionsfläche für Rückerinnerungen an bestimmte Gesten ebenso anbietet wie als Leerstelle, in die sich die Zuschauer mit ihren eigenen Körpern versetzen können. Diese graue Figur erinnert gleichzeitig an Le Roys leblosen Körper aus Self-Unfinished, die alle Bedeutungszuschreibungen ins ich aufgenommen und versenkt hatte. Das Spiel mit der Wahrnehmung, das hier exemplarisch in Gang gebracht wird, ist, wie noch zu zeigen sein wird, eher ein Thema der Stücke von Xavier Le Roy. Es verweist im Diskurs »Jérôme Bel« wiederum auf den Diskurs »Xavier Le Roy«, dessen Spur sich in den anderen Diskurs einschreibt. Das Geschehen spielt sich auf nahezu leerer Bühne ab. Die Verknüpfungsregel besteht letztlich nur noch darin, die einzelnen Szenen wie Bilder einfach seriell zu reihen, ohne Übergange zu choreographieren oder zu inszenieren. Indem Xavier Le Roy diese Regeln befolgt, kann er eine Aussage im Diskursfeld ›Jérôme Bel‹ treffen.57 Der Name des Autors ist nur mehr eine Hohlform, die sich wie ein zweiter Körper um den biologisch-individuellen Körper des Choreographen lagert. An den choreographischen Körper ›Jérôme Bel‹ mit seiner spezifischen Schreibweise können sich auch andere Künstler wie etwa Xavier Le Roy angliedern, um eine Textproduktion in Gang zu setzen, die der modernistischen Forderung nach Originalität und Einmaligkeit von Bewegung eine klare Absage erteilt. Die Person des Autors, die noch in der Moderne mit dem Werk verschmolzen ist, wird hier abwesend gemacht. Das Kennzeichen des Choreographen als Person »ist nur noch die Einmaligkeit seiner Abwesenheit; er muß die Rolle des Toten im Schreibspiel übernehmen.«58 Jérôme Bel setzt in dieser Hinsicht keineswegs den Tod des Autors, sondern nur den Tod des Autors als Individuum in Szene. Zusammen mit Xavier Le Roy macht er gerade auf die Autorfunktion als Diskursinitiator aufmerksam. Er plädiert mithin nicht für eine Abschaffung des Autors, sondern lediglich für eine andere Auffassung vom Autor, die auf die gesellschaftliche Relevanz von bestimmten Aussagen abzielt. Nicht welche Per-

57 | Le Roy setzte sogar Bels Tänzer ein, um das Stück zu realisieren. Neben Frédéric Seguette, der in allen Stücken Bels auf der Bühne stand, sollte wieder Claire Haenni die zweite Rolle übernehmen. Da sie jedoch zum Zeitpunkt der Proben schwanger war und nicht zur Verfügung stand, übernahm Pascale Paoli den weiblichen Part. 58 | Ibid., S. 12.

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son etwas sagt, ist wichtig, sondern was vor dem Hintergrund eines Diskurses gesagt oder eben nicht gesagt werden kann. Foucaults Text entstand 1969. Roland Barthes feierte bereits ein Jahr früher 1968 den Tod des Autors als Person, überschrieb seine Funktion aber nicht wie Foucault dem Diskurs, sondern dem Leser, der zum eigentlichen Produzenten des Textes wird. Damit einher geht für Barthes eine veränderte Auffassung von dem, was ein Text sei, den er ausgehend von seiner Analyse der Erzählung Sarrasine von Honoré de Balzac nicht mehr länger auf eine Struktur reduziert wissen will. Barthes plädiert – durchaus auch in Revision seiner eigenen strukturalen Analysen, die er mit Système de la Mode 1967 auf den Höhepunkt getrieben hatte – für einen offenen Textbegriff: Nous savons maintenant qu’un texte n’est pas fait d’une ligne de mots, dégageant un sense unique, en quelque sorte théologique (qui serait le »message« de l’AuteurDieu), mais un espace à dimensions multiples, où se marient et se contestent des écritures variées, dont aucune n’est originelle: le texte est une tissu de citations, issues des mille foyers de la culture.59

Stossrichtung dieses Textes, der einen Raum eröffnet, in dem sich multiple Codes der Kultur kreuzen, ist nicht mehr länger die Vergangenheit der Autor-Person, die eine Botschaft im Text deponiert hat, die es zu bergen gilt. Der Text zielt stattdessen auf den Leser, der die Codes verfolgt, entwirrt und ihnen nachspürt, ohne dabei das Ziel zu verfolgen, eine singuläre Bedeutung fixieren zu wollen. Der Leser wird so zum »l’éspace même où s’inscrivent, sans qu’aucune ne se perde, toutes les citations dont est fait une écriture.«60 Was für den Leser im Hier und Jetzt des Akts des Lesens61 gilt, trifft auch für den Schreiber zu, der für Barthes den traditionellen Autor ersetzt:

59 | Roland Barthes, »La mort de l’auteur«, in: Roland Barthes, Oeuvres complètes, hg. von Éric Marty, Band II, 1966-1975, Paris: Seuil, 1993, S. 491-495, hier: S. 393-494. 60 | Ibid., S. 495. 61 | Roland Barthes war keineswegs der einzige, der in den sechziger Jahren den Leser als Produzenten und Adressaten des Textes in den Mittelpunkt literaturtheoretischer Überlegungen stellte. Ausgehend von einer hermeneutisch-phänomenologischen Tradition, die Gadamer 1960 in Wahrheit und Methode weiterentwickelte, entwarfen in Deutschland Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß entsprechende Theorien. Sie treffen sich mit Barthes in der Vorstellung des Lesens als performativem Akt, der vom Leser ebenso verstandesmäßige wie imaginative und affektive Leistungen fordert. Unterschiede liegen jedoch in den jeweiligen Textbegriffen. Im Falle der hermeneutischen Traditionslinie zielt der Text eher auf Weltentwurf und -ver-

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352 | Abwesenheit [P]our lui [den Schreiber; d.V.], au contraire, sa main, détachée de toute voix, portée par un pur geste d’inscription (et non d’expression), trace un champ sans origine – ou qui, du moins, n’a d’autre origine que le langage lui-même, c’est-à-dire cela même qui sans cesse remet en cause toute origine.62

Der Schreiber wird gleichzeitig mit dem Text geboren. Er bringt ihn als performativen Akt hervor, vermag aber die Wirkung oder Bedeutungsproduktion keineswegs zu kontrollieren oder zu arretieren. Er wird, wie Foucault es formuliert, »zum Toten im Schreibspiel«, weil er Sprache verwenden muss, die ihn zum Verschwinden bringt, weil sie ihn aufgrund ihrer überindividuellen Struktur notwendigerweise von sich, seinen Intentionen und Gefühlen trennen muss. Für Jérôme Bel als Leser von Roland Barthes bedeutet dies, dass auch er Texte schreibt, die aus multiplen kulturellen Codes gewoben sind. Diese Texte zielen nicht, wie noch in der Tanzmoderne, auf individuellen Ausdruck ihres Schöpfers oder auf individuelle Vermittlung von Impressionen. In diesen Texten ist er als Autor-Person auf spezifische Weise abwesend, wobei das Spezifische seiner Abwesenheit seinen Autor-Diskurs, sein Feld der Aussagen begründet. Im Spiel der Zeichen ist er als Figur ›Jérôme Bel‹ wie in Le dernier spectacle auch nur ein Code neben anderen, der sich in den Text einwebt und sich in ihm verschiebt. Statt ›Jérôme Bel‹ oder ›Xavier Le Roy‹ könnte idealerweise auch jeder andere Name ins Spiel der Bedeutungsproduktion eintreten. Ob dies gelingen würde, hinge allerdings vom Markt ab. Im Spiel der Zeichen, der Sprache, Requisiten und Kostümteile, die die vorgestellten Figuren als bestimmte Personen identifizierbar machen, ist auch der Name des Autors nur ein Faden, der den Text im wechselseitigen Setzen und Durchstreichen von Identität durchzieht.

5 5.1

Theater als Geschenk The Show Must Go On als Textkörper

The Show Must Go On knüpft dort an, wo Le dernier spectacle aufgehört hat. Dort schloss die Vorstellung mit der Aufforderung, sich selbst als Autor des Stücks zu begreifen, mithin als Figur ins Spiel einzutreten. Das Spiel endete dramaturgisch gesehen aber tatsächlich mit einem ›cliff hanger‹ gleichsam auf der Kippe, bevor die leere Bühne tatsächlich bevölkert werden mittlung ab, während die semiotische Ausrichtung Barthes den Text eher als freies Spiel der Zeichen und Codes versteht; vgl. Iser, Der Akt des Lesens, op. cit.; Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, München: Fink, 1977. 62 | Barthes, op. cit, S. 493.

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konnte. Die Fortsetzung folgt nun in The Show Must Go On, wo uns Jérôme Bel in der Tat mit ins Boot nimmt.63 Aus den Stücken von Jérôme Bel kann man eine Meta-Geschichte konstruieren, die das Verhältnis Bels zum Theater wiedergibt. Kündigte er mit Le dernier spectacle das Verschwinden von Jérôme Bel und dessen Stücken an, so erlaubte es ihm Xavier Le Roy, nach seinem Ende als ein anderer in Form eines Diskurses weiterzuleben. Die Absicht, keine Stücke mehr zu machen und die Produktion von Choreographien den Zuschauern zu überlassen, führt in The Show Must Go On zu einer Wiederauferstehung des Theaters als Vorstellung. The Show Must Go On ist ein ironischer Widerruf der letzen Vorstellung, ein Theater nach dem Tod des Theaters. Nach der Leere der Bühne spielt man wieder, aber man spielt auf eine bestimmte Art und Weise, die das traditionelle Verhältnis von Darstellern und Zuschauern auflöst. Das Stück wurde zunächst im September 2000 mit dem Ensemble des Deutschen Schauspielhaus in Hamburg uraufgerührt, bevor es am 4. Januar 2001 mit Jérôme Bels eigener Kompanie im Théâtre de la Ville in Paris Premiere hatte. Lange Zeit geschieht nichts auf der Bühne. Die Szene liegt im Dunkeln und bleibt zunächst leer. Vor der Rampe sitzt ein Discjockey an einem CD-Spieler und einem Lichtpult, der im Laufe des Abends die CDs wechselt. Die 19 bekannten Schlager und Popsongs, die zu hören sind, bilden die Struktur des Stücks. Sie sind dessen Partitur, nach der sich die Aktionen der Tänzer ausrichten. Die Abfolge der Lieder sieht wie folgt aus: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

»Tonight« (West Side Story), von Leonard Bernstein »Let The Sun Shine In« (Hair), von Galt MacDermott »Come Together«, The Beatles »Let’s Dance«, David Bowie »I Like to Move It«, Reel 2 Reel »Ballerina Girl«, Lionel Richie »Private Dancer«, Tina Turner »Macarena«, Los del Rio »Into My Arms«, Nick Cave »My Heart Will Go On«, Céline Dion »Yellow Submarine«, The Beatles »La Vie en Rose«, Edith Piaf »Imagine«, John Lennon »The Sound of Silence«, Simon and Garfunkel »Every Breath You Take«, The Police »I Want Your Sex«, George Michael »I’m Still Standing«, Elton John

63 | Ich habe das Stück mehrmals gesehen. Ein Video lag zur Einsicht vor.

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354 | Abwesenheit 18. 19.

»Killing Me Softly with His Song«, Roberta Flack »The Show Must Go On«, Queen64

Obwohl auch The Show Must Go On einer seriellen Dramaturgie folgt, bei der sich Szene an Szene reiht und Bild auf Bild folgt, ist die Anordnung der Szenen weder willkürlich, noch ist die Reihung beliebig fortsetzbar. Das Stück besitzt einen stringenten Aufbau, der einem genau kalkulierten Spannungsbogen folgt. Erzählt wird eine Art biblische Schöpfungsgeschichte auf dem Theater, die mit dem Wort und einem Versprechen beginnt. »Tonight, tonight, the stars shine bright tonight«, singen Jim Bryant und Marni Nixon, während die Bühne für die ganze Dauer des Liedes im Dunklen bleibt. Was es zu sehen geben wird, wie die Welt, die Jérôme Bel aufbaut, geschaffen sein wird, wissen wir noch nicht. Einzig das Versprechen, das jede Form von Theater abgibt, bevor sich der Vorhang hebt, das Versprechen eines schönen, interessanten, spannenden oder unterhaltsamen Abends nämlich, das Versprechen, uns eine wie auch immer geartete Welt zu zeigen, stimmt uns ein und macht uns gespannt auf das, was folgt. Einem Schöpfer gleich, führt Jérôme Bel die dazu notwendigen Mittel nacheinander ein. Im Laufe von »Let The Sunshine In« wird das Licht immer heller, bis es am Ende des Liedes seine maximale Stärke und Leuchtkraft erreicht hat. Doch noch ist die Bühne leer, gibt es keine Menschen, die mit ihr oder miteinander in Konflikt geraten könnten. Dies ändert sich bei »Come Together«. Wenn der Refrain des Beatles-Songs erklingt, betreten die Darsteller in individueller Straßen- oder Probenkleidung die Bühne und formieren sich zu einem Halbkreis. Nahezu regungslos schauen sie das Publikum an, stellen sich den Blicken der Zuschauer, die sie sehen und anerkennen, was ihrer Geburt als Akteure auf den Brettern, die die Welt bedeuten, gleichkommt. Was sie da oben zu tun gedenken, verrät uns das nächste Lied. »Let’s Dance«, fordert sie David Bowie auf, und genau das tun die Tänzer auch, hören jedoch sofort mit ihren individuell gestalteten Bewegungen auf, sobald der Refrain verklungen ist. Bilden die Lieder die Partitur des Stücks, bestimmen ihre Refrainzeilen die Aktionen der Tänzer. Sie führen jeweils genau das aus, was die Texte sagen. Bleiben die Aktionen auch auf den jeweiligen Song beschränkt, bilden sich doch Verknüpfungen zwischen ihnen aus. So gehen die Tänzer bei »Into My Arms« über die Bühne auf der Suche nach einem Partner, den sie in die Arme nehmen können. Im darauffolgenden »My Heart Will Go On«, fällt jeweils einer der Partner mit ausgebreiteten Armen und steifem Körper 64 | Bei den Proben war nach »La Vie en Rose« lange Zeit Johann Strauß’ Walzer »Schöne blaue Donau« vorgesehen, bei dem blaues Licht den Fluss auf der Bühne markieren sollte. Doch das Spiel mit den Farben – gelb, rosa und blau – wurde schließlich vor der Premiere verworfen.

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nach vorne wie die Schauspielerin Kate Winslett im Film Titanic, aus dessen Soundtrack Céline Dions Lied stammt. Jeder oder jede wird dabei gehalten von ihrem oder seinem Leonardo DiCaprio, der den Absturz der menschlichen Galionsfiguren verhindert. Doch wie wir alle wissen, sinkt die Titanic schließlich doch. In Theatern mit Hebebühnen wie dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg senkt sich der Bühnenboden zum Ende des Liedes hin ab. Er fährt die Gruppe nach unten auf die Unterbühne, wo sie am Grund des Meeres verenden. In Theatern ohne Hebevorrichtung gehen die Darsteller einfach ab. Doch in einer ironischen Wendung lässt sie Jérôme Bel dennoch am Leben. Vom Grund des Meeres dringt gelbes Licht auf die Bühne, und wir hören, nachdem das Lied von der CD verklungen ist, wie die Darsteller aus dem Off den Refrain »We all live in a yellow submarine« singen.

Danach markiert Edith Piafs »La Vie En Rose« die Pause. Der Zuschauerraum wird in rosafarbenes Licht getaucht, das nach dem Ende des Lieds erlischt. Zu »Imagine« bleibt der gesamte Theatersaal stockfinster, damit sich auch die Zuschauer eine friedliche Welt vorstellen können. Bei »The Sound of Silence« wird der Refrain ausgeblendet, um die Stille tatsächlich hörbar zu machen. Danach stellen sich die Tänzer in einer Reihe an der Rampe auf und werfen beobachtende Blicke ins Publikum, weil sie durch »Every breath you take, every step you make, I’ll be watching you« dazu aufgefordert werden. Die Blicke verändern ihre Qualität in »I Want Your Sex«, bei dem die Tänzer versuchen, direkten Blickkontakt mit Menschen im Zuschauerraum zu etablieren, um sie ›anzumachen‹. Bei »Killing Me Softly« gehen sie alle sterbend zu Boden, nur um sich bei »The Show Must Go On« wieder zu erheben. The Show Must Go On beschreibt die Geburt einer Welt mit Worten und Körpern, die ihnen gehorchen, bis hin zu deren Tod und Wiederauferstehung, die als dramatischer Höhepunkt, der weder umkehrbar noch an anderer Stelle platziert werden könnte, den Schluss des Stücks markiert.

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356 | Abwesenheit Doch ist diese Welt, obwohl sie auf dem Theater stattfindet, tatsächlich noch eine Welt des Theaters? Untersuchen wir das Verhältnis von Sprache und Körper genauer. Auffallend ist zunächst, dass es zwischen den Körpern der Tänzer und der Sprache der Liedtexte zu wenig Reibung kommt. Das trifft sowohl auf der Ebene des Dargestellten, der Handlung, als auch auf der Ebene der Darstellung, der Technik des Tanzes zu. Die Körper auf der Bühne sind in der Schauspieltheorie deshalb dramatisch, weil sie auf den beiden Ebenen mit dem Gesetz der symbolischen Ordnung, der Sprache also, in Konflikt geraten. So ist der Körper im Rahmen des bürgerlichen Theaters, in dessen Räumen Jérôme Bels Stück ja aufgeführt wird, dadurch gekennzeichnet, dass er durch ein Verbot für die Dauer des Dramas aus der Ordnung herausfällt. Das Verbot kann ganz im bürgerlichen Sinne das sprachliche ›Nein‹ des Familienvaters sein, der seiner Tochter aus Standesgründen verbietet, einen bestimmten Mann zu heiraten. So kann in Denis Diderots Le père de famille (1758) der junge Saint-Albin die mittellose Waise Sophie nicht heiraten, bis diese sich zum Schluss als Tochter eines hohen Offiziers entpuppt, so dass Albins Vater der Heirat guten Gewissens zustimmen kann. Im englischsprachigen Raum geht Sir Richard Steeles The Conscious Lovers von einer vergleichbaren Grundkonstellation aus, die, da das Stück schon 1722 in bewusster Abkehr von der Restaurationskomödie verfasst wurde, als prototypisch für das bürgerliche Drama gelten kann. Der junge Bovil soll die Kaufmannstocher Lucinda Sealand heiraten, liebt aber die arme Waise India, die sich am Ende als die verschollene Tochter Sealands herausstellt. India ist demnach Lucindas Schwester und kann deshalb Bovil heiraten. In Lessings Emilia Galotti schließlich ist es das Nein des Vaters zur Liebe zwischen Emilia und dem Prinzen, das den dramatischen Konflikt in Gang setzt. Die Fabeln des klassischen Balletts erzählen durchaus ähnliche Geschichten. So weigert sich der Prinz im ersten Akt von Schwanensee, seiner Rolle als Thronfolger gerecht zu werden, zu heiraten und seinen Platz in der Ordnung der Dinge einzunehmen. Stattdessen flüchtet er ins Reich des Imaginären, dessen Trugbilder ihm im dritten Akt zu einem Wortbruch verleiten, der tödlich endet. Die Zeit des Dramas und das Drama des Körpers erstreckt sich sowohl im Schauspiel wie im Ballett mithin vom Herausfallen des Körpers aus der Ordnung bis zu dessen Wiedereingliederung, der Anerkennung durch den Vater und das Gesetz, die auch – wie in Lessings Emilia Galotti – über den toten Körper der Tochter erfolgen kann.65 Auf der Ebene der Darstellung ist die Lage komplizierter. Die Diskussi65 | Ulrike Haß hat die Zeit des Körpers auf der Bühne genau untersucht in: Ulrike Haß, »Der Körper auf der Bühne. Voraussetzungen von Ausdruck und Darstellung«, in: Heinz-B. Heller/Karl Prümm/Birgit Peulings (Hg.), Der Körper im Bild. Schauspielen-Darstellen-Erscheinen, Marburg: Schüren, 1999, S. 31-45.

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on um die Etablierung eines ›natürlichen‹ Schauspielstils in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist schon von verschiedenen Seiten differenziert geführt worden und muss deshalb nicht noch einmal im Detail wiederholt werden, zumal sie hier nur als Kontrastfolie für Jérôme Bels Umgang mit dem Körper auf der Bühnen dienen soll.66 Zentraler Punkt in der Debatte ist die Verankerung der Zeichen im Leib des Schauspielers, der nicht mehr länger eine Rhetorik der Affekte möglichst gekonnt zur Schau stellt, sondern auf ›natürliche‹ und ›unwillkürliche‹ Art und Weise spricht. Dies kann auf zweierlei Arten geschehen. Zum einen soll der Schauspieler, ausgehend von der antiken Rhetorik der actio, die korrekten Gesten, Haltungen und Gesichtssausdrücke nachahmen können, um seine Rede glaubhaft zu unterstützen. Die willkürlichen Zeichen der Sprache sind dabei den unwillkürlichen des Körpers überlegen, weil sie deren Rätselhaftigkeit Klarheit und Deutlichkeit in der Intention verleihen. Der Körper des Schauspielers wird so zur Sinngestalt. Erst wenn er sich, wie es Johann Jakob Engel in seinen Ideen zu einer Mimik (1785/86) fordert, seiner Rolle komplett unterordnet, kann er als glaubhaft gelten.67 Im zweiten Theoriestrang zum ›natürlichen Spiel‹ des Schauspielers werden die unwillkürlichen Zeichen zum Garanten der Wahrheit gemacht, die, gerade weil sie körperlich und nicht sprachlich sind, näher bei den darzustellenden Emotionen sind. Friedrich Schiller nennt diese Zeichen des körperlichen Ausdrucks in Über Anmut und Würde (1793) »sympathetische Bewegungen« und kehrt damit die alte Hierarchie zwischen Sprach- und Körperzeichen um.68 Im Bereich des Tanzes fordert Jean Georges Noverre in seinen Lettres sur la danse 1760 Vergleichbares. Der reinen Mechanik der Tanzbewegung, die auf dem etablierten Tanzcodex aufbaut, soll mit »Empfindung und Ausdruck« Kraft verliehen werden, damit sie den Zuschauer berühren kann.69 Auf dem Spiel steht hierbei die Einbindung des Affektkörpers, der potentiell der Kontrolle durch die Vernunft entgeht, in den Textkörper, der ihn zähmt. Das Sprechen im Theater, das auch die sprechenden Gesten Nover66 | Vgl. Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Stroemfeld/Nexus, 2000; Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters Band 2., Vom »künstlichen« zum »natürlichen« Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung, Tübingen: Gunter Narr, 1983. 67 | Erika Fischer-Lichte, »Der Körper als Zeichen und Erfahrung. Über die Wirkung von Theateraufführungen«, in: Erika Fischer-Lichte/Jörg Schönert (Hg.), Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein Verlag, 1999, S. 53-68, hier: S. 58. 68 | Andreas Käuser, »Körperzeichentheorie und Körperausdruckstheorie«, in: Fischer-Lichte/Schönert (Hg.), Theater im Kulturwandel, op. cit., S. 39-52, hier: S. 45. 69 | Vgl. Jeschke, »Noverre, Lessing, Engel«, op. cit. S. 89.

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358 | Abwesenheit res umfasst, setzt einen vorsymbolischen Grund, das Semiotische, um den Begriff von Julia Kristeva zu gebrauchen, voraus, der im Aufführungstext aktviert wird, und der dessen Sprache zersetzt, um etwas ihr Heterogenes zu artikulieren und mit der symbolischen Ordnung zu konfrontieren. Während der Zeit des Dramas liegt das Drama des Körpers auf der Bühne also darin, durch das Drängen des Vorsymbolischen mit der Sprache im Widerstreit zu liegen. Sowohl die Schauspieltechnik als auch die Tanztechnik können daher als doppeltes Spiel verstanden werden. Sie stellen den Versuch dar, das Semiotische zu bergen und nutzbar für das Spiel zu machen, sowie es gleichzeitig als Textkörper in die symbolische Ordnung zu integrieren. Der Spitzentanz des 19. Jahrhunderts schafft einen Artikulationsraum für das Übersinnliche, Naturhafte und Vergeistigte, den er gleichzeitig qua Technik in eine intelligible Ordnung überführt. Für die Tänzerinnen der Moderne gehört es zum Schaffensprozess, mit der Form der Bewegung zu ringen. Der Ausdruck von Natureindrücken bei Isadora Duncan und Loïe Fuller, die Darstellung der inneren Landschaft bei Martha Graham oder das empfangene Urbild der Hexe bei Mary Wigman – sie alle erblicken nur das Licht der Bühne, nachdem die Tänzerinnen den Widerstand ihres Körpers gegenüber seiner Formung, die das Auszudrückende in Darstellung überführen muss, gebrochen haben. Dass von diesem Widerstand noch etwas in der symbolischen Darstellung spürbar oder gar sichtbar bleibt, macht die Lebendigkeit der Performance aus. Josette Féral bezeichnet diese beiden Ebenen der Performance als Performativität und Theatralität, die in jeder Aufführung notwendigerweise miteinander verknüpft sind. »Performativity is at the heart of what makes any performance unique each time it is performed; theatricality is what makes it recognizable and meaningful within a certain set of references and codes.«70 Liest man The Show Must Go On als Reflexion auf die Schauspiel- und Tanztraditionen, drängt sich die Abwesenheit dieses für die Geschichte seit dem 18. Jahrhundert zentralen Konflikts geradezu auf. Das Verhältnis von Sprache und Körper gestaltet sich dermaßen einseitig, dass es auf der Bühne nur noch Textkörper gibt. Der affektbesetzte Körper des modernen Tanzes entfällt. Jérôme Bels Körper sind stets von der symbolischen Ordnung der Sprache bereits anerkannte Körper. Wenn Bel das DJ-Pult vor die Bühne platziert, macht er damit ähnlich wie mit dem Walkman am Ende von Le dernier spectacle deutlich, dass der Ort der Sprache ein anderer ist. Sie ist ubiquitär und ortlos. Der DJ spielt dabei die Rolle des göttlichen Marionettenspielers, der die Puppen auf der Bühne nach seinen Worten tanzen lässt. Von überall her erfasst sie die Körper, die in The Show Must Go On ihren 70 | Josette Féral, »Foreword«, in: Josette Féral (Hg.), Substance XXXI (Februar/ März 2002), Sonderheft Theatricality, S. 3-13, hier: S. 5. Zur Kritik an dieser Vorstellung von Peformativität vgl. Kapitel II.4.

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Platz bereits gefunden haben. Das Drama des Körpers auf der Bühne, sein Ringen um Identität, wie es für Handlungsballett, Tanz und Theater seit dem 18. Jahrhundert charakteristisch ist, findet daher nicht statt. Ganz ruhig und entspannt reiht sich Bild an Bild, Szene an Szene, Musikstück an Musikstück. Das ist undramatisch, weil die Körper nicht in Konflikt geraten. Jérôme Bels Menschen haben keine Worte, weil sie keine mehr brauchen. Sie sind auf der grundlegenden ontologischen Ebene immer schon Worte. Ihre Körper sprechen wörtlich, indem sie sich bewegen. Tanz und Theater fallen dabei in eins. Wie im 17. Jahrhundert sind es eloquente Körper; aber das, wovon sie sprechen, kommt weder aus ihrem tiefsten Inneren, noch ahmen sie Affekte »naturgetreu« mit den korrekten Gesten, Haltungen und der entsprechenden Mimik nach. Es sind keine expressiven Körper, die »natürliche« oder gar »unwillkürliche« Zeichen der Leidenschaft produzieren. Selten hat man Körper auf der Bühne »natürlicher« gesehen, weil sie nicht »natürlich« spielen, sondern weil sie im Sine des bürgerlichen Theaters und seinem Körperverständnis untheatral sind. Vielmehr machen sie deutlich, dass der Körper in seinem Wesen bereits sprachlich ist. Er wird über gesellschaftliche Diskurse konstituiert, über ein Anderes, das auch den Körper immer schon von sich, seinem Materiellen trennt. Jérôme Bel dreht das Verhältnis von Körper und Sprache einfach um. Nicht mehr Körper sein und dann Worte haben, sondern Worte sein und dadurch erst Körper haben, lautet bei ihm die Devise. Die Körper seiner Tänzer sind die Buchstaben und Worte, die die Bühne beschreiben wie ein Blatt Papier. Sie machen für alle nachvollziehbar einen Gedanken szenisch sichtbar.

5.2

Abwesenheit als Gabe

Was tritt aber jetzt im Theater an die Stelle der Abwesenheit des affektiven und natürlich spielenden Körpers? Welcher andere Konflikt wird durch die Abwesenheit sichtbar? Dass es in The Show Must Go On nicht ganz undramatisch zugeht, ist jedem klar, der auch nur einmal eine Vorstellung besucht hat. Zuschauer stürmen die Bühne, spielen oder singen mit, unterbrechen das Spiel mit genervten Zwischenrufen oder verlassen türenschlagend den Saal. Auf welchen Widerstand also stößt das Stück? »Bei ›Le dernier spectacle‹ habe ich von den Zuschauer verlangt, selbst zu Choreographen zu werde«, schreibt Bel in einem Interview: Bei »The Show Must Go On« verlange ich eigentlich gar nichts von ihnen, außer sie selbst zu bleiben und »Zuschauersein« zu spielen. Ein Ausgangspunkt für das Stück war, die Zuschauer nicht dominieren zu wollen. Die Darsteller führen Aktionen aus, die wirklich jeder ausführen kann. Sie bedienen sich keines besonderen Wissens und noch viel weniger stellen sie ein besonderes Können zur Schau. Das sollte eine

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360 | Abwesenheit Gleichheit zwischen Darstellern und Zuschauern ermöglichen. Aber es ist genau diese Gleichheit, die bei den Zuschauern äußerst aggressive Reaktionen ausgelöst hat, weil sie sich wohl lieber mit irgendwelchen Helden identifizieren als mit den Akteuren von »The Show Must Go On«. Lange Rede kurzer Sinn: Wenn du das Publikum nicht beherrschen willst, versucht es dich zu töten.71

Der Vorschlag, den das Stück den Zuschauern unterbreitet, ist, sich einmal auf die gleiche Stufe mit den Tänzern zu stellen. Umgekehrt bedeutet das, Tänzern zuzuschauen, die sich auf dem gleichen technischen Niveau befinden wie die Zuschauer, und deren Spezialistentum, das zu sehen das Publikum Eintritt bezahlt, auf der Bühne gerade nicht ausgestellt wird. Nichts Außergewöhnliches oder Spektakuläres wird vorgeführt. Stattdessen soll das Stück die Zuschauer in seiner ganzen Unaufgeregtheit und Beiläufigkeit begleiten. Der mögliche dramatische Konflikt liegt demnach nicht auf der Bühne, sondern im gesellschaftlichen symbolischen Vertrag zwischen Bühne und Zuschauerraum. Mehr noch: im Vertrag, den der Tänzer in unserer christlichen Kultur mit dem Anderen eingeht, um zum wahrhaftigen Körper zu werden. Ist, wie Pierre Legendre festgestellt hat, unsere Aufteilung in Bühnentanz und Gesellschafts- oder Volkstanz ein Erbe des christlichen Tanzverbots, haben wir damit auch das Tanzen auf der Bühne einem Stellvertreter, dem Berufstänzer, übergeben. Denn nur wer durch Training und Technik zum Spezialisten geworden ist, stellt sicher, dass es beim Tanzen die Seele ist, die vor Gott dessen Wort gehorchend tanzt, und nicht der sündige Körper. In The Show Must Go On zerschneidet Jérôme Bel die vertikale Ausrichtung des Tanzes auf die seelische, spirituelle Dimension als Legitimation des Tanzens zugunsten seiner horizontalen Ausrichtung auf seine gesellschaftliche Funktion. Der Andere, dem sich die Tänzer zeigen, ist die ebenso flüchtige wie zufällige Gemeinschaft der Zuschauer und Akteure, die einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund teilen. Wir schauen uns also in all unserer alltäglichen Banalität und Lebensfreude selbst zu. Umgekehrt bedeutet das, dass auch wir tanzen dürfen und können. Auch wir können uns unser Stück zurechtlegen und Aussagen im Bereich des Tanzes treffen. Denn letztlich sind es die Zuschauer, die in The Show Must Go On das Stück realisieren. Darauf werden wir durch die spezifische Art und Weise, wie im Stück das Verhältnis von Hören und Sehen inszeniert wird, immer wieder hingewiesen. Zu Liedern wie »Imagine« oder »Yellow Submarine« gibt es kein Bild, es entsteht aus den Stimmen, deren Körper ebenfalls abwesend sind. Bei »I’m Still Standing« sehen wir, was nicht gezeigt wird, und hören, was nicht zu hören ist. Die Szene wird ausgesetzt, und in die Leerstelle tritt

71 | Siegmund, »Jérôme Bel«, op. cit. S. 31.

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unsere Imagination. Immer wieder inszeniert Bel den Entzug und die Abwesenheit des einen, das das andere als Pontential heraufbeschwört. Die bekannten Popsongs mit ihrem hohen Wiedererkennungswert spielen mit den kollektiven und individuellen Erinnerungen eines jeden, in die die Tänzer als unsere Projektionsflächen einbezogen werden. Wir sitzen alle im selben Boot. Keine Szene macht das so deutlich, wie die schon beschriebene Szene vom Untergang der Titanic zu Céline Dions »My Heart Will Go On«. Fallen die Galionsfiguren zu Beginn mit dem Gesicht nach vorne zur Rampe, so drehen sich die Paare im Laufe des Liedes langsam um, so dass wir uns schließlich hinter ihnen befinden. Der Zuschauerraum wird so zum Schiff, auf dem sie lediglich den vorderen Teil einnehmen. Doch Jérôme Bel führt uns das Agieren innerhalb unserer Kultur immer noch vor. Die Bühne als Vorstellungs- und Projektionsraum, der vom Zuschauerraum durch die Rampe getrennt ist, bleibt bestehen. Es ist diese minimale Differenz, die die Show im Sinne einer Vorstellung und damit als Theater aufrecht erhält. Die Show ginge tatsächlich nicht weiter, wie es er Titel verlangt, begäben sich die Zuschauer aus ihrer Rolle als Zuschauer heraus in das Bild hinein. Damit bleibt auch die reflektorische Distanz zur Szene gewahrt, die uns darüber nachdenken lässt, wie wir mit unseren kulturell konstituierten Körpern umgehen. Was durch Bels Arbeit an der theatralen Repräsentation innerhalb ihrer selbst gesteckten Grenzen aber zu Tage tritt, ist ein anderes Verhältnis zwischen Tänzern und Zuschauern. Das Abstreifen der Konvention führt zu einer Verstärkung des sozialen Aspekts einer wahrhaftigen Begegnung, die gerade über die Differenz im Ähnlichen gestiftet wird. Bel lässt dem Publikum immer wieder Zeit, sich die Typen auf der Bühne in aller Ruhe anzuschauen, sich den einen oder die andere auszusuchen, sich mit ihm oder ihr zu identifizieren und mit ihm oder ihr in einem gegenseitigen Geben und Nehmen die Zeit der Aufführung zu teilen. Bels untheatrale Körper entstehen im Austausch mit den Körpern der Zuschauer, ein Tausch, der wie ein Geschenk auf Gegenseitigkeit beruht. Marcel Mauss hat in seiner Studie Die Gabe 1925 das ökonomische System sogenannter primitiver Gesellschaften untersucht und dabei eine gemeinsame Praxis in regional unterschiedlichen Varianten entdeckt, für die er einen Begriff nordwestamerikanischer Völker verwendet: ›Potlatsch‹. Der Potlatsch ist ein System von Regeln, das den gegenseitigen Austausch von Gütern und nützlichen Dingen ebenso regelt wie den Austausch von Höflichkeiten und Festlichkeiten. Geber und Nehmer sind niemals Individuen, sondern Kollektive, die über die Gabe miteinander in Beziehung und Abhängigkeit treten. Obwohl sie im Grunde genommen obligatorisch ist, muss die Gabe freiwillig erfolgen. Der Beschenkte ist verpflichtet, sie anzunehmen und sich mit einer Gegengabe erkenntlich zu zeigen, um sich aus der Schuld des Gebers zu befreien.

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362 | Abwesenheit Dieses System ist nun keineswegs eine friedliche Angelegenheit. Die Geber treten in gegenseitigen Wettstreit miteinander, wer am meisten gibt; sie verschwenden Reichtümer und verausgaben sich bis zum Selbstopfer, um dem anderen den Rang abzulaufen.72 Mauss’ Überlegungen haben verschiedentlich Umwertungen und Radikalisierungen erfahren, von denen Jean Baudrillards Aufwertung der Gegengabe schon erwähnt wurde. Damit kann man Bels Stück als taktische Gegengabe an das System des Tanzes verstehen, die die normativen Setzungen der Kunstform wie Emotionalität, Virtuosität oder gar Heiligkeit der Bewegungen und Tänzer umgeht und auf sie hinweist. Als Taktik ist die Gegengabe an bestimmte historische und gesellschaftliche Kontexte gebunden, in denen sie operieren kann. Sie weitet sich, wie Michel de Certeau bemerkt hat, ebensowenig zu einer übergeordneten Strategie aus, die auf einen Umsturz der Ordnung zielte,73 wie es Jérôme Bel darum zu tun ist, seine Taktik zu einer allgemeinen Regel des Choreographierens und Tanzens zu erheben. Als Taktik setzt sie am toten Austausch von Waren an, in deren Nähe die Tanzaufführung im Zeitalter visueller Medien und eines ubiquitären Körperkults gerückt ist. Das Stück stellt im Rahmen des Theaters die Frage nach der Art des Austauschs, der im Theater stattfindet und stattfinden kann. Wie in Mauss’ Potlatsch lässt Jérôme Bel in The Show Must Go On keine Individuuen miteinander verhandeln. In seinem Stück treten zwei Kollektive gegeneinander an, das Kollektiv der Darsteller, die bis auf zwei Szenen immer alle auf der Bühne sind, und das Kollektiv der Zuschauer, die nach den Regeln des Systems verpflichtet sind, das Geschenk anzunehmen, also ihre Rolle als Zuschauer zu spielen. Das Verlassen des Saals oder das Stürmen der Bühne bedeutet demnach eine Verletzung der Balance und des Ausgleichs, das der Potlatsch herzustellen trachtet. Innerhalb des Austauschs gibt es selbstredend individuelle Reaktionen und Blicke. Doch bleibt der kollektiv-kulturelle Zusammenhang des Stücks durch die bereits beschrieben Abwesenheiten stets im Vordergrund. Ich bin es, der als kulturell geprägter öffentlicher Mensch sieht und reagiert und nicht in erster Linie als psychologisch-individuell geprägter Mensch. Jacques Derrida hat in seiner Lektüre von Mauss’ Text die Unvorhersehbarkeit der Gabe betont, die nur dann als Gabe funktionieren kann, wenn man sie nicht und nichts von ihr erwartet und folglich auch nichts zurückgeben kann. Damit verkehrt er Mauss’ Prämissen in ihr Gegenteil, legt dadurch aber gerade das radikal Andere dieser Form des Austauschs offen: 72 | Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990, S. 20-26, vgl. auch Kapitel I.2. 73 | de Certeau, Kunst des Handelns, op. cit., S. 87-92.

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VI Die Schreibweisen des Körpers: Jérôme Bel | 363 Damit es Gabe gibt, ist es nötig, daß der Gabenempfänger nicht zurückgibt, nicht begleicht, nicht tilgt, nicht abträgt, keinen Vertrag schließt und niemals in ein Schuldverhältnis tritt. […] Die Gabe als Gabe dürfte letztlich nicht als Gabe erscheinen: weder dem Gabenempfänger noch dem Geber. Gabe als Gabe kann es nur geben, wenn sie nicht als Gabe präsent ist.74

Als solchermaßen radikal Anderes wird die Gabe aber für die Performance interessant. Denn dass wir in The Show Must Go On nichts erhalten, nichts zumindest, mit dem wir im Rahmen einer Tanzaufführung rechnen dürften, macht ihren Geschenkcharakter aus. Sie gibt uns Zeit, die in der Gleichförmigkeit der Szenenabfolge deutlich als Zeit spürbar wird, Zeit, die wir verschwenden, in dem wir zuschauen, ohne etwas dafür geboten zu bekommen. Um das Spiel aber fortzusetzen, müssen sich die Tänzer ohne den Schutz einer Rolle oder einer virtuosen Technik geben, müssen die Zuschauer sich geben, indem sie die Liedtexte des Stücks mittragen und mitrealisieren. Wie jede Performance beschenkt sie uns in der Erinnerung, wenn sie bereits verschwunden und abwesend ist, so dass wir selbst mit ihr in wechselseitiger Stellvertretung zu Akteuren unseres kulturellen Textes werden. Der Refrain von Roberta Flacks Lied »Killing me Softly« fasst dieses Verfahren innerhalb der Aufführung zusammen. In dem Text berichtet die Icherzählerin von ihrer Begegnung mit einem jungen Musiker, dessen Lied sie und ihr eigenes Leben so stark berührt, dass sie beinahe krank wird. »He was singing my life with his words«, heißt es da. Er sang mein Leben mit seinen Worten. Nichts anderes streben Jérôme Bels Tänzer an. Sie singen unser Leben mit ihren Worten, die hier identisch mit ihren Körpern sind. Die Balance zwischen Darstellern und Zuschauern, die damit selbst in der Erinnerung an das Stück zu Akteuren werden können, gilt es an jedem Abend und an jedem Ort für jeden erneut herzustellen. Verstanden als Potlatsch nimmt sich das Theater aus als Spiel mit der Zeit und damit mit der Endlichkeit der Performance und der eigenen Endlichkeit. Jérôme Bel, der im Sommer 2000 beim Tanzfestival in Montpellier an einer Arbeit von Mathilde Monnier teilnahm, die keinen geringeren Titel trug als Potlatch, dérives, bezeichnet diesen Zustand des Theaters als »post-mortemité«. Wie in Freuds Fort-Da!-Spiel ist das Theater ein Spiel mit dem drohenden Tod und der Abwesenheit; es ist der einzige Ort, an dem wir mit dem Tod spielen und seine Effekte als Intensitäten, als Präsenzen, genießen können. 74 | Jacques Derrida, Falschgeld, übers. von Andreas Knop und Michael Wetzel, München: Fink, 1993, S. 24; vgl. dazu auch Christel Weiler, »Performance als Gabe«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 7 (Januar 1998), S. 155-163.

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364 | Abwesenheit Le jeu théâtral est un moyen efficace de représenter la mort et de jouir de ses effets. Faites-vos jeux, tout va bien! Jouez, mentez, croyez au théâtre, trichez, trahissez, comme je viens de le faire avec des arguments banales, des raisonnement fallacieux et des citations erronés. Comme dirait l’autre noble, l’important c’est de participer. Voilà peut-être un des enjeux du théâtre, sinon nouveau, je l’admet […] L’ontologie du théâtre comme un modus vivendi, un »moyen d’existance«. Utiliser le théâtre, non pas le faire, le théâtre n’est qu’un moyen, pas une fin à soi, mais utiliser le théâtre pour jouer à la vie (peut-importe que l’on soit acteur ou spectateur). Devenir metteur en scène de sa propre vie, c’est à dire en connaître la fin.75

5.3

Steve Paxtons Satisfyin’ Lover als tanzgeschichtliche Referenz

Jérôme Bels The Show Must Go On ist keineswegs die erste Tanzperformance, die eine solche Taktik des Ausgleichs verfolgt, bei der auf der Bühne nichts vorgeschlagen wird, was das Können der Zuschauer übersteigt.76 Ein berühmtes Beispiel aus dem Jahr 1967 ist Steve Paxtons Stück Satisfyin’ Lover, das im Umfeld der Judson Church-Gruppe in New York entstanden ist. Die Partitur, die Paxton 1968 veröffentlichte, geht von 42 untrainierten Tänzern aus, die in bestimmten Abständen von rechts nach links entlang der Rampe über die Bühne gehen. Ursprünglich für 40 Leute konzipiert, können aber auch zwischen 30 und 84 Personen daran teilnehmen. In der Partiturversion sind die Performer in sechs Gruppen unterteilt, die aus jeweils 8, 5, 7, 9, 8, und 5 Mitgliedern bestehen. Jeder Teilnehmer erhält eine Vorgabe, wie er den Weg zurücklegen soll. Wird von der ersten Person der Gruppe B nur verlangt, über die Bühne zu gehen, setzt der zweite ein, wenn der erste 20 Schritte zurückgelegt hat. Dann geht er bis zu einem Punkt, der 4/5 der Wegstrecke markiert, wartet dort eine Minute und geht dann ab. Der dritte hat sich schon in Bewegung gesetzt, nachdem der zweite die Hälfte seiner Strecke zurückgelegt hat. Drei Stühle stehen rampenparallel entlang der Strecke, auf denen einzelne Tänzer kurz Platz nehmen. Die Vorgaben beschränken sich rein auf die Abläufe, auf deren Klarheit der Tänzer auch sein Augenmerk richten soll: The pace is an easy walk, but not slow. Performance manner is serene and collected. The dance is about walking, standing, and sitting. Try to keep these elements clear

75 | Jérôme Bel, »Qu’ils crevent les artistes«, in: Art Press 23 (November 2002). 76 | Emil Hrvatin sieht mit diesem »terminal spectator« ein Endspiel des Zuschauers eingeleitet; vgl. Emil Hrvatin, »Terminal Spectator and Other Strategies«, in: Janus 4 (September 2001), S. 62-66.

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VI Die Schreibweisen des Körpers: Jérôme Bel | 365 and pure. The gaze is to be directed forward relative to the body, but should not be especially fixed. The mind should be at rest.77

Angestrebt wird eine Haltung der lockeren Unangestrengtheit, eine Neutralität im Ausdruck, die die Gänge nicht mit dargestellten subjektiven Empfindungen überhöht, sondern das Gehen, Stehen und Sitzen als solches sichtbar machen soll. In vergleichbarer Weise hat Paxton in seinen Stücken State (1968) und Smiling (1969) andere solcher einfacher Tätigkeiten wie das Herumstehen und das Lächeln ausgestellt.78 Ähnlich wie Jérôme Bel höhlt auch Paxton das Bühnengeschehen durch eine Art virtuoses Nichtstun aus. Die Tänzer sind entweder Laien oder sie dürfen, wie in den Stücken Bels, nicht trainieren, um ihnen den spezialisierten Körper des Tänzers zu nehmen, der sofort eine Distanz zum Publikum erzeugt und eine Bewunderungshaltung auslöst. Die Tänzer tragen Alltagskleidung, um sich möglichst wenig von den Zuschauern abzuheben. Beide schmuggeln Alltagsgesten in einen theatralen Kontext, um dessen Tragweite zu hinterfragen und zu überprüfen. Doch sie tun dies auf unterschiedliche Weisen, die sich berühren und nicht unbedingt gegenseitig ausschließen, aber doch auf eine signifikante Umkehrung hinauslaufen. Die Tänzer und Choreographen der sechziger und siebziger Jahre, die aus dem experimentellen Judson Dance Theater-Umfeld hervorgingen, brachen mit ihren Stücken tatsächlich in die Stadt auf und gingen in die Straßen New Yorks, wo sie auf ein unvorbereitetes Publikum trafen. Ob Lucinda Childs in ihrem Street Dance 1964 die Tänzer auf die Straße schickte, wo sie Besonderheiten der Häuser oder Schaufensterauslagen ausdeuteten, oder ob Trisha Brown ihr Tänzer über die Dächer von SoHo verteilte (Roof Piece, 1973) oder in Parks auf Bänken liegen ließ (Group Primary Accumulation, 1973) – immer baten sie ihre (zufällig anwesenden) Zuschauer, den Einbruch des Theatralen in einen nicht-theatralen Kontext mit ästhetischem Blick wahrzunehmen. Auch Phänomenen wie Stehen, Gehen oder Sitzen kann ästhetische Aufmerksamkeit gewidmet werden, sobald die zweifache Brechung des Blicks, die für Josette Féral konstitutiv für Theatralität ist, etabliert ist. Sobald der Zuschauer bemerkt, dass es sich um eine gestaltete Darbietung handelt, verändert sich sein Modus der Wahrnehmung. Der zweite Bruch, der zwischen Fiktion und Realität, stellt sich dann fast zwangsläufig her. Das, was die Tänzer tun, ist real, denn sie führen es mit ihren Körpern aus. Es ist aber zugleich fiktiv, weil es bestimmten Gestaltungsregeln und Rahmungen folgt. Susan Leigh Foster hat diese Taktik in ihrer zweifachen Stoßrichtung folgendermaßen beschrienen: 77 | Steve Paxton, »Satisfyin’ Lover«, in: Sally Banes, Terpsichore in Sneakers. Post-Modern Dance, Hanover: Wesleyan University Press, 1987, S. 71-74, hier: S. 74. 78 | Banes, op. cit., S. 61.

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366 | Abwesenheit In the city, in the park, they wanted viewers to see them theatrically, to use theatricality as a tool with which to see the world differently. Their blending of pedestrian and dancerly elements exposed the disciplining conventions of theater: its proscenium, plush velour, lights, virtuosity, interiority, and the hallowedness of dance movement. At the same time, their dances suggested that viewers, even without the aid of these devices, could still evoke their effects.79

Die Theatralität als Werkzeug die Welt anders zu sehen, trifft auch auf die Tänzer zu. Denn ihre Eigenwahrnehmung, die Spaltung von Fiktion und Realität, die durch die theatrale Rahmung des bewussten Angeschautwerdens in ihrem Körper ausgelöst wird, verändert das Gehen, Sitzen und Stehen in seiner Qualität. Auch der Körper nimmt sich dann in seinen alltäglichen Verrichtungen mit ästhetischem Bewusstsein wahr.80 Jérôme Bel bittet uns dagegen, einer theatralen Situation nicht mit einer ästhetischen, sondern einer sozialen Einstellung zu begegnen. Da er den Ort des Theaters nicht verlässt, transportiert er Theatralität nicht in den Alltag, sondern reflektiert auf sie mit den Mitteln des Theaters. The Show Must Go On ist weniger eine Reflexion auf die Grenzen und den Geltungsbereich von Kunst und ästhetischer Wahrnehmung. Es legt die performative Dimension innerhalb des Tanzes als Kunst offen, und markiert damit eine Grenze, an der die Gesten das Theater verlassen können, um sich in einer »séries de séries«, wie Alain Buffard schreibt, fortzusetzen.81 Ob Steve Paxtons Satisfyin’ Lover mehr zur einen oder zur anderen Kategorie tendiert, hängt davon ab, wo es aufgeführt wird. Bleibt es, wie in der Rekonstruktion von Michail Baryshnikows White Oak Dance Project, im Bühnenrahmen des Hauses der Berliner Festspiele, wo Baryshnikows Judson Church-Retrospektive 2001 im Rahmen des Festivals »Tanz im Au79 | Susan Leigh Foster, »Walking and Other Choreographic Tactics. Danced Interventions of Theatricality and Performativity«, in: Féral, Theatricality, op. cit., S. 125-146, hier: S. 128. 80 | Dies wurde besonders deutlich bei der Eröffnung des Symposions »Reden über Bewegung«, das vom 9. bis 11. Mai 2003 in Berlin im Theater am Halleschen Ufer stattfand. Aus den Reihen der Teilnehmer und Zuhörer erklärten sich 42 Personen spontan bereit, Paxtons Partitur vor den Übrigen aufzuführen. Ich gehörte zu den Darstellern. Obwohl die offene Bühnensituation des Theaterraums einen freieren Austausch und eine größere Durchlässigkeit zwischen Zuschauern und Darstellern ermöglichte, man auf die Ästhetisierung der Bewegung von beiden Seiten also leichter hätte verzichten können, stellte sich bei den Tänzern schon bald das Bewusstsein ein, das Gehen, Stehen und Sitzen ›richtig‹ auszuführen. Durch eine verstärkte Eigenwahrnehmung des Körpers und der Situation, in der wir uns befanden, veränderte sich also die Bewegung. 81 | Buffard/Le Roy, op. cit., S. 31.

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VI Die Schreibweisen des Körpers: Jérôme Bel | 367

gust« zu sehen war, nähert es sich in der Tat Bels Grenzerfahrung. Die ästhetische Dimension wird innerhalb ihrer eigenen Grenzen und Rahmungen weitestgehend zurückgenommen. Doch auch hier behauptet sich das scheinbar Banale weitaus stärker als abgeschlossene Kunstwelt als in Bels Stück. Spielen die Tänzer in The Show Must Go On frontal zum Publikum, beziehen sie es also in die Realisation der Texte mit ein, gehen Paxtons Tänzer im Profil an den Zuschauern vorbei und präsentieren sich so zwar als Menschen wie Du und Ich, aber immer aus einer Distanz heraus, die die Vielfalt und Schönheit des Gehens, Stehens und Sitzens ins Blickfeld rückt. In The Show Must Go On dagegen rückt das, was die Gesten und Bewegungen auslösen und wie sie sich auch außerhalb des Theaters fortsetzen könnten, in den Mittelpunkt. Auf die Frage, wem es in unserer Kultur erlaubt ist, vor einem Publikum auf der Bühne zu tanzen, haben Steve Paxton und Jérôme Bel die gleiche Antwort gefunden: jeder. Was in beiden Stücken an die Stelle des Clowns Gottes (Nijinsky) oder des Athleten Gottes (Martha Graham) tritt, ist der Mensch in seinem Dasein, seinem »unhintergehbaren Menschlichen«, wie es Jérôme Bel nennt, das nur dann erscheinen kann, wenn alles andere abwesend gemacht wird: Es ist ein wirklich seltener Moment, in dem der Darsteller sich weder in der Vergangenheit (seiner Ausbildung als Tänzer) befindet, noch in der Zukunft (indem er etwas begehrt oder will), sondern in einer Gegenwart, in der sich die Spannungen des Subjekts, die Furcht oder die Hoffnung, auflösen und eine unteilbare Präsenz freilegen. Es ist ein Zustand des reinen »Daseins«, den ich einfach umwerfend finde.82

Der Moment der reinen Präsenz ist ein Moment des Todes, aus dem alles Leben, jede Vergangenheit und jede Zukunft, jede Geschichte und jedes Hoffen, gewichen ist. Der Tänzer wird zum exponierten Emblem der Abwesenheit, die er zugleich durch seine Präsenz hindurch sichtbar macht.

82 | Siegmund, »Jérôme Bel«, op. cit, S. 29.

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VII Die Artikulation des Dazwischen: Xavier Le Roy | 369

VII

Die Artikulation des Dazwischen: Xavier Le Roy

Nervös geht der schlaksige Typ mit dem dunklen Lockenkopf von rechts nach links über die Bühne und krempelt sich dabei die Ärmel seines orangefarbenen Hemds hoch. Xavier Le Roy stellt sich auf einen Stuhl, das einzige Requisit weit und breit, der von zwei Lichtrechtecken schwach beleuchtet wird, und presst die Arme an seinen Oberkörper. Dabei beugt er seine Unterarme hinter seine Oberarme, bis der Eindruck entsteht, seine Arme seien am Ellbogen abgeschnitten. Langsam fängt er an, nur seinen nackten Unterarm zu drehen. Wild rotiert er wie ein Propeller durch die Luft, als gehöre er nicht zu seinem Körper, während sein Ellbogen eng an den Körper gepresst bleibt. Am Ende kommt er in der Waagrechten zur Ruhe und bildet mit seinem Pendant auf der anderen Körperhälfte eine Linie, die den Körper in der Mitte gerade durchzuschneiden scheint. Xavier Le Roy tanzt Narcisse Flip, einen Triptychon für Tanz, Musik und Licht. Jeder der drei Teile geht tänzerisch von einer anderen Grundbewegung aus, die dennoch aufeinander bezogen bleiben. Auf diese Weise erzeugen sie einen Bogen, der das gesamte Stück umspannt. Auf das Drehen der Unterarme im Stehen im ersten Teil, »Things I Hate to Admit«, folgt das Verrücken der Beine und Füße im Sitzen. In »Zonder Fact« sitzt Xavier Le Roy tief in einen Sessel gepresst; ein zweiter leerer Sessel steht daneben. Sein Oberkörper wirkt merkwürdig verkürzt und der Kopf scheint direkt aus den Knien hervorzugehen. Plötzlich springt er auf, die Knie zusammengepresst, und versucht, sie mit den Händen vergeblich voneinander zu trennen. Alexander Birntraums Komposition für Piano, die Eric Satie, Stummfilm- und Minimal-Musik in sich aufgesogen hat, hält rhythmisch dagegen. In der Intensität und Spannung nie nachlassend, ist die Musik der stärkste Dialogpartner, den Xavier Le Roy haben kann. »Burke«, der dritte Teil, ist auf der Umarmung des eigenen Torsos aufgebaut, die die langen

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370 | Abwesenheit Arme des Tänzers optisch derart verkürzt, dass von ihnen nur Stümpfe übrig zu bleiben scheinen. Rasch verschieben sich die Körperteile, brechen aus dem Körper aus und werden von den Armen verfolgt, die sich völlig losgelöst vom Körper zu bewegen scheinen. Am Ende liegt er mit zurückgebogenen Beinen auf dem Boden und legt seine Ellbogenstümpfe langsam links und rechts vom Körper ab. 1963 in Frankreich geboren, studierte Xavier Le Roy zunächst Biochemie an der Universität von Montpellier, wo er 1990 in Molekular- und Zellbiologie promovierte. Während dieser Zeit nahm er Unterricht in zeitgenössischem Tanz bei Ruth Barnes und Anne Koren. Er tanzte von 1991 bis 1995 in der Compagnie de l’Àlambic von Christian Bourrigault, zog 1992 nach Berlin, wo er sich der Performancegruppe Detektor anschloss, der er bis 1997 angehörte. 1993 gründete er zusammen mit dem Musiker Alexander Birntraum und der Lichtdesignerin Sylvie Garot die Gruppe Le Kwatt, die 1997 auch für Narcisse Flip verantwortlich zeichnete, bevor sie sich ein Jahr später auflöste. Von 1996 bis 2001 war Le Roy Artist-in-Residence am Podewil in Berlin. Xavier Le Roys frühe Stücke setzen sich vor allem mit der Fragmentierung des Körpers und seines Bildes auseinander, einer Fragmentierung, die mit unseren gewohnten Wahrnehmungsmustern und Sichtweisen des Körpers spielt.1 In einem Text, den Le Roy 1998 selbst zu Narcisse Flip verfasst hat, formuliert er das Ziel seiner choreographischen Arbeit wie folgt: Wir versuchen, Verwirrungen im Körper zu kreieren, die neue Teil-Identitäten enthüllen, die wie multiple Persönlichkeiten zusammengefügt in einer Person erscheinen. […] Wir suchen ein Körperbild, das reduziert ist auf viele einzelne Bestandteile, denen etwas fehlt, was sie zusammenhält. Wir suchen nach dem, was sich zwischen Zerlegung, Abbau, Segmentierung, Zerkleinerung, Atomisierung, Isolation bis hin zur Entmaterialisierung des Körpers ergibt. Wir versuchen, den Körper zu fragmentieren, um ihn von einem globalen Körperbild zu entfernen, damit neue Körpervorstellungen entstehen können.2

Das hier angesprochene Thema der Identität des tanzenden Subjekts und seines Körperbildes begleitet Le Roy auch in seinen späteren Stücken, die im folgenden genauer untersucht werden sollen. Schon in Narcisse Flip wird die Repräsentation eines vorgängigen Körperbildes in Frage gestellt und 1 | Irene Sieben, »Von fraktalen Verstrickungen.« Ein Psychogramm des Körperaufspalters Xavier Le Roy, in: Ballett International/Tanz Aktuell, 4 (Juni 1997), S. 50-53. 2 | Auszug aus dem Programmblatt anlässlich einer Aufführung von Narcisse Flip im Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt am Main, 10. November 1998, die ich besucht habe.

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eine Neuorganisation des Körpers angestrebt, dessen Motor die fehlende habituelle Verbindung zwischen den Körperteilen ist. Die einzelnen Bestandteile des Körperbildes werden nicht mehr zusammengehalten. Sie gruppieren sich um eine zentrale Abwesenheit herum, die den Körper anders und neu hervorbringt. Le Roys Körper erwachsen aus der Abwesenheit, die sich in den nachfolgenden Produktionen wie Self-Unfinished, Product of Circumstances, Giszelle und Projekt nicht mehr nur auf den tanzenden Körper, sondern verstärkt auch auf den symbolischen Rahmen bezieht, in denen der Tanz und seine Subjekte erscheinen. Die Identität des choreographischen Prozesses steht ebenso auf dem Prüfstand wie die traditionelle Rollenverteilung von Veranstalter, Choreograph und Tänzer im Dispositiv des Tanzes. Durch Rahmenverschiebungen entstehen Leerstellen oder Abwesenheiten im Aufführungstext, die die Zuschauer mit ihrem eigenen Imaginären besetzen können.

1

Self-Unfinished

Schon der Titel von Xavier Le Roys Solo Self–Unfinished verweist auf eine Form der Subjektivität, die keine vorgängige Selbstgewissheit kennt, sondern das Selbst als unvollendetes Projekt begreift, das keine bestimmbare Identität annimmt. In einem prinzipiell offenen Prozess bringt sich das Ich immer wieder neu und anders hervor, entwirft Alternativen zu bereits gemachten Entwürfen, ohne dass dabei eine letztgültige Form festzulegen wäre. Xavier Le Roy geht es weniger um die Bilder, die das Subjekt um- und verstellen, als um die Bilder, die der Körper als formbare Masse und biegsames Material selbst hervorbringt. Der promovierte Molekularbiologe, der lange Zeit in der Krebsforschung gearbeitet hat, forscht an der Körperform und den Möglichkeiten ihrer Bewegung. Vor dem Hintergrund des aufrechten Gangs und des menschlichen Achsenkreuzes, das nicht nur für den klassischen Tanz Bezugspunkt der Bewegungsfindung bleibt, entwickelt Le Roy deformierte Körper, die trotz ihrer bizarren Gestalt ein in sich geschlossenes und ihrer jeweiligen Form gemäßes Bewegungssystem finden. Als lieferte die menschliche DNA plötzlich fehlerhafte Informationen zum Zellenaufbau, wuchern und schießen seine Körper gleichsam von innen in Gestalt und Form über jedes Maß hinaus. Die im biologischen DNA-Code formulierte Syntax des Körpers wird aufgebrochen, variiert und neu zusammengefügt. Der Körper spaltet sich von sich selbst immer wieder anders ab, um eine andersartige Körpergrammatik zu erstellen. Le Roys Körperskulpturen sprengen Leonardo da Vincis Bilderrahmen, in dem sich der wohlproportionierte Mensch mit ausgestreckten Armen und leicht geöffneten Beinen seit der Renaissance im wörtlichen Sinn als Maß aller Dinge begreifen durfte.

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372 | Abwesenheit Das Stück ist 1998 als Resultat einer Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Laurent Goldring entstanden, mit dem Le Roy an der De- und Rekonstruktion des menschlichen Körpers und seiner Bilder gearbeitet hat.3 In einem Interview mit Jacqueline Caux beschreibt Le Roy seinen Ausgangspunkt wie folgt: L’espace ne pouvait pas être celui, illusioniste, du théâtre. Le mécanisme des actions devait être visible, transparent, sans secret. J’ai donc choisi de travailler dans un espace blanc, éclairé par des néons – ce qui éliminait des ombres – et de rester dans la frontalité. Dans les pièces précédente, j’avais chercher à morceler le corps: là, au contraire, l’idée était de préserver sa globalité et de lui faire effectuer de multiples mutations. Je souhaitais que la participation du spectateur consiste à questioner ce qu’il percevait.4

Weil der Choreograph Le Roy nicht, wie der Photograph Goldring, mit technischen Geräten arbeiten wollte, die die Illusion eines anderen Körpers erzeugt hätten, sollte der Herstellungsprozess der Körper für alle einsehbar sein. Daher ist die Bühne ein klinisch weißer Raum, der von der Decke mit kaltem Neonlicht beleuchtet wird. Das Licht wirft keinen Schatten, so dass dem Körper hier von vornherein ein Double verweigert wird. Self-Unfinished evoziert eine Laborsituation, in der Xavier Le Roy an sich selbst Versuche durchführt. Ein Tisch, dahinter ein Stuhl, auf dem Boden in einiger Entfernung ein Kassettenrecorder, dessen Schnur sich irgendwo in der Wand verliert: zwischen diesen drei Bezugspunkten im Raum spielen sich Le Roys Exkursionen ins Unbekannte ab, Gänge und Wege, die jedes Mal von neuem am Tisch ihren Ausgang nehmen und wieder zu ihm zurückkehren. Das Stück folgt einer rekursiven Struktur, in der die gleichen Wege immer wieder abgeschritten werden, nur um sich mit jeder Wiederholung zu verändern. Le Roy hat sein Stück im Gespräch als »boucle«, also als Schlaufe oder ›Loop‹ bezeichnet, die sich immer wieder an der gleichen Stelle verknüpft und schließt. Einmal sogar scheint im Abschreiten des Weges die Zeit rückwärts zu laufen. Le Roy geht bis zur Wand, nur um sich dann langsam rückwärts gehend wieder an den Tisch zu setzen. In diesem Hin und Her der Gänge entstehen Übermalungen des Körpers, den wir immer wieder anders wahrnehmen, obwohl er die gleichen Wege abschreitet und die gleichen Positionen im Raum einnimmt. So ist Xavier Le Roys Körper auch deshalb unfertig, weil ihm die Bezeichnung und damit der Ort innerhalb der symbolischen Ordnung fehlt, und wir, die Zuschauer, ihn mit unseren Bil3 | Premiere des Stücks war im November 1998 bei den Tanztagen in Cottbus. Ich habe das Stück am 28. Oktober 1999 im Frankfurter Mousonturm gesehen. Eine Videoaufzeichnung vom 27. November 1999 liegt mir vor. 4 | Caux, »Xavier Le Roy«, op. cit., S. 20.

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dern belegen, die ihn erst zu dem machen, was er nicht ist, weil er immer schon wieder etwas anderes ist. Gerade weil sich keine identifizierbare Form feststellen lässt, die Bezeichnungsfunktion also ausgesetzt wird, eilt uns das Imaginäre zu Hilfe und erzeugt Illusionen von Aliens, Monstern und Fabelwesen, die aber immer wieder zerstört werden, indem sie auf dem Möbiusband zurücklaufen und mit jedem neuen Gang wieder in Frage gestellt werden. Doch dieses Imaginäre ist immer schon eingelassen in die Ordnung der Sprache, ohne deren Hilfe wir die Formen und Figuren überhaupt nicht erkennen würden, ohne die wir uns ihnen nicht mit Vorschlägen, was sie für uns sind oder bedeuten, nähern könnten. Diesen Spalt so lange wie möglich offen zu halten, um neue und andere Wahrnehmungen zu ermöglichen, ist das Ziel des Stücks.

Keine existentielle Angst wie bei Kafkas »Verwandlung« bricht sich hier Bahn, kein Mensch, der allmählich zu einem Käfer mutiert, ohne zu wissen, wie ihm geschieht; eher ein nüchternes, fast distanziertes Erproben von Möglichkeiten wird vollzogen, das keiner psychologischen Tiefenstruktur Vorschub leistet. Das Selbst setzt sich hier als Körper-Selbst spielerisch immer wieder anders ins Bild. Der Zeitrahmen, in dem sich die zehn Sequenzen des Solos abspielen, wird dabei nach Belieben gedehnt oder verkürzt. Mal geht Xavier Le Roy rückwärts wie in Zeitlupe zur Wand, um sich dort mit dem Rücken zu den Zuschauern abzulegen, nur um dann zu seinem Platz zurückzuschlendern; mal besteht die ganze Aktion wie am Anfang darin, zum Kassettendeck zu gehen, es anzustellen und sich einfach wieder hinzusetzen. Wie ein Roboter isoliert er zu hydraulischen Maschinengeräuschen seine Gliedmaßen, setzt Schultern, Arme und Beine nacheinander und doch fein aufeinander abgestimmt in Bewegung und stellt

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374 | Abwesenheit damit die Motorik des aufrechten menschlichen Ganges als Mechanik aus. Doch eingelassen in die knappen, alltäglichen Verrichtungen sind zwei längere Phasen, die wie ein zeitlich ausgedehntes Auffächern oder Entfalten von Körper- und Bewegungspotentialen lesbar sind, die in den kurzen einfachen Gängen bereits vorhanden waren, für das Auge aber doch unsichtbar blieben. Le Roy zieht sich sein schwarzes Oberteil mit ausgestreckten Armen über den Kopf, sodass eine Spalte nackter Haut am Bauch den Oberkörper vom Unterleib trennt, und knickt nach vorne über. Ein merkwürdiges Doppelwesen mit wahlweise vier Armen oder Beinen entsteht, wobei die Handflächen zu den Füßen zeigen, so dass er auf sich zukommt, wenn er sich rückwärts von sich entfernt. Er läuft kopfüber an der Wand entlang, bewegt sich auf Knien mit zu Fäusten geballten Händen wie ein Huftier. In der zweiten Sequenz, seiner Hose hat er sich zugunsten eines schlauchähnlichen Kleides entledigt, kippt er die Beine über den Kopf, führt jeweils einen Arm und ein Bein als Paar zusammen und lässt sie über sich rotieren wie ein Spinne. Die Arme sind bis auf zwei stumpfartige kleine Flügelchen verschwunden, sein Kopf bleibt verborgen, während er auf den Schultern über den Boden rutscht und den nackten Hintern wackelnd in die Luft streckt, als sei er das Gesicht auf einem verstümmelten Torso. Xavier Le Roy macht in seinen faszinierenden Arbeiten aus einem Baufehler ästhetische Produktion, bis der Fehler gar nicht mehr als solcher in Erscheinung tritt.

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Product of Circumstances

In seinem Stück Product of Circumstances aus dem Jahr 1999 erzählt uns Xavier Le Roy die Geschichte seines Werdegangs als Tänzer. Le Roy begann Ende der achtziger Jahre Tanzkurse zu besuchen, während er an seiner Promotion in Molekular- und Zellbiologie an der Universität von Montpellier arbeitete.5 Auf der kahlen Bühne steht ein Stuhl, auf dem ein weißes Kissen liegt, ein Rednerpult und ein Diaprojektor, mit dem Le Roy uns Aufnahmen von markierten Krebszellen zeigt. »Guten Abend meine Da5 | Entstanden ist das Stück aufgrund einer Einladung der Kuratoren Christophe Wavelet, Mårten Spångberg und Hortensia Völckers zum Symposion ›Body Currency‹ bei den Wiener Festwochen 1998. Dort hielt Xavier Le Roy als einmaliges Event eine Lecture-Performance, aus der ein Jahr später Product of Circumstances hervorging; vgl. Petra Sabisch, »Körper, kontaminiert. Ein Versuch mit Randnoten zur Performance Product of Circumstances von Xavier Le Roy«, in: Brandstetter/Peters, de figura, op. cit., S. 311-326. Ich habe das Stück am 4. April 1999 im Podewil in Berlin sowie am 31. Oktober 1999 im Mousonturm Frankfurt am Main gesehen. Eine Videoaufzeichnung liegt mir vor.

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men und Herren«, begrüßt le Roy das Publikum, vorne an der Rampe sitzend, »Willkommen zu dieser Vortrags-Performance. Sollten Sie danach Fragen haben, werde ich sie gerne beantworten.«6 Le Roy verwandelt die Bühne in einen Universitätshörsaal und berichtet von seinen Forschungsergebnissen über Methoden des Markierens und Zählens von Onkogenen, die unter bestimmten Voraussetzungen mitverantwortlich für die Entwicklung von Brustkrebs sind. 1987 legte ich mein Magisterexamen ab und erhielt ein Promotionsstipendium für Molekular- und Zellbiologie vom französischen Staat. Ich hatte die Gelegenheit, in einem Labor zu arbeiten, das auf die Erforschung von Brustkrebs und Hormonen spezialisiert war. Im gleichen Jahr begann ich, mir während der Sommerfestspiele in Südfrankreich, wo ich lebte, zahlreiche Tanzaufführungen anzuschauen. Ich spielte weiterhin Basketball, und mein Körper versuchte, gelenkiger zu werden.7

In regelmäßigen Abständen verlässt Le Roy das Rednerpult, um kleine Tanzsequenzen vorzuführen. Sie markieren Stationen in seiner Entwicklung als Tänzer, die er zu forcieren begann, als sich bei ihm Zweifel an der Objektivität wissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse einschlichen. »Die Diskussionen drehten sich nicht mehr um wissenschaftliche Probleme und Fragen, sondern es ging ausschließlich um Karriere, Macht und Hierarchie. Ich sollte Wissenschaft produzieren, nicht forschen.«8 Anstatt Wissen produziert die Wissenschaft vor allem Karrieren. »Mir wurde klar, daß es in der biologischen Forschung vor allem um Macht und ›Politik‹ geht und nur selten um ein Verständnis vom menschlichen Körper.«9 Genau dieses hofft Le Roy nun im Tanz zu finden. Nachdem ich 1990 meine Doktorarbeit eingereicht hatte, beendete ich meine Karriere als Molekularbiologe. Ich floh. Ich beschloß, mehr zeitgenössischen Tanz zu machen. Denken wurde eine körperliche Erfahrung. Mein Körper wurde gleichzeitig aktiv und produktiv, Objekt und Subjekt, Analytiker und Analysiertes, Produkt und Produzent. Er wurde zu einem nützlichen und um Fragen erweiterungsfähigen Gebiet.10

Er erzählt uns, wie er sich dem Tanzen zuwandte als einer anderen Metho6 | Xavier Le Roy, »Product of Circumstances«, in: köper.kon.text., Jahrbuch Ballett International/Tanz Aktuell 1999, Berlin: Friedrich Verlag, 1999, S. 58-67, hier: S. 58. 7 | Ibid., S. 62. 8 | Ibid., S. 63. 9 | Ibid., S. 64. 10 | Loc. cit.

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376 | Abwesenheit de, sich dem Körper analytisch und forschend zu nähern, einer Methode, die vielleicht zu anderen Einsichten in die Art und Weise seines Funktionierens führt. In der Aufführung eingeschlossen sind Exzerpte aus einer Choreographie von Yvonne Rainer, Continuous Project – Altered Daily, abgekürzt CP-AD, aus dem Jahr 1970, einer Arbeit von Christian Bourigault, in der Le Roy als Tänzer mitwirkte, sowie Exzerpte seiner eigenen Stücke wie »Burke«. So sehen wir ihn sich strecken und dehnen, um flexibler zu werden, sehen ihn Übungen im Stile von Merce Cunningham ausführen oder in der Diagonalen mit klassischen Port de bras über die Bühne gehen. »Ich lege das Mikrophon hin, trete zur Seite und mache ein paar Übungen in der Art von Cunningham-Developpés. Dann gehe ich zum Mikrophon zurück und sage: Es hat nicht viel gebracht.«11 Denn was auch immer er tanzt und wie korrekt auch immer er die Übungen ausführt, sein großgewachsener Körper mit seinen langen Gliedmaßen widersetzt sich den Normen des Tanzes. Schritt für Schritt stellt er fest, dass sich die Einwände, die er gegen die Kolonialisierung des Körpers durch die Wissenschaft vorbrachte, in der Welt des Tanzes auf andere Art wiederholen.

Allmählich bemerkte ich, daß die Systeme der Tanzproduktion einen Rahmen gesetzt hatten, der Einfluß darauf nahm und manchmal sogar weitgehend bestimmte, wie ein Tanzstück zu sein hätte. Tanzproduzenten und Programm-Macher folgen weitgehend den Regeln der globalen Ökonomie.12

11 | Ibid., S. 64. 12 | Ibid., S. 67.

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Auch im Tanz gibt es Regeln, denen sich der Körper unterwerfen muss, um überhaupt als tanzender Körper zu gelten. Er muss bestimmte Mechanismen bedienen, um als Tanzprodukt vermarktbar zu sein, ein Produkt, das deshalb niemals das freie Spiel oder das interesselose Erkunden des Körpers und seiner Bewegung ist, das es zu sein vorgibt. In Product of Circumstances versteht Xavier Le Roy den Körper als Relais zwischen verschiedenen Diskursen, die er in der Aufführung parallelisiert. Sowohl die Medizin und die Biologie als auch der Tanz produzieren nicht nur Wissen über den Körper. Vielmehr ist dieses Wissen das Resultat bestimmter diskursiver Bedingungen, die den Körper erst hervorbringen, den sowohl Tanz als auch Wissenschaft als ihren vermeintlich objektiven Gegenstand voraussetzen. Im wissenschaftlichen Kontext zu forschen verhält sich daher analog zum Tanzen auf der Bühne. »Und vielleicht«, so Le Roy in seinem Text, »ist Theorie Biographie, sie darzulegen ein Vortrag, und einen Vortrag zu halten eine Aufführung.«13 Was in diesem Zitat deutlich wird, ist die permanente Rahmenverschiebung, welche die Aufführung zu ihrem Verfahren erklärt hat. In Product of Circumstances verwendet Xavier Le Roy die Form des wissenschaftlichen Vortrags als ästhetische Form für eine Tanzaufführung. Die Wahrnehmung des Zuschauers oszilliert ständig zwischen scheinbar inkompatiblen Systemen, die seine Erwartungshaltung an das, was im Theater als Aufführung gilt, durchkreuzen. Entweder steht Le Roy hinter seinem Rednerpult und doziert, oder er begibt sich in den Raum, um zu tanzen. Erscheinen die beiden Welten Wissenschaft und Tanz daher zunächst völlig getrennt, verschieben sich auch hier allmählich die Rahmen. Denn auch während er von seinen Forschungen berichtet, bewegt er sich und führt Gesten aus. Auch während er tanzt, sagt er etwas, weil er bei den Zuschauern Vorstellungen produziert, die sie zu verbalisieren suchen. Was die Rahmenverschiebung demnach erzeugt, ist ein Riss im jeweiligen System, eine Unbestimmtheitsstelle, die das System öffnet auf das, was in ihm abwesend ist. Aus dieser Abwesenheit heraus, die sich zwischen den Rahmen auftut, vermag eine kritische Reflexion einzusetzen, die die ideologischen Implikationen des jeweiligen Systems offen legen. Im Intervall zwischen den Rahmen legt das eine System den blinden Fleck des anderen bloß und ermöglicht dadurch eine Reflexion auf die Bedingungen, unter denen der tanzende Körper im symbolischen Raum einer Kultur erscheinen kann.

13 | Loc. cit.

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378 | Abwesenheit

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Der organlose Körper

Sowohl die Reflexion auf die diskursiven Bedingungen, die den tanzenden Körper hervorbringen, als auch der jeweils aktuelle Rekurs auf die (eigene) Geschichte als Tänzer generieren einen Körper, der sich verzweigt und ausbreitet, der zwischen verschiedenen Personen, Theatermitteln, Disziplinen oder gar anderen Choreographien, wie denen von Yvonne Rainer, Verbindungen herstellt, ohne in eine wertende Hierarchisierung zwischen den einzelnen Elementen zu verfallen. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben ein solches Vorgehen mit einem Rhizom verglichen. In ihrem Text Rhizom ersetzen sie die Kommunikationssituation in zentrierten Systemen daher durch »Netzwerke endlicher Automaten«. Es sind Netzwerke, in denen die Kommunikation zwischen beliebigen Nachbarn verläuft, und Stengel und Kanäle nicht schon von vornherein existieren; wo alle Individuen vertauschbar und nur durch einen momentanen Zustand definiert sind, so daß lokale Operationen sich koordinieren und sich das allgemeine Endergebnis unabhängig von einer zentralen Instanz synchronisiert.14

Dieser »momentane Zustand«, in dem »Stengel und Kanäle« der Kommunikation in situ, während die Kommunikation bereits stattfindet, erst hervorgebracht werden, definiert die Aufführungssituation als eine offene. Das Verhältnis zwischen Tänzer und Bühne auf der einen und Zuschauern und Parkett auf der anderen Seite ist nicht vorab durch die Konvention des Theaters geklärt. Vielmehr wird diese Beziehung in der Aufführung zum Thema, in dem sich ein angemessenes Verhältnis, ein möglicher Zugangskanal, erst herausbilden muss, während die Aufführung bereits stattfindet. Dies wird auch durch die Offenheit des Anfangs und des Endes deutlich gemacht. Wie bei einem Vortrag kann man Fragen stellen. Man erhält zumindest das Angebot, mit dem Tänzer über seinen Vorschlag zu diskutieren und kann damit den Rahmen der Aufführung im strikten Sinn ausdehnen oder gar durchbrechen. »Kann die Produktion eines Tanzstücks zum Prozeß und zur Produktion selbst werden, ohne zum Produkt im Sinne von Darstellung und Vorführung zu werden?«, fragt Le Roy und verlagert damit die Diskussion weg vom Körper, der einen Inhalt repräsentiert oder, wie in der Moderne üblich, einen Verhältnis zur Welt formuliert, hin zum performativen Akt der Hervorbringung eines sozialen Verhältnisses zwischen den Körpern des Tänzers und den Körpern der Zuschauer.15 14 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom, übers. von Dagmar Berger u.a., Berlin: Merve Verlag, 1977, S. 28. 15 | Le Roy, op. cit., S. 67.

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Gilles Deleuze und Félix Guattari haben sich diesen Körper als »organlosen Körper« vorgestellt. Eines seiner zentralen Merkmale ist, das er keine »Projektion« ist. »Es ist dies der bilderlose Körper«.16 Ein Körper, der sich kein Bild machen will von sich, scheint zunächst eine Unmöglichkeit zu sein, denkt man an die bildende Funktion für das Ich, das die Psychoanalyse dem Spiegelbild zuschreibt.17 Anhand der Stücke von Xavier Le Roy kann man den organlosen Körper jedoch als Aufgabe begreifen, sich zwischen den etablierten und definierten Körperbildern, die man unweigerlich produziert und wiederholt, überhaupt erst einen Körper zu geben, der sich nicht feststellen oder identifizieren lässt.18 In einem Interview, das Xavier Le Roy mit sich selbst geführt hat und in dem er auf seine eigene Arbeitsweise selbstkritisch reflektiert, beschreibt er einen solchen nicht anatomischen Körper: Wie Sie schon sagen, sind Körperbilder in der Lage, sich an eine extreme Bandbreite von Objekten und Diskursen anzupassen und sie sich einzuverleiben. Alles, was mit der Oberfläche des Körpers in Berührung kommt und lang genug dort bleibt, wird mit dem Körperbild verwoben. Zum Beispiel Kleidung, Schmuck, andere Körper, Objekte, Texte, Lieder usw. All das kann den Körper kennzeichnen, seinen Gang, seine Haltungen, seinen Ausdruck, seine Diskurse, seine Positionen usw. – zeitweilig oder mehr oder weniger dauerhaft. […] Daher muss es neben dem anatomischen noch eine andere Alternative zum Bild des Körpers geben. […] Ich denke, dass der Körper als Raum und Zeit für Handel, Austausch und Verkehr verstanden werden kann. […] diesem Gedanken nachzugehen würde beispielsweise bedeuten, dass man jedes Individuum als eine Unendlichkeit externer Teile verstehen kann. Anders ausgedrückt: es würde nur zusammengesetzte Individuen geben. Ein Individuum wäre ein Gedanke, der völlig ohne Sinn ist.19

Ähnlich argumentiert der Choreograph und Tänzer Jérôme Bel, wenn er schreibt: Genau in diesem Moment, wenn ich schreibe, könnte ich alle meine Körper aufzählen. […] Ich werde, ganz bescheiden, einen Interkörper und einen Hyperkörper her16 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, übers. von Bernd Schwibs, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1988, S. 15. 17 | Vgl. Lacan, »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, in: Lacan, Schriften I, op.cit., S. 61-70. 18 | Einen solchen nicht feststellbaren Körper hat Xavier Le Roy in seinem Solo »Self-Unfinished« aus dem Jahr 1998 produziert. Darin entwirft er einen Körper, der ständig aus sich selbst heraus mutiert und seine Form verändert. 19 | Xavier Le Roy, »Selbstinterview am 27.11.2000. Performancetext«, in: Schulze/Traub (Hg.), Moving Thoughts, op.cit., S. 77-86, hier: S. 78.

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380 | Abwesenheit vorbringen (eine metaphysische Mutation!). Einen Körper, der nicht in erster Linie Prinzipien verkörpert, wie Einheitlichkeit, Geschlossenheit und Dauerhaftigkeit, sondern einen rastlosen, produktiven und komplexen Körper.20

Diese komponierten, zusammengesetzten Individuen, die damit letztlich immer teilbar und damit im strengen Sinn keine Individuen sein können, gilt es nun im Bühnenraum auszuspielen. Wenden wir uns noch einmal der Vorstellung eines organlosen Körpers von Deleuze und Guattari zu. Ihre Schizoanalyse, die der etablierten Psychoanalyse mit ihrer Fokussierung auf den Ödipus-Komplex als strukturierendem Instrument der Ichentwicklung den Kampf angesagt hat, sieht diesen organlosen Körper im Widerstreit mit den Wunschmaschinen des Psychotikers. Ohne gliederndes Zentrum, das die Wünsche hierarchisch anordnet, gibt es in der Vorstellung Deleuze und Guattaris nur Wunschströme, die Partialobjekte miteinander verketten, wieder auflösen, um sich neue Verbindungen zu suchen. Dabei spielen traditionelle Unterscheidungen zwischen Mensch, Natur und Technik, Organischem und Anorganischem keine Rolle mehr. Alles hat nur noch die Aufgabe, zu produzieren, Produktionen von Produktionen herzustellen in Form von konnektiven Synthesen. Inmitten dieser Wunschmaschinen entsteht gleichzeitig mit ihrer Produktionstätigkeit ein Körper, der als eine Art Nullpunkt, als Identität ohne Identität, lediglich die Identität des Prozesses garantiert. Deleuze und Guattari nennen diesen Körper in Anlehnung an Antonin Artaud den »organlosen Körper«: Den Organmaschinen setzt der organlose Körper seine glatte, straffe und opake Oberfläche entgegen, den verbundenen, vereinigten und wieder abgeschnittenen Strömen sein undifferenziertes und amorphes Fließen. Den phonetisch aufgebauten Worten setzt er Seufzer und Schreie, ungegliederte Blöcke, entgegen.21

Dieser volle Körper ist Anti-Produktion, weil er sich verschließt, weil er nicht aus sich heraus gehen will, und doch vereinigt er sich mit Elementen der Produktion, ohne die er nicht denkbar wäre. Deleuze und Guattari sprechen daher wiederholt von der Tätigkeit des organlosen Körpers als »Abstoßen« oder als »abstoßende Reaktion«22. Er stößt die Wunschmaschinen ab, die ihn mit ihren Vorstellungen und Repräsentanzen gliedern und teilen

20 | Jérôme Bel, »Ich bin dieses Loch zwischen ihren beiden Wohnungen«, in: körper.kon.text, Jahrbuch Ballett International/Tanz Aktuell 1999, Berlin: Friedrich Verlag, 1999, S. 36-37. 21 | Deleuze/Guattari, op. cit., S. 15. 22 | Ibid., S. 15-16.

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wollen. Um eine andere Vorstellung von Freud zu bemühen, könnte man vom organlosen Körpers als dem Todestrieb sprechen, von dem die Lebenstriebe mit ihrer prozesshaften Vernetzung ausgehen und zu dem sie wieder zurückkehren. Vor diesem Hintergrund erhalten die Bilder aus Xavier Le Roys Stück Self-Unfinished noch einmal eine andere Wertigkeit. Das Eingangsbild des Roboters ist nicht mehr nur ein Reflex auf Le Roys vorangegangene Stücke, sondern auch ein Körper, der sich an das Technologische angekoppelt hat. Es ist nicht nur die Lust am Mechanischen, Hydraulischen, die das Lachen der Zuschauer auslöst, sondern auch die Lust an jenen ungeformten Lauten, jenen Motorgeräuschen, mit denen Le Roy die Bewegungen begleitet. Es sind Laute, die ihn entindividualisieren und die sich zwischen seinen Körper und einer intelligiblen Sprache schieben als stimmliche Phänomene, die sich einen neuen, anderen Körper geben müssen. In einigen Szenen legt sich Xavier Le Roy in der linken Ecke auf den Boden und presst sein Gesicht an die Rückwand, als wolle er mit ihr verschmelzen. Die Zuschauer sehen nur seinen Rücken, seinen schmalen Körper, der wie tot und bewegungslos auf dem Boden kauert. In einer anderen Szene bleibt er aufrecht vor der Wand stehen, bis er in unserer Wahrnehmung zu einem Fleck reduziert wird, dem man keine Identität mehr zusprechen kann. In beiden Fällen wird der permanente Fluss der Gestalten für kurze Zeit arretiert. Die permanente Produktion von Körperbildern, die sich nicht still stellen, nicht rahmen lassen, wie von dem Tischgestell, in das sich Le Roys Körper hineinzwängt, nur um es gleich darauf zu kippen und umzustürzen, wird unterbrochen. Damit geht auch eine Rücknahme der Differenzierungen einher, die sich im Zuge der Bewegungen eingestellt hatten. Alles wird in diesen leblosen Körper zurückgenommen, fällt in ihm zusammen, so dass ein Körper entsteht, der sein Geheimnis nicht preisgeben will. Eine ähnliche Figur hatten wir am Ende von Le Roys Stück Xavier Le Roy, das er im Namen von Jérôme Bel realisierte, ausgemacht: eine graue Gestalt, ein graues Häufchen, vermummt und opak, steht, sitzt und liegt auf dem Boden, ohne dass die Zuschauer ihr oder ihm eine Bedeutung beimessen könnten. Dennoch wirkt diese Figur wie ein Appell an unsere Wahrnehmung und unsere Gedanken, die Produktion ausgehend von diesem organlosen Körper ohne definiertes Bild für uns wieder aufzunehmen. Folgen wir Deleuze/Guattaris Rhizom-Theorie können wir dies tun, weil wir Teil dieses Körpers sind, immer schon an ihn angekoppelt und produzierend. Doch damit wird letztlich die Singularität unseres Verhältnisses zum Körper und zur Sprache geleugnet, auf die es Artaud in seiner Konzeption des organlosen Körpers ankommt. Im Umfeld seiner Revision des Theaters der Grausamkeit als Hörstück beschreibt Antonin Artaud diesen organlosen Körper 1947 wie folgt: »Der Körper ist der Körper/er ist allein/und braucht keine Organe/der Körper ist

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382 | Abwesenheit niemals ein Organismus/die Organismen sind die Feinde des Körpers.«23 Die Grausamkeit dieses Körpers liegt in der anvisierten Rückkehr des Körpers zu sich, bevor der Geist von ihm abgespalten wurde. Der Mensch als sprachliches Wesen ist ein gespaltenes Wesen, dem der unmittelbare Zugang zu seinem Körper verwehrt bleiben muss. Die innere Ausdifferenzierung des Körpers in Organe »eröffnet den Mangel«, so Jacques Derrida in seiner Artaud-Lektüre, »durch den der Körper sich von sich selbst entfernt; dadurch kann er sich folglich als Geist ausgeben und begreifen.«24 Der menschliche Körper ist ebenso wie die Sprache immer schon gestohlen, uneigentlich und gedoppelt von einem kulturellen System, das uns um unsere Natur bringt. Für Artaud ist Gott der Name jenes Dritten, der den Geist vom Körper trennt, um den Körper zu unterdrücken. Derrida sieht das unmögliche Ziel von Artauds Theaterutopie daher in einer Kunst, die keine Werke hervorbringt, »die ohne Spur sein will, das heißt ohne Differenz.«25 »Weil das Werk immer das des Todes ist, wird die werklose Kunst, der Tanz oder das Theater der Grausamkeit die Kunst des Lebens selbst sein.«26 Mit dem organlosen Körper verbindet sich daher die Utopie einer Freiheit, die dem Körper als Geist zurückgegeben wird. Am Ende seines Hörstücks Pour en finir avec le jugement de dieu formuliert Artaud dies folgendermaßen: »Wenn Sie ihm [Gott; d.Verf.] einen Körper ohne Organe hergestellt haben, dann werden Sie ihn von all seinen Automatismen befreit und ihm seine wirkliche und unvergängliche Freiheit zurückerstattet haben.«27 Bezogen auf das Theater bedeutet das zunächst keine Trennung in einzelne ausführende Instanzen oder Organe, die das Theater in Autor-Text, Regisseur-Schauspieler und Zuschauer organisierten. Ziel eines solchen Theaters wäre die Herstellung eines Performance-Textes, der sich im Vollzug selbst schreibt. Helga Finter sieht das Ziel von Artauds Theater gerade nicht, wie sich vorschnell vermuten ließe, in der Herstellung einer ungeteilten Präsenz. Gerade in der Abwesenheit einer körperlichen und stimmlichen Identität, die Körper und Stimme als transindividuellen Prozess vorstellbar machen, entstehen mobile Körper, die sich noch nicht geschlechtlich ausdifferenziert haben. Diese Körper gehen zurück an die Nahtstelle zur symboli-

23 | Zitiert nach: Deleuze/Guattari, op. cit., S. 15. 24 | Jacques Derrida, »Die soufflierte Rede«, in: Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, übers. von Rodolphe Gasché, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2 1985, S. 259-301, hier: S. 287. 25 | Ibid., S. 267. 26 | Ibid., S. 280. 27 | Antonin Artaud, »Schluß mit dem Gottesgericht«, in: Antonin Artaud, Letzte Schriften zum Theater, übers. von Elena Kapralik, München: Matthes & Seitz, 2002, S. 7-29, hier: S. 29.

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schen Ordnung von Sprache und Kultur, um den Prozess der Konstitution von Subjektivität wiederzueröffnen und offen zu legen. Damit ist Artaud hinabgestiegen an den Punkt, wo sich das Imaginäre und der Bezug zum Symbolischen formen. Die Theatralität, die er zeigt, ist nicht mehr die ihrer, auf dem Theater gekitteten unbewußten Verbindung. Eher legt er diese Verbindung offen: Sie entsteht aus der Entgrenzung der Sprache selbst, wenn durch Überdeterminierung ihrer Materialität die Besetzung mit Affekten die Fixierung des Begehrens möglich macht.28

Für Finter sind vor allem die späten Hörstücke wie Pour en finir avec le jugement de dieu aus dem Jahr 1947 gelungene Realisierungen eines solchen Körpers, weil darin die Stimmen in der Tat einen organlosen Körper als Pendant haben, organlos deshalb, weil er nicht präsent, sondern abwesend ist, weil er keine Repräsentanz finden kann und imaginiert werden muss. Wie bei jedem Tanzstück haben wir es jedoch auch bei Xavier Le Roys Self-Unifinished mit einem Körper und einer Körperlichkeit zu tun, die überaus präsent ist. Hier wird, mit Ausnahme der Robotersequenz, nicht die Semantik der Sprache stimmlich desartikuliert, sondern die Sprachen und Gesten des Tanzkörpers werden mit Hilfe des Körpers ›defiguriert‹.29 Genau durch dieses Insistieren auf dem gesprochenen Körper aber ist Le Roy Artauds Vorstellung eines organlosen Körpers näher als der Interpretation, die Artauds Konzept durch Deleuze und Guattari erfahren hat. Bleibt bei ihnen der organlose Körper ein körperloser Fluchtpunkt, der jeglicher Artikulation vorausgehen muss, insistiert Artaud gerade auf der Unhintergehbarkeit des fleischlichen Körpers an der Schwelle zur Sprache, die abund ausgestoßen wird. Artauds organloser Körper ist daher keine Maschine oder gar ein Roboter, sondern er bleibt an die Sprache gebunden. Konsequenterweise entwirft Artaud keine Opposition zwischen organischem und organlosem Körper wie es Deleuze und Guattari tun. Das Abwesende, Undarstellbare bricht in Form sprachlicher Glossolalien in seine Texte ein, deren grammatische Ordnung sie zersetzen, ohne das Symbolische dabei jedoch gänzlich auszublenden. Vergleichbar mit dem Ansatz von Jérôme Bel arbeitet Xavier Le Roy an jener Stelle, an der die symbolische Ordnung den Körper immer schon ergriffen hat, wo im Gegensatz zu Deleuze und Guattaris Vorstellung der Körper immer schon gesprochen ist, um zwischen dem Symbolischen das Abwesende aufscheinen zu lassen. Ohne geregelte Tanzsprache jedweder 28 | Helga Finter, Der subjektive Raum Band 2. »[…] der Ort, wo das Denken seinen Körper finden soll«: Antonin Artaud und die Utopie des Theaters, Tübingen: Gunter Narr, 1990, S. 140-141. 29 | Vgl. Brandstetter/Peters, de figura, op. cit.

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384 | Abwesenheit Couleur bleibt der Bezug seiner Bewegungen zur symbolischen Ordnung des Repräsentationstheaters zunächst offen. In der Abwesenheit einer geschlossenen Identität, die über die Tanzsprache bereits eine Anbindung an die Ordnung darstellt, vermag sich aber auch hier die Verbindung zwischen einem heterogenen Imaginären und dem Symbolischen neu zu formen. Die Faszination, die Le Roys Körperbilder in Self-Unfinished beim Zuschauer erzeugen, sind solche Zeichen einer Lust am Körper und einer Lust, diesen anders wahrzunehmen. Doch das Symbolische ist auch hier bereits Teil der Bilder. Die meisten Zuschauer verbinden mit Le Roys monströsen und bizarren Gestalten Tiere: eine Spinne, ein Hühnchen, ein Frosch stellen sich per Analogie ein, weil sie uns an deren Formen und Bewegungsmuster erinnern. Tatsächlich aber hat sich Le Roy von den verschiedenen Stadien der embryonalen Entwicklung leiten lassen, die durch Ultraschallaufnahmen bildlich repräsentierbar sind. Durch das komplexe Falten des Gewebes differenzieren sich einzelne Organe im Lauf der Entwicklung erst heraus. Aus der äußeren, der Gebärmutterwand zugewandten Zelllage, dem äußeren Keimblatt (Ektoderm), entwickeln sich u.a. das Nervensystem und die Haut. Aus der inneren, der Gebärmutterhöhle zugewandten Zelllage, dem inneren Keimblatt (Entoderm), entstehen u.a. das Atmungs- und Verdauungssystem. […] Zwischen dem Ektoderm und dem Entoderm bildet sich ein weiteres Keimblatt (mittleres Keimblatt, Mesoderm), das Vorläufer für Knochen, Muskeln, Knorpel- und Bindegewebe ist.30

Das Falten und Zusammenziehen seines Körpers auf der Bühne führt die Isometrie des Körpers vor Augen, dessen Bauformen sich auf anderen Stufen und Ebenen in jeweils ähnlicher Weise wiederholen. Wie Artaud sich dem balinesischen Theater als Imaginärem bedient, um das in der herrschenden Kultur Ausgegrenzte reintegrieren zu können, bedient sich Le Roy der naturwissenschaftlichen Forschung, um die Verbindung des Tanzes zur symbolischen Ordnung, innerhalb derer er stattfindet, anders zu ziehen. Neu sind auch in Self-Unfinished nicht die Körperbilder, die er entfaltet. Die Faltungen, die Le Roy auf der Bühne vornimmt, folgen dem Auffalten eines Embryos während dessen physiologischer Entwicklung. Organe wickeln sich auf und produzieren dadurch einen Körper. Le Roys Bewegungen sind daher immer schon von der Biologie souffliert und dem Tänzer gestohlen durch die Kultur, die Bedeutungen erzeugt. Durch die Verlangsamung des Auffaltens jedoch bleibt das herzustellende Bild für Momente in der Schwebe, könnten andere Möglichkeiten aufgefaltet werden als diejenige, welche sich letztlich herausbildet. Die Verlangsamung der Bewegung dehnt den Zwischenraum zwischen den einzelnen Figuren, die dadurch kontingent erscheinen und immer schon wieder im Übergang begriffen sind. 30 | (c) Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001.

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Le Roys Körper ist ein ungeteilter mobiler Körper, der sich ohne Zäsuren permanent im Fluss befindet. Weder männlich noch weiblich, hat er seine Energie (noch) nicht in festgefügte Sexualitäten kanalisiert. Sein Tanz desorganisiert mit dem Körper das funktionale, geteilte Bild des Körpers. Er stellt den ungeteilten Körper wieder her, indem er durch die kulturellen Bilder hindurchgeht. Zitieren wir in diesem Zusammenhang noch einmal Artaud: Die Rekonstitution des Körpers muß autark sein, sie darf keine Hilfe annehmen: der Körper muß in einem Stück wieder hergestellt werden. »Ich werde es sein,/der/ mich/selbst/ganz wiederhergestellt/haben/wird/[…]durch mich,/der ich ein Körper bin/und der in sich keine Bereiche birgt.« »Die Wirklichkeit ist noch nicht geschaffen, weil die wahren Organe des menschlichen Körpers noch nicht zusammengestellt und eingesetzt sind./Das Theater der Grausamkeit wurde geschaffen, um diese Einsetzung zu vollenden, und um mit einem neuen Tanz des menschlichen Körpers diese Welt der Mikroben, die bloß ein koagulierendes Nichts ist, in die Flucht zu schlagen./Das Theater der Grausamkeit will paarweise Augenbrauen mit Ellbogen, Kniescheiben, Schenkelknochen und Zehen tanzen und sehen lassen.«31

Damit wird der organlose Körper anders als in der reduktiven Auslegung der Schizoanalyse von Deleuze und Guattari weiter gefasst. Er stößt nicht ab, sondern ist an sich schon Produktion von Verbindungen zwischen »Augenbraun mit Ellbogen, Kniescheiben, Schenkelknochen und Zehen«.

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Der anagrammatische Körper

Diese unvorhergesehenen Verbindungen, die den Körper für Artaud endlich wieder tanzen und ihn nicht in seiner abgespaltenen Alltagsfunktionalität aufgehen lassen,32 sind weit davon entfernt, psychotische Zerstückelungen zu sein. Sie erhalten den Körper in einem Stück, wie Derrida meint, aber anders. Erinnern wir uns daran, dass es auch in Xavier Le Roys Universum in Self-Unfinished keinen Schatten gibt. Das grelle Neonlicht, das schonungslos alles offen legt, verweigert dem Körper sein Doppel. Es produziert kein erstes Bild des Körpers, sondern schließt ihn in sich ab. Dies 31 | Zitiert nach Derrida, »Die soufflierte Rede«, op. cit., S. 288. 32 | »Man hat den menschlichen Körper essen lassen,/man hat ihn kochen lassen,/um sich dem zu entziehen,/ihn tanzen zu lassen«; Antonin Artaud, »Das Theater der Grausamkeit«, in: Antonin Artaud, Letzte Schriften zum Theater, übers. von Elena Kapralik, München: Matthes & Seitz, 2002, S. 31-43, hier: S. 35.

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386 | Abwesenheit wird unterstützt durch Le Roys Blick, der stets nach innen auf seinen eigenen Körper gerichtet ist, der sich in den Faltungen immer nur selbst anschaut, ohne den Kontakt mit dem Publikum oder einem Außen zu suchen. Das unterscheidet Le Roys Verbiegungen von denen der Kontorsionisten oder Schlangenmenschen, die im Zirkus oder anderen Arenen stets den Blick der Menge suchen, um sich bewundern zu lassen. Ihre Faltungen öffnen den Körper, während diejenigen Le Roys ihn schließen. Derart abgeschlossen, bearbeitet Le Roy den Körper aus sich heraus. Wichtig dabei ist vor allem die Arbeit aus den Gelenken, die den Körper auffalten und mutieren lassen. Le Roy setzt an diesen Scharnierstellen des Körpers an und produziert einen Körper in ständiger Differenz zu sich selbst. Diese Differenz, die nie stillzustellen ist und deshalb einen Körper hervorbringt, der viele Körper ist, ist nicht reduzierbar auf irgendein Selbst, das ihn bewohnen könnte. Die Choreographie ist dabei das analytisches Werkzeug dieses multiplen Körpers. In diesem Sinne ist Le Roys Poly-Körper auch ein kritischer Körper, weil er sich jeglicher vereinnahmender Zeichenproduktion verweigert. Diesen Körper kann man nicht als Zeichen für Jugendlichkeit, Flexibilität oder Erotik eintauschen. Jean Baudrillard macht am Ende seines Kapitels über den Körper in Der symbolische Tausch und der Tod auf das Besondere dieses Körpers aufmerksam. In der Parabel vom Metzger von Dschuang-Dsi unterscheidet er das Vorgehen des Zen-Metzgers von dem eines herkömmlichen Metzgers. Wo letzterer sich nur mit der äußeren Form des Ochsen beschäftigt, um sie »rücksichtslos in Knochen, Fleisch und innere Organe«33 zu zerlegen, operiert der Metzger von Dschuang-Dsi aus den Zwischenräumen des Körpers heraus. Er erkennt, so Baudrillard, die »Leere als Gelenkverbindung«, »die Struktur der Leere, die den Körper zusammenhält«.34 Mit seinem Messer, das der Schärfe des analytischen Verstandes gleichkommt, artikuliert er »die Leerstellen des Körpers«: [D]ieses Messer [operiert] nicht am Körper, es löst ihn auf, es bewegt sich aufmerksam und traumwandlerisch darin […], und es geht anagrammatisch vor – das heißt, es geht nicht von einem Terminus zum nächsten, von einem Organ zum anderen über, als wären sie aneinandergereiht, miteinander verbunden wie die Wörter durch die Kette einer funktionalen Syntax: so verfahren die schlechten Metzger und der Linguist der Signifikation. Dieses Messer verfolgt eine andere Richtung: es schiebt den manifesten Körper beiseite und folgt dem Körper unter dem Körper, so wie das Anagramm seinem Modell der Streuung und Auflösung eines Terminus gemäß einem corpus princeps folgt, dessen Geheimnis in der anderen Artikulation liegt, die unter

33 | Baudrillard, Der symbolische Tausch, op.cit., S. 189. 34 | Ibid., S. 190.

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VII Die Artikulation des Dazwischen: Xavier Le Roy | 387 dem Diskurs verläuft und etwas (einen Namen, eine Formel) nachzeichnet, dessen Abwesenheit den Körper unsichtbar durchdringt.35

Xavier Le Roy schafft einen solchen anagrammatischen Körper, indem er die logische Funktionsweise des Körpers (das aufrechte Achsenmodell, Füße zum Gehen, Hände zum Greifen usw.) seziert und an einem Stück, ungeteilt, als ungesehenen und unvorhergesehenen Körper hervorbringt. Er konzeptualisiert den Körper als Differenz, die Differenz bleibt, weil die Choreographie von dem körpereigenen Ort der Differenz ausgeht. Wie das Messer des Dschuang Dsi-Metzgers faltet er den Körper auf, indem er an den Zwischenräumen und Leerstellen in den Gelenken arbeitet, die für die Flexibilität und Nicht-Identität des Körpers verantwortlich sind. Aus der Abwesenheit im Körper heraus entsteht ein organloser Körper, der viele Körper ist, ohne ein Bild, eine Projektion sein zu können. In einem gleichbleibenden Fluss der Bewegung, der keine Phrasierung und keine Höhepunkte kennt, ist der Körper ständig im Übergang begriffen. Mögen die einzelnen Figuren auch von Stadien der embryonalen Entwicklung abgeschaut sein – auch das ein organloser Körper, ein Körper im Körper, der als (differenzierter) Körper noch abwesend ist –, in den fließenden, gleitenden Übergängen verwischen sich die Bilder seiner Organisation. Der organlose Körper setzt sich fort. Er produziert neue Verbindungen und Affekte, die mit der Wahrnehmung eines solchen Körpers verbunden werden können. Als Körper, der seinen Platz in der symbolischen Ordnung noch finden muss, ist er eine Infragestellung des tanzenden Körpers im Zeitalter des Spektakulären. Bleibt die Vorstellung eines organlosen Körpers in Self-Unfinished weitgehend an den anatomischen Körper angelehnt, ändert er in Le Roys Stück Giszelle seine Zusammensetzung. Anknüpfend an Überlegungen, die er in Product of Circumstances angestellt hatte, wird der Tänzerkörper dabei zur Durchgangsstation für andere kulturelle und damit immer schon erkannte, von Gott gestohlene Körper. Artauds Frage nach einem Performance-Text, der sich im Vollzug selbst schreibt, spitzt Le Roy schließlich in seinem jüngsten Projekt, das auch den Titel Projekt trägt, noch einmal zu.

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Giszelle

Xavier Le Roys Arbeiten verbinden sich mit Artauds Überlegungen zum Theater und zum Tanz, der für Artaud die Bedingung des Theaters ist, in einer Kritik an der Repräsentation und folglich der Identitätsbildung des Körpers. »Pest,/Cholera/und schwarze Pocken/gibt es nur,/weil der Tanz 35 | Ibid., S. 190-191.

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388 | Abwesenheit und folglich das Theater/zu existieren noch nicht begonnen haben«,36 schreibt Artaud und verweist dabei auf die heilende Wirkung seines Theaters, die noch aussteht. In der Verwerfung des Mythos’ und des Ritus’, der seine späten Schriften auszeichnet, soll keine neue gesellschaftliche oder soziale Identität mehr über das Theater gestiftet werden, die sich nur über den Ausschluss neuer Opfer schließen könnte. Die Bühne soll, wie Helga Finter argumentiert, zum Ort der Subjektkonstitution selbst werden. Die versprochene Heilung setzt ein, wenn die an die Stimme als Ort zwischen Körper und Sprache gebundenen Affekte als das Heterogene der Subjektbildung im Prozess der Aufführung bewusst gemacht und umbesetzt werden können.37 An dieser Stelle nun schlägt Xavier Le Roy in seiner Arbeit an der Repräsentation einen anderen Weg ein. Der menschliche Körper ist für ihn keineswegs »ein Elektrizitätswerk, bei dem man die Entladung kastriert und verdrängt hat«,38 wie Artaud in Das Theater der Grausamkeit schreibt und wie es Teile der Tanzmoderne mit ihren energetischen Körperkonzeptionen umgesetzt haben. Die Fähigkeit des Körpers »immer unermeßlichere Leerlöcher/einer organischen, nie ausgefüllten Möglichkeit aufzunehmen«,39 liegt für Le Roy im bewussten Durchgang durch kulturelle Körperbilder und Repräsentationen. Der Ort, der von seinem Tanz gesucht wird, erschließt sich nicht durch ein Hinabsteigen zu jenem thetischen Einschnitt, an dem sich Imaginäres herausbildet und mit Symbolischem verbindet. Das Heterogene, Abjekte, Verworfene, das sein Tanz bewusst machen will und zu reintegrieren versucht, ist die kulturelle Prägung der Bewegung selbst. Le Roys organloser Körper vernetzt sich an den Oberflächen mit anderen Bildern, Körpern und Bewegungen, die ›seinen‹ Körper immer schon in einen diskursiv konstituierten Poly-Körper verwandeln. Product of Circumstances fächert einen solchen Körper zwischen Naturwissenschaft und Tanz auf. Körper bilden sich durch andere Körper; Bewegungen zitieren unweigerlich andere Bewegungen. All das vergessen wir und vergessen wir auf der Bühne, wenn es darum geht, Eigenes, Neues und Individuelles zu formulieren und zu zeigen. Der eigene Körper wird durch dieses Verfahren ausgehöhlt und zu einem immer unermesslicheren ›Leerloch‹, das sich in anderen Leerlöchern fortsetzt. Umgekehrt wird dadurch die Konstitution des Körpers im Allgemeinen und des Tänzerkörpers im Besonderen durch performative Akte zwischen Wiederholung und Differenz hervorgehoben. Für Xavier Le Roy findet jede Bewegung zwischen Wiederholung und ihrer Differenz statt. Jede Bewe36 | Artaud, »Theater der Grausamkeit«, op. cit., S. 39. 37 | Finter, Artaud, op. cit., S. 113-138. 38 | Artaud, »Theater der Grausamkeit«, op. cit., S. 34. 39 | Loc. cit.

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gung, die man ausführt, zitiert unweigerlich eine vorhergehende Bewegung. Sie findet in einem sozio-kulturellen Geflecht von Erlerntem und Gewusstem statt, das jeden Körper hervorbringt. Gleichzeitig ist die neue Bewegung jedoch keineswegs identisch mit der ersten. Ausgeführt von einem anderen Körper, den andere Bedingungen geformt und geprägt haben, zu einer anderen Zeit, wird sie unweigerlich von der zitierten abweichen – selbst dann noch, wenn sie der gleiche Tänzer oder die gleiche Tänzerin tanzt. Das Stehlen der Bewegung durch die Kultur ist kein Problem mehr wie noch bei Artaud. Es ist die Voraussetzung jeder Bewegung, die immer schon in »Abwesenheit ihres eigentlichen Subjektes«40 durch die Körper hindurchläuft. Stellt die Zitathaftigkeit der kulturellen Prägung der Bewegung das Abwesende der modernen Tanzbewegung dar, so stellt auf der anderen Seite die Physis des Tänzers oder der Tänzerin das Heterogene der kulturell geprägten Bewegung dar. Wie in Product of Circumstances sichtbar wurde, bricht sich die Technik des Balletts oder die Technik Merce Cunninghams an Le Roys Körper, der sich ihren Bedingungen nicht anzupassen vermag. Durch diesen (passiven) körperlichen Widerstand, der die diskursiven Normen enttarnt und deshalb in der Aufführung Lachen auslöst, entstehen in der Wiederholung Veränderungen und Differenzen, die vielleicht etwas Neues, Ungesehenes auslösen. Auf diesem Prinzip basiert Le Roys Stück Giszelle, das er für die und mit der ungarischen Tänzerin Eszter Salamon choreographiert hat. Dessen erster Teil wurde im Juli 2001 beim Festival d’Avignon uraufgeführt.41 Ein zweiter Teil wurde dem Stück einen Monat später beim Internationalen Tanzfest Tanz im August in Berlin hinzugefügt. Schon im Titel wird dieses Wechselspiel zwischen Wiederholung und individueller Einschreibung augenfällig. In das große romantische Ballett Giselle, das durch den Namen aufgerufen wird, schreibt sich mit dem Buchstaben Z der Name der Tänzerin Eszter Salamon ein, die einerseits Giselle tanzt, dies andererseits aber, wie jede Tänzerin, auf ihre eigene Art und Weise tut. Aber das Z verweist 40 | Derrida, »Die soufflierte Rede«, op. cit., S. 271. 41 | Eszter Salamon studierte Tanz an der Nationalen Tanzakademie in Budapest. 1992 kam sie nach Frankreich und arbeitet dort vor allem mit der Choreographin Mathilde Monnier am Centre Chorégraphique in Montpellier. Salamon wurde von der französischen Gesellschaft für Choreographenrechte (SACD) gebeten, sich einen Choreographen auszusuchen, der mit ihr ein Solo erarbeitet. Dieses Konzept wird jährlich an vier Tänzer aus Frankreich herangetragen. Die Ergebnisse werden schließlich im Rahmen des Festivals in Avignon unter dem Titel »Le Vif du Sujet« aufgeführt. Ich habe das Stück am 26. August 2001 im Podewil, Berlin und am 23. März 2003 in Frankfurt am Main gesehen. Eine Videoaufzeichnung vom 30. August 2001 liegt mir vor.

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390 | Abwesenheit noch auf mehr als auf dieses gängige Prinzip. Roland Barthes hat in seinem Buch S/Z das Z als »Buchstabe der Abweichung« und als »Buchstabe der Verletzung« bezeichnet, der das Wort ortographisch und phonetisch durchschneidet »wie eine schrägstehende, verbotene Klinge«. Darüber hinaus stehen S und Z in einem graphischen Umkehrverhältnis: »von der Rückseite des Spiegels aus gesehen derselbe Buchstabe«.42 Das Z trennt Giselle von GisZelle, rückt sie zu sich auf Distanz und eröffnet einen Zwischenraum im Spiegel. Dieser Zwischenraum wird durch das Palindrom, die Umkehrung von S und Z, markiert und von Eszter Salamon in Giszelle und als Giszelle besetzt. Giszelle stellt sich im Körper von Giselle Giselle gegenüber. Dem Stück vorangestellt ist ein Zitat der amerikanischen Dichterin Kathy Acker: When I dream, my body is the site, not only of the dream, but also of the dreaming and of the dreamer. In other words, in this case or in this language, I cannot separate subject from object, much less from the acts of perception. I have become interested in languages which I cannot make up, which I cannot create or even create in: I have become interested in languages which I can only come upon, a pirate upon buried treasure. The dreamer, the dreaming, the dream. I call these languages, languages of the body. There are, I suspect, a plurality or more of such languages. One such is the language that moves through me or in me or […] for I cannot separate language, body and identity.43

In der Tat stellt die Bewegung in dem Stück keine erfundene, eigens geschaffene Sprache dar. Sie ist eine vorgefertigte, immer schon existierende Sprache, die Le Roy zufällig entdeckt und die er sich vielleicht auch unrechtmäßigerweise, wie der Vergleich von Acker mit dem Piraten nahelegt, aneignet. Er kann dies tun, weil der Schatz, der in der Bewegung selbst vergraben war, niemand Bestimmtem gehört. Diese gestohlene und zitierte Bewegung bewegt sich wie im Traum durch den Körper von Eszter Salamon und bricht sich an ihm. Sprache, Körper und Identität, die Tänzerin, das Tanzen und der Tanz sind mithin allesamt Produkte des Prozesses dieser Bewegung, die ihr nicht eigen ist, die sie aber unweigerlich und ohne es

42 | Roland Barthes, S/Z, übers. von Jürgen Hoch, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976, S. 110; »la lettre de la mutilation«, »la lettre de le déviation«, »c’est la même lettre, vue de l’autre côté du miroir«; Roland Barthes, »S/Z«, in: Roland Barthes, Ouevres complètes, hg. von Éric Marty, Band II 1966-1973, Paris: Seuil, 1993, S. 557-742, hier: S. 626. 43 | Ohne Quellenangabe zitiert in: http://www.insituproductions.net/_eng/ frameset.html.

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zu merken wiederholt, um sich als tanzendes Subjekt zu konstituieren. Giszelle macht diesen Prozess in einer Art sekundärer Bearbeitung des Traums von der freien Bewegung bewusst. Das Thema des Traums wird durch die Musik aufgegriffen. Gleich zu Beginn wird die historische Giselle des romantischen Balletts zu Grabe getragen. Adolphe Adams Musik vom Ende des ersten Akts, Giselles Sterbeszene, erklingt. Am Ende des ersten Teils von Giszelle wird Adams Schlussmusik des zweiten Aktes von Giselle eingespielt. Die historische Musik rahmt das aktuelle Stück und weist es gleichermaßen als Traum über Giselle aus, der, wie die Welt der Wilis in der historischen Vorlage, eine Art Zwischenreich darstellt, in dem die Untoten nachts die untreuen Liebhaber zu Tode tanzen. Eszter Salamon betritt in Turnschuhen, Jeans und rosafarbenem T-Shirt die Bühne und legt sich mit ausgestreckten Armen auf den Rücken. Kaum ist die Musik erloschen, erhebt sie sich von den Toten, um ein paar Ballettschritte und Arabesken zu tanzen. Auf allen Vieren geht sie im Gang eines Primaten, den Stanley Kubrick zu Beginn seines Films 2001: Odyssee im Weltraum berühmt gemacht hat, über die Bühne, richtet sich langsam auf, bevor sie sich verführerisch auf den Bauch legt wie einst Brigitte Bardot in Godards Film Le Mépris. In diesem evolutionären Auf und Nieder, das mehrmals wiederholt wird, stellt sie Posen aus, Bewegungszitate aus der bildenden Kunst, wie Rodins Denker oder die Pose einer Jesusfigur am Kreuz, bekannte Tanzsequenzen aus Filmen und Videos, die längst zu kulturellen Ikonen geworden sind, wie Uma Thurmans Tanz aus Pulp Fiction oder John Travoltas Hüftbewegungen aus Saturday Night Fever. Madonnas Tanzschritte aus ihrem Video Beautiful Stranger sind ebenso zu erkennen wie Michael Jacksons Moonwalk und das Laufen des Basketballers Michael Jordan. Auch die typische Armhaltung mit geflexten Händen aus William Forsythes Balletten wird hier miteingewoben. Obwohl die entsprechenden Musiktitel zu den Bewegungen auf der Bühne nicht zu hören sind, werden sie trotzdem im Programmzettel als Musik aufgeführt. Der Zuschauer muss sie sich vorstellen, sie imaginieren, um die jeweilige Szene zu komplettieren. Auf diese Art entsteht eine Kette von Vorstellungen, die von der Bühne weg auf die Filme oder andere kulturellen Produktionen verweisen. Damit berühren sie auch den persönlichen Umgang jedes Zuschauers mit den Zitaten, seine eigenen Erfahrungen, Erinnerungen und Wünsche, die mit ihnen verbunden sind. Aus dieser Beschreibung ist unschwer zu erkennen, dass das Stück mit seiner Zitatstruktur große Ähnlichkeiten mit dem ein Jahr zuvor von Le Roy erarbeiteten Stück Xavier Le Roy von Jérôme Bel aufweist. Eignete sich der Choreograph dafür jedoch den Diskurs von Jérôme Bel an, stellt Giszelle das Pendant dazu im Diskurs von Xavier Le Roy dar. Besagte eine Regel im Diskurs ›Jérôme Bel‹, die Bilder ohne Übergang nacheinander zu setzen, definiert sich das choreographische Verfahren bei Le Roy gerade durch die

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392 | Abwesenheit Übergänge zwischen den einzelnen Figuren, die nur auftauschen, um wieder zu verschwinden. Um unsere Wahrnehmung auf diese Übergänge zu lenken, verwendet Le Roy filmische Mittel. So entsteht bei der Reihung der Bewegungen der Eindruck, Eszter Salamon zappe sich wahllos durch Fernsehkanäle. Durch Verlangsamungen macht sie sichtbar, wie ein Bewegungszitat in ein anderes mutiert; durch mehrfaches Wiederholen einer gerade gezeigten Bewegung, das dem Zurückspulen eines Videobandes ähnelt, lenkt sie unsere Wahrnehmung auf die Ausführung und das Herstellen der Bewegung, die sich plötzlich in jede Richtung fortsetzen könnte. Im Innehalten öffnet sie die Bewegung auf ihr Potential, das die Zitathaftigkeit gerade dadurch übersteigt, dass die Bewegung für Bruchteile von Sekunden nicht als eine Bestimmte identifiziert werden kann. Alles könnte zu allem werden. In diesen Momenten vermag in der Ausführung der Tänzerin vielleicht etwas Neues, noch Ungesehenes entstehen. Am Ende verbindet sie schließlich die zuvor gezeigten Posen zu einem raschen Bewegungsfluss, in dem die Zitate beinahe unkenntlich werden, ein Fluss, der paradoxerweise so aussieht, als bestehe er ganz aus originären, unverbrauchten Bewegungen. Es sind diese Übergänge, die immer nur im Zwischen als abwesende Bewegungen erfahrbar werden, ohne je als sie selbst erscheinen zu können, um die Le Roys Interesse kreist. Gerade weil sie nicht sind, sondern nur verbinden, widersetzen sie sich einer Repräsentation im Theaterraum. Sie vermögen keine Geschichten wie die von Giselle zu erzählen, sondern nur Bewegung zu artikulieren, die immer schon da ist. Plötzlich erstarrt die Tänzerin. Sekundenlang verharrt sie in einer Pose, wechselt zur nächsten, als sei die Bewegung völlig eingefroren. Alle Zitate werden mit dem Rücken zum Publikum ausgeführt, um eine Identifikation mit der Tänzerin zu umgehen, die von der Bewegung als solcher ablenken und auf einen mit einer Psychologie unterfütterten subjektiven Ausdruck verweisen könnte. Der zweite Teil des Stücks trägt den sperrigen Titel »The Show you could have avoided / or / Some of Giszelle’s rushes / or / Parts we had planned not to show / or / Some of Giszelle’s garbage / or / Recycled material to make an announced evening-length programme / or / The B side of Giszelle / or/ Remains and left-overs from Giszelle«. Der Titel ist Programm. Beinhaltet das Stück doch Material, das während der Proben zum ersten Teil verworfen wurde. Ursprünglich nicht für die Bühne gedacht, wurden die Szenen wieder aufgegriffen, um den Anforderungen der Veranstalter an ein›abendfüllendes‹ Tanzstück zu entsprechen, dessen magische Grenze die Dauer von einer Stunde ist. Ähnlich wie in Product of Circumstances legt Le Roy hier die Marktmechanismen der Tanzszene offen, die nicht ohne weiteres deckungsgleich sind mit den künstlerischen Vorhaben. So mag es denn auch ein ironischer Seitenhieb oder ein letzter kleiner Akt des Widerstands sein, dass beide Teile zusammen lediglich 59 Minuten

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dauern, die Mindestanforderung also nur nominell erfüllt sind, denn kein Zuschauer wird die Differenz von einer Minute aufgrund von Pausen und Verzögerungen je wahrnehmen. Wieder rahmt ein Musikstück den Akt: Lady Democracy, das der Musiker Mike Inc. unter dem Projektnamen Love Inc. veröffentlicht hat. Er baut seine elektronischen Musikstücke aus lauter kleinen Samples anderer Stücke auf. Vergleichbar mit dem Verfahren Le Roys auf der Ebene der Bewegung, taucht der Musiker hinein in einen Strom bereits existierender Kompositionen und Klänge, die er aufgreift und zu eigenen Stücken verarbeit, in denen die Originale lediglich als Anklänge und Reminiszensen hörbar bleiben. Eszter Salamon schleppt zu Beginn eine große polnische Tasche auf die Bühne und setzt sich mit dem Rücken zum Publikum darauf. Sie trägt eine braune Perücke, eine braune Hose und ein blaues langärmeliges TShirt. Während sie ihren Rücken stumm dem Publikum darbietet, ist eine blecherne Stimme zu hören, die klingt, als sei sie von einem billigen Lautsprecher abgenommen und aufgezeichnet worden. Sie greift Ideen auf, die im Zitat von Kathy Acker bereits angeklungen sind. Danach holt Salamon zwei Krücken aus der Tasche und geht hinkend darauf gestützt über die Bühne. Sie stellt die Krücken in der hinteren rechten Ecke ab, sinkt in sich zusammen und rollt sich über den Boden zurück zu ihrer Tasche, aus der sie einen weißen Hocker herausholt. Sie zieht ihr T-Shirt und ihre Hose aus, und darunter kommen die gleichen Kleider noch einmal zum Vorschein. Mit den Requisiten baut sie zunächst eine liegende Figur, indem sie die Hose vor dem Hocker ausbreitet, das T-Shirt auf den Hocker legt und eine zweite Perücke darauf setzt. Danach verschwindet sie in der leeren Tasche und überlässt die Bühne ihrem Double. Die Konstruktionsphase wird unterlegt von den pumpenden treibenden Rhythmen eines anderen Love Inc. Songs, den Xavier Le Roy neu zusammengeschnitten hat und der auf einem alten Titel der Gruppe T. Rex aus dem Jahr 1971 basiert: »Hot Love«. Die Bildphase wird begleitet von einem weiteren Kathy Acker-Zitat. Nach dem gleichen alternierenden Schema von Musik und Wort verfährt auch die nächste Szene. Die Tänzerin rollt in der Tasche über die Bühne und steckt schließlich ihren Kopf heraus. Der Tasche entstiegen, rollt sie sie zusammen und steckt sie als Körper in das blaue T-Shirt. Sie schiebt die Krücken in die Hosenbeine und baut an der Rückwand auf der linken Seite daraus ein stehendes Double. Den Hocker platziert sie in der Mitte, während sie sich selbst rechts davon aufstellt, ihr Gesicht von der Perücke verdeckt. Nach einer erneuten Bildphase räumt sie alles wieder in die Tasche und beginnt eine längere Bewegungssequenz, bei der sie zunächst ganz entspannt in sich zusammensinkt, bevor sie sich merkwürdig ruckartig über die Bühne dreht. Schließlich geht sie mit der Tasche einfach ab, während das Lied vom Anfang wieder eingespielt wird. Eszter Salamon nimmt ihren Applaus schon nach dem Ende des ersten

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394 | Abwesenheit Teils, also nach dem Ende des eigentlichen Stücks, entgegen und kehrt nach dem Ende des zweiten Akts nicht mehr auf die Bühne zurück. Die Tänzerin macht sich hier immer wieder zu einem leblosen Objekt, das sich ganz gezielt unter Abwesenheit von Bewegung als Bild eines Körpers ausstellt. Durch die Häutung der Tänzerin wird ein Double erzeugt, das einen Raum zwischen den beiden Körpern eröffnet, in dem unsere Wahrnehmung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Leben und Tod, hin und her oszillieren muss. Das Falten, Auffalten und Wegfalten der beiden Körper, das Verschwinden in der Tasche oder im Bild und das Wiederauftauchen aus der Abwesenheit berührt auch hier die Frage nach dem Status des Körpers auf der Bühne, der immer schon eine Repräsentation eines zweiten, abwesenden Körper ist. Gleichzeitig wird der Zuschauer durch die Lücken und Leerstellen, wie etwa durch den Abstand und leeren Raum zwischen Körper und Double oder durch das Fehlen der Musik, dazu angehalten, die Abwesenheiten imaginativ zu besetzen oder über sie Verbindungen zwischen den einzelnen Parametern herzustellen.

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Projekt

In jedem seiner hier behandelten Stücke hat Xavier Le Roy versucht, den Prozess, der zur Entstehung des Stücks geführt hat, sichtbar zu machen und offen zu halten. Er soll nicht mit der Aufführung als Repräsentation seines Ergebnisses zum Stillstand kommen, sondern aktiv weiter wirken und weiter betrieben werden. In Self-Unfinished werden alle Elemente der Aufführung schonungslos offengelegt. Le Roy verlässt am Schluss einfach die Bühne und geht nach draußen, gerade so, als sei das Foyer, in dem die Zuschauer nun die Möglichkeit erhalten, mit ihm zu sprechen, die Fortführung des Geschehens auf der Bühne. Auch in Product of Circumstances, das die Geschichte seiner eigenen Entstehung erzählt, ist das Fragen erlaubt, die traditionelle Trennung von Bühne und Zuschauerraum im Theater wird durch die Interferenz mit der Form des Vortrags geöffnet. Der gesamte zweite Teil von Giszelle besteht aus Material, das auf die Entstehungsphase des Stücks hinweist. Zur ästhetischen Form erhoben hat Le Roy den Prozess jedoch erst mit seinem Stück Projekt, das den Entwurfscharakter und den provisorischen Status dessen, was es zu sehen gibt, schon im Titel anklingen lässt. Das Stück wurde am 12. September 2003 in Lissabon im Rahmen des Festivals CAPITALS uraufgeführt, bevor es am 7. Oktober 2003 im Haus der Berliner Festwochen seine Deutschlandpremiere hatte.44 Projekt ist 44 | Ich habe das Projekt innerhalb der Woche vom 17. bis 22. März 2003 im Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main mehrmals sehen können.

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hervorgegangen aus einer mehrjährigen Laborphase, ohne allerdings deren Ergebnis oder gar deren repräsentative Form für die Bühne zu sein. Schon 1998 hat Le Roy in Berlin ein Forschungsprojekt mit dem Titel Namenlos initiiert, zu dem er neben Tänzern und Choreographen auch Künstler anderer Sparten und Theoretiker eingeladen hatte. Ein Jahr später gründete er mit Fördermitteln des Berliner Senats von jährlich 100.000 DM zusammen mit Petra Roggel die GbR In Situ Productions. Er lud 20 Künstler ein, mit ihm in E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. # 1 zu arbeiten. Während des Berliner Festivals Tanz im August fand der erste vierwöchige Workshop in einer Turnhalle statt, also einem Ort, der im traditionellen Sinn weder einen Aufführungsort noch einen Probenraum für Tanz darstellt. Eine zweite, zweiwöchige Phase folgte im Anschluss während des Festivals Laboratorium in Antwerpen. Auch E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. liegt die Vorstellung eines organlosen Körpers zugrunde, der nicht an der Haut eines Menschen endet, sondern sich maschinengleich sowohl mit menschlichen als auch mit nichtmenschlichen Körpern vernetzt. Ziel des Forschungslaboratoriums war es, neue Arbeitsmethoden zu entwickeln, die die traditionelle Rollenverteilung im Dispositiv des Tanzes außer Kraft setzen sollte. Produzenten, Chorerographen, Tänzer und Zuschauer sollten in einem nicht-hierarchisch gegliederten Verhältnis zusammenkommen; niemand sollte jemand anderen repräsentieren oder für jemand anderen sprechen; niemand sollte einen Informationsvorsprung haben, der ihm im Vergleich zu einem anderen einen Vorteil (an Macht, an Wissen) bescherte. Die Tänzer und das Publikum befanden sich gleichsam auf einer Ebene, wir versuchten nicht, ihnen vorzumachen, dass wir mehr wüssten als sie, von dem, was kommen würde. Um dieses Verhältnis zwischen Tänzern und Zuschauern aufrecht zu erhalten, war es mir wichtig, dass wir nicht versuchten, in der Situation etwas Zielgerichtetes wie z.B: eine qualitative Entwicklung oder eine Narration zu erzeugen und zu bearbeiten. Im Mittelpunkt stand vielmehr die Performance, d.h. die Ausübung der dem Zuschauer zugänglichen Spielregeln.45

Vergleichbar mit Jérôme Bels Strategie in The Show Must Go On soll der Zuschauer hier ebenfalls nicht dominiert werden, sondern als gleichberechtigter Partner ins Spiel von Geben und Nehmen eintreten. Um dies zu erreichen, arbeitete die Gruppe mit Improvisationen und Spielen, deren Regeln allen Beteiligten bekannt waren oder ihnen bekannt gemacht wurden.

45 | Xavier Le Roy/Martina Leeker, »Rahmen – Bewegungen – Zwischenräume«, in: Antje Klinge/Martin Leeker (Hg.), Tanz Kommunikation Praxis, Jahrbuch Tanzforschung 13, Münster: LIT Verlag, 2003, S. 91-105, hier: S. 94.

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396 | Abwesenheit Im Mittelpunkt stand für mich im Projekt »E.X.T.E.N.S.I.O.N.S.« das Anliegen, Arbeitsmethoden zu entwickeln, die weder die Improvisation als Materialsammlung für Choreografien instrumentalisieren, noch von einer Idee und dem Gestus getragen sind, improvisierte Bewegungen seien spontan und unwiederholbar.46

Auch der spontane Körper unterliegt einem Gestus und Habitus, der Spontaneität lediglich repräsentiert. Damit verbunden ist die Feststellung, dass das, was sich in einer Improvisation einmalig ereignet, nicht identisch ist mit der Vorstellung des Neuen. Finden Improvisationen im choreographischen Prozess normalerweise im Probenraum unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, werden sie später fixiert und als Neues in die gerahmte Aufführungssituation übertragen. Diese Verschiebung des Kontextes wird normalerweise nicht mitbedacht. Le Roy stellt deshalb auch die Frage nach den Rahmungen, die eine Aufführung zu einer solchen machen, und nach den Veränderungen, die das erarbeitete Material dadurch erfährt. Produkt und Prozess sollen identisch werden; nichts Vorgängiges in Form einer Geschichte oder einer Choreographie soll mehr repräsentiert werden. Aufführung und die Ausführung der Spielregeln sind identisch. Weitere E.X.T.E.N.S.I.O.N.S.-Workshops wurden im Anschluss daran auf Einladung von Veranstaltern in San Sebastian, Freiburg, Paris, São Paulo und Hong Kong abgehalten, bevor das Projekt am 7., 8. und 10. Dezember 2000 als E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. # 2.7. im Podewil in Berlin in seine nächste Phase ging. In der Version 2.7. stellten die an der Version 1 beteiligten Künstler Nadia Cusimano und Paul Gazzola, Nicolas Siepen und Tara Herbst, Stephan Geene und Laurent Goldring ihre Film- und Videoprojekte vor. Teil der neuen Version war auch ein Interview, das Xavier Le Roy am 27.11. 2000 mit sich selbst geführt hatte und das die Erfahrungen mit den Arbeitsmethoden und dem Konzept von E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. # 1 kritisch reflektiert und in die neue Version einspeist. Dazu sitzt Le Roy an einem Tisch, auf dem ein Ghettoblaster steht. Er stellt Fragen zum Konzept und zur Entstehung von E.X.T.E.N.S.I.O.N.S., während ihm seine eigene aufgezeichnete Stimme antwortet.47 Eine dritte Phase, E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. # 3.2., fand im März 2001 auf dem Festival Panacea in Stockholm statt, anschließend im April beim Springdance Festival in Utrecht und schließlich im Dezember erneut in Berlin. Dort wurde auch von den Beteiligten der Entschluss gefasst, das Labor in eine Aufführungssituation zu überführen, woraus schließlich im Jahr 2003 nach Probenphasen in Berlin, Montpellier und Frankfurt am Main das Stück Projekt hervorging.48 46 | Ibid., S. 93. 47 | Der Text ist abgedruckt in Schulze/Traub (Hg.), Moving Thoughts, op. cit., S. 77-86. 48 | An der Aufführungsserie von Projekt waren folgende Tänzer und Tänze-

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Das Stück basiert auf drei Spielen: Fußball, Handball und Corners, das von je zwei Mannschaften à vier Spielern gespielt wird. Je zwei Lautsprecherboxen bilden an jeder der vier Bühnenwände die Tore. Die Spielausrichtung verändert sich mit jedem Spiel. Fußball wird von links nach rechts gespielt, Handball von vorne nach hinten, und das Eckenstehspiel zielt schließlich darauf ab, dass sich, um zu punkten, alle vier Spieler einer Mannschaft gleichzeitig in den Toren befinden müssen. Die Mannschaften sind durch gelbe und rosafarbene T-Shirts sowie durch graue Hüte und Wickelröcke voneinander unterschieden. Die erste Reihe im Zuschauerraum ist von den übrigen Spielern belegt, die wie auf einer Ersatzbank darauf warten, sich ihr Trikot überzuziehen und für jemand anderen ins Spiel einzusteigen. Insgesamt sind neunzehn Tänzer und Tänzerinnen, die gleichzeitig Choreographen und Choreographinnen sind, am Start. Nach jedem Spiel geben die Teams den Punktestand bekannt. Dazu steht ein Mikrophon an der Rampe, vor dem sich ein Schiedsrichter postiert, während sich die Teammitglieder je nach Erfolg in eine Reihe stellen. Ob der jeweilige Punktestand tatsächlich dem entspricht, was zuvor im Spiel an Toren erzielt wurde, bleibt fragwürdig.

Nach einigen Spielen werden die Parameter verändert. Ein zusätzlicher Schwierigkeitsgrad wird dadurch eingeführt, dass alle Spiele simultan gespielt werden, die Spieler sich also in mehreren Mannschaften und Spielen gleichzeitig befinden. Mal geht im Publikum das Licht an, mal wird mit, rinnen, Nicht-Tänzer und Nicht-Tänzerinnen beteiligt: Susanne Berggren, Raido Mägi, Mart Kongro, Amaia Urra, Raquel Ponce, Juan Domínguez, Tina Sehgal, Paul Gazzola, Frédéric Seguette, Mårten Spångberg, Alice Chauchat, Carlos Pez Gonzales, Pirkko Husemann, Ion Munduate, Nadia Cusimano, Geoffrey Garrison, Kobe Matthys, Christine de Smedt, und Anna Koch.

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398 | Abwesenheit mal ohne Musik gespielt. Mitten in einem Spiel setzt die Musik plötzlich aus. Die Spieler halten inne, stellen sich frontal dem Publikum gegenüber, bevor sie langsam beginnen, das Spiel rückwärts zu spielen. Um zu wissen, was hinter ihren Rücken vorgeht, hören sie auf Zurufe ihrer Mitspieler. Eine zweite Abänderung der Regeln besteht darin, alle Bewegungen betont langsam wie in Zeitlupe auszuführen. Schließlich dünnen sich die Gesten immer mehr aus. Wie markiert sieht alles aus; ein Arm wird wie zum Wurf gehoben und wieder fallen gelassen. Immer mehr Spieler verlassen das Spielfeld, bis nur noch zwei übrig bleiben. Auch sie führen einzelne Spielgesten aus, wechseln die Richtungen zwischen Fußball und Handball, rufen wahllos Namen von Spielern. Doch ohne Kontext und isoliert auf der leeren Bühne wirken ihre Bewegungen völlig abstrakt und geradezu opak. Auch hier ist der Zuschauer dazu angehalten, die Abwesenheit auszufüllen, sei es durch Rückerinnerung an das zuvor gesehene Spiel oder durch die eigene Vorstellungskraft, die ihn vom konkreten Spiel weg hin zu anderen Ideen führt. Dazu wird eine Tonspur eingespielt, die aus den Aufnahmen der Geräusche und Stimmen während der Aufführung besteht. Mit Hall und Echoeffekten unterlegt, ruft sie das Abwesende, Vergangene in Erinnerung, auch und gerade in seiner räumlichen Dimension, die die Zuschauer und die Geräusche, die sie produziert haben, mit einschließt. Auch Projekt zieht seine Spannung aus der Wechselwirkung und Überlagerung zweier Formen. In den Rahmen des Theaters, als dessen Minimaldefinition nach wie vor gilt, dass eine Person A eine andere Person X verkörpert, während S zuschaut,49 führt Le Roy Mannschaftssportarten ein, die dieser Definition nur bis zu einem bestimmten Grad folgen. Sowohl Theater als auch Ballspiele sind Formen des kulturellen Spiels; beide agieren bis zu einem bestimmten Grad mit Rollen, die von den Spielern eingenommen werden, doch ist der Zweck dieses Rollenspiels ein jeweils anderer. Mit Roger Caillois, der vier Typen des Spiels unterscheidet, kann man hier von einer Überlagerung des Wettkampfspiels, des Agons, mit dem Rollenspiel, der Mimikry, sprechen.50 Zielt der Agon, der im griechischen Theater der Antike bekanntermaßen zum äußeren Kommunikationssystem, zum Rahmen, gehörte, in dem die Tragödien aufgeführt wurden, auf Gewinnen ab, gestaltet sich die Mimikry in dieser Hinsicht als zweckfreies Spiel. Spielt ein Fußballspieler im Spiel zwar die Rolle des Spielers, die unterschieden ist von seiner Rolle als Ehemann oder Vater, dient dieses Spiel in erster Linie dem Einsatz seiner eigenen Fertigkeiten, um seiner Mannschaft zum Sieg zu verhelfen. Im Theater dagegen zielt die Verkörperung 49 | Vgl. dazu Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, Band 1, Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen. Gunter Narr, 1983, S. 16. 50 | Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, übers. von Sigrid von Massenbach, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein, 1982.

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einer anderen Person X in erster Linie auf das Darstellen imaginativer Welten im Modus der Fiktion, die die Illusion einer anderen Wirklichkeit aufscheinen lässt. Beiden Spieltypen kann ich mit ästhetischer Aufmerksamkeit begegnen, die Ballwechsel schön oder harmonisch finden, die Bewegungen der Spieler grazil oder plump. Jedoch verlangt das Theater nochmals eine besondere Form der ästhetischen Wahrnehmung, wie sie der Kunst eigen ist. Diese zielt, so Martin Seel, auf das Bewusstwerden des Wahrnehmungsvorgangs selbst, mithin der Selbstreflexion der eingesetzten Mittel und deren Wirkung.51 Wenn Xavier Le Roy in Projekt den Agon in die Mimikry einführt, unterläuft er die traditionell an das Theater gebundenen Erwartungshaltungen. Dem Zuschauer wird keine Fiktion und auch keine Illusion präsentiert. Theaterspielen und Tanzen werden zum bloßen Vollzug einer alltäglichen Verrichtung. Die Akteure repräsentieren keinen vorgängigen Text oder eine vorher festgelegte und einstudierte Choreographie. Ihre Bewegungen etablieren eine Choreographie genau in dem Moment, wo sie aufgeführt wird. Produkt und Prozess fallen hier zusammen. Darüber hinaus sind ihre Bewegungen nicht neu oder ästhetisch überhöht. Sie folgen funktional aus den Regeln der Spiele, die von Fall zu Fall modifiziert werden, um innerhalb der Regeln eine freie Entscheidung möglich zu machen. Auf der anderen Seite wird das Mannschaftsspiel der Wirklichkeit entrückt und in den Bereich einer fiktiven Als ob-Realität gehoben. Das Ballspielen als Vollzug und Präsentation einer Handlung auf der Bühne wird zur Darstellung und damit zur Repräsentation eines Ballspiels. Zwischen diesen beiden Polen oszilliert das Spiel und erzeugt so je nach den Parametern, mit denen die Spiele angereichert werden (Musik, Kostüme), verschiedene Grade des Spielens oder Nicht-Spielens. Die Spiele bedürfen daher einer gewissen Zeit, um sich zu etablieren, damit die Akteure wirklich vergessen, dass sie vor Publikum spielen und stattdessen völlig in der Situation und ihren Erfordernissen aufgehen. Für den Zuschauer rückt die Aufführungssituation als Repräsentation von Rollen und Wirklichkeit dann in den Hintergrund, der Rahmen verschwindet, während er sich in anderen Momenten wieder in den Vordergrund drängt und das Geschehen in die Distanz rückt. Die unterschiedlichen Stufen der Präsenz der Performer, die der Zuschauer wahrnehmen kann, rücken auch thematisch in den Vordergrund. Auch bei einer traditionell auf Rollenspiel oder die Erfindung neuartiger Bewegungsfolgen ausgerichteten Tanzaufführung gibt es – je nach Begabung des Tänzers oder der Tänzerin – diese Grade der Präsenz. Was durch das Durchstreichen der Fiktion in Projekt allerdings erzeugt wird, ist eine Verlagerung des Konflikts auf die gesellschaftliche Ebene. Das Spiel dient Le Roy nicht mehr nur als Spiegel der Gesellschaft, in den man im Theater 51 | Seel, Ästhetik des Erscheinens, op. cit., S. 176.

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400 | Abwesenheit hineinschaut, sondern als »Werkzeug, um mit den durch es erzeugten Konstruktionen umzugehen.«52 Voraussetzung hierfür ist die Annahme einer strukturellen Äquivalenz von Spiel und Alltag. Unsere Wirklichkeit und unser Umgang mit ihr erfolgt über Spielstrukturen, die uns helfen, Konflikte zu lösen und alternative Möglichkeiten und Sichtweisen zu entwickeln.53 Da es sich in Projekt aber in jedem Moment um die Darstellung eines Spiels handelt, wir uns also im selbstreflexiven Bezugsrahmen des Theaters befinden, können wir uns der Möglichkeitsbedingungen unserer Wirklichkeitskonstruktion gewahr werden. Diese Konstruktion verläuft im Tanz über das, was Le Roy in Anlehnung an Michel Foucault ein ›Dispositiv‹ nennt, das bestimmten Rollenverteilungen und Regeln gehorcht.54 Dieses Dispositiv wird gebildet aus Veranstaltern und Produzenten, Choreographen, Tänzern und Zuschauern, den Aufführungsorten und den damit verbundenen beiderseitigen Erwartungshaltungen aufgrund bestimmter Traditionen und deren Regeln. Indem Le Roy nicht in erster Linie inhaltlich, sondern strukturell in das Gefüge dieses Dispositivs eingreift, nimmt er Verschiebungen innerhalb dessen Machtgefüges vor, um eine andere Art des Umgangs miteinander, eine andere Art gesellschaftlicher Bindung, Verantwortlichkeit und Zusammenhalt symbolisch zu erproben. So basiert die Choreographie, die sich von Le Roy und seiner Rolle als Choreograph vollkommen abgekoppelt hat, auf den Entscheidungen, die jeder Einzelne in jedem Moment wieder neu trifft. Er oder sie trifft sie aufgrund bestimmter Regeln, die befolgt und damit wiederholt und als Regeln eingesetzt werden, und Momenten der Differenz zu den Regeln, in denen Veränderungen vorgenommen werden können. Das Kräfteverhältnis Tänzer und Choreograph dreht sich um, ebenso wie das Verhältnis von Choreograph und Produzent, der kein den Konventionen des Theaters entsprechendes Stück erhält, sondern ein lebendiges Gebilde, das sich von Abend zu Abend verändert. Ebenso müssen die Zuschauer verstärkt in die Rolle der Mitspieler schlüpfen, denn ihnen wird keine andere Wirklichkeit dargeboten. Durch die Interferenz der Formen Theater und Mannschaftsspiel entsteht ein Zwischenraum, eine Lücke oder Leerstelle, die eine Abwesenheit im jeweiligen System markiert, die die Zuschauer besetzen können. Projekt betreibt eine Mimikry an den Agon, um jenen blinden Fleck innerhalb der symbolischen Ordnung des Theaters aufzusuchen. Vor diesem Hintergrund macht Xavier le Roy den Vorschlag einer anderen symbolischen Ordnung: Die Teilnehmer sollten also nicht meine Ideen umsetzen oder meinen Anweisungen 52 | Le Roy/Leeker, op. cit., S. 96. 53 | Vgl. dazu Carlson, Performance, op. cit., S. 34-55. 54 | Le Roy/Leeker, op. cit., S. 98.

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VII Die Artikulation des Dazwischen: Xavier Le Roy | 401 folgen. Ich wollte im Gegenteil eine Situation herstellen, in der kollektives Arbeiten möglich wurde, das wie eine nicht-repräsentative Demokratie funktionierte. Damit meine ich eine Art direkter Demokratie, in der nicht eine Person bestimmt und meint die anderen zu repräsentieren und die Ausführung seiner eigenen Vorstellung an sie delegiert.55

Indem Le Roy das repräsentative Verhältnis von Zuschauern und Tänzern aufgreift, greift er auch das kulturelle Modell der Stellvertretung des Tänzers auf, wie es Pierre Legendre für die christliche Kultur dargestellt hat. Im Dispostiv des Bühnentanzes, das sich in seiner Rollenaufteilung auf dem kirchlichen Tanzverbot gründet, wird der Tänzer nicht mehr länger als Stellvertreter und Mittler betrachtet, der an unserer Stelle einen Ort im Symbolischen, in der Sprache, sucht. Der Tänzer verführt keinen Anderen, Dritten, mehr, den er zu gewinnen sucht. Damit einher geht ein radikaler Funktionswechsel des Bühnentanzes. Aus der Transzendenz seines Tanzes der Seele wird eine transzendentale Immanenz, die kein Jenseits des Körpers mehr zulässt, zu dem die tanzende Seele Zugang erlangen möchte, um sprechen zu können. An ihre Stelle tritt die Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen von kultureller Produktion, auf das Präsentieren von Handlungen, an der der Körper als Sprechender immer schon Teil hat. Die Tänzer unterliegen daher keiner Idealisierung und damit verbunden keiner Forderung nach technisch versiertem Spezialistentum, das zu Illusion und Fiktion führt. Der sportliche Körper, der in Projekt auftritt, ist hier also keineswegs gleichbedeutend mit dem athletisch trainierten Körper eines Tänzers.

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CP-AD von Yvonne Rainer

1996 nahm Xavier Le Roy als Tänzer an einer Rekonstruktion von Yvonne Rainers Stück Continuous Project – Altered Daily durch die Gruppe Le Quatuor Albrecht Knust teil.56 Das Stück wurde in Brest erarbeitet und gezeigt, 55 | Loc. cit. 56 | Le Quatuor Albrecht Knust gehören Dominique Brun, Anne Collod, Simon Hecquet und Christophe Wavelet an. Das Quartett, das sich nach dem Mitarbeiter Rudolf von Labans, Albrecht Knust, benannt hat, der die Labannotation verbreitete, hatte es sich bis zu seiner Trennung zur Aufgabe gemacht, wichtige Choreographien des 20. Jahrhunderts auf der Basis ihrer Notationen zu rekonstruieren. In ihrer ersten Produktion Les danses de papier aus dem Jahr 1994 studierten sie zwei Tänze von Doris Humphrey (Two Ecstatic Themes, 1931, Invention, 1949) und Kurt Joos (Märzlied, 1953) ein, bevor sie sich 1996 Yvonne Rainers Continuous Project – Altered Daily sowie Steve Paxtons Satisfyin’ Lover zuwandten. Ihre dritte Produktion […]d’un

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402 | Abwesenheit bevor es im Sommer 1996 beim Tanzfestival Montpellier Danse zu sehen war. Xavier Le Roy unterstreicht in Product of Circumstances die Bedeutung dieser Produktion für seine eigene weitere Arbeit: Es bot mehr als bloß den Zugang zur Geschichte des Tanzes durch das Tun. Was alleine schon eine großartige Erfahrung war. Es hielt auch viele Antworten auf meine Fragen bereit. Weil dieses Projekt sich all der Aspekte bewußt war, die die Herstellung eines Tanzstücks impliziert. Beispielsweise stellt die Produktion eines Tanzstücks den Körper und den Arbeitsprozeß in Frage, aber auch die Kompositionsweise, und alles war bezogen auf gesellschaftliche und politische Fragestellungen und Kritik.57

Yvonne Rainer entlehnte den Titel ihres Projekts einer Installation des minimalistischen Künstlers Robert Morris. Vom 1. bis zum 22. März 1969 war Morris’ Continuous Project Altered Daily im Leo Castelli Warehouse, einem Ableger der berühmten Galerie, in New York zu sehen. Morris verwendete Erde, Metallgegenstände und Abfälle, deren Arrangement er zwölf Tage lang jeden Tag veränderte. Jeder der Zustände wurde fotografisch dokumentiert. Darüber hinaus hielt Morris seine eigenen Gefühle und Beobachtungen in Bezug auf der wechselnden Formen in einem Tagebuch fest.58 Mit Continuous Project Altered Daily stellte Morris die Abgeschlossenheit und Überzeitlichkeit des Werkes in Frage. Darin impliziert ist natürlich auch die Unabgeschlossenheit des Subjekts, des Self-Unfinished, das sich im Akt der Rezeption ständig verändert. In seinem Versuch, über das Objekt hinauszugehen, stellte er das Werk der Zeit und damit dem Verschwinden anheim. Durch die Veränderung der Anordnung seiner Elemente wurde deutlich, dass auch ein Werk der bildenden Kunst eine performative Dimension besitzt. Indem Morris die Veränderungen, denen jedes Kunstwerk im Rezeptionsprozess unterliegt, bereits ins Material aufnahm, machte er die Erfahrung der wechselnden Situation durch die Rezipienten zum Thema. Auf Veränderung und Unabgeschlossenheit zielt folglich auch Yvonne Rainers Continuous Project- Altered Daily (CP-AD). Nach Sally Banes’ Aussage begann Rainer mit den Proben zu dem Stück 1969 und führte im faune (éclats), im Frühjahr 2000 in Paris im Centre Pompidou uraufgeführt, ist ein inszenierter Diskurs über Nijinskys L’aprés-midi d’un faune (1912), in dem nicht nur die Choreographie des Stücks getanzt wurde, sondern in Filmausschnitten und eingeblendeten Auszügen aus Mallarmés Gedicht der Kontext, in dem das Stück entstanden war, rekonstruiert werden sollte. 57 | Le Roy/Leeker, op. cit., S. 67. 58 | Robert Morris, Austellungskatalog Centre Georges Pompidou, Paris: Éditions du Centre Pompidou, 1995, S. 234-237.

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März 1970 im New Yorker Whitney Museum eine fertige Version auf. Rainer integrierte in ihr Stücke Aspekte des Arbeitsprozesses, in dem sie unter anderem die verschiedenen Arten, Bewegungsmaterial auszuführen, vorstellte. Das Lernen, Proben und Markieren von Sequenzen war ebenso Bestandteil der Aufführung wie das mit einer bestimmten Energie und Aufmerksamkeit ausgeführte Tanzen der Szenen. Während der Aufführung wurde über gezeigtes Material diskutiert, was dem Stück eine gewisse als alltäglich empfundene Nachlässigkeit verlieh, die im Gegensatz zu einem ausgeformten Aufführungsstil stand. Die Tänzer konnten ihr persönliches Material entwickeln und es an andere weitergeben, die es kopierten, um es entweder in einem bestimmten Stil zu tanzen und zu verändern oder es als schlechte Kopie der ersten Version zu wiederholen. Auf diese Weise wurden verschiedenen Haltungen der Tänzer gegenüber dem Material sichtbar und in die Aufführung integriert. CP-AD bestand aus einer Reihe fertiger Szenen, deren Reihenfolge verändert werden konnte. So konnten die Tänzer etwa selbst bestimmen, was als nächstes an der Reihe sein sollte, indem sie bestimmte Requisiten auf die Bühne brachten, bestimmte Musikstücke anspielten oder den Namen der Szene in die Menge riefen.59 Zwei dieser Sequenzen hat Xavier Le Roy nun seinerseits in Product of Circumstances integriert. So läuft er ein paar Mal im Kreis um die Tanzfläche herum, ein einfaches Running, das Teil von Yvonne Rainers Aufführung war. Im Gegensatz dazu steht das auschoreographierte Chair-Pillow. Zu Ike and Tina Turners Lied »River Deep, Mountain High« legt Le Roy ein weißes Kissen in rhythmisch akzentuierten Bewegungen auf den Boden, hebt es wieder auf, legt es in seinen Nacken und auf den Stuhl. Neben dem Offenlegen des Arbeitsprozesses und der Kenntlichmachung der Haltung des Tänzers gegenüber dem einstudierten Material hat CP-AD noch eine andere Bedeutung für die Stücke von Xavier Le Roy. Das Stück markiert den Übergang von einer auf einen einzigen Choreographen fixierten Arbeitsweise hin zur Arbeit im Kollektiv ohne hierarchische Strukturen. CP-AD stand am Anfang des Improvisationskollektivs ›The Grand Union‹, das bis 1976 bestand und zu dem neben den Tänzern aus CP-AD, Becky Arnold, Douglas Dunn, David Gordon, Barbara Lloyd, Steve Paxton und Yvonne Rainer selbst, auch Trisha Brown, Nancy Lewis und Lincoln Scott (Dong) gehörten. Weil, so Steve Paxton in seiner Version der Entstehung von ›The Grand Union‹, bei den Proben in New York und auf der anschließenden Tournee nicht immer alle Tänzer anwesend waren, wurden offene Formen entwickelt, die erst während der Aufführung ausgefüllt wurden. Allmählich konnten Tänzer eigenes Material einbringen und Improvisationsstrukturen begannen sich auf der Grundlage des Materials von CP-AD herauszubilden, bis man es schließlich ganz zurückließ. Gleichzeitig begann Yvonne Rainer, 59 | Banes, Terpsichore in Sneakers, op. cit., S. 203-204.

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404 | Abwesenheit die Kontrolle über die Ausführung ihres Materials an die Gruppe abzugeben. The development that Rainer’s particularly orderly mind evolved began to function as a valuable exercise for the company in such departments as: where do social hierarchical roles originate and how can they be changed; how to make artistic decisions; how not to depend on anyone unless it is mutually agreed; what mutually agreed means, and how to detect it. When Rainer had ritually merged her separate ego with those of the company via CPAD, they had reached the beginning of Grand Union.60

Auch ›The Grand Union‹ verstand Tanz und dessen Organisation als Modell gesellschaftlichen gemeinsamen Handelns, das durch die Sichtbarmachung seiner performativen Grundlagen Einblicke gewährt in die Konstitution von Gesellschaft. Durch die Rahmenverschiebungen innerhalb der Aufführung werden Entscheidungsprozesse sowohl im Umgang miteinander als auch im Umgang mit dem Material einsehbar und die traditionelle Rollenverteilung im Dispositiv Tanz, wie es Le Roy formuliert, aufgebrochen, verschoben und verändert. Rainer orientierte sich schon in ihrem 1966 geschriebenen und 1968 zum ersten Mal veröffentlichten Essay »A Quasi Survey of Some Minimalist Tendencies in the Quantitatively Minimal Dance Activity Midst the Plethora, or an Analysis of ›Trio A‹« an den damals aktuellen Tendenzen in der bildenden Kunst, dem Minimalismus, um ihre tänzerische und choreographische Praxis zu beschreiben.61 Darin stellt sie eine Tabelle auf, in der sie traditionelle Kunst mit minimalistischer Kunst und traditionellen Tanz mit minimalistischem Tanz vergleicht.62 Dabei ersetzt sie im Bereich des traditionellen Tanzes »phrasing«, »development and climax«, »variation: rhythm, shape, dynamics«, »character«, »performance«, »variety: phrases and the spatial field«, »the virtuosic feat and the fully extended body« mit den folgenden Eigenschaften des minimalistischen Tanzes: »energy equality and ›found‹ movement«, »equality of parts, repetition«, »repetition or discrete events«, »neutral performance«, »task or tasklike activity«, »singular action, event, or tone«, »human scale«. Die Veränderungen betreffen sowohl die Ausführung der Bewegung durch die Tänzer als auch die Choreographie als kompositorische Methode von Bewegungen im Raum. In beiden Fällen sollen Betonungen, Überhöhungen und dramatische Entwick60 | Steve Paxton, »The Grand Union«, in: TDR 16 (1972), S. 128-134, hier: S. 129. 61 | Yvonne Rainer, »The Mind is a Muscle«, in: Yvonne Rainer, A Woman Who […] Essays, Interviews, Scripts, Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1999, S. 27-46. 62 | Ibid., S. 30.

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lungen zugunsten einer Art von serieller Reihung gleichwertiger Teile, die mit gleichbleibender, entspannter Energie ausgeführt werden, entfallen. In ihrem an die Tabelle anschließenden Text untersucht Rainer ihr Stück Trio A auf die von ihr entwickelten Parameter. Trio A wurde am 10. Januar 1966 in der New Yorker Judson Church als abgeschlossenes Stück im Rahmen der Aufführung The Mind is A Muscle uraufgeführt. Die Aufführung bestand aus weiteren in sich abgeschlossenen Choreographien, deren Reihenfolge beliebig gesetzt werden konnte. In den viereinhalb Minuten, die Trio A dauert, versucht Rainer, jegliche Phrasierung der Bewegung zu vermeiden, um einen gleichbleibenden Fluss der Veränderungen zu erzeugen. Ohne gehaltene Posen oder Pausen, ohne Hinführungen und Höhepunkte, erscheint der tanzende Körper ständig im Übergang begriffen. One of the most singular elements in it is that there are no pauses between the phrases. The phrases themselves often consist of separate parts, such as consecutive limb articulations – »right leg, left leg, arms, jump,« etc. – but the end of each phrase merges immediately into the beginning of the next with no observable accent. The limbs are never in a fixed, still relationship, and they are stretched to their fullest extension only in transit, creating the impression that the body is constantly engaged in transition.63

In diesem permanenten Übergang ist unschwer das Gestaltungsprinzip von Self-Unfinished wiederzuerkennen, ebenso wie in der Aufforderung an den Tänzer, kein Charakter zu sein, sondern als »neutral ›doer‹«64 zu fungieren, der sein Gesicht nie direkt frontal den Zuschauern zuwendet, um den traditionellen Gestus eines Ballettänzers, der sein Publikum anlächelt, zu vermeiden. Ähnlich verfährt Eszter Salamon in Giszelle, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer nicht auf sich als Subjekt, sondern auf die ausgeführten Bewegungen und Körperbilder zu lenken. Bei allen Parallelen sollen die Unterschiede allerdings nicht verschwiegen werden. Yvonne Rainer brachte Trio A 1992 der Tänzerin Clarinda MacLow bei, die es im New Yorker Lincoln Center aufführte. Diese wiederum gab es an Jean Guizerix vom Pariser Opernballett weiter, die es 1996 in Montpellier im Rahmen der Rekonstruktion von CP-AD durch Le Quatuor Albrecht Knust tanzte, an der auch Xavier Le Roy beteiligt war.65 Sowohl Yvonne Rainer als auch Steve Paxton waren während der Aufführungen anwesend. Vier Jahre später gestalteten Rainer und Le Roy auf Einladung der Tanzwerkstatt Berlin im Rahmen des Festivals Tanz im August zwei Abende unter dem Titel »Meeting« gemeinsam im Berliner Podewil, in de63 | Ibid., S. 34. 64 | Ibid., S. 33. 65 | Ibid., S. 29-30.

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406 | Abwesenheit nen sie ihre jeweiligen Arbeitsprozesse reflektierten. Rainer erzählte dabei eine Anekdote, die etwas über den Kontext verriet, in der ihre Arbeit entstand. Sie habe es als große Befreiung empfunden, als sie Anfang der sechziger Jahre einen Tanz von Simone Forti gesehen habe, bei dem eine Tänzerin lediglich unter einem Tisch gesessen und dabei wiederholt einen Ball auf dem Boden habe aufprallen lassen. Im Gegensatz zu den bedeutungsschweren Psychodramen einer Martha Graham, die damals neben George Balanchines neo-klassischem Ballett die amerikanische Tanzszene beherrschte, habe ihr das Kinderspiel, das Simone Forti für Erwachsene choreographiert hatte, etwas von der ursprünglichen Lust an der Bewegung und dem Spaß am Spielen vermittelt.66 Die Befreiung von der Psychologie als Motivation für die Bewegung und die damit einhergehende Freisetzung der Bewegung auch in ihrer Alltäglichkeit, in der sie Subjekte prägt, formt und Gruppen zusammenführt, erscheint vor diesem Hintergrund als ein starker Antrieb in der Arbeit Yvonne Rainers. Sie untersucht die Bewegung in ihrem Verhältnis zum jeweiligen tanzenden Körper, der, wie in verschiedenen Versionen von Trio A, kein ausgebildeter Tänzerkörper sein muss, und zur Aufführungssituation, in der er sich befindet. Dagegen rückt bei Xavier Le Roy die Bewegung in den Hintergrund als Mittel zum Zweck, Körperbilder im Übergang zu entwerfen. Le Roy untersucht mithin Körperbilder im Verhältnis zur Aufführungssituation, in der sie wahrgenommen werden. In einem medial gesättigten gesellschaftlichem Umfeld, in dem, wie am Anfang der Arbeit ausgeführt wurde, der Körper immer mehr zum Bild eines bestimmten Körpers wird, gilt es, dieses Bild wieder in Bewegung zu versetzen. Außerdem ist Projekt keine freie Improvisation, wie sie ›The Grand Union‹ noch praktizierte. Im Zeitalter von Reality Shows im Fernsehen, die auch ein Zusammenleben auf der Grenze zwischen privat und öffentlich, zwischen Spiel und Nicht-Spiel, Aufführung und Leben, inszenieren, macht Xavier Le Roy gerade die Regeln stark, die das Ausleben vermeintlicher Individualität in ihre Schranken verweisen. Er präsentiert kein Work-in-Progress als Teil des Lebens, sondern insistiert gerade auf dem Rahmen der Aufführungssituation als Teil der Regeln, die Entscheidungen ermöglichen und sie hervorbringen. Zum Schluss bleibt die Frage, welche Funktion die Abwesenheit in diesem Spiel der Abstufungen von darstellerischer Präsenz spielt. Zunächst ist es eine Abwesenheit von gängigen Bühnenparametern, wie Repräsentation, Rolle, Fiktion und Tanztechnik, zur Findung neuer Bewegungen, denen auch der Tanz unterliegt. An deren Stelle tritt eine Rahmenüberlagerung 66 | Zu den Arbeiten von Simone Forti vgl. Banes, Terpsichore in Sneakers, op. cit., S. 20-39; sowie: Simone Forti, Manuel en mouvement, Nouvelle de danse 44-45, Brüssel: Contredanse, 2000.

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oder -verschiebung, die zwischen den Formen eine Abwesenheit eröffnet, in der sich Unformuliertes artikuliert, das selbst aber (noch) nicht ist, sondern nur als Zwischen, in der Lücke, als Abwesendes der präsenten Parameter erscheinen kann. Daraus resultiert drittens eine Absenz im ontologischen Sinn, die uns von der Bühne herunter anblickt als Erscheinen des Todes – wie in den Szenen, in denen sich der regungslose Körper Xavier Le Roys in Self-Unfinished in den Spalt zwischen Wand und Boden schmiegt, als wolle er verschwinden, oder in den Szenen in Giszelle, in denen die Bewegung erstirbt und der Körper der Tänzerin in Posen erstarrt. Man kann diese Szenen als Mimikry an die Abwesenheit lesen, die uns von der leeren Bühne herunter anblickt, als Index der Leerstelle am Ort des Symbolischen, an dem sich ein Spalt auftut, der an unser Imaginäres appelliert, uns vorzustellen, dort zu sein, wo wir nicht sind.

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) vakat 408.p 112307437866

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VIII

Gespenstische Körper: Meg Stuart

Getrieben von Schlagzeugrhythmen hämmert das Klavier den Zuschauern atemlos Stakkati in die Ohren. Am rechten Bühnenrand steht ein Mann in Hemd und Hose gefangen in einem Lichtrechteck, das ihn fest und unbeweglich an seinem Platz hält. Er schüttelt den Kopf, immer wilder wirft er ihn von links nach rechts, als wolle er etwas für die Zuschauer Unsichtbares abwehren oder ihm ausweichen. Ruckartig hebt er die Arme und zeigt mit drei Fingern in die Luft, dreht die Handfläche nach innen und hält den Daumen hoch, bevor ein anderer Finger hochschnappt und ein unkontrolliert scheinendes Spiel mit den Fingern in Gang setzt, deren Drama sich völlig losgelöst von den Kopfbewegungen abspielt, die immer heftiger werden, bis sie den Oberkörper des Mannes mitreißen. In Halbkreisen dreht er seinen Torso, während Arme und Finger, eins, drei, zwei, in Gegenrichtung vor seinem Gesicht hin und her gerissen werden. Plötzlich hält er inne und beginnt zu zittern. Das Zittern versetzt seinen Körper erneut in Bewegung, es umspielt seine Körperlinie und breitet sich im Raum aus. Der Raum vibriert mit. Weder hier noch da, weder richtig an seinem, noch richtig an einem anderen Platz, zu dem er sich hinbewegen müsste, verharrt der Körper in einem merkwürdigen Zwischenstadium. Als kämpfe eine Bewegung darum, freigelassen zu werden, bricht sie in endlos wiederholten, minimalen Schüben aus seinem Körper hervor. Doch der Körper lässt sie nicht los, hält sie zurück, so dass die Bewegung gar nicht anders kann, als ihn durchzuschütteln in ihrem immer verzweifelter werdenden Versuch, auszubrechen. Ein Körper im Schockzustand. Ein Mann, der kanadische Tänzer Benoît Lachambre, wird zerrissen. Orientierungslos, kopflos wird er bewegt, anstatt sich zu bewegen. Er verliert sich in der Bewegung und an die Bewegung, übergibt sich und die Kontrolle über sein Tun einer Kraft, die ihn willenlos zu machen scheint. Für Momente glaubt man, er könne die Bewegung doch einholen, um sie anzuhalten. Dann folgt sein Blick den Drehungen seiner Hand, die er zu

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410 | Abwesenheit fixieren sucht, wie einst der Blick der Medusa jeden zu Stein erstarren ließ, der ihr ins Gesicht blickte. Doch Blick und Kopf eilen in furiosen Windungen der Hand immer nur hinterher. Aufgerieben zwischen Kontrollverlust und Selbstbeherrschung, die verzweifelt versucht, die Bewegung einzudämmen, kommt er nach Minuten endlich zur Ruhe. Ein Teil des Körpers betrachtet einen anderen Teil des gleichen Körpers, als wäre er ein Fremdkörper, als gehörte er nicht dazu und führte ein Eigenleben. Ein Körper betrachtet sich als ein Bild, das ihm äußerlich ist, als ein Bild, in dem er als verzerrte und deformierte Masse erscheint. Ein Körper löst sich auf und dissoziiert sich. Dieses Zersetzen ist gleichzeitig aber auch ein sich mit sich selbst Auseinandersetzen, das durch die Lücke, den Abstand zwischen den Körperteilen ermöglicht wird. Der Körper löst sich in seine Einzelteile auf, als zöge sich das integrierende Bewusstsein aus ihm zurück und überließe ihn den Erschöpfungszuständen, in die ihn die rastlos sich wiederholenden Bewegungen unermüdlich treiben. Dieser Abstand zwischen Blick und Hand, dieser unausgefüllte, leere Raum, der Hand und Blick voneinander trennt, diese phänomenologische Abwesenheit von Etwas, ist, wie in der hier beschriebenen Eröffnungssequenz ihres Stücks No Longer Readymade aus dem Jahr 1993, das Charakteristische an Meg Stuarts Arbeiten. Ihre Subjekte begeben sich in die Abwesenheit hinein, in jenes »nicht lokalisierbare Dort«, wie es André Lepecki formuliert, und horchen sie aus.1 Sie hält den Spalt zwischen Subjekt und Objekt, den zwei Blattseiten des Körpers als sich wahrnehmendes Subjekt und als Objekt in der Welt, von denen Maurice Merleau-Ponty spricht, offen.2 Doch damit widersetzt sie sich der traditionellen Verschränkung dieser beiden Komponenten, die die symbolische Ordnung unserer Kultur dem Bühnentanz abverlangt. Sowohl das Ballett als auch der moderne Tanz gehen von einer je eigenen Integration der Köperteile und Bewegungen aus, die den Tänzer zu jenem Ideal macht, das an unserer Stelle tanzen kann. In Meg Stuarts Arbeiten sind der Tänzer oder die Tänzerin zwar auf der einen Seite phänomenologische Subjekte par excellence, weil sie sich wie Benoît Lachambre in der Eröffnungsszene von No Longer Readymade in gesteigerter Form durch die Bewegung selbst affizieren, sich selbst als fühlend fühlende Subjekte wahrnehmen. Dadurch nehmen sie sich im Sinne von Bernhard Waldenfels als Fremde wahr. Ihre Körper stehen zu sich in Differenz, weil sie nur aus Differenzen bestehen. »Ich fasse mich nur, indem ich mir ent-

1 | André Lepecki, »›Am ruhenden Punkt der kreisenden Welt‹. Die vibrierende Mikroskopie der Ruhe«, in: Gabriele Brandstetter/Hortensia Völckers (Hg.), ReMembering the Body, Ostfildern: Hatje Cantz, 2000, S. 334-366, hier: S. 354. 2 | Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, op. cit., vgl. Kapitel IV.2. dieser Arbeit.

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gleite. Leiblichkeit besagt, daß ich nur Als anderer ich selbst sein kann«,3 formuliert Waldenfels. In dem Wort »sich« dieser Erfahrung findet eine reflexive Selbstverdoppelung des Körpers statt, der sich als anderen wahrnimmt, während er sich wahrnimmt. Auf der anderen Seite scheinen sich die tanzenden Subjekte Meg Stuarts dadurch aber gerade auf radikale Weise als Subjekte zu verlieren. An die Stelle einer Selbstwahrnehmung als Fremdwahrnehmung tritt die viel unheimlichere Vorstellung eines permanenten Entgleitens des Subjekts, das keinerlei Kontrolle mehr über sich zu haben scheint. Die Tänzer werden sich im fühlend Fühlen zum Objekt, dessen Subjektstatus im Symbolischen noch aussteht. Stuart versucht nicht mehr, wie der moderne Tanz der Jahrhundertwende, die Abwesenheit, die sich zwischen Subjekt und Objekt auftut, ideologisch zu schließen, indem sie auf der integrierenden Subjektposition beharrt. Ihre Subjekte begeben sich in die Abwesenheit, um sich dort zu verlieren. »[D]er Tänzer muß das nicht lokalisierbare Dort zwischen Subjektivität und Körperbild erforschen«,4 präzisiert Lepecki seine Ausführungen und meint damit von Seiten des Tänzers eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber mikroprozessualen Vorgängen im Körper. Durch Hineinhorchen in den eigenen Körper wird die Eigenwahrnehmung für verborgene, minimale Bewegungen im Körper geschärft. Auf der Seite der Zuschauer wird durch das Beobachten dieser Vibrationen eine andere, intensivere Wahrnehmung erzeugt. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich auch meine Darstellung der Arbeit von Meg Stuart. Allerdings gehe ich dabei von einer anderen Prämisse aus, die die Abwesenheit und damit das Nicht-Integrierbare im Spiel zwischen Symbolischem, Imaginärem und Realem in den Vordergrund rückt. Lepeckis Argumentation geht davon aus, dass die Beschäftigung mit der introspektiven Propriozeption nicht zu einer neuen Kinästhetik, wie sie die Tanzmoderne suchte, führt, sondern zu einer neuen Wahrnehmung. In der neuen Kinästhetik der Moderne, die, wie im Falle von Martha Graham oder Doris Humphrey, zu einer Bewegungssprache führt, falle der Körper, so Lepecki, von seiner eigentlichen Subjektivität ab. Er gewinnt sie wieder, indem er alle Körperbilder, die durch Bewegung entstehen, von sich abstreift. So stellt er die Arbeit an der Propriozeption als Arbeit am »Kern des Subjekts«5 dar, während das Körperbild, das mit dieser Subjektivität »kollidiert«,6 etwas ihm Äußerliches sei. Dass dem nicht zwangsläufig so sein muss, zeigen Techniken wie das 3 | Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 51. 4 | Lepecki, op. cit., S. 346. 5 | Lepecki, »Mikroskopie der Ruhe«, op. cit., S. 362. 6 | Ibid., S. 354.

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412 | Abwesenheit Body-Mind Centering7 und die Kontaktimprovisation, die auch für Stuarts Stücke wichtig ist. Meg Stuart, 1965 in New Orleans geboren, studierte zwischen 1983 und 1986 in New York an der Tish School of the Arts Tanz, wobei sie sich vor allem auf Kontaktimprovisation und Movement Research konzentrierte. In beiden Fällen führt die Beschäftigung mit der Eigenwahrnehmung des Körpers sehr wohl zu einer neuen Kinästhetik und zu Körperbildern, die von der Arbeit an der Wahrnehmung nicht abzulösen sind.8 Lepecki kann an solchen Stellen den romantischen Kern seines Arguments nicht verbergen. Letztlich bleibt auch er dem Diskurs der Moderne um die Eigentlichkeit des Körpers verpflichtet. Dagegen soll hier die Vorstellung einer konstitutiven Abwesenheit stehen, die die Integration von Subjekt und Objekt zum Thema macht, ohne den Abstand zu schließen. Das Zentrale bei den Arbeiten Meg Stuarts ist, dass sie Techniken wie die Kontaktimprovisation in den Kontext einer Aufführung und damit in den Rahmen des Theaters und seiner Gesetze stellen, um mit den Bildern, die auf diese Weise entstehen, zu arbeiten. Sie treiben die Propriozeption ins Bildhafte, weil auch sie stets innerhalb der symbolischen Ordnung stattfindet. Subjektivität und Körperbild sind nicht entgegengesetzt, wie ›echt‹ und ›gesellschaftlich auferlegt‹, sondern implizieren sich gegenseitig. Stuarts Arbeiten widersetzen sich einer neuen Kinästhetik, wie es Lepecki sieht, nicht aufgrund der Arbeit an der dichten Masse des natürlichen Körpers, sondern gerade weil sie die dichte Masse des Körpers ins Bild treiben, um etwas an der Realität sichtbar zu machen, was bisher noch nicht sichtbar war. Meg Stuart präsentiert uns andere Körperbilder und damit auch andere Subjekte. Ihr subjektives Imaginäres, das sich an der bildenden Kunst ebenso reibt wie an der Verwendung von neuen Bildmedien, wie Videos und Überwachungskameras, öffnet dem Körper neue Räume, die seinen Ort wie im Zittern des Tänzers in der eingangs beschrieben Szene unbestimmt machen. Sie treibt ihre Körper auf der Bühne in jene Lücke, die die symbolische Ordnung lassen muss, weil die tanzenden Subjekte mit ihrer Triebenergie nie vollständig in ihr aufgehen können.

7 | Eine Technik, die auf der Propriozeption basiert, ist das Body-Mind Centering (BMC). Durch Aktivierung der verschiedenen Körpersysteme wie Skelett, Muskulatur oder die Organe werden spezifische Bewegungsqualitäten erzeugt. Bonnie Bainbridge Cohen, Sensing, Feeling and Action. The Experimental Anatomy of BodyMind Centering, Northampton: Contact Editions, 1993. 8 | Steve Paxton, einer der Begründer der Kontaktimprovisation, gliedert sie in vier distinkte Elemente und zwei binäre Oppositionspaare, die das Verhalten der Tänzer bestimmen: aktiv-passiv, demand-response. Zwischen diesen vier Polen entwickelt sich die ›Sprache‹ der Kontaktimprovisation; vgl. Steve Paxton, »Contact Improvisation«, in: TDR 19 (1975), S. 40-42.

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Damit tritt sie in eine Auseinandersetzung mit der Repräsentation von Körpern im Theater ein, die ihre Stücke bestimmt. Die Lücke oder der Abstand zwischen dem Körper und der symbolischen Ordnung besetzt das Imaginäre. Rudi Learmans beschrieb Stuarts Körperbilder daher in seinem immer noch grundlegenden Aufsatz zu Stuarts Arbeiten bereits 1995 als zweifach gegliederte: Man kann die zweifach gegliederte Körpersprache Meg Stuarts zu zwei übergeordneten Körperbildern in Beziehung setzen, nämlich dem Tic und dem Handicap. Die szenische Verselbständigung von Gliedmaßen wie Armen oder Beinen hat ein vertrautes Gegenstück im Alltag: der Tic, der die anderen irritiert, die oft unbewussten Reflexbewegungen von Füßen und Beinen, das sinnlose Nesteln an Kleidung und Haaren, das unkontrollierte Herumrutschen eines Kindes auf einem Stuhl. Beim Tic geht ein Teil des Körpers sozusagen seine eigenen Wege, löst sich von individuellem Bewußtsein und allgemeinem Verhaltenskodex und wiedersetzt sich sowohl persönlicher Stilisierung wie gesellschaftlicher Konvention. […] In anderen Szenen wird die normale Fortbewegung des menschlichen Körpers gehemmt, gefesselt und geknebelt. Auch hierfür gibt es ein wohlbekanntes Äquivalent aus dem täglichen Leben. Eine bestimmte Figur (im Sinne der lateinischen figura) wird isoliert und bereinigt. Über den Boden kriechen, die eigenen Beine mit den Händen setzten – das tun Versehrte, Aids-Kranke und andere Menschen mit motorischen Störungen. Die Bewegungen chronisch Kranker oder Behinderter werden in Stuarts Stücken normalisiert, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes: Sie werden auf der Bühne normal, weil sie von normalen Menschen ausgeführt werden.9

Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang anstatt von Normalisierung, wie es Laermans tut, besser von Verallgemeinerung auffälliger Verhaltensweisen sprechen. Sind diese doch im symbolischen Raum der Bühne, um den es hier geht, keineswegs ›normal‹, sondern auffällig. Mit der Verallgemeinerung von Tics und Handicaps als jedem Menschen eigen werden mehrere Problemfelder aufgeworfen, die in den folgenden Abschnitten näher erörtert werden sollen. Durch die auffälligen Verhaltensweisen der Körper artikuliert sich ein anderes Verhältnis des Körpers zu sich selbst, ein anderes Verhältnis von Bewusstem und Unbewusstem, Gesteuertem und Unwillkürlichem, von Kontrolle und Kontrollverlust und letztlich von einer Erfahrung der Zentrierung hin zu einer der Dezentrierung. Darin manifestiert sich ein doppelter Entzug: einmal ein Entzug der gesellschaftlichen Sanktionierung solcher Körper, und zum anderen der Entzug gängiger Sinngebungsprozesse über symbolische Tanzcodes im theatralen Rahmen. Die sichtbare Bewegung verweist hier auf ihre Abwe9 | Rudi Laermans, »Dramatische Gesellschaftsbilder«, in: Ballett International/Tanz Aktuell 2 (August/September 1995), S. 54-59, hier: S. 56.

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414 | Abwesenheit senheit im symbolischen Raum des Theaters. Gleichzeitig ist sie als Symptom die Wiedereröffnung eines imaginären Raumes, der aus der Ordnung fällt. Das Nicht-Integrierbare der Tics und anderer autistischer Bewegungen strebt nach Integration und verändert dadurch den Ort des Körpers im Theater. Meg Stuart zeigt uns den theatralen Raum des Körpers, der wesentlich durch die Abstände zwischen den Körpern, zwischen Bewegungen und Körperteilen definiert ist. Dieser negative Raum der Abwesenheit, der bewegt, der uns sehen lässt, bezeichnet phänomenologisch eine Leerstelle. Gleichzeitig eröffnet er dadurch einen psychischen Raum, der alles andere als leer ist, weil er als das Bewegende Körper hervorbringt.

1 1.1

Die Ebene des Symbolischen Auseinandersetzung mit einer Tanzsprache

Im Gegensatz zu Jérôme Bel und Xavier Le Roy, die in ihren Arbeiten den Bezug zu einer Tanztechnik und einer Tanzsprache außer Kraft gesetzt haben, arbeitet Meg Stuart mit der Technik der Kontaktimprovisation, um sie signifikant zu verändern. Der Bezug zu einer Tanzsprache verbindet sie mit William Forsythe, doch ist ihre Beziehung zur symbolischen Ordnung der Kultur, die sich im Ballett einerseits und in der Kontaktimprovisation andererseits artikuliert, eine jeweils andere. Aus der experimentellen New Yorker Tanz- und Performance-Szene der sechziger Jahre heraus begann eine Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern, darunter Steve Paxton und Nancy Stark Smith, Anfang der siebziger Jahre mit einer neuen Form der Bewegungsimprovisation zu arbeiten. Die Kontaktimprovisation ist zunächst eine Duettform, die auf dem Einsatz des Körpergewichts der Partner basiert.10 Durch Berührung und gegenseitiges Stützen werden Impulse weitergegeben, die der jeweils andere im Bewegung umsetzt. Im gleichberechtigten Geben und Nehmen von Energie, das keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern und deren gesellschaftlich codiertem Rollenverhalten kennt, wird jede Hierarchisierung sowohl der Partner als auch der eingesetzten Körperteile vermieden. Die Schwerkraft wird hierbei zum ersten Mal tatsächlich bestimmend für das Bewegungsverhalten der Tänzer; sie wird mithin, wie Claudia Jeschke bemerkt hat, nicht mehr nur funktional eingesetzt wie in der Moderne, die, wie Mary Wigman in ihrem Hexentanz, immer noch an der vertikalen Körperachse 10 | Zur historischen Übersicht über die Entwicklung der Form vgl. Cynthia Novack, Sharing the Dance. Contact Improvisation and American Culture, Madison: University of Wisconsin Press, 1990.

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orientiert war, wie sehr gekippt und gestaucht sie auch erschien. Steve Paxton beschreibt den Ansatz der Kontaktimprovisation wie folgt: This system is based in the senses of touch and balance. The partners in the duet touch each other a lot, and it is through touching that the information about each other’s movement is transmitted. They touch the floor, and there is emphasis on the constant awareness of gravity. They touch themselves, internally, and a concentration is maintained upon the whole body. Balance is not defined by stretching along the center columns of the body, as in traditional dancing, but by the body’s relationship to that part which is a useful fulcrum, since in this work a body may as often be on head as feet and relative to the partner as often as to the floor.11

Anstelle der Orientierung des tanzenden Körpers an seinem ihm von außen zukommenden Idealbild tritt eine Sensibilisierung des Körperinnenraums und dessen Wahrnehmung. Die Partner berühren sich, wie Paxton formuliert, ›innerlich‹, und folgen in ihren Bewegungen diesen inneren Impulsen. Folglich wird die Körperachse als Zentrum der Bewegung und mit ihr die Ausrichtung an der Geometrie aufgegeben. Der Körper kann sich, so Paxton, ebenso auf dem Kopf stehend oder auf dem Boden liegend bewegen. Ähnliches gilt für die Situation in der Gruppe. Die Organisationsform einer Gruppe wie ›The Grand Union‹, in deren Performances unter anderem Kontaktimprovisation verwendet wurde, ziele, so Paxton, at producing freedom for individuals of a group and spurring them to new awareness. Many social forms were used during the 1960’s to accomplish dance. In ballet, the traditional courtly hierarchy continued. In modern dance (Graham, Limon, Lang et al.), the same social form was used except magicians rather than monarchs held sway. Post-modern dancers (Cunningham, Marsicano, Waring), maintained alchemical dictatorships, turning ordinary materials into gold, but continued to draw from classical and modern-classical sources of dance company organization.12

Sowohl der Körper der Tänzer als auch der Körper der gesamten Gruppe als Institution ist mithin nicht mehr vom Kopf her zusammengesetzt. Er folgt nicht mehr der rationalen Ordnung einer magisch anmutenden Stellvertreterschaft, die den Riss in der symbolischen Ordnung durch Maß, Proportion, Komposition und die damit verbundene Vorstellung von Schönheit gleichzeitig leuchten lässt und schließt. Stattdessen versucht eine Form wie die Kontaktimprovisation, durch ihren Fokus auf der Körperinnenwahrnehmung andere Antriebsformen und Empfindungsweisen auszuspielen,

11 | Paxton, »Contact Improvisation«, op. cit., S. 40. 12 | Paxton, »The Grand Union«, op. cit., S. 131.

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416 | Abwesenheit die das bis dato Unreine, Nicht-Integrierbare in den symbolischen Raum, der ihnen bislang verboten war, zurückholen. Dies führt allerdings häufig zu einer Ausschaltung des Systems Theater. Die Aufführungssituation und mit ihr die symbolische Kommunikationssituation wird weitgehend ignoriert und der Trainingssituation angeglichen. Die Absicht der Tänzer besteht darin, wie Susan Leigh Foster betont, jede bewusste Theatralisierung der Bewegung zu vermeiden und den sportlichen Charakter der Veranstaltung beizubehalten.13 Der Tanz will als gesellschaftliche Praxis unmittelbar neben anderen erscheinen, die nicht primär ästhetischen, sondern vielmehr therapeutischen, sportlichen oder entspannenden Absichten folgt. Er will, so ließe sich zugespitzt sagen, nicht mehr als Tanz, sondern als Bewegung wahrgenommen werden. Die Grenze zwischen Kunst und Leben wird, einer Zielsetzung der Avantgarde gemäß, verwischt.14 »Concert presentations«, so Paxton, »of the work have tended to be relaxed, functionally clothed, concentrated, and unpredictable.«15 Die Form folgt keinem vorhersehbaren dramaturgischen Muster, das nach Anfang, Höhepunkt und Ende organisiert wäre. Die instabile, sich ständig wandelnde Form entsteht vielmehr aus der Notwendigkeit des Moments heraus, der sich additiv an den nächsten reiht, wobei lange Zeit nichts Aufregendes geschehen muss, bevor es plötzlich zu frappierenden und außergewöhnlichen Konstellationen kommen kann. Wenn Rudi Laermans über Meg Stuart sagt: »Sie inszeniert das menschliche Subjekt als subjektlos, ja kopflos zusammengefügt«,16 verweist er damit nicht nur auf die Desintegration holistischer Subjektvorstellungen, sondern ganz konkret auch auf die ›kopflose‹ Bewegungsform der Kontaktimprovisation. Sie stellt mit ihrem Fokus auf die Wahrnehmung eines körperlichen Zustands vor allem in ihren frühen Stücken eine zentrale Technik zur Entwicklung von Bewegung dar. Kontaktduette sind in Stücken wie No Longer Readymade und No One is Watching immer wieder zu sehen.17 Doch deren Form und Funktion erfahren darin signifikante Veränderungen. In No Longer Readymade entspinnt sich ein packendes Duett zwischen einem Tänzer und einer Tänzerin, in der ersten Besetzung Benoît Lachambre und Meg Stuart selbst, das 1993 von der Kritik als »eines der be-

13 | Foster, »Walking and Other Choreographic Tactics«, op. cit., S. 131-135. 14 | Vgl. Allan Kaprow, Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelly, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1993. 15 | Paxton: »Contact Improvisation«, op. cit., S. 42. 16 | Laermans, »Dramatische Gesellschaftsbilder«, op. cit., S. 56. 17 | Zu folgenden Stücken lagen mir undatierte Videos vor: No Longer Readymade, No One is Watching, Splayed Mind Out und appetite. Ich habe diese wie alle anderen analysierten Stücke an verschiedenen Orten seit 1994 mehrmals gesehen.

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ängstigendsten Duette«18 im Tanz, als »Herausforderung« und »quälende Freude«19 beim Zuschauen bezeichnet wurde. Aus dem Dunkel der Bühne, die nach hinten durch eine Reihe auf Lücke stehender Türen begrenzt wird, schiebt sich das Paar nach vorne in den Raum hinein. Lachambre hat dabei seine Arme hinter dem Rücken verschränkt, verzichtet also während des gesamten Duos auf den Einsatz von Armen und Händen. Meg Stuart kauert dagegen auf dem Boden. Als seien ihre Beine zu schwach, verzichtet sie während des gesamten Tanzes darauf, sich aufzurichten. Kontakt zwischen den beiden findet in ihrem spezifisch eingeschränkten Bewegungsradius nur über Lachambres Unterschenkel und Füße und über Stuarts Hände und Arme statt – jeweils das Körperteil, das der andere ausgeblendet hat. Dadurch entsteht der Eindruck einer merkwürdigen Abhängigkeit zwischen den beiden, als komplettiere der eine die Behinderung der anderen und umgekehrt, um einen funktionsfähigen Körper herzustellen. Lachambre tritt Stuart regelrecht über den Boden. Dem Impuls folgend, fliegt sie in den Raum hinein, nur um sich Sekunden später mit Schwung zurückzuwerfen. Ihre Arme umklammern dabei seine Unterschenkel, suchen Halt, doch er befreit sich durch erneutes Treten. Manchmal rollt er ihren Körper mit den Füßen zu sich zurück und schaufelt ihn auf wie ein Bagger eine Last, die er kurz darauf an einem anderen Ort wieder abkippt. Das Geben und Nehmen von Bewegungsimpulsen, das Hin und Her der Körper, folgt hier keineswegs mehr dem Ideal einer gleichberechtigten Kommunikation. Es wird vielmehr der Eindruck extremer gegenseitiger Abhängigkeit suggeriert, der mit einer Dominanz des männlichen, aufrecht stehenden Partners über seine Partnerin einhergeht. Dem zweckfreien Spiel der Impulse ist ein brutaler Akt der Gewaltanwendung gewichen, bei dem beide bis ans Äußerste ihrer Kräfte gehen, wobei keiner der beiden als der oder die Schwächere anzusehen ist. Von den Zuschauern wird nicht mehr nur ästhetische Aufmerksamkeit auf die Bewegungspraxis der Kontaktimprovisation verlangt, die immer wieder wie von Paxton im Zitat über »The Grand Union« als Modell für gesellschaftliche Emanzipation und Gleichberechtigung dargestellt wird. Die Technik wird über ihr selbstbezügliches Entfalten hinaus inszeniert. Meg Stuart holt die Tanztechnik, die keine sein will, zurück in den Rahmen des Theaters und theatralisiert sie auf eine Weise, die über sie selbst als Technik hinausweist. Durch die Vorgaben bestimmter Parameter, die die Bewegungsfreiheit einschränken, öffnet sich die Szene verschiedenen Kontexten, in denen gesellschaftliche Erfahrun-

18 | Irene Sieben, »Bedrückender Tanz der Einsamkeit«, Berliner Morgenpost (14. August 1993). 19 | Michaela Schlagenwerth, »Das Leben als Aufkleber«, Tageszeitung Berlin (14. August 1993).

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418 | Abwesenheit gen, Körperbilder oder »dramatische Gesellschaftsbilder«20 erkennbar werden. Dabei geht es ihr jedoch nicht um die Inszenierung gesellschaftlicher Verhaltensweisen und Rollenmuster, wie sie paradigmatisch im Umgang der Geschlechter miteinander abzulesen sind. Den Spalt zwischen gesellschaftlichem Zwang und persönlichen Wünschen und Sehnsüchten, wie ihn das Tanztheater einer Pina Bausch auslotet, hält sie offen. Nicht der Körper in seiner psychosozialen Dimension steht hier im Vordergrund, sondern der materielle Körper und seine Stummheit, die Meg Stuart zum Sprechen bringen will. Das Erfüllen von Aufgaben, das sogenannte ›task performing‹, wurde als Improvisationstechnik im Vorfeld und im Umfeld des ›Judson Dance Theaters‹ Anfang der sechziger Jahre von Anna Halprin und Trisha Brown entwickelt.21 Dabei sollte der Ausdruck von Subjektivität des Tänzers hinter die Funktionalität der Bewegung zurücktreten. Subjektivität oder die Persönlichkeit des Tänzers erscheinen in Abhängigkeit von und durch die Aufgabe als hergestellte und nicht als inneres Residuum, das zum Ausdruck in der Bewegung drängt. Dieser spezifisch amerikanischen Tradition der Performativität bleibt Meg Stuart in ihren Stücken verpflichtet. Sie macht die Abhängigkeit des Tanzes und des Subjekts von einem Verbot (in der beschriebenen Szene jenes, Arme oder Beine zu benutzen) deutlich und hinterfragt im Wiederholen der immer gleichen Bewegungen die Repräsentation des tanzenden Körpers auf der Bühne. Auf die Bühne geworfen und dort den Blicken ausgesetzt, suchen ihre Körper über die Aufgaben, die sie zu erfüllen haben, eine andere Art der Kommunikation, die nicht über wiedererkennbares Verhalten oder Identifikation abgesichert ist und auf die weiter unten noch einzugehen sein wird.22 Die Erfahrung des ›Displacements‹, eines Körpers, der sich auflöst, Einheit und Zusammenhalt verliert, dessen Glieder ver-rückt werden, ist ein Grundzug von Meg Stuarts Arbeiten. Er wird durch die Tanztechnik begünstigt, die ziellos, weil nicht planbar, die verschiedensten Raumpunkte mit egal welchen Körperteilen anspielen kann. In der beschriebenen Szene klingt bereits ein anderes Motiv an, das für die Frage der Abwesenheit von zentraler Bedeutung ist: das der Verdoppelung und des nicht positiv bestimmten Raums, der zwischen den beiden Teilen entsteht. Der Körper spaltet sich auf; ein Zwischenraum entsteht, der nicht gefüllt ist, über den die beiden Körper aber miteinander in Beziehung treten. Über ihre körperliche und räumliche Trennung und Distanz hinweg gibt es ein Band, das sie zusammenhält. Im Zusammenhang mit der Feststellung der Theatrali20 | Laermans, »Dramatische Gesellschaftsbilder«, op. cit. 21 | Vgl. dazu Roger Copeland, »The Neoclassical Task«, in: New Performance 2 (März 1981), hg. von Michael O’Connor, S. 50-58. 22 | Vgl. dazu Siegmund, »Von Monstren und anderen Obszönitäten«, op. cit.

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sierung der Körper weist die Verdoppelung auch auf die geteilte Theatersituation hin. Die Körper der Tänzer und die Körper der Zuschauer sind über Blicke verbunden. Blickkonstellationen werden inszeniert, in die Meg Stuart ihre Körper bewusst hineinplatziert.

1.2

Thematisierung der Theatersituation

Unmittelbar nach dem Kontakt-Duett beginnt eine Szene, die uns unseren Blick auf die Bühne bewusst macht. Meg Stuart zieht Benoît Lachambres Jackett aus. Er nimmt es ihr daraufhin aus der Hand und streift es ihr über. In die Haut eines anderen, eines Mannes, geschlüpft, fängt sie nun an, diese übergezogene, geborgte Identität zu inventarisieren. Tief hängt die Jacke, die ihr sichtlich zu groß ist, über ihren Schultern. Klein und zierlich wirkt sie darin, während sie ihre Hände in den Taschen vergräbt und zu wühlen beginnt. Nacheinander holt sie verschiedene Dinge heraus: Zettel, auf denen Notizen oder Telefonnummern stehen könnten, abgerissene Knöpfe und Bindfäden – Dinge, die man ohne nachzudenken in seine Taschen steckt, wo sie vergessen ihr Dasein fristen, bis man plötzlich wieder auf sie stößt, ohne sofort zu wissen, wann und warum man sie aufgehoben hat. Meg Stuart schaut die kleinen Erinnerungsstücke an Begebenheiten eines Lebens ratlos an. Während der ganzen Szene steht sie an der Rampe, den Körper frontal zum Publikum ausgerichtet. Ihr Blick fällt auf die Gegenstände, sie hält sie in der Hand und schaut danach fragend auf ins Publikum, als könne sie sich nicht mehr daran erinnern, wozu sie einmal gut gewesen sein könnten, bevor sie die Dinge in die andere Jackentasche stopft. Immer wilder und schneller werden ihre Bewegungen, als verselbständigten sich ihre Gliedmaßen, über die sie jegliche Kontrolle verloren hat. Wild fahren die Arme nach oben, drehen dann wieder nach unten, passieren die Tasche, bevor sie erneut hoch auffahren. Sie suggerieren eine gewisse Verzweiflung, eine Orientierungslosigkeit, bei der die Gegenstände schließlich nicht mehr in der anderen Tasche verschwinden, sondern achtlos auf den Boden vor ihren Körper fallen und verstreut liegen bleiben. Erschöpft hält sie schließlich inne und zieht das Jackett wieder aus. Ein Tänzer reicht ihr von hinten einen Kleiderbügel, den sie vor ihren Körper hält. Dabei misst sie den Abstand zwischen ihrem Körper und dem Kleiderbügel mit dem Blick ab. Sie zieht sich ihr dünnes Kleid über den Kopf, bekommt einen zweiten Bügel gereicht und hält die beiden Kleidungsstücke links und rechts von ihrem Körper, so dass sie eine Reihe bilden. Jacke, Körper und Kleid stehen so als drei Körper gleichberechtigt nebeneinander, und Meg Stuart schaut von einem zum anderen, als wolle sie wissen, wo sie sich eigentlich wirklich befindet. Sie vertauscht die Seiten, schaut, ob das Jackett rechts und das Kleid links von ihrem Körper ihr besser Auskunft über den tatsächlichen Ort ihres Körpers geben kann. Am Ende der Szene hängt sie

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420 | Abwesenheit die Bügel in ihre Armbeugen und hält sich ein schwarzes Paar Schuhe vor ihr Gesicht und löscht damit ihre Identität aus.

Zu Beginn der Szene geht im Zuschauerraum des Theaters das Licht an. Wir beobachten die Frau, die sich mit jedem Gegenstand, den sie aus der Tasche kramt, selbst verliert, nicht wie Voyeure aus dem Dunkel des Zuschauerraums heraus. Vielmehr sehen wir uns selbst, wie wir sehen, und wir werden uns bewusst, dass wir von der Bühne herunter tatsächlich angeblickt werden. Die Tänzerin schaut uns an, bittet uns mit ihrem Blick um Hilfe und weist damit letztlich über den sicheren Rahmen des Theaters hinaus. Sie macht ihre Stellvertreterposition zum Thema und untergräbt sie dadurch gleichzeitig, indem sie sich symbolisch auf die gleiche Ebene begibt wie die Zuschauer. Diese dürfen, wie im Stück Splayed Mind Out, das Stuart im Jahr 1997 zusammen mit dem Videokünstler Gary Hill schuf, sogar auf die Bühne. Ein älteres Paar erhebt sich plötzlich aus dem Parkett und tanzt einen Foxtrott. Die Schluss-Szene aus Splayed Mind Out stellt die Frage, wer tanzen darf und was wir sehen und im Theater sehen wollen, noch einmal auf eine andere Art und Weise. Auch hier wird es hell im Parkett. Die Tänzerin Christine de Smedt malt mit einem ihrer Finger kleine Kreise auf den Boden, auf ihre Handfläche und, während sie ihren Oberkörper aufrichtet, in die Luft. Sie markiert den Kreis auf ihrem Körper, auf der Stirn, auf dem Mund, stehend und auf dem Rücken und der Seite liegend, bevor sie über eine Position auf den Knien wieder in ihre gebückte Ausgangshaltung zurückfindet und das Kreisen erneut beginnt. Ihr Körper dreht sich dabei um die eigene Achse. Während der Finger Kreise beschreibt, bewegt er sich selbst im Kreis. Gefangen in einer Endlosschleife der Zeit, einem Loop, wird die Sequenz solange wiederholt, bis auch der letzte Zuschauer das

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Theater verlassen hat. Das Stück gibt es, solange wir unseren Blick auf die Szene richten – egal, was dort gezeigt wird. Wenden wir uns dagegen von der Szene ab, hört es auf zu existieren. Wir können uns der Kontemplation der immer gleichen Szene hingeben, in ihren Wiederholungen kleine Differenzen erkennen, unsere Aufmerksamkeit wandern lassen. Ohne Höhepunkt, Anfang, Mitte und Ende verweist die Bewegungsphrase einerseits nur auf sich und ihre materielle Beschaffenheit. Andererseits macht sie uns unsere Erwartungshaltung an eine theatergerechte Dramaturgie bewusst, die hier durchbrochen wird. Unser Blick wird dadurch auf sich selbst zurückgeworfen; er erfasst seine theatrale Rahmung und deren Funktion, etwas zum Objekt zu machen, wo es nur Wahrnehmung und Aufmerksamkeit gibt. Die Frage, ob das, was wir sehen, Kunst oder (unser) Leben ist, wird in der Jackenszene aus No Longer Readymade noch auf eine andere Weise gestellt, die auf den Titel des Stücks anspielt. Im 90 Grad-Winkel zu Meg Stuart steht auf der linken Seite der Bühne eine weitere Tänzerin. Sie bleibt, wie Stuart, die ganze Szene über am Platz stehen, ihr Körper und ihr Gesicht vom Publikum abgewandt auf die Seitenbühne blickend. In ihrer gewöhnlichen Trikotkleidung ist sie lediglich als Tänzerin ausgewiesen und erscheint im Gegensatz zu Stuart nicht als kostümierte Theaterfigur. Parallel zu Stuarts Armkreisen führt auch sie heftige, unkontrolliert wirkende Armbewegungen aus, reißt den Arm nach oben, nur um ihn dann spannungslos nach unten sinken zu lassen. Sie knickt mit ihrem Oberkörper ab, nur um erneut aufzufahren. Sind ihre Bewegungen zunächst nicht mit denen Stuarts synchron, stellt sich in dem Maße, in dem Stuarts Armbewegungen schneller werden, zum Ende der Szene immer wieder für kurze Zeit eine Synchronität zwischen den beiden Tänzerinnen her. Die Zuschauer sehen über die räumliche Verschiebung der Körper die gleichen Bewegungsmuster, doch auf der einen Seite erscheinen sie abstrakt als »reine« Bewegungen, auf der anderen als kontextualisierte Bewegungen, die sich, durch die Körperhaltung der Tänzerin signalisiert, wieder dem Publikum zuwenden. Wie kann man diese Strategie der Verdoppelung verstehen? Im Umfeld des mehrfach erwähnten ›Judson Dance Theater‹ entwickelten sich in den sechziger Jahren Verfahren, alltäglichen Bewegungen, wie Gehen oder Rennen, in die Tanzstücke zu integrieren. Jede Art der Bewegung sollte zugelassen sein, und jeder sollte diese Bewegungen mit ein wenig Übung ausführen können, ohne dafür eine spezielle Tanztechnik erlernen zu müssen. Diesen Bewegungen konnte man als Zuschauer entweder in geschlossenen Räumen, so etwa die Judson Memorial Church in New York oder in Lofts begegnen, Räumen also, die nicht speziell für Tanzaufführungen ausgewiesen waren, oder man erlebte sie eher zufällig auf der Straße, wo sich Tänzer, wie 1964 in Lucinda Childs Street Dance, nach be-

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422 | Abwesenheit stimmten Vorgaben bewegten, ohne dass Passanten die Tänzer sofort von Fußgängern unterscheiden konnten. Eine Definition der Situation als Aufführung musste sich also erst allmählich herstellen. Von den Zuschauern wurde verlangt, scheinbar alltägliche Verrichtungen als Kunst zu erkennen, oder, genauer formuliert, jeder erdenklichen Art von Bewegung ästhetische Aufmerksamkeit zu schenken und sie in ihrer materiellen Beschaffenheit und in all ihren Facetten jenseits ihrer pragmatischen Verwendungszusammenhänge als Kunst zu betrachten.23 Ein solches Verfahren stellte natürlich die Frage, was Kunst im Allgemeinen und Tanz im Speziellen ist und was einen Künstler respektive einen Tänzer ausmacht. Wenn Meg Stuart, aus der New Yorker Avantgarde-Tradition kommend, ihr Stück No Longer Readymade nennt, spielt sie damit selbstredend auf Marcel Duchamps Konzept des Readymades an, das diese Fragen schon in den zehner Jahren des 20. Jahrhunderts an die bildende Kunst gerichtet hatte. Duchamps hatte bereits 1913 mit dem »Fahrrad-Rad« und 1914 mit dem »Flaschentrockner« banale industriell gefertigte Gegenstände aus ihrem Verwendungszusammenhang gelöst und zu Skulpturen erklärt, bevor er 1916 nach seiner Emigration nach New York die Idee der Readymades systematisch weiter verfolgen sollte. 1917 sorgte er schließlich mit der berühmten »Fontäne«, einem Urinal, das der Künstler mit »R. Mutt 1917« signiert hatte, auf der Ausstellung der ›Independent Artists‹ für einen Skandal. Bei einem Readymade geht es demnach weniger um das Objekt als solches als um die Möglichkeit einer bestimmten Betrachtungsweise von Seiten der Rezipienten. Es ist nicht der Gegenstand, der aufgrund bestimmter inhärenter Qualitäten künstlerisch ist, sondern eine bestimmte Art der Wahrnehmung, die ihn zur Kunst macht. Sind es objektive Qualitäten, die ein Objekt zum Kunstwerk prädestinieren, oder wird sein Kunstcharakter durch den Diskurs und den Kontext, in die es durch Rahmung und Interpretation eintritt, gestiftet?24 Damit verbunden ist auch die Frage nach dem Status des Künstlers. Ist er ein genialer Handwerker, der ein Werk herstellt, oder, wie Duchamp es nahe legt, ein geschickter Stratege, der Dinge aus ihrem Kontext entwendet, um durch Rekontextualisierung einen Reflexionsraum und einen Raum für Betrachtung zu öffnen? Die Theatralisierung von alltäglichen Phänomenen, deren Merkmal für Michael Fried, wie bereits erörtert, ja gerade die Implikation des Betrachters 23 | Vgl. dazu Foster, »Walking and Other Choreographic Tactics«, op. cit., S. 128. 24 | Eine solche Position vertritt Arthur C. Danto, wenn er im Hinblick auf Duchamps »Fontäne« sagt: »If interpretations are what constitute works, there are no works without them and works are misconstituted when interpretation is wrong«; Arthur C. Danto, The Philosophical Disenfranchisement of Art, New York: Columbia University Press, 1986, S. 45.

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ins Werk war, verbindet Duchamps Readymade-Konzept mit den Experimenten der Tanz-Avantgarde. Damit verbunden ist in beiden Fällen eine gewisse Objektivierung des Gegenstands im Hinblick auf die Subjektivität des Künstlers. Bewegung als Readymade erscheint abgelöst vom bewusst gestalteten subjektiven Ausdruck der Künstler. Dieser tritt zurück hinter der Ausführung einer wie auch immer gestalteten Aufgabe. Duchamp selbst beschreibt diesen Vorgang wie folgt: »Meine Absicht war es immer, von mir selbst wegzukommen […], obwohl ich ganz genau wußte, daß ich mich selbst dabei benutzte. Nennen Sie es ein kleines Spiel zwischen ›mir‹ und ›meiner Person‹.«25 Der Abstand zwischen dem Selbst und der Person als öffentlicher Instanz verweist hier auf die Undarstellbarkeit dieses Selbst in der symbolischen Struktur, in die es ohne ›Persona‹, ohne Maske und damit ohne Zeichen und Signatur (»R. Mutt« im Falle von Duchamp), dies das Selbst zugleich hervorbringen und auslöschen, nicht erscheinen kann. Subjektivität und deren Artikulation richtet sich nach den Gesetzen und Verboten einer übergeordneten Struktur, die Subjektivität in der Art der Bewegungsausführung und der Regelbefolgung aufscheinen lässt, ohne der Vorstellung eines Sich-Ausdrückens im Kunstwerk oder in der Bewegung Vorschub zu leisten. Subjektivität wird über den Abstand zum Gesetz performativ erzeugt, ein Abstand, der über Nähe und Distanz, Aneignung und (unwillkürlicher) Verwendung der Regeln neu verhandelt wird. Meg Stuart zeigt uns ein solches Bewegungs-Readymade in Gestalt der Tänzerin im Hintergrund. Wir können der Artikulation ihrer Bewegungen Aufmerksamkeit schenken, sie verfolgen, ohne ihr eine eindeutige, letztgültige Bedeutung beilegen zu können. Dagegen eröffnet Stuarts eigene Figur im Vordergrund mit ihren ähnlichen oder angeglichenen Bewegungen sofort einen gesellschaftlichen Kontext, der unsere Wahrnehmung nicht nur auf den selbstbezüglichen Charakter der Bewegung als Bewegung lenkt, sondern durch das Ästhetische hindurch wieder zu gesellschaftlichen Fragestellungen vordringt. Bewegung wird nicht mehr länger allein als Readymade in den Rahmen des Theaters gestellt, sondern sie wird als kein Readymade mehr, als No Longer Readymade, aus dem Rahmen wieder hinausgetragen in die Welt. Dies geschieht durch die Thematisierung der Theaterkonvention und der in sie eingeschriebenen Blicke und deren Infragestellung. Das Stück stellt damit auch eine Auseinandersetzung mit einer bestimmten Tanztradition und ihrer Sprache dar, zu der es sich ins Verhältnis setzt. Dabei bleibt auch dieses Verhältnis im symbolischen Register, ähnlich dem zwischen dem Ich und seinem Körper in der Szene mit den Kleider25 | Duchamp zitiert in: Calvin Tomkins, Marcel Duchamp. Eine Biographie, übers. von Jörg Trobitius, München/Wien: Hanser Verlag, 1999, S. 189.

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424 | Abwesenheit bügeln, von einem Abstand und einem Zwischenraum bestimmt. Dieser Abstand bleibt als räumliche Distanz, als Leerstelle und Abwesenheit von etwas Definiertem, zwischen den Körpern der beiden Tänzerinnen sichtbar und unüberbrückbar bestehen. Auf diese Weise entsteht zwischen ästhetischer Wahrnehmung und deren Kontextualisierung ein Spannungsfeld, das beide Pole zum Oszillieren bringt. Es entsteht aus der sichtbaren Abwesenheit zwischen den beiden Körpern einerseits und der Abwesenheit eines definierten Raumes zwischen Parkett und Rampe andererseits, die dem Verbot zu Tanzen, wie es Legendre formuliert hat, seinen symbolischen durchgestrichenen Ort gibt. In diesem Raum erscheint die abstrakte Bewegung als Reartikulation der konkreten und die konkrete als Reartikulation der abstrakten, die eine als wiederholte und wiedergeholte Performance der jeweils anderen. Die Abwesenheit stellt so den Spielraum dar für die Neuartikulation der sichtbaren Verhältnisse zwischen den Zeichen, Körpern und Bewegungen auf der Bühne und im Parkett.

2

Das Haut-Ich als Imaginäres

Meg Stuarts Frage nach dem Ort des Körpers – bin ich hier oder dort? – wird in einer anderen Szene aus No Longer Readymade noch einmal anders gestellt und mit der Frage nach der Berührung der Haut verbunden. Auf dem Boden liegend windet und räkelt sich Meg Stuart, eine Sonnenbrille auf der Nase, nachdem ein Tänzer sie mit einem Scheinwerfer angestrahlt hat, wie auf einer Sommerwiese. Plötzlich fängt sie an zu Lachen, krümmt ihren Körper, als würde sie von jemandem gekitzelt. Tatsächlich ist es nicht sie, die liebkost und gekitzelt wird, sondern ihr Kleid, das neben ihr auf dem Boden liegt. In einer metonymischen Verschiebung, die ihr Kleid zu ihren Körper macht, streichelt ein Tänzer das Kleid, als wäre es ihr Körper. Die räumliche Kontiguität der Metonymie, die ein Element in einer Kette von Elementen platziert, eröffnet sich auch hier auf der Bühne ein Zwischenraum, in dem das Subjekt sich zu zersetzen und zu verlieren droht. Ähnliches geschieht in der zweiten Szene von No Longer Readymade: Zwei von scharfen Lichtkanten auf ihren Torso reduzierte Körper stehen auf der dunklen Bühne an der Rampe. Ihre T-Shirts haben sie mit ihren Armen über ihre Gesichter gezogen. Kopflos, wie zwei Bruchstücke antiker Skulpturen stehen sie da, eine Frau und ein Mann, wobei die Frau mit ihrer entblößten Brust den Zuschauern zugewandt ist, während der Mann seinen nackten Rücken zeigt. Vorder- und Rückseite werden zugleich ansichtig, so dass der Eindruck eines Körpers entsteht, den man in der Mitte durchgeschnitten und aufgeklappt hat wie ein Buch. Seine zwei Seiten bieten sich dem Zuschauer in der Tat zum Lesen dar. Aufgeklebt auf die Haut sind Fo-

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tos, gelbe Blumen und andere Erinnerungsstücke, die wie stumme Zeugen von einer vergangenen Zeit künden. Die Haut wird hier als Einschreibefläche für Erinnerungen gedacht, deren Spuren sie trägt und die die Körper in Bewegung versetzen. Langsam senken die beiden Tänzer ihre Arme und streifen sich ihre T-Shirts über, streicheln sich wie traumverloren über ihre Arme und ihren Oberkörper, als wollten sie die Erinnerungen spüren, und drehen sich synchron, aber doch für sich alleine, in den Raum hinein. Über den leeren Raum zwischen den Körpern hinweg entsteht trotzdem eine Verbundenheit zwischen den beiden Hälften, die durch das Abwesende, weil Unvollständige, zur Erscheinung gebracht werden. Schon im Zusammenhang mit der Kontaktimprovisation wurde die Bedeutung der Berührung hervorgehoben, die Kontaktaufnahme der Tanzpartner über die Haut und die Empfindungen und Impulse, die sie aufnimmt und weiterleitet. Meg Stuart macht die Haut auf vielfältige Weise immer wieder zum Thema ihrer Stücke. So hieß etwa eine Serie von vier Stücken, die sie zwischen 1996 und 1998 in Zusammenarbeit mit den bildenden Künstlern Laurence Malstaf, Bruce Mau, Gary Hill und Ann Hamilton realisierte, Insert Skin. Die Haut stellt ein Organ der Kommunikation dar, das, wie das ebengenannte Beispiel zeigt, vor der rationalen Zusammensetzung des Körpers, vor seiner Auf- und Ausrichtung auf den Kopf als oberstes und edelstes Körperteil, dem werdenden Subjekt eine erste Vorstellung eines Ichs vermittelt. Den Zusammenhang zwischen der Haut und dem ersten Körperbild untersucht die Theorie des Haut-Ichs, die der französische Psychonanalytiker Didier Anzieu entwickelt hat. Da Meg Sturt in ihren Stücken an diesem Komplex arbeitet, bietet es sich an, Anzieus Theorie für die weiteren Analysen als Hintergrund bereitzustellen. Anzieu geht mit Freud davon aus, dass sich die psychischen Instanzen des Menschen in Anlehnung an die körperlich-biologischen Funktionen des Menschen herausbilden. Spricht Freud vom Ich als der »Projektion einer Oberfläche«26, die durch »Getast« Empfindungen weiterleitet, so verweist dies bereits bei Freud implizit auf die Vorstellung vom Ich als einer psychischen Haut analog zu jener Haut, die eine Hülle um den Körper bildet. »Unter Haut-Ich verstehe ich ein Bild, mit dessen Hilfe das Ich des Kindes während früher Entwicklungsphasen – ausgehend von seiner Erfahrung der Körperoberfläche – eine Vorstellung von sich selbst entwickelt als Ich, das die psychischen Inhalte enthält.«27 Die Herausbildung eines Haut-Ichs lehnt sich also an die Funktionen der Haut an und ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass der Kontakt zur 26 | Sigmund Freud, »Das Ich und das Es«, op. cit., S. 294. 27 | Didier Anzieu, Das Haut-Ich, übers. von Meinhart Korte und Marie-Hélène Lebourdais-Weiss, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996, S. 60.

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426 | Abwesenheit Mutter oder zur Bezugsperson in aller Regel über Berührung der Haut erfolgt. Der Säugling wird gehalten, gewiegt, gestreichelt; er wird gestillt und gepflegt, wodurch er allmählich zwischen innen und außen zu differenzieren beginnt. Die Haut erscheint, so Anzieu, allerdings nicht nur als Fläche, sondern auch als Behältnis oder Volumen, in dem der Säugling schwimmt. Durch Verinnerlichung der guten, lustbringenden Mutterbindung entsteht eine zweite Haut, die phantasmatischer Natur ist und die die Grundlage für die emotionale und intellektuelle Entwicklung des Kindes bildet. Introjektion: Der Säugling introjiziert die Beziehung zur Mutter als eine Beziehung zwischen Behälter und Inhalt und schafft – als Folge der Introjektion – einen »emotionalen Raum« und einen »gedanklichen Raum« (der erste Gedanke, nämlich der über die Abwesenheit der Brust, macht die durch die Abwesenheit entstandene Frustration erträglich), bis hin zur Bildung eines Denkapparates, der die Gedanken denkt […].28

Durch die Haut entsteht ein erstes Bild des Kindes von sich. Dieses Körperbild ist eine Vorstellung, mit deren Hilfe der Säugling sich selbst strukturiert, indem er sich entwirft. »Auf der Basis der Beziehung der sich gegenseitig einschließenden Körper von Mutter und Kind entwickelt sich ein imaginärer Raum durch den doppelten Prozeß einer sowohl sensorischen als auch einer phantasmatischen Projektion […]«.29 Davon auszugehen, dass das Haut-Ich sich allein im körperlichen Bereich herausbildet und deshalb als Garant für die Annahme gelten kann, die senso-motorischen Erfahrungen, die auch der tanzende Körper macht, seien außerhalb der symbolischen Sphäre der Sprache anzusiedeln, ist bei genauerer Betrachtung von Anzieus Theorie nicht haltbar. Schon die ersten taktil über die Haut vermittelten Erfahrungen von Lust oder Unlust sind begleitet von Worten, die integral zur Herausbildung des Haut-Ichs beitragen. Die Ebene des Hörens von Klängen, Lauten und Worten ist fester Bestandteil des Körperbildes, das aus haptischen wie akustischen Signalen zusammenwächst. Anzieu unterscheidet auf dieser Grundlage drei Funktionen des Haut-Ichs: Das Haut-Ich beruht auf den verschiedenen Funktionen der Haut. […] Als erstes hat die Haut die Funktion einer Tasche, welche in ihrem Inneren das Gute und die Fülle – dem Stillen, der Pflege und den begleitenden Worten entspringend – enthält und festhält. Die zweite Funktion der Haut ist die der Grenzfläche [interface]; sie bildet die Grenze zur Außenwelt und sorgt dafür, dass diese draußen bleibt; das ist wie eine

28 | Ibid., S. 57. 29 | Ibid., S. 58.

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VIII Gespenstische Körper: Meg Stuart | 427 Barriere, die vor der Penetration als Ausdruck von Gier und Aggression anderer Menschen und Objekte schützt. In ihrer dritten Funktion schließlich ist die Haut – nicht weniger als der Mund – Ort und primäres Werkzeug der Kommunikation mit dem Anderen und der Entstehung bedeutungsvoller Beziehungen; darüber hinaus bildet sie eine reizaufnehmende Oberfläche, auf der die Zeichen dieser Beziehungen eingetragen werden.30

Die Haut hat demnach die Funktion einer Tasche, einer Grenze und einer Membran.31 Auf deren Grundlage bildet sich ein Imaginäres heraus, das andere Körperbilder bereitstellt als jene der Abgeschlossenheit und phantasmatischen Schönheit, die das optische Paradigma ausbildet. Wenn Meg Stuart, wie ich argumentieren möchte, mit allen drei Hautfunktionen arbeitet, holt sie das Imaginäre des Haut-Ichs zurück in den symbolischen Raum des Theaters, wo historisch andere, optisch dominierte Körperbilder von Kraft, Potenz, Virtuosität und Verführung Vorrang haben. Ihre Subjekte bleiben dabei so undurchdringlich und opak wie deren Tics und Gesten. Die Spannung in ihren Stücken entsteht nicht primär aus dem »nicht lokalisierbare[n] Dort zwischen Subjektivität und Körperbild«, zwischen dem Kern der Subjektivität und einem ihm zustoßenden Bild, wie André Lepecki argumentiert, sondern zwischen drei unterschiedlichen Registern des Imaginären, nämlich dem taktilen, dem optischen und dem akustischen Bild, die auf drei Arten der Kinästhetik und Bewegung basieren. Diese Bilder bilden das Subjekt und sind ihm nicht äußerlich. Meg Stuarts Körperbilder markieren den Abstand zwischen diesen drei Ebenen, in dem sie das Herausgefallene, ins Symbolische Nicht-Integrierbare zum Thema machen. Dieser Abstand zwischen jenen das Subjekt konstituierenden Ebenen ist in jedem ihrer Stücke auf spezifische Art und Weise choreographiert. Er wird sichtbar als der leere Raum zwischen den Körpern. Meg Stuart arbeitet mit einer inszenierten Abwesenheit, die von den Körpern projektiv überbrückt wird. Sie werfen sich in die Leere hinein, sie Entwerfen sich in die Leere, um ein

30 | Ibid., S. 60-61. 31 | Vgl. Dieter Heitkamp, »Hautsache Bewegung. Moving from the Skin«, in: Antje Klinge/Martina Leeker (Hg.), Tanz Kommunikation Praxis, Jahrbuch Tanzforschung 13, Münster: LiT Verlag, 2003, S. 125-146; Dieter Heitkamp, heute Leiter des Ausbildungszweigs Zeitgenössischer und Klassischer Tanz an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main, gehörte als Mitglied des Kollektivs ›Tanzfabrik‹ in Berlin seit Ende der siebziger Jahre zu den Pionieren der Kontaktimprovisation in Deutschland. In seinem Aufsatz beschreibt er verschiedene choreographische und bewegungstechnische Ansätze, die von der Vorstellung des HautIchs ausgehen. Zur Geschichte der ›Tanzfabrik‹ vgl. Claudia Feest, Tanzfabrik Berlin, Berlin: Hentrich & Hentrich, 1998.

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428 | Abwesenheit anderes symbolisches wie imaginäres Ich zu entwickeln, wobei die Abwesenheit, aus der heraus sie sich bewegen, sie stets sichtbar und spürbar umgibt. Sie sind verbunden durch ein imaginäres Haut-Ich, das aus der Abwesenheit heraus entsteht.

2.1 2.1.1

Die Funktionen der Haut Die Tasche

Ein Bündel von Gliedmaßen und Körperteilen knäult sich auf dem Bühnenboden zusammen. Irgendwo hängt ein Bein, ein Fuß; ein Arm streckt sich, und eine Hand ragt aus der dichten Körpermasse heraus. Ein Kopf dreht sich, die Augen geschlossen wie im Schlaf. Wo sich der dazugehörige Körper befindet, ist in dieser ersten Szene des Stücks Splayed Mind Out, das Meg Stuart 1997 mit dem Videokünstler Gary Hill erarbeitete, nicht auszumachen. Diskrete Energieschübe durchlaufen diese körperliche Masse. Eine minimale Bewegung an einer Stelle setzt sich fort und löst Veränderungen an einer anderen Stelle aus. Der Körper wächst, verschiebt und verändert sich. Er hat eine ganz andere Art der Bewegung gefunden, die einer zielgerichteten Fortbewegung entgegengesetzt ist. Choreographiert wird hier nicht in erster Linie die Bewegung der Körper im Raum, sondern die Bewegung innerhalb der vielen Körper und des einen Hyperkörpers, der sich lange Zeit nicht von seinem Platz bewegt. Choreographiert wird Energie, die Veränderungen im ausgedehnten Binnenraum dieses Körper auslöst. Der Körper wird zum energetischen Feld, der sich seinerseits nun in einem energetischen Feld aus Licht und Ton bewegt. Stroboskoplicht flackert und unterbricht für Sekundenbruchteile unsere Wahrnehmung. Harte Schnitte zergliedern den Körper, der sich sonst so selbstgenügsam weich und entspannt bewegt. Sie entziehen ihn unseren Bemühungen, ihn mit dem Blick zu arretieren, zu greifen und zu identifizieren. Sie beschleunigen Zeit wie im Zeitraffer, als wolle man die Evolution dieses bizarren Lebewesens für das Auge nachvollziehbar machen. Eine Tonspur aus Lauten, unter die sich später auch Flugzeuggeräusche mischen, hüllt den Körper ein. Gary Hill hat sie aus rückwärts abgespielten Worten zusammengestellt, die jedes Mal mit einem harten Schließlaut in den Mund zurücklaufen. Auf diese Weise stellt sich auch hier der Eindruck harter Schnitte zwischen den Lauten ein. Andererseits entsteht so aber auch ein höchst suggestiver Raum aus Atemgeräuschen, aus Lauten, die in den Körper zurücklaufen, um ihn von innen her aufzuladen. Eine Hand greift einen Fuß und schüttelt ihn wie zur Begrüßung, als wäre er eine andere Hand. Das Auge beginnt nach bekannten Strukturen zu suchen. Doch bei diesem neuen Körper stimmen alle vertrauten Funktio-

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nen der Körperteile nicht mehr. Warum sollte dann ein Fuß nicht die Funktion des Greifens übernehmen können? Wie zur Erinnerung an das, was wir gewöhnlich als einen funktionsfähigen Körper ansehen, steht in der rechten hinteren Ecke ein Körper mit dem Rücken zum Publikum aufrecht da. Er könnte sich tänzerisch bewegen, so wie wir es erwarten würden, doch er bleibt einfach auf seinem Platz. Langsam beginnt sich die Masse auf dem Boden auszudehnen. Die Bewegungen werden schneller, kräftiger und der Körper wird länger, bis drei einzelne Körper unterschieden werden können. Auf ihre Unterarme gestützt, ziehen sie sich in den Raum hinein und voneinander weg. Der vierte, bislang aufrechte Körper schließt sich ihnen an. Ruckartig und stoßweise schieben sie sich in gleichbleibenden Abständen zueinander nach rechts von der Bühne. Die Körper in dieser Szene schließen sich gegenseitig ein. Sie umschlingen sich, bis sie, wie Meg Stuart in einem Interview sagt, selbst nicht mehr wissen, »welcher Arm oder welches Bein zu welchem Körper gehört.«32 Körpergrenzen lösen sich auf , und es entsteht ein Bild des Körpers, der in einer Tasche aufgehoben zu sein scheint. Die Oberfläche der Haut wird hier zu einer Hülle, die sich umgestülpt selbst umschließt und die Körper als einen einzigen Körper mit einer gemeinsamen Haut sicher aufbewahrt. Aufgehoben in einem emotionalen phantasmatischen Raum, dessen haptische Sensibilität sich der Wahrnehmung der Zuschauer mitteilt, ist diese Hauttasche voller warmer strömender Energie, die dem Körper eine imaginäre Ausdehnung verleiht. Artikuliert sich in dieser Szene von Splayed Mind Out eine Art Fülle, ein narzisstisches Verschmelzen von Innen und Außen als Bild des Körpers, legt die Eröffnungsszene von Visitors Only aus dem Jahr 2003 die gegenteilige Erfahrung nahe: die Entleerung der Tasche. Anna Viebrock hat für das Stück, das im Theater am Schiffbau in Zürich Premiere hatte, ein Geisterhaus mit acht Zimmern gebaut, in dem die Türen waagrecht durchgeschnitten sind, so dass sich die Türgriffe kurz über Bodenhöhe befinden, in dem die Wände durchlässig sind und die Böden Löcher haben, durch die schon mal ein Tänzer nach unten fallen kann. Es ist ein Haus für die Unbehausten, ein Raum für die nicht Verorteten, ein Ankerplatz für die Flüchtigen. Die vier hinteren Räume sind durch fensterartige Durchbrüche in der mittleren Trennwand einsehbar. Wie kleine Kinoleinwände rahmen sie die Aktionen der Tänzer, schneiden ihnen mal den Unterkörper, mal das Gesicht ab. Wenn die unteren und oberen Räume gleichzeitig bespielt werden, 32 | Meg Stuart, »Ich bewege mich wie ein Gespenst. Gerald Siegmund im Gespräch mit Meg Stuart«, in: Wiener Festwochen (Hg.), Wiener Festwochen 1951-2001. Ein Festival zwischen Repräsentation und Irritation, Salzburg/Frankfurt am Main/ Wien: Residenz Verlag, 2001, S. 192-197, hier: S. 193.

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430 | Abwesenheit ergeben sich grotesk montierte Körperbilder, die sich über die Raumgrenzen hinwegsetzen.

Meg Stuarts Tänzer und Tänzerinnen sind zunächst einmal Gäste in ihrem eigenen Haus: ihrem Körper. Zu Beginn stehen sie über die Plattform verteilt nebeneinander mit dem Rücken zum Publikum. Über ihren Kleidern und Anzügen tragen sie durchsichtige Regenmäntel aus Plastik. Wie Wiedergänger aus einer vergangenen Zeit, als das Haus noch bewohnt und bewohnbar war, sind sie anwesend und zugleich abwesend, hier und nicht hier, ein Schatten ihrer Selbst. Das Bild fängt allmählich an, lebendig zu werden und sich aufzulösen. Über einen Zeitraum von fast 20 Minuten hinweg ergehen sich die Tänzer und Tänzerinnen in einem gemeinsamen Zittern, das mit der Zeit immer stärker wird, ihre Körper zu schütteln beginnt, bis sie in kurzen eruptiven Stößen auf der Stelle springen, nur um danach ganz langsam von der Bühne verschwinden. Dabei gehen sie nicht einfach ab. Sie klettern durch die Fenster, ducken sich unter den Balken hindurch und diffundieren so hinein und hinaus in den Raum wie Gas. Durch die Körperwärme beschlagen die Plastikumhänge von innen und werden undurchsichtig. Damit verändern sie das Bild der Körper, machen es undurchsichtig und undurchlässig für unseren Blick. Die Körper blenden sich regelrecht aus in die Abwesenheit hinein, die sie bereits mit ihrem Zittern eröffnet hatten. Denn das Zittern, dieser »Tremor«, wie Gabriele Brandtsetter es bezeichnet,33 umspielt die Grenze ihrer Körper. Es lässt sie 33 | Gabriele Brandstetter verbindet das Zittern zum einen mit der rituellen Praxis des Opfers, das den Körper kurz vor dem Sturz umorganisiert: Gabriele Brandstetter, »Grenzgänge II. Auflösungen und Umschreibungen zwischen Ritual und Theater«, in: Gabriele Brandstetter/Helga Finter/Markus Weßendorf (Hg.), Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste, Tübingen: Gunter Narr, 1998, S. 13-

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vor unseren Augen flirren wie ein unscharfes Bild, das sich nicht materialisieren oder konstituieren will. Es verharrt in einem Zwischenbereich von Dasein und Fortsein, dessen Grenze von der Körpergrenze der Tänzer markiert wird. Sie verharren an dieser Schwelle, treten zugleich mit jeder noch so minimalen Bewegung aus ihr heraus und können sie doch nicht überwinden. Sie übergeben sich dem Raum, der sie umgibt, der nicht Nichts ist, sondern, obwohl durch kein Zeichen oder Bildelement definiert, ein Positivum, das zum aktiven Mitspieler der Tänzer wird. Die Abwesenheit zittert mit, weil sie durch das Zittern der umgestülpten Körper erfahrbar gemacht wird. Durch das Umstülpen entstehen zwei Taschen. Das Innen des Außen und das Außen des Innen berühren sich gegenseitig. Während sich die Körper der Tänzer durch Abgeben der Energie entleeren, füllt sich der Raum auf der anderen Seite der Haut immer mehr mit Energie an. Vergleichbar mit einem Trancezustand verlieren die Tänzer sich und ihr Bewusstsein, während der undefinierte negative Raum um sie herum zu leuchten und zu glühen beginnt. Das Subjekt entleert sich und erfährt sich über den Umweg des Anderen, von dem es kein Bild gibt, als Fremdes, das es von der anderen Seite in umgekehrter Form stützt. Dieser Hohlraum im Bild mag als Einschluss einer Transzendenz im weitesten Sinne des Wortes (als etwas, das das Individuelle des Subjekts übersteigt und auf es irreduzibel ist) auf jene Instanz verweisen, die der Tanz in Bewegung zu setzen versucht, um den Platz des Körpers, der von der symbolischen Ordnung des Tanzes paradoxerweise ausgeschlossen ist, zu finden. 2.1.2

Die Trennung

Neben der Funktion eines Behälters übernimmt die Haut auch die Funktion der Trennung. Sie sichert das, was zum Ich gehört und hält das draußen, was nicht zu ihm gehört. Im angeführten Beispiel aus Splayed Mind Out wurde bereits auf die harten Schnitte in der Licht- und Tongestaltung hingewiesen. Das gesamte Stück arbeitet mit solchen Trennungen, die nicht überwunden werden können. Diese Schnittstellen trennen einerseits den Körper von sich, sind aber auch auf allen anderen Ebenen des Stücks präsent. Die Funktion der Haut weitet sich somit aus. Sie gewinnt die Dimension eines generellen Interfaces, das die Begegnung und Trennung zwischen Körper und Körper, zwischen Körper und Videobildern, sowie zwischen der Sprache und ihren Lauten, ermöglicht. 19, hier: S. 17. Zum anderen stellen für sie Meg Stuarts Körperbilder »Re-Figurationen des Pathos« dar, die die Rhetorik des Ausdruckspathos desartikulieren; Gabriele Brandstetter, »Tanzwissenschaft im Aufwind«, in: Theater der Zeit, Dezember 2003, S. 4-11, hier: S. 11.

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432 | Abwesenheit

Tänzer gehen im Bühnenraum aufeinander zu und stehen sich, die Blicke geradeaus aneinander vorbei gerichtet, regungslos gegenüber. Größenunterschiede werden plötzlich sichtbar; Körper werden vermessen, bevor sich die Tänzer umdrehen und wieder abgehen. Auf die Rückwand werden Videobilder projiziert. Die Tänzer und Tänzerinnen begegnen ihrem eigenen Bild, das aus der Tiefe des imaginären Raumes auf sie zuzukommen scheint. Eine Tänzerin kniet sich auf den Boden. Sie sitzt mit dem Rücken zum Publikum und hat das Gesicht auf die Leinwand gerichtet. Eine Videokamera nimmt ihren Rücken auf und projiziert das Bild vor die Tänzerin. Sie sieht somit das, was sie nie zu Gesicht bekommt, ihren Rücken, der sich nun vor ihr befindet und zwar so, wie ihn nur andere sehen, weil die Kamera kein spiegelverkehrtes Bild liefert. Ihre linke Hand bleibt auch auf dem Kamerabild ihre linke Hand, geradeso als setze sich ihr Körper in einer Reihe vor ihr fort. Mit einem Filzstift schreibt sie sich »write«, also »schreiben«, auf den Rücken und wischt das Wort wieder weg. Die Szene wird begleitet von einem Text von Gary Hill, der die Trennung des Körpers von sich gleichzeitig zum Thema macht und sprachlich vollzieht. »When the body splits«, heißt es da etwa, »it calls to mind what is left«, oder »A mind cannot know what is left«. Doch Hill spricht die Sätze nicht nur, er spricht sie plötzlich auch rückwärts, als sei er an eine Grenze gestoßen, an der die Sprache sich spiegelt und in umgekehrter Form fortfährt. Meg Stuart erläutert das Verfahren: Wir haben versucht, zwischen der Bewegung der Tänzer, der Sprache und den Videobildern eine gemeinsame Oberfläche zu finden, auf der sich die drei Ebenen begegnen können. […] Während der Arbeit haben wir sehr viel über solche Verdoppelungen und Aufspaltungen geredet, ein Prinzip, das sich überall im Stück wiederfindet. Was ist links, was ist rechts? Wie steht der Körper im Verhältnis zu sich selbst?

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VIII Gespenstische Körper: Meg Stuart | 433 Immer gibt es einen imaginären Spiegel, der die beiden Hälften trennt und durch den man nicht hindurch gehen kann.34

In all diesen Beispielen bleibt die Trennung spürbar und sichtbar. Der Raum zwischen Körper und Körper wird nicht durch Berührung und Austausch von Energie, wie in der Funktion der Tasche, gefüllt. Er fungiert als Wand, die man nicht durchdringen kann. 2.1.3

Die Membran

Um die Haut als Grenze geht es auch in dem Stück appetite, das Meg Stuart 1998 mit der bildenden Künstlerin Ann Hamilton erarbeitete. Dabei wird allerdings nicht die Trennungsfunktion der Grenze ausgespielt, sondern ihre Membran- und Kommunikationsfunktion. Die Haut erscheint durchlässig für Informationen und damit für den Anderen. In appetite ging es im Prinzip um ähnliche Probleme wie in Splayed Mind Out. Hier sind die scharfen Kanten und Schnitte nur etwas runder, weicher geworden. […] Ann und ich [teilten] die Neigung, über Schlucken und Verschlucktwerden nachzudenken. Wird der Körper dadurch schwer oder leicht? Was heißt es, gewogen zu werden? Wir sprachen viel darüber, in den Raum oder sogar in die Haut eines anderen einzudringen, mit ihm oder ihr verschmelzen zu wollen.35

Für dieses Durchlässigwerden der Haut hat Ann Hamilton eine Bühne aus ockerfarbenem Ton entworfen. Über einen weißen Vorhang, der die Bühne nach hinten abschließt, rinnt während der einstündigen Aufführung Wasser hinunter auf den Boden, der dadurch feucht gehalten wird. Der Raum wird dadurch zu einem lebendigen Organismus und gleichberechtigtem Mitspieler der Tänzer, deren Bewegungen sichtbar Spuren in der Oberfläche des Bodens hinterlassen. Die Erde bleibt ihrerseits an den Körpern der Tänzer haften und markiert sie, wie die Schrift den Rücken der Tänzerin in Splayed Mind Out oder die aufgeklebten Erinnerungen aus No Longer Readymade. Our greatest bodily sense is touch. Our skin – first medium of communication and our most efficient protector – is a cloak that gives us knowledge of depth, thickness and form. While our skin may be perceived as the organ that stands between form and formlessness, prodding it contains the desire to be immersed or absorbed. We are creating a haptic work in which the space and the body are considered as mem-

34 | Ibid., S. 193. 35 | Ibid., S. 194.

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434 | Abwesenheit branes, which peel, leak and moult. The space and the body mark and absorb each other.36

Für das gegenseitige Absorbieren und Durchdringen durch Berührung findet Meg Stuart verschiedene Bilder. Gleich in der ersten Szene des Stücks sitzt eine Tänzerin auf einem Stuhl. Ihr Kostüm lässt sie unförmig, dick und angeschwollen aussehen. Hinter ihr steht ein Tänzer, der langsam und Stück für Stück zusammengeknäulte Kleidungsstücke, Decken und Kissen aus ihrem Körper herausholt, bis die Tänzerin wieder auf ein Normalmaß geschrumpft ist. Der Bühnenboden ist bis dahin noch mit einem weißen Tuch bedeckt, das in der darauffolgenden Szene verschwindet. Ein Tänzer steht im hinteren Teil der Bühne und stopft sich das Tuch in seine Hosentasche, die schier unermessliche Tiefen zu haben scheint, bis es ganz verschwunden und der Tonboden freigelegt ist. Dem Ausspucken und Abnehmen der ersten Szene steht hier das Verschlingen und Anschwellen gegenüber. Während der erste Körper leichter wird, wird der zweite schwerer. Der Raum wird vom Körper des Tänzers regelrecht absorbiert und verschluckt. Mitunter haben die Bilder auch grausamen und gewalttätigen Charakter, wobei der Schmerz, den das Durchdringen der Haut als Membran und das Eindringen in den anderen Körper mit sich bringen kann, in den Vordergrund tritt. Eine Tänzerin höhlt einen Laib Brot aus und stülpt ihn sich über den Kopf. Anschließend beißt ein Tänzer wiederholt herzhaft hinein und spuckt die Brotstücke im weiten Bogen wieder aus, so dass der Eindruck entsteht, er bisse in ihr Gesicht und spucke Haut und Fleisch aus. Aus den Brotstücken werden wenig später in einer versöhnlicheren Szene kleine Flugapparate. Die Tänzerin steckt Federn hinein und wirft sie über die Rampe ins Publikum. Die beschriebenen Szenen thematisieren einerseits den Kontakt von Körpern über die Haut. Andererseits machen Meg Stuart und Ann Hamilton aber auch deutlich, dass dieses Haut-Ich immer schon phantasmatischer, mithin bildhafter Natur ist. Es ist immer schon eine Vorstellung vom Körper und eine Projektion des Körpers, die ihm erst Gestalt gibt. Die Szenen arbeiten mit Kostümen und Requisiten und nicht mit dem realen, gar nackten Körper, wie es etwa Künstler der Body Art in den 1970er Jahre getan haben, um die Kommunikationsfunktion der Haut anschaulich zu machen. Der Bildcharakter des Körpers wird auch hier bei allem Ausloten seiner haptischen und sensorischen Qualitäten unterstrichen.

36 | Meg Stuart und Ann Hamilton in ihren Notizen im Programmheft zu appetite.

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2.2

Bildmedien

Eine wichtige Erkenntnis, die mit Didier Anzieus Theorie des Haut-Ichs verbunden ist, ist die Einsicht, das das Imaginäre des Subjekts keine homogene Instanz ist, wie es die Lektüre von Jacques Lacans grundlegendem Aufsatz über das Spiegelstadium vermuten ließe. Das Imaginäre ist in sich heterogen; es besteht nicht allein aus optischen, sondern auch aus akustischen und haptischen Bildern. Obwohl Meg Stuart das taktile Imaginäre erkundet, stellt sie ihm – wie in Splayed Mind Out – visuelle und akustische Bilder zur Seite. Im Gegensatz zur gängigen Praxis der Kontaktimprovisation vergisst sie nicht, dass sich ihre fühlend gefühlten Körper im Theater befinden und dort dem optischen Apparat und den Blicken der Zuschauer ausgesetzt sind, mithin dass das Haut-Ich performed wird. Dieses visuelle und akustische Imaginäre in den Arbeiten von Meg Stuart soll im folgenden Abschnitt genauer betrachtet werden. 2.2.1

Verbindungen zur bildenden Kunst

Während ihrer Zeit als Tänzerin in der ›Randy Warshaw Dance Company‹ Ende der 80er Jahre lebte Meg Stuart in New York in SoHo. Dort habe sie, erzählt sie in einem Interview, ständig Kunstgalerien besucht. »Ich habe Kunst regelrecht aufgesogen und angefangen, Fragen zu stellen.«37 Die Fragen betrafen in erster Linie die Repräsentation des Körpers, dessen bildliche Darstellung in Form von perspektivischen Brechungen und Verzerrungen. Derartige fragmentierte Körperbilder, die dem Tanz mit seinen ho37 | Gerald Siegmund, »Von Amerika nach Europa: Meg Stuart«, in: Ballett International/Tanz Aktuell 6 (April 1999), S. 38.

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436 | Abwesenheit listischen Vorstellungen eines energetischen und organischen Körpers bis dahin fremd waren, sind in ihr erstes eigenes Stück Disfigure Study, das 1991 für das Klapstuk-Festival entstand, eingeflossen. Schon in der Eröffnungsszene isoliert ein Lichtrechteck zwei Beine, die in der Leere des Raumes zu schweben scheinen. Vorsichtig schieben sie sich in das Licht in der Bühnenmitte, legen sich umeinander und streicheln sich, als seien sie zwei Hände. Plötzlich springt aus dem Dunkel ein einsamer Kopf ins Bild. Er küsst die Füße, die sich um ihn schlingen, als wollten sie ihn erwürgen. Am Schluss steht eine Tänzerin am Bühnenrand, steckt erst ihre Finger, dann die ganze Faust in den Mund, verzerrt ihn, dehnt und weitet ihn, drückt ihn zusammen, als wollte sie ihn aus ihrem Gesicht wegwischen. Ein Tänzer stellt sich mit dem Rücken zum Publikum neben sie und lässt seinen rechten Arm über ihren Körper wandern, als gehöre er gar nicht zu ihm, sondern zu ihr. Wie ein perspektivisch verzerrter Fremdkörper liegt er auf ihrem Körper, berührt und erkundet ihn, bis das Licht über der Szene erlischt. Im Zusammenhang mit solchen Szenen in Meg Stuarts Arbeiten wird immer wieder ein bildender Künstler genannt: der britische Maler Francis Bacon.38 Bacons Porträts oder Darstellungen von auf Stühlen oder Hockern sitzenden Menschen zeichnen sich zum einen durch eine Auflösung des Körpers in Keulen- und Kegelformen aus. Verzerrte und gestauchte Körperpartien drücken das Körperbild zusammen, als wären ganze Stücke herausgerissen und die verbleibenden Teile nahtlos zusammenmontiert. Über diese Körper erstreckt sich eine dünne Haut, die sie zusammenzuhalten scheint, eine Haut, die allerdings nahezu durchsichtig ist und den Blick freigibt auf das darunter liegende Fleisch des Körpers. Die Farbgebung der Körper in Rosa- und Grautönen, bläulichem Violett und rötlichem Braun betont geradezu das Fleisch, das wund und aufgerissen bloßzuliegen scheint. Das Fleisch tritt in einer Eksatse, einem außer sich Geraten des Körpers, hervor, als revoltiere der Körper gegen sich selbst. Unter der Haut zerfließen die Grenzen der Muskelgruppen; die Farbstriche verwischen und ergeben so kein festes Bild eines Gesichts wie im Solo von Benoît Lachambre in No Longer Reday Made. Vielmehr erwecken sie den Eindruck, der Körper verflüssige sich. Der Eindruck des Auslaufens und Entleerens wird dadurch verstärkt, dass sich, wie in »Three Portraits: Posthumous Portrait of George Dyer, Self-Portrait, Portrait of Lucian Freud« von 1973, die Fußund Beinregion in einem schwarzen Schatten auflöst und sich die fleischfarbenen Farbpigmente im Boden fortsetzen.39 Bacons Körperbilder wirken aufgeschwemmt, um der totalen Leere entgegenzuwirken. 38 | Vgl. etwa Brandstetter, »Grenzgänge II«, op. cit., S.17. 39 | Michel Leiris, Francis Bacon. Full Face and in Profile, übers. von John Weightman, New York/London: Arthur B. Bartley, 1987, Tafel 95.

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Die Verflüssigung des Körperbildes verweist aber noch auf einen anderen, einen wahrnehmungstechnischen Zusammenhang. Bacons Figuren sind immer auch Bewegungsbilder. Als hätte der Pinsel des Malers die Figuren beim Drehen erwischt, erscheinen sie perspektivisch verzerrt. Gesichter erscheinen doppelt, als hätten die Figuren heftig den Kopf geschüttelt, so dass wir das Nachbild auf unserer Netzhaut noch vor uns sehen. Bacons Körper lösen sich vor unseren Augen als Bewegungskörper auf. Sie wirken »oberflächlich zusammengehalten«, wie es Didier Anzieu bemerkt, weil sie auf ihrem Stuhl sitzend in ihre Bewegungsmomente zerlegt und neu montiert werden.40 Darin sind sie Oskar Schlemmers Figurinen des Rotationskörpers, in denen der Bauhauskünstler die Möglichkeiten der Bewegung der einzelnen Gliedmaßen als geometrische Grundformen auf den Körper zurückprojiziert, nicht unähnlich.41 Sind Schlemmers Analysen in ihrem konstruktivistischen Ansatz auch weitaus systematischer, lässt sich bei Bacons Figuren zumindest das Erbe modernistischer Abstraktion und Geometrisierung der Körperdarstellungen erkennen.

Die Arbeit am Fleisch, das durch Bewegung aus dem Körper getrieben wird, ist in Meg Stuarts Arbeiten allgegenwärtig.42 Als Bildzitat kann man 40 | Didier Anzieu bringt die Körperbilder Francis Bacons in Zusammenhang mit dem Körperbild des Alkoholikers: »Francis Bacon malt in seinen Bildern zerfließende Körper, die durch Haut und Körper oberflächlich zusammengehalten werden, denen allerdings das Rückgrat fehlt, das dem Körper und den Gedanken Halt gibt: Häute, eher mit flüssigen als mit festen Substanzen gefüllt, was dem Körperbild des Alkoholikers gut entspricht«; op. cit., S. 132. 41 | Oskar Schlemmer, »Mensch und Kunstfigur«, in: Die Bühne im Bauhaus, Nachwort von Walter Gropius, Mainz/Berlin: Florian Kupferberg, 1965, S. 7-20. 42 | Helmut Ploebst betont diesen Aspekt in: Helmut Ploebst, »Das Fleisch ist

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438 | Abwesenheit vor diesem Hintergrund die Bühne ihres Stücks No One is Watching aus dem Jahr 1995 verstehen. Die szenische Versuchsanordnung scheint direkt den Bildern von Francis Bacon entsprungen. Während der gesamten Aufführung sitzt eine fettleibige Frau mit dem Rücken zum Publikum im linken hinteren Bühnebereich auf einem Hocker. Ihr Körper ist leicht zur rechten Seite gedreht. Sie schaut in einen großen Bodenspiegel, der seitlich etwas nach links versetzt vor ihr steht. Unter ihrem Hocker erstreckt sich ein schwarzer Schatten wie ein ausgelaufener Fleck nach links zur Seite hin. All das sind Bildelemente, die sich in ähnlicher Form in zahlreichen Gemälden Bacons wiederfinden.43 Die Frau exponiert sich in ihrer extremen Körperlichkeit; sie stellt ihren auf Tanzbühnen undenkbaren Körper regelrecht aus. Und doch befindet sie sich gleichsam isoliert in einem privaten Raum, denn sie kann das Geschehen um sie herum nicht sehen. Auf den Titel des Stücks anspielend, ist sie dieser ›No One‹, der sich nicht bewegt, geschweige denn tanzt, und der auch nicht zuschaut, weil sie einzig Bruchstücke der Szenen im Spiegel erhaschen kann, wenn diese zufällig in ihm reflektiert werden: wenn sie ihm in umgekehrter Form gegeben werden. Sie ist paradoxerweise in ihrer exponierten Sichtbarkeit, die sie einerseits als Teilnehmerin den Regeln des Spiels unterwirft, gleichzeitig aber auch der blinde Fleck des Stücks. Sie nimmt jenen Raum ein, der von den Tänzern nicht besetzt werden kann, und stellt doch durch ihre obszöne Körperlichkeit den Fluchtpunkt ihrer Arbeit am Körper dar. Diese Figur verkörpert einen blinden Blick mitten im Stück, weil sie einerseits das Geschehen um sie herum nicht unmittelbar wahrnehmen kann und weil sie andererseits von den Tänzern während der Aufführung nicht angeschaut und damit ins Spiel einbezogen wird. Sichtbar und unsichtbar, teilnehmend und teilnahmslos zugleich führt ihr Blick mithin ins Leere. Die ›blinde‹ Frau, die anwesend und abwesend zugleich ist, spaltet unseren Blick auf die Szene, indem sie uns mit ihrem nackten Körper unweigerlich wie ein Blickfang ins Auge springt und ›anblickt‹. Ihr nackter beleibter Körper ist im Wortsinn ein ›obszöner‹ Körper: obszön deshalb, weil er etwas ist, das normalerweise nicht auf der Szene zu sehen ist und jenseits oder hinter der Szene (ob-scena) liegt. Als solcher verkörpert er einen Punkt der Überschreitung. Etwas, das uns nicht Auge in Auge begegnen kann, dringt in die Szene ein und bleibt doch ein Fremdkörper inmitten des Tanzgeschehens, weil es wie in einem eigenen Raum im Raum eingeschlossen wird. Die Verletzung der Grenze, die hier durch ein wucherndes stärker als das Wort: Meg Stuart«, in: Ballett International/Tanz Aktuell 6 (Februar 1999), S. 20-23. Darin spricht Meg Stuart selbst in einem Zitat von Bacons Körperdarstellungen als vom »Körper in entstellter Bewegung«. 43 | Vgl. »Figure Writing Reflected in a Mirror« aus dem Jahr 1976; Leiris, Bacon, op. cit., Tafel 110.

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Zuviel an Sichtbarkeit markiert wird, kann vor dem Hintergrund des entworfenen dreigliedrigen Modells auch als genau jener Punkt verstanden werden, in dem die Ebenen des Symbolischen, des Imaginären und des Realen zusammenfallen. Wie ist das zu erklären? Verstehen wir die Bühne als Ort, an dem auf intersubjektive, mithin auf symbolischer Weise (körperliche) Normen und Werte verhandelt und gebildet werden, drängt sich die Frage nach dem Verbleib des Individuellen innerhalb dieser allgemeinen Ordnung auf. Weil der individuelle Körper des Tänzers nie vollständig in der symbolischen Struktur der Tanzsprache, die ein Allgemeines ist, aufgehen kann, tauchen an den Rändern des Symbolischen imaginäre Körperbilder auf, die eine trügerische Ganzheit suggerieren. Der beleibte Körper der Frau besetzt nun als imaginäres Körperbild just diesen Mangel des Anderen, die Lücke und die Distanz, die die symbolische Ordnung notgedrungen lassen muss, um als solche zu funktionieren. Ihr Körper bildet eine Art phantasmatischer Stütze des Symbolischen, »welche die nie vollständige Anwesenheit des Abwesenden festhalten« will.44 In der Dimension des Imaginären – als Bild – macht er auf diese Art »die Kluft des Anderen«45 und dessen prinzipielle Unverfügbarkeit erfahrbar. Gleichzeitig weist der Einbruch des Imaginären auf die Funktionsweise des symbolischen Gesetztes hin. Als Markierung des Symbolischen spaltet die fettleibige Frau den nach Ganzheit suchenden Blick und durchkreuzt mit ihrem blinden Blick mein Sehfeld. Sie besetzt den blinden Fleck nicht nur mit einem Körperbild, sondern sie besetzt ihn aufgrund der besonderen Art oder Materialität des Körpers auf eine verschobene Weise, die das Gesetz, dem der Bühnentanz gehorcht, sichtbar macht. An diesem Punkt wäre vom Realen als der dritten Instanz zu sprechen. Ich werde darauf später zurückkommen. An dieser Stelle gilt es lediglich festzuhalten, dass der obszöne Körper das Gesetz des Bühnentanzes in umgekehrter Form sichtbar macht. Denn das symbolische Gesetz, das in der abendländischen Tradition auf einem Verbot beruht, das einen körperlosen tanzenden Körper produziert, hat keinen eigenen Ort, weil es, wie die Sprache, überall und universell ist. Die als selbstverständlich geltenden Regeln werden als Regeln nur dann bewusst, wenn sie durchbrochen werden. Deshalb vermag das Wesen der symbolischen Ordnung nur als Negativ zu erscheinen. Die Figur als anwesend gemachte Abwesenheit hebt in diesem Sinn mit ihrem Körper eine Art Höhlung im Sichtbaren aus, in der die regulierende Funktion des Gesetzes erfahrbar wird. Die symbolische Ordnung ist das, was uns Tanz legitimerweise zu sehen gibt. Sie ist jene Instanz, die uns erlaubt, den tanzenden Körper zu genießen. Indem Meg Stuart eine fettleibige Frau auf die Bühne setzt, zeigt sie mitten auf der Bühne deren Ränder und deren Rahmung, die 44 | Tholen, Zäsur der Medien, op. cit, S. 91. 45 | Ibid., S. 85.

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440 | Abwesenheit normalerweise nicht ins Blickfeld geraten. Im blinden Fleck befindet sich eine Gestalt, die all das ist, was der abendländische tanzende Körper nie sein darf: unförmig, schwer, bewegungslos, opak und eben – blicklos. In ihm spiegelt sich keine Seele. Er ist Masse und Fleisch. Genau durch diese sichtbar gemachte Umkehrung der Normen aber öffnet sich das geschlossene bildliche Imaginäre auf ein gesellschaftliches Allgemeines hin, das uns die Rahmen, unter deren Bedingungen wir Tanz sehen, vor Augen führt und verschiebt. Durch das an bestimmten Körperdarstellungen der Malerei und der bildenden Kunst geschulte Imaginäre wird der tanzende Körper in ein neues Netz von Beziehungen eingesponnen, die den Blick auf den Körper und dessen Bewegungen verändern. Bislang aus der symbolischen Ordnung des Tanzes ausgeschlossene Körper werden darstellbar und zwar an den Rändern der symbolischen Ordnung, wo diese sich nicht zu schließen vermag. 2.2.2

Der Einsatz von Medien

Nicht nur die Malerei stellt im Bühnenraum imaginäre Bilder bereit. Auch der Einsatz von Videobildern und Tonbändern konfrontiert das Subjekt, wie in Splayed Mind Out, mit Körperbildern, die zur Identifikation einladen. Diese kommen in ihrem Projekt Highway 101, das sie zusammen mit dem Regisseur Stefan Pucher und dem Videokünstler Jorge Leon realisierte, bevorzugt zum Einsatz. Im Zeitraum von einem Jahr zwischen März 2000 und Februar 2001 waren die einzelnen Teile des Highway Projekts in fünf verschiedenen Städten (Brüssel, Wien, Paris, Rotterdam und Zürich) zu sehen, wobei das Stück von Spielort zu Spielort verändert und den konkreten räumlichen Gegebenheiten angepasst wurde. Im eigentlichen Sinn gibt es daher kein Stück, sondern nur einzelne Stationen oder Ausfahrten vom Highway 101. Ursprünglich planten Stuart, Pucher und Leon, 101 Szenen oder Aufgaben zu erarbeiten.46 Sie sollten von Ort zu Ort mitgenommen werden und dort einfach nur in den jeweiligen Raum eingefügt werden. Dabei spielte das Thema der Erinnerung eine zentrale Rolle. Welche Erinnerungen hat der Körper von bestimmten Räumen gespeichert? Welche Verhaltensweisen und Bewegungen werden von den einzelnen Räumen, in denen man gelebt und gearbeitet hat, ausgelöst? Doch das funktionierte nach Aussage von Meg Stuart nicht, weil sich »Erinnerungen nicht verpflanzen«47 lassen, so dass an jeder Station ein weitgehend neuer Abend zu sehen war. 46 | Zu den einzelnen Themen von Highway 101 vgl. Jeroen Peeters, »Strategies of Adaptation. Some Points of Entry and Exit Concerning Damaged Goods’ Highway 101«, in: A-Prior 6 (Herbst/Winter 2001-2002), S. 68-81. 47 | Stuart, »Ich bewege mich wie ein Gespenst«, op. cit., S. 194.

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Highway 101 stellt eine Ausweitung von Meg Stuarts Thema des ›Displacements‹ des einzelnen Körper und seiner Bewegungen auf den Raum und dessen Sichtbarkeit dar. Die Überbrückbarkeit oder Unüberbrückbarkeit von Räumen war auch Thema im Projekt. Ich bin in Kalifornien aufgewachsen, meine Eltern waren geschieden und fuhren mich auf dem Highway 101 hin und her, von einem Elternteil zum nächsten und wieder zurück. Mit Hilfe von Live-Videobildern und aufgezeichneten Videobildern wollten wir parallele Welten schaffen, die sich berühren und bei denen man sich jedes Mal fragen muß, ist das real oder Fiktion.48

Die Erfahrung eines nomadischen Subjekts, in verschiedenen Zeiträumen leben zu können, spiegelte sich in der Verlegung des Projekts von Stadt zu Stadt entlang einer imaginären Straße, eines Highways. Das Verhältnis von Zeit und Raum, das durch moderne Kommunikations- und Transportmittel immer mehr schrumpft, stellt die Frage nach dem Ort des Subjekts im Zusammenhang mit den Bildern, die es umgeben und die es produziert. Was bleibt vom Subjekt, wenn die Grenzen zwischen Innen und Außen, also zwischen vermeintlich eigenen Bildern und jenen Bildern, die von außen auf das Subjekt einwirken, immer durchlässiger werden? Was bleibt vom Subjekt, wenn es Bilder von Situationen sein eigen nennen kann, die es nie selbst erlebt hat? So werden die Räume in Highway 101 zu Räumen, in denen sich verschiedene Arten von Bildern begegnen, bei denen die Frage nach ›echt‹ oder ›virtuell‹ unerheblich wird. 2.2.3

Die akustische Ebene

Die Grenzen des Subjekts sind in Meg Stuarts Stücken selten eine rein optische Angelegenheit. Auch der Umgang mit dem Ton schafft Körperbilder, ist es doch der akustische Spiegel, der dem Kind einen emotionalen wie gedanklichen Raum eröffnet. Eben dieser Raum wird in der folgenden Szene zum Thema gemacht. In der Tiefgarage des Schiffbau-Theaters in Zürich, an der letzten Highway-Ausfahrt, drängen sich die Zuschauer an der kurzen Rückwand des Raumes. Vor uns erstreckt sich die Fahrbahn, flankiert von parkenden Autos in ihren Nischen und Parkbuchten hinter Säulen. In der Ferne, am anderen Ende der Garage taucht plötzlich eine Gruppe unauffällig alltäglich gekleideter Menschen auf, von denen man nicht weiß, ob sie Darsteller sind oder nur zu ihrem Auto gehen wollen. Sie drücken sich an der Wand entlang; einige verschwinden zwischen den Autos, andere in den hinteren Seitengängen, in die wir von unserer Position weit vorne keine

48 | Loc. cit.

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442 | Abwesenheit Einsicht haben. Zögernd gehen einige Zuschauer ein paar Schritte nach vorne auf die Tänzer zu, tasten sich in den Raum hinein, als wollten sie ihnen begegnen, sie abholen oder mitnehmen. Doch die Distanz über die lange Strecke hinweg bleibt bestehen. So fern uns die Gruppe auch optisch erscheint, so nah sind doch die Stimmen der Tänzer, die wir ganz dicht an unseren Ohren zu hören scheinen. Obwohl sie weit weg sind, sind sie doch im doppelten Wortsinn »unter uns«. Über Mikrophone wird ihre Unterhaltung nach vorne zu uns übertragen. Lautsprecher stehen auf dem Boden, die, intim fast, Atemgeräusche, Geräusche der Bewegungen und einzelne Sätze in unsere Mitte holen. Der visuelle Raum löst sich vom akustischen Raum ab. Die beiden in unserer Alltagswahrnehmung als kongruent erfahrenen Räume dissoziieren sich – und damit auch unsere Erfahrung von Subjektivität. Die Stimmen, die wir unter uns hören, haben keinen Körper; sie transportieren Spuren von anderen, fremden, möglichen Körpern. Welchen Körper geben wir ihnen, welchen Körper stellen wir uns für sie aufgrund des Klangbilds der Stimme vor? Zu welchen Körpern dort hinten gehören sie wirklich? Nähe und Distanz, Hier und Dort eröffnen einen Zwischenraum, über dessen Ausdehnung hinweg Subjektivität als abhängig von Körper und Stimme verhandelt wird. Die Abwesenheit, die sich in jenem Spalt offenbart, der sich bei der Verschiebung der beiden Register und ihrer Räume auftut, artikuliert Subjekte, die noch nicht sind, sondern ihren Ort in der Bewegung und in der Begegnung von Klang und Körper erst finden müssen. 2.2.4

Der Blick der Überwachungskamera

In einer anderen Szene, die seither als Private Room bekannt ist und als eigenständiges Stück aufgeführt wird, wird der Blick einer Überwachungskamera zum Thema. Die Choreographin sitzt in einem Sessel schräg vor einer riesigen Leinwand, die die Bühne dominiert. Ihr Blick fällt seitlich auf das Bild, das einen unwirtlichen Raum von schräg oben zeigt. Der Tänzer Rachid Ouramdane sitzt darin auf einem ähnlichen Möbelstück, die Hände wie Meg Stuart brav auf die Armlehnen des Sessels gelegt, als handle es sich um eine Art Spiegelung. Der Raum, zumindest wie er auf dem gräulich getönten Schwarzweißbild zu erkennen ist, ist ansonsten leer. Die hellen kahlen Wände werden auf dem Boden gesäumt von Kachelreihen, die den Eindruck einer kalten Zelle unterstreichen. Durch die Kameraeinstellung wird der Blick einer Überwachungskamera in den Videoraum suggeriert. Doch diese Kamera bleibt bezeichnenderweise unsichtbar. Der Ort, an dem das Auge der Überwachung zu lokalisieren wäre, bleibt unbesetzt. Dennoch ist es in das Bild eingeschrieben. Weder Meg Stuart noch Rachid Ouramdane schauen in die Kamera, sodass der Eindruck eines unheimlichen Dritten entsteht, der zwar alles sieht, selbst aber nicht erscheint.

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Ihre Blicke gehen aneinander vorbei. Die Blickräume überlagern sich nicht. Der Tänzer starrt geradeaus ins Leere, dorthin, wo sein Gegenüber in einer Gesprächssituation anzunehmen wäre. Doch die Kontinuität und Kontiguität der Räume ist hier aufgehoben. Der Blick trifft ihn von schräg hinten aus einem anderen Raum, wo er ihn, ohne sich umzudrehen, nur ahnen und spüren kann. Und doch steht der reale Bühnenraum mit dem imaginären Bildraum in Beziehung. Denn Meg Stuart gibt Kommentare zu seinem Verhalten gibt: »You are not in the right position«, sagt sie, woraufhin der Mann sich umsetzt. Wie genau jedoch die Verbindung zwischen den beiden Räumen beschaffen ist, bleibt, wie Jeroen Peeters bemerkt hat, während der Szene in der Schwebe.49 Für den Zuschauer, der die Szene zum ersten Mal sieht, muss unklar bleiben, ob das Videobild aufgezeichnet wurde oder ob es sich tatsächlich um eine Live-Übertragung aus einem anderen Raum hinter der Bühne handelt. Weitere Fragen drängen sich auf. Kann Ouramdane Stuarts Kommentare und Anweisungen hören? Weiß er überhaupt, dass er beobachtet wird? Handelt es sich, worauf die Parallele in der räumlichen Anordnung hinweist, um eine Szene, die Meg Stuart kennt, um eine Erinnerung gar an das, was sie selbst schon einmal ausgeführt hat? Ist der Mann dann nur eine Projektion oder eine Vorstellung ihrer selbst? Nicht nur der Raum spaltet sich damit auf. Auch die Linearität der Zeit erfährt einen Riss. Wenn es sich beim Videobild um ein im Wortsinn vorgestelltes Bild handelt, so ist es auch ein Bild, das aus einer anderen Zeit auf Meg Stuart zurückkommt. Als Idealbild würde es zu einer Zukunft gehören, die sie durch ihre Kommentare überhaupt erst modelliert. Als Bild aus der Vergangenheit würde sie es an ein noch nicht erreichtes und deshalb zukünftiges Ideal anzupassen versuchen. Der Theaterraum erscheint in Private Room als anonymer Kontroll49 | Peeters, »Highway 101«, op. cit., S. 78.

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444 | Abwesenheit raum, aus dem der Bürger normalerweise auch im öffentlichen Leben einer Stadt ausgeschlossen bleibt. Er oder sie mag zwar die Überwachungskamera beim Einkaufen oder im Parkhaus entdecken. Doch was das Auge, das hinter der Kamera sieht, aufzeichnet, verwertet oder, glaubt man Unersuchungen zur Kontrolle durch Überwachungen, in den meisten Fällen einfach ignorieren muss, entzieht sich unserer Kontrolle. Die Zuschauer sitzen hinter Meg Stuart, die auf die Leinwand vor ihr schaut. Es findet demnach eine Verschmelzung von Theater- und voyeuristischem Kontrollraum statt. Dies wird dadurch erreicht, dass die Bühne als Fortsetzung des Zuschauerraums konzipiert wird. Die eigentliche Grenze, die den Raum spaltet, ist nicht mehr die Rampe. Die Grenze wurde nach hinten verschoben und zwischen Überwachern und Überwachtem, zwischen Raum und Leinwand, gezogen. Die Spaltung verweist damit auf etwas, was normalerweise im Off der Bühne liegt, auf etwas, das auf ihr nicht dargestellt, wohl aber als Imaginäres in einem anderen Bildmedium gezeigt werden kann. Dieses Undarstellbare ist der Blick der Kamera, die selbst nicht im Bild erscheint. Unser Blick aus dem Kontrollraum ist nicht identisch mit dem Blick, der das Bild generiert. Das Auge, das sich unserer Kontrolle entzieht, weil es draußen ist und uns indirekt gleichermaßen ins Bild setzt, hat die Funktion des göttlichen, dritten Blicks übernommen, der immer schon ins Theater eingeschrieben war. In seiner Funktion als das, was das individuelle Subjekt übersteigt, kann man diesen Blick heute als Instanz gesellschaftlicher Regeln und Codes sowie ihrer sprachlichen Festlegung verstehen. Durch das Video haben wir haben plötzlich einen Blick auf diesen gesellschaftlichen Blick, weil wir uns selbst der Position dieses Dritten annähern, ohne sie jedoch besetzten zu können (wir sind nicht die Kamera) – auf Kosten unserer Position im Parkett, die hier eliminiert wird. Diese erlaubt uns in der Regel keinen souveränen Blick auf das Geschehen, sondern lediglich einen bewegten und damit fragmentierten Blick, der gerade im Tanz niemals das ganze Bühnengeschehen auf einmal und die Bewegung in ihrer Flüchtigkeit einfangen und arretieren kann. Doch Meg Stuarts Stück endet hier nicht. Private Room reflektiert den dritten, gesellschaftlichen Blick, dekonstruiert ihn aber auch. Denn das Idealbild entzieht sich immer mehr ihrer Kontrolle. An die Stelle des einen allsehenden Blicks tritt die verunsichernde Erfahrung des Entzugs. Das Objekt der Betrachtung folgt anderen Bildern, es folgt seinem eigenen souveränen, kontrollierenden Blick. Statt das Subjekt im Bild selbst zu bespiegeln und zu erhöhen, entzieht es dem Subjekt den Boden und lässt es sich im Blick fremd werden. Rachid Ouramdane zieht sich aus, als befände er sich bei sich zu Hause, in seinem Private Room eben, und läuft immer wieder vom Sessel aus nach vorne, als bediene er ein Fernseh- oder Videogerät. Vielleicht kann auch er uns sehen, ohne dass wir, als Bild im Bild sozusagen, tatsächlich erscheinen würden – ohne jemals sicher sein können, dass er

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uns überwacht, und nicht wir ihn? Was auch immer sein Bild für Meg Stuart und damit auch für die Zuschauer darstellen mag, es gewinnt auf jeden Fall zunehmend an Eigenleben. Die Inkongruenz der Blickräume eröffnet den dritten Raum eines gesellschaftlichen Imaginären, in dem sich die Bilder gegenseitig bespiegeln, ohne an einen Referenten zurückgebunden werden zu können. Privates wird durch den Kontrollblick immer mehr in den öffentlichen Raum hineingezogen und Beobachtetwerden wird zum Normalfall. Dieser öffentliche Raum verliert damit wiederum seinen Charakter als intersubjektiv frei zugänglicher Raum und privatisiert sich. Gleichermaßen verliert das Subjekt den Zugriff auf seine Bilder, die nun ohne sein Wissen verwertet werden. Das Subjekt vermag seine Bilder nicht mehr zu integrieren. »That’s me, and that’s me«, ruft der Schauspieler Sam Louwyck in Visitors Only, wobei seine Stimme elektronisch beschleunigt und dadurch in der Frequenz höher wird. Gerade noch hat er eine Reihe alter Fotos beschrieben, die ihn und seinen Zwillingsbruder oder ihn als Cowboy zeigen. Der Zuschauer sieht all diese Figuren, die jedoch auf der Bühne de facto nicht er sind, sondern von den Tänzern Loup Abramovici, Thomas Wodianka und Andreas Müller dargestellt werden. Sie alle torkeln und stolpern über die Bühne, als hätten sie jede bewusste Kontrolle über ihre Körper verloren. Angezogen von den einzelnen Räumen auf der Bühne, verändern sie beim Betreten eines neuen Raums ihre Haltung und ihre Bewegungen. »Emotionale und körperliche Taschen im Raum«50 lösen Erinnerungen aus, die das Ich von sich selbst trennen und abspalten. Der Videoraum in Private Room behauptet trotz alledem seine Privatheit, obwohl er auf einer Bühne gezeigt wird, und obwohl das Bild zeigt, dass es beobachtet wird. Die dargestellte Wirklichkeit gerät so ebenso in die Schwebe wie die Erfahrung der Zuschauer. 2.2.5

Der eingebaute Medienblick

In anderen Szenen verwendet Meg Stuart weder Video noch Kameras, um die Auswirkungen medialer Bilder auf den Körper zu zeigen. »The look that buttresses her work has everything to do with close scrutiny – with visual microscopy«; mit dieser Feststellung weist Rudi Laermans auf die Medienanalogie in Meg Stuarts Arbeit hin. »This optical unconscious was first highlighted through photography […].«51 In Soft Wear, das wie Private Room, Sand Table und I’m All Yours – Self-Interview eine Art Auskoppelung aus Highway 101 darstellt, überträgt Meg Stuart nicht mehr das Modell der 50 | Stuart, »Ich bewege mich wie ein Gespenst«, op. cit., S. 196. 51 | Rudi Laermans, »In Medias Res. A Walk Through the Work of Meg Stuart«, in: A-Prior 6 (Herbst/Winter 2001-1002), S. 28-37, hier: S. 29.

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446 | Abwesenheit Photographie, die es möglich macht, bestimmte Details zu isolieren und zu vergrößern, sondern das des Computers auf den tanzenden Körper.52 In ihrem Solo, das zunächst von der Tänzerin Varinia Canto Vila entwickelt wurde, gestaltet sie fließende Übergänge zwischen einzelnen Bildern und emotionalen Zuständen des Körpers. Das Stück wird auf der Stelle getanzt, wobei die Tänzerin zunächst mit einer Kontraktion des Bauches beginnt, ihren Körper daraufhin nach oben ausdehnt, um ihn dann in die Breite zu ziehen. Ihr Körper wechselt ständig die Form, rückt näher ans Publikum heran, nur um sich mit dem nächsten Bild wider zurückzuziehen. Ein Lächeln geht in eine Fratze über; der Körper wird dünner, länger, breiter und gedrungener, ohne dass die Zuschauer die Bilder je festhalten könnten. Ein solches choreographisches Verfahren basiert auf der Überblendung von verschiedenen Bilder im Computer, dem ›Morphing‹, mit dem man spielerisch die Identität etwa eines Gesichts wechseln kann. Die Zuschauer können diesen gemorphten Körper auf der Bühne als solchen erkennen und lesen. Die Erfahrung mit dem Medium Computer und seinen Bildern hat sich längst in den Blick und die Wahrnehmungsgewohnheiten und -möglichkeiten einer Generation eingeschrieben. Das akustische Pendant zu Soft Wear stellt eine Szene aus Visitors Only dar, in der Thomas Wodianka als menschliches Radio verschiedene Stimmen produziert, als liefen sie ungefiltert durch seinen Körper, der lediglich ein Resonanzraum für ihm Fremdes, Äußerliches darstellt. Sowohl das optische als auch das akustische Morphen zeigt einen Körper, der im Begriff ist, die Kontrolle über sich und seine Bilder zu verlieren. Eingetaucht in den Strom ständig wechselnder Bilder, treibt er sich aus sich heraus, gerät in Ekstase und verliert sich an einen schizoiden Zustand, der jedes isolierte Bild als gleichwertig betrachtet.

3

Die Ebene des Realen

Die Irrealisierung der Wirklichkeit und damit der Körper, die sich durch die Welt bewegen und diese konstituieren, ist ein immer wiederkehrendes Thema in den Arbeiten Meg Stuarts. Fremde sind sich Meg Stuarts Tänzer in ihrem Körper immer zuerst selbst. Stuart treibt die Ichauflösung durch Abspaltung von Bildern und Zuständen ins Psychotische. Dennoch sind ihre Stücke ein Beweis für die Hartnäckigkeit des Körpers, der sich entgegen weitverbreiteter apokalyptischer Medienutopien, die die Rede vom Verschwinden des Körpers im Bild gerne im Munde führen, gerade in Tanztheaterstücken wie ihren immer wieder aufs Neue behauptet. »Das Virtuelle ist das Mögliche, das jederzeit und überall auch anders Mögliche«, schreibt 52 | Peeters, »Highway 101«, op. cit., S. 76.

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VIII Gespenstische Körper: Meg Stuart | 447

Dietmar Kamper, der aus anthropologischer Sicht das Verschwinden des Körpers immer wieder beklagt. »Es besteht in einem Abschied vom Körperlichen, indem es die Bedingungen der Zeit und des Raumes negiert und damit seine eigene Genese verleugnet.«53 Durch den Einsatz von Medien wird der Körper in den Arbeiten Meg Stuarts nicht vernichtet. Die von Kamper beklagte Verabsolutierung des bildlichen Imaginären wird hier immer wieder von den Ebenen des Symbolischen und des Realen durchkreuzt. Die Bilder öffnen sich in der Tat hin auf ihre Kehrseite, die Kamper mit dem Tod in Verbindung bringt: »Die Hochkonjunktur der Bilder ist – auf der Kehrseite – eine permanente Vernichtung der Körper, der Körperlichkeit der Dinge, der Dinglichkeit der Körper.«54 Gerade weil die Körperbilder Meg Stuarts Unterbrechungen der Abstraktion sind, verweisen sie auf deren Dinglichkeit: auf das konkret und materiell Körperliche. Sie gehen, durchaus im Sinne von Kamper, durch die Abwesenheit hindurch, um sie anders erfahrbar zu machen. Dadurch werden die Bilder nicht spektakulär ausgestellt, sondern im symbolischen Raum, der ein gesellschaftlicher ist, verhandelt. Gerade der Tod als die letztendliche Abwesenheit, den die Bilder in der Gesellschaft des Spektakels leugnen, wird so als Horizont des Tanzes wiedereröffnet als das Reale der Körper, das deren Versiegelung im Imaginären stört. Wie der zur Anamorphose verzerrte Totenschädel auf Holbeins Gemälde »Die Gesandten«, der im Vordergrund der Leinwand das Bild durchkreuzt,55 schlägt er sich auf die Körperbilder Meg Stuarts als deren Reales nieder. Zu Beginn von No One is Watching steht im fahlen fleischfarbenen Licht der Bühne eine Tänzerin frontal zum Publikum. Sie scheint uns anzuschauen und stellt sich dabei im selben Moment nur selbst zur Schau. Eine zweite Tänzerin nähert sich ihr mit ihrem Gesicht und fährt damit ihren Körper ab – so dicht an ihr, dass man glaubt, den Atem auf ihrer Haut zu spüren. Die Stimme eines Mannes wird eingespielt. Trotzdem sie über Mikrophon verstärkt wird, ist das, was er sagt, nie deutlich zu verstehen. Ganz dicht am Mikro hört man seinen Atem, das Knacken des Kiefers und den Speichel in der Mundhöhle. Er nuschelt Fragen, die nicht nur in die Intimsphäre der oder des Angesprochenen eindringen, sondern vor allem auch den Körper mit seinen persönlichen materiellen Details selbst befragen. Die Fragen richten sich also nicht mehr wie noch in Pina Bauschs Tanztheater an die Person des Tänzers oder der Tänzerin mit ihren biographischen Hintergründen und psychischen Strukturen. Die Fragen – hier ein kurzer Zusammenschnitt – richten sich direkt an den Körper und seine 53 | Dietmar Kamper, Ästhetik der Abwesenheit, op. cit., S. 22. 54 | Ibid., S. 23. 55 | Vgl. hierzu Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe, op. cit., S. 91-95.

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448 | Abwesenheit Formungen: »Do you remember how many people have been licking that little thing in the middle of your belly? Do you remember how many people got to your nose with scissors, drew the white spot on your back, have been picking that little dot in your eye in the morning, how many people did breathe through your nose, put their tongue in your ears? Tell me how many people. 50 people? 200 people? 300 people?« Die Stimme ist in zweifacher Hinsicht von den Körpern auf der Bühne abgelöst: zum einen als Tonspur, die eingespielt wird, zum anderen in ihrer Geschlechterzugehörigkeit. Wir hören einen Mann, sehen aber zwei Frauen, von denen die eine die Position des Befragten, die andere die des Befragers einnimmt. Die Spaltung von Stimme und Körper wirkt so einer vorschnellen Identifikation der Szene als psychologisch zu deutender Liebes- oder Eifersuchtsszene entgegen. Die zweite Tänzerin befragt den Körper ihrer Partnerin nicht durch ihre Stimme, sondern durch ihren Blick, mit dem sie ihr unter die Haut fährt. Sie bewegt sich an ihrem Körper entlang, der ihr angespannt und fast angstvoll ausweicht, als enthüllten die befragten Körperpartien in diesem Moment ihre Erinnerungen in der Art ihrer Bewegung. Ein Duo zwischen Frage und Antwort entspinnt sich, ein regelrechter Schattentanz, bei dem das Positiv stets eng an das Negativ gebunden bleibt. Das Reale des Körpers liegt demnach in den Tics und unwillkürlichen Bewegungen, die den Körper fortreißen. »[W]hen do I actually encounter the Other ›beyond the wall of language‹, in the real of his or her being?«, fragt Slavoj Zizek. ^ ^

Not when I am able to describe her, not even when I learn her values, dreams, and so on, but only when I encounter the Other in her moment of jouissance: when I discern in her a tiny detail (a compulsive gesture, an excessive facial expression, a tic) which signals the intensity of the real of jouissance. This encounter with the real is always traumatic; there is something at least minimally obscene about it; I cannot simply integrate it into my universe, there is always a gulf separating me from it.56

Die Eigenheiten der Begegnung mit dem Realen des Anderen, das stets nur phantasmatisch zu haben ist, erzeugen neben der Lust, der jouissance am Körper, gleichzeitig ein Missfallen, das das obszöne Teilhaben an etwas auslöst, was man eigentlich nicht sehen will: ein plus de plaisir, ein Mehr an Lust, aber auch ein ›keine Lust mehr‹, weil es schon wieder zu schmerzen beginnt oder peinlich wird. Auch das Publikum ist wie die Darsteller der Szene ausgesetzt. Auf der Ebene des Realen funktionieren Meg Stuarts Bewegungen wie die von William Forsythe: als Sinthome der überschüssigen ^ ^

56 | Slavoj Zizek, The Plague of Fantasies, London/New York: Verso, 1997, S. 49.

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Lust am Symptom des Tanzes, an dessen verworfenen Möglichkeiten, die sich um die Verletzbarkeit seiner Körper scharen. Als Metapher für dieses faszinierende, wollüstige Sinthome kann der Körper der fettleibigen Frau gelten, dessen symbolische und imaginäre Funktionen in dem Stück No One is Watching bereits beschrieben wurden. Als Ikone der Sichtbarkeit, die aufgrund ihres Umfangs sichtbarer ist als alles andere, fungiert sie als verkörperlichtes Prinzip von Meg Stuarts Choreographien. Man kann sie als Bild beschreiben für das, was den Körpern in Meg Stuarts Choreographien generell widerfährt: Sie werden außer sich und über sich hinaus getrieben bis zu jenem Punkt, wo sie die Grenze zwischen Außenwelt und Innenwelt verletzen. Auf der Ebene des Realen erscheint dieser Punkt als eine Wucherung, die ins Symbolische eindringt, ohne an eine Signifikantenkette angebunden zu werden. Selbstbezüglich ohne Kontakt zum Geschehen um sie herum, fällt die Frau auf sich zurück und nimmt alles in ihren angeschwollenen Körper auf. Sie versenkt sowohl die Blicke der Zuschauer als auch den Raum um sie herum in sich. Sie erliegt wie die Bewegungen dem Wiederholungszwang, der den Körper in einen hypertrophen Leerlauf des Immergleichen hineinreißt, ohne dass er seine Geschichte in einer Tanzsprache erzählen könnte, das heißt ohne dass er sich in einer Signifikantenkette fortschriebe und veränderte. Auf der Ebene des Realen hat André Lepeckis Feststellung einer neuen Wahrnehmung, die sich am ›Kern‹ der Subjektivität entzündet, ihre Berechtigung. Doch auch hier gilt es im Gegensatz zu Lepeckis Verständnis von Realem festzuhalten, dass das Reale immer schon im symbolischen Raum der Bühne imaginär (durch imaginäre Verkörperung der Bilder von Francis Bacon etwa) verstellt ist, weshalb die Bewegung genaugenommen auch nur Symptom des Realen ist. Das imaginäre Körperbild der dicken Frau ist ins Reale umgeschlagen, von wo aus es die Frage nach dem Funktionieren des Symbolischen und seiner Normen und Werte stellt. Doch weder der Körper noch das Bild, das er produziert, sind das Reale, das unzugänglich bleibt. Das phantasmatische Zusammenfallen von Bild und Wirklichkeit, um das es mir in meiner Beschreibung der Szene ging, markiert das Ende der spekulären und spektakulären Szene des Körpers im Raum. An deren Stelle tritt die Szene des Körpers als Raum. Der Körper als Szene setzt sich buchstäblich damit auseinander, was vom Körper als Garant subjektiver Identität im Allgemeinen und als Garant für die Identität des tanzenden Subjekts im Besonderen im Zeitalter wuchernder Medienbilder übrig bleibt.

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IX Schluss und Ausblick: Embleme der Abwesenheit

Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, den Konsens, der in den Performance-Studies im Hinblick auf das kritische und widerständige Potential künstlerischer Performances herrscht, ein wenig aufzulösen und in Frage zu stellen. Dieser Konsens besagt, dass die Präsenz der Darsteller das Präsens der Aufführung auflädt und auf diese Weise Erfahrungen ermöglicht, die man in unserer verdinglichten Warenwelt, in der das Subjekt nur noch als Konsument vorkommt, anders nicht machen kann. Vor dem Hintergrund gesteigerter Präsenzerwartung, mit der in der Gesellschaft des Spektakels selbst das Einkaufen zur Erfahrung mit besonderer Atmosphäre, Höhepunkten und unhintergehbarer inszenierter Präsenz von eigenen und fremden Körpern gemacht wird, erscheint jedoch die ›manisch aufgeladenen Gegenwart‹ der Tanz- oder Theateraufführung allein nicht zu genügen, wenn es darum geht, Performance als kritische Praxis zu definieren. Performativität, wie sie in der vorgestellten Arbeit diskutiert wurde, ist nicht per se kritisch, weil sie etwa festgefügte Bilder, Vorstellungen, Ideologien und zu Monumenten erstarrte Artefakte erneut in Bewegung versetzte und sie damit im lebendigen Erinnern zum unkonsumierbaren Verschwinden brächte, sondern weil sie in dieses In-Bewegung-Versetzen, in dieses verkörperte Wiederholen von Normen und Praktiken, Abwesenheiten einführt, die den Verlust markieren, der jeder Aufführung und jedem an der Aufführung beteiligten Subjekt innewohnt. Damit einher geht ein Festhalten an den Kunstwerken als einer besonderen ästhetischen Erfahrung. Die Stücke inszenieren innerhalb ihrer Grenzen und ihrer Gegenwart Abwesenheiten, an deren Horizont eine anthropologische Abwesenheit, der Tod, steht. Sie entwerfen ›tote‹ Szenen, Bilder oder gar Körper, die das Subjekt des Rezipienten nicht spiegeln, sondern es auf das Unverfügbare und Heterogene der Erfahrung öffnen. Sie heben Orte aus, an denen das Sub-

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452 | Abwesenheit jekt nicht ist. Leere Bühnen, die an uns appellieren und unseren Platz in Frage stellen, der Umgang mit Tänzern wie mit Objekten (Jérôme Bel), das Umtanzen von abwesenden Bewegungen (William Forsythe), das gespenstische Aushöhlen des Körpers, der nicht mehr über sich verfügt, sei es weil er durchzogen wird von kulturellen Diskursen und Praktiken (Xavier Le Roy), oder weil er seine Erfahrungen nicht mehr an einem Ort und in einer Zeit integrieren kann (Meg Stuart), sind symptomatische Erscheinungen dieser inszenierten Abwesenheit. Die Absenz blickt uns an, geht uns an und versetzt uns auch emotional in Bewegung. Tanz, wie er hier verstanden wird, geht nicht mehr davon aus, dass es ›den Tanz‹ gibt. Die Arbeiten, die hier vorgestellt und diskutiert wurden, funktionieren innerhalb der Grenzen des Theaters und seiner Gesetze, um dessen Grenzen abzuschreiten und zu verschieben. Der Text des Tanzes, der ›den Tanz‹ hervorbringt und legitimiert, wurde mit Pierre Legendre als christliches Gesetz definiert, das auf einem Tanzverbot gründet. Das sprechende Subjekt des Tanzes, der Tänzer, der legitimiert ist, für uns zu sprechen, existiert nur auf der Folie dieses Verbots, das es hervorbringt. Tanz spannt sich daher immer, auch wenn er sich nicht der Sprache als Mittel bedient, auf die Sprache, in deren Horizont er stattfindet, hin. Er sucht nach dem Ort des Körpers innerhalb der Sprache, die als abstrakte keinen Körper und keinen Ort hat. Die Frage nach dem Ort des Subjekts ist eng mit dem Körper verbunden, der immer einen Ort hat, von dem das Subjekt seinen Ausgang nimmt. Diesen Körper haben wir als begehrenden Körper in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt. Der begehrende Körper agiert auf drei Ebenen – dem symbolischen, imaginären und realen Register –, die das Verhältnis zwischen Bühne und Zuschauerraum auf je spezifische Weise bestimmen. Fragen nach der Rahmung des Tanzes, nach dem Ort des Körpers, dem Bild und den Grenzen des Körpers und der Lust am Körper sind daher alle integraler Bestandteil der Tanzbetrachtung, die damit den engen Rahmen der Bewegungsanalyse verlässt. Tanz, so wie wir ihn hier verstehen, ist Teil des Systems Theater, zu dem er in einem besonderen Verhältnis steht. Die Tanz-Performances, die hier vorgestellt wurden, sind Teil allgemeiner theatraler Praktiken, deren Möglichkeitsbedingungen, Rahmungen und Grenzen sie mit ihren Körpern reflektieren. Gilt die Frage nach dem Ort des Subjekts, einem Ort, der sich und das Sein des Subjekts durch die Bewegung ständig wandelt und verschiebt, als zentrale Frage des Tanzes, lässt sich das traditionelle Verhältnis von Tanz und Theater mit dem von Julia Kristeva geprägten Begriff des Abjekts bestimmen. Weder Subjekt noch Objekt, stellt das Abjekt ein merkwürdiges Ding dar, das Ekel und Lust zugleich hervorruft. Wie ein ausgespucktes Stück Nahrung – die Haut der Milch, die Ekel auslöst – belagert das Abjekt die Grenze des Subjekts, das es aufzulösen droht. Eigenart des

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Abjekts ist es nun, nicht in erster Linie nach dem Sein des Subjekts zu fragen, sondern nach dem Ort, der dieses Sein überhaupt erst ermöglicht. Die ausgespuckte Nahrung befindet sich da draußen und bleibt doch mit der Erfahrung des Subjekts verbunden, eines Subjekts, das sich im Ausspucken immer auch selbst ausspuckt und verwirft. Celui par lequel l’abject existe est donc un jeté qui (se) place, (se) sépare, (se) situe et donc erre, au lieu de se reconnaître, de désirer, d’appartenir ou de refuser […] Au lieu de s’interroger sur son »être«, il s’interroge sur sa place: »Où suis-je?« plutôt que »Qui suis-je?«. Car l’espace qui préoccupe le jeté, l’exclu, n’est jamais un, ni homogène, ni totalisable, mais essentiellement divisible, pliable, catastrophique. Constructeur de territoires, de langues, d’œuvres, le jeté n’arrête pas de délimiter son univers dont les confins fluides – parce que constitués par un non-objet, l’abject – remettent en cause sa solidité et le poussant à recommencer.1

Im traditionellen literarischen Theater erkennen sich die Subjekte wieder. Im Tanz irren sie umher – im doppelten Wortsinn. Der Tanz löst sie auf und fordert sie auf, immer wieder von Neuem anzufangen. Der Raum und mit ihm der Körper ist der Ort, der sich verschiebt und auflöst. Dieser Körper-Ort ist niemals ungeteilt, nie eins, nie totalisierbar. Tanz erscheint als Abjekt des Theaters, dessen Grenzen er belagert und bedroht. Und weiter: Der Körper in seiner Materialität, der nicht über den Weg der christlichen Seele zu einer, zu seiner Identität gelangt, ist das Abjekt unserer Kultur, das Theater und Bühnentanz gleichermaßen in Frage stellt. Diese Einsicht hat durchaus auch kulturpolitische Verzweigungen, wenn Kommunen aufgrund von Sparzwängen prinzipiell zuerst ihre Tanzensembles abschaffen. Das bedrohliche Abjekt hat, so scheint es, in Zeiten ökonomischer Krisen und gesellschaftlicher Spannungen, die eine restaurative Identitätspolitik befördern, keine Daseinsberechtigung. Doch diese Trennung zwischen Theater, Tanz und sogar der bildenden Kunst löst sich immer mehr in einer gemeinsamen ästhetischen Praxis auf. Auch davon haben die vorgestellten Stücke in dieser Arbeit erzählt. Auffallend bei dieser Grenzüberschreitung ist, dass sie im institutionalisierten Raum des Theaters einerseits zumeist von Tänzern und Choreographen vorgenommen wird. Andererseits: wenn Theaterregisseure über die Grenzen ihrer Tradition hinausgehen, bedienen sie sich zumeist tänzerischer und choreographischer Praktiken. Wenn ›das Theater‹ sich über sich selbst beugt, um über sich hinaus zu gehen, greift es auf das zurück, was es seit der Etablierung des bürgerlichen Theaters im 18. Jahrhundert verwirft. Es landet bei Choreographie und Tanz.2 1 | Kristeva, Pouvoirs de l’horreur, op. cit., S. 15-16. 2 | Nikolaus Müller-Schöll bezeichnet diese überschreitende Praxis als »Thea-

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454 | Abwesenheit Am Schluss dieser Arbeit sollen noch einmal zwei Künstler stehen, die die Abwesenheit in all ihren Implikationen, denen die Arbeit nachgegangen ist, von einer anderen Warte aus beleuchten. Damit schließt sich der Kreis zum Anfang dieser Studie, an dem ebenfalls die Betrachtung von Tanzstücken stand. Statt eines Schlussworts also noch einmal: der Tanz.

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La Ribots Distinguished Pieces

Ende September im Sala Cuarta Pared, einem kleinen Theater am Rande der Madrider Innenstadt. Die Stühle für die Zuschauer sind an der Rückwand des Raumes aufgestapelt. Menschen strömen in den Raum. Wir schauen uns um und wandern eine Weile ziellos umher, während unser Blick über die Gegenstände schweift, die im ganzen Raum verteilt sind. Dort drüben liegt eine rote Schachtel auf dem Boden, hier sind ein kaputter Stuhl und etwas, das ein altmodisches Radio sein könnte, eine merkwürdige Allianz eingegangen, und auf der anderen Seite versucht ein gelbes Kissen oder eine gelbe Decke stumm, unsere Aufmerksamkeit zu erhalten. Nicht wissend, was uns erwartet, schaut sich jeder nach einem angemessenen Platz um. Jede(r) schaut nach einem geeigneten Ort, sich in Position zu bringen für das, was man zu sehen erwartet und was jetzt bald beginnt, ein wenig ab vom Schuss vielleicht, damit man nicht gerade mit der Akteurin der Show zusammenstößt, wenn diese begonnen hat. Aber wo genau dieser abgelegene und dennoch zentrale Ort sein mag, weiß keiner genau. Still Distinguished von La Ribot ist der Grund, weshalb wir hier sind.3 Einige Leute haben ihre Taschen und Mäntel in eine Ecke gelegt oder sie einfach neben sich auf dem Boden abgestellt, wo sie sich gerade hingesetzt haben. Wenn man sie nicht dabei beobachtet hat, könnte man ihre dünnen Regenjacken und modischen Taschen für Requisiten des Stückes halten. Aber vielleicht sind sie ja Teil der Show? Denn wo könnten Sie die Besucher denn anders lassen als auf der Bühne? Ich platziere meinen Körper neben einem kleinen Monitor in der Hoffnung, dass darauf ein Film zu sehen sein wird, den ich so näher betrachten kann. Es gibt drei weitere Monitore, die im Raum verteilt sind. Ich bemerke auch mehrere Lautsprecher, die mit Klebeband am Boden befestigt sind. ter außer sich«. Alle Beispiele, die er anführt, stammen von Choreographen und Tänzern wie Wanda Golonka, Jonathan Burrows und Jan Ritsema, sowie von Boris Charmatz; vgl. Nikolaus Müller-Schöll, »Theater außer sich«, in: Hajo Kurzenberger/Annemarie Matzke (Hg.), Theorie Theater Praxis, Berlin: Theater der Zeit, 2004, S. 342-352. 3 | Sowohl zu Still Distinguished (21. Januar 2001) als auch zu Mas Distinguidas (Montpellier Danse 1999) lagen mir Videos zur Einsicht vor.

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Immer noch unsicher über das, was uns nun erwartet, betrachten wir uns selbst beim Betrachten. Menschen als Objekte beobachten einander oder werfen sich scheu Blicke zu; Menschen und Objekte teilen sich so den Raum, der eine Bühne ist. Für die Zeit der Aufführung gibt es kein Draußen. Wir sind hier zusammen drin. Fast beiläufig und unerwartet tritt eine Frau herein. Ihr flammend rotes Haar ist zusammengebunden. Sie trägt einen orangefarbenen Pullover mit Reißverschluss. Wo Rock oder Hose sein müsste, bedeckt ein einfacher Nylonstrumpf notdürftig eines ihrer langen Beine, die in einem Paar hochhackiger leuchtend rosafarbener Stilettos enden. Die Farben beißen sich fürchterlich und schmerzen fast in den Augen. Unbeirrt stelzt die Performerin durch den Raum wie eine Ballerina auf Halbspitze und schaltet nacheinander die kleinen Monitore ein. Die Schirme flackern in Aktion, und die weibliche Erscheinung in der Menge geht von dannen und verschwindet. Für die nächsten zwölf Minuten können wir uns nun Videos anschauen. Pa amb tomaquet, so der Titel, ist die Geschichte der Herstellung eines Tomatensandwichs. Wo jedoch jeder andere Brot benutzen würde, um darauf die Tomaten zu verteilen, gebraucht die Frau im Video ihren eigenen Körper als Unterlage. Sie filmt sich selbst, während sie sich in ein Tomatensandwich verwandelt. Maria La Ribot erzählt mir, dass sie vier verschiedene Videos derselben Szene gemacht hat, um sie gleichzeitig vorzuführen, eine auf jedem Monitor. Ihre Füße stehen dabei auf einem weißen Schneidebrett. Ihre Fußnägel sind dunkelviolett lackiert. Ein Karton mit einer Flasche Olivenöl steht neben ihr. In ihrer rechten Hand hält sie eine Kamera, die die meiste Zeit nach unten auf den Rest ihres Körpers gerichtet ist und nur gelegentlich einen Blick auf ihr Gesicht erlaubt. Als sie die Zutaten entdeckt, scheint die Frau Hunger zu bekommen und gelangt dann zu einem Entschluss. Wir sehen sie hektisch an ihren Kleidern herumzupfen; im schnellen Schwenk der Kamera sehen wir ihr Höschen fallen und ihr Oberteil verschwinden. Weil ihre rechte Hand mit der Kamera beschäftigt ist, fuchtelt ihre linke mit einem Messer, um Knoblauchzehen zu zerteilen, die sie zwischen ihren Zehen festzuhalten versucht. Ich halte den Atem an, als der Knoblauch vom Messer springt, weil ich denke, dass nun jeden Moment das Messer tief in ihr Fleisch schneiden wird. Aber trotz der Hektik der Aktion bleibt sie unverletzt. Nun greift sie den Knoblauch und zerreibt ihn auf ihrer Haut. Er wandert höher und höher ihre Beine entlang und über ihren Unterleib, ihren Rumpf, ihre Arme und ihr Gesicht, während sie die ganze Zeit filmt, wie sie sich einreibt. Jetzt schneidet sie die Tomaten in Scheiben und verreibt ihr rotes glitschiges Fruchtfleisch auf ihrer Haut. Wie sie es schafft, die Olivenölflasche aufzuschrauben, bleibt ein Rätsel. Spritzer dickflüssigen Olivenöls tropfen auf ihre nackte Haut und laufen ihre Beine hinunter, um dann auf dem Schneidebrett zu landen. Das Farbspektakel, das sie am Anfang ihres Auftritts vor dem Start der Videos im Theaterraum ver-

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456 | Abwesenheit anstaltet hatte, setzt sich nun auf den Bildschirmen fort. Das gelbgrüne Leuchten des Olivenöls gegen das weiße Schneidebrett, auf das rote Spritzer Tomate getropft sind, und der schwarze Griff des silberfarbenen Messers wirken zusammen wie ein abstraktes Gemälde. Eine Brustwarze springt plötzlich ins Bild. Sie wischt das Öl vom Schneidebrett und packt die Überreste ihres Mahls in den Karton. Das Video endet hier. Pa amb tomaquet ist La Ribot’s »distinguished piece« Nummer 34. Es eröffnet eine Serie von acht ›ausgezeichneten Werken‹, die sie Still Distinguished nennt. Sie hält es für eine Ausnahme in der Reihe kleiner Performances, die sie an ›ausgezeichnete Besitzer‹ verkauft, die so Werke besitzen, die es nur gibt, wenn La Ribot sie aufführt. Die Namen dieser Besitzer erscheinen dann im Programmheft neben den Stücken, etwa so wie der Besitzer eines Gemäldes seinen Namen auf einem kleinen Schild an der Museumswand vorfindet. Ich habe Pa amb tomaquet gekauft. Aber wo gewöhnliche Kunstsammler ihre Häuser mit Kunstobjekten und Leinwänden dekorieren können, besitze ich lediglich eine Serie von nicht-materiellen Gesten, die mit La Ribots Körper verbunden sind. Ich besitze einen performativen Akt. Im Falle von Pa amb tomaquet ist selbst das unbedeutend. Die Ausnahmestellung des Stücks liegt in der Tatsache, dass La Ribots Körper während seiner Performance nicht einmal präsent ist. Er ist aufgezeichnet. Die einzigen Gesten, die performt werden, sind das An- und Ausschalten der Videomonitore vor und nach der Vorführung. Ich muss zugeben, dass ich genau aus diesem Grund gezögert habe, das Stück zu erwerben. Vielleicht hätte ich ein konventionelleres Stück wählen sollen, eines, das sich an die Regeln hält und in dem Maria La Ribot tatsächlich auftritt. Aber irgendetwas zog mich zu dieser Ausnahme hin, zu dieser merkwürdigen doppelten Abwesenheit, die das Stück ausmacht. Pa amb tomaquet rahmt die Abwesenheit des Objekts, das unvermeidliche Verschwinden der Performance in seinen trauervollen Zustand des NichtMehr-Seins, der Abwesenheit, mit einer weiteren Absenz, nämlich der des performenden Körpers. Es ist wichtig, dass das Stück wie jedes andere ›distinguished piece‹ aufgemacht ist, das heisst, das die Videos für mich nur existieren, wenn sie live vorgeführt werden, wenn die rahmenden Gesten eines erscheinenden und dann verschwindenden Körpers, der sie an- und ausschaltet, ausgeführt werden. Der abwesende Körper, der das Zentrum des Stücks markiert, löst eine Selbstreflexion aus, die die Grundlage aller anderen ›distinguished pieces‹ offenlegt. Während der Aufführung verwandelt La Ribot ihren Körper in ein Objekt, das sich dem Betrachten, dem Konsum und selbst dem Verkauftwerden, hingibt. Nicht nur, dass La Ribot sich in ein konsumierbares Objekt verwandelt, das in Pa amb tomaquet genau das ist: ein Sandwich. Sie produziert auch ein visuelles Objekt, das an die Stelle der ursprünglichen Performance tritt. Aus dieser Perspektive betrachtet, wird so das Video nicht so sehr eine Reifizierung des Objekts, son-

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dern ein Emblem seiner Abwesenheit. Um diese Gesten nachzuvollziehen, braucht man nicht einmal ihren Körper. Jeder Körper würde es tun. Die Performance und die Produktion von Bedeutung hören so niemals auf. La Ribot hat dies später selbst betont, als sie ihre Stückserie Más Distinguidas aus dem Jahr 1997 an die Tänzerin Anna Williams weitergegeben hat, die diese nun aufführt – und damit La Ribot zum abwesenden Kern ihrer eigenen Gesten macht, die nun nicht mehr die ihren oder die von irgendjemand Bestimmtem sind. Eine ähnlich Verdopplung geschieht mit dem Blick. Während wir in anderen ›distinguished pieces‹ auf La Ribot als ein ausgestelltes Objekt schauen, betrachtet sie sich in Pa amb tomaquet zuerst selbst als Objekt, so dass wir einem Zuschauen zuschauen, wissend, dass wir gleichzeitig im offenen Theaterraum beim Beobachten beobachtet werden, während wir wiederum anderen beim Zuschauen zuschauen.

Ich möchte Maria La Ribots »distinguished pieces« – und vor allem ihre Still Distinguished-Serie – als Embleme von Abwesenheit betrachten. Diese Embleme bestehen aus Objekten und einem besonderen Blick, der auf sie fällt, der wiederum das beobachtende Subjekt selbst zu einem Objekt macht. Nehmen wir »distinguished piece« Nummer 30, Candida Illumina-

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458 | Abwesenheit ris. Wo endet hier das Objekt und wo beginnt das Subjekt? Nachdem sie nach Beendigung der Videos in den Raum zurückgekehrt ist, legt La Ribot eine Reihe von Gegenständen auf den Boden und ordnet sie der Größe nach in einer Reihe an. Kleine Spielzeugfiguren, ein Miniatur-Lastwagen, eine Stoffpuppe, eine Armbanduhr, ein ›Bitte nicht berühren‹-Schild, ein kleines vibrierendes Gerät, dessen Propeller durch das ganze Stück hindurch surrt und summt. Rasch nimmt sie eine Haarnadel aus ihrem Haar und legt sich selbst in die Reihe. Ihre Strümpfe folgen, einer ihrer rosa Schuhe und zuletzt der orangefarbene Pullover, bis sie schließlich nackt neben dem kaputten Stuhl liegt, ihre Arme über ihren Brüsten gefaltet und ihr rechtes Bein über ihrem linken gekreuzt. Surrend und summend wie eine Maschine übernimmt sie nun das Geräusch des kleinen Propellers. Dies könnte der Höhepunkt der Reihung sein. Aber vor ihr sitzt eine andere Frau. Vielleicht gipfelt die Reihe ja doch nicht in La Ribot? Wenn ich meinen Blick ohne Unterbrechung schweifen lasse, ist die Frau vor ihr die logische Fortsetzung der Linie, die den ganzen Raum durchzieht, die von Person zu Person springt, mich selbst eingeschlossen. Was ich vorschlagen möchte, ist eine Interpretation von La Ribots ›distinguished pieces‹ als Produktion von Abwesenheiten, die sowohl den Performer wie auch den Zuschauer als melancholische Subjekte markieren, die Verlust gleichzeitig betrauern und zelebrieren. Als theoretisches Modell verwende ich Walter Benjamins Konzept der Melancholie, das, obwohl es wie seine Analyse von Proust von Freud beeinflusst ist, dennoch keine Annahmen über psychologische Dispositionen des Subjekts macht, dessen melancholischer Zustand es als anders markiert. Dennoch ist sowohl Benjamins als auch Freuds Argument das verlorene Objekt des melancholischen Gemüts und der hermeneutische Prozess der Interpretation, der durch es ausgelöst wird, gemein, was es Benjamin erlaubt, sich auf die Frage der Repräsentation von Bedeutung zu konzentrieren. In Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, in welchem er sein Konzept der Melancholie ausbreitet, ist Walter Benjamin vor allem ein Leser von Barockliteratur und dramatischen Texten, eine Tatsache, die ebenso banal wie bedeutsam für seine Wahrnehmung von Melancholie ist. Wie seine eigene Zeit – sein Buch entstand 1925 – hält Benjamin das siebzehnte Jahrhundert für eine Zeit des Aufstiegs und Niedergangs. Was verloren wurde, war der eschatologische Horizont, der Dinge mit Bedeutung erfüllte und ihnen einen Existenzgrund verschaffte. Die Erfahrung des Menschen des siebzehnten Jahrhunderts ist daher gekennzeichnet von einer Unsicherheit bezüglich des Status’ von Objekten und, davon ausgehend, ihrer eigenen Subjektivität und ihrer Stellung in der Ordnung der Dinge. Womit der Leser – und vor allem der moderne Leser, für den der Verlust von (religiösen) Sicherheiten eine Grunderfahrung ist – konfrontiert wird, ist eine Anordnung von hieroglyphischen Zeichen. Stumm lassen sie den Leser über ihre Bedeu-

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tung im Unklaren und fordern ihn dennoch ständig auf, sie vor der Bedeutungslosigkeit zu bewahren. Als lebhafte Erinnerung an den Tod werden sie so zu mementi mori, die Abwesenheit mit ihrer fetischhaften Präsenz füllen. Wie bei Freud ist für Benjamin Melancholie nicht einfach der Verlust eines Objekts. Objekte gibt es in der Tat überall. Es ist der Verlust eines kleinen Details an den Objekten, der das Subjekt unsicher seiner eigenen Abwesenheit vom Feld der Bedeutung zutreiben lässt. Als Leser ist Benjamin mit stummen Zeichen konfrontiert, die ihn an seinen eigenen Tod erinnern. Wie löst er nun diese Krise der Signifikation? Wie kommt Bedeutung, wie kommen Ideen zurück in die Welt der Phänomene? Um dies zu erklären, gebraucht Benjamin einen Vergleich: Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. Das besagt zunächst: sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze. Sie dienen nicht der Erkenntnis der Phänomene und in keiner Weise können diese Kriterien für den Bestand der Ideen sein.4

Weder repräsentieren Ideen und Phänomene einander, noch ist ihre Konstellation intrinsisch motiviert. Es gibt nichts im Objekt, das notwendigerweise auf eine Idee verweist, und umgekehrt hilft uns eine Idee auch nicht, ein Objekt zu verstehen. Stattdessen sind Ideen »Konfigurationen« und »Konstellationen«. Man kann sie daran ablesen, wie Dinge im Verhältnis zueinander angeordnet sind – ähnlich den Sternen, die scheinbar Bilder am Nachthimmel ergeben. Benjamins Vergleich erinnert natürlich an Stéphane Mallarmés berühmtes »l’alphabet des astres« aus seinem Gedicht »Un coup de dés«. Dort sind die Buchstaben des Gedichtes auf der weißen Seite verstreut wie Sterne am Himmel und zerstören so gewohnte Bedeutungen und weisen stattdessen auf die Abwesenheiten zwischen ihnen hin. Diese Objekt-Buchstaben fordern den Leser auf, »[w]as nie geschrieben wurde, [zu] lesen«,5 wie Benjamin es nennt, weil es lediglich den leeren Raum zwischen ihnen ausmachte. Bedeutung wird so als Möglichkeit hergestellt, Objekte im Bezug zu einander zu präsentieren. Dies hat drei Konsequenzen. Zuerst lenkt es die Aufmerksamkeit auf den Raum, in dem diese Konstellationen die Möglichkeit erhalten, sich selbst als eine Vorbedingung, ein Prä-Requisit, von Bedeutung zu präsentieren. Zweitens zeigen sie sich als Figuren; sie werden zu visuellen Phä4 | Walter Benjamin, »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Walter Benjamin, Abhandlungen. Gesammelte Schriften Band I.1., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 203-430, hier: S. 214. 5 | Walter Benjamin, »Über das mimetische Vermögen«, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften II.1: Aufsätze, Essays, Vorträge, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 210-213, hier: S. 213.

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460 | Abwesenheit nomenen. Drittens gibt es sie nur, weil sie von einem Leser-Betrachter angeschaut werden, der aktiv ihre Bedeutung herstellt. An diesem Punkt wird Bejnamins literarische Theorie des Lesens eine Theorie der Performanz und seine Analyse des dramatischen Texts eine Meditation über theatrale Repräsentation. Benjamin schreibt: »Geschichte wandert in den Schauplatz hinein«6 und impliziert damit, dass die Bühne als Modell der Geschichtlichkeit aller Dinge fungiert, denen sie Raum gewährt. Sie ist der Ort, an dem die Schaulust regiert und wo Dinge ostentativ um die Aufmerksamkeit des Zuschauers buhlen. Die Verräumlichung, die der Konstellierung inhärent ist, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bühne, auf der die Gegenstände ausgebreitet sind »like a patient etherised upon a table«.7 Still und unbeweglich warten sie dort, das an ihnen ein Eingriff vorgenommen wird. Sie vertrauen auf den Blick des Lesers, der auch ein Zuschauer ist, um Bedeutung anzunehmen. Nur wenn die Figuren in Raum und Zeit als Bild betrachtet werden, wenn sie sich selbst dem melancholischen allegorischen Auge darbieten, für das ihre Existenz eine Bedeutung erhält, können sie vor der Bedeutungslosigkeit bewahrt werden. Lesen wird so zu einem performativen Akt, der paradoxerweise das errettet, was schon abwesend und tot ist. Die geretteten Objekte werden unvermeidbar zurückfallen in ihren Zustand der Unerrettbarkeit und so den Zuschauer an seinen eigenen Tod gemahnen. An diesem Punkt möchte ich wieder La Ribot ins Spiel bringen. Trotz der strengen und minimalen Form ihrer Werke bleibt in ihnen etwas von der barocken Haltung gegenüber der Welt. Vielleicht liegt das an ihrem spanischen Hintergrund mit seinem reichen barocken Erbe. Wie Benjamins Melancholiker arbeitet sie mit Objekten, um diese vor der Bedeutungslosigkeit zu bewahren. Diese Objekte sind Allegorien unseres melancholischen Zustands, der sich nicht nur aus einem generellen Verlust der Metaphysik speist. Im 21. Jahrhundert haben wir uns daran bereits gewöhnt. Er wird erzeugt durch den Verlust einer viel bestimmteren Metaphysik, nämlich der des Körpers als Versicherung der Identität, die scheinbar die Wahrheit verkörpert. In unserer christlichen Kultur ist es vor allem der Körper des Tänzers oder der Tänzerin, der unser Alibi für den Tanz abgibt. Er tanzt vor uns und anstatt unserer selbst, während wir ihn beobachten, wie er den Anderen verführt, auch dazu verführt, unsere gefallenen Körper zu erretten. Er kann dies erreichen, weil es die Seele des Tänzers ist, die tanzt, nicht sein Körper.8 La Ribot, wie viele ihrer Zeitgenossen, wirft aber einen genaueren Blick auf 6 | Benjamin, Trauerspiel, op. cit. S. 271. 7 | T.S. Eliot, »The Love Song of J. Alfred Prufrock«, in: T.S. Eliot, Collected Poems 1909-1962, London/Boston: Faber & Faber, 1963, S. 13. 8 | Legendre, La passion d’être un autre, op. cit.

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diesen Körper. Sein Verlust als eine in sich selbst bedeutungsvolle Einheit, die zum Ausdruck kommt, wenn sie genau beobachtet wird, die wahrhaft getanzt werden kann, wenn man sie nur aufmerksam behandelt, wird abgelöst von der Vorstellung des Körpers als einem Feld widerstreitender Kräfte. Anstatt seine Seele zum Ausdruck zu bringen, benutzt La Ribots melancholisches Gemüt ihren nackten Körper wie die leere Leinwand eines Malers: Von den zwei Oberflächen, die in »Still Distinguished« vorkommen, der horizontalen des Bodens, auf dem wir uns befinden, und der meines Körpers, also meiner Haut, ist letztere die dünnste und empfindlichste der beiden. Ich gebrauche meine Haut, um mich zu separieren und an andere zu heften.9

So beschreibt sie ihren Körper als eine vertikale Erweiterung des horizontalen Bodens, die sowohl als Interface zwischen den Dingen wie auch als Oberfläche für Einschreibungen fungiert. Ein epistemologischer Bruch hat sich mit La Ribots Tanz ereignet. Bei ihr ist es nicht länger die Frage, was der Körper im Tanz tun kann, sondern was diesen Körper als Konstrukt aus heterogenen und äußerlichen Bildern und Diskursen ausmacht. Wie Benjamins Objekte kann der Körper alles bedeuten, abhängig von der sternenähnlichen Konfiguration der Objekte, die er eingeht, wenn er performt. Nehmen wir zum Beispiel Narcissa aus der Serie Más Distinguidas von 1997. La Ribot benutzt eine Sofortbildkamera, um Bilder ihrer nackten Brüste und ihrer Schamregion zu machen. Nachdem sie diese ein wenig trockengewedelt hat, klebt sie sie auf die entsprechenden Stellen ihres Körpers. Während das Publikum den Bildern beim Entwickeln zuschaut, frage ich mich, ob wir nicht von Anfang an Bilder und nicht die wirklichen Objekte gesehen haben. Obgleich sie nicht der westlichen Seh- und Denktradition entkommen kann, arbeitet sich La Ribot dennoch durch deren Grundprinzipien hindurch. Die Erkenntnis, das alle Dinge vergehen müssen, ist am ausgeprägtesten im Bereich der Performance. Performance belegt so unvermeidlich alle Gegenstände mit dem Zauberbann der Melancholie. Melancholie gehört daher weder dem Performer, der seinen Zustand des Trauerns auf die Bühne darstellt. Sie gehört auch nicht dem Publikum, das der Aufführung etwa in trauriger Stimmung beiwohnt. Trauer ist die Gesinnung, in der das Gefühl die entleerte Welt maskenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Vergnügen an ihrem Anblick zu haben. Jedes Gefühl ist gebunden an einen apriorischen Gegenstand und dessen Darstellung ist seine Phänomenologie. Die Theorie der Trauer, wie sie als Pendant zu der von der Tragödie absehbar 9 | La Ribot, Ausstellungskatalog der Galeria Soledad Lorenzo, Madrid 2002, S. 55.

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462 | Abwesenheit sich zeigte, ist demnach nur in der Beschreibung jener Welt, die unterm Blick des Melancholischen sich auftut, zu entrollen.10

Für Benjamin ist der Blick selbst melancholisch. Melancholie ist das Ergebnis einer spezifischen Konstellation der Wahrnehmung, die die leere Welt mit maskenhaften Figuren belebt und sie kontempliert. In der Tat ist alles, was uns übrig bleibt, die Dinge zu betrachten, als seien sie leere Hüllen. Der Blick aber kann nicht einfach auf den Dingen ruhen und sie so in ihren ursprünglichen bedeutungsvollen Zustand zurückversetzen. Melancholie verrät letztlich das Objekt, indem sie es zurücklässt und fortschreitet. La Ribots Performances sind nicht allein melancholische Performances. Sie performen auch die Melancholie der Performanz selbst. Maria La Ribot schreitet auch fort. Nachdem sie die Objekte errettet hat, indem sie sie unter ihrem Blick wiederbelebt hat wie Masken, die man aufsetzt, nachdem sie sie und mit ihnen performt hat, legt sie sie weg und bewegt sich zur nächsten Station ihres Versuchsaufbaus. Auf diese Weise werden sie in der Tat mementi mori ihres früheren Gebrauchs. Wie am Schluss von Pa amb tomaquet werden sie zu verstreuten Gegenständen in einem Stilleben – einer Tradition allegorischen Malens, die in der Mitte des 17. Jahrhunderts in Holland ihren Höhepunkt erreichte.11 Wie La Ribots ›distinguished pieces‹ zeigen diese Gemälde oft marginale Objekte und gewähren diesen einen zentralen Platz in ihrem Arrangement, indem sie sie zu vanitas-Symbolen machen. La Ribot sammelt Dinge im Raum, die so zu Symbolen des Lebens werden, aber gleichzeitig auch seines Niedergangs und Verlusts. Die Objekte, die sie am Schauplatz versammelt, wo sie unsere Schaulust herausfordern, sind sowohl geordnet wie unordentlich. Dass sie geordnet sind, ermöglicht uns, sie zu indentifizieren und einzuordnen. Und doch bleibt ihre Anordnung beliebig. Ihre metonymische Koexistenz im Versuchsaufbau ist nur ein Zufall. Sie sind Fragmente, die willkürlich zusammengeworfen wurden durch einen Würfelwurf, unfähig, selbst kohärente Bedeutung herzustellen. Wir müssen eine solchen mit ihnen performen. Nur deshalb geben sie sich uns preis. Doch wenn ich sie mir anschaue, sehe ich auch mich selbst als vom Tod Angeblickten. Il s’agit ici moins de contempler que de regarder, moins de regarder que de voir, moins de voir que de se voir, moins de se voir que de se voir vu, regardé, contemplé, que d’attirer à soi le regard de l’autre pour être »soi« que de ne trouver son identité que dans l’oeil autre.12 10 | Benjamin, Trauerspiel, op. cit. S. 318. 11 | Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, op. cit., S. 79-92. 12 | Louis Marin, »Les traverses de la Vanité«, in: Alain Tapié (Hg.), Les Vanités dans la peinture au XVIIe siècle, Caen 1990, S. 21-30, hier: S. 25.

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La Ribots gleichzeitig stumme und eloquente Körper sind nicht nur ›still’ im Sinne von bewegungslos. Sie sind nicht nur photographische Momentaufnahmen, sondern auch Modelle des Lebens (das ›Leben‹ im Stilleben kommt aus dem niederländischen Wort ›leven‹, was soviel wie ›Modell‹ bedeutet). Das Ergebnis von Benjamins Theorie der Melancholie ist eine radikale Entpersönlichung der Subjekte, die Teil des melancholischen Blicks sind. Unter dem Bann der Melancholie können sie sich nicht selbst im psychologischen Sinne einer Introspektion wahrnehmen. Versteinert, bleibt uns nur, uns selbst in unserem Verschwinden als Subjekte zu betrachten, bis wir selbst auch zu Objekten geworden sind. Maria La Ribot inszeniert genau eine solche Entpersönlichung, sowohl ihrer selbst als Performerin als auch des Publikums. Ihr Gebrauch von Objekten entspricht dem Gebrauch, den der melancholische Blick von den Dingen macht: Wie die Natur fühle ich die Dinge davoneilen und den Blick der anderen wie eine Erosion, die mich langsam auflöst. In meinem chamäleonartigen Spiel mit den Elementen werde ich transparent und erlaube mir dann, auf ihren Netzhäuten zu trocknen, um dabei so dünn zu werden, wie ich nur kann, bis ich fast verschwinde.13

La Ribot ist auf der Bühne abwesend, während sie präsent ist. Sie bewegt sich durch die Gegenstände wie ein Gespenst. Hier gibt es keine dramatischen Ausbrüche, die den Moment festzuhalten, dem Tod zu widerstehen und Leben zurückzubringen versuchen. Keine Zeichen eines starken Willens, der Raum und Zeit erobert, keine Versuche, uns auf ihre Seite zu ziehen, keine Tricks im Angesicht des Todes. Nichts wird erzwungen. Alles geschieht im vollen Bewusstsein, dass es vorübergehen wird. Sie macht Abwesenheit sichtbar. Walter Benjamins Melancholiediskussion ist Teil eines größeren allegorischen Rahmens, von dem man sagen kann, dass er eine weitere Version des gleichen Zustands der Welterfahrung darstellt. Weil die Welt an einem »Ausfall aller Eschatologie«14 leidet, bleibt den Dingen nur das Sterben. Sie erhalten Bedeutung nur aus der Perspektive ihrer Abwesenheit. Weil die Erscheinung der Dinge (in unserem Fall: des Körpers) und ihre Bedeutung auseinandergedriftet sind, sind alle Dinge nur noch bloße Allegorien der Bedeutung. Wenn es aber keinen zusammenhängenden metaphorischen Rahmen mehr gibt, der der Welt Geschlossenheit verleiht, dann sind alle Gegenstände bloße Ruinen: mementi mori des Versagens einer stabilen Bedeutung. 13 | La Ribot, Ausstellungskatalog, op. cit., S. 55. 14 | Benjamin, Trauerspiel, op. cit., S. 259.

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464 | Abwesenheit Innerhalb der Allegoriediskussion nimmt die bildliche Tradition des Emblems einen besonderen Raum ein. Wenn La Ribot behauptet, dass in ihren Stücken »die Titel wichtig sind, genauso wichtig wie die Farben, die Texte, die Musik, die Kleider, die Gegenstände, und die verwendete Zeit und der Raum«,15 dann betont sie in der Tat die Bedeutung der Sprache in der emblematischen Tradition. Ein Emblem besteht aus drei Teilen: einer inscriptio, das heißt einem Titel; einer pictura, also dem Bild, auf das sich der Titel bezieht; und der subscriptio, einer Art Moral unter dem Bild. Die allegorischen Bilder bestehen aus heterogenen Teilen, die bereits mit Bedeutung kodiert sind und die zu einer Botschaft kombiniert werden. Da aber Bedeutung nicht mehr den Objekten selbst inhärent ist, könnte in der Tat alles alles bedeuten. In der Barocktradition konnten die gleichen Gegenstände in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Dinge bedeuten. Um den Betrachter, der auch immer zugleich Leser war, zur intendierten Bedeutung zu führen, waren die Titel notwendig. Manchmal kann so Bedeutung eingeschränkt werden – wie in Constricted Baggage, wenn sich Maria La Ribot selbst zum Paket verschnürt und sich schließlich ein Gepäckband eines Flughafens um die Schulter legt. Manchmal aber werden die Gegenstände in La Ribots emblematischen Versuchsanordnungen Teil einer Kette von metaphorischen Beziehungen, die Bedeutung in der Schwebe lassen. Nehmen wir ›distinguished piece‹ Nummer 27, Another Bloody Mary. La Ribot öffnet hier eine veritable Büchse der Pandora und entnimmt ihr eine Reihe von Gegenständen, die sie auf dem Boden platziert. Eine rote Schürze, einige rote Lockenwickler, rote Platzdeckchen, einige Plastikobjekte, alle leuchtend rot. Sie setzt sich eine blonde Perücke verkehrtherum auf, so dass ihre Augen verdeckt werden, und klemmt sich ein blondes Haarteil an die Schamhaare. In metallisch grünen hochhackigen Schuhen (der Komplementärfarbe von Rot) grätscht sie nun über einem Arrangement, das wie eine Blutlache wirkt und beginnt sich langsam nach hinten zu beugen, bis sie schließlich den Boden berührt. Regungslos liegt sie nun da, ihre Beine gespreizt wie eine offene Wunde. Wie sollen wir dies lesen? Der Titel lässt verschiedene Deutungen zu. Er bezieht sich auf einen Cocktail aus Wodka und Tomatensaft – daher die rote Farbe. Er verweist auch auf ein Stück des Choreographen Gilles Jobin, das Bloody Mary heißt. Er spielt auf Mary I. an, die Tochter Heinrichs VIII., die heute als die englische Königin bekannt ist, die ihren Ruhm durch die Hinrichtung zahlreicher Protestanten erwarb. Aber er könnte auch als Verweis auf irgendeine Gewaltszene verstanden werden, in die eine Frau namens Mary verstrickt ist. Haben wir vielleicht eine Szene häuslicher Gewalt vor uns, weil alle Gegenstände, die zur Erzeugung der symbolischen Blutlache verwendet werden, aus dem 15 | La Ribot, Ausstellungskatalog, op. cit., S. 54.

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Haushalt stammen? War es gar Gewalt, oder ist es lediglich das Bild einer menstruierenden Frau – oder einer, die nach einem Besäufnis kollabiert ist? Oder ist sie eines von Bloody Marys Opfern? Während der Titel als inscriptio fungiert, gibt die Musik die subscriptio ab. Nachdem der Körper auf das blutrote Bett aus Gegenständen und Stoff gesunken ist, beginnen die Lautsprecher knisternd in Aktion zu treten. Eine dünne blecherne Stimme, die durch mehrere Stufen elektronischer Verfremdung hindurchgegangen ist, singt den alten Hit »Silence is golden, but my eyes still see«. Haben wir ein Verbrechen gesehen, das wir nun nicht der Polizei mitteilen wollen? Oder werden wir aufgefordert, über das Gesehene zu schweigen? Oder bezieht es sich auf die vielen Verbrechen, die ungemeldet bleiben? Während wir sehen, kann das die Frau, die scheinbar besinnungslos vor uns liegt, nicht. Sie kann nicht zurückstarren, weil die blonde Perücke ihre Augen bedeckt und sie so zu einem totalen Sexobjekt macht. Haben wir sie nur dadurch vergewaltigt, dass wir sie anblicken? Haben wir ihr Leben mit unserem versteinernden Blick ausgesaugt? Im Blick des Melancholikers werden alle Dinge Embleme der Abwesenheit. Unser Blick macht sie zu einer Ware. Für Walter Benjamin kehrt das Emblem in der modernen Welt in Gestalt der Ware zurück: »Die Ware ist an die Stelle der allegorischen Anschauungsform getreten.«16 Die Ware ist das, was vom Objekt übrig bleibt, sobald sein Gebrauchswert von ihm abgezogen worden ist. Der Tauschwert gewinnt die Oberhand, ein Wert, der nicht an irgendeine dem Objekt innewohnende Bedeutung gebunden ist, sondern lediglich von den Gesetzen des Marktes bestimmt wird. Wenn La Ribot ihre ›distinguished pieces‹ verkauft, lenkt sie auch Aufmerksamkeit auf die Vermarktung von Körpern, Künstlern und ihren Werken in einer Konsumgesellschaft. Aber gleichzeitig unterwandert sie sie. Schließlich steht nicht ihr Körper zum Verkauf, sondern ihr Körper in der Performance. Sie verkauft so einen performativen Akt, der – gerade weil er immateriell ist, abwesend und kein Objekt – weiterhin neue Bedeutungen oder Aktionen hervorbringen wird.

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Die Kunst der rituellen Ersetzung: Raimund Hoghe

Die leere Bühne wird von fünf jungen Männern mit gesenkten Köpfen und Blicken gerahmt. Sie hören aufmerksam einer Mozart-Melodie zu, die den Raum erfüllt. Einer nach dem anderen wird von dem kleinen Mann in Schwarz mit seinem Namen aufgerufen. Einer nach dem anderen verlässt 16 | Walter Benjamin »Zentralpark«, in: Walter Benjamin, Abhandlungen. Gesammelte Schriften Band I.2., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 655 – 690, hier: S. 686.

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466 | Abwesenheit die Bühne, um im Zuschauerraum Platz zu nehmen. Der Klang ihrer Namen klingt in unseren Köpfen nach. Sie sind gegangen, und dort, wo sie einst waren, bleibt nur Leere. Sie haben die Seiten gewechselt. Sie sind jetzt bei uns, aber weil sie so den Bühnenraum geöffnet haben, könnten wir genauso nun auch dort sein, wo sie einst waren. Sie werden zu unseren Stellvertretern, Stellvertretern an dem Ort, an dem wir nicht sind, der Bühne. Ihre Abwesenheit wird im Lauf der Vorstellung von je einem Strauß Blumen markiert, den Raimund Hoghe an ihrer Stelle hinterlässt. Am Schluss, wenn Lettere Amorose vorbei ist, wird er sie wieder mit ihren Namen rufen.17 Sie werden von ihren Plätzen aufstehen, um wieder die Plätze einzunehmen, die sie am Anfang inne hatten. Doch jetzt halten sie dabei einen Strauß Blumen fest. Blumen nehmen den Platz einer Person ein, die wiederum ein Stellvertreter für jede und jeden im Publikum ist. Was wir uns anschauen, ist so auch unsere eigene Abwesenheit von der Szene, die für uns gespielt wird. Eine Abwesenheit wird spürbar gemacht, indem sie betont wird. Objekte ersetzen etwas Abwesendes: dies ist eine Möglichkeit, die Inzenierungen von Raimund Hoghe zu charakterisieren. Nachdem die jungen Männer gegangen sind, holt Hoghe eine Menge Gegenstände vom Bühnenrand. Ein Glass Wasser und ein Blumenstrauß, kleine Paravents, ein paar hölzerne japanische Schuhe, Mikadostäbchen und vor allem verschiedene Bahnen Stoff, die er im Verlauf der Aufführung ausbreiten wird. Er wird die Blumen ins Glas tauchen, um etwas Wasser über seine Schulter zu verspritzen, während er auf einem langen Stück Stoff kniet. Er wird sich hinter den Paravents verstecken, wie ein kleiner Junge am Strand hinter Windbrechern Schutz suchen würde. Er wird kleine Häuschen aus Stöcken bauen und sie dann wieder zerstören. Er wird mit verschleiertem Gesicht mit den Schuhen über die Bühne trippeln. Die Verbindung von Raimund Hoghes Kunst und dem Ritual hat ihren Ursprung in dieser zeitaufwändigen Aufmerksamkeit für Details. Jeder Schritt und jede Geste werden hochpräzise ausgeführt von einem Performer, der völlig in dem aufgeht, was er tut. Er erscheint ruhig und besonnen, fast neutral, und zeigt keine Gefühle während seines Auftritts. Strikt hält es sich an eine festgelegte Reihenfolge von Schritten und Gesten, deren Regeln nicht verändert werden, sonst könnte die ausgeführte Handlung ihre magische Kraft verlieren. In kleinen Choreographien führt Hoghe geometrische Muster auf dem Boden aus. Er ordnet Raum und Zeit, als würde die Welt ihren Zusammenhalt verlieren, wenn die Muster verletzt würden. Aber vielleicht ist die Welt bereits zerbrochen, und Hoghe schafft Ordnung, wo gar keine ist, durch die Aufführung selbst. Er verzaubert seine Objekte, 17 | Ich habe das Stück am 7. März 2000 im Mousonturm, Frankfurt am Main gesehen.

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um mit ihnen Wunder zu wirken. All dies beruht auf rituellen Praktiken und hat trotzdem nichts mit Ritualen im strengen Wortsinn zu tun. Der entscheidende Unterschied ist eine Vorstellung von Abwesenheit im Gegensatz zur Realpräsenz des Rituals, auf die sich Hoghe, wie viele der hier vorgestellten Tänzer und Choreographen, bezieht, um deren Form dazu zu verwenden, Heterogenes in den Bühnenraum zu integrieren.

In all seinen Stücken agiert Raimund Hoghe als Zeremonienmeister. Man braucht ihn nur in Sarah, Vincent et moi die Tänzerin Sarah Chase an ihren Platz in der ersten Zuschauerreihe zurückgeleiten sehen, während er schützend einen japanischen Schirm über ihrem Kopf hält. Der Raum gehört ihm. Die Inszenierungen, die in ihm stattfinden, sind an seinen Körper gebunden. In Lettere Amorose zieht er sein Hemd aus und zeigt seinen Buckel. Eine rote Linie markiert auf ihm die Krümmung seiner Wirbelsäule. Mit weit geöffneten Armen dreht er sich an der Bühnenrückwand entlang und vermisst so die Distanz anhand der Form und Dimensionen seines Körpers. Sein Körper ist eine Abwesenheit im symbolischen Raum der Repräsentation, die das Theater ist. Er ist gegenwärtig in einem Raum, in dem Menschen wie er traditionellerweise abwesend sind, vor allem in der Welt des Tanzes, zu der er sich gehörig fühlt. Die Gegenstände, mit denen er auftritt, erhalten Bedeutung nur in Bezug auf seinen Körper in einem performativen Akt, der sie verwendet. Hoghes Stücke sind Dialoge mit Objekten. Als solche sind sie vergleichbar mit den ›distinguished pieces‹ von Maria La Ribot. Stumm und unbeweglich warten auch die Objekte in Raimund Hoghes Stücken darauf, das mit ihnen eine Handlung vollzogen wird. Unerbittlich sinken auch die performativ verwendeten Objekte wieder in ihren Zustand der Unrettbarkeit zurück. Der emblematische Charakter seiner Choreographien wird von der musikalischen Dramaturgie seiner Stücke unterstrichen. In Raimund Hoghes

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468 | Abwesenheit Produktionen wird jede Szene von einem Lied begleitet. Für jedes Bild, das Hoghe auf der Bühne erschafft, gibt es eine Atmosphäre und einen Text, die es begleiten. Der kritische Punkt ist hier wieder der undefinierte Raum zwischen Bühne und Text, zwischen dem agierenden Körper und dem singenden Körper, zwischen Bewegung und Stimme. Hoghes Stücke leben von einer Reihe von Dissoziationen, die Abwesenheiten zwischen Gegenständen und Bedeutung erzeugen. Es gibt keine intrinsische Motivation, die Lied und Aktion verbindet; vielmehr kombiniert Hoghe als allegorischer Melancholiker sie in der Inszenierung. Diese Dissoziationen rekonfigurieren Stimme und Körper zu einem visuellen Phänomen. Das Arrangement der Teile ähnelt so einer Abfolge von Emblemen, die jedoch im Gegensatz zur restriktiven Funktion der inscriptio in der Barocktradition, die Bedeutung zu- und festschreibt, einen weit offeneren Charakter hat. Da sie keine Titel besitzen, schafft die Kombination von Objektbildern und Text keine feste Bedeutung oder Moral. Dennoch stellen die Texte der Lieder einen Kontext her für die Handlungen auf der Bühne und eröffnen so einen Raum für Assoziationen. In Lettere Amorose zum Beispiel erscheint als das gemeinsame Thema der von Hoghe verlesenen Briefe die Entfremdung, Fremdsein in einem fremden Land. Die Lieder, die Hoghe ausgewählt hat, werden alle in Italienisch, Französisch oder Griechisch gesungen. In einem deutschen Kontext weist dies auf die Erfahrungen von Immigranten oder Gastarbeitern hin, auf entwurzelte Menschen weit entfernt vom Ort, den sie Zuhause nennen. Hoghes Embleme überwinden Abwesenheit nicht, aber sie hinterlassen einen Raum, der offen ist für persönliches Begehren als eine Art von Gedächtnis, das sich nie in der Gegenwart befindet, sondern immer in einer bereits vergangenen Zukunft. Vergangene Zukunft meint hier die vorhernehmende Erfahrung von etwas, das, indem man es begehrt oder fürchtet, bereits den Status eines vergangenen Objekts oder Ereignisses besitzt, obwohl es sich noch nicht ereignet hat (und sich in der Tat nie ereignen mag). In Hoghes Inszenierungen finden sich zahlreiche Anspielungen auf das Ballett als Kunstform und gleichzeitig als Raum für Begehren. Sein Stück Tanzgeschichten beginnt mit Musik aus dem Nussknacker. Wie schon Sarah, Vincent et moi und Dialogue with Charlotte enthält auch diese Arbeit Bilder aus Tschaikowskys Schwanensee.18 In Sarah, Vincent et moi erhebt sich die Tänzerin Sarah Chase von ihrem Platz in der ersten Zuschauerreihe. Sie legt sich mit ihrem Rücken zum Publikum auf den Boden und hebt 18 | Dialogue with Charlotte konnte ich am 30. Juni 1999 in Montpellier sehen. Sarah, Vincent et moi am 31. Januar 2002 in den Studios des Kaaitheaters in Brüssel, am 2. März in Le Quarz, Brest, Frankreich sowie am 21. März 2002 im Mousonturm Frankfurt am Main; Tanzgeschichten am 7. September 2003 im Ballhof Hannover und am 30. Januar 2004 im Mousonturm in Frankfurt am Main.

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ihren linken Arm in die Luft. Sie verdreht ihre Handgelenke und Arme, als ob sie der ausgestreckte Hals eines Schwans wären, während das Leitmotiv von Schwanensee gespielt wird. Objektbilder und Musiktext in Hoghes Stücken schaffen Embleme der Abwesenheit, die Embleme sind für das Begehren eines Anderen, einer Person oder einer Vorstellung von Heimat, von Zugehörigkeit und Anerkennung, die für immer außer Reichweite ist. Können wir nach dem, was gerade über den Gebrauch von Gegenständen in Raimund Hoghes Stücken ausgeführt wurde, noch von Ritual sprechen? Einerseits sicherlich nicht. Ein Ritual wurzelt in der religiösen Überzeugung einer Gemeinschaft, welche die Reihenfolge der Ereignisse, die zu einer ritualistischen Zeremonie gehört, nicht in Frage stellt. Sie akzeptiert die sich abspielenden Ereignisse und vertraut auf ihre Ergebnisse. Sie verlangt Spezialisten, wie z.B. Priester, die von der Gesellschaft den Auftrag erhalten haben, für alle zu sprechen und zu handeln, um Gewalt oder andere verstörende Ereignisse zu überwinden, die sonst die Gemeinschaft zerstören würden. Seit der Renaissance ist unsere Welt zunehmend säkularisiert worden, und seit dem späten achtzehnten Jahrhundert ist Kunst Teil der autonomen Sphäre der Ästhetik und nicht der Religion. Unsere Institution des Theaters hängt von dieser Trennung ab, die auch die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum umfasst. Dinge werden aus einer Distanz dargestellt, damit wir sie sehen, hören, fühlen und beurteilen können. Anders als das Ritual befragt die Kunst die Regeln der Gesellschaft und die Art und Weise, wie sie funktioniert. Kunst erzeugt Misstrauen und Brüche, weil sie keine zelebrierende Praxis ist, sondern eine reflexive Praxis der Signifikation. Andererseits können wir aber vielleicht doch von Raimund Hoghes Stücken als Ritualen sprechen. Er inszeniert ein anderes Ritual, ein umgekehrtes, ein Ritual, das so weit entfernt von einer Zeremonie ist, das es sie gleichsam wieder von der anderen Seite aus einholt. Der kritische Punkt ist hier natürlich wieder die Abwesenheit. Während in Ritualen wie Condemblé oder Voodoo die Handlung die direkte Gegenwart von Göttern voraussetzt, hängt sie in Hoghes Stücken vom Gegenteil ab: von der Abwesenheit von erinnerten Gegenständen und Personen. Ritual, und dies könnte auch Fußballspiele und Rockkonzerte umfassen, heißt nicht die Schaffung von Präsenz. Präsenz in der Kunst und vor allem in der Kunst Raimund Hoghes ist vielmehr nur gegeben, um uns die Abwesenheit, die hinter ihr liegt, sehen und fühlen und uns über sie nachdenken zu lassen. Hoghe inszeniert Abwesenheit. Während er dies tut, legt er die christlichen Wurzeln unserer Vorstellung vom Künstler als Stellvertreter oder sogar Sündenbock, der uns auf der Bühne vertritt, bloß. Da sich alle Körper durch die Erbsünde von der Gnade entfernt haben, brauchen wir jemanden (und jemandes Körper), um die gefallenen Körper hin zur Sphäre der Seele zu transzendieren. Das ist es, was der Tänzer tut. Raimund Hoghe ist solch ein jüdisch-christ-

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470 | Abwesenheit licher Stellvertreter. Dies ist der Grund, warum seine kleinen zeremoniellen Handlungen auf der Bühne sich auf das Ritual und seine strenge Ordnung der Ereignisse bezieht. Er vertritt uns bei der Erinnerung an Abwesenheit. Und er tut dies mit einem Körper, der sich nicht für schönes Tanzen in der klassischen Tradition der schönen Seele eignet. Aber auch hier gilt wieder, dass er dies anders tut, nämlich auf eine künstlerische und nicht eine ritualistische Art und Weise. Hoghe unterbricht die Vorstellung der Erfüllung in einer wirklichen Gegenwart des erinnerten Gegenstands. Stattdessen bewohnt er die Abwesenheit, die die Bühne ist, um seinen Finger auf Abwesenheit und Trauer zu legen, und damit genau auf das, was unsere Gesellschaft des Konsums, des live-Kults und Reality TVs negiert. Er nimmt die Rolle des Künstlers als Sündenbock an und bleibt doch ein ungewöhnlicher Sündenbock, der sich weigert, geopfert zu werden. Diese Weigerung zu verschwinden, hinauszugehen und seinen ungeeigneten Körper mitzunehmen, unterbricht das Ritual. Stattdessen insistiert er – und das auf irritierende Weise. Dieses Insistieren und Durchhalten ist Hoghes radikale Geste. Hoghes Kunst ist ein radikaler Bruch mit dem Ritual, der sich trotzdem im Akt der Aufführung auf das Ritual bezieht, indem er es zitiert. Daher ist es jedem freigestellt zu entscheiden, ob er sich erfolgreich erinnert. Im Sinne Walter Benjamins ist Hoghe ein melancholischer Produzent von Allegorien, der innehält und sich erniedrigt, um bedeutungslose, bereits säkularisierte und kommodifizierte Gegenstände aufzulesen, um so Absenz und Verlust zu erinnern. Zum Schluss möchte ich an zwei verbundene Szenen aus Sarah, Vincent et moi erinnern. Die Aufführung beginnt mit Raimund Hoghe, der die Bühne vorbereitet. Er geht an ihren drei Wänden entlang, die mit dicken schwarzen Vorhängen abgehängt sind. Er lässt seine linke Hand über den Stoff gleiten, als ob diese Berührung ein Zauber wäre. Die Geste verwandelt den gesamten Raum und bereitet ihn für den Akt des Erinnerns vor, der in ihm stattfinden wird. Hoghe holt eine Tüte voll Sand aus seinem Versteck hinter einem der Vorhänge. Er nimmt eine Handvoll Sand und lässt ihn durch seine Finger rieseln, bis er auf dem Boden kleine Kreise bildet. Zweimal wechselt er seine Position, um den Vorgang zu wiederholen, so dass er zum Schluss insgesamt drei Kreise geschaffen hat. Neben sie legt er einen Miniatur-Kronleuchter und eine kleine Kerze, die den Sand wie den Schatten der Leuchter aussehen lässt. Mit Hilfe stummer Objekte hat Hoghe die Bühne in einen Ballsaal verwandelt. Am Ende des Stücks kehrt der Tänzer Vincent Dunoyer zu diesen drei Orten zurück. Er sucht sie wieder auf, obwohl sie schon längst nicht mehr existieren. Wo einst der Ballsaal war, sind inzwischen andere Bilder erschienen, die das Licht und den Schatten überdecken. Bilder wie jenes, in dem sich Sarah Chase mit ausgestreckten Armen auf der Stelle dreht. Auch sie lässt Sand durch ihre Finger rinnen, der auf dem Boden eine Spirale um

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ihren aufgerichteten Körper formt. Die Szene wird begleitet – oder vielmehr unterstrichen, wie man mit Verweis auf die emblematische Tradition sagen könnte – von Bobbie Gentrie, der »Ode to Billie Joe« singt. Es handelt sich um die mysteriöse Geschichte eines Selbstmords an der Tallahassee-Brücke, den Sarah Chases wiederholte Drehungen vielleicht wiederholen, indem sie für ihn (ein)stehen. Wie Chase sucht und erinnert auch Vincent Dunoyer wieder die drei Orte vom Anfang des Stücks, indem er sie wieder aufführt. Er legt drei Fotos auf genau die Stellen, wo vorher die Schatten waren und bedeckt sie eine nach der anderen mit Sand, bis sie verschwunden sind. Aber Dunoyer holt sie schließlich wieder hervor. Vorsichtig löst er die Fotos aus dem Sand, in dem sie drei deutliche Leerstellen hinterlassen, drei leere rechteckige Räume, in denen sie einst aufgehoben waren. Sarah Chase und Raimund Hoghe betreten nun die Bühne mit Tüten Sand in den Händen. In der folgenden Szene füllen sie die Löcher langsam mit Sand, bis die offenen Wunden geheilt und die Bilder vergessen sind. In der traditionellen Bildersprache ist Sand natürlich ein Symbol für die verrinnende Zeit, für die Flüchtigkeit der Dinge, die unrettbar dem Vergessen anheimfallen. Indem er Abwesenheit durch rituelle Ersetzung inszeniert, verführt uns Hoghe zu einem Akt des Erinnerns – erinnern an etwas, das nicht einmal unsere eigene Erinnerung ist, sondern eher ein kulturelles Gedächtnis, wie in seinen Solo-Inszenierungen Meinwärts, Chambre séparée und Another Dream. In dieser Trilogie ist es das Leben in Deutschland in den 1940er, 1950er und 1960er Jahren, das in Konfigurationen von Gegenständen, Musik, Text und Hoghes Körper erinnert wird. Und dennoch ist Erinnern weit entfernt vom Überwinden oder Abschließen dessen, was erinnert wird. Es ist keinesfalls Vergangenheitsbewältigung in der problematischen deutschen Tradition. Hoghes multiple Präsenzen sind solche, die uns auf etwas verweisen, auf Dinge, die nicht (mehr) präsent sind. Seine rituellen Inszenierungen können daher kein Ritual im traditionellen Sinn sein; sie ersetzen dennoch Rituale für ein Ritual – und verkehren so die ursprüngliche Intention von Ritual, die das Heilen symbolischer Brüche ist, das Wiederherstellen von Sinn. Stattdessen erinnert er Dinge als abwesend, und durch ihre sowohl irritierende wie stimulierende Abwesenheit halten sie – genau wie die unterschiedlichen in dieser Arbeit besprochenen Abwesenheiten – seine und unsere Wunden, wie auch die unserer Kultur, offen.

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Liste der Abbildungen | 501

Liste der Abbildungen

S. 16 S. 31 S. 83 S. 188 S. 209 S. 224 S. 229 S. 247 S. 268 S. 283 S. 295 S. 310 S. 320 S. 328 S. 337 S. 345 S. 355 S. 373 S. 376 S. 397 S. 420 S. 430 S. 432

Maria Clara Villa Lobos, XL – Because More is Better and Size does Matter (Fotograf: Patrick Lecoeuvre). Philipp Gehmacher, In the Absence (Fotograf: Yvette McGreavy). Jonathan Burrows/Jan Ritsema, Weak Dance, Strong Questions (Fotograf: Herman Sorgeloos). B.D.C./Thomas Plischke; Events for television (again) (Fotograf: Kompanie). Vinent Dunoyer, Vanity (Video Still: Vincent Dunoyer). Boris Charmatz, Con forts fleuve (Fotograf: Laurent Philippe). Thomas Lehmen, Mono Subjects (Fotograf: Katrin Schoof). William Forsythe, Die Befragung des Robert Scott † (Fotograf: Dominik Mentzos). William Forsythe, ALIE/NA(C)TION (Fotograf: Dominik Mentzos). William Forsythe, Eidos:Telos (Fotograf: Dominik Mentzos). William Forsythe, The Loss of Small Detail (Fotograf: Dominik Mentzos). William Forsythe, Endless House (Fotograf: Dieter Schwer). Jérôme Bel, Nom donnée par l’auteur (Fotograf: RGB). Jérôme Bel, Jérôme Bel (Fotograf: Herman Sorgeloos). Jérôme Bel, Le dernier spectacle (Fotograf: Herman Sorgeloos). Jérôme Bel, Xavier Le Roy (Fotograf: Katrin Schoof). Jérôme Bel, The Show Must Go On (Fotograf: Mussacchio Laniello). Xavier Le Roy, Self-Unfinished (Fotograf: Katrin Schoof). Xavier Le Roy, Product of Circumstances (Fotograf: Katrin Schoof). Xavier Le Roy, Projekt (Fotograf: Dieter Rüchel). Meg Stuart, No Longer Ready Made (Fotograf: Jan Simoen). Meg Stuart, Visitors Only (Fotograf: Chris Van der Burght). Meg Stuart, Splayed Mind Out (Fotograf: Chris Van der Burght).

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502 | Abwesenheit S. 435 S. 437 S. 443 S. 457 S. 467

Meg Stuart, appetite (Fotograf: Chris Van der Burght). Meg Stuart, No One is Watching (Fotograf: Patrick de Spiegelaere). Meg Stuart, Private Room aus Highway 101 in Rotterdam (Fotograf: Derk Jan Wooldrik). La Ribot, Another Bloody Mary aus der Serie Still Distinguished (Fotograf: M. Cuto). Raimund Hoghe, Lettere Amorose (Fotograf: Luca Giacomo Schulte).

2006-04-06 13-26-15 --- Projekt: T478.tanzscripte.siegmund / Dokument: FAX ID 028b112307437458|(S. 501-502) T01_11 abbildungen.p 112307437954

Die Titel dieser Reihe

Susanne Foellmer Valeska Gert Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre Mai 2006, ca. 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 18,80 €, ISBN: 3-89942-362-3

Gerald Siegmund Abwesenheit Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart April 2006, 504 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-478-6

Gabriele Klein, Wolfgang Sting (Hg.) Performance Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst 2005, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-379-8

Susanne Vincenz (Hg.) Letters from Tentland Zelte im Blick: Helena Waldmanns Performance in Iran / Looking at Tents: Helena Waldmanns Performance in Iran 2005, 122 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,80 €, ISBN: 3-89942-405-0

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2006-04-06 13-26-15 --- Projekt: T478.tanzscripte.siegmund / Dokument: FAX ID 028b112307437458|(S. 503

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